Elftes Kapitel


Elftes Kapitel

Beseitigt auch den letzten Zweifel an Mr. Jingles Uneigennützigkeit.

Es gibt in London verschiedene alte Wirtshäuser, die zu der Zeit, da die Postkutschen ihre Fahrten in einer ernsteren und feierlicheren Weise als heutzutage zurücklegten, die Hauptquartiere der berühmtesten Kutschen waren, wogegen sie jetzt zu wenig mehr als zu Warte- und Einschreibelokalen für Frachtfuhrleute herabgesunken sind. In den nobleren Stadtvierteln würde man sie freilich vergebens suchen. Wer diese alten Stätten zu Gesicht bekommen will, der muß die obskuren Stadtteile aufsuchen; da wird er in entlegenen Winkeln noch einige von ihnen finden. Ihre düstere, altväterliche Fassade ist inmitten der neumodischen Umgebung unverkennbar.

Im Borough stehen noch ungefähr ein halb Dutzend solcher Häuser, die ihre äußere Form unverändert beibehalten haben und sowohl der modernen Verschönerungssucht wie den Eingriffen des Spekulationsgeistes entgangen sind. Es sind große geräumige, wunderliche alte Gebäude mit Galerien, Hausfluren und Treppen, weit und altväterlich genug, um Stoff zu hundert Gespenstergeschichten zu liefern. In dem Hofe eines dieser Wirtshäuser, das kein geringeres Schildzeichen als das des „Weißen Hirsches“ führte, war an demselben Morgen, der Mr. Pickwicks und Mr. Wardles Unglücksnacht folgte, ein Mann emsig mit dem Bürsten eines schmutzigen Stiefelpaares beschäftigt. Er trug eine grobe, gestreifte Weste mit schwarzen Kalikoärmeln und blauen Glasknöpfen, braune Kniehosen und Gamaschen. Ein hellrotes Schnupftuch war lose und ungezwungen um seinen Hals geknüpft, und ein alter weißer Hut saß nachlässig auf dem einen Ohr. Der Mann hatte zwei Reihen Stiefel – die eine gereinigt, die andre noch schmutzig – vor sich, und bei jedem Zuwachs in der gewichsten Reihe unterbrach er für einen Augenblick seine Tätigkeit, um deren Ergebnisse mit offensichtlichem Behagen zu überschauen.

Im Hof zeigte sich nichts von dem rührigen, lärmenden Treiben, das für ein Gasthaus mit großem Ausspann charakteristisch ist. Drei oder vier schwerfällige Frachtwagen – jeder mit einer Ladung bepackt, die bis zum zweiten Stock eines gewöhnlichen Hauses gereicht hätte – standen an dem einen Ende des Hofes unter Dach. Ein weiterer, der vermutlich noch an diesem Morgen abfahren sollte, war ins Freie gezogen. Der weitverzweigte Hofraum war auf zwei Seiten von der Rückfront des Gebäudes begrenzt, wo die Schlafzimmer lagen; vor ihnen liefen – entsprechend der Lage der Schlafzimmer, in einer Doppelreihe übereinander – Galerien mit alten klobigen Geländern entlang. Über der Tür, die zur Gaststube und zum Frühstückszimmer führte, hing eine Doppelreihe von Klingeln. Sie waren durch einen kleinen Dachvorsprung gegen Regen geschützt und konnten von den Schlafzimmern aus in Tätigkeit gesetzt werden. Sodann gab es da verschiedene kleinere Schuppen und Überdachungen. In ihnen waren zwei bis drei Gigs oder Karren untergekommen. Wer sich aber nach dem Stall umgesehen hätte, dem hätte nur hin und wieder der schwere Tritt eines Karrengauls oder das Klirren einer Kette verraten, daß er am entfernteren Ende des Hofes zu finden war. Wir wollen noch hinzufügen, daß einige Jungen in Arbeitskitteln auf dem schweren Gepäck, den Wollsäcken und anderen Stücken, die ringsum auf Strohhaufen umherlagen, ihre Schlafstatt gefunden hatten – und damit haben wir bereits recht genau den Anblick beschrieben, den der Hof des „Weißen Hirsches“, High Street, Borough, an diesem Morgen bot.

Eine der Klingeln fing an, laut zu scheppern, und schon zeigte sich in der oberen Schlafzimmergalerie ein schmuckes Zimmermädchen; es klopfte an eine Tür, bekam von innen einen Auftrag und rief über das Geländer:

„Sam!“

„Hallo?“ erwiderte der Mann mit dem weißen Hut.

„Nummer zweiundzwanzig will seine Stiefel.“

„Frag Nummer zweiundzwanzig, ob er sie gleich jetzt haben will oder ob er warten will, bis er sie kriegt“, war die Antwort.

„Mach doch keine Dummheiten, Sam“, entgegnete das Mädchen begütigend. „Der Herr will die Stiefel jetzt.“

„So, will er das, mein Jüngferchen? Aber ich tanze doch nicht nach deiner Pfeife“, sagte der Stiefelputzer. „Sieh mal diese Stiebel an: elf Paar, und ein unverheirateter Schuh, wo dem Stelzbeinigen Nummer sechs gehört. Die elf Paar sin bis halb neun und der Unverheiratete bis neun Uhr bestellt. Wer ist Nummer zweiundzwanzig, daß er den andern ausstechen will? Nein, nein; ’s muß allens die Reihe nach gehen, wie der Henker immer sagte, wenn er ’n heißen. Arbeitstag hatte. Tut mir leid, Sir, daß Sie warten müssen; ’s wird aber bald an Ihnen die Reihe kommen.“

Mit diesen Worten nahm der Mann mit dem weißen Hut wieder seine Arbeit auf und bürstete einen Stulpenstiefel mit erneuter Emsigkeit.

Abermals ertönte eine Klingel, und die geschäftige alte Wirtin im „Weißen Hirsch“ erschien auf der entgegengesetzten Galerie.

„Sam!“ rief sie. „Wo ist denn der faule Schlingel? Sam! Aha, da sind Sie ja. Warum geben Sie denn keine Antwort?“

„Wäre nich höflich, zu antworten, ehe Sie nich ausgesprochen haben“, entgegnete Sam grämlich.

„Da, putz geschwind diese Schuhe für Nummer siebzehn und bring sie dann in das Zimmer Nummer fünf im ersten Stock.“ Die Wirtin warf ein Paar Schuhe in den Hof und verschwand.

„Nummer fünf“, sagte Sam, hob die Schuhe auf, nahm ein Stück Kreide aus der Tasche und schrieb das Merkzeichen ihrer Bestimmung auf die Sohlen. „Damenschuhe und ein Extrazimmer? Die is wohl kaum als Frachtgut angekommen.“

„Sie is erst heute morgens gekommen“, rief das Mädchen, das noch immer auf dem Galeriegeländer lehnte. „Mit einem Herrn in einer Mietskutsche, demselben, wo jetzt seine Stiefel will. Mach doch schnell, endlich.“

„Warum hast du mir das nich gleich gesagt?“ versetzte Sam unwillig und langte die fraglichen Stiefel aus dem übrigen Haufen heraus. „Kann’s doch nich riechen, daß sie nich ’nem gewöhnlichen Dreipennyfuchser gehören? Eignes Zimmer und ’ne Dame obendrein! Wenn er so was wie ’n Schenlmän is, wirft er tagsüber ’n Schilling ab, die sonstigen Aufträge noch nich mal Inbegriffen.“

Angespornt durch diese begeisternde Aussicht, bürstete Master Samuel so emsig drauflos, daß in ein paar Minuten Stiefel und Schuhe im Strahlenglanz dastanden, worauf er sich an die Tür von Nummer fünf verfügte und klopfte.

„Herein!“ rief eine männliche Stimme.

Sam machte seinen besten Kratzfuß, als er einen Herrn und eine Dame beim Frühstück sitzen sah. Nachdem er diensteifrig die Stiefel dem Herrn und die Schuhe der Dame, rechts und links zu Füßen, niedergelegt hatte, zog er sich wieder nach der Tür zurück.

„Hausknecht.!“ sagte der Herr.

„Sir?“ versetzte Sam, die Hand auf der Klinke.

„Kennen Sie vielleicht – na, wie heißt’s doch – Doktors Commons?“

„Ja, Sir.“

„Wo ist es?“

„Pauls-Kirchhof, Sir; niederer Bogenweg gegen die Straße raus, ’n Buchladen an die eine, ’n Gasthof an die andre Ecke, und in der Mitte zwei Türsteher als Lizenzangler.“

„Lizenzangler?“ fragte der Herr.

„Lizenzangler. Zwei Kerle mit weißen Schürzen – zückendem Hute, wenn man durchgeht. ,Lizenz, Sir, Lizenz gefällig?‘ Kurioser Schlag Leute – und ihre Herren auch – Anwälte von Old Bailey, Sir, Irrtum ausgeschlossen.“

„Und was wollen sie denn?“ fragte der Herr.

„Was sie wollen? Sie, Sir! Doch nur! Und das wäre noch nicht das Schlimmste. Setzen alten Herren Dinge in ’n Kopp, wo sie sich in ihrem Leben noch nichts von haben träumen lassen. Mein Vater, Sir, ist ’n Kutscher – war Witwer – ein dicker Mann – ungemein stark. Als seine Frau starb, hinterließ sie ihm vierhundert Fund. Er geht zu den Commons, den Anwalt aufsuchen und sein Geld einstreichen, putzt sich extra aus, Stulpenstiefel, ’n Strauß ins Knopfloch, breitkrempigen Hut auf, grünes Halstuch um, ganz wie ’n Schenlmän. Geht durch den Bogenweg, denkt an nichts, als wie er sein Geld anlegen will – kommt ’n Agent auf ihn zu, greift an die Krempe: ,Lizenz, Sir, Lizenz gefällig?‘ – ,Was ist das für ein Ding?‘ fragt mein Vater. ,Lizenz, Sir, Lizenz!‘ – ,Nu, was soll’s mit der Lizenz denn?‘ fragt mein Vater. ,Heiratslizenz‘, sagt der Angler. ,Hol mich der Henker, wenn mir so was einfällt‘, sagt mein Vater. ,Ich denke, Sie könnten eine brauchen‘, sagt der Agent. Mein Vater macht halt und besinnt sich ein bißchen. ,Nö‘, sagt er, ,gehen Sie zum Kuckuck, ich bin zu alt und noch obendrein viel zu dick zu.‘ – ,1 wo denn, Sir‘, sagt der Agent, ,wir haben erst letzten Montag ’n Herrn verheiratet, wo zweimal so dick war wie Sie.‘ – ,Ist das auch wirklich wahr?‘ fragt mein Vater. ,Ganz bestimmt‘, sagt der Agent. ,Sie sind ’n Totengerippe gegen ihm; nur hier rein, Sir, hier rein!‘ Und mein Vater läuft ihm richtig nach, wie ’n zahmer Affe ’nem Leierkasten, in eine kleine Schreibstube, wo ’n Kerl unter schmutzigem Papier und Blechbüchsen sitzt und so tut, als war er mächtig beschäftigt. ,Bitte, nöhmen Sü Platz, während ich der Urkunde ausfertigen tue, Sir‘, sagt der Advokat. ,Danke, Sir‘, sagt mein Vater, setzt sich, reißt die Augen auf und stiert die Namen auf den Büchsen an. ,Wie ist Ihr Name?‘ fragt der Advokat. ,Tony Weller‘, sagt mein Vater. ,Kirchspiel?‘ fragt der Advokat. ,Belle Savage‘, sagt mein Vater – denn da pflegte er sein Fuhrwerk einzustellen. Was das mit einem Kirchspiel sollte, wußte er nich. ,Der Name von die Frauensperson?‘ fragt der Advokat. Mein Vater ist wie aus den Wolken gefallen. ,Hol mich der Henker, wenn ich’s weiß‘, sagt er. >Wie, Sie wissen’s nicht?‘ sagt der Advokat. ,So wenig wie Sie‘, sagt mein Vater. ,Kann man ihn nich nachher reinschreiben?‘ – .Unmöglich‘, sagte der Advokat.– ,Auch recht‘, sagt mein Vater, ,so schreiben Sie Mrs. Clarke.‘ – ,Was für ’ne Clarke‘, fragt der Advokat und tunkt seine Feder in die Tinte. – ,Susanna Clarke im Markis von Granby zu Dorting‘, sagt mein Vater, ,sie wird mich schon nehmen, wenn ich ihr drum ersuche; hab zwar noch nichts davon gesagt, aber ich weiß, sie nimmt mir.‘ Die Lizenz wird also ausgestellt, und sie nimmt ihn. Und was noch mehr ist: sie hat ihn jetzt und ich hab von die vierhundert Fund nich ’n einziges zu sehen gekriegt. Ich bitte um Verzeihung, Sir“, fügte Sam zum Schluß hinzu, „aber wenn ich auf diese verdrießliche Geschichte komme, da geht’s bei mir fort wie bei ’nem frischgeschmierten Karren.“

Sam harrte noch einen Augenblick, ob nichts Weiteres gewünscht werde, und verließ, als dies nicht der Fall war, das Zimmer.

„Halb zehn – gerade die rechte Zeit; brechen wir auf“, sagte der Gentleman, der selbstverständlich Mr. Jingle war. „Zeit – wofür?“ fragte die alte Jungfer kokett. „Lizenz, teuerster Engel – Meldezettel für den Geistlichen – dich mein nennen – morgen“, erklärte Mr. Jingle und drückte der Jungfrau die Hand.

„Die Lizenz! Ach!“ sagte Rachel errötend. „Die Lizenz“, wiederholte Mr. Jingle. „Die Türen auf, die Fenster auf, geschwinde, geschwinde.“

„Ach, wie du es eilig hast“, flüsterte Miß Rachel verschämt.

„Eilig? – Stunden – Tage – Wochen – Monate – Jahre sind nichts, wenn wir vereint sind. – Können dann kommen – mit Wagen – Eisenbahn – tausend Pferdekraft meinetwegen – läßt uns kalt.“

„Könnten – könnten wir nicht heute schon getraut werden?“ fragte Rachel.

„Unmöglich – kann nicht sein – Meldung an den Geistlichen – Lizenz heute – Trauung morgen.“

„Ich fürchte so, mein Bruder wird uns auffinden“, sagte Rachel.

„Auffinden? – Blech – viel zuviel durchgeschüttelt vom Wagensturz. – Übrigens außerordentliche Vorsicht – Postwagen aufgegeben – zu Fuß gegangen – Mietkutsche genommen – hier im Borough – letzter Platz in der Welt, der ihm einfiele. – Haha! – Kapitaler Einfall das – wahrhaftig.“

„Bleib nicht zu lange aus“, bat die alte Jungfer zärtlich, als Mr. Jingle seinen zerknüllten Hut auf das Haupt stülpte. „Lange wegbleiben? Von dir? Grausame Circe!“ Und Mr. Jingle hüpfte scherzhaft auf die alte Jungfer zu, drückte einen keuschen Kuß auf ihre Lippen und tänzelte aus dem Zimmer.

„Teurer Mann!“ rief Miß Rachel, als sich die Tür hinter ihm schloß.

„Verwünschte alte Schachtel!“ brummte Mr. Jingle, als er den Hausflur erreichte.

Es ist schmerzlich, Betrachtungen über die Treulosigkeit des männlichen Geschlechts anzustellen; wir unterlassen es daher, den Faden von Mr. Jingles Gedankengang weiter zu verfolgen, der ihn auf seinem Wege zu Doktors Commons beschäftigte. Für unsere Zwecke genügt es, wenn wir berichten, daß er glücklich den Schlingen der beiden Drachen mit den weißen Schürzen, die den Eingang des Zauberschlosses hüteten, entging und wohlbehalten in dem Büro des Generalvikars anlangte. Dort wurde ihm im Namen des Erzbischofs von Canterbury ein höchst schmeichelhaftes Dokument mit der Aufschrift: „Den geliebten und getreuen Alfred Jingle und Rachel Wardle unsern Gruß“, ausgefertigt. Er steckte das geheimnisvolle Pergament sorgfältig in die Tasche und kehrte triumphierend nach dem „Weißen Hirsch“ zurück. Er war noch auf dem Heimweg, als drei Herren – zwei wohlbeleibte und ein magerer – in den Hof des „Weißen Hirsches“ traten und sich daselbst umsahen, als suchten sie jemand, an den sie sich um Auskunft wenden könnten. Master Samuel Weller war eben dabei, ein Paar Stulpenstiefel blank zu reiben, die einem Pächter gehörten, der sich bei einem Imbiß von zwei bis drei Pfund kaltem Rindfleisch und etlichen Kannen Porter von der Mühsal des Marktbetriebes erholte, da trat der magere Herr auf ihn zu. „Mein Freund“, begann der magere Herr. Das ist auch einer von der Gratissorte, dachte Sam. Würde mir sonst nich seinen Freund nennen. – „Was steht zu Diensten, Sir?“ fragte er laut.

„Mein Freund“, versetzte der magere Herr mit einem einleitenden Räuspern, „logieren gegenwärtig viele Leute im Hause? Sehr geschäftig, wie ich sehe.“

Sam warf einen verstohlenen Blick auf den Frager. Es war ein kleiner, ausgetrockneter Mann mit einem dunklen, runzeligen Gesicht und kleinen, unruhigen schwarzen Augen, die zu jeder Seite der kleinen inquisitorischen Nase hervorblinzelten, als ob sie fortwährend mit diesem Teile seines Antlitzes Verstecken spielten. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug Stiefel, so glänzend wie seine Augen, eine schmale weiße Halsbinde und ein feines Hemd mit einer Halskrause. Eine goldene Uhrkette mit Petschaften taumelte aus seiner Weste heraus, und in den Händen, die er beim Sprechen mit der Miene eines geübten Examinators unter die Frackschöße steckte, hielt er ein Paar schwarze Lederhandschuhe.

„Viel zu tun, wie ich sehe?“ fragte der kleine Mann. „Na, ’s geht an, Sir“, versetzte Sam, „Wir machen nich Bankrott, werden aber auch nich Teich. Wir essen unsern Schöpsenbraten ohne Kapern und kümmern uns wenig um Meerrettich, wenn wir Ochsenfleisch kriegen können.“ „Ah“, sagte der kleine Mann, „Sie sind ein Spaßvogel, wie ich merke.“

„Mein ältester Bruder litt an dieser Krankheit“, entgegnete Sam. „Vielleicht ist sie ansteckend. Jedenfalls haben wir immer zusammen in einem Bett geschlafen.“

„Ein wunderliches altes Haus das“, sagte der kleine Mann, sich umsehend.

„Hätten Sie uns nur ein Wort geschrieben, daß Sie kommen wollten, würden wir’s haben ausbessern lassen“, versetzte Sam ruhevoll.

Der kleine Mann schien etwas verblüfft durch diese seltsamen Entgegnungen und ging sich mit seinen Freunden besprechen. Dann holte er eine Prise Schnupftabak aus einer silbernen Dose und war augenscheinlich im Begriff, seine Fragen wieder aufzunehmen, als einer der beleibten Herren, der ein höchst gutmütiges Gesicht hatte und eine Brille und ein Paar schwarze Gamaschen trug, ihm zuvorkam.

„Es handelt sich nämlich darum“, sagte der Herr mit dem gutmütigen Gesicht, „daß mein Freund hier“ – er deutete dabei auf den andern beleibten Herrn – „Ihnen eine halbe Guinee geben will, wenn Sie auf zwei oder drei Fragen genü …“

„Pardon, mein werter Herr“, unterbrach ihn der kleine Mann. „Sie gestatten. Der erste Grundsatz in der Behandlung solcher Fälle besteht darin, daß der Klient sich in keiner Weise mehr einmengt, wenn die Sache einmal einem Sachwalter übertragen ist. In der Tat, Mr…. Äh“, er wandte sich an den andern beleibten Gentleman. „Pardon, ich habe den Namen Ihres Freundes vergessen.“

„Pickwick“, sagte Mr. Wardle.

„Ah, Pickwick; richtig, Mr. Pickwick. Mein werter Herr, ich werde mich glücklich schätzen, Ihre Privatansichten als die eines amicus curiae entgegenzunehmen, aber Sie müssen einsehen, wie wenig sich Ihre Einmengung mit einem derartigen ,ad captandum‘-Argument, wie es das Anbieten einer halben Guinee ist, mit meinem Verfahren verträgt. Ja, ja, mein werter Herr, so ist es!“ Der kleine Mann begründete das logisch, indem er eine Prise Tabak nahm, und legte dann sein Gesicht in ungemein gelehrte Falten.

„Ich wollte weiter nichts“, entschuldigte sich Mr. Pickwick, „als die höchst mißliebige Angelegenheit zu einem möglichst schleunigen Ende bringen.“

„Ganz recht, ganz recht“, sagte der kleine Mann.

„Und in dieser Absicht“, fuhr Mr. Pickwick fort, „machte ich Gebrauch von einem Argument, das mir meine Erfahrung als das erfolgreichste in allen Fällen bezeichnet.“

„Gewiß, gewiß“, sagte der kleine Mann. „Sehr gut, sehr gut – in der Tat. Aber Sie hätten mir dies mitteilen sollen.

Ich bin überzeugt, mein werter Herr, daß Sie über den Umfang des Vertrauens, das ein Sachwalter anzusprechen hat, nicht im unklaren sein können. Wenn über diesen Punkt eine autoritative Begründung nötig sein sollte, so möchte ich Sie auf den wohlbekannten Fall von Barnwell und …“

„Aber Sie wollten mich doch für ’ne halbe Guinee ausfragen“, fiel Sam ein. „Gut, ich bin bereit. Mehr kann man doch nich sagen, Sir. Oder ja? Und nun ist die zweite Frage, was, zum Teufel, Sie von mir wollen, wie der Mann sagte, als er den Geist sah.“

„Wir wünschen zu wissen – „, begann Mr. Wardle. „Pardon, mein werter Herr!“ fiel der geschäftige kleine Mann wieder ein.

Mr. Wardle zuckte die Achseln und schwieg. „Wir wünschen zu wissen“, nahm der kleine Mann feierlich das Wort, „und wir fragen Sie, um im Hause keine Besorgnisse zu erregen, wir wünschen zu wissen, sage ich, wer gegenwärtig hier logiert.“

„Wer hier logiert?“ wiederholte Sam nachdenklich. „Erstens mal ’n Stelzfuß in Nummer sechs, ’n Paar hessische Stiefel in Nummer dreizehn, zwei Paar Halbstiefel in siebzehn, diese gelben Stulpen in der Kammer neben dem Schenkverschlag und fünf weitere Stulpenstiefel im Gastzimmer.“ „Weiter nichts?“ fragte der kleine Mann. „Warten Sie mal“, versetzte Sam, sich plötzlich entsinnend, „’n Paar ziemlich abgetragene Wellingtonstiefel und ’n Paar Damenschuhe in Nummer fünf.“

„Was sind das für Schuhe?“ fragte Wardle hastig, den Sams wunderliche Aufzählung der Wirtshausbewohner ebensosehr wie Mr. Pickwick verwirrt hatte.

„Machwerk aus der Provinz“, entgegnete Sam. „Keine Firma drin?“

„Brown.“

„Woher?“

„Muggleton.“

„Sie sind’s!“ rief Mr. Wardle. „Beim Himmel, wir haben sie gefunden.“

„Hm!“ sagte Sam. „Die Wellingtonstiefel sind nach Doktors Commons gegangen.“

„Ho“, sagte der kleine Mann.

„Ja, er holt ’ne Lizenz.“

„Da war es aber höchste Zeit für uns“, rief Mr. Wardle. „Zeigen Sie uns das Zimmer; wir dürfen keinen Augenblick verlieren.“

„Pardon, mein werter Herr, ich bitte“, sagte der kleine Mann – „Vorsichtig, vorsichtig.“

Er zog aus seiner Tasche eine rotseidene Börse, sah Sam streng an und zückte ein Goldstück.

Sam verzog sein Gesicht zu einem ausdrucksvollen Grinsen.

„Führen Sie uns geschwind zu dem Zimmer, aber ohne uns anzumelden, und das Goldstück gehört Ihnen“, sagte der kleine Mann.

Sam warf die gelben Stulpen in eine Ecke und ging durch einen dunklen Gang und ein weites Stiegenhaus voran. Am Ende des zweiten Ganges hielt er inne und streckte seine Hand aus.

„Da haben Sie“, flüsterte der Sachwalter, als er das Geld in die Hand des Stiefelputzers legte. „Ist das hier das Zimmer?“

Sam nickte bejahend.

Mr. Wardle öffnete die Tür, und alle drei traten in demselben Augenblick ins Zimmer, als Mr. Jingle, der inzwischen zurückgekehrt war, eben der alten Jungfer die Lizenz zeigte.

Miß Rachel stieß einen lauten Schrei aus, warf sich in einen Sessel und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mr. Jingle knüllte die Lizenz zusammen und steckte sie in seine Rocktasche. Die unwillkommenen Gäste traten in die Mitte des Zimmers.

„Sie sind ein – ein netter Schurke!“ rief Mr. Wardle, atemlos vor Zorn.

„Mein werter Herr – mein werter Herr!“ ermahnte der kleine Mann und legte seinen Hut auf den Tisch. „Bitte, bedenken Sie doch, Ehrenkränkung, Entschädigungsklage. Beruhigen Sie sich, mein werter Herr, pardon …“

„Wie konnten Sie sich unterstehen, meine Schwester aus meinem Hause zu entführen?“ rief Mr. Wardle.

„Ja – ja – sehr gut“, sagte der kleine Mann. „Das können Sie fragen. Wie konnten Sie sich unterstehen, Sir? Nun, Sir?“

„Wer, zum Teufel, sind denn Sie?“ fragte Mr. Jingle mit einer Heftigkeit, daß der kleine Herr unwillkürlich einige Schritte zurückwich.

„Wer er ist, Sie Halunke?“ schrie Mr. Wardle dazwischen. „Mein Rechtsbeistand ist er, Mr. Perker von Grays Inn. Perker, ich will, daß man diesen Kerl gerichtlich verfolgt – er muß zur Rechenschaft gezogen werden – ich will – ich will – Gott verdamm mich – ich will ihn zugrunde richten, den Schuft. Und du“, fuhr Mr. Wardle, sich plötzlich an seine Schwester wendend,_ fort, „du, Rachel, was soll das heißen, daß du in einem Alter, wo du doch schon endlich klug sein könntest, mit einem Landstreicher davonläufst, Schande über deine Familie bringst und dich selber unglücklich machst? Setz deinen Hut auf und komm nach Hause! Schaffen Sie geschwind eine Mietkutsche her und bringen Sie die Rechnung dieser Dame, hören Sie? Sie!“

„Sogleich, Sir“, versetzte Sam, der auf Mr. Wardles ungestümes Klingeln mit einer Schnelligkeit erschienen war, die annehmen ließ, daß er den ganzen Vorgang durch das Schlüsselloch mit angesehen hatte.

„Setz deinen Hut auf!“ wiederholte Mr. Wardle. „Nichts da“, sagte Jingle. „Das Zimmer verlassen, Sir, nichts zu schaffen hier – Dame kann tun, was sie will – mehr als einundzwanzig Jahre.“

„Mehr als einundzwanzig?“ rief Mr. Wardle verächtlich. „Jawohl, mehr als einundvierzig.“

„Das bin ich nicht“, sagte die alte Jungfer, deren Entrüstung über den Entschluß, in Ohnmacht zu fallen die Oberhand gewann.

„Allerdings nicht“, versetzte Mr. Wardle. „In ein paar Stunden bist du fünfzig.“

Sofort stieß die Tante einen lauten Schrei des Entsetzens aus und sank besinnungslos zusammen.

„Ein Glas Wasser!“ rief der menschenfreundliche Mr. Pickwick der Wirtin zu.

„Ein Glas Wasser?“ sagte Mr. Wardle leidenschaftlich.

„Bringen Sie einen Zuber und gießen Sie ihn ihr über den Kopf. Es wird ihr guttun. Sie hat eine derartige Abkühlung reichlich verdient.“

„Pfui, Sie Unmensch!“ rief die mildherzige Wirtin. „Die Ärmste!“ Und unter freundlichem Zureden benetzte sie, von ihrem Dienstmädchen unterstützt, die Schläfen der ohnmächtigen Jungfrau mit Essig, rieb ihr die Hände, kitzelte ihr die Nase, löste ihr das Mieder und wandte die sonstigen üblichen Belebungsmittel an, mit denen mitleidige Frauen Damen beizuspringen pflegen, die sich bemühen, in Krämpfe und Ohnmachten zu fallen.

„Die Kutsche steht bereit, Sir“, meldete Sam in der Türe.

„Also los!“ rief Mr. Wardle. „Ich werde sie die Treppe hinuntertragen.“ Sofort erneuerten sich die Krämpfe mit verdoppelter Heftigkeit.

Die Wirtin war eben im Begriff, einen heftigen Protest gegen dieses Verfahren einzulegen, und hatte sich auch bereits durch die unwillige Frage, ob sich Mr. Wardle vielleicht für den Herrn der Schöpfung halte, Luft, gemacht, als Mr. Jingle sich ins Mittel legte.

„Hausknecht“, sagte er, „holen Sie mal einen Polizeibeamten.“

„Halt! Halt!“ rief der kleine Mr. Perker. „Überlegen Sie sich das, Sir, überlegen Sie sich das.“

„Habe nichts zu überlegen“, versetzte Mr. Jingle. „Sie ist großjährig – möchte sehen, wer sich untersteht, sie fortzunehmen – gegen ihren Willen.“

„Ich will nicht fort“, flüsterte die alte Jungfer. „Mit meiner Einwilligung nicht.“ (Anschließend bekam sie einen schauerlichen Rückfall.)

„Meine werten Herren“, sagte der kleine Mann leise und nahm Mr. Wardle und Mr. Pickwick heimlich beiseite. »Meine werten Herren, wir sind da in einer bösen Situation. Es ist ein äußerst schlimmer Fall; ja, ja, tatsächlich! Wir haben nämlich durchaus kein Recht, meine Herren, die Handlungsweise dieser Dame irgendwie zu gängeln. Ich habe Sie im voraus darauf aufmerksam gemacht, werter Herr, daß wir uns auf einen Vergleich gefaßt machen müßten.“

Es trat eine kurze Pause ein.

„Und welche Art von Vergleich würden Sie vorschlagen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Je nun, mein werter Herr, unser Freund ist in einer unangenehmen Lage. Wir müssen zufrieden sein, mit einem Geldopfer davonzukommen.“

„Ich will lieber alles über mich ergehen lassen, als diese Schmach geduldig hinnehmen und meine Schwester in ihrer Blindheit in ihr eigenes Unglück rennen sehen“, sagte Mr. Wardle.

„Ich glaube, es wird sich machen lassen“, entgegnete der kleine Geschäftsmann. „Mr. Jingle, wollen Sie einen Augenblick mit uns ins nächste Zimmer kommen?“

Mr. Jingle war bereit, und die vier begaben sich in eine leere Stube daneben.

„Nun, Sir“, begann der kleine Mann, nachdem er sorgfältig die Tür geschlossen hatte, „es gibt da keinen andern Weg, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen – treten Sie einen Moment hierher, Sir, hierher, ans Fenster, wir können da unter vier Augen sprechen, Sir – so, Sir, ich bitte, nehmen Sie Platz, Sir. Also, unter uns gesagt, werter Herr, es ist doch klar, daß Sie diese Dame nur um ihres Geldes willen entführt haben. Runzeln Sie nicht die Stirn, Sir, runzeln Sie nicht die Stirn; wir sprechen doch unter uns, und unter dem „wir“ verstehe ich nur Sie und mich. Wir sind beide Männer von Welt und wissen recht wohl, daß dies bei unsern Freunden dort nicht der Fall ist, was?“ Mr. Jingles Gesicht heiterte sich allmählich auf, und ein Blinzeln des Einverständnisses zuckte für einen Moment um sein linkes Auge.

„Sehr gut, sehr gut“, sagte der kleine Mann, als er den Eindruck, den seine Worte gemacht hatten, gewahrte. „Nun verhält sich die Sache indessen so, daß die Dame außer ein paar hundert Pfund nur wenig oder gar nichts besitzt, bis ihre Mutter einmal stirbt, und die ist ja noch eine sehr rüstige alte Dame, mein lieber Herr …“

„Alte“, wiederholte Mr. Jingle kurz und nachdrücklich.

„Nun ja“, gab der Anwalt mit einem leichten Hüsteln zu. „Sie haben ganz recht, mein werter Herr, sie ist ziemlich alt.

Aber sie stammt aus einer alten Familie, mein werter Herr, ich meine alt im eigentlichen Sinne des Wortes. Der Urahne dieser Familie kam nach Kent, als Julius Cäsar in Britannien einfiel, und seitdem ist, mit Ausnahme eines einzigen, das unter einem der Heinriche enthauptet wurde, kein. Glied dieser Familie vor dem fünfundachtzigsten Jahre gestorben. Und die alte Dame ist jetzt erst dreiundsiebenzig, mein werter Herr.“ Der kleine Mann hielt inne und nahm eine Prise Tabak.

„Nun, und?“ fragte Mr. Jingle.

„Nun, und, mein werter Herr? Darf ich Ihnen eine Prise anbieten? Nicht? Ah, um so besser. – Kostspielige Angewohnheit. Nun, mein werter Herr, Sie sind ein hübscher junger Mann. Ein Mann von Welt, könnten Ihr Glück machen, wenn Sie Vermögen hätten, wie?“

„Nun, und?“ sagte Mr. Jingle wieder.

„Verstehen Sie nicht, was ich meine?“

„Nicht ganz.“

„Meinen Sie nicht – nun, mein werter Herr, ich stelle es Ihnen nur anheim, aber meinen Sie nicht, daß fünfzig Pfund und Freiheit besser wären als Miß Wardle und ein langes Warten?“

„Geht nicht. Viel zuwenig!“ sagte Mr. Jingle, aufstehend.

„Überlegen Sie sich’s, mein werter Herr“, mahnte der kleine Anwalt und faßte Mr. Jingle beim Rockknopf. „’s ist eine schöne runde Summe. Ein Mann, wie Sie, könnte sie in ganz kurzer Zeit verdreifachen. Mit fünfzig Pfund läßt sich’s weit kommen, mein werter Herr.“

„Aber noch weiter mit hundertundfünfzig“, entgegnete Mr. Jingle kaltblütig.

„Nun, mein werter Herr, wir wollen nicht leeres Stroh dreschen“, nahm der kleine Mann seinen Vortrag wieder auf. „Sagen Sie1, sagen Sie siebzig.“

„Reicht nicht“, versetzte Mr. Jingle.

„Aber so laufen Sie doch nicht immer gleich weg, mein werter Herr, bitte, eilen Sie doch nicht so“, erwiderte der kleine Mann. „Achtzig? Kommen Sie, ich schreibe Ihnen sofort die Anweisung.“

„Nun, mein werter Herr“, entgegnete der kleine Mann, Mr. Jingle immer noch am Knopf haltend, „dann sagen Sie mir geradeheraus, wieviel Sie haben wollen.“

„Kostspielige Angelegenheit“, versetzte Mr. Jingle, „Geld aus meiner Tasche – Post, neun Pfund – Lizenz, drei – macht zwölf – Entschädigung hundert, macht hundertundzwölf – Ehrenkränkung – die Dame verloren.“

„Schon gut, schon gut, mein werter Herr“, sagte der kleine Mann mit einem schlauen Blick. Die beiden letzten Punkte wollen wir vielleicht aus dem Spiele lassen. Hundertundzwölf? – Sagen wir hundert.“

„Und zwanzig“, fügte Mr. Jingle bei.

„Kommen Sie; ich will Ihnen die Anweisung schreiben“, entgegnete der kleine Mann und setzte sich in dieser Absicht an den Tisch. „Übermorgen zahlbar“, fügte er mit einem Blick auf Mr. Wardle hinzu. „Und wir können inzwischen die Dame mitnehmen.“

Mr. Wardle nickte verdrießlich.

„Ein–hun–dert“, buchstabierte der kleine Mann.

„Und zwanzig“, ergänzte Mr. Jingle.

„Aber, mein Herr, ich bitte Sie“, ereiferte sich der kleine Mann.

„Schreiben Sie’s“, fiel ihm Mr. Wardle ins „Wort, „damit wir ihn schon endlich loswerden.“

Der kleine Mann schrieb die Anweisung, und Mr. Jingle steckte sie in die Tasche.

„Und jetzt schauen Sie, daß Sie augenblicklich hinauskommen!“ fuhr Mr. Wardle auf.

„Mein werter Herr“, begütigte der kleine Mann.

„Und merken Sie sich“, fuhr Mr. Wardle fort, „daß mich nichts – nicht einmal die Rücksicht auf die Ehre meiner Familie – veranlaßt haben würde, diesen Vergleich einzugehen, wenn ich nicht wüßte, daß Sie mit dem Geld in der Tasche womöglich noch früher dem Teufel in den Rachen laufen werden, als es ohnedies der Fall wäre.“

„Mein werter Herr“, suchte der kleine Mann aufs neue zu beschwichtigen.

„Lassen Sie mich, Perker!“ rief Mr. Wardle. „Und Sie, Sir, machen Sie, daß Sie hinauskommen.“

„Soll augenblicklich geschehen“, erwiderte Mr. Jingle unverschämt. „Servus, Pickwick.“

Wenn ein unbefangener Zeuge während des letzteren Teils der erwähnten Besprechung das Gesicht des ausgezeichneten Mannes und großen Gelehrten hätte sehen können, würde er sich wohl nicht wenig gewundert haben, daß die Glut der Entrüstung in seinen Augen nicht zum mindesten seine Brillengläser schmolz, so majestätisch erschien er in seinem Zorn. Seine Nasenflügel bebten, und seine Fäuste ballten sich unwillkürlich, als er sich in so unverschämt kollegialer Weise von dem Schurken begrüßen hörte. Aber er hielt an sich und rieb ihn nicht zu Staub.

„Da“, fuhr der verhärtete Bösewicht fort und warf Mr. Pickwick die Lizenz vor die Füße. „Namen ändern lassen – Dame nach Haus nehmen – gut für ,Tapps‘.“

Mr. Pickwick war Philosoph, und Philosophen sind im Grund weiter nichts als gewappnete und gepanzerte Menschen. Aber der Pfeil war gut gezielt und hatte durch den Harnisch philosophischer Weltanschauung seinen Weg bis in das innerste Herz des Menschen gefunden. In der Überfülle seiner Wut schleuderte er Jingle das Tintenfaß nach und rannte wie toll hinterdrein. Doch der Komödiant war bereits verschwunden, und Mr. Pickwick fühlte sich plötzlich von kräftigen Armen aufgehalten.

„Na, das Schreibgerät muß bei Ihnen zu Hause wohlfeil sein“, sagte Sam. „Eine Tinte, die von selbst schreibt und noch dazu an die Wand malt, alter Herr! Nur ruhig Blut, Sir! Hat nicht viel Zweck, ’nem Menschen mit so langen Beinen nachzurennen, der jetzt schon am andern Ende des Borough ist.“

Mr. Pickwicks Geist war, wie der aller wahrhaft großen Männer, stets Vernunftgründen zugänglich. Er war ein schneller und tiefer Denker, und die Überlegung eines Augenblicks genügte, ihn die Machtlosigkeit, seiner Wut einsehen zu lassen. Sie minderte sich daher so schnell wieder, wie sie losgebrochen war. Er verschnaufte sich und warf wohlwollende Blicke auf seine Freunde.

Sollen wir einen Auszug aus Mr. Pickwicks meisterhafter Beschreibung geben, wie herzbrechend Miß Wardle wehklagte, als sie sich von dem treulosen Jingle verlassen sah? Sein Tagebuch, von Tränen der Teilnahme teilweise verwischt, liegt offen vor uns. Ein „Wort, und es ist in den Händen des Druckers. Doch nein! Das sei ferne von uns.

Langsam und traurig kehrten am andern Tage die beiden Freunde nebst der verlassenen Jungfrau mit der schwerfälligen Muggletoner Postkutsche nach Hause zurück. Düster und trübe lagerte der schwarze Mantel einer Sommernacht auf den Fluren, als sie Dingley Dell erreichten und an dem Portal von Manor Farm aus dem Wagen stiegen.

Zwölftes Kapitel


Zwölftes Kapitel

Abermalige Reise und eine archäologische Entdeckung. Mr. Pickwicks Entschluß, einer Parlamentswahl beizuwohnen, und das Manuskript des alten Geistlichen.

Eine Nacht der Ruhe in dem tiefen Schweigen von Dingley Dell und ein Spaziergang von einer Stunde Dauer in der duftigen, erfrischenden Morgenluft reichten hin, bei Mr. Pickwick die Folgen der vorausgegangenen Körperermüdung und Gemütsbedrückung zu beheben. Zwei ganze Tage war der Treffliche von seinen Freunden und Jüngern getrennt gewesen, und voll Freude und Entzücken begrüßte er Mr. Winkle und Mr. Snodgraß, als er ihnen auf dem Heimweg von seinem frühen Spaziergang begegnete.

„Und was“, sagte er, nachdem er seinen beiden Freunden die Hand gedrückt und sie sich gegenseitig aufs herzlichste bewillkommt hatten, „was macht Tupman?“

Mr. Winkle, an den diese Frage vornehmlich gerichtet war, schwieg. Er wandte das Gesicht ab und schien von einer wehmütigen Erinnerung ergriffen zu werden.

„Snodgraß“, fragte Mr. Pickwick ernst, „was macht unser Freund? Er ist doch nicht krank?“

„Nein“, versetzte Mr. Snodgraß, und eine Träne zitterte an seinem gefühlvollen Auge, wie ein Regentropfen an einem Fensterrahmen. „Nein. Er ist nicht krank.“

Mr. Pickwick blieb stehen und sah abwechselnd bald den einen, bald den andern seiner Freunde an.

„Winkle, Snodgraß“, rief er. „Was soll das heißen? Wo ist unser Freund? Was ist vorgefallen? Sprecht, ich bitte, ich beschwöre, nein, ich befehle es euch, sprecht!“

Es lag eine Feierlichkeit, eine Würde in Mr. Pickwicks Benehmen, denen sich nicht widerstehen ließ. „Er ist fort“, sagte Mr. Snodgraß.

„Fort?“ rief Mr. Pickwick. „Fort?“

„Fort“, wiederholte Mr. Snodgraß.

„Wohin?“ rief Mr. Pickwick.

„Wir wissen es selbst nicht“, entgegnete Mr. Snodgraß, indem er ein Schreiben aus seiner Tasche zog und es seinem Freunde überreichte. „Gestern morgen, als ein Brief von Mr. Wardle mit der Meldung einlief, daß er am Abend seine Schwester zurückbringen würde, bemerkten wir, daß die Schwermut, der sich unser Freund tags zuvor schon hingegeben hatte, zunahm. Bald nachher war er verschwunden. Wir vermißten ihn den ganzen Tag über, und am Abend Brachte uns der Stallknecht aus der ,Krone‘ in Muggleton diesen Brief. Tupman hatte ihn am Morgen dort gelassen, mit dem ausdrücklichen Befehl, ihn vor Abend nicht abzugeben.“

Mr. Pickwick öffnete den Brief. Er trug die Handschrift seines Freundes und enthielt folgende Zeilen:

„Mein lieber Pickwick!

Sie, mein teurer Freund, stehen hoch über den Gebrechlichkeiten und Schwächen, denen der gewöhnliche Mensch nur zu leicht anheimfällt. Sie wissen nicht, was es heißt, plötzlich von einem lieblichen, bezaubernden Wesen verlassen zu sein und das Opfer eines Elenden zu werden, der unter der Maske der Freundschaft die grinsende Fratze der Arglist verbarg. Ich hoffe auch, daß Sie es nie an sich erfahren mögen. Ein Brief unter der Adresse: ,Lederne Flasche‘, Cobham in Kent, wird an mich gelangen, wenn ich noch am Leben bin. Ich fliehe den Anblick einer Welt, die mir verhaßt geworden. Sollte ich sie ganz und gar verlassen, so weinen Sie mir eine Träne nach und vergeben Sie mir. Das Leben, mein lieber Pickwick, ist mir unerträglich geworden. Der Mut, der in der Seele glimmt, ist des Lastträgers Tragriemen, auf dem die schwere Bürde der Erdenmühen und Erdensorgen ruht; nehmen Sie ihn weg, so erdrückt uns das Gewicht. Teilen Sie dies Rachel mit! Ach, dieser Name!

Tracy Tupman.“

„Wir müssen auf der Stelle von Dingley Dell aufbrechen“, sagte Mr. Pickwick, als er das Schreiben wieder zusammenfaltete. „Es wäre nach dem, was vorgefallen, unter keinen Umständen für uns schicklich, länger hierzubleiben. Wir haben die Verpflichtung, unserm Freunde zu folgen und ihn aufzusuchen.“ Mit diesen Worten führte er sie zu dem Hause.

Daselbst tat er unverzüglich sein Vorhaben kund und blieb, trotz der dringlichsten Bitten, unerschütterlich. Geschäfte, sagte er, forderten seine unverzügliche Abreise.

Der alte Geistliche war zufällig zugegen.

„Wie, ist’s Ihnen wirklich Ernst, abzureisen?“ fragte er und nahm Mr. Pickwick beiseite.

Mr. Pickwick wiederholte seine frühere Versicherung.

„Dann nehmen Sie hier dies kleine Manuskript“, fuhr der alte Herr fort, „das ich Ihnen selbst vorzulesen gedachte. Ich fand es unter den hinterlassenen Papieren eines Freundes von mir, eines Arztes an dem Irrenhaus unsrer Grafschaft, die mir zum Verbrennen oder Aufbewahren, je nachdem ich es für gut fände, übergeben wurden. Ich kann kaum glauben, daß das Manuskript wirklich von einem Irrsinnigen herrührt, obschon es keinesfalls die Handschrift meines Freundes ist. Mag es übrigens wirklich das Konzept eines Wahnsinnigen oder den Rasereien irgendeines Unglücklichen nachgebildet sein, was mir wahrscheinlicher dünkt, lesen Sie es und urteilen Sie dann selbst.“

Mr. Pickwick nahm das Manuskript und verabschiedete sich von dem wohlwollenden alten Herrn unter vielen Achtungs- und Freundschaftsversicherungen.

Schwerer wurde der Abschied von den Bewohnern Manor Farms, bei denen sie so viele Liebe und Gastfreundschaft genossen hatten. Mr. Pickwick küßte die jungen Damen – fast, könnte man sagen, als ob sie seine eignen Töchter gewesen wären –, doch schien diesem Gruße ein bißchen zu viel Feuer beigemengt zu sein, als daß dieser Vergleich ganz passend wäre, umarmte die alte Dame mit der Zärtlichkeit eines Sohnes, tätschelte die roten Wangen der Dienstmägde in patriarchalischer Weise und ließ dabei in die Hände einer jeden einige stofflichere Beweise seines Wohlwollens gleiten. Noch herzlicher war der Abschied der Herren von ihrem wackeren alten Wirte und Mr. Trundle, und sie vermochten sich erst von den lieben Leuten loszureißen, als endlich nach vielem Rufen Mr. Snodgraß aus einem dunklen Gange auftauchte, dem bald nachher Emilie mit nicht ganz so wie sonst leuchtenden Augen folgte. Die Herren sahen sich oft nach Manor Farm um, als sie langsam weitergingen, und Mr. Snodgraß warf manches Kußhändchen zurück in die Luft, wo so etwas wie ein Damentaschentuch lange aus einem der oberen Fenster flatterte, bis sie einen Feldweg einschlugen und die Hecken das alte Haus verbargen. In Muggleton verschafften sie sich eine Mietkutsche nach Rochester. Dort angelangt, hatte sich das Obermaß ihres Schmerzes so weit gelegt, daß sie ein splendides Mittagessen zu sich nehmen konnten, und sobald sie die nötigen Weisungen hinsichtlich des Weges eingeholt hatten, setzten sie sich wieder in Bewegung, um eine Nachmittagsfußpartie nach Cobham zu machen.

Es war ein herrlicher Spaziergang, denn der Juninachmittag war wunderschön, und der Weg führte sie durch einen tiefen, schattigen Wald. Leise rauschend fuhr ein kühles Lüftchen durch das dichte Laub, und die Vögel in den Zweigen belebten die Landschaft mit ihrem Gesang. Moos und Efeu bedeckten dicht die Rinde der alten Bäume, und das sanfte Grün des Rasens bekleidete den Grund wie ein seidner Teppich. Schließlich gelangten sie in einen offnen Park mit einer alten Halle in der wunderlichen und pittoresken Bauart aus Königin Elisabeths Zeiten. Auf beiden Seiten zogen sich lange Alleen aus stattlichen Eichen und Ulmen hin; große Rudel von Hochwild labten sich an dem frischen Grase, und hin und wieder lief ein aufgeschreckter Hase über den Weg.

„Oh, wenn doch“, rief Mr. Pickwick und sah sich in der Landschaft um, „wenn doch alle, die das gleiche Leiden bedrückt wie unsern Freund, hierherkämen! Gewiß müßte die frühere Liebe zum Leben bald wieder zurückkehren.“ „Mir aus der Seele gesprochen“, meinte Mr. Winkle.

„Und in der Tat“, fügte Mr. Pickwick nach einer halben Stunde, während der sie bei einem Dorfe angelangt waren, hinzu, „selbst für einen Welthasser muß dieser Park der schönste und lieblichste Aufenthalt sein, den man sich nur denken kann.“ Auch hiermit waren sowohl Mr. Winkle als Mr. Snodgraß einverstanden. Sie fragten nun nach der „Ledernen Flasche“ und wurden an ein reinliches und bequemes Dorfwirtshaus gewiesen, in das sie sogleich traten, um sich nach einem Gentleman namens Tupman zu erkundigen. „Führe die Herren ins Gastzimmer, Tom“, sagte die Wirtin.

Ein stämmiger Bauernbursche öffnete am Ende des Hausflures eine Tür, und die drei Freunde traten in ein langes, niedriges Zimmer, in dem eine große Anzahl von gepolsterten Sesseln mit hohen, wunderlich geschnitzten Lehnen stand und eine Reihe alter Porträts und rohkolorierter Drucke die Wände zierte. Am oberen Ende befand sich eine gedeckte Tafel mit gebratenem Geflügel, Schinken, Bier und dergleichen, hinter dem Mr. Tupman in einer Weise beschäftigt war, die auf nichts weniger als auf einen lebensüberdrüssigen Menschen schließen ließ.

Bei dem Eintritt seiner Freunde legte Mr. Tupman Messer und Gabel nieder und trat ihnen mit einer Miene voll Trauer entgegen. „Ich erwartete nicht, Sie hier zu sehen“, sagte er, Mr. Pickwicks Hand ergreifend. „Wie gütig von Ihnen.“

„Ach“, sagte Mr. Pickwick, setzte sich nieder und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Beendigen Sie Ihr Mahl und kommen Sie dann ein wenig mit mir ins Freie. Ich möchte gern ein Wort unter vier Augen mit Ihnen sprechen.“

Mr. Tupman tat, wie ihm geheißen; Mr. Pickwick labte sich inzwischen mit einer Kanne Bier, und dann gingen beide miteinander hinaus.

Ungefähr eine halbe Stunde sah man sie auf dem Kirchhof auf und ab spazieren. Mr. Pickwick gab sich alle Mühe, den fürchterlichen Entschluß seines Freundes zu bekämpfen. Ob Mr. Tupman bereits seiner Einsamkeit ‚müde war oder ob er der eindringlichen Beredsamkeit seines Freundes nicht widerstehen konnte – gleichviel, Tatsache ist, daß er nicht widerstand.

Es kümmere ihn wenig, sagte er, wo er den Rest seines kümmerlichen Daseins hinschleppe, und da sein Freund nun einmal einen so großen Wert auf seine unbedeutende Begleitung lege, so sei er willens, ferner an seinen Abenteuern teilzunehmen.

Mr. Pickwick lächelte. Sie drückten sich die Hände und gingen zurück, um sich mit ihren Gefährten zu vereinigen.

In diesem Augenblick geschah es, daß Mr. Pickwick jene unsterbliche Entdeckung machte, die der Stolz und der Ruhm seiner Freunde wurde und die Altertumsforscher aller Länder mit Neid erfüllte. Sie waren eben an der Tür ihres Gasthauses vorbeigekommen und ein wenig ins Dorf hinuntergegangen, und als sie wieder umkehrten, fiel Mr. Pickwicks Auge auf einen kleinen zerbrochnen Stein vor der Tür eines Bauernhauses, der halb in der Erde stak.

Er blieb stehen.

„Das ist doch sonderbar“, sagte er.

„Was ist sonderbar?“ fragte Mr. Tupman und sah jeden Gegenstand in seiner Nähe an, nur den rechten nicht. „Um Gottes willen, was gibt’s denn?“

Diese letzten Worte bildeten den Ausruf eines nicht zu bewältigenden Erstaunens, durch den Umstand veranlaßt, daß Mr. Pickwick, ganz begeistert von seiner Entdeckung, vor dem kleinen Stein auf die Knie niederfiel und mit seinem Taschentuch den Schmutz abzuwischen begann. „Da ist eine Inschrift“, sagte er.

„Ist es denn möglich?“ versetzte Mr. Tupman.

„Ich unterscheide“, fuhr Mr. Pickwick fort, indem er aus Leibeskräften rieb und mit höchster Spannung durch seine Brille spähte, „ich unterscheide ein Kreuz und ein B und dann ein T. Das ist höchst wichtig“, fügte er, aufspringend, hinzu. „Es ist irgendeine sehr alte Inschrift, vielleicht viel älter als die alten Armenhäuser dieses Ortes. Sie darf nicht verlorengehen.“

Er klopfte an die Tür des Bauernhauses. Der Besitzer öffnete.

„Wissen Sie nicht, wie dieser Stein hierherkam, mein Freund?“ fragte wohlwollend Mr. Pickwick.

„Nein, Sir“, antwortete der Mann höflich. „Er lag schon hier, lange, ehe ich oder einer von uns geboren wurde.“

Mr. Pickwick warf einen triumphierenden Blick auf seinen Gefährten.

„Sie – Sie – hängen vermutlich nicht allzusehr an ihm?“ fragte er, zitternd vor innerer Erregung. „Würden Sie ihn nicht verkaufen?“

„Na, wer möcht denn den kaufen?“ fragte der Mann mit einer Miene, die wahrscheinlich sehr pfiffig sein sollte.

„Kurz und gut, ich gebe Ihnen zehn Schilling, wenn Sie mir ihn dafür herausgraben wollen“, entgegnete Mr. Pickwick.

Man kann sich das Erstaunen des ganzen Dorfes vorstellen, als Mr. Pickwick den Stein, der mit einem einzigen Spatenstich herausgehoben war, mit nicht geringer körperlicher Anstrengung eigenhändig nach dem Wirtshaus trug und ihn, nachdem er ihn zuvor sorgfältig gewaschen, auf den Tisch legte.

Das Frohlocken und die Freude der Pickwickier kannten keine Grenzen, als endlich ihre Geduld und ihre Emsigkeit im Waschen und Abkratzen von Erfolg gekrönt war. Der Stein war uneben und zerbrochen, die Buchstaben standen schief und unregelmäßig, dessenungeachtet aber ließ sich das folgende Bruchstück einer Inschrift deutlich entziffern:


BILST
UM
PSSEIN
NGRAE
NZZ
EICH
EN.

Mr. Pickwicks Augen leuchteten vor Entzücken, als er sich niedersetzte und den aufgefundenen Schatz von allen Seiten betrachtete. Er hatte eins der höchsten Ziele seines Ehrgeizes erreicht. In einer wegen der Überreste aus früheren Jahrhunderten berühmten Grafschaft, in einem Dorfe, in dem sich gegenwärtig noch einige Denkwürdigkeiten älterer Zeiten vorfanden, hatte er, er, der Präsident des Pickwick-Klubs, eine seltsame und merkwürdige Inschrift von unzweifelhaft antikem Charakter entdeckt, die den Blicken so vieler gelehrter Forscher vor ihm entgangen war. Kaum wollte er seinen Augen trauen.

„Dies – dies“, sagte er, „ist bestimmend für mich. Wir kehren morgen nach London zurück.“

„Morgen?“ riefen seine verwunderten Begleiter.

„Ja, morgen. Dieser Schatz muß rasch nach einem Orte gebracht werden, wo er mit Muße gründlich untersucht und gehörig gewürdigt werden kann. Auch habe ich noch einen andern Grund für diesen Schritt. In einigen Tagen findet eine Parlamentswahl in dem Flecken Eatanswill statt, wo Mr. Perker, ein Herr, den ich kürzlich kennenlernte, als Agent für einen der Kandidaten auftreten wird. Wir wollen Zeugen davon sein und eine Szene, die für jeden Engländer von so hoher Wichtigkeit ist, aufs sorgfältigste beobachten.“

„Ja, das wollen wir“, stimmten die drei Freunde aufs lebhafteste ein.

Mr. Pickwick blickte um sich. Die Wärme und Anhänglichkeit seiner Jünger entzündeten die Glut seiner Begeisterung. Er war ihr Führer, und er fühlte es.

„Wir wollen dieses glückliche Zusammentreffen mit einem Gläschen feiern“, sagte er.

Auch dieser Vorschlag wurde mit einstimmigem Beifall aufgenommen, und nachdem Mr. Pickwick den wichtigen Stein in einem von der Wirtin erstandenen Bretterkistchen geborgen, setzte er sich an das Kopfende des Tisches in einen Armstuhl. Dann verbrachten die Herren den Abend bei Wein und fröhlicher Unterhaltung.

Es war elf Uhr vorbei – eine späte Stunde für das kleine Dorf Cobham –, als sich Mr. Pickwick nach dem Schlafgemach begab, das zu seiner Aufnahme hergerichtet worden war. Er öffnete das Gitterfenster, stellte das Licht auf den Tisch und erging sich in einer Reihe von Betrachtungen über die inhaltvollen Begebnisse der letzten zwei Tage.

Ort wie Stunde waren so recht zu dieser Stimmung geeignet, und Mr. Pickwick erwachte erst aus seinem Grübeln, als die Turmuhr die zwölfte Stunde verkündete. Der erste Glockenton schlug feierlich an sein Ohr; als aber der letzte ausgeklungen hatte, wurde ihm die tiefe Stille unerträglich; es war ihm fast, als hätte er einen Freund verloren. Er war nervös und aufgeregt, entkleidete sich hastig, stellte das Licht auf den Kamin und ging zu Bett.

Jeder hat wohl schon den unbehaglichen Gemütszustand erfahren, in dem das Gefühl körperlicher Ermattung vergebens gegen die Schlaflosigkeit ankämpft. Auch bei Mr. Pickwick war dies gegenwärtig der Fall. Er wälzte sich von der einen Seite auf die andere und schloß beharrlich die Augen, um mit Gewalt einzuschlummern; aber vergeblich. Lag nun der Grund in der ungewohnten Anstrengung des Tages, an dem genossenen Getränk oder an dem fremden Bett – wie dem auch sein mag, seine Gedanken kehrten ohne Unterlaß zu den grimmigen Bildern in der Gaststube und zu den alten Legenden zurück, von denen im Verlaufe des Abends die Rede gewesen. Nachdem er sich in dieser Weise eine Stunde ruhelos umhergewälzt hatte, kam er zu der unbehaglichen Überzeugung, daß er vergeblich einzuschlafen versuche, weshalb er aufstand und sich teilweise ankleidete. Alles, dachte er, ist besser als das Daliegen in Phantasien der allerschrecklichsten Art. Er sah zum Fenster hinaus. Tiefste Dunkelheit. Er ging im Zimmer auf und ab und fühlte sich höchst einsam.

Er war etliche Male vom Fenster zur Tür und von der Tür zum Fenster spaziert, als ihm plötzlich das Manuskript des alten Geistlichen wieder ins Gedächtnis kam. Ein guter Einfall! War es vielleicht auch uninteressant, so konnte es ihn möglicherweise in Schlaf wiegen. Er holte es daher aus seiner Rocktasche, rückte einen kleinen Tisch an die Seite seines Bettes, schneuzte das Licht, setzte seine Brille auf und schickte sich zum Lesen an. Es waren wunderliche Schriftzüge; die Blätter bekleckst und beschmutzt.

Auch der Titel hatte etwas Unheimliches, und Mr. Pickwick konnte es sich nicht versagen, ängstliche Blicke im Zimmer umherzuwerfen. Nach einiger Überlegung fühlte er jedoch die Albernheit, solchen Gefühlen Raum zu geben; er putzte das Licht abermals und las, wie folgt:

MANUSKRIPT EINES IRREN

„Ja! Eines Irren! Wie mir dieses Wort vor vielen Jahren ins Herz geschnitten hätte! Wie es das Entsetzen, das mich zuweilen anzuwandeln pflegte, geweckt und das Blut glühend und zischend durch meine Adern gejagt haben würde, bis der kalte Tau der Angst in großen Tropfen auf meine Stirn getreten wäre und meine Knie vor Furcht geschlottert hätten! Aber jetzt liebe ich es. Es ist ein schönes Wort. Zeigt mir den Monarchen, dessen finsterer Groll je so gefürchtet worden wäre wie der starre Blick des Wahnsinns, dessen Stricke und Beile nur halb so sicher wären wie der Griff eines Tobsüchtigen. Haha! Es ist etwas Großes, wahnsinnig zu sein, angesehen zu werden wie ein wilder Löwe durch die Stäbe des Eisengitters, die lange, stille Nacht durch zu heulen und mit den Zähnen zu knirschen und lustig mit den Ketten dareinzuklirren und dann, im Entzücken über diese köstliche Musik, sich im Stroh zu wälzen und zu wühlen. Es lebe das Tollhaus! Oh, es ist ein herrlicher Ort!

Ich erinnere mich der Zeit, wo mich der Gedanke, wahnsinnig zu werden, mit einem solchen Entsetzen erfüllte, daß ich oft, wenn ich aus dem Schlafe auffuhr, auf die Knie niederfiel und inbrünstig zu Gott flehte, er möchte den Fluch meiner Familie von mir nehmen; daß ich den Anblick der Heiterkeit und des Glückes floh, um mich an einsamen Orten zu verbergen, und manche langsam sich schleppende Stunde verbrachte, um die Fortschritte des Fiebers zu beobachten, das mein Gehirn verzehrte. Ich wußte, daß der Wahnsinn in meinem Blute kreiste und tief im Mark meiner Knochen steckte, daß zwar eine Generation von dieser Pest bewahrt geblieben war, aber daß ich der erste sein werde, bei dem sie wieder ins Leben treten müßte. Ich wußte, daß es so sein mußte, daß es immer so gewesen war und immer so sein würde, und wenn ich mich in einem belebten Saal in irgendeine dunkle Ecke zurückzog und die Leute flüstern, sich zuwinken und die Augen auf mich richten sah, da wußte ich, daß sie über den zum Wahnsinn Verdammten sprachen, und schlich mich hinweg, um in der Einsamkeit meinen Grübeleien nachzuhängen. So währte es Jahre, lange, lange Jahre. Die Nächte hier sind hin und wieder auch lang, sehr lang; aber sie sind nichts gegen die qualvollen, ruhelosen Nächte und die schrecklichen Träume, die mich damals heimsuchten. Ein Schauder überläuft mich, wenn ich nur daran denke. Düstere Gestalten mit tückischen, lauernden Gesichtern drückten sich in die Ecken meines Schlafgemachs und beugten sich des Nachts über mein Bett, um mich wahnsinnig zu machen. In leisem Flüstern erzählten sie mir, der Boden des alten Hauses, in dem mein Großvater starb, sei von seinem Blute getränkt, das er im Wahnsinn selber vergossen. Ich hielt mir die Ohren zu, aber es schrie in meinem Kopfe, bis das Zimmer widerdröhnte, daß zwar eine Generation vor ihm vor Wahnsinn bewahrt geblieben sei, aber sein Großvater jahrelang, an den Boden gefesselt, dagelegen habe, damit er sich nicht selbst in Stücke risse. Ich wußte, sie sagten mir die Wahrheit, ich wußte es nur zu gut. Ich hatte es jahrelang vorher schon herausgefunden, obgleich man es mir zu verbergen suchte. Haha! Ich war ihnen zu schlau, ich, der Irrsinnige!

Endlich kam es über mich, und da nahm es mich wunder, wie ich mich je davor hatte fürchten können. Ich konnte jetzt unter die Leute gehen und mit ihnen lachen und johlen, so gut wie irgendeiner. Ich wußte, daß ich wahnsinnig war, aber sie hatten nicht die leiseste Ahnung davon. Wie jauchzte ich in meinem Innern über den Streich, den ich ihnen jetzt spielte, ihnen, die früher auf mich deuteten und mir nachblinzelten, als ich noch nicht irrsinnig war und nur in der Furcht lebte, ich könnte es eines Tages werden! Und wie bebte ich vor Freude, wenn ich allein war und dachte, wie gut ich mein Geheimnis zu bewahren verstand und wie rasch meine Freunde mich verlassen würden, wenn sie die Wahrheit erführen. Ich hätte vor Lust laut aufschreien mögen, wenn ein lärmender Zechbruder allein mit mir speiste und ich mir das Leichengesicht und die bebenden Beine des Burschen vorstellte, wenn er gewußt hätte, daß der liebe Freund, der neben ihm saß und sein Messer schärfte, ein Tollhäusler war, der die Macht und halb auch den Willen hatte, das gefährliche Werkzeug in sein Herz zu stoßen. Oh, es war ein lustiges Leben!

Reichtümer flössen mir zu, Schätze über Schätze, und ich schwelgte in Freuden, deren Genuß in dem Bewußtsein meines Geheimnisses einen tausendfältigen Wert für mich bekam. Ich erbte weitläufige Besitzungen. Das Gesetz, sogar das argusäugige Gesetz, ließ sich täuschen und spielte bestrittene Tausende in die Hand eines Wahnsinnigen. Wo war der Verstand der scharfsichtigen, der sogenannten vernünftigen Leute? Wo der Witz der Rechtsgelehrten, die doch sonst so leicht Nullitätsgründe aufzufinden wissen? Die Schlauheit des Tollen hatte sie alle überlistet.

Ich hatte Geld. Wie umschmeichelte man mich! Ich verschwendete. Wie wurde ich gepriesen! Wie sich jene drei stolzen, hochmütigen Brüder vor mir demütigten! Und auch der alte, grauköpfige Vater, welche Achtung, welche Ehrerbietigkeit, welche aufopfernde Freundschaft! – Ja, er betete mich an. Der alte Mann hatte eine Tochter, die Schwester der jungen Männer, und alle fünf waren arm. Ich war reich, und als ich das Mädchen heiratete, sah ich in dem triumphierenden Lächeln, das auf den Gesichtern ihrer dürftigen Verwandten spielte, daß sie sich des Gelingens ihres wohlangelegten Planes und der schönen Beute freuten. Es war nur an mir, zu lächeln. Zu lächeln? Nein, laut hinauszubrüllen, mir die Haare zu zerraufen und mich auf der Erde zu wälzen vor lauter Entzücken. Sie ließen sich’s nicht träumen, die Tochter und Schwester an einen Wahnsinnigen verkuppelt zu haben.

Doch, halt! Wenn sie es auch gewußt hätten, würden sie sie geschont haben? Das Glück einer Schwester gegen das Gold ihres Gatten – ist es mehr als die leichteste Feder, die ich in die Luft blasen kann, gegenüber der glänzenden Kette, die meinen Körper schmückte? In einem Punkte wurde ich übrigens trotz meiner Schlauheit getäuscht. Wäre ich nicht wahnsinnig gewesen – merkwürdig, obgleich wir Irren doch sonst schlau genug sind, stellt sich doch hin und wieder eine Verwirrung bei uns ein –, so würde ich doch gewußt haben, daß das Mädchen weit lieber kalt und steif in einem bleiernen Sarge denn als beneidete Braut in meinen Prunkgemächern gelegen wäre. Ich würde gewußt haben, daß ihr Herz einem schwarzäugigen Knaben gehörte, dessen Namen ich sie einmal in dem Flüstern ihres unruhigen Schlafes nennen hörte, wobei sie zugleich Andeutungen fallenließ, sie sei mir geopfert worden, um den alten weißköpfigen Mann und die hochmütigen Brüder der Dürftigkeit zu entreißen.

Ich kann mich an Gestalten und Gesichter nicht mehr recht erinnern, aber ich weiß, daß das Mädchen schön war. Ich weiß das ganz gewiß, denn in hellen Mondnächten, wenn ich aus dem Schlafe auffahre, sehe ich still und regungslos in einem Winkel meiner Zelle eine abgezehrte Gestalt mit langen schwarzen, über die Schultern fallenden Locken stehen, die sich von keinem irdischen Lufthauch bewegen, die Augen starr auf mich geheftet, ohne je damit zu zucken oder sie zu schließen. Pst! Das Blut strömt mir eiskalt zum Herzen, während ich dies niederschreibe; die Gestalt ist die ihrige; ihr Gesicht ist sehr blaß, und die Augen glänzen wie Glas; aber ich kenne sie wohl. Sie bewegt sich nie, verzieht nie die Stirn und den Mund, wie es die andern tun, die bisweilen diesen Ort erfüllen, aber sie ist mir sogar noch schrecklicher als die Gespenster, die mich vor Jahren zum Wahnsinn verlockten, sie kommt frisch aus dem Grabe und hat ganz das Aussehen einer Leiche.

Fast ein Jahr lang sah ich dieses Gesicht immer blasser werden; fast ein Jahr lang sah ich Tränen über die vergrämten Wangen rinnen, ohne daß ich den Grund kannte. Aber endlich kam ich doch dahinter. Man konnte es mir nicht länger verbergen. Sie hatte mich nie geliebt, und ich habe auch nie geglaubt, daß sie mich liebte. Sie verachtete meinen Reichtum und haßte den Glanz, der sie umgab. Das hatte ich nicht erwartet. Sie liebte einen andern. An eine solche Möglichkeit hatte ich nie gedacht. Seltsame Gefühle bemächtigten sich meiner, und irgendeine geheimnisvolle Macht flüsterte mir Gedanken zu, die in meinem Hirne wirbelten und tobten. Sie haßte ich nicht, wohl aber den Menschen, um den sie immer weinte. Ich beklagte ja, ich beklagte das elende Leben, zu dem sie von ihren kaltherzigen und selbstsüchtigen Verwandten verdammt worden war. Ich wußte, daß sie nicht lange machen konnte, aber der Gedanke, sie könnte vor ihrem Tode einem unglücklichen Geschöpfe das Leben geben, das die Bestimmung trüge, den Wahnsinn auf seine Sprößlinge fortzupflanzen, gab den Ausschlag. Ich faßte den Entschluß, sie zu ermorden.

Viele Wochen trug ich mich mit dem Gedanken, sie zu vergiften, dann, sie zu ertränken, und dann, sie zu verbrennen. Ein herrliches Schauspiel, das große Haus in Flammen, in denen das Weib des Wahnsinnigen zu Asche verbrannte. Dann auch noch der Spaß, eine große Belohnung für die Entdeckung des Täters auszusetzen und einen vernünftigen Menschen für eine Tat, die er nie begangen, im Winde baumeln zu sehen – und all dies durch die Schlauheit eines Wahnsinnigen! Ich dachte oft an diesen Plan, aber endlich gab ich ihn wieder auf. Oh, welch eine Lust, Tag für Tag das Rasiermesser zu streichen, die Schärfe der Schneide zu befühlen und an das Klaffen zu denken, das ein Schnitt mit diesem dünnen, glänzenden Stahl hervorbringen würde!

Endlich flüsterten mir die Geister, die mich früher sooft besucht hatten, ins Ohr, daß die Zeit gekommen war, und drückten mir dabei das offene Rasiermesser in die Hand. Ich faßte es mit festem Griff, stand leise vom Bett auf und beugte mich, über mein schlafendes Weib. Sie hatte ihr Gesicht mit den Händen bedeckt. Ich entfernte sie sachte, und sie sanken auf ihre Brust. Sie hatte geweint, denn ihre Wangen trugen noch die feuchten Spuren von Tränen. Ihr Gesicht war sanft und ruhig, und in dem Augenblick, als ich sie so betrachtete, überflog ein leichtes Lächeln ihre blassen Züge. Ich legte leise meine Hand auf ihre Schulter. Sie fuhr auf, aber nur wie in einem vorübergehenden Traum. Ich beugte mich abermals vorwärts. Sie schrie auf und erwachte.

Eine einzige Bewegung meiner Hand würde für immer jeden Laut aus ihrer Kehle erstickt haben. Aber ich war erschreckt und trat zurück. Ihre Augen waren fest auf die meinigen geheftet. Ich weiß nicht, wie es zuging, aber sie schüchterten mich ein und nahmen mir allen Mut. Sie erhob sich aus dem Bett, unverwandt ihre Blicke auf mich gerichtet. Ich zitterte, hielt das Rasiermesser in der Hand, konnte mich aber nicht von der Stelle bewegen. Sie ging auf die Tür zu. Kurz davor drehte sie sich um und wandte die Augen von meinem Gesicht ab. Der Zauber war zerstört. Ich sprang auf sie zu und faßte sie am Arm. Schrei folgte auf Schrei, und sie sank zu Boden.

Jetzt hätte ich sie, ohne ein Widerstreben befürchten zu müssen, ermorden können, aber der Lärm hatte alle im Hause auf die Beine gebracht. Ich hörte Fußtritte auf den Treppen, versteckte das Rasiermesser wieder an seinem Ort, öffnete die Tür und rief laut um Hilfe. Man kam, hob sie auf und legte sie wieder auf ihr Bett. So lag sie einige Stunden besinnungslos da; aber mit dem Leben und der Sprache kehrte nicht auch die Vernunft wieder; sie tobte in wilden und wütenden Delirien.

Man rief Ärzte herbei, große und berühmte Gelehrte, die in prächtigen Equipagen mit wunderschönen Pferden und prunkenden Lakaien, vorfuhren. Sie wichen wochenlang kaum von ihrem Bett. Endlich hielten sie ein Konsilium, in dem sie sich leise und feierlich in einem Nebenzimmer miteinander berieten. Einer, der allerberühmteste, nahm mich sodann beiseite, bat mich, ich solle mich auf das Schlimmste gefaßt machen, und erklärte mir, mir, dem Wahnsinnigen, daß mein Weib irrsinnig sei. Er stand mit mir an einem offenen Fenster, blickte mir ins Gesicht, und seine Hand ruhte dabei auf meinem Arm. Mit einem Ruck hätte ich ihn auf die Straße hinunterschleudern können. Es wäre ein köstlicher Spaß gewesen, wenn ich es getan hätte; aber mein Geheimnis stand auf dem Spiel, und so ließ ich ihn gehen. Ein paar Tage nachher sagten sie mir, ich müßte meine Frau aufs strengste beaufsichtigen lassen und ihr einen Wärter bestellen. – Ich! – Ich ging ins Freie, wo mich niemand hören konnte, und lachte, daß die Luft von meinem Jauchzen widerhallte.

Sie starb den Tag darauf. Der weißköpfige alte Mann folgte ihr zum Grabe, und die stolzen Brüder ließen eine Träne auf die starre Leiche der Unglücklichen fallen, deren Leid sie, als sie noch lebte, ohne mit der Wimper zu zucken, mit angesehen hatten. Alles dies war Nahrung für meine innere Lust, und ich lachte beim Heimfahren von dem Leichenbegängnis hinter dem weißen Taschentuch, daß mir die Tränen in die Augen traten.

Aber obgleich ich meinen Plan durchgeführt und sie unter die Erde gebracht hatte, so war ich doch unruhig und verstört und fühlte, daß mein Geheimnis nicht lange mehr verborgen bleiben konnte. Ich vermochte nicht, die wilde Heiterkeit und Freude, die in meinem Innern kochte, zu verheimlichen; ich mußte ihr, wenn ich allein zu Hause war, durch Hüpfen, Tanzen, Zusammenschlagen der Hände und lautes Hinausbrüllen Luft machen. Ging ich aus und sah ich überall eine geschäftige Menge durch die Straßen oder nach dem Theater eilen oder hörte ich Musik“ und sah tanzen, so fühlte ich eine so tobende Lust, daß ich in die Häuser hätte einbrechen, den Leuten Stück für Stück das Fleisch vom Leibe reißen und laut aufheulen mögen in tollem Entzücken. Aber ich knirschte mit den Zähnen, stampfte mit den Füßen auf die Erde und grub mir die Nägel in die Hände. So hielt ich mich gewaltsam zurück, und noch kein Mensch ahnte, daß ich wahnsinnig war.

Ich erinnere mich noch, obgleich dies zu den letzten Dingen gehört, deren ich mich entsinnen kann, denn seit kurzem vermenge ich die Wirklichkeit mit meinen Träumen, und da ich so viel zu tun habe, daß ich trotz der größten Eile nicht fertig zu werden vermag, so gebricht es mir an Zeit, beide aus der wunderlichen Verwirrung, in der sie vor mir auftauchen, zu trennen, ich erinnere mich noch, wie ich endlich meinen Zustand merken ließ. Haha! Es ist mir, als sähe ich noch die entsetzten Blicke, als fühlte ich noch die Leichtigkeit, womit ich sie von mir schleuderte, ihnen die geballten Fäuste in die aschfahlen Gesichter schlug und dann auf den Flügeln des Windes dahineilte, die schreiende und tobende Menge weit hinter mir zurücklassend. Die Kraft „eines Riesen kehrt in meine Muskeln zurück, wenn ich nur daran denke. Da, wie diese Eisenstange sich unter meinem wütenden Griffe biegt! Ich könnte sie zerbrechen wie einen dürren Ast, wenn nur nicht die langen Gänge mit den vielen Türen wären, ich glaube nicht, daß ich mich zurechtfinden könnte, und wenn auch, ich weiß recht wohl, daß unten eiserne Tore sind, die man immer verriegelt und verschlossen hält. Sie wissen, mit was für einem schlauen Irren sie es zu tun haben, und sind stolz darauf, mich hier zu haben, um mich zeigen zu können.

Wo war ich stehengeblieben? Ja, richtig. Ich hatte einen kleinen Ausflug gemacht. Es war spät in der Nacht, als ich nach Hause kam, und ich fand den hochmütigsten der drei stolzen Brüder auf mich warten, eines dringenden Geschäfts wegen, wie er sagte; ich erinnere mich noch recht gut. Ich haßte diesen Menschen mit dem ganzen Haß des Wahnsinns. Oft und oft hatte es mir schon in den Fingern gejuckt, ihn zu zerreißen. Man sagte mir, daß er da wäre. Ich eilte rasch die Treppe hinauf. Er hatte mir etwas mitzuteilen. Ich schickte die Dienerschaft fort. Es war spät, und wir befanden uns allein, zum erstenmal.

Anfangs hielt ich meine Augen sorgfältig von ihm abgewandt, denn ich wußte, wovon er keine Ahnung hatte, ja, ich freute mich dessen, daß die Glut des Wahnsinns wie strahlendes Feuer aus meinen Blicken leuchtete. Endlich fing er an zu sprechen. Meine täglichen Ausschweifungen und die sonderbaren Reden, so bald nach dem Tode seiner Schwester, seien eine Kränkung ihres Andenkens. Wenn er dies mit vielen Umständen, die anfänglich seiner Beobachtung entgangen seien, zusammenhalte, so müsse er glauben, daß ich sie nicht gut behandelt hätte. Er wollte wissen, ob seine Annahme, ich beabsichtige, einen Schatten auf ihr Andenken zu werfen und ihre Familie zu kränken, richtig sei. Er sei es der Uniform, die er trage, schuldig, diese Erklärung zu fordern.

Dieser Mensch hatte ein Offizierspatent bei der Armee, ein Patent, das mit meinem Gelde und mit dem Elend seiner Schwester erkauft war. Er war der Rädelsführer eines Komplottes, das mich in eine Enge treiben und ihm Griffe in meine Kasse ermöglichen sollte. Er hauptsächlich hatte seine Schwester gezwungen, mich zu heiraten, trotzdem er wußte, daß ihr Herz jenem piepsenden Bürschlein gehörte. Seiner Uniform schuldig! Er! Der Livree seiner Schande! Ich wandte ihm meine Augen zu, ich konnte nicht anders, aber ich sprach kein Wort. Ich sah die plötzliche Veränderung, die unter dem Glutstrahl meiner Blicke in ihm vorging. Er war ein mutiger Mensch, aber die Farbe wich aus seinem Gesicht; er rückte den Stuhl zurück. Ich rückte ihm mit dem meinigen nach, und als ich lachte – ich war damals sehr lustig –, sah ich, daß er schauderte. Ich fühlte, wie der Wahnsinn in mir aufbrauste. Er fürchtete sich vor mir.

,Sie haben Ihre Schwester sehr geliebt, als sie noch am Leben war‘, sagte ich, ,natürlich, sehr geliebt.‘

Er sah unruhig im Zimmer umher, und ich gewahrte, wie seine Hand die Lehne seines Stuhles ergriff; aber er antwortete nicht.

,Du Schuft‘, sagte ich. ,Ich habe dich durchschaut; ich bin dem höllischen Komplott, das ihr gegen mich schmiedet, auf die Spur gekommen und weiß, daß ihr Herz an einem andern hing, ehe ihr sie zwangt, mein Weib zu werden. Ich weiß es, ich weiß es.‘

Er sprang von seinem Stuhl auf, schwang ihn in der Luft und rief mir zu, zurückzuweichen, denn ich war ihm, während ich sprach, immer näher gerückt.

Ich schrie mehr, als ich sprach, denn ich fühlte, wie die Raserei über mich kam, und die alten Geister flüsterten mir ins Ohr und hetzten mich, ich solle ihm das Herz aus dem Leibe reißen.

,Gott verdamm dich‘, fuhr ich plötzlich auf und stürzte auf ihn los, ,ich habe sie getötet. Ich bin ein Wahnsinniger. Nieder, du Hund. Blut – Blut muß ich sehen.‘

Ich warf den Stuhl, den er in seinem Entsetzen nach mir schleuderte, mit einem Schlage beiseite, packte ihn, und wir stürzten beide mit einem dumpfen Krachen zu Boden.

Ein herrlicher Kampf, denn er war ein großer, starker Mann, der sich um sein Leben wehrte, und ich ein Toller, der mit der Kraft des Wahnsinns rang und nach seinem Blute dürstete.

Keine Kraft auf Erden hätte mir die Spitze bieten können, und ich behielt recht. Abermals recht, obgleich ich wahnsinnig war! Sein Kämpfen wurde immer schwächer. Ich kniete auf seiner Brust und umkrallte seine Gurgel mit ehernen Griffen. Sein Gesicht wurde purpurrot, die Augen quollen ihm aus dem Kopf, und er schien mich mit der herausgestreckten Zunge zu verhöhnen. Ich drückte immer fester zu.

Da flog die Tür plötzlich krachend auf, und eine Menge Leute drang herein und rief sich gegenseitig zu, mich, den Wahnsinnigen, zu ergreifen. Mein Geheimnis war verraten, und mein Kampf galt jetzt nur noch meiner Freiheit. Ich war, ehe mich noch eine Hand berührte, wieder auf den Beinen, stürzte mich auf die Angreifer und bahnte mir mit den Armen, als hätte ich ein Beil in der Hand, mit dem ich alles niederschmetterte, einen Weg. Ich erreichte die Tür, schwang mich über das Treppengeländer und war im Nu auf der Straße.

Ich lief immer geradeaus, aber niemand wagte es, mich aufzuhalten. Ich hört“ das Geräusch der laufenden Füße hinter mir und verdoppelte meine Eile. Immer schwächer und schwächer wurde das Getöse und erstarb endlich ganz und gar. Aber immer noch jagte ich weiter über Sumpfgründe und Gräben, über Hecken und Zäune, unter wildem Jubelgeschrei, und die seltsamen Wesen, die mich von allen Seiten umgaben, stimmten mit ein, daß die ganze Luft von dem Geheul erfüllt war. Ich wurde von den Armen der Dämonen getragen, die im Winde dahinfegten und alle Hindernisse vor sich niederwarfen. Das Getümmel und die Eile, womit sie midi fortzogen, machten mich schwindlig, bis sie mich endlich gewaltsam von sich schleuderten und ich schwer auf die Erde niederstürzte. Als ich wieder erwachte, befand ich mich hier, hier, in dieser lustigen Zelle, wo mich die Sonne selten besucht und ihre Strahlen nur dazu dienen, mir die dunkeln Schatten, die mich umringen, und die stumme Gestalt in ihrem Winkel zu zeigen. Wenn ich wachend daliege, höre ich bisweilen seltsame Schreie, die aus entfernten Teilen dieses großen Gebäudes zu mir dringen. Was sie zu bedeuten haben, weiß ich nicht; aber sie kommen nie von der bleichen Gestalt, die ihrer nicht einmal achtet. Von den ersten Schatten des Abends bis zum frühesten Lichte des Morgens steht sie regungslos auf demselben Fleck, horcht auf die Musik meiner Eisenkette und sieht zu, wie ich in meinem Strohlager umherwühle.“

Am Schlüsse dieses Manuskripts stand, von einer andern Hand geschrieben, folgende Note:

„Der Unglückliche, dessen Zustand in den vorstehenden Zeilen geschildert ist, bietet, ein trauriges Beispiel für die verderblichen Folgen schlechter Erziehung und so lange fortgesetzter Ausschweifungen, bis sich ihre Folgen nicht mehr gutmachen ließen. Das wüste Leben seiner jüngeren Jahre hatte Fieber und Delirium erzeugt. In einem solchen Anfall bemächtigte sich seiner die wunderliche Vorstellung, daß der Wahnsinn in seiner Familie erblich sei, eine Vorstellung, die sich auf eine wohlbekannte pathologische Theorie gründet, die einesteils von den Ärzten scharf bestritten, andererseits beharrlich verfochten wird. Dies hatte allmählich Trübsinn zur Folge, der nach und nach in ausgesprochen“ Tobsucht überging. Es ist aller Grund vorhanden, daß die mitgeteilten Tatsachen, freilich in ihrer Darstellung durch eine kranke Phantasie verdreht, wirklich stattgefunden haben, und wenn man die Jugendverirrungen des Wahnsinnigen kennt, muß man sich nur wundern, daß seine Leidenschaften, sobald sie einmal des Zügels der Vernunft entbehrten, ihn nicht zu noch schrecklicheren Taten verleitet haben.“ Mr. Pickwicks Kerze war heruntergebrannt, und als das Licht plötzlich ohne ein vorangehendes warnendes Flackern auslöschte, schrak er in seinem aufgeregten Zustande lebhaft zusammen. Hastig warf er die Kleidungsstücke, die er beim Aufstehen angezogen hatte, wieder ab, sah sich furchtsam im Zimmer um, hüllte sich rasch in die Bettdecke und verfiel bald darauf in tiefen Schlaf.

Der Morgen war schon weit vorgerückt, und die Sonne schien herrlich in sein Schlafgemach, als er erwachte. Die Beklemmung der letzten Nacht war mit den dunklen Schatten, die die Landschaft umfingen, gewichen, und das Licht des strahlenden Morgens erfüllte sein Inneres. Nach einem kräftigen Frühstück machten sich die vier Reisenden nebst einem Manne, der ihnen den Stein „in dem Bretterkistchen nachtrug, nach Gravesend auf den Weg. Sie erreichten die Stadt gegen ein Uhr – ihr Gepäck hatten sie bereits von Rochester aus nach London zurückschicken lassen –, und da sie glücklicherweise auf einem Postwagen noch Außensitze bekamen, langten sie fröhlich und gesund noch am selben Abend zu Hause an. Die nächsten drei oder vier Tage verbrachten sie mit Vorbereitungen für ihren Besuch in .Eatanswill. Da jedoch der Bericht über alles, was auf dieses wichtige Unternehmen Bezug hat, ein gesondertes Kapitel erheischt, so sei hier nur kurz die weitere Geschichte der archäologischen Entdeckung mitgeteilt.

Aus den Klubverhandlungen erhellt, daß Mr. Pickwick in einer am Abend nach seiner Rückkehr abgehaltenen Generalversammlung eine Vorlesung über seinen Fund hielt, in der er viele scharfsinnige und gelehrte Hypothesen über die Bedeutung der Inschrift zum besten gab. Ein geschickter Künstler hatte eine getreue Zeichnung des Steines angefertigt und sie lithographiert, um Abdrücke davon der königlichen Gesellschaft für Altertumsforschung und andern gelehrten Korporationen zu übersenden, ein Schritt, der viele neidische und eifersüchtige Federn in Bewegung setzte. Mr. Pickwick selbst ließ eine Broschüre erscheinen, in der er auf sechsundvierzig enggedruckten Seiten siebenundzwanzig verschiedene Erklärungen der Inschrift veröffentlichte. Eine weitere Folge war, daß drei alte Herren ihre erstgeborenen Söhne auf den gesetzlich niedrigsten Pflichtanteil von einem Schilling setzten, weil sie sich unterfangen hatten, den archäologischen Wert der Entdeckung in Zweifel zu ziehen; ferner, daß ein enthusiastischer Altertumsfreund aus Verzweiflung, daß er den Sinn der Inschrift nicht zu ergründen vermochte, sich selbst entleibte, daß Mr. Pickwick zum Ehrenmitglied von siebzehn einheimischen und ausländischen Gesellschaften ernannt wurde, und schließlich, daß keine dieser siebzehn Gesellschaften etwas aus der rätselhaften Schrift zu machen wußte und daher alle darin übereinstimmten, daß der Fund außerordentlich wichtig wäre.

Nur Mr. Blotton – möge dieser Name der ewigen Verachtung aller Verehrer des Geheimnisvollen und Erhabenen anheimfallen –, nur Mr. Blotton unterfing sich, mit der Zweifelsucht und Sophisterei einer gemeinen Seele einen Erklärungsversuch geltend zu machen, der ebenso hämisch wie lächerlich war. Mr. Blotton hatte nämlich, erfüllt von dem niedrigen Wunsche, den Glanz des unsterblichen Namens „Pickwick“ zu besudeln, in Person eine Reise nach Cobham gemacht und erlaubte sich nun nach seiner Rückkehr in einer Rede an den Klub die sarkastische Bemerkung, daß er den Mann gesprochen hätte, von dem der Stein gekauft worden wäre, und daß dieser allerdings über das Alter des Steins keine Auskunft zu geben gewußt, wohl aber das hohe Alter der Inschrift feierlich in Abrede gestellt hätte. Letztere wäre lediglich eine Arbeit, die er selbst in müßigen Stunden ausgeführt hätte und die „Bill Stump sein Grenzzeichen“ bedeuten sollte, wobei sich der gute Stump mehr an den Klang der Worte als an die strengen Regeln der Grammatik gehalten hätte.

Der Pickwick-Klub nahm, wie sich von einem so erleuchteten Institut erwarten läßt, diese Erklärung mit der gebührenden Verachtung auf, schloß den scheelsüchtigen und anmaßenden Mr. Blotton aus dem Klubverbande aus und dotierte Mr. Pickwick eine goldne Brille zum Beweise seines Vertrauens und der Anerkennung seiner Verdienste. Mr. Pickwick ließ sich zum Dank für den Klub porträtieren und das Bild zum ewigen Gedächtnis im Versammlungssaal aufhängen.

Mr. Blotton war zwar ausgestoßen, gab sich aber nicht geschlagen. Er schrieb gleichfalls eine Broschüre, dedizierte sie den siebzehn gelehrten Gesellschaften, wiederholte darin die bereits vermeldeten Angaben und deutete an, daß er die besagten siebzehn Korporationen lediglich für ebenso viele „Narrenverbände“ halte. Dadurch wurde natürlich die gerechte Entrüstung dieser siebzehn Gesellschaften geweckt, und es erschienen mehrere neue Flugschriften. Die fremden gelehrten Gesellschaften korrespondierten mit den einheimischen; die einheimischen übersetzten die Flugschriften der fremden ins Englische, die fremden die Flugschriften der einheimischen in alle nur erdenklichen Sprachen, und so begann der berühmte wissenschaftliche Streit, der aller Welt unter dem Namen „Pickwickfehde“ bekannt geworden ist. Der nichtswürdige Versuch, Mr. Pickwicks Ruhm zu schmälern, fiel indes auf das Haupt seines boshaften Urhebers zurück. Die siebzehn gelehrten Gesellschaften erklärten den anmaßenden Mr. Blotton für einen unwissenden Intriganten und schickten fleißiger als je Abhandlungen in die Welt. Und bis auf diesen Tag ist der Stein ein unlesbares Monument der Größe Mr. Pickwicks und ein unvergängliches Zeichen seines Sieges über die Kleinlichkeit seiner Feinde.

Dreizehntes Kapitel


Dreizehntes Kapitel

Ein Vorfall von einschneidender Wirkung auf Mr. Pickwicks Leben und Geschichte.

Mr. Pickwicks Wohnung in Goß Wallstreet war zwar nicht groß, aber einem Mann von seinem Genie und seiner Beobachtungsgabe vorzüglich angepaßt. Sein Arbeitszimmer befand sich im ersten Stock, sein Schlafzimmer im zweiten, und beide lagen vornheraus, so daß Mr. Pickwick sowohl von seinem Schreibtisch im Wohnzimmer wie von seinem Ankleidespiegel im Schlafgemach aus stets Gelegenheit hatte, die menschliche Natur in allen ihren unzähligen Phasen an einem Platze zu beobachten, der ihm fortwährend ein buntes Volksleben vor Augen führte. Seine Hauswirtin, Mrs. Bardell, die trostlose Hinterbliebene eines Zollbeamten, war eine stattliche Frau von lebhaftem Temperament, angenehmem Äußern und wohlausgebildetem Kochgenie. In ihrem Hause gab es weder Kinder noch Dienstboten, noch Federvieh. Seine einzigen Insassen waren, außer Mr. Pickwick, ein großer Mann und ein kleiner Knabe, der erstere ein Mietsmann, der zweite ein Sprößling Mrs. Bardells. Der große Mann kam immer abends Punkt zehn Uhr nach Hause, um sich in eine zwerghafte französische Bettstelle in dem hintern Zimmer zu zwängen, wogegen die kindlichen Spiele und gymnastischen Übungen des jungen Mr. Bardell sich ausschließlich auf die Plätze vor den Türen der Nachbarn und die Gossen vor dem Hause beschränkten. Reinlichkeit und Ruhe herrschten in dem Hause, in dem Mr. Pickwicks Wille als oberstes Gesetz galt. Jedermann, der den geschilderten häuslichen Zustand und die bewunderungswürdige Selbstbeherrschung Mr. Pickwicks kannte, würde das Benehmen des Gelehrten an dem Morgen des Vortages der Reise nach Eatanswill höchst mysteriös und unergründlich vorgekommen sein. Er ging mit raschen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, schaute alle drei Minuten einmal unruhig zum Fenster hinaus, sah fortwährend auf die Uhr und ließ noch viele andere bei ihm selten vorkommende Zeichen von Ungeduld wahrnehmen. Offenbar lag ihm etwas sehr Wichtiges im Sinn; doch was das sein konnte, vermochte selbst Mrs. Bardell nicht zu ergründen.

„Mrs. Bardell!“ hob Mr. Pickwick endlich an, als das langwierige Staubabwischen der Haushälterin sich seinem Ende zuneigte.

„Sir?“

„Ihr kleiner Knabe bleibt aber lange aus, Mrs. Bardell!“

„Nun, es ist auch ein ziemlich weiter Weg nach dem Borough, Sir“, entgegnete Mrs. Bardell.

„Da haben Sie freilich recht“, versetzte Mr. Pickwick und versank abermals in Stillschweigen, während Mrs. Bardell mit dem Staubabwischen fortfuhr.

„Mrs. Bardell!“ begann Mr. Pickwick nach einigen Minuten von neuem.

„Sir?“ sagte Mrs. Bardell wie zuvor.

„Glauben Sie, daß es bedeutend teurer käme, zwei Personen zu erhalten als eine einzige?“

„Ach Gott, Mr. Pickwick“, rief Mrs. Bardell aus, bis an den Rand ihrer Haube errötend, da sie in den Augen ihres Mieters ein heiratslustiges Blinzeln zu bemerken glaubte. „Ach Gott, Mr. Pickwick, was ist das für eine Frage?“

„Glauben Sie es wirklich?“ forschte Mr. Pickwick weiter.

„Ach Mr. Pickwick“, erwiderte Mrs. Bardell und kam mit ihrem Staubtuch bis dicht an die Ellenbogen des Gelehrten. „Das kommt ganz darauf an, ob es eine haushälterische und verständige Person ist, Sir.“

„Sehr wahr“, versetzte Mr. Pickwick, „aber ich denke, daß die Person, die ich im Auge habe“, bei diesen Worten fixierte er Mrs. Bardell sehr scharf, „diese Eigenschaften und noch überdies eine beträchtliche Weltkenntnis und Klugheit besitzt, was mir alles wesentlich von Nutzen sein dürfte.“

„Ach Gott, Mr. Pickwick!“ rief Mrs. Bardell aus und errötete abermals bis an den Rand ihrer Haube.

„Ich bin wirklich davon überzeugt“, sagte Mr. Pickwick, lebhaft werdend, wie es gewöhnlich bei ihm der Fall war, wenn er von einem ihn interessierenden Gegenstande sprach. „Ich bin wirklich fest davon überzeugt, und, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Mrs. Bardell, ich habe bereits meinen Entschluß gefaßt.“

„Ach du meine Güte, Sir!“ rief Mrs. Bardell.

„Sie werden es allerdings auffallend finden“, fuhr Mr. Pickwick liebenswürdig fort und blickte dabei seine Hausgenossin mit freundlichem Lächeln an, „daß ich Sie über diese Angelegenheit gar nicht zu Rat gezogen und nicht eher etwas erwähnt habe als in dieser Stunde, wo ich Ihren kleinen Jungen ausgeschickt … He, he, was sagen Sie?“

Mrs. Bardell konnte nur mit einem Blick antworten. Sie hatte Mr. Pickwick längst im stillen verehrt, und jetzt sah sie sich mit einem Male auf den Gipfel eines Glücks gehoben, von dem sie sich nicht im entferntesten hatte träumen lassen. Mr. Pickwick stand im Begriff, ihr einen Antrag zu machen! – Ein wohlüberlegter Plan! – Ja, nur deshalb hatte er ihren Knaben ausgeschickt. Wie herrlich war das ausgedacht und wie klug ausgeführt.

„Nun“, fragte Mr. Pickwick, „was meinen Sie?“

„Ach, Mr. Pickwick“, erwiderte Mrs. Bardell, vor innerer Bewegung zitternd. „Sie sind zu gütig, Sir.“

„Meinen Sie nicht, daß ich Ihnen ein gutes Teil Mühe dadurch ersparen würde?“ fragte Mr. Pickwick weiter.

„Ach, aus der Mühe mache ich mir gar nichts, Sir“, erwiderte Mrs. Bardell, „und ich will mich, wenn ich Sie nur zufrieden weiß, gern noch einer größeren unterziehen. Ach, es ist unaussprechlich gütig von Ihnen, Mr. Pickwick, auf meine verlassene Lage soviel Rücksicht zu nehmen!“

„Ich muß gestehen“, versetzte Mr. Pickwick, „daran habe ich gar nicht einmal gedacht. Sie werden auf diese Art, wenn ich in der Stadt bin, immer jemand haben, der bei Ihnen bleibt. Vorausgesetzt, daß es Ihnen recht ist.“

„Oh, wie glücklich werde ich sein“, seufzte Mr. Bardell.

„Und Ihr kleiner Knabe wird einen Gefährten haben, und zwar einen recht aufgeweckten, der ihn, ich will wetten, in einer Woche mehr Schelmenstreiche lehren wird, als er sonst wohl in einem Jahre lernen würde.“ Mr. Pickwick begleitete diese Worte mit einem gutmütigen Lächeln.

„Oh, Sie teurer …“

Mr. Pickwick stutzte.

„Oh, du lieber, guter, herrlicher Mann!“ rief Mrs. Bardell aus, sprang von ihrem Stuhle auf und schlang ohne weitere Umstände unter einem Katarakt von Tränen ihre Arme um Mr. Pickwicks Nacken.

„Gerechter Gott!“ schrie Mr. Pickwick, ganz außer sich. „Mrs. Bardell, gute Frau, du lieber Himmel! – Welche Situation! – Ich bitte, bedenken Sie doch, Mrs. Bardell, ich beschwöre Sie um alles in der Welt, wenn jemand käme …“

„Oh, mag kommen, wer will!“ rief Mrs. Bardell im Liebestaumel. „Ich lasse dich nicht! Oh, du lieber, du guter Mann!“ Dabei klammerte sie sich noch fester an ihn.

„Barmherziger Gott!“ ächzte Mr. Pickwick und rang aus Leibeskräften, um sich loszumachen. „Ich höre jemand die Treppe heraufkommen. Ich bitte Sie um des Himmels willen, liebe Frau, seien Sie doch nur vernünftig!“

Aber alle Bitten und Vorstellungen blieben fruchtlos, Mrs. Bardell war in Pickwicks Armen in Ohnmacht gefallen, und ehe er noch Zeit finden konnte, sie auf einen Stuhl niederzusetzen, trat Master Bardell ins Zimmer, gefolgt von Mr. Tupman, Mr. Winkle und Mr. Snodgraß.

Mr. Pickwick war wie vom Donner gerührt. Seine liebliche Bürde in den Armen haltend, stand er bestürzt und regungslos da und starrte seine Freunde an, ohne sie zu begrüßen, ja auch nur den geringsten Versuch zu machen, ihnen eine Erklärung zu geben. Die Herren machten große Augen, und Master Bardell glotzte von einem zum andern.

Die Verwirrung Mr. Pickwicks und das Erstaunen seiner Jünger waren so grenzenlos, daß sie wahrscheinlich sämtlich bis zum Wiedererwachen der Lebensgeister der guten Mrs. Bardell regungslos in ihren Stellungen verharrt haben würden, wenn sich nicht die kindliche Zärtlichkeit des Sprößlings der Ohnmächtigen auf eine höchst rührende Weise Luft gemacht hätte. Er war anfangs in seinem Manchesteranzug mit den großen Metallknöpfen erstaunt und ungewiß an der Tür stehengeblieben, aber allmählich erwachte in ihm der Verdacht, Mr. Pickwick könne seiner Mutter ein Leid angetan haben.

Er erhob ein jämmerliches Geschrei, stürzte auf den Unsterblichen los und begann seinen Kücken und seine Beine so empfindlich zu bearbeiten, wie es die Kraft seines kleinen Armes und das Ungestüm seiner Aufregung nur irgend gestatteten.

„So halten Sie doch den Schlingel fest!“ rief Mr. Pickwick in seiner Angst. „Er ist ja rein des Teufels!“

„Was gibt es denn eigentlich?“ fragten die drei Jünger wie aus einem Munde.

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Mr. Pickwick verdrießlich. „Schaffen Sie mir nur den Knaben vom Halse und helfen Sie mir, die Frau die Treppe hinunterzubringen.“

„Ach, ich fühle mich schon wieder besser“, seufzte Mrs. Bardell mit schwacher Stimme.

„Erlauben Sie mir, Sie hinunterzubegleiten“, sagte der stets galante Mr. Tupman.

„Vielen Dank, Sir, vielen Dank“, rief Mrs. Bardell hysterisch und ließ sich mit ihrem zärtlichen Sprößling von Mr. Tupman die Treppe hinabführen.

„Ich kann gar nicht begreifen“, sagte Mr. Pickwick, als sein Freund zurückkehrte, „was mit der Frau eigentlich los ist. Ich hatte ihr kaum meine Absicht angekündigt, mir einen Diener zu halten, als sie geradezu in Paroxismus verfiel und schließlich ohnmächtig wurde. Ein höchst merkwürdiger Fall!“

„Höchst merkwürdig!“ riefen die drei Freunde.

„Sie versetzte mich tatsächlich in eine höchst unangenehme Lage“, fuhr Mr. Pickwick fort.

„Höchst unangenehm!“ wiederholten die Jünger, hüstelten und warfen sich bedeutsame Blicke zu, die Mr. Pickwick nicht entgingen. Sie mißtrauten ihm offenbar.

„Es wartet ein Mann auf dem Gange“, unterbrach Mr. Tupman endlich das Schweigen.

„Ohne Zweifel der Bediente, von dem ich sprach“, sagte Mr. Pickwick. „Ich habe heute morgen nach ihm geschickt. Würden Sie vielleicht die Güte haben, ihn hereinzurufen, lieber Snodgraß.“

Mr. Snodgraß tat, wie ihm geheißen, und gleich darauf präsentierte sich Mr. Samuel Weller.

„Sie erinnern sich meiner wohl noch?“ redete ihn Mr. Pickwick an.

„Sollt’s meinen“, erwiderte Sam mit einem pfiffigen Blinzeln. „Tolle Sache das – damals –, aber er hat Sie umzingelt; weg war er, ehe einer ’ne Prise nehmen konnte, wie?“

„Lassen wir das jetzt“, fiel Mr. Pickwick hastig ein. „Ich wollte von etwas anderm mit Ihnen reden. Setzen Sie sich.“

„Danke, Sir“, sagte Sam und setzte sich, ohne sich weiter nötigen zu lassen, nachdem er vorher seinen alten weißen Hut auf einen Tisch vor der Tür gelegt hatte. „Er sieht nicht zum besten aus“, bemerkte er dabei mit einem freundlichen Lächeln, „sitzt aber erstaunlich gut und war ’n hübscher Deckel, ehe er sich von seiner Krempe trennte; jetzt ist er aber um so leichter, was der eine Vorteil is, und dann läßt jedes Loch frische Luft rein, und das ist der zweite.“

„Gut, gut“, sagte Mr. Pickwick, „aber jetzt zu der Sache, wegen der ich Sie habe rufen lassen.“

„Sehr wohl, Sir“, unterbrach ihn Sam, „nur raus damit, wie der Vater zu dem Kinde sagte, als es den Pfennig verschluckt hatte.“

„Vor allen Dingen möchte ich wissen“, fuhr Mr. Pickwick fort, „ob Sie in irgendeiner Hinsicht mit Ihrem gegenwärtigen Posten unzufrieden sind.“

„Bevor ich auf diese Frage antworte“, versetzte Sam, „möcht ich gern wissen, ob Sie mir vielleicht, zu ’nem bessern verhelfen wollen?“

Ein Strahl gütigen Wohlwollens glänzte auf Mr. Pickwicks Angesicht.

„Ich bin halb und halb entschlossen, Sie selbst in Dienst zu nehmen.“

„So, sind Sie das?“ sagte Sam.

Mr. Pickwick nickte bejahend.

„Lohn?“ fragte Sam.

„Zwölf Pfund jährlich“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Kleidung?“

„Zwei Anzüge.“

„Arbeit?“

„Sie hätten mich zu bedienen und diese Herren hier und mich auf unsern Reisen zu begleiten.“

„Schon daß der Anschlagzettel unten runterkommt“, sagte Sam mit Nachdruck. „Ich bin an ’nen einzelnen Herrn vermietet und mit die Bedingungen einverstanden.“

„Sie nehmen also die Stelle an?“ fragte Mr. Pickwick.

„‚türlich“, erwiderte Sam. „Wenn mir die Livree nur halb so gut paßt wie die Stelle, kann’s gleich losgehen.“

„Sie haben doch ein Zeugnis?“

„Da müssen Sie sich an die Wirtin vom ,Weißen Hirsch‘ wenden“, versetzte Sam.

„Könnten Sie noch heute abend den Dienst antreten?“

„Augenblicks stecke ich mich in die Livree, wenn die zur Hand is“, entgegnete Sam äußerst heiter.

„Sprechen Sie heute abend um acht Uhr vor“, sagte Mr. Pickwick, „und wenn meine Erkundigungen nach Wunsch ausfallen, werde ich für eine Livree sogleich Sorge tragen.“

Abgesehen von einem einzigen liebenswürdigen Fehltritt, an dem ein Hausmädchen zu gleichen Teilen die Schuld trug, lautete die Auskunft über Mr. Wellers Aufführung so günstig, daß Mr. Pickwick sich vollkommen beruhigt fühlte und noch am selben Abend den Vertrag abschloß. Mit der Raschheit und Energie, die nicht nur das öffentliche, sondern auch das Privatleben des außerordentlichen Mannes charakterisierte, führte er Sam Weller in eine der Niederlagen, wo alte und neue Männerkleider vorrätig sind und man der lästigen und unbequemen Formalität des Maßnehmens enthoben ist, und noch vor Einbruch der Nacht war Mr. Weller mit einem grauen Rock mit P.-K.-Knöpfen, einem schwarzen Hut mit einer Kokarde, einer fleischfarbigen, gestreiften Weste, lichten Beinkleidern und Gamaschen und sonstigem Zubehör ausstaffiert.

„Bin doch neugierig“, sagte der so plötzlich umgewandelte Mr. Weller, als er am nächsten Morgen den Außensitz der Eatanswiller Postkutsche eingenommen hatte, „ob ich ’nen Bedienten, ’nen Stallknecht, ’nen Wildhüter oder einen Portier vorstellen soll. Scheine mir so ’ne Art Ragout von all dem zu sein. Na, macht nichts. Komme auf diese Weise zu ’ner Luftveränderung, kriege viel zu sehen und habe wenig zu tun, was mir alles prächtig zusagt. Vivat hoch! Die Pickwickier sollen leben!“

Vierzehntes Kapitel


Vierzehntes Kapitel

Einiges über die Wahlen in Eatanswill.

Es scheint, als ob die Bewohner von Eatanswill, wie die so mancher andern Kleinstädte, eine außerordentlich hohe Meinung von ihrer Wichtigkeit hatten. Jedermann daselbst schien sich für verpflichtet zu halten, mit Leib und Seele zu einer der beiden großen Parteien des Städtchens, den Blauen und den Gelben, zu gehören. Die Blauen ließen keine Gelegenheit vorübergehen, wo sie den Gelben entgegentreten konnten, wie auch die Gelben jede Gelegenheit ergriffen, mit den Blauen Händel anzufangen. Die Folge davon war, daß es jedesmal zu skandalösen Auftritten kam, wenn die Gelben und Blauen auf dem Rathaus, dem Markte oder bei Versammlungen auf öffentlichen Plätzen zusammentrafen. Bei diesem Mangel an Harmonie wurde jede Angelegenheit in Eatanswill zur Parteifrage. Wenn die Gelben den Vorschlag machten, den Marktplatz mit neuen Laternen zu versehen, so riefen die Blauen zu öffentlichen Versammlungen auf und brachen den Stab über den wahnsinnigen Plan. Wenn die Blauen noch einen Brunnen in der Hauptstraße anlegen wollten, so schrien die Gelben, einer für alle und alle für einen, über Verrücktheit. Es gab blaue Läden und gelbe Läden, blaue Wirtshäuser und gelbe Wirtshäuser; es gab sogar einen blauen Flügel und einen gelben Flügel in den Kirchen.

Natürlich war es ein wesentliches und notwendiges Erfordernis, daß jede dieser gewaltigen Parteien ihr besonderes Organ hatte. Demzufolge gab es in der Stadt zwei Blätter – die „Eatanswill-Gazette“ und den „Eatanswill-Independent“. Erstere vertrat die Grundsätze der Blauen, der letztere war ausgesprochen gelb. Beides waren vorzüglich geleitete Blätter. – „Unsere unwürdige Nebenbuhlerin, die ,Gazette'“ – „das gemeine und niederträchtige Schmierblatt, der ,Independent'“ – „das erbärmliche Machwerk, die ,Gazette'“ – solche und andre geistsprühende Ausfälle waren in jeder Nummer zu Dutzenden anzutreffen und riefen bei der einen Hälfte der Bevölkerung die unbändigste Freude, bei der andern die höchste Erbitterung hervor.

Mr. Pickwick hatte vermöge seines gewohnten Scharfsinns und Seherblickes einen besonders günstigen Moment zu seiner Reise nach Eatanswill gewählt. Einen solchen Parteikampf hatte es seit Menschengedenken nicht gegeben. Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall war der blaue Kandidat, und Horatio Fizkin Esq. von Fizkin-Lodge bei Eatanswill war von seinen Freunden dazu ausersehen, das Interesse der Gelben zu vertreten. Die „Gazette“ stellte den Wählern von Eatanswill vor, daß nicht nur die Augen Englands, sondern der ganzen zivilisierten Welt auf sie gerichtet seien, und der „Independent“ verlangte gebieterisch zu wissen, ob die Bürger von Eatanswill wirklich die großen Männer wären, für die sie von jeher gegolten, oder elende sklavische Werkzeuge, die weder den Namen Engländer noch die Segnungen der Freiheit verdienten. Noch nie zuvor fieberte die Stadt in einer solchen Erregung.

Es war spätabends, als Mr. Pickwick und seine Freunde mit Sams Beistand vom Dach der Eatanswiller Postkutsche herabstiegen. Große blaue Seidenfahnen flatterten an den Wänden des Gasthauses „Zum Stadtwappen“, und an jedem Fenster waren ungeheure Papierbogen angeklebt, auf denen mit riesigen Buchstaben geschrieben stand, daß hier das Komitee Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren täglich seine Sitzungen abhielt. Eine Menge Gaffer war auf der Straße versammelt und betrachtete einen Mann auf dem Balkon, der sich zugunsten Slumkeys kirschrot und heiser schrie, obgleich die Gewalt seiner Beweisgründe von dem beständigen Gerassel einer großen Trommel, die das Komitee Mr. Fizkins an der Straßenecke aufgestellt hatte, einigermaßen geschwächt wurde. An seiner Seite stand ein geschäftiges kleines Männchen, das von Zeit zu Zeit den Hut abnahm und die Menge zu einem Beifallsgeschrei aufforderte, das dann auch jedesmal mit der größten Begeisterung ertönte, und als der kirschrote Herr sich violett geschrien, schien er seinen Zweck ebensogut erreicht zu haben, als hätte ihn jedermann verstanden.

Die Pickwickier waren kaum abgestiegen, als sie von einem Haufen der „Unabhängigen“ umringt und mit dreimaligem donnerndem Hurra empfangen wurden, in das sofort die ganze Volksmenge mit einem furchtbaren Triumphgebrüll einstimmte.

„Noch ein Hurra!“ kreischte das Männchen auf dem Balkon, und wieder brüllte die Menge, als wären ihre Lungen aus Gußeisen.

„Slumkey, hoch!“ schrien die Unabhängigen.

„Slumkey, hoch!“ wiederholte Mr. Pickwick und schwang seinen Hut.

„Nieder mit Fizkin“, schrie der Haufe.

„Nieder mit Fizkin“, rief auch Mr. Pickwick.

Und abermals erhob sich ein Gebrüll wie von einer ganzen Menagerie, wenn der Elefant die Glocke zur kalten Küche gezogen hat.

„Wer ist Slumkey?“ flüsterte Mr. Tupman.

„Weiß nicht“, versetzte Mr. Pickwick ebenso leise. „Pst! Fragen Sie nicht. Es ist immer das beste, bei solchen Gelegenheiten zu tun, was der große Haufe tut.“

„Aber angenommen, es sind zwei Haufen“, warf Mr. Snodgraß ein.

„Dann hält man mit dem größeren“, entgegnete Mr. Pickwick.

Ganze Bände hätten nicht mehr sagen können.

Die Herren traten ins Haus. Die Menge bildete Spalier und brüllte. Die erste Frage galt einem Nachtlager.

„Können wir hier Betten haben?“ fragte Mr. Pickwick den Kellner.

„Weiß nicht, Sir“, war die Antwort, „fürchte, es ist alles besetzt, Sir; will nachfragen, Sir.“

Der Kellner entfernte sich, kehrte aber augenblicklich wieder zurück und fragte, ob die Herren „Blaue“ wären.

Da weder Mr. Pickwick noch seine Gefährten ein besonderes Interesse an dem einen oder dem andern Kandidaten hatten, war die Frage etwas schwer zu beantworten. In diesem Dilemma erinnerte sich Mr. Pickwick an seinen neuen Freund Mr. Perker.

„Kennen Sie einen Herrn namens Perker?“ forschte er.

„Allerdings, Sir; Agent für Samuel Slumkey, Hochwohlgeboren.“

„Blau, nicht wahr?“

„Jawohl, Sir.“

„Dann sind wir auch Blaue“, sagte Mr. Pickwick; aber da er bemerkte, daß der Kellner ein mißtrauisches Gesicht machte, gab er ihm seine Karte mit dem Auftrag, sie Mr. Perker sogleich zu überbringen.

Der Kellner entfernte sich und kehrte im Augenblick zurück, bat Mr. Pickwick, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes Zimmer im ersten Stock, wo Mr. Perker an einem langen, mit Büchern und Papieren bedeckten Tische saß.

„Ah, ah, mein werter Herr“, rief der kleine Mann und stand auf. „Sehr erfreut, mein werter Herr, sehr erfreut. Bitte, nehmen Sie Platz. So haben Sie also Ihren Plan ausgeführt? Sie sind hergefahren, um einer Wahl beizuwohnen, nicht wahr?“

Mr. Pickwick bejahte.

„Ein heißer Kampf, mein werter Herr!“

„Ich bin entzückt, das zu hören“, versetzte Mr. Pickwick und rieb sich die Hände. „Ich sehe nichts lieber als Betätigung des Patriotismus, gleichviel, bei welcher Partei! – Ein heißer Kampf also?“

„Freilich, freilich“, antwortete der kleine Anwalt. „Sehr heiß. Wir haben alle Gasthäuser für unsere Partei mit Beschlag belegt und unsern Gegnern nichts als die Bierschenken gelassen, ein vorzüglicher Staatsstreich, mein werter Herr, nicht wahr?“ Der Kleine lächelte selbstgefällig und nahm eine tüchtige Prise.

„Und was wird wohl das Ergebnis des Kampfes sein?“ fragte Mr. Pickwick.

„Noch zweifelhaft, mein werter Herr; ziemlich zweifelhaft bis jetzt. Fizkins Leute halten dreiunddreißig Wähler im ,Weißen Hirsch‘ im Wagenschuppen eingeschlossen.“

„Im Wagenschuppen?“ fragte Mr. Pickwick erstaunt.

„Sie haben sie dort eingesperrt, bis sie sie nötig haben. Der Zweck ist, wie Sie sehen, daß wir ihnen nicht beikommen sollen, und selbst wenn wir es könnten, würde es nichts helfen, denn sie haben sie absichtlich betrunken gemacht. Ein tüchtiger Mensch, Fizkins Agent, sehr tüchtig!“ Mr. Pickwick schwieg betroffen.

„Und doch haben wir ziemliche Hoffnung“, fuhr Mr. Perker fort und dämpfte seine Stimme bis zum Geflüster. „Wir haben eine kleine Teegesellschaft hier gehabt, gestern abend. – Fünfundvierzig Frauen, mein werter Herr, und wir haben jeder einen grünen Sonnenschirm zum Andenken geschenkt, als sie nach Hause gingen.“

„Einen Sonnenschirm?“ fragte Mr. Pickwick.

„Tatsache, mein werter Herr, Tatsache. Fünfundvierzig grüne Sonnenschirme zu sieben Schillingen und sechs Pence das Stück. Alle Frauen lieben den Putz außerordentlich. Sicherte uns ihre Männer, alle, und die Hälfte ihrer Brüder; Strümpfe, Flanell und all das Zeug haben gar keine Wirkung. Meine Idee, mein teurer Herr, ganz allein meine Idee. Ob’s hagelt, regnet oder vor Hitze glüht. Sie können keine zwanzig Schritte auf der Straße gehen, ohne nicht wenigstens einem halben Dutzend grüner Sonnenschirme zu begegnen.“

Der kleine Mann wollte sich ausschütten vor Lachen, als ein schmächtiger Herr mit rotem Haar, das hin und wieder lichte Stellen zeigte, und einer Miene voll feierlicher Wichtigkeit und unergründlicher Gelehrsamkeit eintrat. Er trug einen langen braunen Oberrock, eine schwarze Tuchweste und modefarbige Beinkleider. Ein Augenglas baumelte an seiner Brust, und auf seinem Kopfe balancierte er einen niedrigen Hut mit breiter Krempe. Der neue Ankömmling wurde Mr. Pickwick als Mr. Pott, Herausgeber der „Eatanswill-Gazette“, vorgestellt.

Nach einigen wenigen einleitenden Bemerkungen wandte sich Mr. Pott an Mr. Pickwick und fragte mit feierlichem Tone:

„Der Wahlkampf erregt wohl großes Interesse in der Hauptstadt, Sir?“

„Ich glaube, ja“, antwortete Mr. Pickwick.

„Ich habe Grund zu vermuten“, sagte Mr. Pott und sah Mr. Perker mit Bejahung heischendem Blick an, „ich habe Grund zu vermuten, daß mein Artikel im letzten Samstagblatt einigermaßen dazu beigetragen hat.“

„Ohne Zweifel“, bestätigte der kleine Anwalt.

„Die Presse ist ein gar mächtiger Hebel!“ sagte Pott.

Mr. Pickwick war vollständig derselben Ansicht.

„Ich schmeichle mir, Sir“, fuhr Pott fort, „daß ich die ungeheure Gewalt, die mir anvertraut ist, nie mißbraucht habe. Nie habe ich die Waffe, die in meine Hände gelegt ist, gegen den heiligen Busen des Privatlebens oder die persönliche Ehre gekehrt; ich schmeichle mir, mein Herr, daß ich meine Kräfte, so schwach sie auch sein mögen, stets den Prinzipien des – des …“

Der Herausgeber der „Eatanswill-Gazette“ schien sich ein wenig verrannt zu haben, und Mr. Pickwick kam ihm zu Hilfe und sagte: „Ohne Zweifel.“

„Und wie, mein Herr“, sagte Pott, „wie, mein Herr, erlauben Sie mir, die Frage an Sie als einen Unparteiischen zu richten, wie ist die öffentliche Meinung in London über meinen Kampf mit dem ,Independent‘?“

„Man ist ohne Zweifel sehr aufgeregt“, fiel Mr. Perker mit einem schlauen Blick ein.

„Der Kampf“, fuhr Pott fort, „soll so lange dauern, als ich Kraft und Leben habe und das bißchen Talent, das mir beschieden, mir innewohnt. Ich will nicht ablassen von dem Kampfe, und mag er die Gemüter so aufregen, daß sie die gewöhnlichen Geschäfte des alltäglichen Lebens darüber vergessen; von diesem Kampfe, sage ich, will ich nicht ablassen, bis ich meine Ferse auf den ,Independent‘ von Eatanswill gesetzt habe. Die Bewohnerschaft von London und das ganze englische Volk sollen wissen, daß es auf mich rechnen kann, daß ich sie nicht verlassen werde, daß ich entschlossen bin, ihre Sache zu verfechten bis ans Ende.“

„Das nenne ich Mut, in der Tat, mein Herr“, rief Mr. Pickwick und schüttelte Mr. Pott warm die Hand.

„Sie, mein Herr, sind ein Mann von Scharfsinn und Begabung, das spür ich wohl“, sagte Mr. Pott; er war noch fast atemlos von der Wucht seiner patriotischen Erklärung.

„Und ich“, sagte Mr. Pickwick, „fühle mich durch Ihre Meinungsäußerung hoch geehrt. Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Reisegefährten vorstelle, einige Mitglieder des Klubs, den ich – mit Stolz sage ich es – gegründet habe?“

„Es wird mich unendlich freuen“, antwortete Mr. Pott.

Mr. Pickwick verließ das Zimmer, holte seine drei Freunde und stellte sie in aller Form dem Herausgeber der „Eatanswill-Gazette“ vor.

„Nun, mein lieber Pott“, fragte der kleine Mr. Perker, „was machen wir mit unsern Freunden?“

„Wir könnten, dächte ich, hier im Hause bleiben“, meinte Mr. Pickwick.

„Nicht ein Bett mehr, mein werter Herr, nicht ein Bett mehr frei.“

„Sehr ärgerlich“, brummte Mr. Pickwick.

„Außerordentlich“, meinten auch seine Reisegefährten.

„Warten Sie mal“ sagte Mr. Pott, „im ,Pfau‘ wären noch zwei Betten, und was Mrs. Pott betrifft, so wird es sie gewiß außerordentlich freuen, Mr. Pickwick und einen seiner Freunde bei sich zu beherbergen, wenn die beiden andern Herren und ihr Diener sich, so gut es geht, im ,Pfau‘ behelfen wollen.“

Die Einladung wurde dankend angenommen,‘ und nach einem gemeinschaftlichen Mahl im „Stadtwappen“ schieden die Freunde. Mr. Tupman und Mr. Snodgraß verfügten sich in den „Pfau“, und Mr. Pickwick und Mr. Winkle begaben sich in die Wohnung Mr. Potts, nachdem sie zuvor ausgemacht hatten, sich am nächsten Morgen wieder im „Stadtwappen“ zu treffen und den Zug Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren auf den Wahlplatz zu begleiten.

Mr. Potts Familie bestand nur aus dem Herausgeber und seiner Ehehälfte.

„Meine Liebe!“ stellte Mr. Pott vor. „Meine Frau – Mr. Pickwick aus London.“

Mrs. Pott erwiderte den väterlichen Händedruck des Gelehrten mit bezaubernder Anmut, und Mr. Winkle, der vergessen worden war, machte unbeachtet in einem dunkeln Winkel Kratzfüße auf Kratzfüße.

„P., mein Schatz!“ sagte Mrs. Pott.

„Mein Leben?“

„Bitte, stelle mir doch auch den andern Herrn vor.“

„Bitte tausendmal um Verzeihung“, rief Mr. Pott. „Mrs. Pott – Mr. – Mr. –“

„Winkle“, ergänzte Mr. Pickwick.

„Winkle“, wiederholte Mr. Pott, und die Zeremonie war vorüber.

„Wir müssen vielmals um Entschuldigung bitten, Ma’am“, nahm Mr. Pickwick das Wort, „daß wir schon nach einer so kurzen Bekanntschaft eine solche Störung in Ihrem Hauswesen verursachen.“

„Aber ich bitte Sie, meine Herren, ich bitte Sie“, erwiderte der weibliche Pott mit Lebhaftigkeit. „Es ist ein unendlicher Genuß für mich, ich versichere Ihnen, wenn ich wieder neue Gesichter sehe. Ich lebe so von einem Tag zum andern, von einer Woche zur andern in diesem Nest und bekomme niemand zu Gesicht.“

„Niemand, meine Liebe?“ fiel Mr. Pott schalkhaft ein.

„Niemand als dich“, entgegnete Mrs. Pott mit Bitterkeit.

„Sie müssen wissen, Mr. Pickwick“, erläuterte der Wirt, „wir sind von einer Menge Vergnügungen ausgeschlossen, an denen wir unter andern Verhältnissen teilnehmen könnten. Meine öffentliche Stellung als Herausgeber der ,Eatanswill-Gazette‘, der Ruf, in dem dieses Blatt in der ganzen Gegend steht, mein bewegtes Leben im Strudel der Politik…“

„P., mein Schatz!“ unterbrach ihn Mrs. Pott.

„Mein Leben?“

„Du solltest lieber ein Thema zur Sprache bringen, an dem diese Herren auch ein Interesse haben können.“

„Aber, meine Liebe“, entschuldigte sich der Publizist demütig, „Mr. Pickwick nimmt Interesse daran.“

„Desto besser für ihn, wenn er kann“, versetzte Mrs. Pott mit Nachdruck. „Ich meinerseits habe deine ewige Politik herzlich satt, und die Zänkereien mit dem ,Independenten‘, und was dergleichen Unsinn mehr ist, widern mich förmlich an. Ich begreife nicht, P., wie du nur deine Albernheiten so auskramen magst.“

„Aber, meine Liebe“, sagte Mr. Pott.

„Ach! Unsinn! Laß mich!“ unterbrach ihn Mrs. Pott. „Spielen Sie Ecarte, mein Herr?“

„Ich wäre unendlich glücklich, es unter Ihrer Anweisung zu lernen“, erwiderte Mr. Winkle.

„Pott, stelle das Tischchen hier ans Fenster, damit ich von deiner langweiligen Politik nichts mehr höre!“

„Jane“, rief Mr. Pott dem Mädchen zu, das eben die Lichter brachte, „geh hinunter in mein Studierzimmer und hole mir den Jahrgang von achtzehnhundertachtundzwanzig der ,Gazette‘. Ich will Ihnen vorlesen“, wandte er sich an Mr. Pickwick, „was ich damals über den unglaublichen Einfall der Gelben, einen neuen Schlagbaumwärter anzustellen, schrieb. Ich denke, es wird Ihnen gefallen.“

„Ich bin wirklich sehr gespannt“, sagte Mr. Pickwick.

Der Jahrgang wurde gebracht, der Publizist setzte sich, und Mr. Pickwick nahm an seiner Seite Platz.

Wir haben das Tagebuch Mr. Pickwicks vergebens durchblättert, in der Hoffnung, einen Auszug aus jenem Aufsatz zu finden. Wir haben allen Grund zu glauben, daß Mr. Pickwick von dem Feuer und der Frische der Darstellung ganz bezaubert war, und Mr. Winkle erinnerte sich auch, daß des Meisters Augen während der ganzen Dauer der Vorlesung, wahrscheinlich im Übermaße des Genusses, geschlossen waren.

Die Ankündigung, daß das Essen aufgetragen sei, machte sowohl dem Ecarte wie der Rekapitulation der stilistischen Feinheiten der „Eatanswill-Gazette“ ein Ende. Mrs. Pott war eitel Entzücken und rosenfarbener Laune. Mr. Winkle hatte reißende Fortschritte in ihrer Gunst gemacht, und sie trug kein Bedenken, ihm im Vertrauen zuzuflüstern, daß Mr. Pickwick ein „charmanter alter Herr“ sei, ein Ausdruck, der einen Grad von Familiarität verriet, den sich nur wenige erlaubt haben würden, die mit dem Riesengeiste des Mannes näher bekannt waren. Nichtsdestoweniger haben wir es aufgezeichnet, um dadurch zugleich einen rührenden und überzeugenden Beweis zu geben, wie leicht Mr. Pickwick jedermanns Herz und Neigung zu gewinnen imstande war.

Es war spät in der Nacht, lange, nachdem sich Mr. Tupman und Mr. Snodgraß im hintersten Trakt des „Pfauen“ dem Schlafe überlassen hatten, als sich die beiden Freunde zur Ruhe begaben. Mr. Winkle verfiel bald in tiefen Schlaf, aber seine Gefühle und seine Bewunderung waren mächtig erregt, und manche Stunde noch, nachdem ihm der Schlaf die Außenwelt unzugänglich gemacht hatte, umgaukelten ihn das Angesicht und die Gestalt der reizenden Mrs. Pott.

Das Getöse und der Lärm am folgenden Morgen waren hinreichend, um jeden Gedanken, der nicht unmittelbar mit der bevorstehenden Wahl in Verbindung stand, auch dem verzücktesten Träumer aus dem Kopfe zu treiben. Das Rasseln der Trommeln, das Blasen der Hörner und Trompeten, das Schreien der Menschen und das Getrappel der Pferde dröhnten vom ersten Anbruch des Tages durch die Straßen, und Scharmützel zwischen den Plänklern beider Parteien belebten gelegentlich die Szene.

„Nun, Sam“, sagte Mr. Pickwick, als sein Bedienter in das Schlafzimmer trat, „heute ist alles lebendig, denke ich?“

„Reguläres Wettrennen, Sir“, antwortete Mr. Weller. „Unsre Leute halten heute Versammlung drunten im ,Stadtwappen‘ und haben sich bereits heiser gejohlt.“

„So?“ sagte Mr. Pickwick. „Sie sind wohl ihrer Partei sehr ergeben?“

„Tag meines Lebens, noch keine solche Ergebenheit gesehen, Sir.“

„Jeder stellt seinen Mann. Nicht wahr?“

„Ungemein“, erwiderte Sam. „Hab mein Leben Menschen noch nich so viel essen und trinken sehen. Nimmt mich wunder, daß sie nich platzen.“

„Vermutlich eine übelangebrachte Freigebigkeit der hiesigen Honoratiorenschaft“, meinte Mr. Pickwick.

„Sehr möglich“, erwiderte Sam kurz.

„Frische Gesellen scheinen es zu sein“, bemerkte Mr. Pickwick, einen Blick aus dem Fenster werfend.

„Ungemein frisch“, erwiderte Sam. „Ich und die zwei Kellner im ,Pfau‘ hatten die Independenten, wo gestern dort zu Nacht speisten, unter der Pumpe.“

„Die Independentenwähler unter der Pumpe?“

„Tja. Jeder schlief, wo er grade hingefallen war. Wir haben se heute morgen aus dem Dreck gezogen, einen nach dem andern, und sie unter den Brunnen gestellt, alle in schönster Ordnung. Das Komitee hat ’n Schilling pro Stück gezahlt.“

„Ist es denn möglich!“ rief Mr. Pickwick ganz erstaunt.

„Mein Gott, Sir“, sagte Sam, „wo sind Sie denn auf die Welt gekommen, daß Sie so was nich wissen? Das is doch noch gar nischt.“

„Nichts?“ fragte Mr. Pickwick.

„Noch gar nichts! Den Abend vor der letzten Wahl haben se das Schenkmädchen im ,Stadtwappen‘ bestochen, und die hat ’n Hokuspokus mit dem Brandy gemacht, wo sie den vierzehn Wählern einschenkte, wo im Hause über Nacht waren und noch nich abgestimmt hatten.“

„Was soll das heißen, einen Hokuspokus mit dem Brandy?“ fragte Mr. Pickwick.

„Hat ’n Schlaftränkchen reingegossen. Hol mich dieser und jener, wenn se nich alle wie die Ratzen schliefen, bis die Wahl schon zwölf Stunden vorüber war. Einen davon haben se auf ’n Schubkarren geladen und ins Stimmhaus gebracht, aber se konnten ’n nich hoch kriegen und mußten ’n wieder ins Bett bringen.“

„Seltsame Kniffe das“, sagte Mr. Pickwick, halb zu sich selbst, halb zu Sam.

„Noch nich halb so seltsam, Sir, wie die kuriose Geschichte, wo mal bei ’nem Wahlkampf hier meinem Alten passierte“, versetzte Sam.

„Wieso das?“

„Na, er führte mal jemand her; die Wahlzeit war vor der Tür, und er wurde von der einen Partei bestellt, Wahlmänner von London abzuholen. Den Abend vorher läßt ’n das Komitee der andern Partei heimlich rufen, und er kommt in ’ne große Stube, vollgepfropft mit Herren, Haufen von Papier, Tinte, Federn und so weiter. ,Ah, Mr. Weller‘, sagte der Präsident, ,freue mir, Ihnen zu sehen, Sir; wie befinden Sie sich, Sir?‘ – ,Sehr gut, danke Ihnen, Sir‘, sagt mein Alter, ,hoffe, Sie sind auch wohlauf.‘ – .Recht wohl, danke Ihnen‘, sagt der Herr, ,setzen Sie sich, Mr. Weller, bitte setzen Sie sich.‘ – Mein Vater setzt sich, und die beiden – er und der alte Herr – glotzen sich an. Rennen Sie mir nicht mehr?‘ fragt der Herr – .Wüßte nicht‘, meint mein Alter. – .Aber ich kenne Ihnen‘, sagt der Herr, ,ich kannte Ihnen schon, wie Sie noch ganz klein waren.‘ – .Möglich, aber ich erinnere mir nicht mehr‘, sagt mein Vater. – ,Merkwürdig‘, sagt der Herr, .Sie müssen ein kurzes Gedächtnis haben, Mr. .‘ – ,So besonders ist es freilich nicht‘, sagt mein Vater. – ,Glaube ich Ihnen‘, sagt der Herr. – Na und dann schenkten sie ihm ’n Glas Wein ein, redeten mit ihm über sein Fuhrwerk, brachten ihn in gute Laune und zuletzt drückten sie ihn ’ne Zwanzigfundnote in die Hand. – ,Is kein schöner Weg von hier nach London‘, sagt der Herr. – ,Lausig!‘ sagt mein Alter. – .Besonders am Kanal, glaube ich‘, sagt der Herr. – ,Die Strecke ist freilich mehr als mulmig‘, sagt mein Vater. – ,Nun, Mr. Weller‘, sagt der Herr, ,Sie führen ja doch ’ne gute Peitsche und können mit ihren Pferden machen, was Sie wollen. Wir halten große Stücke auf Ihnen, Mr. Weller, und wenn Ihnen auf Ihrer Fahrt mit den Wahlmännern ’n kleiner Unfall zustoßen möchte, wenn Sie sie zum Beispiel in den Kanal schmeißen würden, ohne daß einer dabei zu Schaden käme, da würde das Geld Ihnen gehören‘, sagt er doch. – ,Meine Herren, Sie sind sehr gütig‘, sagt mein Vater ,und ich will mit noch ein Glas Wein Ihre Gesundheit betrinken‘, sagt er und tut es auch; dann schaufelt er das Geld ein und macht seinen Kratzfuß. – Sie werden es kaum glauben“, fuhr Sam mit einem unverschämten Blick fort, „daß der Wagen, wie er am andern Tag mit den Wählern da längs kam, an derselben Stelle umschmiß und die Passagiere samt und sonders in den Kanal flogen.“

„Sie kamen aber doch wieder heraus?“ fragte Mr. Pickwick hastig.

„N – na“, versetzte Sam gedehnt, „ich glaube, ein alter Herr ist vermißt worden; ich weiß nur, sein Hut kam wieder zum Vorschein, aber ob sein Kopf drin war oder nich, kann ich nich genau sagen. Aber was mir bei dem sonderbaren Zufall am meisten wundert, ist, daß der Herr voraussagte, daß mein Vater am selben Platz und am selben Tag umwerfen würde.“

„Es ist ohne Zweifel ein ganz außerordentlicher Zufall. Aber bürsten Sie meinen Hut aus, Sam, ich höre Mr. Winkle zum Frühstück rufen.“ Mr. Pickwick eilte ins Wohnzimmer hinab, wo er das Frühstück aufgetragen und die Familie bereits vollzählig versammelt fand. Das Mahl wurde hastig eingenommen und die Hüte der Herren von den schönen Händen Mrs. Potts mit einem Ungeheuern blauen Bande geziert. Da Mr. Winkle es übernommen hatte, die Dame Pott zu einem Hausgiebel unweit der Rednertribüne zu geleiten, begaben sich Mr. Pickwick und Mr. Pott allein nach dem „Stadtwappen“, zu dessen Hinterfenster hinaus jemand vom Slumkey-Komitee eine Ansprache an sechs kleine Jungen und ein Mädchen hielt, die er bei jedem zweiten Satz mit der imposanten Anrede: „Männer von Eatanswill“ beehrte, worauf die erwähnten sechs kleinen Knaben in Beifallsstürme ausbrachen.

Der Hofraum wies unverwechselbare Merkmale des Glanzes und der Macht der Blauen von Eatanswill auf. Eine Armee von Fahnen war da zu sehen, manche nur an einer Stange, manche sogar an zweien; alle trugen passende Losungen in vier Fuß hohen goldenen Buchstaben von entsprechender Breite. Auch für ein großes Orchester war gesorgt; Trompeter, Fagottisten und Trommler, vier Mann hoch, verdienten ihr Geld im Schweiße ihres Angesichts. Besonders die Trommler, die wahre Muskelpakete darstellten. Ein Korps von Schutzleuten mit blauen Knüppeln, zwanzig Komiteemitglieder mit blauen Schärpen sowie ein wüster Haufen von Stimmberechtigten mit blauen Kokarden nebst Wahlmännern zu Fuß und hoch zu Roß waren aufmarschiert; ein offner Wagen mit vier Pferden für Samuel Slumkey Hochwohlgeboren und vier Zweispänner für seine Freunde und Gönner standen bereit. Die Fahnen flatterten, Und das Musikkorps spielte, die Schutzleute fluchten, die zwanzig Komiteemitglieder zankten sich, und die Menge brüllte, die Pferde bäumten sich, und die Postillions schwitzten; kurz, alles war zu Nutz, Frommen, Ehren und Ruhm Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall, des einen Bewerbers um die Vertretung des Fleckens Eatanswill im Unterhaus, auf den Beinen. Laut und lang ertönte das Jubelgeschrei, und gewaltig war das Rauschen einer der blauen Fahnen mit der Inschrift: „Freiheit der Presse“, als die Menge das rothaarige Haupt Mr. Potts am Fenster erblickte, und über alle Beschreibung steigerte sich der Enthusiasmus, als Samuel Slumkey Hochwohlgeboren selbst in Stulpenstiefeln und mit einer blauen Halsbinde sich zeigte, besagten Pott am Henkel faßte und durch melodramatische Pantomimen seine überschwenglichen Dankesgefühle gegenüber der „Eatanswill-Gazette“ vor der Menge an den Tag legte. „Ist alles bereit?“ fragte Samuel Slumkey Hochwohlgeboren Mr. Perker.

„Alles, mein werter Herr“, war die Antwort des kleinen Mannes.

„Es ist hoffentlich nichts vergessen worden?“

„Nichts, nichts, mein werter Herr, durchaus nichts. Am Hoftor stehen zwanzig Kerle mit frischgewaschnen Fäusten zum Händeschütteln, und sechs Kinder sind bereits auf den Armen ihrer Mütter, um sich auf die Wangen tätscheln und um ihr Alter fragen zu lassen. Geben Sie sich besonders mit den Kindern ab, mein werter Herr; so etwas hat immer eine große Wirkung!“

„Ja, ja, werde ich machen“, erwiderte der hochachtbare Samuel Slumkey.

„Und wenn Sie vielleicht, mein wertgeschätzter Herr“, fuhr der umsichtige kleine Mann fort, „wenn Sie es vielleicht so einrichten können – ich will nicht sagen, daß es unerläßlich ist –, aber wenn Sie es so einrichten könnten, daß Sie eins von den Kindern küssen würden – das würde sicher einen sehr vorteilhaften Eindruck auf die Menge machen.“

„Würde es nicht genausogut wirken, wenn jemand vom Komitee das tun würde?“ fragte der hochehrenwerte Samuel Slumkey.

„Ich fürchte, nein“, sagte der Agent. „Wenn Sie selbst es tun würden, mein wertgeschätzter Herr, dann würde Sie das ausgesprochen populär machen, denke ich.“

„Na schön“, sagte der hochehrenwerte Samuel Slumkey mit niedergeschlagener Miene, „dann muß es eben überstanden werden. Nichts zu machen.“ Unter dem Jubelgeschrei der versammelten Menge stellten sich das Musikkorps, die Wachleute, das Komitee und die Wahlmänner und die Berittenen und die Wagen in Reih und Glied, und jeder von den Zweispännern wurde mit so viel Herren vollgepfropft, als aufrecht darin Platz hatten; der für Mr. Perker bestimmte war mit Mr. Pickwick, Mr. Tupman, Mr. Snodgraß und ungefähr einem halben Dutzend Komiteemitgliedern bepackt. Es war ein Augenblick ungeheurer Spannung, als der Zug auf Samuel Slumkey Hochwohlgeboren wartete. Plötzlich erscholl ein gewaltiges Jubelgeschrei.

„Er kommt“, rief der kleine Mr. Perker mit einer Aufregung, die um so stärker wirken mußte, als der Zug nicht sehen konnte, was vorging.

Ein zweites, noch stärkeres Jubelgeschrei.

„Er hat den Männern die Hände geschüttelt!“

Ein drittes brausendes Hurra.

„Er hat die Kleinen getätschelt“, rief Mr. Perker, bebend vor Erregung.

Abermaliger Sturm.

„Er hat eins von ihnen geküßt“, schrie das Männchen entzückt.

Wieder ein Gebrüll.

„Er hat noch eins geküßt!“

Ein drittes Gebrüll.

„Er küßt sie alle der Reihe nach!“ schrie Mr. Perker begeistert, und unter dem betäubenden Jubelgeschrei der Menge setzte sich der Zug in Bewegung.

Wieso oder auf welche Weise er sich mit dem Zuge der Gegenpartei verwickelte und wie er sich aus der darauf folgenden Verwirrung wieder herausarbeitete, läßt sich nicht . feststellen, da Mr. Pickwick gleich anfangs von einer gelben Fahnenstange der Hut bis ans Kinn über das Gesicht geschlagen wurde. Als der Gelehrte wieder einen Ausblick auf seine Umgebung gewinnen konnte, sah er sich, wie er erzählt, mitten in einer ungeheuren Staubwolke, von grimmigen Gesichtern und wild geballten Fäusten, umringt. Er wurde wie von einer unsichtbaren Gewalt aus dem Wagen gerissen und persönlich in den Kampf verwickelt; aber mit wem oder wie oder wo, ist er nicht imstande zu bestimmen. Schließlich fühlte er sich von der andrängenden Menge auf eine hölzerne Treppe hinaufgeschoben, und als er seinen Hut vom Haupte löste, sah er sich von seinen Freunden umgeben und stand ganz vorn auf der linken Seite der Wahltribüne; die rechte war von den Gelben besetzt und das Zentrum für den Bürgermeister und seine Funktionäre reserviert. Einer der letzteren, der wohlbeleibte Ausrufer von Eatanswill, gebot mit einer ungeheuren Glocke Stillschweigen, während sich Horatio Fizkin Esq. und Samuel Slumkey Hochwohlgeboren, beide die Hand auf dem Herzen, mit äußerster Leutseligkeit gegen die brausende See von Köpfen verbeugten, die vor dem Gerüste wogte und mit Schreien, Jauchzen, Jubeln und Brüllen ein Getöse hervorbrachte, das einem Erdbeben Ehre gemacht haben würde.

„Dort ist Winkle“, sagte Mr. Tupman und zupfte seinen Freund am Ärmel.

„Wo?“ fragte Mr. Pickwick, seine Brille hervorziehend, die er glücklicherweise bis dahin in der Tasche behalten hatte.

„Dort“, antwortete Mr. Tupman, „auf dem Dachgiebel drüben.“

Und wirklich saß Mr. Winkle neben Mrs. Pott in der wuchtigen Hohlkehle eines Ziegeldaches ganz behaglich auf einem Stuhl. Sie winkten zum Zeichen des Erkennens mit ihren Taschentüchern, und Mr. Pickwick warf der Dame eine Kußhand zu.

Die Feierlichkeit hatte noch nicht begonnen, und da eine untätige Menge immer zu Spaßen aufgelegt ist, so war diese höchst unschuldige Handlung hinreichend, Anlaß zu rohen Scherzen zu geben.

„Ist das ein alter Sünder!“ rief eine Stimme. „Schielt noch nach den Weibern.“

„Ehrwürden Ziegenbock!“ meckerte ein anderer.

„Setzt sich noch extra die Brille auf, um nach einer Ehefrau zu schielen.“

„Gib auf deine Frau acht, Pott“, kreischte jemand in hohen Tönen, und ein schallendes Gelächter brach los.

Da diese Spottrufe außerdem von hämischen Vergleichen mit einem alten Bock und andern Witzeleien ähnlicher Art begleitet waren, die ganz dazu angetan schienen, die Ehre einer unschuldigen Dame anzutasten, kannte die Entrüstung des großen Mannes keine Grenzen; da aber im selben Augenblick Stillschweigen geboten wurde, begnügte er sich damit, auf die Menge einen sengenden Blick des Mitleids wegen ihrer mißleiteten Sinnesart zu werfen, was jedoch leider abermals ein furchtbares Gelächter zur Folge hatte.

„Ruhe!“ brüllten die Funktionäre.

„Whiffin, gebieten Sie Ruhe“, sagte der Bürgermeister mit der Würde, die seine hohe Stellung erforderte.

Der Ausrufer gab ein zweites Konzert mit seiner Glocke, und ein Mann in der Menge rief: „Frische Semmeln!“, was wiederum ein großes Gelächter erregte.

„Gentlemen“, schrie der Bürgermeister so laut, als es nur immer die Kraft seiner Stimme gestattete. „Gentlemen, Brüder, Wahlmänner der Stadt Eatanswill, wir sind heute hier versammelt, um einen Abgeordneten an Stelle unseres letzten …“

Abermals gellte eine vorlaute Stimme und rief:

„Hoch der Nagelschmied!“

Diese Anspielung auf das bürgerliche Gewerbe des Sprechers wurde mit einem ungeheuren Beifallsgeschrei aufgenommen, das unter Begleitung der Glockenmusik des öffentlichen Ausrufers den übrigen Teil der Rede, mit Ausnahme des Schlußsatzes, unverständlich machte. In diesem dankte der Bürgermeister der Versammlung für die gespannte Aufmerksamkeit, mit der sie ihn von Anfang bis zu Ende angehört hätte, eine Dankbezeugung, die ein zweites Jubelgeschrei erzeugte, das ungefähr eine Viertelstunde dauerte.

Hierauf bat ein großer hagerer Mann mit einer sehr steifen weißen Halsbinde, nachdem er wiederholt von der Menge aufgefordert worden war, einen Jungen nach Hause zu schicken und fragen zu lassen, ob er seinen Stimmzettel nicht unter dem Kopfkissen habe liegenlassen, die Versammlung um die Erlaubnis, eine taugliche und geeignete Person vorschlagen zu dürfen, die die Volksinteressen im Parlamente zu vertreten hätte, und als er sodann Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill, genannt hatte, erhoben die Fizkinisten ein beifälliges und die Slumkeyisten ein mißbilligendes Geschrei, das so lange anhielt und so laut war, daß er und sein Adjunkt, statt zu sprechen, ebensogut lustige Lieder hätten singen können, ohne daß es aufgefallen wäre.

Nachdem die Freunde Horatio Fizkins Esq. in ihrem Triumph genügend geschwelgt hatten, trat ein gallsüchtiges Männchen mit einem rötlichgelben Gesicht vor, um eine andre taugliche und geeignete Person vorzuschlagen, die die Wahlbürger von Eatanswill im Unterhaus vertreten könnte. Leider besaß er kein Organ für die heitere Summung der Menge. So kam es, daß er nach ein paar sehr kurzen Proben seiner bilderreichen Beredsamkeit zunächst diejenigen Störenfriede beschimpfte, die in der Menge standen, und dann dazu überging, mit den Herren auf der Tribüne Flegeleien auszutauschen. Dabei entstand ein solcher Lärm, daß er genötigt wurde, seine Gefühle nur noch in bitterernsten Gebärden auszudrücken. Das tat er denn auch und überließ anschließend seinem Assistenten die Szene. Dieser ließ sich nicht weiter beirren, sondern las eine Rede von halbstündiger Dauer bis zum letzten Wort herunter.

Als dann Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill in höchsteigener Person auftrat, um die Wahlversammlung anzureden und kaum zu sprechen angefangen hatte, fiel die Musikbande, die von Samuel Slumkey Hochwohlgeboren aufgestellt war, mit einer Heftigkeit ein, gegen die ihre Leistungen am Morgen das reinste Kinderspiel waren.

Zur Vergeltung bearbeitete die Partei der Gelben die Köpfe und Rücken der Blauen in einer Weise, die die Blauen zu dem Versuch nötigte, sich von dieser lästigen Nachbarschaft zu befreien. Eine Prügelszene entwickelte sich, die der Bürgermeister nicht billigen zu können glaubte, weshalb er zwölf Schutzleute mit dem strikten Befehl entsandte, die Rädelsführer zu umzingeln, deren Anzahl sich ungefähr auf zweihunderundfünfzig Mann belief. Diese Auftritte versetzten Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge und seine Anhänger so in Zorn und Wut, daß schließlich Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge in eigner Person um die Erlaubnis bat, seinen Gegner, Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall, zu fragen, ob die Musikbande mit seiner Bewilligung spiele – eine Frage, deren Beantwortung Samuel Slumkey Hochwohlgeboren mit einer Entschiedenheit ablehnte, die Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge veranlaßte, seinem Gegner mit der Faust zu drohen, was diesen derart reizte, daß er Horatio Fizkin Esq. zum Kampf auf Leben und Tod herausforderte. Auf diese Verletzung aller bekannten Gesetze und jedes Herkommens ordnete der Bürgermeister ein neuerliches Glockenkonzert an und erklärte, er werde sowohl Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge als auch Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall vor sich bescheiden und den Frieden beschwören lassen. Auf diese furchtbare Androhung legten sich die Rechtsbeistände der beiden Kandidaten ins Mittel, und nachdem sich die Anhänger der zwei Parteien drei Viertelstunden lang herumgezankt hatten, lüftete Horatio Fizkin Esq. seinen Hut gegen Samuel Slumkey Hochwohlgeboren und Samuel Slumkey Hochwohlgeboren den seinigen gegen Horatio Fizkin Esq. Das klingende Spiel hörte auf, die Menge war verhältnismäßig still, und Horatio Fizkin Esq. konnte fortfahren.

Die Reden der beiden Kandidaten, so verschieden sie in jeder Rücksicht waren, ließen den großen Vorzügen und Verdiensten der Wahlbürger von Eatanswill volle Gerechtigkeit widerfahren. Jeder sprach sich dahin aus, daß die Welt noch nie freiere, aufgeklärtere, patriotischere, hochherzigere, uneigennützigere Männer gesehen habe als die Wähler der eignen Partei. Jeder spielte fein darauf an, daß die gegnerischen Wahlmänner an Gehirnerweichung und ähnlichen Schwächen litten, die sie unfähig machten, den wichtigen Pflichten nachzukommen, die ihnen oblägen. Beide sagten, der Handel, die Industrie und der Wohlstand von Eatanswill lägen ihnen mehr am Herzen als irgend etwas auf der Welt, und jeder meinte, mit Zuversicht behaupten zu dürfen, daß er der Erwählte des Tages werden würde.

Hierauf wurde durch Handaufheben auf der Tribüne abgestimmt. Der Bürgermeister entschied zugunsten Samuel Slumkeys Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall. Horatio Fizkin Esq. von Fizkin Lodge bestand auf Gegenprobe, die jedoch das Resultat bestätigte. Sodann wurde dem Bürgermeister eine Dankadresse dotiert für sein würdevoll“ Benehmen als Vorsitzender.

Die Züge reihten sich wieder aneinander, die Wagen arbeiteten sich langsam durch das Gedränge, und die Menge fluchte und jauchzte ihnen nach, je nachdem es Sinnesart oder Laune eingaben.

Während der ganzen Zeit der Stimmenzählung war die Stadt in fieberischer Aufregung. Alles wurde auf die entgegenkommendste und nobelste Art betrieben. Konsumartikel waren in allen Wirtshäusern merkwürdig wohlfeil, und Sänften standen in allen Straßen für Wähler bereit, die von einem vorübergehenden Schwindel befallen wurden, eine Epidemie, die während des Wahlkampfes unter der sämtlichen stimmfähigen Bürgerschaft in einem höchst beunruhigenden Maße grassierte und unter deren Einwirkung ganze Massen von Menschen besinnungslos auf dem Pflaster umherlagen. Eine kleine Anzahl von Wahlmännern hielt ihre Stimme bis auf den letzten Tag zurück. Es waren das spekulative Köpfe, die sich noch von keiner Partei durch Argumente irgendwelcher Art hatten überzeugen lassen, so häufig sie auch den Zusammenkünften beigewohnt hatten.

Eine Stunde vor Schluß der Zählung bat Mr. Perker um die Ehre einer geheimen Unterredung mit diesen einsichtsvollen, edelgesinnten und patriotischen Männern. Es wurde ihm willfahrt. Seine Argumente waren kurz, aber überzeugend. Die Herren begaben sich in hellen Haufen in den Stimmsaal, und, als sie ihre Namen eingetragen hatten, wurde auch Samuel Slumkey Hochwohlgeboren von Slumkey-Hall als Abgeordneter für Eatanswill eingetragen.

Erstes Kapitel


Erstes Kapitel

Die Pickwickier.

Der erste Lichtstrahl, der das Dunkel erleuchtet und blendende Helligkeit an Stelle jener Finsternis verbreitet, in welche die frühe Geschichte der öffentlichen Laufbahn des unsterblichen Pickwick bisher eingehüllt schien, ging von der sorgsamen Durchsicht folgender Eintragungen in den Sitzungsberichten des Pickwick-Klubs aus, die der Herausgeber dieser Papiere seinen Lesern mit lebhaftem Vergnügen als Beweis für die gründliche Aufmerksamkeit, den unermüdlichen Fleiß und das feine Unterscheidungsvermögen vorlegt, womit die Nachforschungen in der Fülle verschiedenartiger Dokumente, die ihm anvertraut waren, seinerseits durchgeführt worden sind.

12. Mai 1817. Präsidium: Joseph Smiggers, Hochwohlgeb. SVL.–PKM.1 Folgende Resolutionen wurden einstimmig angenommen:

I. „Daß die Sitzungsteilnehmer mit dem Gefühl ungetrübter Befriedigung sowie uneingeschränkter Zustimmung die Verlesung des von Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM.2, beigebrachten Schriftstücks anhörten, welches den Titel trug: Spekulationen über die Quelle der Tümpel von Hampstead nebst einigen Bemerkungen zur Theorie der Stichlinge‘, und daß die Sitzungsteilnehmer hiermit dem besagten Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM., ihren wärmsten Dank dafür aussprechen.“

II. „Daß die Sitzungsteilnehmer voll und ganz die Vorteile würdigen, welche der Wissenschaft gleichermaßen aus dem eben erwähnten Opus wie überhaupt aus den unermüdlichen Forschungen Samuel Pickwicks, Hochwohlgeb. HV. PKM., in Hornsey, Highgate, Brixton und Camberwell erwachsen müssen, und daher nicht umhin können, sich den unschätzbaren Gewinn lebhaft zu vergegenwärtigen, der sich aus einer Ausdehnung der Spekulationen dieses Gelehrten auf ein breiteres Feld, aus einer Erweiterung seiner Reisen und damit einer Vergrößerung seines Beobachtungsraumes zwangsläufig für den Fortschritt der Wissenschaft und die Verbreitung von Gelehrsamkeit ergeben würde.“

III. „Daß die Sitzungsteilnehmer in der eben erwähnten Absicht einen Vorschlag ernstlich in Erwägung gezogen haben, der von besagtem Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM., und drei anderen, nachstehend aufgeführten Pickwickiern ausging, nämlich, eine neue Unterabteilung der Vereinigten Pickwickier unter der Bezeichnung ,Korrespondierende Gesellschaft des Pickwick-Klubs‘ zu gründen.“

IV. „Daß der genannte Vorschlag die Unterstützung und Billigung der Sitzungsteilnehmer gefunden hat.“

V. „Daß daher die Korrespondierende Gesellschaft des Pickwick-Klubs hiermit konstituiert ist und daß Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM., Tracy Tupman, Hochwohlgeb. PKM., Augustus Snodgraß, Hochwohlgeb. PKM., und Nathanael“Winkle, Hochwohlgeb. PKM., hiermit nach erfolgter Nominierung zu Mitgliedern derselben ernannt sowie ferner ersucht worden sind, von Fall zu Fall authentische Berichte über ihre Reisen und Untersuchungen, über ihre Beobachtungen der Sitten und Gebräuche wie auch über alle ihre Erlebnisse unter Beifügung sämtlicher Details und Belege, zu denen jeweils die örtliche Szenerie oder irgendwelche Ideenverbindungen Anlaß geben sollten, an den in London residierenden Pickwick-Klub einzusenden.“

VI. „Daß die Sitzungsteilnehmer aufrichtig den Grundsatz der Selbstfinanzierung der Korrespondierenden Gesellschaft hinsichtlich eigener Reisekosten anerkennen und nicht das geringste dagegen einzuwenden haben, daß die Mitglieder der genannten Sektion unter dieser Bedingung ihre Forschungsreisen beliebig lange ausdehnen.“

VII. „Daß den Mitgliedern der obenerwähnten Korrespondierenden Gesellschaft hiermit eröffnet wird und ist, daß ihr Vorschlag, die Postwertzeichen für ihre Briefe sowie die Portogebühren für ihre Pakete selbst zu bezahlen, von den Sitzungsteilnehmern reiflich erwogen wordenist und daß die Sitzungsteilnehmer zu dem Ergebnis kamen, dieser Vorschlag sei der großen Geister, die ihn aufbrachten, durchaus würdig, und daß sie sich hierdurch vorbehaltlos mit ihm einverstanden erklären.“

Ein nachlässiger Beobachter – so fügt der Schriftführer, dessen Aufzeichnungen wir den folgenden Bericht verdanken, hinzu –, ein nachlässiger Beobachter also hätte vielleicht nichts Außergewöhnliches an der Glatze gefunden, auch nicht an den kreisrunden Brillengläsern, die während der Verlesung obiger Resolutionen unverwandt auf sein (des Schriftführers) Gesicht gerichtet waren. Für solche aber, die da wußten, daß Pickwicks gigantisches Hirn hinter dieser Stirn arbeitete und daß die strahlenden Augen Pickwicks hinter jenen Gläsern funkelten, war der Anblick wahrhaft fesselnd.

Da saß der Mann, der die gewaltigen Tümpel von Hampstead bis zu ihren Quellen erforscht und die wissenschaftliche Welt mit seiner Theorie der Stichlinge aufgewühlt hatte, da saß er so ruhig und unbewegt wie die tiefen Wasser der erstgenannten an einem eiskalten Tag oder wie ein einsames Exemplar der letzteren tief im Bauch eines irdenen Kruges. Und um wieviel reizvoller wurde das Schauspiel noch, als seine Anhänger einstimmig in den Ruf“Pickwick“ ausbrachen, worauf Leben und Munterkeit in ihn fuhren und dieser erlauchte Mann gelassen den Lehnstuhl bestieg, auf dem er so lange gesessen hatte, und sich an den Klub wandte, der von ihm selbst gegründet worden war. Welch eine Studie für einen Künstler bot diese erregende Szene dar! Pickwick in seiner Beredsamkeit, die eine Hand mit Grazie hinter seinem Rockschoß verbergend, die andere in der Luft schwenkend, um seinen begeisternden Vortrag noch lebendiger zu gestalten! Seine exponierte Stellung enthüllte Röhrenhosen und Gamaschen, die wohl unbeachtet geblieben wären, wenn sie einen gewöhnlichen Menschen geziert hätten, die nun aber, da Pickwick seinerseits sie zierte (wenn wir uns des Ausdrucks bedienen dürfen), spontane Ehrfurcht und Hochachtung einflößten. Rings um ihn die Männer, die sich freiwillig entschlossen hatten, die Gefahren seiner Reisen zu teilen, und daher auserwählt waren, auch den Ruhm seiner Entdeckungen mit ihm zu genießen. Zu seiner Rechten saß Mr. Tracy Tupman; der allzu empfängliche Tupman, der stets die Weisheit und Erfahrung reiferer Jahre mit der Begeisterung und Glut des Jünglings verband, wenn es sich um die reizvollste und verzeihlichste aller menschlichen Schwächen handelte – um die Liebe. Die Jahre und das Wohlleben hatten seiner einst romantischen Gestalt einen größeren Umfang verliehen; die schwarzseidene Weste hatte sich immer mehr hervorgedrängt, Zoll für Zoll war die goldene Uhrkette dem Gesichtskreis Tupmans entrückt worden, nach und nach war das volle Kinn über die Grenzen der weißen Krawatte hinausgequollen, aber Tupmans Inneres hatte keine Veränderung erlitten: Bewunderung des schönen Geschlechts war immer noch seine Hauptleidenschaft.

Zur Linken seines großen Meisters saß der poetische Snodgraß und neben ihm Mr. Winkle, der Freund der Wälder und Jagden. Ersterer poetisch in einen Mantel gehüllt, dessen geheimnisvolles Blau von einem Kragen aus Kaninchenfell gekrönt wurde, während letzterer in einem neuen grünen Jagdrock, einem gewürfelten schottischen Halstuch und enganliegenden Tuchbeinkleidern prangte.

Mr. Pickwicks Rede bei diesem Anlaß sowie die darauffolgenden Debatten sind in den Protokollen des Klubs niedergelegt. Beide haben große ähnlichkeit mit den Diskussionen anderer berühmter Körperschaften, und da es immer interessant ist, der Verwandtschaft zwischen den äußerungen großer Männer nachzugehen, seien hier wenigstens die ersten Seiten erwähnt.

Mr. Pickwick bemerkte (so lautet die Darstellung des Schriftführers), daß der Ruhm jedermann besonders am Herzen läge. Seinem Freunde Snodgraß ginge es vor allem um dichterischen Ruhm; ebenso erstrebenswert wäre der Ruhm, Herzen zu erobern, für seinen Freund Tupman, und der Ehrgeiz, Ruhm zu ernten in den weidmännischen Bereichen zu Lande, zu Wasser und in der Luft wäre schier übermächtig in der Brust seines Freundes Winkle. Er (Mr. Pickwick) wollte nicht ableugnen, daß auch auf ihn menschliche Leidenschaften und Gefühle gewissen Einfluß hätten (Beifall) – vielleicht sogar menschliche Schwächen (laute Zurufe:“Keinesfalls!“); aber er möchte doch annehmen, daß die Flamme der Selbstsucht, wenn sie je in seiner Brust aufloderte, mit Nachdruck von dem Wunsche erstickt würde, in erster Linie der Menschheit zu dienen. Lob und Preis dem Menschentum – das wäre der Fittich seines Geistes; Menschenliebe wäre für ihn die höchste Instanz. (Stürmischer Beifall.) Er hätte einen gewissen Stolz empfunden – das gäbe er offen zu, und seine Feinde dürften nun darüber herfallen –, er hätte also einen gewissen Stolz empfunden, als er der Welt seine Stichlingstheorie eröffnet hätte; sie mochte nun anerkannt werden oder auch nicht. (Ein Ruf: „Das ist sie schon!“ und lauter Beifall.) Er wollte der Versicherung des ehrenwerten Pickwickiers, dessen Stimme er soeben gehört hätte, Glauben schenken – also gut: sie wäre anerkannt; aber wenn auch der Ruhm jener Abhandlung bis an die äußerste Grenze der Welt dringen sollte, so würde doch der Stolz, mit dem er auf die Autorschaft dieses Erzeugnisses blickte, nichts gegen das Gefühl des Stolzes sein, mit dem er in diesem, dem stolzesten Augenblick seines Daseins um sich blickte. (Beifall.) Er wäre ja nur eine unscheinbare Person (Widerspruch); aber er könnte trotzdem nicht umhin, zu empfinden, daß man ihn zu einer sehr ehrenvollen und auch nicht ungefährlichen Sendung auserkoren hätte. Das Reisen wäre jetzt eine mißliche Sache; zumal bei der notorischen Unzuverlässigkeit der Kutscher. Man brauchte sich nur umzublicken und die Vorfälle zu betrachten, die sich ringsumher ereigneten. überall würden Wagen umgeworfen, Pferde gingen durch, Boote kippten um und Dampfkessel platzten. (Beifall – eine Stimme: „Nein!“) Nein? (Beifall.) Das verehrliche Pickwick-Klub-Mitglied, das so laut „Nein!“ gerufen hätte, möchte doch vortreten und alles das leugnen, wenn es könnte! (Beifall.) Der da „Nein!“ gerufen hätte, sollte sich melden! (Enthusiastischer Beifall.) Ob es womöglich ein erfolgloser und enttäuschter Mensch wäre, um den Ausdruck Kleinigkeitskrämer zu vermeiden (lauter Beifall), den die Eifersucht auf das – vielleicht unverdiente – Lob, das man seinen (Mr. Pickwicks) Untersuchungen gezollt hätte, und der Kummer über den Schimpf, den ihm seine eigenen läppischen Konkurrenzversuche eingebracht hätten, schließlich zu dieser ekelhaften und verleumderischen Art …

Hier meldete sich Mr. Blotton (von Aldgate) unter Berufung auf die Geschäftsordnung zum Wort. Ob etwa der verehrliche Pickwickier auf ihn anspielen wollte? (Rufe:“Zur Geschäftsordnung!“ – „Hinsetzen!“ – „Ja!“ – „Nein!“ – „Weiter!“ – „Laß doch sein!“ und so weiter.)

Mr. Pickwick erklärte, er könnte es nicht über sich bringen, sich durch Geschrei unterkriegen zu lassen. Er hätte allerdings den ehrenwerten Herrn gemeint. (Große Aufregung.)

Mr. Blotton sagte, er hätte darauf weiter nichts zu erwidern, als daß er die unwahre und lächerliche Beschuldigung des ehrenwerten Vorredners mit tiefer Verachtung zurückweisen müßte. (Große Bewegung.) Der ehrenwerte Vorredner wäre ein Aufschneider. (Ungeheure Verwirrung und laute Rufe: „Zur Geschäftsordnung!“ und „Hinsetzen!“.)

Mr. A. Snodgraß meldete sich zum Wort. Er sähe sich genötigt, an den Vorsitzenden zu appellieren. („Hört.!“) Er wünschte zu wissen, ob es geduldet werden könnte, daß dieser schmähliche Streit zwischen zwei Mitgliedern des Klubs fortgesetzt würde. („Hört, hört!“)

Der Vorsitzende gab hierauf seiner Überzeugung Ausdruck, daß der ehrenwerte Pickwickier den Ausdruck zurücknehmen würde, dessen er sich soeben bedient hätte.

Mr. Blotton erklärte, dies bei aller Achtung vor dem Vorsitzenden nicht tun zu wollen.

Der Vorsitzende hielt es darauf für seine Pflicht, den ehrenwerten Herrn direkt zu fragen, ob er sich des ihm entschlüpften Ausdrucks im landläufigen Sinne bedient hätte.

Mr. Blotton zögerte nicht im geringsten, die Frage zu verneinen; er hätte das Wort lediglich in seiner pickwickischen Bedeutung gebraucht. („Hört, hört!“) Er fühlte sich verpflichtet, zu erklären, daß er persönlich die größte Hochachtung für den betroffenen ehrenwerten Herrn empfände. Als einen Aufschneider hätte er ihn lediglich in einer gewissen pickwickischen Perspektive betrachtet. („Hört, hört!“)

Mr. Pickwick fühlte sich durch die offene, aufrichtige und umfassende Erklärung seines verehrten Freundes vollkommen zufriedengestellt und erklärte gleichzeitig, daß auch seine eigenen Bemerkungen nur als Klubausdruck aufzufassen wären. (Beifall.)

Hier enden diese Eintragungen, und mit der Debatte geschah, nachdem sie zu einem so überaus befriedigenden und einleuchtenden Ergebnis geführt hatte, zweifellos das gleiche. Wir besitzen zwar keine offiziellen Berichte über die Tatsachen, welche der Leser im nächsten Kapitel verzeichnet finden wird, aber sie wurden sorgfältig aus Briefen und anderen handschriftlichen Dokumenten zusammengestellt, deren Echtheit genügend außer Zweifel steht, um ihre zusammenhängende Darstellung in erzählerischer Form zu rechtfertigen.

  1. Stellvertretender Vorsitzender auf Lebenszeit. – Pickwick-Klub-Mitglied.
  2. Hauptvorsitzender. – Pickwick-Klub-Mitglied.

Neununddreißigstes Kapitel.


Neununddreißigstes Kapitel.

Wie Herr Winkle aus der Bratpfanne heraus hübsch ordentlich ins Feuer selbst gerät.

Nachdem der unter einem bösen Stern geborene Gentleman, der die unglückliche Ursache des von uns bereits beschriebenen ungewöhnlichen Lärms und der Störung sämtlicher Bewohner von Royal Crescent gewesen war, eine Nacht voll Bangigkeit und Angst zugebracht hatte, verließ er das Dach, unter dem seine Freunde noch schlummerten, und entfloh, ohne zu wissen wohin. Die vortrefflichen, edlen Gesinnungen, die Herrn Winkle zu diesem Schritte antrieben, können nie zu hoch oder zu warm gepriesen werden, »Wenn« – überlegte Herr Winkle bei sich selbst – »wenn dieser Dowler sich untersteht (und ich zweifle keineswegs daran), seine Drohungen persönlicher Gewalttätigkeiten gegen mich in Ausführung zu bringen, so werde ich nicht umhin können, ihn herauszufordern.

Er hat eine Frau. Diese Frau liebt ihn über alles und kann ohne ihn nicht leben. Gütiger Gott! wenn ich ihn in der Blindheit meines Zornes tötete, was für Gefühle würden mich dann verfolgen!« Dieser peinliche Gedanke wirkte so mächtig auf das Gemüt des menschenfreundlichen jungen Mannes, daß seine Knie zusammenschlugen und aus seinem Gesichte beunruhigende Merkmale von tiefer innerer Bewegung sich bekundeten. Unter dem Einflusse solcher Betrachtungen ergriff er daher seinen Koffer, schlich sich leise die Treppen hinab, verschloß die verwünschte Haustür so geräuschlos wie möglich und machte sich davon. Er lenkte seine Schritte gegen das Royal-Hotel, traf dort eine Kutsche, die im Begriff war, nach Bristol zu fahren; und da ihm Bristol für seine Zwecke ein ebenso guter Ort dünkte wie jeder andere, so stieg er auf den Bock und erreichte den Ort seiner Bestimmung so schnell, wie man den zwei Pferden, die täglich zwei oder mehrere Male den ganzen Tag hin und her machen mußten, billigerweise zumuten konnte.

Er nahm sein Quartier im Gasthof Zum Busch, und entschlossen, alle briefliche Verbindung mit Herrn Pickwick solange auszusetzen, bis Herrn Dowlers Zorn nach menschlicher Berechnung einigermaßen verraucht wäre, ging er aus, um sich die Stadt zu besehen, an der ihm weiter nichts auffiel, als daß sie noch ein wenig schmutziger war als jeder andere Ort, den er bisher in Augenschein genommen. Nachdem er die Docks, die Schiffswerft und die Kathedrale besichtigt, erfragte er den Weg nach Klifton und schlug sofort die Richtung ein, die man ihm bezeichnet hatte. Wie indessen das Pflaster von Bristol nicht das breiteste oder reinlichste auf Erden ist, so sind auch die Straßen dieser Stadt eben nicht die geradesten, und da Herr Winkle durch ihre mannigfaltigen Wendungen und Drehungen sehr verwirrt wurde, so sah er sich nach einem anständigen Laden um, wo er sich aufs neue Rat holen und Erkundigungen einziehen könnte.

Seine Augen fielen auf ein neu angestrichenes Haus, das vor kurzem in ein Mittelding zwischen einem Laden und einem Privathaus verwandelt worden war. Eine über das fächerförmige Fenster der Haustür vorhängende rote Lampe würde es deutlich genug als den Wohnsitz eines Heilkünstlers bezeichnet haben, hätte nicht auch das Wort »Chirurgenstube« in goldenen Buchstaben auf dem Getäfel geprangt, über dessen Fenster in früheren Zeiten die Vorderstube gewesen war. Da Herr Winkle dies für einen geeigneten Ort hielt, um seine Nachforschungen anzustellen, so trat er in den kleinen Laden, wo die mit vergoldeten Lettern überschriebenen Schubfächer und Flaschen sich befanden, und als er niemand traf, klopfte er mit einer halben Krone auf den Ladentisch, um die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen, die sich vielleicht im Hinterzimmer befinden möchten. Dies Hinterzimmer hielt er für das innerste und ganz besondere Heiligtum der Anstalt, weil das Wort »Chirurgenstube« hier aufs neue, und zwar zur Abwechslung diesmal mit weißen Lettern an die Tür gemalt war. Auf sein erstes Klopfen hörte er ein bis jetzt wohl vernehmbares Geräusch, das demjenigen ähnlich, wenn mit Rapieren gefochten wird, plötzlich auf, und beim zweiten trat ein gelehrt aussehender junger Herr mit einer grünen Brille auf der Nase und einem gewaltigen Buch in der Hand ruhig in den Laden, stellte sich hinter den Tisch und fragte nach dem Begehren seines Gastes.

»Ich bedaure, wenn ich Sie störe, Sir«, sagte Herr Winkle, »aber würden Sie nicht die Güte haben, mir zu sagen, wo –«

»Ha! ha! ha!« lachte der gelehrte junge Herr, das große Buch in die Luft werfend und mit erstaunlicher Gewandtheit in demselben Augenblicke wieder auffangend, wo es sämtliche Flaschen auf dem Tisch zu Atomen zu zertrümmern drohte. »Das nenne ich einmal einen Zufall.«

Das war es auch wirklich, denn Herr Winkle war über das auffallende Benehmen des Äskulapsohnes so über die Maßen erstaunt, daß er unwillkürlich gegen die Tür zurücktrat und äußerst unruhig über diesen sonderbaren Empfang aussah.

»Wie, – kennen Sie mich nicht?« fragte der Medikus.

Herr Winkle murmelte, er habe nicht das Vergnügen.

»Nun«, fuhr der Doktor fort, »dann habe ich noch Hoffnung: wenn mir das Glück nur ein bißchen will, kann ich die Hälfte der alten Weiber von Bristol zu Kunden bekommen. Packe dich, du verschimmelter alter Spitzbube, fort mit dir!«

Unter dieser Verwünschung, die dem großen Buche galt, schleuderte der Doktor das Werk mit bewundernswürdiger Fertigkeit nach dem entfernten Ende des Ladens, nahm seine grüne Brille ab und ließ das leibhaftige Grinsen des Robert Sawyer Esquire, früher in Guys-Hospital, mit einer Privatwohnung in Landstreet, erkennen.

»Sie haben mich also nicht sogleich erkannt?« fragte Herr Bob Sawyer, mit freundschaftlicher Wärme Herrn Winkle die Hand schüttelnd.

»Auf Ehre nicht«, antwortete Herr Winkle, den Druck erwidernd.

»Haben Sie denn meinen Namen nicht gesehen?« fuhr Bob Sawyer fort, die Aufmerksamkeit seines Freundes auf die äußere Türe lenkend, wo ebenfalls weiß angemalt die Worte standen: »Sawyer, früher Nockemorf.«

»Ich habe es nicht bemerkt«, erwiderte Herr Winkle.

»Bei Gott, wenn ich gewußt hätte, daß Sie es sind, so wäre ich sogleich herausgestürzt und hätte Sie in meine Arme geschlossen«, sagte Bob Sawyer: »aber so wahr ich lebe, ich meinte es sei der Steuereinnehmer.«

»Wirklich?« fragte Herr Winkle.

»Ja«, antwortete Bob Sawyer: »und ich wollte eben sagen, ich sei nicht zu Hause. Möchte übrigens wissen, was er mir mitzuteilen hätte, denn er kennt mich so wenig wie der Beleuchtungs- und Pflastersteuereinnehmer. Der Steuerbote für die Kirche indes scheint zu erraten, wer ich bin, und der Wassersteuerbote kennt mich auch; denn diesem habe ich gleich nach meiner Ankunft einen Zahn ausgezogen. Doch kommen Sie jetzt, treten Sie herein.«

So schwatzend trieb Herr Bob Saywer seinen Freund Winkle in das Hinterzimmer, allwo niemand Geringerer als Herr Benjamin Allen saß und zu seinem Zeitvertreib mit einem glühenden Schüreisen kleine runde Löcher in das Kamingesims bohrte.

»Wahrhaftig«, sagte Herr Winkle, »das ist ein Vergnügen, das ich nicht erwartet hätte. Sie haben ja einen recht hübschen Platz hier.«

»O ja, so ziemlich«, erwiderte Bob Sawyer. »Ich machte bald nach unserer köstlichen Abendgesellschaft das Examen? meine Freunde schossen mir das Nötige zur Einrichtung vor, und nun legte ich mir einen schwarzen Anzug nebst einer Brille bei, um so feierlich wie möglich auszusehen, und kam hierher.«

»Sie haben ohne Zweifel ein recht hübsches Geschäftchen?« fragte Herr Winkle mit einem Kennerblick.

»O ja«, erwiderte Bob Sawyer; »so hübsch, daß Sie nach Verfluß von wenigen Jahren den ganzen Profit in ein Weinglas legen und mit einem Stachelbeerblatt bedecken können.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?« meinte Herr Winkle. »Schon die Vorräte –«

»Lauter Larifari, Freundchen«, sagte Bob Sawyer. »In der einen Hälfte der Schubladen ist gar nichts, und die andern können nicht einmal herausgezogen werden.«

»Sie scherzen«, sagte Herr Winkle.

»Nein, auf Ehre«, erwiderte Bob Sawyer, in den Laden tretend und die Wahrhaftigkeit seiner Versicherung dadurch bekräftigend, daß er zu verschiedenen Malen vergeblich an den kleinen vergoldeten Knöpfen der falschen Schubladen zerrte.

»Im ganzen Laden ist kaum etwas Reelles, außer den Blutegeln, und auch diese haben schon einmal Dienste geleistet.«

»Das hätte ich nicht gedacht«, rief Herr Winkle sehr überrascht.

»Hoffentlich«, erwiderte Bob Sawyer; »denn was nützte mir sonst all das Scheingepränge. Doch, was wollen Sie jetzt genießen? Halten Sie es mit uns. Ben, mein lieber Kamerad, geh an den Schenktisch und hole uns den Patentverdauer.«

Herr Benjamin Allen gab seine Bereitwilligkeit durch ein Lächeln zu erkennen und zog aus dem Schrank an seinem Ellenbogen eine schwarze, halbvolle Branntweinflasche hervor.

»Sie trinken natürlich ohne Wasser?« fragte Bob Sawyer.

»Danke Ihnen«, erwiderte Herr Winkle,- »es ist noch ziemlich früh, und ich nehme lieber Wasser dazu, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Nicht das geringste, wenn Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können«, erwiderte Bob Sawyer, mit großen Behagen ein Glas hinabstürzend. »Ben, die Kruke.«

Herr Benjamin Allen zog aus demselben Versteck einen kleinen messingenen Topf hervor, auf den Bob Sawyer stolz zu sein behauptete, besonders weil er so apothekermäßig aussehe. Das Wasser war in diesem kunstgerechten Topf mittels mehrerer Schaufeln Kohlen, die Herr Bob Sawyer aus einem bequemen, »Sodawasser« überschriebenen Wandschrank genommen hatte, zum Sieden gebracht. Dann mischte Herr Winkle seinen Branntwein, und die Unterhaltung fing bereits an, recht belebt zu werden, als sie durch einen jungen Burschen unterbrochen wurde, der in einer bescheidenen grauen Livree mit goldbetreßtem Hut und einem kleinen verdeckten Korb unter dem Arm in den Laden trat und von Herrn Bob Sawyer mit den Worten bewillkommt wurde:

»Kommst du endlich, Tom, du Tagedieb?«

Der Junge trat sogleich vor.

»Gewiß bist du wieder mit allen Gassenjungen von Bristol herumgeschlingelt, du fauler Spitzbube«, fuhr Herr Bob Sawyer fort.

»Nein, Sir, ganz gewiß nicht«, erwiderte der Knabe.

»Ich will es dir auch nicht raten«, sagte Herr Bob Sawyer mit drohender Geberde. »Wer wird auch wohl einen Geschäftsmann rufen lassen, wenn man sieht, daß sein Laufbursche auf der Gasse spielt wie kleine Kinder? Hast du denn gar keinen Sinn für dein Geschäft, du Gauner? Hast du die Arzneien alle abgegeben?«

»Ja, Sir.«

»Die Pulver für das Kind in dem großen Hause, wo die neue Familie wohnt, und die Pillen, die der übellaunige alte Herr mit seinem Podagra täglich viermal einzunehmen hat?«

«Ja, Sir.«

»Nun, so mach die Tür zu und besorge den Laden.«

»Nun«, sagte Herr Winkle, als der Knabe sich entfernt hatte: »die Sachen scheinen doch nicht so schlimm zu stehen, wie Sie mich glauben machen wollten. Sie haben doch jedenfalls einige Medizin auszuschicken.«

Herr Bob Sawyer sah in den Laden, ob kein Fremder ihn hören könne, dann aber beugte er sich zu Herrn Winkle und sagte leise:

»Er bringt sie alle in die falschen Häuser.«

Herr Winkle blickte äußerst verwundert um sich: Bob Sawyer aber und sein Freund lachten.

»Sehen Sie«, sagte Bob, »er geht in ein Haus, läutet, gibt dem Diener ein Paket ohne Aufschrift ab und entfernt sich wieder. Der Bediente bringt es in die Wohnstube, der Herr öffnet es und liest die Aufschrift: ›Ein Trank, vorm Schlafengehen einzunehmen – Pillen, wie das letztemal – Wasser, wie gewöhnlich – das Pulver. Nach den Vorschriften des Doktor Sawyer, früher Nockemorf, sorgfältig bereitet usw.‹ Er zeigt es seiner Frau, die liest die Aufschrift ebenfalls: dann geht das Paket wieder an die Dienerschaft zurück, und diese liest es auch. Am andern Tage kommt der Bursche wieder und sagt, es tue ihm sehr leid – er habe sich vergriffen – das große Geschäft – so viele Pakete zum Austragen – Komplimente von Herrn Sawyer, früher Nockemorf. Der Dame wird bekannt, und so, Freundchen, muß es ein Mediziner angreifen: ich versichere Sie, alter Freund, das wirkt weit besser als alle Ankündigungen von der Welt. Wir haben eine Vierunzenflasche, die schon in halb Bristol gewesen ist und noch in manche Häuser wandern muß.«

»Du mein Himmel, jetzt geht mir ein Licht auf«, bemerkte Herr Winkle. »Ein ganz vortrefflicher Plan.«

»O, Ben und ich haben schon ein Dutzend ähnliche ausgedacht«, erwiderte Bob Sawyer sehr vergnügt. »Der Lampenanzünder bekommt achtzehn Pence wöchentlich dafür, daß er jedesmal, wenn er vorbeigeht, zehn Minuten lang die Nachtglocke läutet, und mein Junge stürzt immer gerade während der kirchlichen Andacht, wenn die Leute nichts zu tun haben, als umherzusehen, in die Kirche und ruft mich hinaus, mit einem Gesicht, auf dem sich Schauder und Entsetzen malen. Ach Gott, sagt dann alles, es muß jemand plötzlich krank geworden sein. Man hat zu Sawyer, früher Nockemorf, geschickt. Welche Praxis der junge Mann schon hat!«

Nach dieser Enthüllung einiger Geheimnisse der Arzneiwissenschaft warfen sich Herr Bob Sawyer und sein Freund Ben Allen in ihre Stühle zurück und lachten aus vollem Halse. Als sie dieses Vergnügen nach Herzenslust genossen, wurde das Gespräch auf Gegenstände gelenkt, bei denen Herr Winkle unmittelbar interessiert war.

Wir haben, wenn wir nicht irren, schon früher einmal angedeutet, daß Herr Benjamin Allen nach dem Branntwein gewöhnlich sentimental wurde. Dieser Fall gehört nicht zu den seltenen, wie wir selbst bezeugen können, da wir es schon hier und da mit Patienten zu tun hatten, denen es ebenso erging. Herr Benjamin Allen war vielleicht gerade um diese Periode seines Daseins mehr als je zu diesem Zustand der Benebelung geneigt, und seine Krankheitsgeschichte ist kurz folgende: Er hatte sich schon beinahe drei Wochen bei Herrn Bob Sawyer aufgehalten; Herr Bob Sawyer zeichnete sich nicht gerade durch Mäßigkeit aus, so wenig wie Herr Benjamin Allen durch den Besitz eines extra festen Kopfes, und die Folge davon war, daß Ben während dieser Zeit zwischen teilweisem und gänzlichem Beschwipstsein geschwankt hatte.

»Mein teurer Freund!« sagte Herr Ben Allen, die zeitweise Abwesenheit des Herrn Bob Sawyer benutzend, der in den Laden gegangen war, um einige von den oben erwähnten gebrauchten Blutegeln abzugeben, »mein teurer Freund, ich bin sehr unglücklich.«

Herr Winkle sprach sein herzliches Bedauern darüber aus und wollte wissen, ob er nichts tun könne, um den Kummer des leidenden Studenten zu erleichtern.

»Ach nein, mein teurer Freund, nichts«, erwiderte Ben. »Sie erinnern sich Arabellas, Winkle – meiner Schwester Arabella: – ein kleines Mädchen, Winkle, mit schwarzen Augen – damals als wir bei Wardle waren? Ich weiß nicht, ob Sie sie zufällig bemerkt haben – ein hübsches, kleines Mädchen, Winkle. Vielleicht fällt sie Ihnen bei meiner Beschreibung wieder ein.«

Herr Winkle bedurfte keineswegs einer solchen Erklärung an die reizende Arabella, und zu seinem Glück; denn die Beschreibung ihres Bruders Benjamin hätte ohne Zweifel sein Gedächtnis nicht sehr aufgefrischt. Er antwortete daher mit aller Ruhe, die er aufzubieten vermochte, er erinnere sich der jungen Dame noch sehr gut und wünsche von Herzen, daß sie sich wohl befinde.

»Unser Freund Bob ist ein herrlicher Kerl, Winkle«, war die einzige Antwort des Herrn Ben Allen.

»Gewiß«, sagte Herr Winkle, dem diese nahe Zusammenstellung der beiden Namen keineswegs behagte.

»Ich hatte sie für einander bestimmt; sie waren für einander geschaffen, für einander in die Welt gesandt, für einander geboren, Winkle«, sagte Herr Ben Allen, indem er mit großem Nachdruck sein Glas niederstellte. »Es waltet ein besonderes Geschick in dieser Sache, mein lieber Herr; sie sind nur um fünf Jahre von einander im Alter getrennt und beider Geburtstage fallen in den August.«

Herr Winkle war zu begierig, zu hören, was folgen würde, als daß er großes Erstaunen über diesen außerordentlichen und wirklich wunderbaren Umstand ausgedrückt hätte. Herr Ben Allen erzählte ihm daher nach ein paar Tränen weiter, trotz aller seiner Achtung, Wertschätzung und Verehrung für seinen Freund, zeige Arabella unbegreiflicher- und pflichtvergessenerweise die entschiedenste Abneigung gegen seine Person.

»Ich glaube«, so schloß Herr Ben Allen, »ich glaube, es steckt eine frühere Neigung dahinter.«

»Haben Sie vielleicht eine Vermutung über die betreffende Person?« fragte Herr Winkle recht zögernd.

Herr Ben Allen ergriff das Schüreisen, schwang es nach Kriegerart über seinem Haupte, führte einen furchtbaren Schlag gegen einen in seiner Einbildung vorhandenen Hirnschädel und sagte in höchst bedeutsamem Tone, es sei sein einziger Wunsch, das erraten zu können.

»Ich würde ihm dann sagen, was ich von ihm denke«, sagte Herr Ben Allen und schwang aufs neue, noch drohender als zuvor, das Schüreisen.

All das mußte natürlich äußerst beschwichtigend auf die Gefühle des Herrn Winkle wirken, der ein paar Minuten lang stillschwieg, endlich aber sich den Mut faßte, zu fragen, ob Miß Allen in Kent sei?

»Nein, nein«, sagte Herr Ben Allen, das Schüreisen auf die Seite legend und sehr pfiffig dreinblickend: »Wardles Haus schien mir eben nicht der geeignetste Platz für ein widerspenstiges Mädchen. Da nun unsere Eltern tot sind und ich ihr natürlicher Beschützer und Vormund bin, so habe ich sie in der hiesigen Gegend auf ein paar Monate zu einer alten Tante gebracht, die in einem zwar etwas abgelegenen, aber dennoch recht hübschen Ort wohnt. Das soll sie schon kurieren, mein Freund. Wo nicht, so gehe ich ein Weilchen mit ihr ins Ausland und versuche, ob das nicht hilft.«

»Ah, die Tante ist also in Bristol?« stotterte Herr Winkle.

»Nein, nein: nicht in Bristol«, erwiderte Herr Ben Allen, den Daumen über seine rechte Schulter legend; »dort nach dieser Seite hin – da unten. Aber still jetzt; Bob kommt; kein Wörtchen, teuerster Freund, kein Wörtchen.« HZ

So kurz diese Unterhaltung gewesen war, so versetzte sie doch Herrn Winkle in die peinlichste Aufregung und Angst. Die mutmaßliche frühere Neigung nagte in seinem Herzen. War er vielleicht der Gegenstand derselben? Konnte die schöne Arabella um seinetwillen den luftigen Bob Sawyer verächtlich angeblickt haben, oder hatte er einen glücklichen Nebenbuhler? Er beschloß, sie um jeden Preis zu besuchen; aber hier stellte sich ihm ein unüberwindliches Hindernis entgegen, denn er konnte schlechterdings nicht erraten, ob Ben Allens erklärende Worte: »dort nach dieser Richtung« und »da unten« eine Entfernung von drei, dreißig oder dreihundert Meilen zu bedeuten hatten.

Indes war ihm für den Augenblick keine Muße gestattet, seinen Liebesgedanken länger nachzuhängen; denn Bob Sawyers Rückkehr war der unmittelbare Vorläufer einer noch warmen Fleischpastete, und der Hausbesitzer bestand darauf, er müsse sie verzehren helfen. Eine Frau, die Herrn Bob Sawyers Haushälterin vorstellte, deckte den Tisch: ein drittes Paar Messer und Gabeln wurde von der Mutter des Jungen in der grauen Livree entlehnt (denn Herrn Sawyers häusliche Einrichtungen befanden sich noch auf einem beschränkten Fuße); sodann setzten sie sich zu Tisch, und das Bier wurde, wie Herr Sawyer bemerkte, in vaterländischem Zinn aufgetragen.

Nach dem Essen ließ Herr Bob Sawyer den größten Mörser aus dem Laden holen und begann einen dampfenden Rumpunsch darin zu brauen, wozu er die Materialien in kundiger Apothekerweise mit dem Stößel umrührte und verband. Herr Sawyer hatte als Junggeselle nur ein einziges Glas im Haus, das ehrenhalber für Herrn Winkle als den Gast bestimmt wurde. Ben Allen erhielt daher einen unten mit einem Kork zugestopften Trichter und Bob Sawyer begnügte sich mit einem jener weitrandigen, von einer Menge kabalistischer Zeichen bedeckten Glasgefäße, in denen die Apotheker den betreffenden Vorschriften gemäß ihre Flüssigkeiten auszumessen pflegen. Nachdem diese Präliminarien im reinen waren, wurde der Punsch gekostet und für vortrefflich erklärt. Sofort wurde der Beschluß gefaßt, Bob Sawyer und Ben Allen sollten die Erlaubnis haben, zwei Gläser zu trinken, bis Herr Winkle mit einem fertig würde, und nach allen diesen Einleitungen begannen sie mit großem Vergnügen und guter Kameradschaftlichkeit das Gelage.

Gesungen wurde nicht, weil Herr Bob Sawyer es mit der Würde seines Amtes für unverträglich hielt. Um sich jedoch für diese Entbehrung zu entschädigen, schwatzten und lachten sie so laut, daß man sie am Ende der Straße hören konnte und wahrscheinlich auch hörte. Diese Unterhaltung erheiterte auch dem Laufburschen wesentlich seine Arbeit und trug zu seiner ferneren Ausbildung bei; denn statt den Abend seiner gewöhnlichen Beschäftigung zu widmen, nämlich seinen Namen auf den Ladentisch zu schreiben und dann wieder auszulöschen, schaute er heute durch die Glastür, wo er genug zu hören und zu sehen bekam.

Herrn Bob Sawyers Lustigkeit wurde schnell zur Ausgelassenheit; Herr Ben Allen fiel in seine Sentimentalität zurück, und der Punsch war beinahe ganz verschwunden, als der Bursche hereinstürzte und meldete, es sei soeben ein junges Frauenzimmer gekommen und habe gesagt, Herr Sawyer, früher Nockemorf, möchte sogleich einen Patienten besuchen, der ein paar Straßen entfernt wohne. Das war das Signal zum Ende des Gelages. Herr Bob Sawyer verstand die Botschaft, nachdem man sie ihm etliche zwanzigmal wiederholt hatte, band ein nasses Tuch um seinen Kopf, um sich wieder nüchtern zu machen, was ihm auch einigermaßen gelang, setzte sofort seine grüne Brille auf und ging seinem Berufe nach. Trotz aller Bitten, bis zu seiner Rückkehr zu bleiben, nahm Herr Winkle, da er es rein unmöglich fand, mit Herrn Ben Allen eine vernünftige Unterhaltung über den Gegenstand, der seinem Herzen am nächsten lag, oder sonst über etwas anderes anzuknüpfen, Abschied und kehrte in den Busch zurück.

Die ängstliche Aufregung seines Gemüts und die zahllosen Gedanken, die Arabella in ihm hervorgerufen, verhinderten es, daß seine Portion aus dem Punschmörser die Wirkung hervorbrachte, die unter andern Umständen unausbleiblich gewesen wäre. Nachdem er daher noch im Schenkstübchen ein Glas Whisky mit Soda getrunken, begab er sich, durch die Vorfälle des Abends mehr entmutigt als aufgerichtet, in das Gastzimmer.

Vorn am Kamin saß ein langer Herr in einem großen Überrock, der ihm den rücken zuwandte; sonst befand sich niemand in der Stube. Es war ein für diese Jahreszeit etwas kühler Abend, und der Herr schob seinen Stuhl auf die Seite, um dem neuen Gaste auch etwas vom Feuer zukommen zu lassen. Aber wer vermag Herrn Winkles Gefühle zu schildern, als er auf einmal das Gesicht und die Gestalt des rachsüchtigen, blutdürstigen Dowler erblickte!

Herrn Winkles erster Gedanke war, so stark wie möglich an der nächsten Klingelschnur zu ziehen; aber diese hing unglücklicherweise unmittelbar hinter Herrn Dowlers Kopf. Er hatte schon einen Schritt dahin getan, hielt aber auf einmal still, und als er das tat, zog sich Herr Dowler hastig zurück.

»Ach, Herr Winkle, seien Sie ruhig. Schlagen Sie mich nicht. Ich kann es nicht ertragen. Einen Schlag! Nein, nie!« sagte Herr Dowler, sah aber weit sanftmütiger aus, als Herr Winkle von einem so wilden Manne erwartet hatte.

»Einen Schlag, Sir?« stammelte Herr Winkle.

»Einen Schlag, Sir«, erwiderte Dowler. »Beruhigen Sie Ihre Gefühle. Setzen Sie sich. Hören Sie mich an.«

»Sir«, sagte Herr Winkle, von Kopf bis Füßen zitternd, »bevor ich mich darauf einlassen kann, ohne die Anwesenheit eines Kellners neben Ihnen oder Ihnen gegenüber zu sitzen, muß ich mich durch vorläufige Auseinandersetzung mit Ihnen verständigen. Sie haben gestern abend eine schreckliche Drohung gegen mich fallen lassen, Sir – ja, eine schreckliche Drohung, Sir!«

Bei diesen Worten wurde Herr Winkle leichenblaß und hielt inne.

»Allerdings«, sagte Dowler mit einem beinahe ebenso weißen Gesicht: »ich habe da« allerdings getan. Die Umstände waren verdächtig: sie sind geklärt worden. Ich achte Ihre Tapferkeit. Ihre Gesinnung ist aufrichtig. Bewußte Unschuld. Hier ist meine Hand. – Nehmen Sie sie.«

»Wirklich, Sir«, versetzte Herr Winkle, unschlüssig, ob er seine Hand geben solle oder nicht, denn er fürchtete beinahe, es möchte eine Schlinge sein: »wirklich, Sir, ich –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, unterbrach ihn Dowler. »Sie fühlen sich beleidigt. Sehr natürlich. Es ginge mir auch so. Ich hatte unrecht. Ich bitte um Verzeihung. Seien Sie freundlich. Vergeben Sie mir.«

Mit diesen Worten ergriff Dowler gewaltsam Herrn Winkles Hand, schüttelte sie mit äußerster Heftigkeit, schwur, Herr Winkle sei ein Mann von außerordentlichem Mut, und er habe von ihm eine höhere Meinung als je.

»Jetzt«, sagte Dowler, »setzen Sie sich. Erzählen Sie alles. Wie fanden Sie mich? Wann sind Sie mir nachgereist? Seien Sie offen. Sprechen Sie.«

»Es ist ganz zufällig«, erwiderte Herr Winkle, in hohem Grade verblüfft über die sonderbare, unerwartete Art dieses Zusammentreffens: »reiner Zufall.«

»Freut mich«, sagte Dowler. »Ich wachte heute morgen auf. Ich hatte meine Drohungen vergessen. Ich lachte über die Geschichte. Ich hatte gar keine bösartigen Absichten. Ich sagte es auch sogleich.«

»Wem haben Sie es gesagt?« fragte Herr Winkle.

»Meiner Frau. – ›Du hast ein Gelübde getan‹, sagte sie. – ›Ja‹, sprach ich. – ›Es war recht unüberlegt‹, meinte sie. – ›Ich weiß wohl‹, sagte ich. ›Ich will es zurücknehmen. Wo ist er?‹«

»Wer?« fragte Herr Winkle.

»Sie«, erwiderte Dowler. »Ich ging die Treppe hinunter. Sie waren nicht zu finden. Pickwick sah recht ärgerlich aus. Schüttelte den Kopf. Hoffte, es würden keine Gewalttätigkeiten vorkommen. Ich sah alles ein, Sie fühlten sich beleidigt. Sie waren ausgegangen, vielleicht um einen Freund zu holen. Vielleicht auch um Pistolen. ›Großer Mut‹, sagte ich. ›Ich bewundere ihn.‹«

Herr Winkle hustete, und da er anfing, zu verstehen, was es geschlagen hatte, so nahm er eine höchst gewichtige Miene an.

»Ich habe ein Billett an Sie zurückgelassen«, fuhr Dowler fort. »Ich sagte, es tut mir leid. Es war auch so. Ein dringendes Geschäft rief mich hierher. Sie waren nicht zufrieden. Sie sind nachgereist. Sie verlangten eine nähere Erklärung. Sie haben recht gehabt. Jetzt ist alles vorbei. Mein Geschäft ist abgemacht. Morgen reise ich zurück. Gehen Sie mit mir.«

Je weiter Dowler in seiner Erklärung fortschritt, um so würdevoller wurde Herrn Winkles Antlitz. Die geheimnisvolle Art, wie ihre Unterhaltung anfing, war erklärt: Herr Dowler hatte ebenso viele Einwendungen gegen das Duell wie er selbst. Kurz und gut, dieser auftobende, schreckliche Mann war einer der herrlichsten Hasenfüße, so weit man um sich blickte. Er hatte Herrn Winkles Abwesenheit durch das Medium seiner eigenen Erschrockenheit betrachtet, hatte wirklich denselben Schritt getan wie jener und sich klüglich zurückgezogen, bis jede Aufregung des Gefühls sich gelegt haben konnte.

Als der wirkliche Stand der Sache in Herrn Winkles Kopf dämmerte, blickte er höchst furchtbar drein und sagte, er sei vollkommen befriedigt; er sagte das aber in einem Tone, woraus Herr Dowler notwendig schließen mußte, wenn dies nicht der Fall wäre, so hätte es unausweichbar zu einer höchst schauderhaften und zerstörenden Katastrophe kommen müssen. Herr Dowler schien von einem geziemenden Gefühl der Großmut und Herablassung des Herrn Winkle ergriffen zu sein, und die beiden kriegführenden Parteien verabschiedeten sich zur Nacht mit mannigfachen Versicherungen ewiger Freundschaft.

Ungefähr um halb ein Uhr, als Herr Winkle etliche zwanzig Minuten im vollen üppigen Genuß des ersten Schlafe« geschwelgt hatte, wurde er plötzlich durch lautes Klopfen an seine Kammertür geweckt, das sich mit vermehrter Heftigkeit erneuerte und ihn veranlaßte, im Bett aufzuspringen und zu fragen, wer da sei und was es gäbe?«

»Erlauben Sie, Sir, es ist ein junger Mann da, der sagt, er müsse Sie sogleich sehen«, antwortete die Stimme des Stubenmädchens.

»Ein junger Mann?« rief Herr Winkle.

»Ja, Sie werden es sogleich zu wissen bekommen, Sir«, ertönte eine andere Stimme durch das Schlüsselloch, »und wenn dieser interessante junge Mensch nicht unverzüglich hineingelassen wird, so wäre es sehr wohl möglich, daß seine Beine vor seinem Kopf hineinkämen.«

Der junge Mann stieß nach dieser sanften Andeutung recht artig an eins der unteren Bretter der Tür, als wenn er seiner Bemerkung Kraft und Nachdruck geben wollte.

»Sind Sie’s, Sam?« fragte Herr Winkle aus dem Bett springend.

»Nein unmöglich: einen Gentleman auch nur annähernd sicher zu erkennen, wenn man ihn nicht sieht, Sir«, erwiderte die Stimme dogmatisch.

Herr Winkle zweifelte nicht mehr, wer der junge Mann sei und öffnete die Tür. Auch hatte er es kaum getan, als Herr Samuel Weller mit großer Hast eintrat, sorgfältig von innen abschloß, mit großem Bedacht den Schlüssel in seine Westentasche steckte und, nachdem er Herrn Winkle von Kopf zu Fuß gemustert, also anhob:

»Sie sind ein sehr humoristischer junger Gentleman, Sir.«

»Was wollen Sie mit diesem Benehmen, Sam?« fragte Herr Winkle entrüstet. »Gehen Sie hinaus, Sir; im Augenblick! Was glauben Sie denn, Sir?«

»Was ich glaube?« erwiderte Sam. »Kommen Sie, Sir; das ist noch viel zu gut, wie die junge Dame sagte, als sie mit dem Pastetenbäcker Händel anfing, weil er eine Schweinspastete an sie verkaufte, wo das Inwendige nichts als lauter Fett war. Was ich glaube? Gut, ich glaube, daß das gar nicht so übel ist – gar nicht so übel.«

Öffnen Sie die Tür und verlassen Sie sogleich dies Zimmer«, sagte Herr Winkle.

»Ich werde dieses Zimmer hier ganz in dem nämlichen Augenblick verlassen, Sir, wenn Sie es verlassen«, antwortete Sam in höchst eindringlichem Tone und setzte sich dabei mit vollendeter Gravität nieder. »Wenn ich es für nötig finde, Sie auf den Rücken zu packen und fortzuführen, so werde ich das letzte bißchen Zeit nehmen, das noch dazu da ist. Aber erlauben Sie mir, die Hoffnung auszudrücken, daß Sie mich nicht zu diesem Äußersten treiben werden: und wenn ich das sage, so fällt mir der Edelmann ein, der die widerspenstige Auster mit der Nadel nicht herausholen konnte und sagte, er fürchte, er müsse sie zusammenschlagen.«

Am Ende dieser für ihn ungewöhnlich langen Rede stemmte Herr Weller seine Hände auf die Knie und sah Herrn Winkle mit einem Ausdruck ins Gesicht, worin deutlich zu lesen war, daß er nicht die entfernteste Absicht habe, sich durch Ausflüchte abspeisen zu lassen.

»Sie sind ein zu Scherzen aufgelegter junger Mann, Sir«, fuhr Herr Weller im Tone moralischen Vorwurfs fort, »daß Sie unsern lieben Herrn in alle möglichen Torheiten verwickeln, während es doch sein Grundsatz ist, überall den geraden Weg zu gehen. Sie sind noch viel schlimmer, Sir, als Dodson, und was Fogg betrifft, so betrachte ich ihn als einen geborenen Engel gegen Sie.«

Nachdem Herr Weller diese seine letzte Empfindung mit einem nachdrücklichen Schlag auf beide Knie begleitet hatte, kreuzte er mit sehr entrüsteter Miene die Arme und warf sich in seinen Stuhl zurück, als erwartete er die Verteidigung des Verbrechers.

»Mein guter Junge«, sagte Herr Winkle, die Hand ausstreckend und mit den Zähnen klappernd, denn er hatte während der ganzen Lektion des Herrn Weller in einem leichten Nachtgewande dagestanden, »mein guter Junge, ich achte Ihre Anhänglichkeit an meinen vortrefflichen Freund, und es tut mir in der Tat sehr leid, ihm Ursache zum Kummer gegeben zu haben. Da, Sam, da!«

»Gut«, sagte Sam mürrisch, obgleich er die hingebotene Hand ehrerbietig schüttelte – »es darf Ihnen wohl leid tun, und mich freut es sehr, daß Sie mich hier getroffen haben: denn wenn ich ihm dazu helfen kann, so soll ihm keine sterbliche Seele einen Kummer machen.«

»Da haben Sie ganz recht, Sam«, erwiderte Herr Winkle. »Aber jetzt gehen Sie zu Bett und morgen früh wollen wir weiter über die Sache sprechen.«

»Es tut mir sehr leid«, erklärte Sam, »aber ich kann nicht zu Bett gehen.«

»Nicht zu Bett gehen?« wiederholte Herr Winkle.

»Nein«, sagte Sam, den Kopf schüttelnd, »es kann nicht sein.«

»Sie werden doch nicht in der Nacht zurückreisen wollen, Sam?« drängte Herr Winkle sehr überrascht,

»Nein, außer wenn Sie es absolut wünschen«, versetzte Sam, »aber ich darf dieses Zimmer hier nicht verlassen. Der Herr hat mir ganz ausdrückliche Befehle gegeben.«

»Unsinn, Sam«, sagte Herr Winkle. »Ich muß zwei oder drei Tage hier bleiben, und was mehr ist, Sam, Sie müssen auch hier bleiben, um mir zu einer Zusammenkunft mit einer jungen Dame zu verhelfen – nämlich, mit Fräulein Allen. Sie erinnern sich ihrer; ich muß und will sie sehen, bevor ich Bristol verlasse.«

Statt aller Antwort auf diese Vorschläge schüttelte Sam mit großer Festigkeit sein Haupt und erwiderte ausdrucksvoll:

»Es kann nicht sein.«

Nach manchen Argumentationen und Vorstellungen von Herrn Winkles Seite jedoch und nach einer umständlichen Auseinandersetzung über das Zusammentreffen mit Dowler begann Sam zu schwanken, und zuletzt kam ein Vertrag zustande, dessen Hauptbedingungen folgende waren:

Daß sich Sam entfernen und Herrn Winkle im ungestörten Besitz seines Zimmers lassen solle, jedoch mit der Erlaubnis, die Tür von außen zu schließen und den Schlüssel mitzunehmen; dagegen habe er, im Fall ein Feuer ausbrechen oder sonst eine Gefahr eintreffen sollte, die Tür sofort zu öffnen. Ferner solle am nächsten Morgen in aller Frühe dem Herrn Dowler ein Brief an Herrn Pickwick mitgegeben werden, worin Sam und Herr Winkle um Erlaubnis bitten, zu dem bereits bezeichneten Zwecke in Bristol zu bleiben und um Antwort mit der nächsten Postkutsche ersuchen: falle diese günstig aus, so sollen die besagten Parteien bleiben – wenn nicht, unmittelbar nach Empfang des Schreibens nach Bath zurückreisen. Endlich solle Herr Winkle gehalten sein und sich verpflichten, in der Zwischenzeit nicht durch das Fenster, den Kamin oder sonst auf hinterlistige Art zu entweichen.

Nachdem diese Punkte festgesetzt waren, schloß Sam die Tür und ging.

Er war beinahe die Treppen heruntergegangen, als er stehenblieb und den Schlüssel aus der Tasche zog.

»Das Niederschlagen habe ich ganz vergessen«, sagte Sam, sich halb zurückwendend. »Der Herr hat es doch ausdrücklich gesagt. O, ich Allerweltsdummkopf! Doch, es macht nichts«, setzte er, plötzlich sich klar werdend, hinzu: »es läßt sich ja morgen leicht nachholen.«

Durch diesen Gedanken augenscheinlich sehr getröstet, steckte Herr Weller den Schlüssel abermals in die Tasche, ging ohne weitere Gewissensbisse die paar Treppen vollends hinunter und verfiel bald darauf, gleich den übrigen Bewohnern des Hauses, in tiefe Ruhe.

 

Vierzigstes Kapitel


Vierzigstes Kapitel

Herr Samuel Weller wird um Liebesboten ernannt und versieht sein Amt als solcher. Mit welchem Erfolg er agiert.

Am ganzen folgenden Tag behielt Sam Herrn Winkle fest im Gesicht, entschlossen, seine Augen keine Minute lang von ihm abzuwenden, bis er von der Hauptquelle aus bestimmte Instruktionen erhalten hätte. So unangenehm nun dieses strenge Aufpassen und die große Wachsamkeit des Herrn Weller für Winkle waren, so hielt er es doch für besser, sich darein zu fügen, als sich der Gefahr einer gewaltsamen Abführung auszusetzen, zumal da ihm Sam mehr als einmal deutlich zu verstehen gab, daß sein Pflichtgefühl ihm keinen andern Ausweg lasse. Man hat wenig Grund zu zweifeln, daß Sam seine Bedenklichkeiten sehr schnell beschwichtigt haben würde, wenn er Herrn Winkle an Händen und Füßen gebunden nach Bath zurückgebracht hätte. Allein die schnelle Aufmerksamkeit, die Herr Pickwick dem durch Dowler ihm zugeschickten Schreiben widmete, ließ es nicht soweit kommen. Kurz und gut, abends um acht Uhr trat Herr Pickwick in eigener Person ins Gastzimmer des Busches herein und sagte, Sam zu dessen großer Beruhigung zulächelnd, er habe seinen Auftrag ganz recht vollzogen, doch brauche er jetzt nicht länger Schildwache zu stehen.

»Ich hielt es für besser, selbst zu kommen«, fügte Herr Pickwick gegen Herrn Winkle hinzu, während ihm Sam seinen Überrock und seinen Reiseschal abnahm, »um mich, bevor ich die Verwendung Sams in dieser Sache zugebe, zu vergewissern, daß es Ihnen mit der jungen Dame vollkommen Ernst ist.«

»So wahr ich lebe«, antwortete Winkle mit vielem Feuer.

»Bedenken Sie wohl«, sagte Herr Pickwick mit blitzenden Augen, »daß wir sie im Hause unseres vortrefflichen, gastlichen Freundes getroffen haben. Es wäre schlechter Dank, wenn Sie mit den Neigungen dieser jungen Dame ein leichtfertiges, unüberlegtes Spiel treiben wollten. Ich werde das nie zugeben, Sir – niemals.«

»Ich habe auch keine solche Absicht«, rief Herr Winkle warm. »Ich habe die Sache schon lange Zeit wohl überlegt und fühle, daß mein Glück an Arabella hängt.«

»Dann hängt es an einem sehr kleinen Ding, Sir«, fiel Herr Weller mit scherzhaftem Lächeln ein.

Herr Winkle blickte, über diese Unterbrechung einigermaßen entrüstet, um sich, und Herr Pickwick bemerkte seinem Diener unwillig, er brauche mit einem der edelsten Gefühle der Natur keinen Scherz zu treiben, worauf Sam erwiderte, dieses werde er auch niemals mit Wissen tun: aber es gebe so vielerlei edele Gefühle, daß er kaum unterscheiden könne, welches das edelste sei.

Herr Winkle erzählte sofort, was in Beziehung auf Arabella zwischen ihm und Herrn Ben Allen vorgegangen, erklärte, er wünsche mit der jungen Dame zusammenzukommen, um ihr seine Liebe in aller Form zu gestehen, und drückte seine auf gewisse dunkle Winke und Andeutungen des besagten Ben gegründete Überzeugung aus, daß sie jedenfalls in der Nähe der Dünen eingesperrt sein müsse: darauf beschränkte sich indessen sein ganzes Wissen oder Vermuten in dieser Sache.

Mit diesem schwachen Leitfaden sollte Herr Weller nach einem Beschluß der Gesellschaft am nächsten Morgen eine Entdeckungsreise antreten! Es wurde aber festgesetzt, daß Herr Pickwick und Herr Winkle, die kein übertriebenes Vertrauen auf ihre Kräfte besaßen, einstweilen die Stadt durchwandern und zufällig bei Herrn Bob Sawyer einsprechen sollten, ob sie dort vielleicht über die Verhältnisse der jungen Dame etwas sehen oder hören könnten.

Demgemäß ging Sam Weller am nächsten Morgen auf Kundschaft aus, keineswegs eingeschüchtert durch die nicht sehr ermunternden Aussichten, die vor ihm lagen. Er wanderte eine Straße hinauf und eine hinab – wir wollten sagen, einen Hügel hinauf und einen andern hinunter, wenn in Clifton nicht alles Hügel wäre – ohne auf irgendein Ding oder eine Person zu stoßen, die das geringste Licht auf den Gegenstand seiner Forschungen geworfen hätte. Viel waren der Zwiegespräche, die Sam mit Dienern einleitete, die Pferde spazierenritten, und mit Kindermädchen, die mit ihren Kindern in den Gassen herumschlenderten. Aber er vermochte aus diesen beiden Arten von Menschenkindern nichts herauszulocken, was den mindesten Bezug auf seine schlau betriebenen Nachforschungen gehabt hätte. Es waren in sehr vielen Häusern sehr viele junge Damen, denen die männlichen und weiblichen Dienstboten scharfsichtig genug abgemerkt hatten, daß sie in irgend jemand sterblich verliebt oder jedenfalls im Begriff seien, bei der nächsten besten Gelegenheit, es zu werden. Da aber unter diesen jungen Damen kein Fräulein Arabella Allen war, so blieb Sam auf derselben Stufe der Weisheit stehen, von der er ausgegangen.

Herr Weller arbeitete sich gegen einen starken Hochwind die Dünen hindurch, voll Verwunderung, warum es in diesem Teil des Landes nötig sei, mit beiden Händen den Hut festzuhalten, und kam endlich in eine schattige Gegend, wo ihm mehrere kleine Landhäuser von ruhigem, abgeschlossenem Aussehen in die Augen sprangen. Am Ende einer langen Hintergasse ohne Ausgang faulenzte ein Reitknecht in halber Livree, der sich offenbar einredete, er stehe im Begriff, mit einem Spaten und einem Schiebkarren etwas zu arbeiten. Man erlaube uns hier die Bemerkung, daß wir nicht leicht in der Nähe eines Stalles einen Reitknecht in seinen müßigen Augenblicken gesehen haben, der nicht in größerem oder geringerem Maße das Opfer dieser seltsamen Selbsttäuschung gewesen wäre.

Sam dachte, er könne mit diesem Reitknecht so gut sprechen wie mit irgendeinem anderen Menschen, zumal da er etwas müde vom Gehen war und gegenüber dem Schiebkarren einen recht angenehmen breiten Stein erblickte. Er schlenderte also das Gäßchen hinab, setzte sich auf den Stein und leitete mit seiner merkwürdigen, ungezwungenen Offenheit ein Gespräch ein.

»Guten Morgen, alter Freund«, begann Sam.

»Guten Nachmittag, wollen Sie sagen«, erwiderte der Knecht mit einem grämlichen Blick.

»Sie haben recht, alter Freund«, sagte Sam, »ich wollte Nachmittag sagen. Wie geht es Ihnen?«

»Nicht viel besser darum, weil ich Sie sehe«, entgegnete der übelgelaunte Reitknecht.

»Das ist höchst sonderbar«, sagte Sam: »denn Sie sehen so ungemein lustig aus und scheinen überhaupt ein so munteres Kerlchen zu sein, daß es eine wahre Herzenslust ist. Sie anzuschauen.«

Der verdrießliche Bursche machte ein noch verdrießlicheres Gesicht, jedoch nicht grämlich genug, um irgendeine Wirkung auf Sam hervorzubringen, der sogleich sehr angelegentlich zu fragen begann, ob sein Herr nicht Walker heiße?

»Nein«, antwortete der Bursche.

»Oder Brown?«

»Nein.«

»Oder Wilson?«

»Nein, ebensowenig.«

»Gut«, erwiderte Sam, »dann habe ich mich geirrt, und er hat die Ehre meiner Bekanntschaft nicht, wie ich gedacht hatte. Warten Sie nur nicht aus Höflichkeit gegen mich hier außen«, setzte er hinzu, als der Knecht den Karren hineinschob und sich anschickte, das Tor zu verschließen. Es geht nichts über die Bequemlichkeit, alter Knabe: ich entschuldige Sie gern.«

»Und ich möchte Ihnen gern für eine halbe Krone den Schädel einschlagen«, erwiderte der griesgrämige Stallknecht, indem er den einen Torflügel zuschloß.

»Könnte es nicht so billig geschehen lassen«, entgegnete Sam. »Es würde Ihnen wenigstens eine lebenslängliche Verköstigung eintragen und wäre daher allzu wohlfeil. Melden Sie im Hause meine Empfehlung. Sagen Sie, man brauche mit dem Essen nicht auf mich zu warten und mir auch nichts aufzuheben: denn es würde doch kalt werden, bis ich komme.«

Der Knecht machte ein wütendes Gesicht und murmelte den Wunsch, jemanden den Kopf zusammenzuschlagen, verschwand jedoch, ohne jenen in Ausführung zu bringen und schlug ärgerlich die Tür hinter sich zu, indem er der zärtlichen Bitte Sams, ihm wenigstens eine Locke von seinen Haaren zu lassen, nicht die geringste Beachtung schenkte.

Sam blieb auf dem großen Stein sitzen. Er besann sich, was wohl jetzt das beste wäre und wälzte eben in seinem Geiste den Plan herum, fünf Meilen im Umkreise von Bristol an alle Türen anzuklopfen, indem er täglich etwa einhundertfünfzig oder zweihundert schaffen könnte, um dadurch Fräulein Arabella ausfindig zu machen, als ihm der Zufall unerwartet etwas in den Weg warf, was er bei jahrelangem Sitzen auf dem Stein nicht gefunden hätte.

In die Gasse, wo er saß, öffneten sich drei oder vier Gartentore, die zu ebenso vielen, nur durch die Gärten voneinander getrennten Häusern führten. Da diese Gärten groß, lang und dicht mit Bäumen bepflanzt waren, so standen die Häuser nicht bloß ziemlich weit voneinander entfernt, sondern waren auch meistenteils fast unsichtbar. Sam starrte weiter auf das staubige Tor, und zwar auf die Stelle, durch die der Knecht verschwunden war. Er war in tiefes Nachsinnen über die Schwierigkeiten seiner dermaligen Unternehmungen versunken, als das Tor sich öffnete und ein Mädchen auf die Gasse herauskam, um einige Teppiche auszuklopfen.

Sam war so durchaus mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, daß er höchstwahrscheinlich weiter keine Notiz von der jungen Dame genommen, sondern etwa nur den Kopf aufgerichtet und bemerkt hätte, es sei ein recht hübsches Figürchen, wären nicht seine Kavaliergefühle gewaltig durch die Beobachtung ermuntert worden, daß sie keinen Gehilfen hatte und die Teppiche für ihre einzelne Kraft offenbar zu schwer schienen. Herr Weller war ein Gentleman von großer Galanterie in seiner Art, und kaum hatte er diesen Umstand bemerkt, als er sich schleunigst von dem breiten Steine erhob und auf die Dame zuschritt.

»Mein liebes Kind«, sagte Sam, indem er mit großer Ehrerbietung auf sie zuschlenderte, »Sie schaden offenbar Ihrer über alle Maßen schönen Figur, wenn Sie die Teppiche allein ausstauben. Darf ich Ihnen Beistand leisten?«

Die junge Dame, die sich züchtiglich gestellt hatte, als wüßte sie nichts von der Nähe eines Gentleman, drehte sich bei dieser Anrede um – ohne Zweifel (denn sie sagte es nachher selbst), um das Anerbieten von einem ganz Unbekannten abzulehnen, aber statt zu sprechen, fuhr sie zurück und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus. Sam war nicht viel weniger verblüfft, denn in dem Angesicht der wohlgestalteten Dame erblickte er die wohlbekannten Züge des hübschen Hausmädchens des Herrn Nupkins.

»Was sehe ich? meine liebe Marie«, sagte Sam.

»Ach nein, Herr Weller«, erwiderte Marie: »wie haben Sie mich erschreckt!«

Sam gab auf diese Klage keine Erwiderung mit Worten, auch können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Erwiderung er gab. Nur soviel wissen wir, daß Marie nach einer kurzen Pause sagte: »Sie Böser, Sie: lassen Sie mich doch gehen, Herr Weller«, und daß ihm sein Hut wenige Augenblicke zuvor vom Kopf gefallen war, aus welchen beiden Zeichen wir nicht abgeneigt wären zu schließen, daß einer oder mehrere Küsse vorgefallen.

»Aber wie sind Sie denn hierher gekommen?« fragte Marie, als das Gespräch, das diese Unterbrechung erlitten hatte, wieder seinen Anfang nahm.

»Bloß, um nach Ihnen zu sehen, mein Schätzchen«, erwiderte Herr Weller, der seiner Leidenschaft den Sieg über seine Wahrheitsliebe einräumte.

»Woher haben Sie denn gewußt, daß ich hier bin?« fragte Marie. »Wer kann es Ihnen gesagt haben, daß ich in Ipswich zu einer andern Herrschaft ging, die dann hierher gezogen ist? Wer kann es Ihnen gesagt haben, Herr Weller?«

»Ja freilich«, sagte Sam mit pfiffigem Blick, »das ist eben die Frage: das möchten Sie gern wissen. Wer meinen Sie wohl, daß es mir gesagt habe?«

»Herr Muzzle vielleicht?« fragte Marie.

»O nein«, erwiderte Sam mit feierlichem Kopfschütteln: »Muzzle nicht.«

»Dann muß es die Köchin gewesen sein«, meinte Marie.

»Versteht sich«, sagte Sam.

»So was habe ich mein Lebtag nie gehört«, rief Marie aus.

»Ich auch nicht«, sagte Sam. »Aber meine liebste Marie« – hier wurden Sams Manieren ungemein zärtlich – »meine liebste Marie, ich habe gegenwärtig ein Geschäft, das äußerst dringend ist. Es ist da einer von meines Prinzipals Freunden – Herr Winkle – Sie erinnern sich seiner.«

»Der mit dem grünen Rock?« fragte Marie. »O ja, ich kann mir ihn noch recht gut vorstellen.«

»Nun sehen Sie«, fuhr Sam fort: »der ist schauderhaft verliebt, so daß er nimmer weiß, wo ihm der Kopf steht, und es bei ihm ordentlich rappelt.«

»Nein, aber so was!« rief Marie.

»Das wäre schon recht«, sagte Sam, »aber was hilft es, wenn wir die junge Dame nicht auffinden können?«

Nun stattete Sam unter manchen Abschweifungen über Maries persönliche Schönheit und die unaussprechlichen Qualen, die er ausgestanden, seit er sie zum letztenmal gesehen, einen getreuen Bericht über Winkles Lage ab.

»Hat man je so was gehört?« sagte Marie.

»Nein, ganz gewiß nicht«, erwiderte Sam. »Das hat noch niemand gehört und wird auch niemand hören, und ich laufe da herum wie der ewige Jude – ein komischer Kerl, von dem Sie vielleicht gehört haben, mein Schatz, der immer mit der Zeit um die Wette läuft und niemals schläft – und suche nach dem Fräulein Arabella Allen.«

»Was für ein Fräulein?« fragte Marie mit großem Erstaunen.

»Fräulein Arabella Allen«, wiederholte Sam.

»Ach du meine Güte«, rief Marie nach dem Gartentore hindeutend, das der griesgrämige Stallknecht hinter sich verschlossen Hütte. »Das ist ihr Haus dort, und sie ist schon seit sechs Wochen hier. Die Stütze, die zugleich das Stubenmädchen von der gnädigen Frau ist, hat es mir an einem Morgen zur Waschküche heraus gesagt, als die Herrschaft noch in den Federn war.«

»Was Sie nicht sagen! Also gerade neben Ihnen?« sagte Sam.

»Freilich, freilich«, erwiderte Marie.

Herr Weller war durch diese Nachricht so überwältigt, daß er es für unumgänglich notwendig hielt, sich mit beiden Armen auf seine schöne Auskunfterteilerin zu stützen, und erst nach verschiedenen kleinen Liebespassagen hatte er sich wieder gehörig gesammelt, um zur Hauptsache zurückzukommen.

»Wahrhaftig«, sagte Sam endlich, »wenn das nicht übers Hahnenfechten geht, so geht nichts darüber, wie der Lordmayor sagte, als der erste Staatssekretär nach dem Schmause die Gesundheit seiner Frau ausbrachte. Also gerade neben Ihrem Haus? Ich habe eine Botschaft an sie auszurichten, mit der ich mich den ganzen Tag abgequält habe.«

»Sie können sie auch jetzt nicht ausrichten«, sagte Marie, »weil sie nur abends im Garten spazierengeht, und allemal bloß ganz kurze Zeit; ausgehen tut sie gar nicht ohne die alte Dame.«

Sam sann einige Augenblicke nach und verfiel auf folgenden Operationsplan: Er wollte um die Dämmerung, zu welcher Zeit Arabella einen Tag wie den andern ihre Spaziergange machte, zurückkommen. Marie solle ihn in den Garten ihrer Herrschaft einlassen, dann wolle er, geschützt durch die überhängenden Zweige eines großen Birnbaums, unbemerkt über die Mauer klettern, seinen Auftrag ausrichten und womöglich auf den folgenden Abend um dieselbe Stunde eine Zusammenkunft zwischen dem Fräulein und Herrn Winkle einleiten. Nachdem er diesen Plan mit großer Eile auseinandergesetzt, half er Marien bei ihrem lange hinausgeschobenen Geschäft des Teppichausstäubens.

Das Teppichausstäuben ist nicht halb so unschuldig wie es aussieht – das Stäuben selbst zwar mag etwas ganz Harmloses sein, aber das Zusammenlegen ist eine sehr verfängliche Sache. Solange da» Stäuben dauert und beide Parteien auf Teppichlänge voneinander getrennt sind, ist es eine so unschuldige Ergötzlichkeit, wie man nur eine denken kann; wenn aber das Zusammenlegen beginnt und die Entfernung der Stäubenden von der Hälfte der früheren Länge zu einem Viertel, sodann zu einem Achtel, endlich zu einem Sechzehntel, und wenn der Teppich lang genug ist, zu einem Zweiunddreißigstel herabsinkt, da wird es höchst gefährlich. Wir vermögen nicht genau zu bestimmen, wie viele Teppiche im vorliegenden Falle zusammengelegt wurden, aber das können wir zu behaupten wagen, daß Sam das hübsche Mädchen sovielmal küßte, wie Teppiche da waren.

Herr Weller labte sich in der nächsten Kneipe bis es dunkel zu werden anfing und kehrte sodann in das Gäßchen ohne den Ausgang zurück. Nachdem ihn Marie in den Garten gelassen und mehrfache Ermahnungen für seine Sicherheit vor Hals- und Beinbruch erteilt hatte, kletterte Sam auf den Birnbaum, um Arabella zu erwarten.

Er mußte so lange angstvoll ausharren, daß er schon glaubte, sie werde nicht mehr kommen, als er auf einmal leichte Fußtritte auf dem Kies vernahm und bald darauf Arabella erblickte, die nachdenklich den Garten herabkam. Als sie in der Nähe des Baumes war, begann Sam, um seine Anwesenheit recht artig und zart zu erkennen zu geben, allerhand diabolische Töne auszustoßen, wie man sie etwa bei einer Person natürlich finden könnte, die von früherer Kindheit an fortwährend an Halsentzündung, Heiserkeit und Stickhusten gelitten hat.

Das Fräulein warf einen hastigen Blick nach der Stelle hin, von wo die furchtbaren Töne kamen, und ihr anfänglicher Schreck wurde keineswegs dadurch vermindert, daß sie einen Mann zwischen den Zweigen erblickte. Sie wäre gewiß entflohen und hätte Lärm im Hause gemacht: allein glücklicherweise nahm ihr die Furcht alle Kraft, sich zu rühren, und sie sank auf einen zum guten Glück dastehenden Gartenstuhl nieder.

»Sie wird ohnmächtig«, monologisierte Sam in großer Verlegenheit. »Das ist doch zu dumm, daß diese jungen Damen immer in Ohnmacht fallen wollen, wenn sie es nicht sollten. He da, Frauenzimmerchen, Fräulein Knochensägerin! – Herr Winkle – werden Sie munter.«

War es der Zauber des Namens ›Winkle‹ oder die Kühle der Abendluft oder eine dunkle Erinnerung an Herrn Wellers Stimme, was Arabella wieder zum Leben brachte – wir wissen es nicht. Aber sie erhob ihren Kopf und fragte mit matter Stimme:

»Wer ist da, und was wollen Sie?«

»Pst«, sagte Sam, sich auf die Mauer schwingend und sich dort auf den möglichst kleinen Raum zusammenkauernd; »Ich bin’s bloß, mein Fräulein, bloß ich.«

»Herrn Pickwicks Diener?« sagte Arabella ernst.

»Zu Befehl, mein Fräulein«, erwiderte Sam. »Herr Winkle ist hier, und ganz in der ärgsten Verzweiflung, mein Fräulein.«

»Ah«, sagte Arabella, näher an die Mauer tretend.

»Ja freilich«, erwiderte Sam. »Wir meinten schon gestern nacht, wir müßten ihm die Zwangsjacke anlegen. Er rast den ganzen Tag und sagt, wenn er Sie nicht vor morgen nacht zu sehen bekomme, so ertränke er sich oder werde sonst etwa« Schreckliches tun.«

»Um Gottes willen!« rief Arabella, die Hände zusammenschlagend.

»Ja, das hat er gesagt, mein Fräulein«, setzte Sam kaltblütig hinzu. »Er ist ein Mann von Wort, und ich bin überzeugt, daß er es tut. Der Knochensäger mit der Brille hat ihm von Ihnen erzählt!«

»Mein Bruder?« fragte Arabella, durch diese Andeutung einigermaßen auf die Spur geleitet.

»Ich weiß nicht recht, wer Ihr Bruder ist«, erwiderte Sam. »Ist es der Schmutzigere von den beiden?«

»Ja, ja, Herr Weller«, erwiderte Arabella: »aber nur weiter: beeilen Sie sich.«

»Nun schön, mein Fräulein«, sagte Sam, »er hat von ihm alles erfahren, und mein Prinzipal meinte, wenn er Sie nicht so bald wie möglich sehe, so würde der Knochensäger so viel Extrablei in den Kopf bekommen, daß die Entwicklung der Organe dadurch beschädigt werde, wenn man sie je nachher in den Spiritus lege.«

»Gott im Himmel, was kann ich denn tun, um diesen schrecklichen Streit zu verhindern?« rief Arabella.

»Die Vermutung einer früheren Neigung ist an der ganzen Geschichte schuld. Es wäre wirklich das beste, wenn Sie ihn sehen würden, mein Fräulein. «

»Aber wie und wo?« rief Arabella. »Ich darf das Haus nicht allein verlassen. Mein Bruder ist so unfreundlich wie unvernünftig. Ich weiß, wie auffallend diese Sprache Ihnen gegenüber erscheinen muß, Herr Weller, aber ich bin sehr, sehr unglücklich –« und hier fing die arme Arabella so bitterlich zu weinen an, das es Sam ganz mitleidig ums Herz wurde.

»Es mag sehr auffallend scheinen, daß Sie so mit mir sprechen, mein Fräulein«, sagte Sam mit großem Feuer; »aber ich kann Ihnen nur sagen, daß ich nicht bloß bereit, sondern auch fest entschlossen bin, alles zu tun, was die Sache zu einem guten Ende zu führen vermag. Und wenn man einen von den Knochensägern zum Fenster hinauswerfen muß, so bin ich der Mann dazu.«

Bei diesen Worten krempte Sam, um seine Bereitwilligkeit zur Erfüllung des Versprochenen an den Tag zu legen, mit augenscheinlicher Gefahr, von der Mauer herabzufallen, seine Ärmel zurück.

So schmeichelhaft diese Beweise von gutem Willen waren, so weigerte sich doch Arabella zu Sams größter Verwunderung entschieden, davon Gebrauch zu machen. Längere Zeit sträubte sie sich mit aller Macht gegen die von Sam so pathetisch verlangte Zusammenkunft mit Herrn Winkle. Endlich aber, als die Unterhaltung durch die unwillkommene Ankunft einer dritten Person unterbrochen zu werden drohte, gab sie ihm unter mannigfachen Versicherungen ihrer Dankbarkeit eiligst zu verstehen, es sei doch möglich, daß sie am nächsten Abend um eine Stunde später in den Garten komme. Sam verstand das ausgezeichnet. Arabella trippelte, nachdem sie ihn mit einem ihrer süßesten Lächeln beglückt, anmutig davon und ließ Herrn Weller mit seiner ungemeinen Bewunderung ihrer körperlichen und geistigen Vorzüge allein.

Nachdem Herr Weller sicher von der Mauer herabgestiegen war und nicht vergessen hatte, seinen eigenen Angelegenheiten in demselben Departement einige Augenblicke zu widmen, kehrte er so schnell wie möglich in den Busch zurück, wo seine lange Abwesenheit großes Kopfzerbrechen und viel Unruhe erregt hatte.

»Wir müssen bedächtig zu Werke gehen«, sagte Herr Pickwick, nachdem er Sams Bericht mit Aufmerksamkeit angehört; »nicht um unserer selbst, sondern um der jungen Dame willen. Wir müssen sehr vorsichtig sein.«

» Wir?« sagte Herr Winkle mit scharfer Betonung. ^

Herrn Pickwicks Gesicht verdüsterte sich vor Unwillen über den Ton dieser Bemerkung, nahm jedoch bald wieder seinen eigentümlich wohlwollenden Ausdruck an, als er erwiderte:

»Ja, Sir, wir – denn ich werde Sie begleiten.«

»Sie?« sagte Herr Winkle.

»Allerdings, ich«, entgegnete Herr Pickwick mit Milde. »Als die Dame Ihnen diese Zusammenkunft bewilligte, hat sie einen vielleicht natürlichen, aber immerhin sehr unklugen Schritt getan. Wenn ich dabei bin, ein beiderseitiger Freund, der alt genug ist, um der Vater von beiden sein zu können, dann kann sich die Stimme der Verleumdung nachmals nicht gegen sie erheben.«

Herrn Pickwicks Augen funkelten von gerechtem Entzücken über seine Vorsicht, als er so sprach. Herr Winkle war durch diesen Beweis zartsinniger Verehrung für die junge Schützlingin seines Freundes tief gerührt und ergriff seine Hand mit einem Gefühl, das an Ehrfurcht grenzte.

»Sie müssen mitgehen«, sagte er.

»Allerdings gehe ich mit«, erwiderte Pickwick. »Sam, halte meinen Überrock und Schal in Bereitschaft und bestelle auf morgen abend, etwas früher als unbedingt notwendig wäre, einen Wagen, damit wir zu rechter Zeit an Ort und Stelle gelangen.«

Herr Weller salutierte, die Hand an den Hut legend, um seinen Gehorsam zu versichern und entfernte sich, um die nötigen Vorbereitungen für die Expedition zu treffen.

Der Wagen fuhr zur bestimmten Stunde vor, und Herr Weller nahm, nachdem er Herrn Pickwick und Herrn Winkle pflichtgemäß hineingeholfen, seinen Sitz auf dem Bock neben dem Kutscher. Sie stiegen verabredetermaßen etwa eine Viertelmeile vom Ort des Stelldicheins ab, befahlen dem Kutscher, ihre Rückkehr zu erwarten, und machten den übrigen Weg zu Fuß.

Bis dahin war alles gediehen, als Herr Pickwick lächelnd und offenbar sehr selbstzufrieden aus einer seiner Rocktaschen eine Blendlaterne hervorzog, womit er sich ausdrücklich für diesen Fall versehen hatte, und deren große mechanische Schönheit er im Weitergehen zur nicht geringen Verwunderung der wenigen Leute, die ihnen begegneten, Herrn Winkle erklärte.

»Bei meiner letzten nächtlichen Gartenexpedition wäre mir ein solches Ding sehr zustatten gekommen, nicht wahr, Sam?« fragte Herr Pickwick, indem er mit vergnügtem Lächeln nach seinem Diener umsah, der hinter ihm hertrollte.

»Sehr hübsche Dinger, Sir, wenn man sie recht gebraucht«, erwiderte Herr Weller: »aber wenn man nicht gesehen sein will, so glaube ich, daß sie nützlicher sind, wenn das Licht ausgelöscht ist, als wenn es brennt.«

Herrn Pickwick schien Sams Bemerkung einzuleuchten, denn er steckte seine Laterne wieder in die Tasche, und nun gingen sie schweigend weiter.

»Da hinab«, sagte Sam: »lassen Sie mich den Weg zeigen. Hier ist die Gasse, Sir.«

Sie gingen die Gasse hinab und es war bereits ziemlich dunkel. Herr Pickwick nahm, als sie dahintappten, ein- oder zweimal die Laterne heraus, die einen sehr hellen Lichtkreis, jedoch bloß von einem Fuß Durchmesser, auf den Weg warf. Es war recht artig anzusehen, schien aber die Wirkung zu haben, die umgebenden Gegenstände noch dunkler zu machen.

Endlich kamen sie an den großen Stein, und hier empfahl Sam seinem Gebieter und Herrn Winkle, sich zu setzen, während er das Gelände auskundschaften und sich vergewissern wollte, ob Marie noch warte.

Nach einer Abwesenheit von fünf oder zehn Minuten kam Sam mit der Nachricht zurück, das Tor sei offen und alles ruhig. Herr Pickwick und Herr Winkle folgten ihm verstohlenen Tritts und befanden sich bald im Garten. Hier sagten alle drei gar manchesmal »Pst«, und keiner schien eine genaue Vorstellung von dem zu haben, was zunächst geschehen sollte.

»Ist Fräulein Allen schon im Garten, Marie?« fragte Herr Winkle sehr aufgeregt.

»Ich weiß es nicht, Sir«, erwiderte das hübsche Mädchen. »Das beste wird sein, Herr Weller hilft Ihnen auf den Baum hinauf und Herr Pickwick wird vielleicht die Güte haben, zu sehen, ob niemand die Gasse heraufkommt. Ich selbst will inzwischen am andern Ende des Gartens Schildwache stehen. Barmherziger Himmel, was ist das?«

»Die verdammte Laterne wird uns alle ins Unglück stürzen«, sagte Sam ärgerlich. »Nehmen Sie sich doch in acht, Sir: Sie werfen ja einen ganz hellen Lichtschein in das Fenster vom hintern Zimmer da.«

»Weiß Gott«, sagte Herr Pickwick, sich schnell auf die Seite wendend, »das habe ich nicht gewollt.«

»Jetzt ist’s im nächsten Hause, Sir«, eiferte Sam.

»Verdammt noch mal!« rief Herr Pickwick, sich abermals umwendend.

»Jetzt ist’s im Stalle, und die Leute werden meinen, es brenne darin«, sagte Sam; »machen Sie doch zu, Sir, können Sie nicht?«

»Das ist doch die sonderbarste Laterne, die ich je in meinem Leben gesehen habe«, rief Herr Pickwick, ganz verblüfft über die Wirkungen, die er so unabsichtlich hervorbrachte. »Ein so starker Reflektor ist mir noch nicht vorgekommen.«

»Er wird wohl zu stark für uns werden, wenn Sie ihn so fortleuchten lassen, Sir«, antwortete Sam, als Herr Pickwick nach mehreren vergeblichen Versuchen den Schieber endlich schloß. »Da kommt die junge Dame. Jetzt, Herr Winkle, schnell hinauf.«

»Halt, halt!« sagte Herr Pickwick, »ich muß zuerst mit ihr sprechen. Helfen Sie mir hinauf, Sam.«

»Nur sachte, Sir«, sagte Sam, seinen Kopf an die Mauer lehnend und aus seinem Nucken eine Plattform machend. »Treten Sie zuerst auf diesen Blumentopf, Sir. Jetzt schnell hinauf.«

»Ich fürchte, ich tue dir weh, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Sorgen Sie sich nicht um mich, Sir«, erwiderte Sam. »Geben Sie ihm die Hand, Herr Winkle. Nur frisch zu, Sir: so ist es recht.«

Während Sam so sprach, gelang es Herrn Pickwick durch Anstrengungen, die bei einem Herrn in seinen Jahren und seinem

Gewicht fast übernatürlich zu nennen waren, Sams Rücken zu erklimmen: Sam richtete sich allmählich in die Höhe und Herr Pickwick hielt sich am Rande der Mauer fest, während Herr Winkle seine Beine umfaßte, so daß Herrn Pickwicks Brille gerade noch die Mauer überragte.

»Mein Liebe«, sagte Herr Pickwick, als er über die Mauer schaute und auf der andern Seite Arabella erblickte: »erschrecken Sie nicht, meine Liebe. – Ich bin’s nur.«

»Ich bitte, gehen Sie doch, Herr Pickwick«, erwiderte Arabella. »Sagen Sie ihnen allen, daß sie fortgehen, denn ich bin in der tödlichsten Angst. Lieber, lieber Herr Pickwick, bleiben Sie nicht länger da. Sie werden ganz gewiß herabfallen und nicht mehr aufstehen können.«

»Seien Sie ohne Sorgen, liebe« Kind«, versetzte Herr Pickwick beschwichtigend. »Ich versichere Sie, es ist nicht die geringste Gefahr vorhanden. Stehe fest, Sam«, setzte er hinzu, indem er unter sich blickte.

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte Herr Weller. »Bleiben Sie nur nicht länger, als es durchaus notwendig ist, Sir: Sie sind ein bißchen schwer.«

»Nur noch einen Augenblick, Sam«, erwiderte Herr Pickwick.

»Ich wünschte Ihnen nur zu sagen, meine Liebe, daß ich meinem jungen Freund nicht gestattet haben würde, Sie auf diesem heimlichen Wege zu besuchen, wenn Ihre Verhältnisse ihm einen andern Ausweg übriggelassen hätten. Damit Ihnen nun die Ungebührlichkeit dieses Schrittes keine Unruhe verursache, mein liebes Kind, mag es Ihnen zur Befriedigung dienen, zu wissen, daß ich in der Nähe bin; mehr habe ich nicht zu sagen, meine Liebe.«

»Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden für Ihre rücksichtsvolle Güte, Herr Pickwick«, antwortete Arabella, mit ihrem Tuche die Tränen trocknend.

Sie hätte wahrscheinlich noch mehr gesagt, wenn nicht Herrn Pickwicks Kopf infolge eines falschen Trittes auf Sams Schulter, der ihn schnell auf die Erde brachte, plötzlich verschwunden wäre. Er stand jedoch im Augenblick wieder auf, ermahnte Herrn Winkle, sich zu beeilen und die Zusammenkunft nicht zu versäumen, und rannte sofort mit dem Mut und Feuer eines Jünglings auf die Gasse, um Schildwache zu stehen. Herr Winkle, den die gute Gelegenheit begeisterte, war im Nu auf der Mauer und hielt nur inne, um zu Sam zu sagen, er solle für seinen Herrn Sorge tragen.

»Das werde ich schon tun, Sir«, erwiderte Sam. »Überlassen Sie es nur mir.«

»Wo ist er? Was macht er, Sam?« fragte Herr Winkle.

»Gott segne seine alten Gamaschen«, erwiderte Sam, nach der Gartentür hinblickend. »Dort in der Gasse steht er mit seiner Blendlaterne Schildwache, wie ein liebenswürdiger Guy Fawkes10. Hab‘ meiner Lebtage nichts Schöneres gesehen. Der Teufel soll mich holen, wenn sein Herz nicht wenigstens fünfundzwanzig Jahre nach seinem Leibe auf die Welt gekommen ist.«

Herr Winkle nahm sich nicht die Zeit, die Lobrede auf seinen Freund anzuhören. Er war schnell die Mauer hinabgesprungen, hatte sich zu Arabellas Füßen geworfen und setzte ihr die Aufrichtigkeit seiner Leidenschaft mit einer Beredsamkeit auseinander, die Herrn Pickwicks selbst würdig gewesen wäre.

Während das alles im Freien vor sich ging, saß ein ältlicher Herr von wissenschaftlichem Rufe, der zwei oder drei Häuser vom Garten entfernt wohnte, in seinem Studierzimmer und schrieb eine philosophische Abhandlung, wobei er von Zeit zu Zeit aus einer achtunggebietenden Flasche, die danebenstand, seine Lippen und seine Arbeit mit einem Glas Bordeaux benetzte. Während seiner geistigen Geburtswehen blickte der gelehrte Herr bald auf den Teppich, bald zur Decke empor, bald an die Wand, und wenn weder Teppich, noch Decke, noch Wand den erforderlichen Grad von Begeisterung zu liefern vermochten, so sah er zum Fenster hinaus.

In einer dieser Pausen starrte das erfinderische Genie abstrakt in die dichte Finsternis hinaus, als er zu seiner höchsten Überraschung ein äußerst glänzendes Licht in geringer Entfernung über die Erde hin durch die Luft gleiten und beinahe augenblicklich wieder verschwinden sah. Nach kurzer Zeit wiederholte sich das Phänomen, nicht bloß ein- oder zweimal, sondern mehrere Male. Endlich legte der gelehrte Herr seine Feder nieder und begann darüber nachzudenken, welchen natürlichen Ursachen diese Erscheinungen wohl zuzuschreiben seien.

Meteore waren es nicht; sie waren zu niedrig. Johanniswürmer konnten es auch nicht sein; sie waren zu hoch. Es waren keine Irrlichter, es waren keine Feuerfliegen, es war kein Feuerwerk. Was konnte es wohl sein? Irgendein außerordentliches und wunderbares Naturphänomen, das noch kein Philosoph vor ihm gesehen, eine Erscheinung, deren Entdeckung ihm allein vorbehalten war, und die seinen Namen unsterblich machen mußte, wenn er sie zum Nutzen und Frommen der Nachwelt aufzeichnete. Voll von dieser Idee ergriff der gelehrte Herr seine Feder wieder und brachte verschiedene Bemerkungen über diese unvergleichbaren Erscheinungen mit Angabe des Tages, der Stunde, der Minute und Sekunde, in der sie sichtbar gewesen, zu Papier – Stoff genug, um ein umfangreiches, von großem Forschungsgeist und tiefer Gelehrsamkeit zeugendes Werk zu schreiben, zum Erstaunen aller atmosphärischen Narren in sämtlichen Teilen der zivilisierten Erdkugel.

Er warf sich in seinen behaglichen Sessel zurück, überwältigt von Betrachtungen über seine künftige Größe. Das geheimnisvolle Licht zeigte sich abermals, und zwar glänzender als zuvor; allem Anschein nach tanzte es die Gasse auf und ab, kreuzte herüber und hinüber und bewegte sich in so exzentrischen Bahnen, wie die Kometen selbst.

Der gelehrte Herr war Hagestolz. Er hatte keine Frau, die er hereinrufen konnte, damit sie sich wundere, und läutete daher seinem Diener.

»Pruffle«, sagte er, »es ist heute abend etwas ganz Außerordentliches in der Luft. Siehst du es dort?« fügte er hinzu, zum Fenster hinausdeutend, als das Licht wieder sichtbar wurde.

»Ja, Sir.«

»Was denkst du davon, Pruffle?«

»Was ich davon denke?«

»Nun ja. Du bist auf dem Lande aufgewachsen. Welcher Ursache würdest du diese Lichter zuschreiben?«

Der gelehrte Herr setzte lächelnd voraus, Pruffle werde antworten, er wisse die Ursache dieser Lichter schlechterdings nicht anzugeben. Pruffle sann nach.

»Ich denke, es sind Diebe«, sagte er endlich.

»Du bist ein Dummkopf und kannst dich entfernen«, schrie ihn der gelehrte Herr an.

»Danke Ihnen, Sir«, erwiderte Pruffle und ging.

Allein dem gelehrten Herrn ließ der Gedanke keine Ruhe, die scharfsinnige Abhandlung, die er bereits projektiert, möchte für die Welt verlorengehen, was unvermeidlich der Fall sein mußte, wenn die Ansicht des scharfsinnigen Herrn Pruffle nicht in der Geburt erstickt wurde. Er setzte daher den Hut auf und ging schnell in den Garten hinab, entschlossen, der Sache bis auf den tiefsten Grund nachzuspüren.

Kurz bevor der gelehrte Herr kam, war Herr Pickwick so schnell wie möglich die Gasse herabgelaufen und hatte blinden Lärm geschlagen, es komme jemand des Weges, wobei er zufällig die Laterne vor sich hinhielt, um nicht in den Graben zu fallen. Herr Winkle kletterte sogleich wieder über die Mauer, Arabella eilte ins Haus, das Gartentor wurde geschlossen und die Abenteurer eilten auf schnellstem Wege die Gasse hinab, als sie auf einmal von dem gelehrten Herrn erschreckt wurden, der sein Gartentor aufschloß.

»Halt!« flüsterte Sam, der natürlich voranging, »machen Sie jetzt nur auf eine Sekunde Licht, Sir.«

Herr Pickwick tat es, und Sam, der einen Mann sehr vorsichtig, bloß ein paar Schritte von ihm entfernt, aus dem Gartentor herausblicken sah, versetzte ihm mit der geballten Faust einen tüchtigen Schlag auf den Kopf, so daß dieser mit einem hohlen Schall gegen das Tor flog. Nachdem er mit großer Schnelligkeit und Gewandtheit diese Tat ausgeführt, nahm er Herrn Pickwick auf den Rücken und folgte Herrn Winkle die Gasse hinab mit einer bei seiner Bürde wahrhaft erstaunlichen Geschwindigkeit.

»Haben Sie sich jetzt wieder erholt, Sir?« fragte Sam, als er das Ende erreicht hatte.

»Vollkommen«, erwiderte Herr Pickwick.

»Nun, so kommen Sie«, fuhr Sam fort, indem er seinen Herrn wieder auf die Füße stellte. »Gehen Sie zwischen uns beiden, Sir. Wir haben keine halbe Meile mehr zu laufen. Stellen Sie sich vor, es gehe zum kühlen Trunke, Sir. Nur munter vorwärts.«

So ermutigt machte Herr Pickwick den möglichst besten Gebrauch von seinen Beinen, und man kann zuversichtlich behaupten, daß nicht leicht ein paar schwarze Gamaschen schneller über den Boden hüpften, als die des Herrn Pickwick bei dieser denkwürdigen Gelegenheit.

Der Wagen wartete, die Pferde waren frisch, die Straßen gut und der Kutscher voll guten Willens. Die ganze Gesellschaft langte sicher im Busche an, ehe Herr Pickwick wieder zu Atem kommen konnte.

»Schnell hinein, Sir«, sagte Sam, als er seinem Herrn heraushalf. »Nach dieser Motion dürfen Sie keine Sekunde auf der Straße bleiben. Bitte um Verzeihung, Sir«, fuhr er fort, seinen Hut anfassend, als Herr Winkle ausstieg. »Ich hoffe, es war keine andere Liebesneigung vorhanden?«

Herr Winkle nahm seinen devoten Freund bei der Hand und flüsterte ihm ins Ohr: »Es ist alles in Ordnung, Sir, ganz in Ordnung«, worauf Herr Weller zum Zeichen des Verständnisses dreimal tüchtig an seine Nase schlug. Sodann lächelte er, blinzelte und ging mit dem Ausdruck der lebhaftesten Freude im Gesicht die Treppen hinan.

Was den gelehrten Herrn betrifft, so bewies er in einer meisterhaften Abhandlung, diese wundervollen Lichter seien Wirkungen der Elektrizität, und erklärte dies deutlich durch die umständliche Erzählung, wie ihm, als er den Kopf zur Tür hinausgesteckt, ein blitzendes Leuchten vor den Augen getanzt und er einen Schlag erhalten habe, der ihn eine volle Viertelstunde seiner Sinne beraubt. Dieses Schriftchen ergötzte sämtliche gelehrte Gesellschaften über die Maßen und verschaffte dem Manne später ein allgemeines Ansehen als Leuchte und Zierde der Wissenschaft.

  1. Guy Fawkes, Hauptteilnehmer an der englischen Pulververschwörung 1605. Am 5. November wird noch in England der Guy-Fawkes-Day gefeiert, wobei eine Fawkes darstellende Strohpuppe verbrannt wird.

Einundvierzigstes Kapitel.


Einundvierzigstes Kapitel.

Das Herrn Pickwick in eine neue und hoffentlich nicht uninteressante Szene im großen Drama des Lebens führt.

Der Rest der Zeit, die Herr Pickwick für die Dauer seines Aufenthaltes in Bath bestimmt hatte, ging ohne einen Vorfall von Belang vollends dahin. Der Trinitystermin begann. Nach Verlauf seiner ersten Woche kehrten Herr Pickwick und seine Freunde nach London zurück, und ersterer Herr begab sich, natürlicherweise von Sam begleitet, geradenwegs in sein altes Quartier im Georg und Geier.

Am dritten Morgen nach ihrer Ankunft, als sämtliche Glocken in der City, jede einzelne neun und alle zusammen neunhundert schlugen und Sam eben im Hofe frische Luft schöpfte, rasselte ein sonderbares, frisch angestrichenes Fuhrwerk heran, aus dem mit großer Behendigkeit, die Zügel einem neben ihm sitzenden vierschrötigen Mann zuwerfend, ein sonderbarer Herr heraussprang, der ganz für das Fuhrwerk gemacht schien und das Fuhrwerk für ihn.

Dies Fuhrwerk war nämlich nicht ganz Kutsche und ebensowenig ein Stanhope11. Es war nicht, was man in der Regel einen Karren nennt, es war keine Kalesche, war kein guillotiniertes Kabriolett und doch hatte es etwas vom Charakter all‘ dieser Vehikel. Es war hellgelb angestrichen, die Deichsel und die Räder schwarz betupft, und der Kutscher saß in dem hohen Jagdstil auf Polstern, die etwa zwei Fuß höher waren als die Wagenleiter. Das Pferd war ein ziemlich munterer Brauner, hatte aber etwas Schmuckes und Bissiges an sich, was vortrefflich sowohl zu dem Fuhrwerk, wie zu dem Herrn paßte.

Der Herr selbst war etwa ein Vierziger und trug schwarze Haare nebst einem sorgfältig gekämmten Schnurrbart. Sein ganzer Anzug war auffallend glänzend und mit einer Menge Juwelen überladen, alle wenigstens dreimal so groß, wie man gewöhnlich zu tragen pflegt: das Ganze krönte ein grober Überrock. In eine Tasche dieses Überrocks steckte er beim Absteigen seine linke Hand, während er aus der andern mit seiner rechten ein sehr helles, funkelndes, seidenes Taschentuch zog, womit er ein paar Staubflecken von seinen Stiefeln abwischte, es sodann in der Hand zusammendrückte und endlich in den Hof hineinging.

Es war Sams Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß, als dieser Herr abstieg, ein schäbig aussehender Mann in einem braunen Überrock mit etlichen fehlenden Knöpfen, der vorher dem Wirtshause gegenüber auf- und abgewandelt war, auf einmal herüberkam und sich zu dem Ankömmling gesellte. Da ihm der Zweck eines Besuches von diesem Gentleman mehr als verdächtig erschien, ging ihm Sam in den Georg und Geier voran, wandte sich dann rasch um und pflanzte sich mitten auf der Haustürschwelle auf.

»Nun, Kamerad?« sagte der Mann in dem groben Rock mit herrischem Ton, indem er ihn zugleich wegzupuffen versuchte.

»Nun, Sir, was gibt’s?« entgegnete Sam, den Puff mit reichlichen Zinsen heimgebend.

»Komm Er mir nicht so, Mensch; Er wird nicht viel ausrichten«, sagte der Eigentümer des groben Rockes, seine Stimme erhebend und sehr weiß werdend – »hierher Smouch.«

»Nun, wo fehlt es denn?« murrte der Herr mit dem braunen Rock, der während dieses kurzen Zwiegesprächs sich allmählich durch den Hof hierhergeschlichen hatte.

»Bloß eine Unverschämtheit von diesem jungen Burschen«, sagte der Prinzipal, Sam einen neuen Stoß versetzend.

»Laß Er solche Späße bleiben«, murrte Smouch, indem er Sam ebenfalls einen recht derben Puff gab.

Dieser letzte Puff hatte die Wirkung, die der erfahrene Herr Smouch beabsichtigte, denn während Sam, um das Kompliment so schnell wie möglich heimzugeben, den Gentleman an den Türpfosten drückte, schlich der Prinzipal hinein und gelangte in die Gaststube, wohin ihm Sam unter allerhand bezeichnenden Bemerkungen gegen Herrn Smouch alsbald nachfolgte.

»Guten Morgen, liebes Kind«, sagte der Prinzipal mit kolonialer Ungezwungenheit und neusüdwälischer Artigkeit zu der jungen Dame in der Gaststube. »Wo ist Herrn Pickwicks Zimmer, meine Teuerste?«

»Zeigen Sie es ihm«, sagte das Mädchen zu einem Kellner, ohne den sonderbaren Gast eines weiteren Blickes zu würdigen.

Der Kellner ging die Treppe hinauf, der Mann mit dem groben Rock folgte und hinter ihm Sam, der unterwegs, zum unaussprechlichen Ergötzen des Gesindes und anderer Zuschauer, durch allerhand Gebärden seine überschwengliche Verachtung und einen herausfordernden Trotz an den Tag legte. Herr Smouch, der an einem trockenen Husten litt, blieb unten und wartete im Gang.

Herr Pickwick lag in tiefem Schlafe, als sein früher Gast, von Sam gefolgt, ins Zimmer trat. Das Geräusch, das sie machten, weckte ihn auf.

»Wasser zum Rasieren, Sam!« rief er hinter den Bettvorhängen.

»Rasieren Sie sich nur sogleich, Herr Pickwick«, sagte der Gast, den obersten Vorhang zurückschiebend. »Ich habe auf Verlangen der Bardell einen Exekutionsbefehl gegen Sie. – Da ist er, unterzeichnet vom Gericht. Hier meine Karte. Ich denke, Sie gehen mit mir in mein Haus.«

Und indem er Herrn Pickwick freundlich auf die Schulter klopfte, warf der Offiziant des Sheriffs – denn ein solcher war er – seine Karte auf die gesteppte Bettdecke und zog einen goldenen Zahnstocher aus seiner Westentasche.

»Namby ist mein Name«, sagte er, als Herr Pickwick seine Brille unter dem Kissen hervorzog und aufsetzte, um die Karte zu lesen. »Namby, Bell Alley in der Colemansstraße.«

Hier mischte sich Sam Weller, der seine Augen fortwährend auf Herrn Nambys glänzenden Castorhut geheftet hatte, ins Gespräch:

»Sie sind ein Quäker?« fragte er.

»Er wird es mit der Zeit schon erfahren, wer ich bin«, erwiderte der entrüstete Offiziant. »Ich will Ihn an einem schönen Vormittag schon Mores lehren, mein sauberer Bursche.«

»Danke schön«, sagte Sam: »ich will Ihnen denselben Gefallen erweisen. Nehmen Sie den Hut ab.«

Mit diesen Worten schlug er Herrn Namby so geschickt und kräftig den Hut vom Kopfe, daß jener beinahe noch obendrein seinen goldenen Zahnstocher verschluckt hätte.

»Sie sehen es, Herr Pickwick«, sagte der bestürzte Agent, nach Luft schnappend: »ich bin in der Ausübung meiner Amtspflicht von Ihrem Diener in Ihrem Zimmer angegriffen worden. Ich stehe in Gefahr und rufe Sie zum Zeugen auf.«

»Bezeugen Sie nichts, Sir«, unterbrach ihn Sam. »Machen Sie die Augen fest zu, Sir; ich will ihn zum Fenster hinauswerfen‘, nur schade, daß er nicht tief fallen kann.«

»Sam«, sagte Herr Pickwick in ärgerlichem Tone, als sein Diener allerhand feindselige Demonstrationen machte, »wenn du noch ein Wort sprichst oder diesem Herrn die geringste Beleidigung antust, so entlasse ich dich auf der Stelle.«

»Aber, Sir –« meinte Sam.

»Schweig«, versetzte Herr Pickwick, »und heb den Hut wieder auf.«

Dieses aber verweigerte Sam allerdings, und nachdem er von seinem Herrn einen strengen Verweis erhalten hatte, ließ sich der Agent, der Eile hatte, herab, ihn selbst aufzuheben, wobei er eine Masse Drohungen gegen Sam ausstieß, die dieser Gentleman mit vollkommener Gemütsruhe entgegennahm und bloß bemerkte, wenn Herr Namby die Güte haben wolle, seinen Hut wieder aufzusetzen, so werde er ihn bis ans letzte Ende der nächsten Woche herunterschlagen. Herr Namby, der von einem solchen Prozeß nicht viel Ersprießliches erwarten mochte, wollte Herrn Weller nicht in Versuchung führen und rief bald darauf Smouch herein. Diesem sagte er, der Fang sei gemacht, er solle warten, bis der Verhaftete sich vollends angekleidet hätte und stolzierte dann hinaus. Smouch forderte Herrn Pickwick in griesgrämigem Tone auf, sich möglichst zu beeilen, denn es gebe viel zu tun, stellte sofort einen Stuhl vor die Tür und setzte sich darauf, bis der alte Herr mit seiner Toilette fertig war. Nun wurde Sam nach einer Mietskutsche fortgeschickt, und das Triumvirat fuhr nach der Colemansstraße. Glücklicherweise war die Entfernung kurz, denn Herr Smouch, der eben kein bezauberndes Talent für Unterhaltung besaß, war bei dem physischen Gebrechen, dessen wir oben erwähnt, in einem so beschränkten Raum ein entschieden unangenehmer Gesellschafter.

Der Wagen fuhr in die sehr enge und düstere Straße und hielt vor einem Haus mit eisernen Gittern an sämtlichen Fenstern an; die Türpfosten schmückte die Aufschrift: »Namby, Agent der Sheriffs von London.« Das innere Tor wurde von einem Gentleman geöffnet, den man für einen verwahrlosten Zwillingsbruder des Herrn Smouch hätte halten können, und der für sein Amt mit einem gewaltigen Schlüssel versehen war. Dieser wies Herrn Pickwick in das Gastzimmer.

Das Gastzimmer war eine einfache Vorderstube, deren Haupteigenschaften in frischem Sand und veraltetem Tabaksrauch bestanden. Herr Pickwick verbeugte sich gegen die drei Personen, die drinnen saßen, befahl Sam, Herrn Perker zu holen, zog sich in einen dunklen Winkel zurück und betrachtete von da aus mit einiger Neugierde seine augenblicklichen Kameraden.

Einer davon war ein Bursche von neunzehn oder zwanzig Jahren, der, obgleich es erst zehn Uhr war, bereits Wacholderbranntwein mit Wasser trank und eine Zigarre dazu rauchte – Vergnügungen, denen er, nach seinem roten Gesicht zu schließen, die letzten zwei Jahre seines Lebens so ziemlich ganz gewidmet haben mußte. Ihm gegenüber saß, mit der Zehe seines rechten Fußes im Feuer herumstöbernd, ein plumper Bursche von etwa dreißig Jahren, mit bleichem Gesicht und rauher Stimme. Er besaß offenbar diejenige Weltkenntnis und die lockende Freiheit im Benehmen, die man sich in Kneipen und an gemeinen Billarden erwerben kann. Der dritte Insasse des Zimmers war ein Mann von mittleren Jahren: er hatte einen sehr alten, schwarzen Rock an, sah blaß und verstört aus und lief unaufhörlich auf und ab; nur von Zeit zu Zeit schaute er mit großer Ängstlichkeit zum Fenster hinaus, als erwartete er jemand, und begann dann sogleich seinen Spaziergang wieder.

»Sie können heute morgen mein Rasiermesser haben, Herr Ayresleigh«, sagte der Mann, der im Feuer stöberte, indem er seinem Freunde, dem jungen Burschen, zuwinkte.

»Danke, ich werde es nicht brauchen. Ich hoffe, etwa in einer Stunde frei zu kommen«, erwiderte der andere in hastigem Tone, ging sofort aus neue ans Fenster, und als er abermals getäuscht sich abwenden mußte, seufzte er tief und verließ das Zimmer, worüber die zwei andern in lautes Gelächter ausbrachen.

»Einen solchen Spaß habe ich noch nie erlebt«, sagte der Gentleman, der das Rasiermesser angeboten hatte und Price zu heißen schien. Er bekräftigte diese Versicherung mit einem Fluche und lachte dann aufs neue, worauf natürlicherweise der junge Bursche, der seinen Kameraden für einen der witzigsten Köpfe von der Welt hielt, auch lachte.

»Sie werden es kaum glauben«, sagte Herr Price, sich gegen Herrn Pickwick wendend, »daß dieser Mensch gestern schon eine Woche hier war und sich noch nie rasiert hat, weil er aufs bestimmteste wissen will, daß er in einer halben Stunde freikomme und deshalb glaubt, er könne es aufschieben, bis er wieder nach Hause komme.«

»Der arme Mann!« erwiderte Pickwick. »Hat er denn gar keine Aussicht, aus seiner schwierigen Lage loszukommen?«

»Nein, keine Spur«, erwiderte Price. »Ich wollte hundert gegen eins wetten, daß er binnen zehn Jahren auf keine Straße mehr kommt.«

Dabei schnalzte Herr Price verächtlich mit dem Finger und läutete.

»Geben Sie mir einen Bogen Papier, Crookey«, sagte er zu dem Aufwärter, der seiner Kleidung und ganzen Erscheinung nach ein Mittelding zwischen einem bankerotten Viehmäster und einem zahlungsunfähigen Pächter zu sein schien; »und ein Glas Branntwein mit Wasser. Verstehen Sie mich? Ich will meinem Vater schreiben und muß eine Stimulanz haben, sonst kann ich dem alten Knaben nicht eindringlich genug ins Gewissen reden.«

Es ist unnötig, hinzuzusetzen, daß der junge Bursche bei dieser scherzhaften Sprache vor lauter Lachen beinahe Krämpfe bekam.

»Bravo!« sagte Herr Price: »das ist ein Hauptspaß!«

»Ganz vortrefflich«, sagte der junge Gentleman.

»Sie haben eben Geist«, fuhr Price fort: »Sie kennen das Leben.«

»Das will ich meinen«, erwiderte der Bursche. Er hatte es durch die schmutzigen Scheiben einer Gaststube betrachtet.

Herr Pickwick, den die Unterhaltung sowie das ganze Benehmen der beiden Burschen nicht wenig anekelte, wollte eben fragen, ob man ihm kein Privatzimmer geben könne, als zwei oder drei Fremde von anständigem Aussehen eintraten, bei deren Anblick der Bursche seine Zigarre ins Feuer warf und Herrn Price zuflüsterte, sie seien gekommen, um seine Sachen in Ordnung zu bringen, worauf er sich mit ihnen an einen Tisch am andern Ende des Zimmers begab.

Es schien freilich, daß die Sachen nicht so leicht in Ordnung zu bringen waren, wie der junge Gentleman voraussetzte, denn es erfolgte eine sehr lange Unterhaltung, wovon Herr Pickwick unwillkürlich einige zornige Bemerkungen über liederlichen Lebenswandel und wiederholte Verzeihung mit anhörte. Endlich wurden von dem ältesten Herrn in der Gesellschaft sehr deutliche Anspielungen auf eine gewisse Whitecroßstraße12 gemacht, wobei der Jüngling, trotz seiner Munterkeit, trotz seines Witzes und seiner Lebenskenntnis obendrein, den Kopf auf den Tisch lehnte und jammervoll heulte.

Sehr zufrieden über das rasche Geducktwerden des jungen Renommisten läutete Herr Pickwick und wurde auf sein Verlangen in ein Privatzimmer geführt, das mit einem Teppich, einem Tische, mehreren Stühlen, einem Kredenztisch und Sofa versehen und mit einem Spiegel sowie mehreren alten Gemälden geschmückt war. Hier hatte er den Genuß, solange sein Frühstück bereitet wurde, unmittelbar über sich Frau Namby Klavier spielen zu hören, und als ersteres kam, erschien auch Herr Perker.

»Aha, mein lieber Herr«, sagte das kleine Männchen: »endlich in die Falle gegangen? Ich gräme mich indessen nicht sehr darüber, denn jetzt werden Sie doch endlich die Abgeschmacktheit Ihres Benehmens einsehen. Ich habe mir den Betrag der Prozeßkosten, sowie die Entschädigungsgelder notiert, und es wäre am gescheitesten, wir machten die Sache mit einem Male und ohne Zeitverlust ab. Namby wird wohl jetzt zurückgekommen sein. Was meinen Sie, mein lieber Herr, soll ich Ihnen eine Anweisung niederschreiben?«

So sprechend rieb sich das Männchen mit erzwungener Lustigkeit die Hände, konnte aber, als er Herrn Pickwick ins Gesicht schaute, nicht umhin, zu gleicher Zeit einen verzweifelten Blick auf Sam Weller zu werfen.

»Perker«, sagte Herr Pickwick, »ich muß bitten, daß Sie mich nichts mehr davon hören lassen. Ich sehe nicht ein, warum ich noch länger hierbleiben soll und will deshalb heute nach noch ins Gefängnis gehen.«

»In die Whitecroßstraße können Sie unmöglich, mein teurer Sir«, erwiderte Perker. »Da sind sechzig Betten in einer Abteilung und die Riegel sechzehn Stunden täglich vorgeschoben.«

»Dann möchte ich lieber in ein anderes Gefängnis, wenn es möglich ist«, sagte Herr Pickwick. »Wo nicht, so muß ich mir’s dort bequem machen, so gut es angeht.«

»Sie können ins Fleet gehen, mein lieber Herr, wenn Sie überhaupt entschlossen sind, wohin zu gehen«, meinte Perker.

»Das will ich tun«, sagte Herr Pickwick; gleich nach dem Frühstück.«

»So warten Sie doch noch ein wenig, lieber Herr; es ist nicht der geringste Grund vorhanden, so schrecklich an einen Ort zu eilen, von dem sich die meisten andern Menschen ebenso gewaltig wegsehnen«, sagte der gutmütige kleine Anwalt. »Wir müssen ein habeas corpus auswirken und bis vier Uhr nachmittags warten, denn eher treffen wir keinen Richter an.«

»Ganz gut«, sagte Herr Pickwick mit unveränderlicher Geduld: »dann können wir um zwei Uhr hier ein Beefsteak speisen. Sieh danach, Sam, und bestelle es pünktlich.«

Da Herr Pickwick trotz aller Vorstellungen und Beweisgründe Perkers fest blieb, so erschienen und verschwanden die Beefsteaks zur bestimmten Zeit. Darauf wurde er in eine andere Mietskutsche gesetzt und in die Kanzleistraße geführt, nachdem er etwa eine halbe Stunde auf Herrn Namby gewartet, der eine erlesene Gesellschaft beim Mittagsmahle hatte und unter keinen Umständen früher gestört werden durfte.

Im Vorzimmer von Sergeants Inn waren zwei Richter, einer von der Kings Bench und einer von Common Pleas. Auch schienen hier gewaltig viele Geschäfte abgemacht zu werden, wenn man aus der Menge Advokatenschreiber, die mit Aktenstößen herein- und hinauseilten, einen Schluß ziehen darf. Als sie an den niedrigen Bogengang kamen, der den Eingang in das Inn bildet, zankte sich Herr Perker einige Minuten lang mit dem Kutscher um den Fuhrlohn, Herr Pickwick aber stellte sich auf die Seite, um dem Gedränge der Hinein- und Herausströmenden auszuweichen und blickte mit einiger Neugier um sich.

Die Leute, die seine Aufmerksamkeit am meisten anzogen, waren drei oder vier Herren von schäbig-kavaliermäßigem Aussehen. Sie zogen vor manchem der vorbeigehenden Anwälte die Hüte, und schienen ein Geschäft zu haben, dessen Art Herr Pickwick nicht erraten konnte. Sie bildeten eine höchst sonderbare Gruppe. Der eine war schlank und ein bißchen lahm, er hatte einen schmierigen schwarzen Rock an und ein weißes Halstuch; ein anderer war untersetzt gedrungen und gekleidet wie der erste, nur daß er ein großes, schwarzrotes Halstuch trug; ein dritter war klein von Gestalt, hatte ein finniges Gesicht und sah aus wie ein Trunkenbold. Sie schlenderten, die Hände auf dem Rücken, mit neugierigen Gebärden auf und ab und flüsterten von Zeit zu Zeit einigen von den Herren, die mit den Papieren hereinstürzten, etwas ins Ohr. Herr Pickwick erinnerte sich, sie schon oft unter dem Torweg, wenn er gerade vorüberging, faulenzen gesehen zu haben, und war neugierig, zu welcher Art von Profession diese schmierigen Tagediebe wohl gehören mochten.

Eben wollte er Namby, der sich dicht bei ihm aufhielt und an einem großen goldenen Ring seines kleinen Fingers lutschte, fragen, als Perker zu ihm herstürmte und ihm mit der Bemerkung, man habe keine Zeit zu verlieren, den Weg in den Saal zeigte. Als Herr Pickwick folgte, trat der Lahme zu. ihm, zog höflich den Hut und hielt ihm eine beschriebene Karte hin, die Herr Pickwick, der die Gefühle de« Mannes nicht durch eine Weigerung zu verletzen wünschte, freundlich annahm und in seine Westentasche steckte.

»Nun«, sagte Perker, der sich, bevor er in die Amtsstube trat, umwandte, ob seine Kameraden auch hinter ihm seien. »Hier herein, mein lieber Herr. He da, was wollen Sie?«

Diese letzte Frage galt dem Lahmen, der sich ohne Herrn Pickwicks Wissen an ihn angeschlossen hatte. Statt der Antwort zog der Mann mit aller erdenklichen Höflichkeit seinen Hut ab und deutete auf Herrn Pickwick.

»Nein, nein«, sagte Perker lächelnd; »wir bedürfen Eurer ganz und gar nicht, guter Freund.«

»Bitte um Vergebung, Sir«, erwiderte der Lahme. »Der Herr hat meine Karte angenommen. Ich hoffe. Sie werden mich verwenden, Sir. Der Herr hat mir zugenickt. Ich berufe mich auf den Herrn selbst. Nicht wahr, Sie haben mir zugenickt, Sir?«

»Ach was, Unsinn. Sie haben niemandem zugenickt, Pickwick. Ein bloßes Mißverständnis«, sagte Perker.

»Der Herr hat mir seine Karte angeboten«, erwiderte Herr Pickwick, sie aus der Tasche hervorziehend. »Ich nahm sie an, wie der Herr zu wünschen schien – ich war in der Tat einigermaßen neugierig, sie gelegentlich näher zu betrachten – ich –«

Der kleine Advokat brach in ein lautes Lachen aus, gab dem Lahmen die Karte zurück, sagte ihm, es sei ein Mißverständnis, und flüsterte Herrn Pickwick, als der Mann sich grimmig abwandte, ins Ohr, es sei dies nur ein Bürge.

»Ein was?« rief Herr Pickwick.

»Ein Bürge«, versetzte Perker.

»Ein Bürge?«

»Ja, mein lieber Herr: es ist ein halbes Dutzend solcher Leute hier. Sie verbürgen sich für jede beliebige Summe und verlangen nur eine halbe Krone. Nicht wahr, ein sonderbares Geschäft?« fügte Perker hinzu, indem er sich mit einer Prise Tabak labte.

»Wie?« rief Herr Pickwick, ganz erschrocken über diese Entdeckung: »Verstehe ich recht? Erwerben diese Leute wirklich dadurch ihren Lebensunterhalt, daß sie hier herumliegen und vor den Richtern des Landes Meineide schwören? Für eine halbe Krone ein Verbrechen?!«

»Meineid müssen Sie e» nicht gerade nennen, lieber Herr«, erwiderte der kleine Gentleman; »dieser Ausdruck ist wahrhaftig viel zu hart. Es ist eine Rechtsfiktion, mein lieber Herr, weiter nichts.«

Dabei zuckte das Anwältchen die Achseln, lächelte, nahm eine zweite Prise und ging voraus in das Gerichtszimmer.

Dies war ein Gemach von besonders schmutzigem Aussehen, mit einer sehr niedrigen Decke und alten in Vierecke geteilten Wänden. Dabei war es so finster, daß man bei hellem Tag auf den Schreibtischen große Talglichter brannte. An einem Ende war eine Tür, die in das Privatzimmer des Richters führte, um das sich eine Menge von Anwälten und Schreibern drängte, die hereingerufen wurden, sobald die Reihe des Dienstes an ihnen war. So oft diese Tür sich öffnete, um eine Partei hinauszulassen, machte eine nächste Parte! gewaltsame Versuche, hineinzudringen, und außer den zahlreichen Zwiegesprächen zwischen den Gentlemen, die auf den Anblick des Richters harrten, erhoben sich unter der Mehrzahl derer, die ihn bereits gesehen, allerhand persönliche Zwistigkeiten, so daß man sich in einem so kleinen Zimmer kaum ein betäubenderes Getöse denken kann.

Indessen waren die Unterhaltungen dieser Herren nicht die einzigen Töne, die das Ohr zerrissen. In einer Loge hinter einer hölzernen Schranke am andern Ende des Zimmers stand ein Schreiber mit der Brille auf der Nase, der die Advokatenschreiber schwören ließ und die Protokolle darüber haufenweise von Zeit zu Zeit dem Richter zur Unterzeichnung in sein Privatzimmer schickte. Eine Menge Advokatenschreiber wollten beeidigt werden, und da es rein unmöglich war, diesen Akt mit allen zugleich vorzunehmen, so gab es an der Schranke des bebrillten Herrn ein Stoßen und Drangen, wie manchmal am Eingang des Theaters, wenn Ihre Gnädigste Majestät dasselbe mit Höchst Ihrer Gegenwart beehrt. Ein anderer Mann von der Feder übte seine Lunge von Zeit zu Zeit damit, daß er die Namen der Beeidigten laut ausrief, um ihnen vom Richter unterzeichnete Atteste zurückzustellen, was natürlich wieder zu mehrfachen Püffen und Stößen Veranlassung gab. Da das alles zu gleicher Zeit geschah, so herrschte ein Durcheinander und Getöse, für dessen Lieblichkeit wir nicht jedermann Sinn und Empfänglichkeit zutrauen möchten. Es war schließlich noch eine andere Sorte von Leuten da, solche, die auf das Aufgerufenwerden ihrer Klienten warteten, wobei der Anwalt der Gegenpartei die Wahl hatte, solange zu bleiben oder nicht, und solche, die von Zeit zu Zeit den Namen des Gegenadvokaten ausrufen mußten, um sich zu vergewissern, daß er nicht ohne ihr Wissen vor Gericht stand.

Zum Beispiel: dicht neben Herrn Pickwicks Sitz lehnte sich ein vierzehnjähriger Bursche mit einer Tenorstimme an die Wand und neben ihm stand ein Schreiber mit einem tiefen Baß.

Ein anderer Schreiber huschte mit einem Pack Papiere herein und stierte umher.

»Sniggle und Blink!« rief der Tenor.

»Porkin und Snob!« brummte der Baß.

»Stumpy und Deacon!« sagte der neue Ankömmling.

Niemand antwortete, und der nächste Mann, der kam, wurde von allen Dreien begrüßt, worauf dieser laut nach einem andern schrie; dann brüllte sonst eine Stimme wieder nach einem noch andern und so ging es fort.

Die ganze Zeit über war der Mann mit der Brille fortwährend beschäftigt, die Schreiber zu beeidigen. Er tat dies ohne alle Abwechslung in der Betonung und leierte dem einen wie den andern den üblichen Eid vor, der folgendermaßen lautete:

»Nehmen Sie das Buch in die rechte Hand dies ist Ihr Name und Handschrift Sie schwören daß der Inhalt dieses Ihres Zeugnisses wahr ist so helfe Ihnen Gott Sie müssen einen Schilling bezahlen herausgeben kann ich nicht.«

»Nun, Sam«, sagte Herr Pickwick, »ich dächte, das Habeas Corpus könnte jetzt fertig sein.«

»Ja«, sagte Sam, »und ich wollte, man brächte seinen Korpus einmal heraus. Es ist eine sehr unangenehme Sache um das lange Warten da. Ich hätte in dieser Zeit ein halbes Dutzend solcher Korpus fertig gemacht und damit aufgepackt.«

Für was für eine beschwerliche und unbrauchbare Maschine Sam Weller die Ausstellung eines Habeas corpus hielt, wird nicht ganz klar, denn in diesem Augenblick kam Perker und nahm Herrn Pickwick mit sich fort.

Nachdem die gewöhnlichen Förmlichkeiten durchgemacht waren, wurde bald darauf der Leib Samuel Pickwicks der Bewachung des Gerichtsdieners übergeben und sofort dem Vorsteher des Fleetgefängnisses überantwortet, um solange in Verwahrung gehalten zu werden, bis die Entschädigungssumme an Frau Bardell und die Prozeßkosten auf Heller und Pfennig bezahlt sein würden.

»Da soll ihnen die Zeit lang werden«, sagte Herr Pickwick lachend. »Sam, hole einen Mietwagen. Perker, mein werter Freund, auf Wiedersehen!«

»Ich will mit Ihnen gehen, um mich von Ihrer glücklichen Ankunft zu überzeugen«, erwiderte Perker.

»Ich danke Ihnen«, sagte Herr Pickwick: »ich möchte nicht gern einen andern Begleiter haben als Sam. Sobald ich aber eingerichtet bin, werde ich Ihnen schreiben und Sie dann sogleich erwarten. Inzwischen leben Sie wohl.«

Also sprach Herr Pickwick und stieg in Begleitung des Gerichtsdieners in den Wagen. Sam setzte sich auf den Bock und sie fuhren ab.

»Ein ganz außerordentlicher Mann das«, sagte Perker, indem er stehenblieb, um seine Handschuhe anzuziehen.

»Er hätte einen prächtigen Bankerottmacher gegeben, Sir«, bemerkte Herr Lowten, der in der Nähe stand. »Der würde die Kommissare schinden und ihnen Trotz bieten, wenn sie auch tausendmal vom Verhaften sprächen.«

Der Anwalt schien darüber, wie sein Schreiber berufsmäßig Herrn Pickwicks Charakter schätzte, nicht sehr erbaut: denn er ging fort, ohne ihn einer Antwort zu würdigen.

Die Mietkutsche rumpelte die Fleetstraße entlang, wie Mietkutschen zu tun pflegen. Der Kutscher sagte, die Pferde gehen besser, wenn sie etwas vor sich sehen (und sie müssen wirklich einen erstaunlichen Schritt gelaufen sein, wenn nichts vorhanden war), und hielt sich daher hinter einem Karren: blieb dieser stehen, so blieb die Kutsche auch stehen, und setzte sich der Karren wieder in Bewegung, so tat sie desgleichen. Herr Pickwick saß dem Gerichtsdiener gegenüber, der seinen Hut zwischen den Knien hielt, ein Liebchen pfiff und fortwährend zum Fenster hinaus schaute.

Die Zeit vollbringt indessen Wunder, und mit der mächtigen Hilfe dieser alten Dame legt sogar ein Mietwagen eine halbe Meile Wegs zurück. Sie hielten endlich an, und Herr Pickwick stieg vor dem Tore des Fleetgefängnisses aus.

Der Gerichtsdiener blieb ihm dicht auf der Ferse und führte ihn ins Gefängnis: daselbst angekommen, wandten sie sich links und gelangten durch eine offene Tür in eine Vorhalle, aus der ein gewichtiges Tor, das dem Eingangstor gerade gegenüberstand und von einem stämmigen Kerkermeister mit dem Schlüssel in der Hand bewacht wurde, ins Innere des Gefängnisses führte.

Hier hielten sie an, bis der Gerichtsdiener seine Papiere abgegeben hatte, und man sagte Herrn Pickwick, er habe solange allda zu verweilen, bis er sich der dem Eingeweihten wohlbekannten Zeremonie unterworfen, das heißt, zu seinem Porträt gesessen hätte.

»Zu meinem Porträt gesessen?« fragte Herr Pickwick.

»Ja, Sir, damit wir Ihr Konterfei bekommen«, erwiderte der stämmige Schließer, »Wir sind Spezialisten im Abzeichnen, brauchen nur einen Augenblick dazu und treffen immer richtig. Tun Sie, als wenn Sie zu Hause wären, Sir.«

Herr Pickwick willfahrte der Aufforderung und setzte sich, worauf Herr Weller, der sich hinter seinem Stuhle aufgestellt, ihm zuflüsterte, da« »zum Porträtsitzen« wäre bloß ein anderer Ausdruck für die Beaugenscheinigung von seiten der verschiedenen Schließer, damit diese die Gefangenen von Besuchen unterscheiden könnten.

»Gut, Sam«, sagte Herr Pickwick, »dann wünschte ich, die Künstler kämen; das ist ein sehr öffentlicher Platz.«

»Sie werden wohl nicht lange ausbleiben«, versetzte Sam. »Da hängt eine hölzerne Schwarzwälderuhr.«

»Das sehe ich«, bemerkte Herr Pickwick.

»Und ein Vogelkäfig«, sagte Sam. »Reusen in Reusen, ein Gefängnis im Gefängnisse. Nicht wahr, Sir?«

Als Herr Weller diese philosophische Bemerkung machte, gewahrte Herr Pickwick, daß das Sitzen seinen Anfang genommen hatte. Der stämmige Schließer hatte das Schloß fahren lassen, sich niedergesetzt und betrachtete ihn nachlässig von Zeit zu Zeit. Dann starrte ihn ein langer, schmächtiger Bursche, der jenen abgelöst, und der sich mit den Händen unter den Rockschößen ihm gegenüber aufpflanzte, lange unverwandt an. Ein dritter Gentleman von etwas grämlichem Aussehen, der offenbar beim Tee gestört worden war, denn er verfügte bei seinem Eintritt gerade über den letzten Rest seiner mit Butter beschmierten Stulle, stellte sich dicht neben Herrn Pickwick, stemmte die Hände in die Seiten und beschaute ihn so nahe wie möglich, indessen noch zwei andere mit aufmerksamen, gedankenschweren Gesichtern seine Züge studierten. Herr Pickwick stampfte während der Operation zu wiederholten Malen mit den Füßen, und es schien ihm auf seinem Sitze nur gar nicht zu behage; er machte jedoch die ganze Zeit über keine Bemerkung, selbst gegen Sam nicht, der, an die Rückseite des Stuhles gelehnt, teils über die Lage seines Herrn, teils über das große Vergnügen nachdachte, das ihm ein feindlicher Angriff auf sämtliche Schließer gewähren würde, wenn er unter dem Schutz des Gesetzes und ohne Friedensbruch über einen nach dem andern herfallen dürfte.

Endlich war das »Porträtieren« vollendet, und man sagte Herrn Pickwick, er könne jetzt ins Gefängnis gehen.

»Wo werde ich heute nacht schlafen?« fragte er.

»Das weiß ich selbst nicht recht«, erwiderte der vierschrötige Schließer; »aber morgen bekommen Sie einen Stubenburschen und können sich dann ganz hübsch und bequem einrichten. In der ersten Nacht ist in der Regel noch nicht alles recht in Ordnung, aber morgen können Sie bekommen, was Sie wollen.«

Nach einigen Erörterungen ergab es sich, daß einer der Schließer ein Bett zu vermieten hatte, und Herr Pickwick war froh, es für die Nacht bekommen zu können.

»Wenn Sie mit mir kommen wollen, so will ich es Ihnen sogleich zeigen«, sagte der Mann. »Es ist zwar nicht besonders groß, aber es schläft sich ganz herrlich darin. Hier, Sir.«

Sie gingen durch das innere Tor und stiegen eine kurze Treppe hinab. Der Schlüssel wurde hinter ihnen herumgedreht, und Herr Pickwick befand sich zum ersten Male in seinem Leben innerhalb der Mauern eines Schuldturms.

  1. Leichter, offener, zwei- oder vierrädriger Wagen.
  2. Dort befand sich eine Straf- und Korrektionsanstalt.

Siebenunddreißigstes Kapitel.


Siebenunddreißigstes Kapitel.

In dessen Hauptzügen man eine authentische Version des Märchens vom Prinzen Bladud findet, und worin zugleich von einem höchst merkwürdigen Unglück berichtet wird, das Herrn Winkle widerfuhr.

Da Herr Pickwick wenigstens zwei Monate in Bath zu bleiben gedachte, so hielt er es für ratsam: für sich und seine Freunde eine Prioatwohnung zu nehmen; er mietete daher, sobald sich eine günstige Gelegenheit zeigte, zu einem mäßigen Preis den obern Teil eines Hauses im Royal Crescent, der jedoch mehr Raum bot, als sie brauchten, weshalb Herr Dowler und seine Gemahlin sich erboten, ihnen ein Schlaf- und ein Wohnzimmer abzunehmen. Dieser Vorschlag wurde sogleich angenommen, und in drei Tagen waren sie alle in ihrer neuen Wohnung eingerichtet, worauf Herr Pickwick mit dem größten Eifer den Brunnen zu trinken begann. Er ging dabei ganz systematisch zu Werke, Vor dem Frühstück trank er ein Viertelliter und ging dann einen Hügel hinauf spazieren; das zweite Viertelliter trank er nach dem Frühstück und spazierte dann einen Hügel hinab; nach jedem neuen Viertelliter erklärte aber Herr Pickwick aufs feierlichste und nachdrücklichste, er fühle sich um ein Gutes besser, worüber seine Freunde äußerst entzückt waren, obgleich sie vorher nie etwas von einem Unwohlsein an ihm bemerkt hatten.

Der große Brunnensaal ist sehr geräumig, mit korinthischen Säulen, einer Musikgalerie, einer Tompionglocke, einer Statue von Nash und einer goldenen Inschrift verziert, die alle Wassertrinker wohl beachten sollten, denn sie appelliert an sie im Namen christlicher Menschenliebe. Das Wasser wird aus einer großen marmornen Vase geschöpft, um die herum eine Menge gelbliche Trinkgläser stehen, und es ist ein höchst erbaulicher und befriedigender Anblick, mit welcher Beharrlichkeit und mit welchem Ernst dieselben geleert werden. Es sind Bäder in der Nähe, die ein Teil der Gesellschaft gebraucht. Hinterher spielt eine Kapelle, um denen, die sich gebadet haben, Glück zu wünschen. Es ist noch ein zweiter Brunnensaal da, in dem gebrechliche Herren und Damen mittels einer so erstaunlichen Menge und Mannigfaltigkeit von Sänften und Stühlen herumgeführt werden, daß derjenige, der keck genug ist, mit der regelmäßigen Anzahl von Zehen einzutreten, in augenscheinlicher Gefahr schwebt, ohne dieselben wieder herauszukommen. In einen dritten Brunnensaal gehen alle ruheliebenden Leute, denn es wird dort weniger Geräusch gemacht als in den andern. Auch an Spaziergängen ist großer Überfluß vorhanden, wo man eine Menge Leute mit und ohne Krücken, mit Stöcken und ohne Stöcke antrifft; es geht dabei sehr lebhaft, lustig und unterhaltend zu.

Jeden Morgen trafen sich die regelmäßigen Wassertrinker, Herr Pickwick unter ihnen, im Brunnensaal, tranken ihr Viertelliter aus und gingen dann pflichtgemäß spazieren. Auf der Nachmittagspromenade fanden sich Lord Mutanhed, der ehrenwerte Herr Crushton, die verwitwete Lady Snuphanuph, die Frau Oberst Wugsby und all die vornehmen Herrschaften, sowie sämtliche Wassertrinker vom Morgen zusammen. Sodann gingen oder fuhren sie spazieren oder ließen sich in Sesseln schieben und trafen dann einander nachher wieder. Die Herren begaben sich hierauf in das Lesezimmer, allwo sie verschiedene Gruppen bildeten, und gingen dann nach Hause. War abends Theater, so trafen sie sich vielleicht dort; war Reunion, so suchten sie einander in den Sälen auf; jedenfalls kamen sie am folgenden Tage wieder zusammen – eine höchst angenehme Lebensweise, vielleicht nur etwas zu einförmig.

Nach einem solchen Tag saß Herr Pickwick, als seine Freunde bereits zu Bett gegangen waren, noch über seinem Tagebuch, als es auf einmal leise an seiner Tür klopfte.

»Bitte um Verzeihung, Sir«, sagte seine Hauswirtin, Frau Craddock, den Kopf hereinstreckend, »wünschen Sie vielleicht noch etwas, Sir?«

»Nein, Madame«, erwiderte Herr Pickwick.

»Mein Mädchen ist zu Bett gegangen, Sir«, fuhr Frau Craddock fort, »und Herr Dowler will die Güte haben, auf seine Gemahlin zu warten, da die Gesellschaft erst spät auseinandergehen wird. Wenn Sie daher nichts mehr bedürfen, Herr Pickwick, so möchte ich ebenfalls zu Bette gehen.«

»Nur zu, Madame«, erwiderte Herr Pickwick.

»Dann wünsche ich gute Nacht, Sir«, sagte Frau Craddock.

»Gute Nacht, Madame«, dankte Herr Pickwick.

Frau Craddock entfernte sich und Herr Pickwick schrieb weiter.

Nach einer halben Stunde war er mit seinen Einträgen fertig. Er drückte das Löschblatt sorgfältig auf die letzte Seite, schloß das Buch, wischte die Feder an seinem untern Rockfutter ab und öffnete die Schublade des Schreibpultes, um sie hineinzulegen. Hier erblickte er einige engbeschriebene Bogen Papier, die so zusammengelegt waren, daß der von guter deutlicher Hand geschriebene Titel ihm geradezu in die Augen fiel. Da er nun hieraus sah, daß es kein Privatdokument war, und da es außerdem Beziehung auf Bath zu haben schien und sich durch seine Kürze empfahl, so nahm er das Manuskript, zündete einstweilen sein Nachtlicht an, damit es gut brennen möchte, bis er fertig wäre, rückte sofort seinen Stuhl näher ans Feuer und las wie folgt:

Die wahrhaftige Geschichte vom Prinzen Bladud.

»Vor nicht ganz 200 Jahren las man auf einem der öffentlichen Bäder in dieser Stadt eine nunmehr verschwundene Inschrift zu Ehren ihres mächtigen Erbauers, des berühmten Prinzen Bladud.

Schon viele hundert Jahre vorher hatte sich von Generation zu Generation eine alte Sage fortgepflanzt, der erlauchte Prinz habe, weil er mit dem Aussatz behaftet gewesen, nach seiner Rückkehr von dem alten Athen, allwo er sich eine reiche Ernte von Kenntnissen gesammelt, den Hof seines königlichen Vaters gemieden und trübsinnig unter Hirten und Schweinen gelebt. Unter der Herde befand sich (so erzählt die legende) ein Schwein mit einer ernsten feierlichen Miene, mit dem der Prinz sympathisierte – denn auch er war sehr ernst gestimmt – ein Schwein von nachdenklichem, zurückhaltendem Wesen: ein Tier, das allen andern weit überlegen, dessen Grunzen schrecklich und dessen Biß scharf war. Der junge Prinz seufzte tief, sobald er das Gesicht des majestätischen Schweines sah: er dachte an seinen königlichen Vater, und seine Augen benetzten sich mit Tränen.

Dieses kluge Schwein badete sich gern in tiefem Schlamm; jedoch nicht im Sommer, wie gewöhnliche Schweine jetzt zu tun pflegen, um sich abzukühlen, und schon in jenen seinen Zeiten taten (ein Beweis, daß das Licht der Zivilisation schon damals, wiewohl nur schwach, heraufzudämmern begonnen hatte), sondern in schneidend kalten Wintertagen. Es hatte immer ein so reines Fell und sah so gesund aus, daß der Prinz sich entschloß, die reinigenden Kräfte desselben Wassers zu erproben, dessen sich sein Freund bediente. Unter diesem schwarzen Schlamm sprudelten die heißen Quellen von Bath. Er badete sich und wurde kuriert. Nun eilte er an den Hof seines Vaters, bezeugte ihm seine Ehrfurcht, kehrte aber schnell wieder hierher zurück und gründete diese Stadt mit ihren berühmten Bädern.

Er suchte das Schwein mit allem Eifer früherer Freundschaft auf – aber ach, das Wasser war sein Tod geworden. Es hatte unvorsichtigerweise bei zu heißer Temperatur ein Bad genommen, und der Naturphilosoph war nicht mehr. Er hatte später in Plinius einen Nachfolger, der ebenfalls ein Opfer seines Durstes nach Kenntnissen wurde.

So die Sage: die wahre Geschichte aber lautet folgendermaßen:

Vor vielen hundert Jahren blühte in Pracht und Herrlichkeit der weltberühmte Lud Hudibras, König von Britannien. Er war ein mächtiger Monarch und er war so außerordentlich stark, daß die Erde unter seinen Fußtritten erbebte. Sein Volk sonnte sich in dem Leuchten seines Angesichts, so rot und strahlend war dasselbe. Er war wirklich jeder Zoll ein König. Und er maß viele Zoll; denn obgleich er nicht ungewöhnlich groß war, so hatte er dagegen einen merkwürdigen Umfang, und die Zolle, die seiner Länge abgingen, wurden durch seine Dicke ersetzt. Könnte irgendein entarteter Monarch heutigentags einigermaßen mit ihm verglichen werden, so würde ich sagen, der verehrungswürdige König Cole sei dieser erlauchte Potentat.

Diesem guten König hatte seine Gemahlin vor achtzehn Jahren einen Sohn geboren, der den Namen Bladud erhielt. Er wurde bis in sein zehntes Jahr einer Erziehungsanstalt des Landes anvertraut und dann unter der Obhut eines zuverlässigen Mannes nach Athen geschickt, um dort seine Studien zu vollenden. Hier blieb er acht volle Jahre, nach deren Verlauf der König, sein Vater, den Lord Kammerherrn hinüberschickte, um seine Rechnungen zu bezahlen und ihn nach Hause zu geleiten. Der Lord Kammerherr wurde mit Jubel empfangen und bekam von Stund an ein bedeutendes Gehalt.

Als der König Lud den Prinzen, seinen Sohn, zu einem so schönen jungen Mann herangewachsen sah, dachte er sogleich, wie nett es wäre, wenn er ihn ohne Aufschub verheiratete, damit durch seine Kinder das glorreiche Geschlecht der Lud bis auf die spätesten Zeiten der Welt fortgepflanzt würde. Deshalb schickte er eigens eine aus vornehmen Hofleuten, die weiter nichts zu tun hatten und ein so einträgliches Amt brauchen konnten, bestehende Gesandtschaft zu einem benachbarten König und verlangte dessen schöne Tochter für seinen Sohn. Zugleich ließ er ihm melden, daß ihm alles daran liege, mit seinem Bruder und Freund in den besten Verhältnissen zu bleiben. Wenn aber die Vermählung nicht zustande kommen sollte, so werde er sich in die unangenehme Notwendigkeit versetzt sehen, sein Königreich anzugreifen und ihm die Augen auszustechen.

Darauf antwortete der andere König, der der Schwächere war, er sei seinem Freund und Bruder für alle seine Güte und Großmut sehr verbunden, und auch seine Tochter habe nichts gegen die Vermählung einzuwenden, sobald es dem Prinzen Bladud gefällig sein würde, zu kommen und sie zu holen.

Diese Antwort hatte Britannien kaum erreicht, als die ganze Nation außer sich war vor Freude. Man hörte von allen Seiten nichts als Töne des Jubels und Entzückens, freilich aber auch das Geklingel des Geldes, das der königliche Schatzmeister von dem Volke einsammelte, um die Kosten des glücklichen Ereignisses zu bestreiten. Aus dieser Veranlassung auch geschah es, daß König Lud im versammelten Rat, hoch auf seinem Thron sitzend, der Freude seines Herzens vollen Lauf ließ und dem Lord Oberrichter befahl, die edelsten Weine und die Minnesänger kommen zu lassen – ein Akt der Gnade, der durch die Unwissenheit gegenseitig sich abschreibender Historiker dem König Cole zugeschrieben wurde, und zwar in jenen berühmten Zeilen, in denen von Seiner Majestät gesagt wird:

»Er heischt die Pfeife, und er heischt sein Glas, ›die Fiedler‹, ruft er, sollen jetzt erscheinen.«

Das ist jedoch eine offenbare Ungerechtigkeit gegen das Andenken des Königs Lud und eine unbillige Übertreibung der Vorzüge des Königs Cole.

Doch inmitten aller dieser Feste und Lustbarkeiten war ein Trauriger, der seine Lippen nicht netzte, wenn die funkelnden Weine eingegossen wurden, und nicht tanzte, wenn die Barden spielten. Das war niemand anders als der Prinz Bladud selbst, dessen Glück zu Ehren in diesem Augenblick ein ganzes Volk sowohl seine Kehlen wie sein Geldbeutel anstrengte. Der Prinz hatte sich nämlich, ohne Rücksicht auf das unzweifelhafte Recht des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, sich für ihn zu verlieben, sowie allen politischen und diplomatischen Gebräuchen zuwider, bereits auf eigene Faust ein Liebchen ausgesucht und sich heimlich mit der schönen Tochter eines edlen Atheners verlobt.

Hier haben wir einen schlagenden Beweis von den mannigfaltigen Vorteilen der Zivilisation und feinerer Gesittung. Hätte der Prinz in späteren Zeiten gelebt, so hätte er sich ohne weiteres mit dem Gegenstande der Wahl seines Vaters vermählt und sodann allen Ernstes daran gedacht, sich von der Bürde zu befreien, die so schwer auf ihm lastete. Er hätte sich bemüht, sie durch systematische Mißhandlungen und Vernachlässigungen ins Grab zu bringen, oder wenn der gute Takt ihres Geschlechts und ein stolzes Bewußtsein, daß sie diese Unbilden nicht verdient, sie dennoch aufrechterhalten hätte, so wäre er zu schnelleren und sichereren Mitteln, sie loszuwerden, geschritten. Dem Prinzen Bladud dagegen fiel keiner dieser Auswege ein – er bat seinen Vater um eine geheime Unterredung und eröffnete sich ihm.

Es ist ein altes Vorrecht der Könige, alles zu beherrschen, nur ihre Leidenschaften nicht. König Lud geriet in eine schreckliche Wut, schleuderte seine Krone bis an die Zimmerdecke empor und fing sie wieder auf – in jenen Tagen hatten nämlich die Könige ihre Kronen auf dem Kopf und nicht im Tower – er stampfte auf den Boden, schlug sich vor die Stirn, jammerte, daß sein eigen Fleisch und Blut sich gegen ihn empöre, endlich aber rief er seine Leibwache und befahl ihr, den Prinzen alsbald in einen tiefen Turm zu werfen. Das war die gewöhnliche Art, wie die Könige in früheren Zeiten mit ihren Söhnen verfuhren, wenn sie im Punkte der Vermählung andere Absichten hegten, als ihre Väter.

Nachdem der Prinz Bladud beinahe ein Jahr lang in dem hohen Turm eingesperrt gewesen, ohne eine andere Aussicht für seine leiblichen Augen als eine steinerne Wand, oder für die Augen seines Geistes als langwierige Gefangenschaft, begann er natürlich einen Plan zur Flucht zu entwerfen, den er nach mondenlangen Vorbereitungen glücklich ausführte. Er ließ absichtlich sein Tischmesser im Herzen des Kerkermeisters stecken, damit der arme Bursche, der Familie hatte, von dem rasenden König nicht als Beförderer seiner Flucht angesehen und bestraft werden möchte.

Der König war wie wahnsinnig ob des Entrinnens seines Sohnes. Lange wußte er nicht, an wem er seinen Kummer und Zorn auslassen konnte, bis er sich zum Glück des Lord Kammerherrn erinnerte, der den Prinzen nach Hause begleitet hatte, und dem er seine Pension und seinen Kopf zugleich nahm. Mittlerweile durchwanderte der junge Prinz, gut verkleidet, zu Fuß die Reiche seines Vaters, in allem Ungemach aufrechterhalten und erfreut durch den süßen Gedanken an die atheniensische Jungfrau, die die unschuldige Ursache seiner grausamen Prüfungen war. Eines Tages wollte er in einem Dorfe Ruhe suchen, und da er sah, daß auf dem Rasen lustig getanzt wurde und alle Gesichter vor Freude glänzten, so wagte er es, einen der Fröhlichen, der neben ihm stand, nach der Ursache dieser allgemeinen Freude zu fragen.

›O Fremdling‹, war die Antwort, ›wißt Ihr denn nichts von der neuesten Proklamation unseres gnädigen Königs?‹

›Proklamation? Nein. Was für eine Proklamation?‹ erwiderte der Prinz, denn er war bisher nur auf ziemlich unbesuchten Nebenwegen gewandert und wußte nichts von allem, was auf den öffentlichen Straßen und überhaupt im Reiche vorging.

›Nun‹, sagte der Bauer: ›die fremde Dame, die unser Prinz zu heiraten wünschte, hat sich mit einem vornehmen Manne in ihrem eigenen Lande vermählt. Dies ließ der König verkünden und zugleich große öffentliche Festlichkeiten anordnen; denn natürlich wird der Prinz Bladud jetzt zurückkehren und die Dame heiraten, die sein Vater ihm ausersehen hat, zumal, da sie schön sein soll wie die Mittagssonne. Eure Gesundheit, Sir. Gott erhalte den König.‹

Der Prinz wollte nichts mehr hören. Er floh von dem Platze und drang in die dichteste Wildnis eines nahen Waldes. So wanderte er Tag und Nacht fort unter der brennenden Sonne, wie unter dem kalten, blassen Mond, durch die dürre Hitze des Mittags, sowie durch den feuchten Frost der Nacht, in dem grauen Licht des Morgens, wie in dem roten Glanz des Abends. Er achtete so wenig auf Zeit und Weg, daß er, statt nach Athen zu gelangen, sich nach Bath verirrte.

Da, wo jetzt Bath steht, war dazumal noch keine Stadt. Man sah hier keine Spur von einer menschlichen Wohnung, kein Zeichen von Menschenhand: allein die Gegend war damals schon ebenso reizend, dieselbe herrliche Abwechslung von Hügeln und Tälern, derselbe schöne Fluß, der sich hindurchschlängelt, dieselben hohen Berge, die gleich den Mühseligkeiten des Lebens, von ferne betrachtet, und teilweise durch den glänzenden Nebel des Morgens verborgen, ihre herbe Rauheit verlieren und mild und freundlich erscheinen. Von der lieblichen Schönheit dieser Landschaft ergriffen, sank der Prinz auf den grünen Rasen nieder und badete seine wunden Füße mit seinen Tränen.

›Ach‹, rief der unglückliche Bladud, indem er die Hände rang und trauervoll seine Augen gegen den Himmel erhob: ›möchten doch meine Wanderungen hier zu Ende gehen und meine ergebungsvollen Tränen, womit ich jetzt verfehlte Hoffnungen und verschmähte Liebe beklage, auf immer im Frieden dahinfließen.‹

Sein Wunsch wurde erhört. Es war zur Zeit der heidnischen Gottheiten, die die Leute manchmal beim Worte nahmen, und zwar mit einer Schnelligkeit, die ihnen oft sehr ungelegen kam. Der Boden öffnete sich unter des Prinzen Füßen: er sank hinab in den Abgrund, und alsbald schloß sich die Erde wieder über seinem Haupte, abgesehen von der Stelle, wo seine heißen Tränen durch sie heraufquellen und wo sie seitdem unaufhörlich geströmt sind.

Es ist bemerkenswert, daß bis auf den heutigen Tag große Scharen von Damen und Herren, die sich in ihrer Hoffnung, Lebensgefährten zu bekommen, getäuscht sahen, und beinahe ebensoviel junge Damen und Herren, die sich sehnen, solche zu bekommen, alljährlich nach Bath kommen, um die Wasser zu trinken und daraus große Stärkung und Tröstung schöpfen: – ein höchst gewichtiger Beweis für die Wirksamkeit der Tränen des Prinzen Bladud, und ein Umstand, wodurch die Wahrheit dieser Geschichte außer allen Zweifel gestellt wird.«

 

Herr Pickwick gähnte zu verschiedenen Malen. Als er ans Ende dieses kleinen Manuskripts gelangt war, faltete er es sofort sorgfältig wieder zusammen, legte es an seinen alten Platz in die Schublade des Schreibpults hinein, zündete sodann mit einem Gesicht, worauf die äußerste Müdigkeit zu lesen war, sein Nachtlicht an und begab sich die Treppe hinauf nach seinem Schlafzimmer.

Vor Herrn Dowlers Tür blieb er, wie gewöhnlich, stehen und klopfte an, um ihm gute Nacht zu sagen.

»Ah«, sagte Dowler, »Sie gehen zu Bett? Ich wollte, ich läge schon drin. Eine widerwärtige Nacht. Nicht wahr, sehr windig?«

»Ja«, versetzte Herr Pickwick: »gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Herr Pickwick ging auf sein Schlafzimmer und Herr Dowler nahm seinen Sitz vor dem Feuer wieder ein, um sein übereiltes Versprechen zu halten, bis zur Rückkehr seiner Gemahlin aufbleiben zu wollen.

Es gibt nicht leicht etwas Unangenehmeres, als nachts auf jemanden zu warten, besonders wenn dieser Jemand in einer Gesellschaft ist. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, wie schnell den Leuten dort die Zeit vergeht, die sich für uns so träge dahinschleppt, und je mehr man daran denkt, desto mehr schwindet die Hoffnung auf die baldige Ankunft des Erwarteten. Auch ticken die Uhren so laut, wenn man so allein dasitzt, und man meint – wenigstens geht es uns immer so – man habe Unterkleider voll Ungeziefer an. Zuerst juckt es einen am rechten Knie, und dann stellt sich derselbe Reiz am linken ein. Ändert man seine Stellung, so kommt es in die Arme, und wenn man seine Beine in allen möglichen Richtungen die Kreuz und die Quere herumgeworfen hat, so juckt es einen plötzlich an der Nase, an der man sofort reibt, als wollte man sie hinwegreiben, was man gewiß auch täte, wenn es möglich wäre. Auch die Augen machen viel Unbehagen, und der Docht eines Lichtes wird anderthalb Zoll lang, bis man ihn putzt. Diese und andere kleine Nervenstimmungen machen das lange Aufbleiben, wenn alle übrigen schon zu Bett gegangen sind, keineswegs zu einem lustigen Zeitvertreib.

So dachte Herr Dowler, als er vor dem Feuer saß, und er ärgerte sich im Innersten seines Herzens über all die gefühllosen Leute auf dem Ball, die ihn solange hinhielten. Seine Laune wurde nicht verbessert durch den Gedanken, daß er es sich am Abend in den Kopf gesetzt hatte, Kopfweh haben zu wollen und deswegen zu Hause geblieben war. Endlich, nachdem er zu wiederholten Malen eingenickt und gegen den Kamin hin vorgefallen war, sich aber immer wieder bald genug zurückgeworfen hatte, um das Gesicht nicht zu verbrennen, beschloß Herr Dowler, sich auf das Bett im Hinterzimmer zu legen und daselbst seinen Gedanken nachzuhängen – natürlich nicht um zu schlafen.

»Ich habe einen harten Schlaf«, sagte Herr Dowler, als er sich aufs Bett warf. »Ich muß wach bleiben; hier werde ich das Klopfen wohl hören können. Ja. Ich dachte es doch. Ich kann den Nachtwächter hören. Da unten geht er. Jetzt schon leiser. Eben geht er um die Ecke. Ah!«

Als Herr Dowler soweit gekommen war, wandte auch er sich um die Ecke, an der er solange gezögert hatte, und versank in einen festen Schlaf.

Schlag drei Uhr wurde eine Sänfte, mit Frau Dowler darin, vor das Haus gebracht. Die Träger waren ein kurzer, fetter Knirps und ein himmellanger Bursche, die auf dem Wege viel Mühe hatten, ihre Körper und vollends gar die Sänfte senkrecht zu erhalten; auf der Höhe und in der Nähe des Halbmondplatzes aber wütete und stürmte der Wind, der ihn von allen Seiten überstreifen konnte, so abscheulich, als wollte er das Straßenpflaster aufreißen; sie waren daher herzlich froh, die Sänfte endlich an Ort und Stelle niedersetzen zu können und fingen an, tüchtig an die Tür zu klopfen.

Sie warteten einige Zeit, aber es kam niemand,

»Das Gesinde liegt gewiß in den Armen des Porpus8«, sagte der kurze Sänftenträger, indem er sich die Hände an der Fackel des begleitenden Fackelbuben wärmte.

»Ich wollte, er kneipte sie, daß sie aufwachten«, bemerkte der Lange.

»Haben Sie die Güte, doch noch einmal zu klopfen«, rief Frau Dowler von der Sänfte herab. »Klopfen Sie noch zwei- oder dreimal.«

Der Kurze, der seinen Auftrag sobald wie möglich los zu werden wünschte, stellte sich an die Tür und polterte aus Leibeskräften darauf los, zuerst in Absätzen von vier oder fünf, sodann von acht bis zu zehn Schlägen, während der Lange sich auf die Straße stellte, ob er etwa an einem Fenster Licht bemerken könnte.

Niemand kam. Alles war still und finster wie zuvor.

»Mein Gott«, sagte Frau Dowler; »Sie müssen noch einmal klopfen.«

»Ist vielleicht eine Glocke da?« fragte der Kurze.

»O freilich«, fiel der Fackelträger ein; »ich habe schon in einem fort daran geläutet.«

»Bloß der Handgriff ist da«, sagte Frau Dowler; »der Draht ist gerissen.

»Ich wollte. Ihrer Dienerschaft würden die Schädel eingeschlagen«, knurrte der Lange.

»Ich muß Sie bemühen, gefälligst noch einmal zu klopfen«, sagte Frau Dowler mit der größten Höflichkeit.

Der Kurze klopfte noch mehrere Male, aber ohne den geringsten Erfolg. Dem Langen riß jetzt die Geduld, er löste ihn ab und klopfte in einem fort mit gewaltigen Doppelschlägen an die Tür wie ein wahnsinniger Briefträger.

Endlich begann Herr Winkle zu träumen, er sei in einem Klub. Die Mitglieder hätten Streit miteinander bekommen und der Präsident sei genötigt, gewaltig auf den Tisch zu hämmern, um die Ordnung wieder herzustellen: sodann schwebte ihm dunkel ein Auktionszimmer vor, wo es an Kaufliebhabern fehlte und der Auktionator alles selbst kaufen mußte; endlich fing er an zu denken, es könne in den Grenzen der Möglichkeit liegen, daß jemand an die Haustür klopfe. Um jedoch ganz sicher zu gehen, blieb er noch etwa zehn Minuten ruhig im Bett und horchte. Erst als er zwei- oder dreiunddreißig Schläge gezählt hatte, gab er sich zufrieden und bildete sich nicht wenig auf seine Wachsamkeit ein.

»Rap rap – rap rap – rap rap – ra, ra, ra, ra, ra, rap«, erschallte der Klopfer an der Haustür.

Höchst verwundert, was dies wohl sein könne, sprang Herr Winkle aus dem Bett, zog schleunigst Strümpfe und Pantoffeln an, wickelte seinen Schlafrock um sich, zündete an dem Nachtlicht, das auf dem Kamin brannte, eine kleine Kerze an und eilte die Treppe hinab.

»Endlich kommt doch jemand, Madame«, sagte der kleine Sänftenträger.

»Ich wollte, ich wäre mit der Hetzpeitsche hinter ihm her«, murrte der Lange.

»Wer ist draußen?« rief Herr Winkle, den Riegel zurückschiebend.

»Frag‘ nur nicht, du Eselskopf«, erwiderte in großem Ärger der Lange, der nicht anders glaubte, als der Fragende sei ein Diener. »Aufgemacht!«

»Vorwärts! schnell! Du Faultier!« fügte der Kurze aufmunternd hinzu.

Herr Winkle, der noch halb im Schlaf war, gehorchte dem Befehl mechanisch, öffnete die Tür ein wenig und blickte hinaus.

Das erste, was er sah, war der rote Glanz der Fackel. Bei diesem unerwarteten Anblick erschrak er, und in der Meinung, das Haus stehe in Flammen, stieß er schnell die Tür weit auf, hielt das Licht über seinen Kopf empor und starrte geradeaus vor sich hin, ohne sich überzeugen zu können, ob das, was er erblickte, eine Sänfte sei oder eine Feuerspritze, In diesem Augenblick kam ein heftiger Windstoß, das Licht wurde ausgeblasen, Herr Winkle ward unwiderstehlich auf die Tritte vor der Haustür hingeweht, und die Tür selbst schlug mit lautem Krachen zu.

»Da haben Sie’s, junger Mann«, sagte der kleine Sänftenträger.

Als Herr Winkle durch das Fenster der Sänfte hindurch das Gesicht einer Dame erblickte, wandte er sich eiligst um, klopfte aus Leibeskräften an die Tür und schrie den Trägern wie wahnsinnig zu, sie sollten mit der Sänfte ihres Weges gehen.

»Fort damit! fort damit!« rief Herr Winkle. »Da kommt jemand aus einem andern Hause: laßt mich in die Sänfte hinein. Versteckt mich, helft mir.«

Dabei schauerte er vor Kälte, und jedesmal, wenn er die Hand nach dem Klopfer erhob, faßte der Wind auf eine höchst unzarte Weise seinen Schlafrock.

»Da kommen ja Leute. Es sind Damen dabei; bedeckt mich doch mit irgend etwas; stellt euch vor mich hin«, heulte Herr Winkle. Allein die Sänftenträger waren zu sehr durch Lachen in Anspruch genommen, als daß sie ihm den geringsten Beistand hätten leisten können, und die Damen kamen mit jedem Augenblick naher und immer näher.

Herr Winkle tat einen letzten hoffnungslosen Schlag. Die Damen waren nur noch einige Häuser entfernt. Er warf das ausgelöschte Licht, das er in der ganzen Zeit über seinen Kopf emporgehalten hatte, weg und stürzte geradezu auf die Sänfte los, worin Frau Dowler saß.

Jetzt hatte Frau Craddock endlich auch das Klopfen und Lärmen gehört, und nachdem sie sich bloß soviel Zeit genommen, um eine andere Kopfbedeckung als ihre Nachthaube aufzusetzen, rannte sie in das vordere Wohnzimmer, um zu sehen, ob es die rechten Leute seien, und rückte das Schiebefenster gerade in dem Augenblick zurück, als Herr Winkle auf die Sänfte losstürzte. Kaum aber hatte sie gesehen, was unten vorging, so erhob sie ein gewaltiges Jammergeschrei und weckte Herrn Dowler mit der Bemerkung, er solle doch sogleich aufstehen, denn seine Frau laufe mit einem andern Herrn davon.

Herr Dowler sprang vom Bett auf wie ein Gummielastikumball, stürzte in das vordere Zimmer, kam in demselben Augenblick an ein Fenster, wo Herr Pickwick ein anderes aufriß, und das erste, was sich ihren erstaunten Blicken darbot, war Herr Winkle, der in die Sänfte hineinstürmen wollte.

»Nachtwächter!« schrie Dowler wütend, »fangt ihn – packt ihn – haltet ihn fest, bis ich hinabkomme. Ich will ihm die Kehle abschneiden – gebt mir ein Messer – ja, von einem Ohr bis zum andern, Frau Craddock.«

Und trotz des Jammergeschreis der Hausfrau, in das Herr Pickwick mit einstimmte, ergriff der entrüstete Ehemann ein kleines Tischmesser und stürzte auf die Straße hinunter.

Aber Herr Winkle erwartete ihn nicht. Kaum hörte er die schreckliche Drohung des tapfern Dowler, so sprang er ebenso schnell wieder aus der Sänfte heraus, wie er hineingesprungen war, schleuderte seine Pantoffeln auf die Straße, gab Fersengeld und rannte, hitzig verfolgt von Dowler und dem Nachtwächter, um den Halbmondplatz herum. Er behielt immer einen Vorsprung, und als er zum zweitenmal vor das Haus kam und die Tür offen fand, stürzte er hinein, warf sie Dowler vor der Nase zu, sprang in sein Schlafzimmer, verschloß die Tür, pflanzte zur Verrammlung einen Toilettentisch nebst einigen Kommoden davor auf und packte einige notwendige Sachen zusammen, in der Absicht, mit Tagesanbruch zu entfliehen.

Dowler kam vor seine Tür, erklärte durch das Schlüsselloch hinein seinen festen Entschluß, Herrn Winkle am folgenden Tag die Kehle abzuschneiden, und nach einem gewaltigen, verworrenen Lärm im Salon, wobei man vor allem Herrn Pickwicks Stimme vernahm, der Frieden zu stiften bemüht war, zerstreuten sich die Hausgenossen nach ihren verschiedenen Schlafgemächern, worauf alles wieder ruhig wurde.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß hier die Frage aufgeworfen wird, wo Herr Weller diese ganze Zeit über gewesen? Wir werden uns im nächsten Kapitel darüber erklären.

  1. Morpheus.

Achtunddreißigstes Kapitel.


Achtunddreißigstes Kapitel.

Erteilt genügende Auskunft über Herrn Wellers Abwesenheit und enthält die Beschreibung einer Soiree, zu der er eingeladen war. Zugleich berichtet es, wie ihm von Herrn Pickwick eine geheime Sendung von großer Wichtigkeit und Zartheit anvertraut wird.

»Herr Weller«, sagte Frau Craddock am Morgen dieses verhängnisvollen Tage«, »hier ist ein Brief für Sie.«

»Das ist sehr kurios«, meinte Sam. »Ich fürchte fast, es muß etwas dahinter stecken, denn ich erinnere mich in meinem Kreis von Bekanntschaften keines Gentlemans, der imstande wäre, einen Brief zu schreiben.«

»Vielleicht hat sich etwas Außerordentliches ereignet«, bemerkte Frau Craddock.

»Das muß freilich etwas Außerordentliches sein, was einem meiner Freunde einen Brief ablocken könnte«, erwiderte Sam, zweifelhaft den Kopf schüttelnd. »Von meinem Vater kann der Brief auch nicht kommen«, fügte er hinzu, indem er die Handschrift betrachtete; »der druckt immer, weil er das Schreiben an den großen Anschlagzetteln vor den Buchhandlungen gelernt hat. Es ist mir ganz unerklärlich, woher der Brief wohl kommen mag.«

Zugleich tat Sam, was sehr viele Leute tun, wenn sie über den Schreiber eines Billetts im Ungewissen sind, d.h. er beschaute das Siegel, sodann den vorderen, dann den hinteren Teil, hierauf die Seiten und endlich die Überschrift; für das allerletzte Auskunftsmittel mochte er wohl den Inhalt ansehen, um ganz gewiß aus der Sache klar zu werden.

»Er ist auf goldgerandetes Papier geschrieben«, sagte Sam, als er ihn entfaltete, »und mit braunem Siegellack petschiert, und zwar mit der Spitze eines Türschlüssel«. Nun, wir wollen einmal sehen.«

Und mit sehr ernstem Gesicht las Herr Weller langsam wie folgt:

»Eine auserlesene Gesellschaft von den Bather-Lakaien empfiehlt sich Herrn Weller und bittet um das Vergnügen seiner Gesellschaft auf diesen Abend zu einem freundschaftlichen Schmause, bestehend aus einer gekochten Hammelkeule nebst dem übrigen Zubehör. Präzis halb zehn Uhr wird serviert.«

Diese Einladung war in ein anderes Billett folgenden Inhalts eingeschlossen:

»Herr John Smauker, der Gentleman, der das Vergnügen hatte, Herrn Weller vor einigen Tagen im Hause ihres gemeinschaftlichen Bekannten, des Herrn Bantam, kennenzulernen, gibt sich die Ehre, Herrn Weller die beifolgende Einladung zuzuschicken. Wenn Herr Weller Herrn John Smauker um neun Uhr abholen will, so wird Herr John Smauker das Vergnügen haben, Herrn Weller einzuführen.

(Unterzeichnet) John Smauker.«

Die Adresse lautete: »An Weller, Esquire bei Herrn Pickwick«, und in der linken Ecke stand als Instruktion für den Überbringer in Paranthese das Wort: »Dienerglocke«.

»Gut«, sagte Sam? »das gefällt mir nicht übel. Ich habe mein Lebtag noch nie gehört, daß man eine gekochte Hammelkeule einen Schmaus genannt hätte. Wie würden sie wohl eine gebratene nennen?«

Ohne sich jedoch lange den Kopf darüber zu zerbrechen, begab sich Sam sogleich zu Herrn Pickwick und bat ihn für den Abend um Urlaub, der gern bewilligt wurde. Mit dieser Erlaubnis und dem Hausschlüssel in der Tasche ging Sam Weller etwas vor der bestimmten Zeit aus und schlenderte gemächlich dem Queensquare zu, wo er kaum angelangt war, als er das Vergnügen hatte, Herrn John Smauker in einiger Entfernung seinen bepuderten Kopf an einen Laternenpfahl lehnen und aus einer Bernsteinröhre eine Zigarre rauchen zu sehen.

»Guten Tag, wie geht’», Herr Weller?« rief ihm Herr John Smauker zu, mit der einen Hand graziös den Hut lüftend, während er ihm mit der andern freundlich und herablassend zuwinkte. »Wie geht’s, Sir?«

»Recht ordentlich«, erwiderte Sam. »Und wie geht es Ihnen, lieber Kamerad?«

»So so, la la«, sagte John Smauker.

»Sie haben sich gewiß zu sehr angestrengt«, bemerkte Sam. »Ich fürchtete es immer; aber es führt zu nichts; Sie müssen Ihrem Eifer und Fleiß Zaum und Gebiß anlegen.«

»Ach nein«, erwiderte Herr John Smauker, »es kommt nicht sowohl davon her, als von dem schlechten Wein; ich glaube, ich bin ein bißchen liederlich gewesen.«

»Aha, geht’s da hinaus?« sagte Sam. »Das ist freilich eine schlimme Sache.«

»Aber«, bemerkte Herr John Smauker, »Sie wissen ja, daß die Verführung immer so groß ist.«

»Freilich«, erwiderte Sam.

»Wenn man so mitten in den Wirbel der Gesellschaft hineingezogen wird, Herr Weller, – Sie wissen ja schon«, sagte Herr John Smauker mit einem Seufzer.

»Ja, es ist schrecklich«, meinte Sam.

»Aber es geht immer so«, sagte Herr John Smauker; »wenn das Schicksal einen ins öffentliche Leben und in eine öffentliche Stellung führt. Da ist man Versuchungen ausgesetzt, von denen andere Leute nichts wissen, Herr Weller.«

»Gerade das sagte auch mein Onkel, als er ins öffentliche Leben getreten und ein Wirt geworden war«, bemerkte Sam; »und der alte Herr hatte ganz recht; denn in weniger als einem Vierteljahr trank er sich tot.«

Herr John Smauker sah sehr entrüstet aus über die zwischen ihm und dem besagten seligen Herrn gezogene Parallele. Da indessen Sams Gesicht in dem unveränderlichen Zustand der Ruhe blieb, so besann er sich eines bessern und wurde wieder freundlich.

»Es wird wohl Zeit, zu gehen«, sagte Herr Smauker und zog eine kupferne Uhr, die auf dem Grunde einer tiefen Uhrtasche wohnte und vermittels eines schwarzen Bandes an die Oberfläche heraufgezogen wurde, auch am andern Ende mit einem kupfernen Schlüssel versehen war, zu Rate.

»Ich denke auch«, erwiderte Sam; »das Essen möchte sonst kalt werden.«

»Haben Sie den Brunnen schon getrunken, Herr Weiler?« fragte sein Kamerad, als sie nach der Hochstraße zuschritten.

»Ein einziges Mal«, erwiderte Sam.

»Und wie fanden Sie ihn, Sir?«

»Ganz abscheulich widerlich«, erklärte Sam.

»Ah«, sagte Herr John Smauker, »vielleicht behagt Ihnen der Mineralgeschmack nicht?« 99

»Davon verstehe ich nichts«, sagte Sam, »aber es kam mir vor, als hätte der Brunnen einen scharfen, brandigen Geruch, wie von glühenden Bügeleisen.«

»Das ist eben das Mineralische, Herr Weller«, bemerkte Herr John Smauker verächtlich.

»Meinetwegen: es ist aber ein sehr unverständliches Wort«, sagte Sam. »Es mag aber schon so sein, denn ich verstehe nicht viel von chemischen Geschichten, kann also nichts sagen.«

Und nun begann Sam Weller zum großen Entsetzen des Herrn John Smauker zu pfeifen.

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Weller«, sagte Herr John Smauker, schaudernd über die nicht eben lieblichen Töne. »Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?«

»Danke, Sie sind gar zu gütig: ich will Sie nicht bemühen«, erwiderte Sam. »Wenn Sie nichts dagegen haben, so stecke ich lieber meine Hände in die Taschen.«

Sam tat das auch sogleich und pfiff noch lauter als zuvor.

»Auf diesem Weg«, sagte sein neuer Freund, dem es offenbar viel leichter ums Herz wurde, als sie in eine Nebenstraße kamen, »auf diesem Weg werden wir bald dort sein.«

»So?« sagte Sam, ganz ungerührt durch die Ankündigung seiner unmittelbaren Nähe bei der auserwählten Gesellschaft der Bather-Lakaien.

»Ja«, sagte Herr John Smauker. »Seien Sie nur nicht zu schüchtern, Herr Weller.«

»O gewiß nicht«, sagte Sam.

»Sie werden einige sehr schöne Uniformen sehen, Herr Weller«, fuhr Herr John Smauker fort, »und vielleicht werden Sie auch finden, daß etliche von diesen Herren die Nase ein bißchen hoch tragen: allein Sie werden sie schon zu gewinnen wissen.«

»Das wäre sehr schön«, erwiderte Sam.

»Und Sie wissen«, fuhr Herr John Smauker mit erhabener Protektormiene fort, »Sie wissen, da Sie ein Fremder sind, so wird man Ihnen im Anfang vielleicht scharf zu Leib gehen.«

»Sie werden doch nicht gar grausam gegen mich sein?« fragte Sam.

»Nein, nein«, erwiderte Herr John Smauker, den Fuchskopf hervorziehend und eine gentlemanische Prise nehmend: »doch es sind einige lustige Käuze darunter, die werden ihren Witz an Ihnen auslassen wollen, aber Sie müssen sich nur nicht darum kümmern.«

»Ich werde es ihnen schon heimzugehen wissen«, erwiderte Sam.

»Das ist recht«, sagte Herr John Smauker, den Fuchskopf einsteckend und seinen eigenen emporhebend; »ich werde Ihnen beistehen.«

Inzwischen hatten sie einen kleinen Gemüseladen erreicht; in den Herr John Smauker eintrat, gefolgt von Sam, der, während er hinter ihm herging, ganz offen und unwillkürlich zu lachen begann und durch andere Zeichen verriet, daß er sich in einem sehr beneidenswerten Zustande inneren Vergnügens befand.

Sie gingen durch den Laden, legten ihre Hüte in dem kleinen Gang dahinter ab und kamen in ein kleines Zimmer, allwo der volle Glanz der Szene Herrn Weller alsbald in die Augen sprang.

Mitten in der Stube waren ein paar Tische zusammengerückt, bedeckt mit drei oder vier Tüchern von verschiedenem Alter und verschiedenem Datum der Wäsche, die jedoch so arrangiert waren, daß sie so sehr wie möglich über ihr verschiedenes Aussehen hinwegtäuschten. Auf den Tischen lagen Messer und Gabeln für sechs oder acht Personen. Einige von den Messergriffen waren grün, andere rot und noch andere gelb; die Gabeln dagegen waren sämtlich schwarz, und diese Farbenkombination bildete einen sehr scharfen Kontrast. Die Teller für eine entsprechende Anzahl Gäste wurden hinter dem Kaminrost gewärmt, und die Gäste selbst wärmten sich vor demselben. Der Angesehenste und Bedeutendste unter ihnen schien ein stattlicher Herr in karmoisinrotem Rock mit langen Schößen, hellroten Hosen und mit einem aufgestülpten Hut zu sein, der mit dem Rücken gegen das Feuer stand, und offenbar soeben erst gekommen sein mußte; denn er hatte nicht nur seinen aufgestülpten Hut noch auf dem Kopf, sondern auch in seiner Hand einen langen Stab, wie ihn die Gentlemen seiner Profession schief über die Kutschendächer hinauszuhalten pflegen.

»Smauker, alter Kerl«, sagte der Gentleman mit dem aufgestülpten Hut.

Herr Smauker fügte das oberste Gelenk des kleinen Finger seiner rechten Hand in das entsprechende des Gentleman mit dem aufgestülpten Hut und sagte, »er sei entzückt, ihn so wohl zu sehen.«

»Ja, die Leute sagen, ich sehe recht blühend aus«, begann der Mann mit dem aufgestülpten Hut, »und das ist wirklich ein Wunder. In den letzten vierzehn Tagen bin ich tagtäglich zwei Stunden hinter unserer alten Dame hergelaufen; und wenn man ständig sehen muß, wie sie ihr verteufeltes, altes, lavendelfarbiges Kleid hinten zu hat; wenn das einen braven Kerl auf die Dauer nicht in die bitterste Verzweiflung bringt, so verzichte ich auf meinen nächsten Arbeitslohn.«

Die versammelten Notabilitäten lachten herzlich, und ein Gentleman in einer gelben, mit einer Kutscherborte besetzten Weste flüsterte einem Nachbar in grünsamtenen Kniehosen zu, »Tuckle sei heute abend sehr aufgeräumt.«

»Unter uns gesagt«, bemerkte Herr Tuckle, »mein lieber Smauker, Sie – –«, der Rest des Satzes wurde Herrn John Smauker ins Ohr hineingeflüstert.

»Ach, wahrhaftig, das habe ich ganz vergessen«, sagte Herr John Smauker. »Meine Herren – mein Freund, Herr Weller.«

»Es tut mir leid, Weller, daß ich Ihnen vor dem Feuer stehe«, sagte Herr Tuckle herablassend. »Ich hoffe, es wird Ihnen nicht zu kalt sein, Weller?«

»Nicht im geringsten, Feuerbrand«, erwiderte Sam. »Das müßte doch ein recht frostiger Bursche sein, den es frieren könnte, wenn Sie ihm gegenüberstehen. Mit Ihnen könnte man Kohlen ersparen, wenn man Sie in einem Wirtshaus hinter das Kaminfeuer stellte.«

Da diese Bemerkung offenbar eine persönliche Anspielung auf Herrn Tuckles karmoisinrote Livree enthielt, so blickte dieser Gentleman einige Sekunden lang majestätisch drein, schob sich jedoch allmählich vom Feuer weg, brach in ein erzwungenes Lachen aus und sagte, »der Witz gefalle ihm nicht übel«.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre gute Meinung, Sir«, entgegnete Sam. »Wir werden schon warm miteinander werden.«

Hier wurde die Unterhaltung durch die Ankunft eines Gentleman in orangefarbigen Plüschhosen unterbrochen, der ein anderes Kabinettstück in purpurfarbigem Rocke und mit ungeheuren langen Strümpfen mit sich brachte. Nachdem die neuen Gäste von den alten bewillkommt waren, schlug Herr Tuckle vor, mit dem Essen zu beginnen, was einstimmig angenommen wurde.

Der Gemüsehändler und seine Frau trugen jetzt die gekochte Hammelkeule, noch siedendheiß, mit einer Kapernsoße nebst Rüben und Kartoffeln auf den Tisch. Herr Tuckle nahm den Präsidentenstuhl ein und ans andere Ende des Tisches setzte sich als Vizepräses der Gentleman in den orangefarbigen Plüschhosen. Der Gemüsehändler zog waschlederne Handschuhe an, um die Teller umherzureichen, und stellte sich hinter den Stuhl des Herrn Tuckle.

»Harris!« sagte Herr Tuckle in befehlendem Tone.

»Sir«, antwortete der Gemüsehändler.

»Haben Sie die Handschuhe angezogen?«

»Ja, Sir.«

»So nehmen Sie den Deckel hinweg.«

»Sehr wohl, Sir.«

Der Gemüsehändler tat mit großer Unterwürfigkeit wie ihm befohlen wurde und reichte Herrn Tuckle dienstbeflissen das Vorlegemesser, wobei er jedoch zufällig gähnte.

»Was soll das bedeuten, Sir?« ließ ihn Herr Tuckle sehr rauh an.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte der erschrockene Gemüsehändler, »ich habe es nicht absichtlich getan, Sir: ich war in der letzten Nacht so lange auf, Sir.«

»Ich will Ihnen sagen, was ich von Ihnen denke, Harris«, sagte Herr Tuckle mit höchst nachdrucksvoller Geberde: »Sie sind ein ganz dummer Kerl.«

»Meine Herren«, antwortete Harris, »ich hoffe, Sie werden nicht so streng mit mir verfahren, meine Herren. Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden, meine Herren, für Ihre Gönnerschaft und auch für Ihre Empfehlungen, meine Herren, wenn irgendwo zur Aushilfe ein Aufwärter nötig ist. Ich hoffe, meine Herren, daß ich Sie zur Zufriedenheit bediene.«

»Nein, das tun Sie nicht, Sir«, antwortete Herr Tuckle; »weit gefehlt, Sir.«

»Wir halten Sie für einen unachtsamen Bengel«, sagte der Gentleman in den organgefarbigen Plüschhosen.

»Und für einen niederträchtigen Dieb«, fügte der Gentleman in den grünsamtenen Kniehosen hinzu.

»Und für einen unverbesserlichen Taugenichts«, rief der Gentleman in dem Purpurgewand.

Der arme Gemüsehändler verbeugte sich demutsvoll, während er im echten Geist kleinlicher Tyrannen mit diesen hübschen Ehrentitelchen belegt wurde. Als nun jeder, um seine Oberherrlichkeit über ihn zu beweisen, etwas gesagt hatte, begann Herr Tuckle die Hammelkeule zu tranchieren und der Gesellschaft vorzulegen.

Kaum war dieses wichtigste Geschäft des Abends angefangen, als die Tür hastig aufgerissen wurde und ein anderer Gentleman in hellblauem Rock mit bleiernen Knöpfen hereintrat.

»Gegen die Ordnung«, sagte Herr Tuckle. »Zu spät, zu spät.«

»Nein, nein; ich konnte wahrhaftig nicht anders«, erwiderte der Blaue. »Ich appelliere an die Gesellschaft – ein galantes Abenteuer – ein Stelldichein im Theater.«

»Wirklich?« fragte der Gentleman in den orangenen Plüschhosen.

»Ja, auf meine Ehre«, sagte der Blaue. »Ich hatte versprochen, unsere jüngste Tochter um halb zehn Uhr abzuholen, und sie ist ein so schönes Frauenzimmer, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, sie warten zu lassen. Ich wollte die Gesellschaft dadurch nicht beleidigen, Sir, aber eine Schürze, Sir – eine Schürze, Sir, da kann man nicht widerstehen.«

»Sie Schwerenöter, Sie«, sagte Tuckle, als der neue Ankömmling sich neben Sam setzte. »Es ist mir schon ein paarmal aufgefallen, daß sie sich sehr fest an Ihre Schultern lehnt, wenn sie in den Wagen hinein- oder heraussteigt.«

»Ja freilich, freilich, Tuckle: aber von so etwa« darf man nicht reden«, sagte der Blaurock; »es schickt sich nicht. Ich habe vielleicht zu einem oder zwei Freunden gesagt, daß sie ein göttliches Geschöpf ist, und ohne einleuchtende Gründe schon einen oder zwei Anträge zurückgewiesen hat; aber – – nein, nein, nein, wahrhaftig, Tuckle – und besonders vor Fremden – das ist nicht recht – Sie sollten es nicht tun. Zartgefühl, mein teurer Freund, Zartgefühl!«

Und der Blaurock ordnete sein Halstuch, zupfte seine Handkrausen zurecht, blinzelte und schnitt dabei Grimassen, als ob er noch viel sagen könnte, wenn er wollte, und wenn ihm nicht die Ehre zu schweigen geböte.

Da der Blaue ein blondlockiger, steifnackiger, munterer, unbefangener Bursche von keckem, prahlhansigem Aussehen war, so hatte er gleich im Anfang Herrn Wellers besondere Aufmerksamkeit erregt. Als er sich aber vollends auf diese Art auszulassen begann, fühlte Sam noch größere Lust, seine Bekanntschaft zu machen und knüpfte daher mit seiner charakteristischen Ungezwungenheit ohne weiteres eine Unterhaltung mit ihm an.

»Ihre Gesundheit, Sir«, sagte er zu ihm. »Sie gefallen mir. Wir müssen Freundschaft schließen.«

Der Blaurock lächelte, als wäre er an Komplimente dieser Art längst gewöhnt, blickte jedoch Sam freundlich an und sagte, »er hoffe, näher mit ihm bekannt zu werden, denn er scheine ihm ohne alle Schmeichelei ein ganz angenehmer Bursche zu sein – ganz der Mann nach seinem Herzen.«

»Sie sind gar zu gütig, Sir«, erwiderte Sam. »Was für ein Glückskind Sie sind!«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Gentleman im blauen Rock.

»Ich meine die junge Dame«, erwiderte Sam. »Die wird schon wissen, was sie zu tun hat. Ich verstehe wohl.«

Herr Weller schloß ein Auge und schüttelte seinen Kopf auf eine Art, die für die persönliche Eitelkeit des Gentleman im blauen Gewand höchlich befriedigend war.

»Ich fürchte, Sie sind ein verfluchter Kerl, Herr Weller«, sagte er.

»Nein, nein«, erwiderte Sam. »Ich überlasse das Ihnen. Sie haben weit mehr davon als ich, wie der Gentleman auf der sicheren Seite der Gartenmauer zu dem Manne draußen sagte, während der wütende Stier die Gasse hinausjagte.«

»Na schön, Herr Weller«, sagte der Blaurock, »ich dächte wenigstens, sie hat meine Art und mein Wesen wohl bemerkt, Herr Weller.«

»Das soll mich nicht im geringsten wundern«, erwiderte Sam.

»Haben Sie auch so eine kleine Geschichte dieser Art, Sir?« antwortete der begünstigte Gentleman im blauen Rock, indem er einen Zahnstocher au« seiner Westentasche zog.

»So eigentlich nicht«, antwortete Sam. »In meinem Hause gibt es keine Töchter, sonst würde ich mich natürlich auch an eine herangemacht haben. So aber würde ich es unter einer Marquise nicht tun. Doch ließe ich mir zur Not noch eine junge Dame mit großem Vermögen gefallen, wenn sie auch keinen Titel hätte, aber recht rasend in mich verliebt wäre, sonst durchaus nicht.«

»Das will ich doch meinen, Herr Weller«, sagte der Blaue. »Man darf sich nicht wegwerfen, und wir, wir als Männer von Welt und Erfahrung, wissen, Herr Weller, daß eine hübsche Uniform bei den Damen früher oder später immer ihre Wirkung tut. Unter uns gesagt, das ist auch das einzige, warum es sich der Mühe lohnt, in einen Dienst zu gehen.«

»Ganz recht«, sagte Sam, »so denke ich auch.«

Als dieses vertrauliche Zwiegespräch soweit gediehen war, wurden Gläser gebracht und jeder der Gentlemen bestellte, was er wollte, bevor das Wirtshaus geschlossen wurde. Der Blaue und der Orangefarbene, die die Häupter dieser auserlesenen Gesellschaft waren, bestellten »kalten Shrub«9 und Wasser; das Lieblingsgetränk der andern aber schien Wacholderbranntwein und Zucker zu sein. Sam nannte den Gemüsehändler einen fürchterlichen Dummkopf und bestellte eine große Bowle Punsch, zwei Heldentaten, die ihn in den Augen dieser Notabilitäten sehr zu heben schienen.

»Meine Herren«, rief der Blaurock mit dem Anstand und den Gebärden des vollendetsten Dandy, »die Damen sollen leben!«

»Hört, hört«, sagte Sam. »Die jungen Bälger.«

Jetzt wurde laut zur Ordnung gerufen, und Herr John Smauker, als der Gentleman, der Herrn Weller in die Gesellschaft eingeführt hatte, nahm sich die Freiheit, ihm zu bemerken, der Ausdruck, dessen er sich bedient, sei unparlamentarisch.

»Welchen andern hätte ich denn wählen sollen, Sir?« fragte Sam.

»Bälger, Sir?« erwiderte Herr John Smauker mit beunruhigendem Stirnrunzeln. »Wir erkennen solche Definitionen nicht an.«

»Ah, sehr gut«, sagte Sam, »so will ich die Bemerkung verbessern und sie mit Erlaubnis des Herrn Feuerbrand süße Engelein nennen.«

Im Gemüt des Gentleman mit den grünen Samthosen schien einiger Zweifel vorzuwalten, ob man den Präsidenten füglich Feuerbrand nennen könne; da die Gesellschaft sich aber nicht daran stieß, so wurde die Frage nicht aufgeworfen. Der Mann mit dem aufgestülpten Hut atmete kurz und blickte Sam lange an, hielt es aber offenbar für geratener, nichts zu sagen, um nicht noch schlimmer wegzukommen.

Nach einer kurzen Pause rührte ein Gentleman mit einem bordierten Rock, der ihm bis an die Fersen ging, und ebensolcher Weste, die eine Hälfte seiner Beine warm hielt, mit großer Energie seinen Wacholderbranntwein und Wasser, erhob sich dann auf einmal mit gewaltiger Anstrengung und sagte, er wünsche der Gesellschaft einiges mitzuteilen, worauf der Herr mit dem aufgestülpten Hut durchaus nicht zweifelte, daß die Gesellschaft sich sehr glücklich schätzen werde, einiges zu hören, was der Herr mit dem langen Rock ihr vorzutragen wünsche.

»Meine Herren«, begann dieser; »nur mit großer Schüchternheit wage ich es, vor Sie zu treten, da ich das Unglück habe, ein Kutscher zu sein und nur als Ausnahmegast zu diesen angenehmen Schmausereien zugelassen bin. Aber, meine Herren, ich fühle mich verbunden – in die Ecke getrieben – wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf – eine betrübende Tatsache bekanntzumachen, die mir zu Ohren gekommen ist, und von der ich wohl sagen darf, daß sie mir den ganzen Tag vor den Augen geschwebt hat. Meine Herren, unser Freund, Herr Whiffers (aller Augen richteten sich auf den Orangefarbigen), unser Freund, Herr Whiffers, hat gekündigt.«

Allgemeines Erstaunen lag über den Zuhörern. Jeder sah seinen Nachbar an und ließ dann die Blicke wieder auf den stehenden Kutscher gleiten.

»Ja, meine Herren«, fuhr dieser fort, »Sie haben Ursache, verwundert zu sein. Ich will es nicht wagen, mich über die Gründe dieses unersetzlichen Verlustes für den Dienst auszulassen, aber ich möchte Herrn Whiffers bitten, dieselben zur Belehrung und Nachahmung seiner bewundernden Freunde selbst anzugeben.«

Da der Antrag mit lautem Beifall angenommen wurde, so erklärte sich Herr Whiffers bereit. Er sagte, er hätte allerdings wünschen können, den Posten, den er nunmehr aufgegeben, länger zu behalten. Die Uniform sei glänzend und kostbar gewesen, die Frauenzimmer in der Familie äußerst angenehm und die Pflichten seiner Stellung, wie er nicht anders sagen könne, keineswegs zu beschwerlich, denn sein Hauptdienst habe darin bestanden, in Gesellschaft eines andern Gentleman, der ebenfalls gekündigt habe, soviel wie möglich aus dem Fenster neben dem Hausflur hinauszusehen. Er hätte der Gesellschaft gern die widrigen und empörenden Details, auf die er eingehen müsse, erspart, da man aber eine Erklärung von ihm gefordert, so habe er keine andere Wahl, als deutlich und geradeheraus zu gestehen, daß man ihm zugemutet habe, kalte Küche zu essen.

Es ist unmöglich, die Entrüstung zu begreifen, die diese Mitteilung in den Busen der Zuhörer erweckte. Ein lautes Geschrei: »Pfui! pfui!« mit Murren und Gezische vermischt, dauerte wenigstens eine Viertelstunde.

Herr Whiffers fügte jetzt hinzu, er fürchte, einen Teil dieser Schmach durch sein nachgiebiges und geduldiges Wesen selbst verschuldet zu haben. Er erinnere sich deutlich, daß er sich einmal herabgelassen habe, gesalzene Butter zu essen, und ein andermal, als jemand im Hause plötzlich erkrankt sei, habe er sich sogar soweit vergessen, einen Kohleneimer in den zweiten Stock hinauf zu tragen. Er hege die Zuversicht, daß er durch dieses offene Geständnis seiner Fehler in der guten Meinung seiner Freunde nicht gesunken sei, oder wenn dies geschehen sein sollte, so hoffe er, daß die Schnelligkeit, womit er die soeben erzählte letzte schamlose Verletzung seiner Gefühle gerächt habe, ihn in ihre Achtung wieder einsetzen werde.

Herrn Whiffers Rede belohnte schallender Bewunderungszuruf, und voll Enthusiasmus wurde die Gesundheit des hochsinnigen Märtyrers getrunken. Der Märtyrer dankte und brachte einen Toast auf ihren Gast, Herrn Weller, aus – einen Gentleman, den er zwar nicht das Vergnügen habe, genauer zu kennen, der aber der Freund des Herrn John Smauker sei, was in jeder Gesellschaft von Gentlemen als ein hinreichender Empfehlungsbrief betrachtet werden müsse. Deshalb würde er sich gedrungen gefühlt haben, Herrn Wellers Gesundheit mit allen Ehren auszubringen, wenn seine Freunde Wein tränken; da sie aber der Abwechslung halber Branntwein vorgezogen, und es nicht ratsam sein möchte, bei jedem Toaste einen Humpen zu leeren, so schlage er vor, die Ehren stillschweigend vorauszusetzen.

Beim Schluß dieser Rede schlürften alle zu Ehren Sams ein wenig aus ihren Bechern, und nachdem Sam sich selbst zu Ehren zwei volle Gläser Punsch herausgeschöpft und hinabgestürzt hatte, dankte er in einer wohlgesetzten Rede.

»Kameraden«, begann er, indem er so unbefangen wie möglich sein Glas füllte; »ich bin sehr verbunden für dieses Kompliment, das mich beinahe zu Boden drückt, da es von solchen Ehrenmännern kommt. Ich habe schon viel von Ihnen als Korporation gehört, aber das muß ich sagen, ich hätte nie geglaubt, daß Sie so außerordentlich angenehme Leute wären, wie ich jetzt in Ihnen gefunden habe. Ich hoffe nur, daß Sie acht auf sich selbst nehmen und Ihrer Würde nichts vergeben, denn es ist sehr hübsch anzusehen, wenn einer auf der Straße geht, und dieser Anblick hat mir von jeher sehr viel Vergnügen gemacht, schon als ich noch ein Knabe war und kaum halb so hoch als der mit einem Messingknopf versehene Stock meines ehrenwerten Freundes Feuerbrand da. Was das Opfer der Unterdrückung in dem Schwefelkleide betrifft, so kann ich weiter nichts sagen, als daß ich hoffe, er werde einen so guten Platz bekommen, wie er es verdient, in welchem Fall man ihm sehr wenig mit kalter Küche beschwerlich fallen wird.«

Hier setzte sich Sam mit einem anmutsvollen Lächeln; seine Rede wurde stürmisch beklatscht, und ein Teil der Gesellschaft machte Anstalt, aufzubrechen.

»Wie, Sie werden doch nicht im Ernst schon gehen wollen, alter Kollege«, sagte Sam Weller zu seinem Freunde, Herrn John Smauker.

»Ach Gott, ich muß«, erwiderte Herr Smauker: »ich habe es Bantam versprochen.«

»Dann ist’s was anderes«, erwiderte Sam. »Vielleicht würde er kündigen, wenn Sie lange auf sich warten ließen. Aber Sie gehen doch noch nicht, Feuerbrand?«

»O freilich«, erwiderte der Mann mit dem aufgestülpten Hut.

»Wie, und Dreiviertel einer Punschbowle zurücklassen?« eiferte Sam. »Das wäre ja Unsinn! Setzen Sie sich wieder.«

Herr Tuckle vermochte dieser Einladung nicht zu widerstehen. Er stellte den aufgestülpten Hut sowie den Stock, den er soeben ergriffen hatte, wieder auf die Seite und sagte, um der guten Kameradschaft willen wolle er noch ein Gläschen trinken.

Da der hellblaue Gentleman denselben Heimweg hatte wie Herr Tuckle, so ließ auch er sich überreden, noch zu bleiben. Als der Punsch etwa halb getrunken war, bestellte Sam noch Austern aus des Gemüsehändlers Laden, und die Wirkung von beiden war so außerordentlich erheiternd, daß Herr Tuckle mit seinem aufgestülpten Hut und Stock auf dem Tische zwischen den Austernschalen den Froschhornpipe tanzte, während ihm der hellblaue Gentleman auf einem sinnreichen Instrument, bestehend aus einem Haarkamm und einem Papierstreif, dazu aufspielte. Endlich, als der Punsch getrunken und die Nacht so ziemlich vorüber war, machten sie sich auf, in der Absicht, ein Haus weiterzugehen. Kaum war Herr Tuckle an der frischen Luft, als ihn auf einmal der Wunsch ankam, sich auf das Straßenpflaster niederzulegen, und Sam, der es für eine Sünde gehalten hätte, ihm zu widersprechen, ließ ihn gewähren. Da jedoch der aufgestülpte Hut leicht hätte verdorben werden können, wenn man ihn hier ließ, so drückte er denselben klugerweise dem hellblauen Herrn auf den Kopf, gab ihm den dicken Stab in die Hand, lehnte ihn sofort an seine Haustür, läutete und ging ruhig nach Hause.

An diesem Morgen war Herr Pickwick früher als gewöhnlich aufgestanden; er ging vollständig angekleidet die Treppen hinab und läutete.

»Sam«, sagte er, als Herr Weller auf das Geklingel erschien, »schließ die Tür zu.«

Herr Weller tat es.

»Wir haben«, fuhr Herr Pickwick fort, »heute Nacht einen unglückseligen Vorfall gehabt, infolgedessen Herr Winkle Gewalttätigkeiten von Herrn Dowler befürchten muß.«

»Ich habe es schon von der Alten unten gehört«, erwiderte Sam.

»Und«, erzählte Herr Pickwick mit höchst verdrießlicher Miene weiter, »ich muß leider hinzufügen, daß Herr Winkle sich aus Furcht vor diesen Gewalttätigkeiten davongemacht hat.«

»Davongemacht?« sagte Sam.

»Er hat diesen Morgen sehr früh, ohne die geringste Beratung mit mir, das Haus verlassen«, erklärte Herr Pickwick. »Und er ist davongegangen, ohne daß ich weiß, wohin.«

»Er hätte dableiben und die Sache ausfechten sollen, Sir«, versetzte Sam verächtlich. »Ich wollte mit diesem Dowler schon fertig werden, Sir.«

»Gut, Sam«, sagte Herr Pickwick; »auch ich habe meine Zweifel an seiner großen Tapferkeit und Entschlossenheit. Aber dem sei wie ihm wolle, Herr Winkle ist nun einmal nicht mehr da. Er muß aufgesucht und zu mir zurückgebracht werden, Sam.«

»Wenn er aber nicht mehr kommen will, Sir?« fragte Sam.

»So muß man ihn dazu zwingen, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Und wer soll das tun, Sir?« fragte Sam mit einem Lächeln.

»Du«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sehr wohl, Sir.«

Mit diesen Worten verließ Herr Weller das Zimmer, und man hörte ihn bald nachher die Haustür schließen. Zwei Stunden nachher kehrte er so ruhig zurück, als hätte man ihn mit dem allergewöhnlichsten Auftrag abgesandt, und brachte die Nachricht, ein Individuum, dessen Beschreibung in jeder Beziehung auf Herrn Winkle passe, sei heute morgen mit der Postkutsche von Royal- Hotel weg nach Bristol gefahren.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, seine Hand ergreifend: »du bist ein Kapitalkerl, den man in Gold fassen sollte. Du mußt ihm nachreisen, Sam.«

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Sobald du ihn entdeckst, schreibst du es mir auf der Stelle, Sam«, fuhr Herr Pickwick fort: »und wenn er einen Versuch macht, zu entfliehen, so schlägst du ihn zu Boden oder sperrst ihn ein. Du hast meine unumschränkte Vollmacht, Sam.«

»Ich werde alles getreu befolgen«, erwiderte Sam.

»Sage ihm«, setzte Herr Pickwick hinzu, »ich sei im höchsten aufgebracht, erzürnt und empört über das äußerst auffallende benehmen, das er sich habe zuschulden kommen lassen.«

»Das will ich, Sir«, erwiderte Sam.

»Sage ihm ferner«, fuhr Herr Pickwick fort, »wenn er nicht mit dir in dieses Haus zurückkehren wolle, so werde er mit mir zurückkehren müssen, denn ich würde selbst kommen und ihn holen.«

»Ich werde es ausrichten, Sir«, versprach Sam.

»Meinst du wirklich, daß du ihn finden werdest, Sam?« fragte Herr Pickwick, ihm scharf in’s Gesicht sehend.

»O ich will ihn schon finden, er mag sein, wo er will«, erwiderte Sam mit großer Zuversicht.

»Sehr gut«, sagte Herr Pickwick; »so reise je eher, je lieber, ab.«

Mit diesen Instruktionen drückte Herr Pickwick seinem getreuen Diener eine Summe Geldes in die Hand und befahl ihm, sogleich nach Bristol abzureisen, um den Flüchtling einzuholen.

Sam packte einige notwendige Sachen in einen Koffer und war bereit, aufzubrechen. Am Ende des Ganges blieb er stehen, kehrte noch einmal um und steckte den Kopf durch die Tür.

»Sir«, flüsterte Sam.

»Was ist’«, Sam?« erwiderte Herr Pickwick.

»Ich habe doch meine Instruktionen recht verstanden, Sir?« fragte Sam.

»Ich hoffe wenigstens«, sagte Herr Pickwick.

»Habe ich das mit dem Niederschlagen buchstäblich zu verstehen?« fragte Sam weiter.

»Allerdings«, erwiderte Herr Pickwick: »ganz buchstäblich. Tu, was du für nötig hältst. Du hast meine Vollmacht.«

Sam nickte einverstanden, zog seinen Kopf aus der Tür und begab sich leichten Herzens auf seine Wanderschaft.

  1. Zucker, Branntwein und Zitronensaft.