Achtundzwanzigstes Kapitel

Ein heiteres Weihnachtskapitel nebst Erzählung einer Hochzeit und einiger anderer Lustbarkeiten.

So rührig wie Bienen, wenn auch nicht so leicht beschwingt, versammelten sich die vier Pickwickier am Morgen des zweiundzwanzigsten Dezembers in dem Jahre des Heils, in dem alle diese so streng gewissenhaft aufgezeichneten Abenteuer erlebt wurden. Weihnachten stand vor der Tür mit all seiner schlichten und herzlichen Biederkeit; es war die Zeit der Gastlichkeit, des Frohsinns und der Freundschaft, und das alte Jahr schickte sich gleich jenem Philosophen der Antike an, mitten unter Gesang und Becherklang sanft und selig von hinnen zu scheiden. Es war eine fröhliche, schöne Zeit, besonders für vier von den zahlreichen Herzen, die sich sehr auf das herannahende Fest freuten.

Wir wollen uns aber nicht zu sehr in die Vorzüge der Weihnachtszeit verlieren, denn die Pickwickier warten in der Winterkälte darauf, daß die Postkutsche nach Muggleton abfährt, in die sie, eingehüllt in Überröcke und Halstücher, soeben eingestiegen sind. Die Mantel- und Reisesäcke sind schon verpackt, und Mr. Weller bemüht sich zusammen mit dem Kondukteur nur noch, einen riesigen Kabeljau in einen Korb zu pferchen, der wegen seiner Größe als letztes Gepäckstück auf einem halben Dutzend Austerntönnchen verstaut werden soll, die ebenfalls Herrn Pickwick gehören, der gespannt zusieht, wie der Kabeljau allen Kunstgriffen trotzt, bis der Kondukteur ihn ganz unvermutet samt dem Korb in den Kutschkasten hineinstößt, dabei selbst Hals über Kopf nachstürzt und bis zum Brustkorb im Kutschkasten verschwindet.

Alle Umstehenden lachen, Herr Pickwick stiftet dem Kondukteur einen Schilling, worauf dieser zusammen mit Mr. Weller für fünf Minuten verschwindet und beide mit einer Schnapsfahne wiederkehren. Und nun steigt der Kutscher auf den Bock, Mr. Weller springt hinten auf, die Pickwickier mummeln sich in ihre Überröcke und Halstücher und die Fahrt beginnt.

Um drei Uhr nachmittags erreichen die Herren per Postkutsche frisch und gesund, fröhlich und wohlgemut den Blauen Löwen“ von Muggleton, nachdem sie unterwegs eine hinreichende Menge Ale und Brandy zu sich genommen, um dem Frost Trotz bieten zu können, der den Erdboden in eiserne Fesseln schlug und Bäume und Hecken mit seinem schönen Netzwerk umspannte. Mr. Pickwick war eifrig mit der Musterung der Austernfäßchen und der Aufsicht über die Ausladung des Kabeljaus, die er mitgebracht, beschäftigt, als er sich sachte am Rockzipfel gezupft fühlte, und, sich umsehend, die Entdeckung machte, daß das Individuum, das dieses Mittel ergriffen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, niemand anders war als Mr. Wardles Lieblingspage, der fette Junge.

„Aha“, rief Mr. Pickwick.

„Aha“, rief auch der fette Junge, beäugelte zuerst den Kabeljau und dann die Austernfäßchen und gluckste vor Vergnügen. – Er war noch wesentlich fetter geworden.

„Na, du siehst ja recht blühend aus, junger Freund“, sagte Mr. Pickwick.

„Ich hab grade vor dem Feuer in der Schenkstube geschlafen“, erwiderte der fette Junge, dessen Gesicht sich durch ein Stündchen Schlummer bis zur Farbe eines glühenden Kochtopfes erhitzt hatte. „Mein Herr hat mich mit dem Karren rübergeschickt, Ihr Gepäck abholen. Er hätte auch ’n paar Reitpferde geschickt, aber er hat gemeint, bei dem kalten Wetter möchten Sie am Ende lieber zu Fuß gehen.“

„Jaja“, sagte Mr. Pickwick hastig, eingedenk der früheren equestrischen Abenteuer, „ja, wir wollen lieber gehen. – Sam!“

„Sir?“ erwiderte Mr. Weller.

„Hilf Mr. Wardles Diener das Gepäck in den Karren schaffen und fahre dann mit ihm; wir gehen voraus.“

Nachdem Mr. Pickwick diese Befehle erteilt, schlug er mit seinen drei Freunden den Fußpfad über die Felder ein und ließ Mr. Weller und den fetten Jungen vorderhand beieinander. Sam sah den fetten Jungen mit großer Verwunderung an, ohne jedoch ein Wort zu sprechen, und begann die Sachen eiligst in den Karren zu schaffen, während der fette Junge ruhig dabeistand, offenbar sehr einverstanden, daß Mr. Weller so fleißig war.

„So“, sagte Sam und lud den letzten Mantelsack auf jetzt haben wir’s.“

„Ja“, versetzte der fette Junge sehr zufrieden, „jetzt haben wir’s.“

„Na, junger Tausendpfünder“, meinte Sam, „Sie könnten sich für Geld sehen lassen. Wahrhaftig.“

„Dank schön“, erwiderte der fette Junge.

„Kummer und Sorgen scheinen Sie wohl nich sonderlich zu bedrücken, was?“ fragte Sam.

„O nein“, gab der fette Junge zu.

„Freut mich sehr, dies zu vernehmen“, versetzte Sam. „Trinken Sie was?“

„Ich esse lieber“, erwiderte der Junge.

„Hätte ich mir denken können“, sagte Sam. „Doch ich meine, ob Sie nicht ’n Tropfen nehmen wollen, um sich zu erwärmen? Aber Sie haben wohl unter Ihrem Speck noch nie gefroren, oder?“

„Bisweilen doch“, versetzte der Junge, „aber ich trinke schon auch einen Schluck, wenn er gut ist.“

„Wirklich, tun Sie das?“ sagte Sam. „Na, dann kommen Sie!“

Die Wirtsstube des „Blauen Löwen“ war bald erreicht, und der fette Junge goß ein Glas Brandy hinunter, ohne eine Miene zu verziehen – was ihn in Mr. Wellers Augen außerordentlich hob. Nachdem Mr. Weller seinerseits ein ähnliches Manöver vollführt, stiegen sie in den Karren.

„Können Sie fahren?“ fragte der fette Junge.

„Sollt es fast meinen“, erwiderte Sam.

„Dorthinein also“, sagte der fette Junge, überließ Mr. Weller die Zügel und deutete auf einen Feldweg. „Immer gradaus. Sie können nicht fehlen.“ – Mit diesen Worten legte er sich neben den Kabeljau und fiel augenblicklich in Schlaf.

Mittlerweile hatten Mr. Pickwick und seine Freunde ihr Blut in raschere Zirkulation gesetzt und schritten munter dahin. Der Pfad war hart, das Gras bereift, die Luft rein, trocken und kalt, und das rasche Sinken des Tages ließ sie im Vorgenuß der Behaglichkeiten schwelgen, die ihrer bei dem gastfreundlichen Mr. Wardle warteten. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie würden ihre Mäntel abgelegt haben und in der frohen Stimmung ihrer Herzen zum Privatvergnügen ein kleines Bockspringen arrangiert haben, und sicherlich hätte in diesem Augenblick Mr. Tupman seinen Rücken dargeboten, Mr. Pickwick würde dieses Anerbieten zum fröhlichen Spiel mit größtem Eifer aufgegriffen haben.

Mr. Tupman schien sich aber nicht freiwillig zu einer solchen Belustigung anbieten zu wollen, und so verfolgten die Freunde ihren Weg unter heiteren Gesprächen. Als sie in den Pfad nach Manor Farm einbogen, traf Stimmengewirr ihr Ohr, und ehe sie sich noch in Mutmaßungen ergehen konnten, begrüßte sie ein lautes Hurra.

Da waren zuerst Mr. Wardle, der womöglich noch fröhlicher aussah als früher, dann Bella und ihr getreuer Trundle, ferner Emilie und acht bis zehn junge Damen, die alle zur morgigen Hochzeit eingeladen waren und so wichtig und selig aussahen, wie junge Damen meist bei solchen Gelegenheiten.

Die Zeremonie des Vorstellens war bald vorüber, und ein paar Minuten später scherzte bereits Mr. Pickwick mit den jungen Damen, die, solange er zusah, nicht über das Geländer steigen wollten oder, sich ihrer hübschen Füßchen und feinen Knöchel gar wohl bewußt, fünf Minuten lang darauf stehenblieben und erklärten, sie fürchteten sich zu sehr, um sich nur rühren zu können – scherzte mit ihnen so ungezwungen und vertraulich, als hätte er sie seit Kindheit an gekannt. Mr. Snodgraß leistete Emilie weit mehr Beistand, als die Gefahren des Geländers erfordert hätten, während eine schwarzäugige junge Dame mit sehr zierlichen Pelzstiefelchen laut schrie, als ihr Mr. Winkle hinüberhelfen wollte.

Alles dies war höchst unterhaltend und ergötzlich, und als endlich die Hindernisse des Geländers glücklich überwunden waren und man sich wieder auf offenem Felde befand, machte der alte Wardle Mr. Pickwick die Mitteilung, sie hätten sämtlich die Ausstattung und Einrichtung des Hauses in Augenschein genommen, das dem Jungen Paar gleich nach Weihnachten zur Verfügung stehen sollte. Bella und Trundle wurden darüber so rot, wie vorher der fette Junge in der Wirtsstube am Feuer, und die junge Dame mit den schwarzen Augen und den pelzverbrämten Stiefelchen flüsterte Emilie etwas ins Ohr und warf einen schlauen Seitenblick auf Mr. Snodgraß. Mr. Snodgraß, verschämt wie alle großen Geister, fühlte, wie rot er bis in die Ohren wurde, und wünschte in den Tiefen seines Herzens die junge Dame mit den schwarzen Augen, dem schelmischen Seitenblick und den pelzverbrämten Stiefelchen in das Land, wo der Pfeffer wächst.

Wie groß war aber erst die Wärme und Herzlichkeit, mit der die Herren aufgenommen wurden, als sie die Farm erreichten! Sogar das Gesinde grinste vor Vergnügen, als es Mr. Pickwick erblickte, und Emma warf Mr. Tupman einen halb verschämten, halb verwegenen Blick des Wiedererkennens zu, der hingereicht hätte, den Gipsnapoleon im Gang zu ermutigen, sie an sich zu drücken.

Die alte Dame saß wie gewöhnlich in der vorderen Wohnstube, war aber ein wenig verdrießlich und folglich ganz besonders taub. Sie selbst ging nie aus und sah es daher als eine Art Hochverrat an, wenn sich jemand die Freiheit nahm, etwas zu tun, was sie nicht mehr konnte.

„Mutter“, sagte Mr. Wardle, „Mr. Pickwick ist hier. Du erinnerst dich seiner doch noch.“

„Ach, ich bitte dich“, erwiderte die alte Dame mit großer Würde, „bemühe Mr. Pickwick nicht wegen einer alten Frau wie ich. Es bekümmert sich ja niemand um mich. Das ist ja auch so der Lauf der Dinge.“ Und die alte Dame schüttelte den Kopf und strich ihr lavendelfarbiges Seidenkleid mit zitternden Händen glatt.

„O nein, Madam!“ sagte Mr. Pickwick. „Ich kann nicht zugeben, daß Sie einen alten Freund auf diese Art abspeisen. Ich bin ausdrücklich deswegen hergekommen, um mich recht lange mit Ihnen zu unterhalten und eine Partie Whist mit Ihnen zu spielen. Ja, und ehe achtundvierzig Stunden um sind, wollen wir diesen Knaben und Mädchen einmal zeigen, wie man ein Menuett tanzt.“

Die alte Dame war augenblicklich umgestimmt, wollte es aber nicht merken lassen und sagte daher nur: „Ach, ich verstehe ihn nicht.“

„Aber komm, Mutter, komm“, begütigte Mr. Wardle. „Sei doch nicht so verdrießlich; er ist so ’ne gute Seele. Denk Bella. Komm, du mußt dem armen Mädchen ’n bißchen Mut machen.“

Die gute alte Dame verstand alles, denn ihre Lippen zitterten, als ihr Sohn ihr so zuredete; aber das Alter hat nun einmal seine schwachen Seiten, und sie ließ sich noch nicht erweichen. Sie strich wieder an dem lavendelfarbigen Kleid hinunter und wandte sich zu Mr. Pickwick:

„Ach, Mr. Pickwick, als ich noch ein Mädchen war; waren die jungen Leute ganz anders.“

Kein Zweifel, Ma’am“, versetzte Mr. Pickwick. „Und gerade aus diesem Grunde achte ich auch die wenigen Menschen so hoch, die noch an die guten alten Zeiten erinnern.“ Dabei zog er Bella sanft an sich, drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und bat sie, sich auf den kleinen Stuhl zu den Füßen ihrer Großmutter zu setzen. Die Herzensgüte Mr. Pickwicks rührte die alte Dame so sehr, daß sie weich wurde, ihren Kopf auf den Nacken ihrer Enkelin legte und ihre üble Laune in einer Flut stiller Tränen entströmen ließ.

Die Gesellschaft war an diesem Abend eitel Freude. Gesetzt und feierlich wickelte sich wieder die Whistpartie ab, die Mr. Pickwick und die alte Dame miteinander spielten, und lärmend das Gesellschaftsspiel am runden Tisch. Lange noch, nachdem sich die Damen zurückgezogen, machte der Glühwein, mit Rum und Gewürz verstärkt, aber und abermals die Runde, und gesund waren der Schlaf und süß die Träume, die darauf folgten. Es ist ein bemerkenswerter Umstand, daß Mr. Snodgraß die ganze Nacht von Emilie und Mr. Winkle von einer jungen Dame mit schalkhaften schwarzen Augen und außerordentlich niedlichen Pelzstiefelchen träumten.

In aller Frühe wurde Mr. Pickwick von einem Stimmengewirr und emsigem Hinundherlaufen geweckt, das sogar den fetten Jungen in seinem tiefen Schlummer stören mußte.

Er setzte sich auf und lauschte. Die Dienstmädchen und die weiblichen Gäste liefen unaufhörlich ab und zu, und es wurde sooft nach warmem Wasser und Nadel und Faden gerufen, und eine solche Menge Bitten: „Hilf mir, ich kann nicht damit zurechtkommen“, wurden laut, daß Mr. Pickwick in seiner Unschuld auf den Gedanken kam, es müsse irgend etwas Furchtbares vorgefallen sein, bis er nach und nach ganz munter wurde und sich erinnerte, daß heute ja Hochzeit sei. Dem Feste zu Ehren kleidete er sich mit besonderer Sorgfalt an und ging hinunter zum Frühstück.

Die Hausmädchen liefen in nagelneuen rosa Musselinkleidern mit weißen Schleifen an den Hauben in einem unbeschreiblichen Zustande von Aufregung und Diensteifer im Hause herum. Die alte Dame hatte ein Brokatkleid angelegt, das seit zwanzig Jahren das Tageslicht nicht mehr gesehen, von den spärlichen Strahlen vielleicht abgesehen, die sich durch die Ritzen in der Truhe gestohlen hatten, Mr. Trundle war in Prachteinband und selig, schien aber ein wenig nervös. Der fröhliche alte Herr suchte so aufgeräumt und unbefangen auszusehen wie möglich, verfehlte aber seinen Zweck sichtlich. Sämtliche jungen Damen schwammen in Tränen und weißem Musselin, mit Ausnahme der paar Auserwählten, die die besondere Ehre genossen, Braut und Brautjungfern im oberen Saal von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Sämtliche Pickwickier waren aufs festlichste herausgeputzt, und auf dem Grasplatz vor dem Hause machten die Knechte und Buben, die zum Pachtgut gehörten, jeder eine weiße Schleife im Knopfloch, einen furchtbaren Spektakel mit Singen und Herumspringen, angestiftet von Mr. Samuel Weller, der sich im Handumdrehen die Volksgunst zu erwerben gewußt und sich bereits so heimisch fühlte, als wäre er auf dem Lande geboren.

Die Trauung wurde schließlich von dem alten Geistlichen in der Kirche zu Dingley Dell vollzogen, und Mr. Pickwicks Name ist noch heute in dem Register in der Sakristei zu lesen. Die junge Dame mit den schwarzen Augen trug ihren Namen mit unsteter und zitternder Hand ein, und die Unterschrift Emiliens, der andern Brautjungfer, fiel beinahe ganz unleserlich aus. Sonst ging aber alles in bewunderungswürdiger Ordnung vor sich; die jungen Damen fanden im allgemeinen die Sache weit weniger schrecklich, als sie erwartet hatten, und die Eigentümerin der schelmischen schwarzen Augen versicherte Mr. Winkle, sie wisse gewiß, daß sie sich niemals zu einem so fürchterlichen Schritte würde entschließen können. Dem allen wäre noch hinzuzufügen, daß Mr. Pickwick der erste war, der die Braut beglückwünschte und ihr bei dieser Gelegenheit eine prachtvolle goldene Uhr umhing, die noch keines Menschen Auge, außer dem des Goldschmiedes, gesehen hatte. Dann fielen die alten Kirchenglocken so heiter ein, wie sie nur konnten, und der Hochzeitszug kehrte zum Frühstück nach Manor Farm zurück.

„Wo sollen die Fleischpasteten hin, junger Opiumfresser?“ fragte Mr. Weller den fetten Jungen, als er die Speisen ordnen half, die am vorhergehenden Abend noch nicht hatten aufgestellt werden können.

Der fette Junge deutete stumm auf die betreffende Stelle.

„Schön, und nu stecken Sie noch wat Jrünes rein. Dort in die andre Platte. So, jetzt nehmen wir uns erst hübsch aus, wie der Vater sagte, als er seinem Jungen den Kopf abschlug, um ihm das Schielen zu vertreiben.“

Dann trat Mr. Weller ein paar Schritte zurück, kniff ein Auge zu und übersah die Anordnungen mit dem Ausdruck größter Zufriedenheit.

Dann nahm die Gesellschaft ihre Plätze ein, und Mr. Pickwick mußte sogleich mit dem alten Wardle ein Glas Wein zu Ehren des jungen Paares leeren und Duzbrüderschaft trinken.

Die alte Dame saß in vollem Prunk obenan, links neben ihr die junge Neuvermählte, rechts Mr. Pickwick. Sie zog An sogleich ins Gespräch, ließ sich in eine weitläufige und ausführliche Schilderung ihrer eignen Hochzeit ein und knüpfte daran eine Abhandlung über die damalige Mode, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen, und einige Erlebnisse und Abenteuer der schönen Lady Tollimglower, wobei sie so herzlich lachte, daß die jungen Damen, verwundert, weshalb denn in aller Welt die Großmama auf einmal so gesprächig geworden, mit einstimmten. Und wenn die jungen Damen lachten, lachte die alte Dame noch zehnmal herzlicher und sagte, diese Geschichten hätten schon damals immer einen Kapitalspaß gegeben, was ein neuerliches Gelächter hervorrief, das die alte Dame geradezu in Rosenlaune versetzte. Dann wurde der Hochzeitskuchen zerschnitten und machte die Runde um die Tafel, und die jungen Damen legten sich heimlich Stücke beiseite, um sie unter das Kopfkissen zu schieben und von ihren künftigen Gatten zu träumen, was wiederum viel Spaß und Erröten verursachte.

„Mr. Miller“, wendete sich Mr. Pickwick zu seinem alten Bekannten, dem Herrn mit dem Borsdorfer Gesicht, „ein Glas Wein?“

„Mit dem größten Vergnügen, Mr. Pickwick“, versetzte der Herr mit dem Borsdorfer Gesicht feierlich.

„Wollen Sie mich nicht auch mit einschließen?“ fragte der wohlwollende alte Geistliche.

„Und mich auch“, fiel seine Gattin ein.

„Mich auch, mich auch“, riefen ein paar arme Verwandte am unteren Ende der Tafel, die aus Herzenslust gegessen und getrunken und über alles und jedes gelacht hatten.

Mr. Pickwicks Antlitz strahlte vor Freude über seine Beliebtheit, er stand auf und erhob sein Glas.

„Hört, hört! Hört, hört! Hört, hört!“ rief Mr. Weller im Übermaß seiner Gefühle.

„Ruft die gesamte Dienerschaft herein“, befahl der alte Wardle, um Mr. Weller den öffentlichen Verweis zu ersparen, der ihm sonst ohne allen Zweifel von seiten seines Herrn geblüht hätte.

„Jedem ein Glas Wein, um den Toast mitzutrinken! Nun, Pickwick?“

Tiefe Stille trat ein, die weibliche Dienerschaft flüsterte, die männliche stand verlegen da, und Mr. Pickwick begann:

„Meine Damen und Herren, nein, nicht meine Damen und Herren, meine lieben Freundinnen und Freunde, wenn mir die Damen eine so große Freiheit erlauben wollen …“

Ein unermeßlicher Beifall von seiten der Damen unterbrach ihn; die Herren stimmten mit ein, und mitten in dem Lärm hörte man die Eigentümerin der schwarzen Augen ganz deutlich sagen, sie möchte diesen lieben Mr. Pickwick küssen, worauf Mr. Winkle galant fragte, ob ihm das nicht auch ein Stellvertreter überbringen könne, eine Frage, die von der jungen Dame mit einem „Kommen Sie mir nicht mehr unter die Augen“ beantwortet, zugleich aber von einem Blick begleitet wurde, der so deutlich, wie es nur immer ein Blick konnte, hinzusetzte: „Wenn Sie das zuwege ringen.“

„Meine teuren Freundinnen und Freunde“, nahm Mr. Pickwick seine Rede wieder auf, „ich bringe hiermit die Gesundheit der jungen Neuvermählten aus. Gott segne sie! (Beifall und Tränen.) In meinem jungen Freund Trundle sehe ich einen vorzüglichen männlichen Charakter, und seine Frau kenne ich als eine höchst liebenswürdige, reizende junge Dame, wohl geeignet, das Glück, das sie zwanzig Jahre lang in ihres Vaters Haus um sich her verbreitet, in einen andern Wirkungskreis zu übertragen. (Hier brach der fette Junge in ein lautes Geheul aus und wurde von Mr. Weller am Rockkragen hinausgeführt.) Ich wünschte“, fügte Mr. Pickwick hinzu, „ich wünschte, ich wäre jung genug, um der Gatte ihrer Schwester zu sein (Beifall), aber da dies nun nicht der Fall ist, so bin ich doch so glücklich, alt genug zu sein, um ihr Vater sein zu können, und daher über jeden Verdacht versteckter Absichten erhaben, wenn ich sage, daß ich sie beide bewundere, achte und liebe. (Beifall und Schluchzen.) Der Vater der Braut, unser guter, lieber Freund, ist ein wackerer Mann, und ich bin stolz darauf, ihn zu kennen. (Großer Jubel.) Er ist ein liebevoller, vortrefflicher, vornehm denkender, herzensguter, gastfreundlicher, freigebiger Mann.

Enthusiastischer Beifall von seiten der armen Verwandten, besonders bei den beiden letzten Attributen.) Daß seiner Tochter all das Glück zuteil werde, das er selbst ihr nur immer wünschen kann, und daß er aus der Betrachtung desselben alle Freuden des Herzens und alle Ruhe der Seele ziehen möge, die er so wohl verdient, ist, ich bin es überzeugt, unser aller Wunsch. So laßt uns denn auf die Gesundheit des jungen Paares trinken und ihm ein langes Leben und reichen Segen wünschen!“ Unter stürmischem Beifall schloß Mr. Pickwick seine Rede und auf ein Zeichen Mr. Wellers taten auch die Lungen des Personals ihre Pflicht und Schuldigkeit. Sodann ließ Mr. Wardle Mr. Pickwick und dieser die alte Dame, Mr. Snodgraß Mr. Wardle, Mr. Wardle Mr. Snodgraß, der eine von den armen Vettern Mr. Tupman und der andre Mr. Winkle leben, und alles war eitel Lust und Freude, bis das geheimnisvolle Verschwinden der beiden armen Vettern unter den Tisch die Gesellschaft daran erinnerte, daß es Zeit sei, vom Frühstück aufzustehen.

An der Mittagstafel traf man wieder zusammen, nachdem die männlichen Glieder der Gesellschaft auf Mr. Wardles Empfehlung fünfundzwanzig Meilen weit spazierengegangen waren, um die Wirkungen des beim Frühstück genossenen Weines aufzuheben, während die armen Vettern den ganzen Tag im Bett lagen, um dasselbe Resultat zu erzielen, aber wegen der Erfolglosigkeit ihrer Bestrebungen liegenbleiben mußten. Mr. Weller erhielt die Dienerschaft in einem Zustand ununterbrochener Heiterkeit, und der fette Junge teilte seine Zeit zwischen Essen und Schlafen ein. Das Diner war ebenso heiter und ebenso geräuschvoll wie das Frühstück, nur Tränen kamen nicht vor. Dann trug man das Dessert auf und brachte noch verschiedene Toaste aus. Nachdem noch Tee und Kaffee serviert worden, nahm der Ball seinen Anfang.

Der Festsaal von Manor Farm war ein freundliches, langes, dunkelgetäfeltes Gemach, mit einem so geräumigen Kamin, daß eins der neumodischen Patentkabrioletts bequem hätte hindurchfahren können. Am oberen Ende des Saales saßen in einer schattigen Laube von Stechpalmen und Immergrün die beiden besten Geiger und die einzige Harfenspielerin von Muggleton. Alle Nischen und Gesimse waren mit alten, massiven silbernen Leuchtern geschmückt, jeder mit vier Armen, der Boden war mit Teppichen belegt, die Kerzen brannten hell, das Feuer loderte und knisterte im Kamin und heitere Stimmen und frohes Gelächter hallten durch den Saal.

Wenn irgend etwas den interessanten Eindruck dieser anmutigen Szene noch mehr hervorheben konnte, so war es der denkwürdige Umstand, daß Mr. Pickwick zum ersten Male, soweit sich seine ältesten Freunde zurückerinnern konnten, ohne Gamaschen erschien.

„Du willst wohl tanzen?“ fragte Mr. Wardle.

„Natürlich“, erwiderte Mr. Pickwick. „Siehst du denn nicht, daß ich mich extra dazu angekleidet habe?“ Und Mr. Pickwick wies auf seine gesprenkelten seidenen Strümpfe und Lackschuhe.

Sie in seidenen Strümpfen!“ rief Mr. Tupman in scherzhaftem Ton.

„Und warum nicht, Sir, warum nicht?“ fragte Mr. Pickwick ein wenig hitzig.

„0h, es ist natürlich gar kein Grund vorhanden, warum Sie sie nicht tragen sollten“, antwortete Mr. Tupman.

„Das will ich meinen, Sir, das will ich meinen“, sagte Mr. Pickwick mit sehr entschiednem Tone.

Mr. Tupman hatte Lust zum Lachen verspürt, fand aber, daß die Sache ernster Natur war, und nahm daher auch eine dementsprechende Miene an und sagte, die Strümpfe hätten ein hübsches Muster.

„Das hoffe ich“, bemerkte Mr. Pickwick mit einem strengen Blick auf seinen Freund, „aber ich erwarte von Ihnen, Sir, daß Sie auch an den Strümpfen als solchen nichts auszusetzen haben?“

„Gewiß nicht, oh, gewiß nicht“, beteuerte Mr. Tupman, entfernte sich schleunigst, und Mr. Pickwicks Gesicht nahm seinen gewohnten wohlwollenden Ausdruck wieder an.

„Ich glaube, die Paare sind jetzt geordnet“, sagte Mr. Pickwick, am Arm die alte Dame, nachdem er in seinem Feuereifer bereits viermal vor der Zeit die Anfangspas gemacht hatte.

Wardle gab das Zeichen, die zwei Geigen und die Harfe erklangen, und Mr. Pickwick begann eine Kreuztour, als ein allgemeines Händeklatschen erscholl und von allen Seiten „Halt! Halt!“ gerufen wurde.

„Was gibt’s denn?“ rief Mr. Pickwick, nur durch das Verstummen der Geige und der Harfe zum Stehen gebracht, was keine Irdische Gewalt sonst hätte erreichen können und wenn das Haus in Flammen gestanden hätte.

„Wo ist Arabella Allen?“ rief ein Dutzend Stimmen.

„Und Winkle?“ setzte Mr. Tupman hinzu.

„Hier sind wir“, rief Mr. Winkle, trat mit seiner hübschen Gefährtin aus einer Nische hervor, und es würde schwergehalten haben zu bestimmen, wer von beiden ein röteres Gesicht hatte, er oder die junge Dame mit den schwarzen Augen.

„Was ist das nur wieder für ein merkwürdiges Benehmen Winkle“, sagte Mr. Pickwick ein wenig ärgerlich, „daß Sie nicht rechtzeitig auf Ihrem Platz sind?“

„Gar nicht merkwürdig“, versetzte Mr. Winkle. „Nun ja“, meinte Mr. Pickwick mit einem sehr ausdrucksvollen Lächeln, als sein Blick auf Arabella fiel. „Nun, ich gebe ja zu, daß es nicht besonders merkwürdig ist.“

Es war indes keine Zeit mehr, die Sache weiterzuerörtern, denn Geigen und Harfe ertönten schon wieder. Mr. Pickwick schwebte dahin von der Mitte des Saales bis zum äußersten Ende, an den Kamin und wieder zurück an die Tür – Poussette hin und Poussette her – lautes Stampfen auf den Boden – das nächste Paar – ab – die ganze Figur wiederholt – eine neue Tour – das nächste Paar vor und das nächste und übernächste. So etwas war noch nicht da. Und endlich, nachdem alle ausgetanzt und volle vierzehn Paare nach der alten Dame abgetreten und die Gattin des Geistlichen die Stelle der Großmutter eingenommen, hielt der Treffliche noch immer aus und lächelte seiner Tänzerin die ganze Zeit über mit einer Freundlichkeit zu, die jede Beschreibung übersteigt.

Lange bereits, ehe sich Mr. Pickwick müde getanzt, hatte sich das neuvermählte Paar zurückgezogen. Unten erwartete die Gesellschaft ein vortreffliches Souper, und es wurde noch lange und viel getafelt. Und als Mr. Pickwick am andern Morgen spät erwachte, erinnerte er sich verworren, ungefähr fünfundvierzig Personen aufs dringendste eingeladen zu haben, sobald sie nach London kämen, im „Georg und Geier“ mit ihm zu speisen, was ihm ein untrügliches Zeichen war, daß er in der. „vergangenen Nacht seinem physischen Ich mehr zugemutet hatte als die bloße Bewegung.

„Also heute abend wird sich die Familie in der Küche mit Gesellschaftsspielen unterhalten, mein Schatz?“ fragte Sam Emma.

„Ja, Mr. Weller“, erwiderte Emma. „Wir halten es immer so am Weihnachtsabend. Unser Herr besteht auf diesem Brauch.“

„Ihr Herr is überhaupt ’n Schenlmän, mein Schatz. Habe noch mein Lebtag keinen feineren kennengelernt.“

„Ja, das is er!“ mischte sich der fette Junge ins Gespräch. „Und die Ferkel, was er mästet!“

„Na, sind Sie endlich aufgewacht?“ fragte Sam.

Der fette Junge nickte bejahend.

„Ich will Ihnen mal was sagen, Sie junge Riesenschlange“, sagte Mr. Weller eindringlich. „Falls Sie nich ’n bißchen weniger schlafen und sich mehr Bewegung verschaffen, wenn Sie mal ins männliche Alter kommen, denn kann es Ihnen noch so gehen wie dem alten Herrn mit der Zopfperücke.“

„Und was ist dem passiert?“ fragte der fette Junge stotternd.

„Will ich Ihnen sagen“, erwiderte Mr. Weller, „war einer von den dicksten Schmerbäuchen, wo sich jemals umgedreht haben – ’ne Art Mastochse, der fünfundvierzig Jahre lang seine eignen Füße nicht sah.“

„Himmel!“ rief Emma.

„Ja, wahrhaftig, mein Schatz, und wenn Sie ihm das genaueste Modell von seinen Beinen auf ’n Tisch gelegt hätten, er hätte sie nich erkannt. Er ging immer in sein Bureau mit ’ner riesig feinen goldnen Uhrkette, wo anderthalb Fuß lang raushing, und einer goldnen Uhr dran in seiner Westentasche, die – ich kann es kaum sagen, wieviel, aber jedenfalls mordsmäßig viel wert war – ’n großes, schweres, rundes Ding, als Uhr so dick wie er als Mann, und mit n entsprechend breitem Gesicht. ,Solltest diese Uhr nich tragen‘, sagten die Freunde von dem Alten, ,man wird sie dir noch stehlen.‘ – ,Na‘, sagte er, ,den Dieb möchte ich sehen, die Uhr rausbrächte. Ich will verdammt sein, wenn ich sie selbst rausbringe. Wenn ich wissen will, wieviel Uhr es is, muß ich in ’n Bäckerladen sehen gehen.‘ Und dann lachte er so entsetzlich, daß er fast platzte, und ging wieder mit seinem gepuderten Kopf und Zopf aus und wälzte sich den ,Strand‘ hinunter, und die Kette hing weiter raus als je, und die große runde Uhr drückte beinah ’n Loch durch seine graue Kerseyhose. Es gab nich einen Taschendieb in ganz London, wo nich schon an der Kette gerissen hatte, aber se ging nich entzwei, und die Uhr ging nich raus, so daß sie’s bald satt bekamen, so ’n schweren alten Herrn die Straße entlangzuziehen, und dann ging er jedesmal nach Hause und lachte, daß sein Zopf, wie der Perpendikel an ’ner Holländeruhr, hin und her wackelte. Eines Tages nu wälzte sich der alte Herr wieder mal spazieren und sah ’nen Taschendieb, den er auf den ersten Blick erkannte, Arm in Arm mit ’nem kleinen Jungen, der ’n sehr dicken Kopf hatte, auf sich zukommen. Das gibt ’n Spaß, sagte sich der alte Herr, die werden’s wieder probieren, aber se werden sich schneiden. Und er fing schon an, aus vollem Halse zu lachen, als der kleine Junge plötzlich den Arm des Taschendiebes losließ und mit dem Kopf dem dicken Herrn in den Bauch rannte, daß dieser vor Schmerz fast die Besinnung verlor. ,Mörder!‘ rief der alte Herr und hörte grade noch, wie ihm der Taschendieb ins Ohr flüsterte: ,Allright, Sir.‘ Und wie er wieder auf den Beinen war, waren Uhr und Kette beim Teufel und, was noch schlimmer war, seine Verdauung war auch beim Teufel bis zum letzten Tag seines Lebens. – Sehen Sie sich also vor, junger Herr, und nehmen Se sich in acht, daß Se nich zu fett werden.“

Mit dieser Ermahnung schloß Mr. Weller seine Erzählung, die den fetten Jungen sehr zu ergreifen schien, und alle drei gingen in die große Küche, in der sich schon die Vorfahren Mr. Wardles, einem alten Brauche gemäß, seit unvordenklichen Zeiten um diese Stunde zu versammeln pflegten.

Soeben hatte der alte Wardle im Mittelpunkt der Decke eigenhändig einen großen Mistelzweig aufgehängt, was sofort ein allgemeines höchst ergötzliches Gedränge verursachte. Inmitten dieser Verwirrung nahm Mr. Pickwick mit einer Galanterie, die einem Abkömmling der Lady Tollimglower Ehre gemacht haben würde, die alte Dame bei der Hand, führte sie unter den mystischen Zweig und küßte sie mit ritterlichem Anstand. Die alte Dame unterwarf sich dieser Höflichkeit mit all der Würde, die einer so wichtigen und ernsten Feier angemessen war, aber die jüngeren Damen, die keine so abergläubige Verehrung für das Althergebrachte hegten oder der Meinung waren, der Wert eines Kusses werde bedeutend erhöht, wenn es einige Mühe koste, ihn zu erlangen, kreischten und sträubten sich und liefen in die Ecken, kurz, taten alles mögliche, nur die Küche verließen sie nicht. Erst als einige der weniger verwegenen Herren im Begriff waren, von ihrem Verlangen abzustehen, fanden sie es auf einmal zwecklos, noch ferner Widerstand zu leisten, und unterwarfen sich dem Kuß gutwillig. Mr. Winkle küßte die junge Dame mit den schwarzen Augen, Mr. Snodgraß Emilie, und Mr. Weller kaprizierte sich nicht darauf, daß es gerade unter dem Mistelzweig geschehen müsse, und küßte Emma und die übrigen Dienstmädchen, wo er sie gerade erhaschte. Was die armen Vettern betraf, so küßten sie alle ohne Unterschied, nicht einmal den unansehnlicheren Teil der weiblichen Gäste ausgenommen, die in ihrer außerordentlichen Verwirrung geradenwegs unter den Mistelzweig rannten, ohne es selbstverständlich zu wissen. Wardle stand mit dem Rücken gegen den Kamin und schaute vergnügt zu, während der fette Junge die Gelegenheit ergriff, eine besonders schöne Fleischpastete, die für jemand anders extra zurückgelegt worden war, zu seinem eignen Gebrauche zu verwenden. Das Kreischen hatte aufgehört, die Gesichter glühten, alle locken waren in Verwirrung, Mr. Pickwick stand unterm Mistelzweig und sah mit vergnügter Miene dem Treiben ringsum zu, als die junge Dame mit den schwarzen Augen nach einem kurzen Geflüster mit ihren Freundinnen ganz plötzlich auf ihn zusprang, ihren Arm um seinen Nacken legte und ihn zärtlich auf die linke Wange küßte. Und noch ehe er recht wußte, wie ihm geschah, war er umringt und von allen geküßt.

Es war eine Lust, Mr. Pickwick inmitten der Gruppe zu sehen, bald dahin, bald dorthin gezerrt und zuerst auf das Kinn und die Nase und dann auf die Brille geküßt – eine Lust, das fröhliche Gelächter zu hören, das ihn umjubelte Aber wie entzückend war es erst, ihn gleich darauf mit einem seidenen Taschentuch um die Augen gegen die Wand rennen und in die Winkel tappen und mit Herzenslust auf alle Geheimnisse des Blindekuhspieles eingehen zu sehen, bis er endlich einen von den armen Vettern erwischte und dann selbst der blinden Kuh aus dem Wege gehen mußte, was er mit einer Behendigkeit und Gewandtheit tat, die allen Zuschauern Ausrufe der höchsten Bewunderung entlockte. Nachdem alle das Blindekuhspiel satt hatten, wurde eine große Drachenschnappe arrangiert und Rosinen aus brennendem Rum herausgefischt, und schließlich setzte man sich neben dem hoch auflodernden Feuer zu einem tüchtigen Nachtessen und einer mächtigen Schüssel, die etwas kleiner war als ein gewöhnlicher Waschkessel und in der die heißen Äpfel einladend und lustig zischten und tanzten, daß es eine Lust war.

„Ja, das ist“, sagte Mr. Pickwick und blickte rundum, „das ist wirkliche, köstliche Weihnachtsfreude.“

„Unser alter Brauch“, erwiderte Mr. Wardle. „Am Weihnachtsabend sitzen wir alle, samt und sonders, Herr und Diener, beisammen und warten, bis die Glocke zwölf Uhr schlägt und die Weihnacht einläutet, und vertreiben uns die Zeit mit Pfänderspielen und alten Geschichten. – Trundle, mein Junge, schür doch mal das Feuer an. Hm?“

Die hellen Funken flogen zu Tausenden auf, und die dunkelrote Flamme ergoß einen glänzenden Schein bis in die entfernteste Ecke der Küche und bestrahlte jedes Gesicht mit seinem heiteren Glanz.

Dann ging der Humpen herum, und Mr. Wardle stimmte unter großem Beifall ein fröhliches Lied an, und besonders die armen Vettern waren vor Entzücken ganz außer sich. Das Feuer wurde von neuem geschürt, und der Humpen machte wieder die Runde.

„Wie es schneit“, sagte einer von den Knechten leise.

„Schneien?“ fragte Wardle.

„Eine rauhe, kalte Nacht, Sir“, erwiderte der Mann, „und ein Wind geht, daß es den Schnee in dicken weißen Wolken über die Felder jagt.“ „Was sagt Jem?“ fragte die alte Dame. „Es ist doch kein Unglück passiert?“

Nein, nein, Mutter“, beruhigte sie Wardle. „Er spricht nur von einem Schneegestöber und von einem kalten, schneidenden Wind. Man hört’s aber auch am Sausen im Kamin.“

„Ach“, sagte die alte Dame, „vor fünf Jahren, vor dem Tod deines armen Vaters, ging auch ein solcher Wind. Es war auch Weihnachtsabend, und ich erinnere mich, daß er uns in derselben Nacht die Geschichte von den Gespenstern zählte, die den alten Gabriel Grub geholt haben.“ „Die Geschichte von was?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ach nichts, nichts“, erwiderte Wardle. „Von einem alten Totengräber, von dem die guten Leute glauben, die Gespenster hätten ihn geholt.“ „Glauben?“ rief die alte Dame aus. „Ist jemand so verstockt, um es nicht zu glauben? Glauben! Hast du nicht schon als Kind gehört, daß er von den Gespenstern geholt wurde, und weißt du vielleicht nicht, daß es wirklich so ist?“

„Schon gut, Mutter, jaja. Also es war so, wenn du darauf bestehst“, sagte Wardle lachend. „Er wurde von den Gespenstern geholt, Pickwick, und damit gut.“

„Nein, nein“, rief Mr. Pickwick, „nicht ,damit gut‘. Ich muß doch wissen, wie und warum und so weiter.“

Wardle lächelte, als er sah, daß alle die Ohren spitzten, ließ jedem einschenken, trank Mr. Pickwick zu und begann die Geschichte von den Kobolden, die einen Totengräber entführten.

In einer alten Klosterstadt in diesem Teile unsrer Grafschaft wirkte vor langer, langer Zeit – vor so langer Zeit, daß die Geschichte wahr sein muß, weil unsre Urahnen schon unbedingt daran glaubten – ein gewisser Gabriel Grub als Totengräber auf dem Kirchhof. Daraus, daß ein Mann ein Totengräber und beständig von Sinnbildern der Sterblichkeit umgeben ist, folgt noch keineswegs, daß er ein mürrischer und melancholischer Mann sein muß. Die Leichenbesorger zum Beispiel sind die fröhlichsten Leute von der Welt, und ich hatte einmal die Ehre, mit einem sogenannten „Stummen“, Bern Gehilfen eines Begräbnisunternehmers, befreundet zu sein, der in seinem Privatleben und außer seinem Berufe ein so spaßhafter und jovialer Junge war, wie nur je einer ein lustiges Liedchen sang oder ein gutes, bis an den Rand gefülltes Glas Grog leerte, ohne den Atem zu verlieren. Allein Gabriel Grub war ein verdrießlicher, mürrischer, grämlicher Geselle – ein trübsinniger, menschenscheuer Kerl, der mit niemand als mit sich selbst und einer alten korbumflochtenen Flasche, die genau in seine große, tiefe Westentasche paßte, Umgang pflog und jedes fröhliche Gesicht mit einem solch bösartigen und verdrießlichen Blick ansah, daß man ihm nicht begegnen konnte, ohne sich verstimmt zu fühlen.

An einem Weihnachtsabend, als es eben zu dämmern begann, schulterte Gabriel seinen Spaten, zündete seine Laterne an und begab sich nach dem alten Kirchhof, denn er mußte bis zum nächsten Morgen ein Grab geschaufelt haben. Als er die gewohnte Straße entlangging, sah er durch die alten Fenster den Glanz des Feuers lustig schimmern und hörte lauten Jubel und fröhliches Lachen. Er gewahrte die geschäftigen Vorbereitungen für den folgenden Tag und roch die vielen herrlichen Düfte, die ihm aus den Küchenfenstern entgegenwogten. All das war seinem Herzen Galle und Wermut, und wenn hie und da eine Kinderschar aus den Häusern heraushüpfte, über die Straße sprang und, ehe sie noch an der gegenüberstehenden Tür anklopfen konnte, von einem Halbdutzend kleiner Lockenköpfe empfangen und zum gemeinsamen Spiel und Fest eingeladen wurde, lächelte er grimmig, faßte seinen Spaten fester und dachte an Masern, Scharlach, Halsentzündung, Keuchhusten und andre Trostquellen.

In solch glücklicher Gemütsverfassung schritt Gabriel seines Weges, die freundlichen Grüße der Nachbarn, die dann und wann an ihm vorüberkamen, mit einem kurzen mürrischen Knurren erwidernd, bis er in das dunkle Gäßchen einbog, das auf den Kirchhof führte. Er hatte sich bereits danach gesehnt, denn es war ein düsteres, trauriges Stück Weg, das die Leute aus der Stadt nur am hellen Mittag besuchten, wenn die Sonne schien. Er war daher nicht wenig entrüstet, als er mitten in diesem Heiligtum, das seit den Tagen des alten Klosters und der geschorenen Mönche das Sarggäßchen genannt wurde, eine Kinderstimme ein lustiges Weihnachtslied singen hörte. Als er weiterging und die Stimme näher kam, bemerkte er, daß sie einem kleinen Jungen angehörte, der mit schnellen Schritten das Gäßchen herabeilte, um eine von den kleinen Gesellschaften in der alten Straße zu treffen, und teils zur Unterhaltung, teils zur Vorbereitung auf die bevorstehende Feier aus vollem Halse sang. Gabriel wartete, bis der Junge vorbeikam, drückte ihn dann in eine Ecke und schlug ihm fünf- bis sechsmal die Laterne um die Ohren, nur um ihm das Modulieren zu lehren, und als der Knabe die Hand an den Kopf hielt und eine ganz andre Weise anstimmte, lachte Gabriel herzlich, trat in den Kirchhof und schloß das Tor hinter sich.

Er legte seinen Rock ab, stellte seine Laterne auf den Boden, stieg in das angefangne Grab und arbeitete wohl eine Stunde lang mit regem Eifer. Aber die Erde war hartgefroren, und es ging nicht so leicht, die Schollen aufzubrechen und hinauszuschaufeln, und wenn auch der Mond am Himmel stand, so war er kaum erst sichelförmig und warf nur einen matten Schein auf das Grab, das überdies noch im Schatten der Kirche lag. Zu jeder andern Zeit hätten diese Hindernisse Gabriel Grub sehr verdrießlich und mürrisch gemacht, aber es freute ihn so sehr, dem Jungen das Singen vertrieben zu haben, daß er sich über den langsamen Fortgang der Arbeit wenig grämte, und nachdem er sie für diesen Abend vollendet hatte, sah er mit grimmiger Lust in das Grab hinunter und brummte, sein Handwerkszeug zusammenraffend:

Billige Wohnung für jung und alt,
Schwarze Erde naß und kalt;
Ein Stein zu Häupten, ein Stein zu Fuß,
Und für die Würmer ein Hochgenuß.

„Ho! ho!“ lachte er, setzte sich auf den niedrigen Grabstein, auf dem er gewöhnlich ausruhte, und zog seine Weidenflasche hervor. „Ein Sarg um Weihnachten – auch ein Weihnachtsgeschenk. Ho! ho! ho!“

„Ho! ho! ho!“ wiederholte eine Stimme dicht neben ihm. Gabriel hielt erschrocken in seinem Geschäft, die Flasche an die Lippen zu setzen, inne und sah sich rings um. Der Grund des ältesten Grabes konnte nicht stiller und ruhiger sein als der Kirchhof im blassen Mondlicht. Der Rauhreif funkelte auf den Grabsteinen und blitzte gleich Diamanten auf dem steinernen Bildwerk der alten Kirche. Der Schnee lag hart und krustig wie eine weiße, glatte Decke über den Grabhügeln, als hätten die Leichen ihre Sterbetücher ausgebreitet Nicht das geringste Geräusch unterbrach die tiefe, feierliche Stille. Der Schall selbst schien erfroren zu sein, so kalt und ruhig war alles.

„Es war der Widerhall“, sagte Gabriel Grub und setzte die Flasche wieder an seine Lippen.

„Er war es nicht„, antwortete eine tiefe Stimme.

Gabriel sprang auf und blieb vor Bestürzung und Schrecken wie angewurzelt stehen, denn seine Augen ruhten auf einer Gestalt, deren Anblick ihm das Blut erstarren machte.

Auf einem aufrecht stehenden Grabstein dicht neben ihm saß ein seltsames, überirdisches Wesen, und Gabriel fühlte sogleich, daß es nicht von dieser Welt sein konnte. Die langen phantastischen Beine, die den Boden leicht hätten erreichen können, waren hinaufgezogen und kreuzten sich auf eine seltsame Weise; die nervigen Arme waren nackt, und die Hände ruhten auf den Knien. Auf dem kurzen runden Leib trug die Gestalt ein eng anschließendes Gewand, mit kleinen Litzen verziert, und auf dem Rücken hing ihr ein kurzer Mantel. Der Kragen war in seltsame Spitzen ausgeschnitten, die dem Gespenst als Krause oder Halstuch dienten, und die Schuhe liefen an den Zehen in lange Hörner aus. Auf dem Kopf trug es einen breitkrempigen Zuckerhut mit einer einzigen Feder. Das Gespenst, ganz mit Reif überzogen, sah aus, als säße es schon ein paar Jahrhunderte lang ganz behaglich auf dem Grabstein. Es saß vollkommen still, bleckte wie zum Hohn die Zunge heraus und sah Gabriel Grub mit einem Grinsen an, wie es eben nur ein Gespenst zuwege zu bringen vermag.

„Es war nicht der Widerhall“, wiederholte das Phantom.

Gabriel Grub war wie gelähmt und konnte kein Wort hervorbringen.

„Was hast du hier am Heiligen Abend zu schaffen?“ fragte das Gespenst mit strengem Ton.

„Ich mußte ein Grab schaufeln, Sir“, stammelte Gabriel.

„Welcher Sterbliche wandelt in einer Nacht wie diese auf Gräbern und Kirchhöfen?“

„Gabriel Grub! Gabriel Grub!“ schrie ein Chor wilder Stimmen, daß der Kirchhof widerhallte. Gabriel sah sich erschrocken rings um, konnte aber nichts entdecken.

„Was hast du in der Flasche da?“ fragte das Gespenst.

„Wacholder, Sir“, erwiderte der Totengräber und zitterte noch heftiger, denn er hatte den Schnaps von Schmugglern gekauft und dachte, das Gespenst könne vielleicht Beziehungen zum Zollamt haben.

„Wer wird auch in einer Nacht, wie diese ist, allein und auf dem Kirchhof Wacholder trinken?“ fragte das Gespenst.

„Gabriel Grub! Gabriel Grub!“ riefen die wilden Stimmen wieder. Das Gespenst warf einen boshaften Blick auf den erschrockenen Totengräber und fragte weiter mit erhobener Stimme:

„Und wer ist also unser gesetzmäßiges und rechtmäßiges Eigentum?“

Auf diese Frage antwortete der unsichtbare Chor mit einem Gesang, wie von einer großen Menschenmenge bei vollem Spiel der alten Kirchenorgel – eine Weise, die wie auf Windesflügeln zu den Ohren des Totengräbers getragen wurde und wie ein leichtes vorüberschwebendes Lüftchen hinstarb. Aber der Refrain war immer der gleiche; „Gabriel Grub! Gabriel Grub!“

Noch unheimlicher als zuvor grinste das Gespenst und sagte:

„Nun, Gabriel, was meinst du dazu?“

Der Totengräber rang nach Atem.

„Was meinst du hierzu, Gabriel?“ wiederholte das Phantom, zog seine Beine an beiden Seiten des Grabsteines hinauf und betrachtete die Hörner seiner Schuhe mit einem Wohlgefallen, als hätte es das modernste Paar Wellington-Stiefel von der ganzen Bondstreet an.

„’s ist – ’s ist – ganz kurios, Sir“, stammelte der Totengräber, halbtot vor Schrecken. „Ganz kurios und sehr hübsch; aber ich denke, ich konnte wieder ans Geschäft gehen und meine Arbeit vollenden, wenn Sie erlauben.“

„Arbeit?“ sagte das Gespenst. „Was für eine Arbeit?“

„Das Grab, Sir, das Grab“, stotterte der Totengräber.

„So, so, das Grab. Wer wird auch Gräber schaufeln und eine Freude daran finden, wenn alle übrigen Menschenkinder fröhlich sind!“

Und wieder riefen die geheimnisvollen Stimmen: „Gabriel Grub! Gabriel Grub!“

„Ich fürchte, Gabriel, meine Freunde begehren dein“, sagte das Gespenst und bleckte die Zunge noch weiter heraus, und es war eine fürchterliche Zunge. „Ich fürchte, Gabriel, meine Freunde begehren dein.“

„Mit Verlaub, Sir“, erwiderte der Totengräber schreckensbleich, „das ist nicht gut möglich, Sir; sie kennen mich nicht, Sir, und ich glaube nicht, daß mich die Herren je gesehen haben, Sir.“

„Da irrst du dich aber gründlich“, versetzte der Kobold. „Man kennt den Mann mit dem grämlichen, finsteren Gesicht gar wohl, der diesen Abend die Straße heraufkam und seine boshaften Blicke auf die Kinder warf und dabei sein Grabscheit fester an sich drückte. Man kennt doch den Mann, der in der Mißgunst seines Herzens den jungen schlug, bloß weil dieser heiter sein konnte und er nicht. Man kennt ihn, man kennt ihn.“ Und das Gespenst schlug ein lautes, gellendes Gelächter an, das das Echo zwanzigfältig zurückgab, zog seine Beine hinauf, stellte sich auf dem schmalen Rand des Grabsteines auf den Kopf oder vielmehr auf die Spitze seines Zuckerhutes und schoß mit außerordentlicher Gewandtheit einen Purzelbaum, der es gerade vor die Füße des Totengräbers brachte, wo es sich dann in der Stellung niederließ, die gewöhnlich die Schneider auf ihrem Arbeitstisch einnehmen.

„Es – es – tut mir wirklich leid, daß ich Sie verlassen muß, Sir“, begann der Totengräber und machte eine Bewegung, sich zu entfernen.

„Uns verlassen?“ rief das Gespenst. „Gabriel Grub will uns verlassen! Ho! ho! ho!“

In diesem Augenblick flammten die Kirchenfenster auf, als ob das ganze Gebäude in Brand stünde, dann erloschen die Lichter, die Orgel ertönte, und ganze Trupps von Kobolden, dem ersten wie aus dem Gesicht geschnitten, wogten in den Kirchhof herein und begannen über die Grabsteine Bock zu springen, immer einer hinter dem andern, ohne Atem zu schöpfen. Das erste Gespenst war ein ausgezeichneter Springer und mit ihm konnte sich keins von den andern messen; sogar in seiner außerordentlichen Angst bemerkte der Totengräber unwillkürlich, daß es im Gegensatz zu seinen Freunden, die sich damit begnügten, über gewöhnliche Grabsteine wegzusetzen, Familiengewölbe samt eisernen Gittern und allem Dazugehörigen mit Leichtigkeit übersprang, als wären es Meilensteine.

Endlich erreichte das Spiel eine betäubende Geschwindigkeit; die Orgel spielte schneller und schneller, und die Gespenster sprangen höher und höher, ballten sich wie Kugeln zusammen, rollten über den Boden hin und schnellten gleich Federbällen über die Grabsteine weg. Dem Totengräber wirbelte der Kopf und seine Beine wankten unter ihm, da schoß plötzlich der Gespensterkönig auf ihn zu, packte ihn am Kragen und fuhr mit ihm in die Erde hinab.

Als Gabriel Grub wieder Atem schöpfen konnte, sah er sich in einer Art großer Höhle, auf allen Seiten von einer Menge häßlicher, grimmig aussehender Kobolde umringt. In der Mitte saß auf einem erhöhten Sitz sein Freund vom Kirchhof, und neben ihm stand er selbst, der Fähigkeit, sich zu bewegen, gänzlich beraubt.

„Eine kalte Nacht“, sagte der König der Gespenster. „Eine sehr kalte Nacht. Holt uns ein Gläschen Warmen.“

Sofort verschwanden ein halbes Dutzend dienstbare Geister, auf deren Gesichtern ein beständiges Lächeln lag, was Gabriel vermuten ließ, daß es Höflinge seien, und kehrten sogleich mit einem Becher flüssigen Feuers zurück, den sie dem König kredenzten.

„Ah“, sagte das Gespenst, dessen Wangen und Kehle ganz durchsichtig wurden, als es die Flamme in sich sog, „das wärmt. Reicht Mr. Grub auch einen Becher.“

Vergebens wendete der unglückliche Totengräber ein, es sei ganz gegen seine Gewohnheit, bei Nacht etwas Warmes zu sich zu nehmen. Eins von den Gespenstern hielt ihn fest und ein anderes goß ihm die lodernde Flüssigkeit in die Kehle. Die ganze Gesellschaft brach in ein schallendes Gelächter aus, als er hustete und keuchte und sich die Tränen abwischte, die der brennende Trank seinen Augen entlockt hatte.

„Und nun“, sagte der König, bohrte das spitzige Ende seines Zuckerhutes auf höchst phantastische Art dem Totengräber ins Auge und verursachte ihm dadurch die fürchterlichsten Schmerzen, „und nun zeigt dem Mann der mürrischen Sinnesart einige von den Gemälden aus unsrer großen Galerie!“

Eine dichte Wolke, die den Hintergrund der Höhle in Dunkel gehüllt hatte, wich allmählich zurück, und in weiter Ferne wurde ein ärmliches, aber reinliches Zimmer sichtbar. Eine Schar kleiner Kinder war um ein helles Feuer versammelt, zerrte die Mutter am Kleide und tanzte um ihren Stuhl herum. Von Zeit zu Zeit erhob sich die Frau und zog den Fenstervorhang zurück und schaute hinaus, als ob sie jemand erwarte. Auf dem Tisch stand ein frugales Abendessen bereit, und ein Armstuhl war an den Kamin gerückt. Dann hörte man ein Pochen an der Tür, die Mutter öffnete, und die Kinder umringten sie und klatschten vor Freude in die Hände, als ihr Vater eintrat. Er war naß und müde und schüttelte den Schnee von seinen Kleidern, und als er sich vor dem Feuer zum Mahle niedersetzte, kletterten die Kinder auf seine Knie, und die Mutter setzte sich neben ihn, und alle waren voll Lust und Freude.

Aber fast unmerklich änderte sich die Szene. Das Zimmer verwandelte sich in ein kleines Schlafgemach, in dem das hübscheste und jüngste Kind im Sterben lag. Die Rosen seiner Wangen waren verblichen und der Glanz seines Auges erstorben. Und sogar der Totengräber betrachtete es mit einer vorher nie gefühlten Teilnahme, als es verschied. Die jungen Brüder und Schwestern versammelten sich um das Bettchen und ergriffen die abgezehrte kleine Hand. Sie war so kalt und schwer, daß sie erschreckt zurückfuhren und mit Schauder in das Gesicht des Kindes sahen, das so ruhig und still dalag und friedlich zu schlummern schien. Sie fühlten daß es tot war und jetzt als Engel aus einem Himmel voll Glanz und Seligkeit auf sie herniederblickte.

Wieder zog sich die leichte Wolke über das Gemälde, und abermals änderte sich die Szene. Vater und Mutter waren jetzt alt und hilflos, und die Zahl der Ihrigen hatte sich um mehr als die Hälfte vermindert. Aber Zufriedenheit und Heiterkeit lagen auf jedem Gesicht und strahlten aus jedem Auge, als sie sich um das Feuer scharten und einander alte Geschichten aus längst vergangenen Tagen erzählten. Langsam und still sank der Vater ins Grab, und bald darauf folgte ihm die Gefährtin seiner Sorgen und Mühen an die Stätte der Ruhe und des Friedens. Die Überlebenden knieten an ihrem Grabe und benetzten den Rasen, der es bedeckte, mit ihren Tränen, standen dann auf und entfernten sich traurig und niedergeschlagen, aber nicht mit bitterem Jammer oder verzweiflungsvollem Wehklagen, denn sie wußten, daß sie sich dereinst wiederfinden würden. Sie gingen an ihr Tagwerk und erlangten wieder die frühere Zufriedenheit und Heiterkeit.

Dann senkte sich eine Wolke auf das Gemälde und entzog es den Blicken des Totengräbers.

„Was sagst du jetzt?“ fragte das Gespenst und wandte sein breites Gesicht Gabriel Grub zu.

Gabriel murmelte so etwas wie: Es sei recht hübsch, und schlug beschämt die Augen vor den feurigen Blicken des Gespenstes nieder.

„Du bist mir ein jämmerlicher Mensch!“ sagte der Kobold im Tone grenzenloser Verachtung. „Du!“ Er schien noch mehr hinzufügen zu wollen, aber der Unwille erstickte seine Stimme. Er hob eins seiner gelenkigen Beine, schwenkte es über dem Kopf hin und her, als ob er damit zielen wolle, und versetzte dann Gabriel Grub einen derben Fußtritt, worauf sogleich die ganze Gespensterschar den unglücklichen Totengräber umringte und schonungslos mit den Füßen mißhandelte, ganz wie die Höflinge auf Erden, die auch treten, wen ihr Herr tritt, und in den Himmel heben, wen ihr Herr in den Himmel hebt.

„Zeigt ihm noch einige Gemälde“, befahl der König der Kobolde.

Die Wolke verschwand, und eine reiche, schöne Landschaft wurde sichtbar. Noch heutzutage sieht man eine solche eine halbe Meile von der alten Klosterstadt entfernt. Die Sonne leuchtete am reinen blauen Himmelszelt, das Wasser funkelte unter ihren Strahlen, und die Bäume sahen grüner und die Blumen heiterer unter ihrem belebenden Einfluß aus. Die Wellen schlugen plätschernd ans Ufer, die Bäume rauschten im leichten Winde, der durch ihr Laubwerk säuselte, die Vögel sangen auf den Zweigen, und die Lerche trillerte hoch in den Lüften ihr Morgenlied. Es war Frühe, ein schöner, duftender Sommermorgen; das kleinste Blatt, der dünnste Grashalm atmete Leben, die Ameise eilte an ihr Tagewerk; der Schmetterling flatterte spielend in den wärmenden Strahlen des Lichtes; Myriaden von Insekten entfalteten ihre durchsichtigen Flügel und freuten sich ihres kurzen glücklichen Daseins, und der Mensch weidete sein Auge an der blühenden Schöpfung, und alles war voll Glanz und Herrlichkeit.

„Du bist mir ein erbärmlicher Mensch!“ sagte der König der Gespenster noch verächtlicher als zuvor. Und wieder zielte er mit seinem Fuß, und wieder ließ er ihn auf die Schultern des Totengräbers niederfallen, und wieder ahmten die untergebenen Kobolde das Beispiel ihres Oberhauptes nach. Noch viele Male verschwand und erschien die Wolke, und manche Lehre erhielt Gabriel Grub, der mit einer Teilnahme zusah, die nichts zu vermindern imstande war, so sehr ihn auch seine Schultern von den Fußtritten der Kobolde schmerzten. Er sah, daß Menschen, die durch saure Arbeit ihr spärliches Brot im Schweiße ihres Angesichts erwarben, heiter und glücklich sein konnten und daß für die Unwissendsten und Ärmsten das freundliche Gesicht der Natur ein nie versiegender Quell der Freude war. Er sah andre, die in Luxus und Reichtum erzogen worden, unter Entbehrungen heiter sein und über Leiden erhaben, die manchen aus festerem Holz niedergebeugt haben würden, denn sie trugen die Bedingungen ihres Glücks, ihrer Zufriedenheit und Ruhe in der eignen Brust. Er sah, daß Frauen, die zartesten und gebrechlichsten von allen Geschöpfen Gottes, oft mehr Kummer, Widerwärtigkeiten und Mißgeschick überwandten als stärkere, weil ihr Herz von Liebe und Hingebung überfloß. Und er erkannte, daß Menschen, wie er, die ob des Frohsinns anderer neidisch grollten, das schlechteste Unkraut auf der schönen Erde waren. Und wie er das Gute in der Welt mit dem Bösen verglich, kam er zu dem Schluß, daß es nach allem eine recht erträgliche und achtbare Welt sei. Und kaum hatte er sich dieses Urteil gebildet, als sich die Wolke, die das letzte Gemälde verhüllt hatte, auf seine Sinne niedersenkte. Ein Gespenst nach dem andern zerfloß vor seinen Augen, und als das letzte verschwunden war, sank er in tiefen Schlaf.

Der Tag war angebrochen, als Gabriel Grub erwachte und einer ganzen Länge nach auf einer Grabplatte im Kirchhof lag, und neben ihm die leere Weidenflasche und Rock, Spaten und Laterne, alles vom nächtlichen Reif überzogen. Der Stein, auf dem er das Gespenst hatte sitzen sehen, stand bolzengerade vor ihm, und nicht weit von ihm war das Grab, das er am Abend zuvor geschaufelt. Anfangs zweifelte er an der Wirklichkeit dessen, was er erlebt hatte; aber der stechende Schmerz in seinen Schultern, wenn er aufzustehen versuchte, brachte ihn zur Überzeugung, daß die Fußtritte der Gespenster keine Phantasiebilder gewesen. Er wurde zwar wieder wankend in seinem Glauben, als er keine Fußtapfen im Schnee fand, in dem die Kobolde mit den Grabsteinen Bocksprung gespielt hatten, aber schnell erinnerte er sich, daß Geister ja keine sichtbaren Eindrücke hinterlassen konnten. So erhob er sich denn, so gut es ihm seine Rückenschmerzen erlaubten, schüttelte den Reif von seinem Rock, zog sich an und wendete seine Schritte der Stadt zu.

Aber er war jetzt ein anderer Mensch und konnte den Gedanken nicht ertragen, an einen Ort zurückzukehren, wo man seiner Reue gespottet und seiner Bekehrung mißtraue hätte. Er schwankte einen Augenblick, dann aber schlug er den nächsten besten Weg ein, um sein Brot anderwärts zu suchen.

Laterne, Spaten und Weidenflasche wurden am nämlichen Tag auf dem Kirchhof gefunden. Anfangs stellte man allerlei Vermutungen über das Schicksal des Totengräbers an, aber bald setzte sich der Glaube fest, er sei von Kobolden entführt worden. Und es fehlte nicht an glaubwürdigen Zeugen, die ihn auf dem Rücken eines kastanienbraunen einäugigen Rosses mit dem Hinterteil eines Löwen und dem Schwanz eines Bären deutlich hatten durch die Luft reiten sehen. So wurde das Gerücht zur festen Annahme, und der neue Totengräber pflegte den Neugierigen gegen ein geringes Trinkgeld ein ziemlich großes Stück von dem Wetterhahn der Kirche zu zeigen, das, von dem besagten Pferde auf seiner Luftfahrt zufälligerweise abgestoßen, ein oder zwei Jahre nachher auf dem Kirchhof gefunden worden war.

Leider wurde der Glaube an diese Geschichte durch die unerwartete Erscheinung Gabriel Grubs selbst erschüttert. Er war wohl zehn Jahre älter, ein von der Gicht geplagter und heimgesuchter, aber zufriedener Greis und erzählte seine Geschichte dem Pfarrer und auch dem Bürgermeister, und im Laufe der Zeit wurde sie zur historischen Tatsache erhoben, als die sie noch bis auf den heutigen Tag gilt. Diejenigen, die zuerst an die Wetterhahngeschichte geglaubt und sich so getäuscht sahen, waren nicht so leicht wieder zu bewegen, ihren Glauben ein zweites Mal aufs Spiel zu setzen, und so taten sie denn, so weise sie konnten, zuckten die Achseln, schüttelten die Köpfe und murmelten so etwas, wie wenn Gabriel Grub den Wacholder ganz ausgetrunken hätte und dann auf der Grabplatte eingeschlafen wäre, und erklärten das, was er in der Gespensterhöhle gesehen haben wollte, dadurch, daß sie sagten, er habe inzwischen die Welt gesehen und sei durch Erfahrung klüger geworden. Aber diese Ansicht, die zu keiner Zeit viele Anhänger zählte, verlor sich allmählich, und die Sache mag sich nun so oder so abgespielt haben, da Gabriel Grub bis ans Ende seiner Tage von der Gicht heimgesucht wurde, so enthält diese Geschichte wenigstens eine Moral, und wenn sie auch nichts Besseres lehrt, so lehrt sie doch so viel: Wenn ein Mann um Weihnachten trübsinnig ist und allein trinkt, so wird dadurch sein Befinden nicht im geringsten verbessert, das Getränk mag so gut sein, wie es will, oder sogar noch um vieles besser und feuriger als das, das Gabriel Grub in der Gespensterhöhle trank oder getrunken zu haben glaubte.