Achtzehntes Kapitel

Worin mit wenigen Worten zwei Punkte dargetan werden: erstens die Macht der Krämpfe, und zweitens die Gewalt der Umstände.

Zwei Tage nach dem Frühstück bei Mrs. Hunter blieben die Pickwickier noch in Eatanswill und erwarteten mit Spannung irgendwelche Nachrichten von ihrem verehrten Meister. Mr. Tupman und Mr. Snodgraß waren wieder lediglich auf ihre eigenen geselligen Talente angewiesen, wogegen Mr. Winkle auf die dringendsten Einladungen hin bei Pott wohnte, wo er seine ganze Zeit der liebenswürdigen Frau des Hauses widmete. Bisweilen wohnte Mr. Pott selbst der Unterhaltung bei, um das Glück der beiden vollständig zu machen. Stets tief in seine großartigen Pläne für die öffentliche Wohlfahrt und die gänzliche Vernichtung des „Independent“ versunken, pflegte sich der große Mann von seinem hohen geistigen Standpunkt im allgemeinen nicht in die niedrige Sphäre gewöhnlicher Geister herabzulassen, bei seltenen Gelegenheiten aber, zum Beispiel, wenn es galt, einen Pickwickier dadurch zu ehren, stieg er von seinem Piedestal herab auf die Erde und paßte dabei huldreich seine Bemerkungen dem Verständnis der großen Menge an und schien, wenn auch nicht dem Geiste nach, so doch äußerlich, ihr anzugehören.

Bei diesem Benehmen des berühmten Publizisten kann man sich leicht denken, daß gewaltige Überraschung auf dem Gesichte Mr. Winkles zu lesen war, als eines Morgens, während er allein frühstückte, Mr. Pott hastig die Tür aufriß und ebenso hastig wieder zuschlug, majestätisch auf ihn zuschritt, die dargebotne Hand zurückstieß, mit den Zähnen knirschte, um dadurch seinen Worten noch größere Schärfe zu geben, und mit grimmiger Stimme losdonnerte:

„Schlange!“

„Sir!!“ rief Mr. Winkle und sprang von seinem Stuhle auf.

„Schlange, Sir“, wiederholte Mr. Pott, erhob seine Stimme und dämpfte sie dann plötzlich wieder. „Ich sagte Schlange, Sir, nehmen Sie den Ausdruck in seiner schärfsten Bedeutung.“

Wenn man bis morgens um zwei Uhr in der vertraulichsten Kameradschaftlichkeit mit einem Manne zusammengesessen hat, und er kommt dann um halb zehn Uhr mit der ernsten Begrüßung: „Schlange!“ herein, kann man mit Fug und Recht schließen, daß sich in der Zwischenzeit irgend etwas Unangenehmes zugetragen hat. So dachte auch Mr. Winkle.

Er erwiderte Mr. Potts eisigen Blick und nahm auf Verengen des erzürnten Publizisten die „Schlange“ so stark er konnte, ohne daß ihm jedoch die Sache dadurch verständlicher wurde.

„Schlange, Sir? Schlange, Mr. Pott? Was meinen Sie damit, Sir? Sie belieben zu scherzen.“

„Scherzen, Sir?“ rief Mr. Pott mit einer Handbewegung, die ein heftiges Verlangen verriet, seinem Gast den Teetopf aus Britanniametall an den Kopf zu schleudern. „Ha – Scherzen!! Doch nein, ich will mich beherrschen; ich will mich beherrschen, Sir“, setzte er hinzu und warf sich zum Beweis, daß ihm das bereits gelungen, mit schäumendem Rachen in einen Stuhl.

„Mein lieber Herr …“, begann Mr. Winkle.

„Mein lieber Herr!?“ fuhr Pott auf. „Wie können Sie sich unterstehen, Sir, lieber Herr zu mir zu sagen? Wie können Sie es wagen, mir überhaupt noch ins Gesicht zu sehen?“

„Gut, gut, Sir“, antwortete Mr. Winkle. „Wenn Sie schon das Wort .wagen‘ gebrauchen, wie können Sie es wagen, mir ins Gesicht zu sehen und mich eine Schlange zu nennen, Sir?“

„Weil Sie eine sind.“

„Beweisen Sie mir das, Sir“, sagte Mr. Winkle, warm werdend. „Beweisen Sie mir das!“

Ein Widerschein ingrimmiger Wut flog über sein durchgeistigtes Gesicht, als der Publizist das Morgenblatt des „Independent“ aus der Tasche zog. Er wies mit dem Finger auf einen Artikel und warf dann die Zeitung Mr. Winkle über den Tisch zu.

Betroffen las Mr. Winkle, wie folgt:

„Unser obskurer und niedrig gesinnter Kollege hat die Frechheit gehabt, in einigen ekelerregenden Bemerkungen über die letzte Wahl dieser Stadt die unantastbare Heiligkeit des Privatlebens zu verletzen und auf eine Art, die nicht mißverstanden werden kann, die persönlichen Angelegenheiten unsres letzten Kandidaten, Mr. Fizkins, zu begeifern, der übrigens trotz seiner unverdienten Niederlage, wie wir mit Sicherheit voraussagen können, das nächstemal den Sieg davontragen wird. Was würde der Schurke sagen, wenn wir, gleich ihm, alle dem Publikum schuldigen Rücksichten des Anstände“ beiseite setzen und den Schleier lüften wollten, der glücklicherweise sein Privatleben vor dem allgemeinen Gelächter, um nicht zu sagen, vor der allgemeinen Entrüstung, noch schützt? Was würde er sagen, wenn wir Tatsachen und Umstände näher beleuchten wollten, die zu offenkundig sind, um nicht von jedermann gesehen zu werden, außer von unserem maulwurfäugigen Kollegen? Was würde er sagen, wenn wir nachfolgendes Gedichtchen drucken lassen wollten, das uns ein talentvoller Mitbürger und Korrespondent zugeschickt hat, als wir eben die ersten Worte dieses Artikels niederschrieben:

AN EINEN LEEREN POT

Oh, Pot! Oh, hättest du gewußt,

Wie falsch das Weib an deiner Brust,

Vergangen wäre dir der Dünkel.

Du hättest sie, ach, wie so gern,

Gelassen gleich dem süßen Herrn,

Den sie jetzt küßt und herzt, dem W…..“

„Was“, fragte Mr. Pott feierlich, „was reimt sich auf Dünkel, Sie Elender?“

„Was sich auf Dünkel reimt?“ erwiderte Mrs. Pott, die in diesem Augenblick eintrat und der Antwort zuvorkam. „Was sich auf Dünkel reimt? Nun, ich dächte, Winkle.“

Zärtlich lächelte sie dem verblüfften Pickwickier zu und streckte ihm die Hand entgegen. Der aufgeregte junge Mann wollte sie in seiner Verwirrung ergreifen, aber Mr. Pott trat zornig zwischen ihn und seine Gattin.

„Zurück, Ma’am, zurück! Wollen Sie ihm vor meinen eigenen Augen noch die Hand reichen?“

„Mr. P.“, sagte die Dame erstaunt.

„Elende“, donnerte der Publizist. „Da, sieh her! Hier, Madame, ein Gedichtchen auf einen leeren Topf. Ein leerer Topf, das bin ich, Ma’am. Das falsche Weib, Ma’am, das sind Sie.“

Mit diesem Wutausbruch, der so etwas wie ein leichtes Beben auf dem Gesicht seiner Frau hervorrief, warf er ihr die Morgennummer des „Eatanswiller Independenten“ vor die Füße.

„So wahr ich hier stehe, mein Herr“, sagte Mrs. Pott erstaunt und bückte sich, um das Blatt aufzuheben. „So wahr ich hier stehe, mein Herr!“ Es scheint so, als läge nichts Schreckliches in dem kurzen Satz: „So wahr ich hier stehe, mein Herr“ – wenn er einem gedruckt begegnet; aber der Ton, in dem er ausgesprochen, und der Blick, von dem er begleitet wurde, schienen ein Ungewitter anzukündigen, das sich über Mr. Potts Haupt zusammenzog, und machten gebührenden Eindruck auf ihn. Auch ein völlig ahnungsloser Beobachter hätte aus Potts besorgter Miene die Bereitwilligkeit ablesen können, seine Stiefeletten jedem geeigneten Stellvertreter zu überlassen, der in diesem Augenblick Neigung gezeigt hätte, in ihnen an Ort und Stelle stehenzubleiben.

Mrs. Pott durchflog den Artikel, stieß einen gellenden Schrei aus, warf sich ihrer ganzen Länge nach auf den Teppich vor dem Kamin nieder, schrie dabei und stampfte dermaßen mit den Absätzen, daß über ihren Seelenzustand kein Zweifel obwalten konnte.

„Meine Liebe“, rief Pott, der vor Schreck erstarrte, „ich sagte doch nicht, daß ich glaube, ich …“ Aber seine Stimme wurde von dem Geschrei seiner Ehehälfte übertönt.

„Meine liebe Mrs. Pott, ich bitte Sie, beruhigen Sie sich“, flehte Mr. Winkle; aber das Geschrei und Gestampfe wurde immer lauter und heftiger.

„Meine Liebe“, begann Mr. Pott von neuem, „es tut mir wirklich äußerst leid. Wenn du schon keine Rücksicht auf deine Gesundheit nehmen willst, so nimm doch Rücksicht auf mich, meine Liebe. Die Leute werden vor unserem Hause zusammenlaufen.“ Aber je inständiger er bat, desto gellender und kreischender wurde das Geschrei seiner Gemahlin.

Zum Glück befand sich nun eine Mrs. Pott sehr ergebene Leibwache im Hause, eine junge Dame, deren Amt nach außen hin in der Beaufsichtigung der Garderobe bestand. Tatsächlich machte sie sich auf vielerlei Art nützlich; ganz besonders, wenn es sich darum handelte, denjenigen Wünschen und Neigungen ihrer Herrin Vorschub zu leisten und nachzuhelfen, die den Intentionen des unseligen Pott zuwiderliefen. Das Geschrei drang natürlich zu den Ohren dieser jungen Dame und lockte sie mit einer Eile ins Zimmer, die das ausgesuchte Arrangement ihrer Haube und Frisur bedenklich zu derangieren drohte.

„Oh, meine teure, teure Mistreß“, rief die Leibwache und warf sich wie wahnsinnig neben Mrs. Pott auf die Knie, „oh, meine teuerste Mistreß, was ist geschehen?“

„Dein Herr, dieses Ungeheuer“, murmelte die Patientin.

Pott war sichtlich betreten.

„Es ist eine Schande“, sagte die Leibwache in vorwurfsvollem Tone. „Oh, er wird Sie noch zu Tode quälen, Ma’am. Oh, Sie arme, liebe Frau.“ Pott wurde immer weicher, aber die Gegenpartei schritt rücksichtslos zum Angriff.

„Verlaß mich nicht, verlaß mich nicht, Goodwin“, murmelte Mrs. Pott, krampfhaft die Handgelenke besagter Goodwin umfassend. „Du bist das einzige Wesen auf der Welt, das es gut mit mir meint.“

Goodwin hielt den Augenblick für günstig, auf eigne Faust eine kleine Haustragödie zu veranstalten, und vergoß einen Strom von Tränen.

„Niemals, Ma’am, niemals“, schluchzte sie. „Oh, Sir, Sie sollten sich mehr in acht nehmen; ja, wahrhaftig, das sollten Sie; Sie wissen nicht, wie sehr es Madame schaden kann; ich weiß, Sie werden es noch einmal bitter bereuen, ich habe es immer gesagt.“

Der unglückliche Pott betrachtete angstvoll und stumm die Szene.

„Goodwin“, flüsterte Mrs. Pott mit ersterbender Stimme.

„Ma’am?“

„Ach, wenn du wüßtest, wie ich diesen Mann geliebt habe …“

„Denken Sie nicht daran! Es quält Sie, Ma’am“, sagte die Leibgarde.

Pott schnitt ein jammervoll-ängstliches Gesicht. Jetzt war es Zeit, ihm den Gnadenstoß zu geben.

„Und jetzt“, schluchzte Mrs. Pott, „jetzt muß ich mich so behandeln lassen, muß mir in Gegenwart eines Dritten, der so gut wie ein Fremder ist, Vorwürfe machen und mich beschimpfen lassen. Nein, Goodwin, ich ertrage es nicht länger“, stieß sie hervor und richtete sich in den Armen ihrer Wärterin auf. „Mein Bruder ist Leutnant. Er muß die Sache in die Hand nehmen. Ich will mich scheiden lassen, Goodwin.“

„Es würde ihm jedenfalls recht geschehen“, sagte Goodwin mit einem Blick auf den unglücklichen Publizisten.

Was für Gefühle die Androhung einer Scheidung in Mr. Potts Brust auch erregen mochte, er unterließ es, sie in Worte zu kleiden, und begnügte sich mit der de- und wehmütigen Frage: „Willst du mich nicht anhören, mein Engel?“

Ein neuerliches Schluchzen war die einzige Antwort. Die Krämpfe stellten sich wieder ein, und Mrs. Pott wollte unaufhörlich wissen, warum sie eigentlich geboren sei, und verlangte noch andere einschlägige Auskünfte.

„Mein Engel“, ließ Mr. Pott sich vernehmen, „gib doch solchen quälenden Gefühlen nicht Raum. Ich habe wirklich keinen Augenblick geglaubt, daß der Artikel auch nur die mindeste Begründung haben könnte; nein, Teuerste, das wäre ja rein unmöglich. Es ärgerte mich nur, meine Liebe; ja, ich darf wohl sagen, es machte mich wütend, daß das Independentenpack sich erfrechen konnte, ein solches Schandgedicht zu veröffentlichen. Das ist alles.“ Mr. Pott warf einen flehenden Blick auf die unschuldige Ursache des ganzen Unheils, als wolle er ihn bitten, ja nichts von der „Schlange“ zu sagen.

„Und was für Maßregeln, Sir, gedenken Sie zu ergreifen, um sich Genugtuung zu verschaffen?“ fragte Mr. Winkle, dessen Mut in eben dem Maße zunahm, als er Pott den seinigen verlieren sah.

„Ach, Goodwin“, ächzte Mrs. Pott, „wird er den Redakteur des ,Independent‘ durchpeitschen? Sag mir nur das eine, Goodwin!“

„Still, still, Ma’am; bitte, seien Sie doch/ruhig“, tröstete die Leibwache. „Ich bin überzeugt, er wird es tun, wenn Sie es wünschen, Ma’am.“

„Auf alle Fälle“, sagte Pott rasch, als er sah, daß seine Ehehälfte entschlossen schien, wieder Krämpfe zu bekommen. „Das versteht sich doch von selbst.“

„Wann, Goodwin, wann?“ fragte Mrs. Pott, immer noch schwankend, ob sie nicht doch in Ohnmacht fallen solle.

„Auf der Stelle, versteht sich“, erwiderte Mr. Pott. „Heute noch.“

„Ach, Goodwin“, fing Mrs. Pott aufs neue an, „das ist das einzige Mittel, die Beleidigung zu rächen und mich vor der Welt wieder zu rehabilitieren.“

„Ganz gewiß, Ma’am“, versicherte Goodwin. „Kein Mann, der wirklich ein Mann ist, könnte sich weigern.“

Da die Krämpfe noch immer drohend im Hinterhalt lauerten, beteuerte Mr. Pott aufs neue, er werde alles tun; aber schon der bloße Gedanke, ihre Ehre könne nur im mindesten in Zweifel gezogen werden, beunruhigte seine Gattin dermaßen, daß sie bestimmt noch ‚ein halbes dutzendmal Rückfälle bekommen haben würde, wenn nicht die unverdrossene Goodwin durch unermüdliche Anstrengungen und der arme, geschlagene Pott durch wiederholtes flehentliches Bitten um Verzeihung es verhindert hätten. Erst als der Unglückliche wieder durch Androhung von Krämpfen und Vorwürfen aller Art in seine gewohnten Schranken zurückgedrängt war, erholte sich Mrs. Pott so weit, daß man zum Frühstück gehen konnte. „Der niederträchtige Zeitungsklatsch wird Sie doch nicht etwa veranlassen, Ihren Aufenthalt bei uns abzukürzen, Mr. Winkle?“ fragte sie, durch Tränen lächelnd.

„Das will ich nicht hoffen“, fiel Mr. Pott ein, tief innerlich von dem Wunsche durchdrungen, sein Gast möge an der gerösteten Brotschnitte, die er soeben an seine Lippen führte, ersticken und dadurch seinem Aufenthalt auf immer ein Ende machen! „Das will ich nicht hoffen.“

„Sie sind wirklich zu gütig“, sagte Mr. Winkle, „aber ich habe heute früh, als ich noch in meinem Schlafzimmer war, einen Brief von Mr. Tupman erhalten, worin er mir meldet, es sei ein Schreiben von Mr. Pickwick eingetroffen mit der Bitte, noch heute zu ihm nach Bury zu kommen. Wir sind deshalb insgesamt entschlossen, mittags abzureisen.“

„Aber Sie werden doch wieder zurückkommen?“ fragte Mrs. Pott.

„Oh, gewiß“, versicherte Mr. Winkle.

„Darf ich mich darauf verlassen?“ fragte Mrs. Pott und warf ihrem Gast verstohlen einen zärtlichen Blick zu.

„Unbedingt“, antwortete Mr. Winkle.

Das Frühstück wurde schweigend beendet, denn jedes Mitglied der Gesellschaft brütete über seinen eignen persönlichen Angelegenheiten. Mrs. Pott bedauerte sehr, einen Verehrer zu verlieren; ihr Gatte bereute sein unüberlegtes Versprechen, den Redakteur des „Independent“ mit der Hetzpeitsche zu behandeln, und der Gast war ärgerlich, sich in einer so peinlichen Lage zu befinden. Der Mittag rückte heran, und nach manchem Lebewohl und vielfachen Versprechungen, bald wiederzukommen, riß sich Mr. „Winkle endlich los.

Sobald er sich wieder zeigt, vergifte ich ihn, schwor Mr. Pott innerlich, als er sich in seine Studierstube zurückzog, um seine Donnerkeile zu schmieden.

„Wenn ich je wieder zurückkomme und mich noch mal mit diesem Pack einlasse, dachte Mr. Winkle auf seinem Weg zum „Pfau“, so verdiene ich selbst die Hundepeitsche, und damit Punktum.

Seine Freunde standen bereit, Kutsche und Pferde ebenfalls, und im Verlauf von einer halben Stunde befanden sich die Herren auf derselben Straße, auf der Mr. Pickwick und Sam kürzlich ihre Reise gemacht hatten. Da wir den Weg bereits entsprechend geschildert haben, fühlen wir uns nicht berufen, Auszüge aus Mr. Snodgraß‘ herrlich-poetischer Beschreibung mitzuteilen.

Mr. Weller stand vor dem Tore des „Engel“, um sie zu empfangen, und führte sie in das Zimmer Mr. Pickwicks, wo sie zu nicht geringer Überraschung der Herren Winkle und Snodgraß und zur größten Verlegenheit Mr. Tupmans den alten Wardle und Mr. Trundle antrafen.

„Wie geht’s, wie steht’s?“ rief der alte Herr und ergriff Mr. Tupmans Hand. „Sehen Sie doch nicht so sentimental und empfindsam drein. Es läßt sich mal nicht ändern, alter Freund. Um meiner Schwester willen hätte ich gewünscht, daß Sie sie bekommen hätten, aber in Ihrem Interesse freut es mich sehr, daß es nicht so gekommen ist. Ein junger Fant wie Sie kann es heutzutage immer noch besser treffen; oder? Mit diesen Trostesworten klopfte der alte Herr Mr. Tupman auf die Schulter und lachte herzlich.

„Nun, und wie geht es denn Ihnen, meine verehrtesten Herren?“ fuhr er fort, Mr. Winkle und Mr. Snodgraß gleichzeitig die Hände schüttelnd.

„Ich habe soeben zu Pickwick gesagt, daß wir Sie über Weihnachten alle zu Gast haben müssen. Wir müssen diesmal eine Hochzeit bei uns arrangieren, und zwar eine Hochzeit im buchstäblichen Sinne des Wortes.“

„Eine Hochzeit?!“ rief Mr. Snodgraß und wurde blaß wie die Wand.

„Ja, eine Hochzeit. Erschrecken Sie nur nicht gleich; es handelt sich nur um Trundle und Bella.“

„So, so. Ah!“ sagte Mr. Snodgraß, dem ein Stein vom Herzen fiel. „Da gratuliere ich wirklich herzlich, Sir. Und was macht denn unser Joe?“

„Oh, dem geht’s immer gut“, erwiderte der alte Herr. „Schläft wie gewöhnlich.“

„Und Ihre Mutter und der geistliche Herr und die andern alle?“

„Alle wohlauf.“

„Und wo“, fragte Mr. Tupman gepreßt, „wo ist – sie, Sir?“ Er wandte den Kopf ab und bedeckte seine Augen mit der Hand.

Sie?“ wiederholte der alte Herr mit verständnisinnigem Kopfschütteln. „Sie meinen meine ledige Schwester; oder?“ Mr. Tupman nickte stumm und gramverzehrt. „Ach, die ist fort. Sie wohnt jetzt bei Verwandten, weit von hier. Sie konnte sich mit den Mädchen nicht recht vertragen, und darum ließ ich sie ziehen. Aber kommen Sie jetzt, das Essen steht auf dem Tisch. Sie müssen nach Ihrer Fahrt hungrig sein. Ich habe Appetit ohne Fahrt. Also los.“

Die Herren ließen dem Mahl alle Gerechtigkeit widerfahren, und beim Dessert erzählte Mr. Pickwick zum allgemeinen Schrecken und Unwillen seiner Zuhörer das Abenteuer, das er bestanden, und wie leider das Schicksal die Schändlichkeiten des teuflischen Jingle mit Erfolg gekrönt habe.

„Und der Rheumatismus, den ich mir in dem Garten geholt habe“, schloß Mr. Pickwick, „hält mich bis jetzt noch im Zimmer fest.“

„Ich habe auch so eine Art Abenteuer gehabt“, nahm Mr. Winkle lächelnd das Wort und erzählte sofort von dem boshaften Schmähartikel im „Eatanswiller Independenten“ und dem daraus entstandenen Familienzwist im Hause des gemeinsamen Freundes, des Redakteurs.

Mr. Pickwicks Stirn verfinsterte sich sichtlich während dieses Berichtes. Seine Freunde bemerkten es und beobachteten tiefstes Stillschweigen, als Mr. Winkle zu Ende war. Dann schlug Mr. Pickwick mit der geballten Faust heftig auf den Tisch und sprach:

„Es ist doch wirklich unglaublich, daß wir bestimmt zu sein scheinen, kein Haus zu betreten, ohne auf die eine oder andre Art Streit und Zank zu verursachen! Ich frage, beweist es nicht die Unbesonnenheit, oder noch schlimmer, die Gewissenlosigkeit meiner Freunde, so etwas aussprechen zu müssen? Unter welchem Dach man auch einquartiert sein mag, jedesmal kostet es den Seelenfrieden und das Glück irgendeines arglosen weiblichen Wesens! Ist es nicht, sage ich …“

Mr. Pickwick hätte wahrscheinlich noch geraume Zeit so weitergeredet, wäre der Fluß seiner Beredsamkeit nicht durch den Eintritt Sams, der einen Brief brachte, unterbrochen worden; er fuhr sich mit seinem Taschentuch über die Stirn, nahm seine Brille herunter, wischte die Gläser ab, und als er sie aufsetzte, hatte seine Stimme die gewohnte Sanftheit wieder.

„Was hast du da, Sam?“ fragte er.

„Dieser Brief hat schon zwei Tage auf der Post gelegen“, erwiderte Mr. Weller. „Mit ’ner Oblate versiegelt und von ’ner Geschäftsfote geschrieben.“

„Ich kenne die Hand nicht“, sagte Mr. Pickwick und erbrach den Umschlag. „Barmherziger Gott, was ist das? Es muß ein Scherz sein; es – es – kann nicht Ernst sein.“

„Was ist denn los?“ riefen alle wie aus einem Munde.

„Es ist doch niemand gestorben?“ fragte Wardle, beunruhigt durch Mr. Pickwicks sichtliche Bestürzung. Mr. Pickwick reichte den Brief über den Tisch, bat Mr. Tupman, ihn vorzulesen, und sank dann sprachlos vor Entsetzen in seinen Stuhl zurück. Mit stockender Stimme las Mr. Tupman:

„Freemans-Court, Cornhill, den 18. August 1830

In Sachen Bardell kontra Pickwick.

Sir!

Beauftragt von Mrs. Marta Bardell, eine Klage wegen Nichterfüllung eines Eheversprechens gegen Sie einzuleiten, worin die Klägerin eine Entschädigung von fünfzehnhundert Pfund fordert, erlauben wir uns, Sie zu benachrichtigen, daß wir den Prozeß bei dem zuständigen Zivilgerichtshof anhängig gemacht haben. Wir ersuchen Sie, uns gefl. mit umgehender Post Ihren Rechtsfreund in London, der Sie vertreten wird, namhaft zu machen.

Mit vorzüglicher Hochachtung
ergebenst
Dodson und Fogg

An Mr. Samuel Pickwick“

In dem stummen Erstaunen, mit dem jeder der Herren seinen Nachbarn und dann alle zusammen Mr. Pickwick anblickten, lag etwas so Ausdrucksvolles, daß lange Zeit niemand zu sprechen wagte. Endlich brach Mr. Tupman das Stillschweigen.

„Dodson und Fogg“, wiederholte er mechanisch.

„Bardell kontra Pickwick“, sagte Mr. Snodgraß sinnend.

„Seelenfrieden und Glück argloser weiblicher Wesen“, murmelte Mr. Winkle mit zerstreuter Miene.

„Es ist eine Verschwörung!“ ächzte Mr. Pickwick, als er endlich wieder sprechen konnte. „Eine niederträchtige Verschwörung von diesen beiden beutelschneiderischen Advokaten Dodson und Fogg. Mrs. Bardell würde so etwas nie eingefallen sein; sie hat das Herz nicht dazu, und auch keinen Grund. – Lächerlich, wirklich, zu lächerlich.“

„Was ihr Herz anbelangt“, sagte Mr. Wardle und schnitt „in Gesicht, „so müssen Sie das freilich am besten beurteilen können. Ich will Ihnen den Mut nicht nehmen, aber so viel kann ich wohl zuversichtlich behaupten, daß in bezug auf die Klage den Herren Dodson und Fogg ein besseres Urteil zustehen dürfte als uns allen zusammen.“

„Es ist ein niederträchtiger Versuch, Geld zu erpressen“, rief Mr. Pickwick.

„Hoffentlich nichts Schlimmeres“, meinte Mr. Wardle mit einem kurzen, trocknen Husten.

„Wer hat mich je anders mit ihr sprechen sehen als wie als Mieter mit seiner Hauswirtin?“ fuhr Mr. Pickwick mit großer Heftigkeit fort. „Wer hat mich jemals mit ihr allein gesehen? Nicht einmal meine Freunde hier …“

„Ein einziges Mal ausgenommen“, warf Mr. Tupman bescheiden ein.

Mr. Pickwick wechselte die Farbe.

„Hm, hm“, sagte Mr. Wardle. „Das ist aber von großer Wichtigkeit. Es ist doch hoffentlich dabei nichts Verdächtiges vorgefallen?“

Mr. Tupman warf seinem Meister einen schüchternen Blick zu. „N – nein“, sagte er, „nicht gerade etwas Verdächtiges. Aber, ich weiß nicht, wie es zuging, sie lag in seinen Armen.“

„Grundgütiger Himmel!“ stöhnte Mr. Pickwick, dem sich plötzlich die volle Erinnerung an die damalige schreckliche Szene aufdrängte. „Welch furchtbares Beispiel für die Macht der Umstände! Ja, es war so, es war so.“

„Und Sie gaben sich alle Mühe, sie zu beschwichtigen“, warf Mr. Winkle etwas boshaft hin.

„Ja, ja, ja“, nickte Mr. Pickwick kummervoll. „Ich leugne es nicht. Es war so.“

„Hallo! Für einen Fall, an dem nichts Verdächtiges ist, klingt das aber doch ein bißchen wunderlich, meinen Sie nicht auch, Mr. Pickwick; ha? Oh, Sie alter Schlaufuchs!“ Mr. Wardle lachte, daß die Gläser auf dem Kredenztisch klirrten.

„Ein schreckliches Zusammentreffen von Verdachtsmomenten!“ jammerte Mr. Pickwick und griff sich an die Stirn. „Winkle – Tupman – ich bitte Sie wegen meiner Bemerkung von vorhin um Verzeihung. Wir sind samt und sonders Opfer der Umstände, und ich bin das beklagenswerteste.“

Sinnend begrub er das Haupt in den Händen, und Mr. Wardle warf den übrigen Herren bedeutungsvolle Blicke zu.

„Die Sache muß sich aufklären, so oder so“, sagte Mr. Pickwick nach einer Weile, erhob das Haupt und schlug auf den Tisch. „Ich muß diese Dodson und Fogg persönlich sprechen. Morgen fahre ich nach London.“

„Morgen noch nicht“, riet Mr. Wardle. „Sie sind noch zu lahm.“

„Nun gut, dann übermorgen.“

„Übermorgen ist der erste September, und Sie haben uns doch zugesagt, unter allen Umständen den Jagdausflug auf Sir Geoffrey Mannings Besitz mitzumachen!“

„Also gut, dann Donnerstag. Sam!“

„Sir?!“ erwiderte Mr. Weller.

„Bestelle auf Donnerstag früh für uns beide zwei Plätze nach London.“

„Sehr woll, Sir.“ Mr. Weller verließ das Zimmer und schlenderte, die Hände in den Taschen und die Augen sinnend zu Boden geschlagen, langsam auf die Post.

„Ein lockerer Zeisig das, der Alte“, brummte er vor sich hin. „Macht sich da an die Bardell ran, die noch obendrein einen Jungen hat. Jaja, so treiben’s diese alten Wüstlinge, trotz ihres ehrbaren Aussehens. Hätt’s ihm, weiß Gott, nicht zugetraut.“

Und in diesem Tone weiter moralisierend, lenkte Mr. Samuel Weller seine Schritte nach dem Einschreibebüro.