Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

Dombey und Sohn.

Dombey saß in der Ecke des abgedunkelten Zimmers in dem großen Lehnstuhl neben dem Bett, und Sohn lag, warm eingewickelt, in einem Korbnestchen, das unmittelbar vor dem Feuer auf einem niedrigen Schemel stand und der Glut sich so nah befand, als ob die Konstitution des jungen Herrleins Ähnlichkeit habe mit der einer Semmel, die braun geröstet werden muß, solange sie noch frisch ist.

Dombey war ungefähr achtundvierzig Jahre alt, Sohn etwa achtundvierzig Minuten. Dombey war etwas kahl, ziemlich rot und, obschon sonst ein wohlproportionierter Mann, doch zu ernst und zu pomphaft in seinem Äußern, um durch dieses sonderlich anzusprechen, während Sohn sehr kahl, sehr rot und, wenn auch unleugbar ein sehr schönes Kind, im allgemeinen vorderhand etwas zerdrückt und verbeult aussah. Auf Dombeys Stirn hatten Zeit und Sorge, wie an einem Baum, der bald zum Fällen reif ist, allerlei Merkmale eingegraben: denn besagte beiden Schwestern schreiten schonungslos durch die Menschenforsten und lassen überall die Zeichen ihres Dagewesenseins zurück. Das Gesicht von Sohn aber war von tausend kleinen Furchen gekreuzt, die dieselbe hinterlistige Zeit mit dem flachen Teil ihrer Sense auszuglätten bestimmt war – eine Vorbereitung für die tieferen Eindrücke späterer Jahre.

Überglücklich ob der langersehnten Ereignisse klimperte und klimperte Dombey mit der schweren goldenen Uhrkette, die unter dem eleganten blauen Frack hervorblitzte, während die Knöpfe des erwähnten Kleidungsstückes in den matten Strahlen des fernen Feuers phosphorisch funkelten. Sohn dagegen reckte seine Händchen in die Höhe, ballte sie zu Fäustchen und schien mit dem Dasein, in das es so unerwartet getreten war, Händel anfangen zu wollen.

»Mrs. Dombey«, begann Mr. Dombey, »das Haus wird fortan nicht bloß der Firma nach, sondern nun auch wieder in der Tat Dombey und Sohn sein. Dombey und Sohn!«

Diese Worte übten einen so starken Einfluß aus, daß der Sprecher (freilich nicht ohne einiges Zögern, da er an dergleichen nicht gewöhnt zu sein schien) dem Namen der Mrs. Dombey einen Ausdruck der Zärtlichkeit beifügte, er sagte nämlich:

»Mrs. Dombey, meine – meine Liebe,«

Ein flüchtiges Rot, das Merkzeichen einer kleinen Überraschung, glitt über da« Antlitz der Wöchnerin, als sie ihre Blicke zu Mr. Dombey erhob.

»Er wird in der Taufe den Namen Paul erhalten, meine Mrs. Dombey, – natürlich.«

Sie wiederholte matt das »natürlich«, oder schien es wenigstens durch die Bewegung ihrer Lippen tun zu wollen; dann aber schloß sie die Augen wieder.

»Seines Vaters Name, Mrs. Dombey, und seines Großvaters! Wollte Gott, sein Großvater hätte diesen Tag erlebt.«

Und abermals fügte er – genau in demselben Ton wie früher – bei:

»Dombey und Sohn!«

Diese drei Worte umfaßten die einzige Idee von Mr. Dombeys Leben. Die Erde war nur da, damit Dombey und Sohn Geschäfte darin machen konnten, und Sonne und Mond hatten bloß die Bestimmung, für Dombey und Sohn zu scheinen, Flüsse und Meere waren da, um die Schiffe der Firma zu tragen; die Regenbogen versprachen nur ihr schönes Wetter; Sterne und Planeten liefen in ihren Kreisen, um unabänderlich einem System zu folgen, von dem Dombey und Sohn den Mittelpunkt bildete. Gewöhnliche Abkürzungen erhielten in seinen Augen ganz neue Bedeutungen, die bloß auf seine Firma Bezug hatten, und A. D. lautete in seiner Zeitrechnung nicht als Annus Domini, sondern als Annus Dombei – und Sohn.

Er hatte sich, wie vor ihm sein Vater, im Laufe der Zeit vom Sohn zu Dombey heraufgearbeitet und fast zwanzig Jahre lang die Firma als alleiniger Repräsentant vertreten. Die Hälfte dieser Periode war ihm im Ehestand entschwunden – wie einige sagen, mit einer Dame, die ihm nicht ihr Herz zur Morgengabe brachte, sondern ihr Glück in der Vergangenheit suchte und sich darin fügen mußte, den gebrochenen Geist an das ergebungsvolle Dulden der Gegenwart zu fesseln. Dergleichen Gerede kam übrigens nicht leicht Mr. Dombey zu Ohren, wie sehr er auch dabei beteiligt war, und wenn es je auch so weit gekommen wäre, so würde er zu allerletzt daran geglaubt haben. Dombey und Sohn hatten zwar schon oft in Häuten, nie aber in Herzen Geschäfte gemacht, denn letztere waren ein Geschäftszweig, den sie gerne jungen Burschen und Mädchen, den Kostschülern und den Bücherschreibern überließen. Mr. Dombey pflegte zu sagen, daß ein Ehebund mit ihm an und für sich jedem auch nur mit gewöhnlichem Verstand begabten Frauenzimmer sehr wünschenswert und ehrenvoll sein müsse, und die Hoffnung, einem solchen Hause einen neuen Associé zu geben, könne nicht fehlen, in der anspruchslosesten Weiberbrust ein Gefühl des glühendsten Ehrgeizes zu wecken. Mrs. Dombey habe mit ihm diesen sozialen Ehevertrag eingegangen, der ihr, selbst eine Bezugnahme auf die Fortpflanzung der Familienfirma, fast notwendig die Teilnahme an einer gentilen und wohlhabenden Stellung sicherte, und alle diese Vorteile vollkommen eingesehen, ja noch außerdem durch tägliche Erfahrung sich überzeugen können, welche Stellung er in der Gesellschaft einnehme; sie habe stets an seiner Tafel obenan gesessen, und habe die sternchenland.com Honneurs seines Hauses nicht nur in geziemender Weise, sondern auch mit dem Anstand einer seinen Dame gemacht; sie müsse daher notwendig glücklich sein, ob sie nun wolle oder nicht. Oder jedenfalls lag ihr dabei nur ein einziger Hemmstein im Wege. Ja. Dies würde er zugegeben haben. Nur ein einziger, der aber zuverlässig viel in sich faßte. Sie waren zehn Jahre verheiratet gewesen, ohne bis auf die Stunde, in welcher Mr. Dombey auf dem Lehnstuhl neben dem Bette mit der goldenen Uhrkette klimperte, einen Sprößling erzielt zu haben.

Daß ich’s recht sage, wenigstens keinen erheblichen. Vor etwa sechs Jahren war zwar ein Mädchen geboren, und das Kind, das sich eben erst unbemerkt ins Gemach gestohlen hatte, duckte sich jetzt schüchtern in eine Ecke, von der aus es seiner Mutter ins Gesicht sehen konnte. Aber was war ein Mädchen für Dombey und Sohn! In dem Kapitel des Firmanamens und der Firmawürde erschien ein solches Kind nur wie eine falsche Münze, die nirgends angelegt werden konnte – ein mißratenes Ding, weiter nichts.

Im gegenwärtigen Augenblick war übrigens Mr. Dombeys Wonnebecher so zum Überquellen angefüllt, daß er fühlte, er könne wohl einige Tröpflein des Inhalts missen, um den Staub auf dem Nebenpfade seiner kleinen Tochter damit zu benetzen. Er sagte daher:

»Florence, du kannst hingehen und dein Brüderlein ansehen, denn ich denke mir, daß dies dein Wunsch ist. Aber rühre es beileibe nicht an.«

Die Kleine warf einen lebhaften Blick auf den blauen Frack und die steife weiße Halsbinde, welche nebst ein Paar knarrenden Stiefeln und einer laut tickenden Taschenuhr ihre Idee von einem Vater verkörperten; aber ihre Augen kehrten unmittelbar darauf wieder zu dem Gesicht ihrer Mutter zurück, und sie rührte sich nicht von der Stelle, während sie zugleich ihre Lippen geschlossen hielt.

Im nächsten Moment öffnete die Dame ihre Augen und wurde des Kindes ansichtig. Die Kleine eilte auf sie zu, stand auf die Zehen, um ihr Gesichtchen besser an dem mütterlichen Busen verbergen zu können, und klammerte sich an die Wöchnerin mit einer so verzweifelten Innigkeit, wie man sie in ihren Jahren nicht erwartet hätte.

»O Gott behüte mich!« sagte Mr. Dombey, indem er ärgerlich aufstand. »Wahrhaftig, dies ist ein sehr unbesonnenes Benehmen und wird das Fieber nur steigern. Es ist wohl am besten, ich frage bei Doktor Peps an, ob er nicht vielleicht die Güte haben will, noch einmal heraufzukommen. Ich will hinunter gehen. Es wird nicht nötig sein, daß ich Euch erst bitte«, fügte er bei, während er bei der Chaiselongue vor dem Feuer einen Augenblick stehen blieb, »auf diesen jungen Gentleman ganz besondere Sorgfalt zu verwenden, Mrs. –«

»Blockitt, Sir?« ergänzte die Wärterin, ein jungferliches Stückchen verblichener Geziertheit, das sich nicht erdreistete, seinen Namen als Tatsache hinzustellen, sondern ihn nur in der Form einer milden Frage andeuten wollte. sternchenland.com »Auf diesen jungen Gentleman, Mrs. Blockitt.«

»Nein, Sir, gewiß nicht. Ich erinnere mich, als Miß Florence geboren wurde –«

»Ja, ja, schon gut«, entgegnete Mr. Dombey, indem er sich über das Korbbettchen beugte und zu gleicher Zeit die Stirne runzelte, »Bei Miß Florence war es schon recht, aber hier ist der Fall anders. Dieser junge Gentleman hat eine Bestimmung zu erfüllen. Eine Bestimmung, kleiner Bursch!«

Während dieser Anrede erhob er eines von den Händchen des Knaben an seine Lippen und küßte es: dann aber schien er sich zu besinnen, daß diese Handlung seiner Würde Abbruch getan haben könnte, und er verließ deshalb etwas verlegen das Gemach.

Doktor Parker Peps, einer der Hofärzte und ein Mann, der wegen seiner Kunst in der Beihilfe zur Vergrößerung bedeutender Familien sich eines hohen Rufs erfreute, ging mit auf dem Rücken gekreuzten Händen im Besuchzimmer auf und ab, zur unaussprechlichen Bewunderung des Hausarztes, der schon seit sechs Wochen unter allen seinen Patienten, Freunden und Bekannten den Fall als einen solchen ausposaunt hatte, der ihm keinen Augenblick Ruhe lasse, weil er Tag und Nacht jede Stunde gewärtig sein müsse, in Gemeinschaft mit Doktor Parker Peps beigezogen zu werden.

»Habt Ihr gefunden, Sir«, begann Doktor Parker Peps mit tiefer, klangreicher Stimme, die übrigens gleich dem Türklopfer für den gegenwärtigen Anlaß gedämpft war, »daß Eure teure Gemahlin durch Euren Besuch aufgeregt wurde?«

»Stimuliert, sozusagen?« fügte der Hausarzt leise bei und verbeugte sich sodann gegen den Doktor, als wollte er sagen: »Entschuldigt, daß ich ein Wörtchen einflocht, aber es handelt sich hier um eine wertvolle Kundschaft.«

Mr. Dombey war sehr betroffen ob dieser Frage, denn er hatte so wenig an die Patientin gedacht, daß er nichts darauf zu antworten wußte. Seine Erwiderung lautete dahin, daß es ihm zur Beruhigung gereichen werde, wenn Doktor Peps noch einmal oben einen Besuch machen wolle.

»Gut. Wir dürfen es Euch nicht verbergen, Sir«, sagte Doktor Peps, »daß der Mangel an Kräften bei Ihren Gnaden, der Frau Herzogin – bitt‘ um Verzeihung, ich verwechsle die Namen: wollte sagen, bei Eurer liebenswürdigen Gemahlin sehr groß ist. Wir haben es mit einem gewissen Grad von languor zu tun, mit einer allgemeinen Abwesenheit von Elastizität, die wir lieber – nicht –«

»Sehen möchten«, setzte der Hausarzt mit einer abermaligen Kopfverbeugung hinzu.

»Ganz richtig«, entgegnete Doktor Parker Peps: »die wir lieber nicht sehen möchten. Es kommt mir vor, als ob dieses System der Lady Cankaby – entschuldigt, ich meinte, der Mrs. Dombey: ich verwechsle die Namen der Fälle –«

»Sie kommen so gar häufig vor«, murmelte der Hausarzt, »daß sich in der Tat nichts anderes erwarten läßt. Wäre es ein Wunder, sternchenland.com wenn’s nicht so sei, bei der großen Praxis, die Doktor Parker Peps im Westend hat –«

»Danke, vollkommen richtig bemerkt«, versetzte der Doktor. »Es kommt mir vor, als habe das System unserer Patientin einen Stoß erlitten, von dem sie nur durch eine große, kräftige und –«

»Nachdrückliche«, murmelte der Hausarzt.

»Ganz recht«, pflichtete der Doktor bei – »durch eine nachdrückliche Kraftanstrengung sich wird erholen können. Mr. Pilkins hier, der vermöge seiner Stellung als Hausarzt dieser Familie – ich muß sagen, ich kenne niemand, der eines solchen Vertrauens würdiger wäre –«

»O!« murmelte der Hausarzt. »Lob von Sir Hubert Stanley!«

»Ihr seid allzu gütig«, erwiderte Doktor Parker Peps. »Mr. Pilkins, der kann sein Fach am besten ausfüllen, der mit der Konstitution der Patientin im normalen Zustand bekannt ist – und ein solches Wissen ist für uns bei der Bildung unserer Ansichten über solche Fälle von hoher Wichtigkeit – teilt mein Dafürhalten, daß die Natur zu einer vollen Widerstandsfähigkeit veranlaßt werden muß, und wenn unsere interessante Freundin, die Gräfin von Dombey – ich bitte wieder um Verzeihung – Mrs. Dombey – nicht imstande –«

»Sein sollte«, ergänzte der Hausarzt.

»Diese erfolgreich zu überstehen«, fuhr Doktor Parker Peps fort, »so dürfte es wohl zu einer Krisis kommen, die wir beide aufrichtig beklagen würden.«

Hierauf blieben sie einige Minuten stehen und sahen zu Boden; dann aber gingen sie auf einen stummen Wink des Doktor Parker in das obere Gemach. Der Hausarzt öffnete seinem beruflich höher stehenden Kollegen die Tür und folgte ihm voll der unterwürfigsten Höflichkeit.

Wenn wir sagen wollten, Dombey sei durch die Worte der Arzte nicht nach seiner Art ergriffen worden, so würden wir ihm Unrecht tun. Er war allerdings nicht der Mann, der einer Erschütterung im eigentlichen Sinne zugänglich war, trug aber doch ein gewisses Bewußtsein in sich, daß es ihm sehr leid tun würde, wenn seine Gattin ernstlich erkrankte und stürbe, da ihm dann für sein Silberzeug, seine Möbel und die Hausgerätschaften etwas fehlte, was wohl zu ihnen gehörte. Aber ohne Zweifel hätte seine Trauer einen gewissen ruhigen, gentlemanischen, geschäftsmäßigen und gefaßten Charakter behauptet.

Seine Betrachtungen über diesen Gegenstand wurden aber bald durch das Rauschen von Kleidern auf der Treppe und dann durch das plötzliche Hereinstürzen einer Dame unterbrochen, die, obwohl sie in den mittleren Jahren stand, sich aber, was die Enge des Korsetts betraf, sehr jugendlich trug. Sie eilte mit einem gewissen verschraubten Wesen in Gesicht und Haltung auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und rief mit erstickter Stimme:

»Mein teurer Paul, er ist ganz ein Dombey!«

»O, schon gut!« entgegnete ihr Bruder – denn dies war Mr. Dombey – »ich denke selbst auch, daß er den Familienzug trägt. Aber sei nicht so ungestüm, Louisa.« »Es ist sehr töricht von mir«, sagte Louisa, indem sie Platz nahm und ihr Taschentuch herauszog, »aber er – er ist ein so vollkommener Dombey! In meinem Leben habe ich nie etwas Ähnlicheres gesehen!«

»Aber wie steht es mit Fanny selbst?« fragte Mr. Dombey. »Was hältst du von ihrem Zustand?«

»Mein lieber Paul, es ist durchaus nichts«, antwortete Louisa – »mein Wort dafür, durchaus nichts. Allerdings ist sie erschöpft, aber lang nicht in dem Grade, wie bei mir, als ich mit George oder Frederik Wöchnerin war. Man muß ihr wieder zu Kräften verhelfen, das ist alles. Wenn die liebe Fanny eine Dombey wäre! Trotzdem, ich stehe dafür, sie wird sich machen: ich zweifle nicht daran, daß sie sich noch machen wird. Mein lieber Paul, ich weiß, es ist sehr schwach und töricht von mir, daß ich vom Kopf bis zu den Füßen so zittere: aber es ist mir so seltsam, daß ich dich um ein Glas Wein und um einen Bissen von diesem Kuchen bitten muß. Ich meinte, ich müsse zum Treppenfenster hinausstürzen, als ich von meinem Besuch bei Fanny und bei dem kleinen Schnäbelchen herunterkam.«

Die letzten Worte hatten ihren Ursprung in einer plötzlichen lebhaften Erinnerung an den Neugeborenen. Sie hatte aber kaum ausgesprochen, als sich an der Tür ein leises Pochen vernehmen ließ.

»Mrs. Chick«, sagte draußen eine sehr sanfte weibliche Stimme, »wie geht es Euch jetzt, meine liebe Freundin?«

»Mein teurer Paul«, nahm Louisa leise das Wort, indem sie sich zugleich von ihrem Sitze erhob, »es ist Miß Tox – das wohlwollendste Geschöpf. Ohne sie hätte ich nicht herauskommen können. Miß Tox, mein Bruder Mr. Dombey. Lieber Paul, meine ganz besondere Freundin, Miß Tox.«

Die so speziell vorgestellte Dame war ein langes mageres Frauenzimmer von so verblichener Außenseite, daß es den Anschein hatte, als sei sie, wie es die Modewarenhändler nennen, von Haus aus nicht »echtfarbig« gewesen, und deshalb in der Wäsche allmählich ganz und gar verschossen. Außerdem aber hätte man sie als die wahre Blume von Sanftmut und Höflichkeit bezeichnen können. Infolge ihrer langen Gewohnheit, allem, was in ihrer Gegenwart gesprochen wurde, ein bewunderndes Ohr zu schenken, wobei sie die Redenden anzusehen pflegte, als sei sie innerlich beschäftigt, die Bilder derselben in ihre Seele aufzunehmen und sich nur mit dem Leben von ihnen zu trennen, hatte sich ihr Kopf völlig nach der einen Seite verschoben. An ihren Händen bemerkte man stets ein krampfhaftes Zucken, sich wie in unwillkürlicher Bewunderung aus eignem Antrieb zu erheben, und ihre Augen waren einer ähnlichen Manier unterworfen. Sie hatte die weichste Stimme, die man nur hören kann, und ihre erstaunlich sperberartige Nase war in der Mitte oder am Schlußsteine des Rückens mit einem kleinen Knauf versehen, der sternchenland.com gegen ihr Gesicht abwärts lief, wie in unüberwindlicher Entschlossenheit, nie ein Aufwerfen des gedachten Gesichtsvorsprungs zu gestatten.

Obschon ihr Kleid vollkommen nett und gut war, drückte sich doch eine gewisse Eckigkeit und Knappheit darin aus. In ihren Hüten und Hauben pflegte sie wunderliche, unkrautartige Blümchen zu tragen, und in ihrem Haar bemerkte man bisweilen seltsame Gräser: auch konnte jeder, der sich dafür interessierte, an ihren Kragen, Rüschen, Manschetten und sonstigem Spitzenzeug – kurz an allem, was an ihrem Kleid die Bestimmung hatte, sich zu vereinigen, die Wahrnehmung machen, daß die beiden Enden nie auf freundschaftlichem Fuß miteinander standen, sondern stets eine große Neigung verrieten, die Verbindung nicht ohne Kampf vollziehen zu lassen. Für ihren Winterputz hatte sie Pelzkragen, Boas und Muffe, die stets in herausfordernder Weise auf der einen Seite standen und wild ihre Haare sträubten; auch besaß sie die Liebhaberei, stets kleine Beutel mit Federschlössern bei sich zu führen, die, wenn sie geöffnet werden sollten, wie kleine Pistolen losgingen, und sooft sie sich in vollem Putz zeigte, prunkte an ihrem Hals das geschmackloseste aller Schlösser mit einem alten, glotzenden Auge, in dem auch nicht eine Spur von Sinn lag. Diese und andere ähnliche Merkmale dienten dazu, die Ansicht zu verbreiten, Miß Tor sei eine Dame von zwar beschränkten, aber doch unabhängigen Mitteln, die sie im besten Lichte erscheinen ließ. Möglich, daß ihr trippelnder Gang diesen Glauben ermutigte, weil man daraus entnehmen konnte, der Umstand, daß sie einen gewöhnlichen Schritt in drei abteilte, habe notwendig seinen Ursprung in der Gewohnheit, alles aufs beste zu tun.

»In der Tat,« sagte Miß Tor mit einem bewundernswürdigen Knix, »die Ehre, Mr. Dombey vorgestellt zu werden, ist eine Auszeichnung, nach der ich mich längst gesehnt habe, obschon ich sie in diesem Augenblicke nicht erwartet hätte. Meine teure Mrs. Chick – darf ich sagen, Louisa?«

Mrs. Chick nahm die Hand der Freundin in die ihrige, setzte den Fuß ihres Weinglases darauf, unterdrückte eine Träne und sprach mit gedämpfter Stimme:

»Gott behüte, wozu auch diese Frage?«

»Meine teure Louisa also«, versetzte Miß Tor, »meine süße Freundin, wie geht es Euch jetzt?«

»Besser«, erwiderte Mrs. Chick. »Darf ich Euch etwas Wein anbieten? Ihr seid fast ebenso in Sorge gewesen wie ich, und habt es daher wohl verdient.«

Mr. Dombey schenkte ihr ein.

»Miß Tor, Paul«, fuhr Mrs. Chick fort, indem sie noch immer die Hand ihrer Freundin festhielt, »war Zeuge, wie sehr ich mich im voraus auf das Ereignis des heutigen Tage« freute, und hat daher eine kleine Gabe für Fanny angefertigt, die ich ihr zu überreichen versprach. Es ist nur ein Nadelkissen für den Toilettentisch, Paul, aber ich sage und werde stets sagen, ja, ich muß sagen, daß Miß Tor ihre freundliche Gesinnung der Gelegenheit allerliebst angepaßt sternchenland.com hat. Den Gruß: ›zum Willkomm des kleinen Dombeylein‹ muß ich Poesie nennen.«

»Lautet so die Inschrift?« fragte ihr Bruder.

»So lautet die Inschrift«, antwortete Louisa.

»Um mir übrigens Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, meine teure Louisa«, bemerkte Miß Tox in einem leise bittenden Ton, »müßt Ihr hinzusetzen, daß nichts als die – ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll – die Unsicherheit über die Frage des Resultats mich zu einer so großen Freiheit veranlaßt hat: denn eher könnt Ihr Euch denken, daß die Fassung: ›zum Willkomm des Master Dombey‹ – meinen Gefühlen besser entsprochen hätte. Freilich weiß man bei solchen kleinen Engelchen nie vorher, wie man mit ihnen daran ist, und ich hoffe, diese Unsicherheit wird einem Ausdruck zur Entschuldigung dienen, der sonst als eine nicht zu rechtfertigende Vertraulichkeit erscheinen könnte.«

Miß Tox machte während dieses Vortrags gegen Mr. Dombey eine anmutige Verbeugung, die von dem Gentleman in gnädiger Weise erwidert wurde. Sogar die Art der Anerkennung von Dombey und Sohn, wie sie bisher im Gespräche sich kundgegeben, hatte für ihn etwas so Behagliches, daß seine Schwester, Mrs. Chick, – obschon er tat, als halte er sie für eine gute schwache Frau – vielleicht mehr Einfluß auf ihn üben konnte, als irgend jemand anders.

»Nun«, sagte Mrs. Chick mit einem süßen Lächeln, »nach diesem vergebe ich Fanny alles!«

Das war eine christliche Erklärung, und Mrs. Chick fühlte sich im Innern sehr dadurch erleichtert. Nicht, daß sie ihrer Schwägerin etwas Besonderes – oder überhaupt etwas zu vergeben gehabt hätte, wenn es nicht etwa die an sich schon starke Vermessenheit war, ihren Bruder zu heiraten und ihn sodann im Lauf der Zeit statt eines Knaben mit einem Mädchen zu beschenken. Letzteres war, wie Mrs. Chick oft bemerkte, nicht ganz das, was sie von ihr erwartet hatte, und überhaupt ein schlechter Dank für die Aufmerksamkeit und Auszeichnung, die ihr zuteil geworden.

In diesem Augenblick wurde Mr. Dombey hastig aus dem Zimmer gerufen, und die beiden Damen blieben allein beisammen. Miß Tox geriet in dem Moment in Exaltation.

»Ich wußte es ja, daß Ihr meinen Bruder bewundern würdet, und habe es Euch im voraus gesagt, meine Liebe«, bemerkte Louisa.

Die Hände und die Augen von Miß Tox bekundeten, in wie hohem Grade das geschah.

»Und was sein Vermögen betrifft, meine Liebe!«

»Ah!« entgegnete Miß Tox mit tiefem Gefühl.

»Un – ermeßlich!«

»Aber, sein Benehmen, meine teure Louisa!« sagte Miß Tox. »Sein Anstand! Seine Würde! Kein Porträt habe ich je von irgend jemand gesehen, das auch nur annähernd diese Eigenschaften in sich sternchenland.com schließt. Ihr wißt, etwas so Stattliches, Unnahbares – die breite Brust und die aufrechte Haltung. Ein pekuniärer Herzog von York, meine Liebe – kein Haar weniger! So und nicht anders kann ich ihn bezeichnen«, sagte Miß Tox.

»Ei, mein lieber Paul!« rief die Schwester, als er zurückkehrte, »du siehst so blaß aus! Es ist doch nichts vorgefallen?«

»Leider muß ich dir mitteilen, Louisa, daß man mir sagt, Fanny sei –«

»Ach, mein lieber Paul, glaube nur kein Wort davon«, entgegnete die Schwester, indem sie sich von ihrem Sitz erhob. »Wenn du mir in meiner Erfahrung nur etwas vertrauen wolltest, Paul, so kannst du versichert sein, daß es sich hier um nichts handelt, als um eine Anstrengung Fannys. Man muß sie« – fügte sie hinzu, indem sie ihren Hut aufsetzte und in geschäftsmäßiger Weise Haube und Handschuh zurechtstrich – »zu dieser Anstrengung ermutigen, ja, im Notfalle sogar dazu zwingen. Komm nur mit mir die Treppe hinauf, mein lieber Paul.«

Abgesehen von dem vorerwähnten Einflusse, den Mrs. Chick auf ihren Bruder ausübte, hatte Mr. Dombey in der Tat ein sehr großes Vertrauen zu ihr, als zu einer erfahrenen, rührigen Frau, weshalb er sich beruhigte und er ihr ohne zu zögern in das Krankenzimmer folgte.

Die Kranke lag, wie er sie verlassen hatte, auf dem Bette und hielt den Kopf ihres Töchterchens an die Brust gedrückt. Das Kleine klammerte sich mit der größten Innigkeit an die Mutter an, ohne das Haupt zu erheben oder die weiche Wange von dem Antlitz derselben zu lösen. Sie hatte keinen Blick für die Umstehenden, und mit ihrem tränenlosen Auge und der stummen Lippe glich sie eher einer regungslosen Statue, als einem lebenden Wesen.

»Sie hatte keine Ruhe ohne das kleine Mädchen«, flüsterte der Doktor Mr. Dombey zu, »und so hielten wir es für das beste, es ihr zu lassen.«

Um das Bett her herrschte eine feierliche Stille, und die beiden Herren über Leben und Tod blickten mit so viel Mitleid und so wenig Hoffnung auf die regungslose Gestalt, daß Mrs. Chick für eine Weile ihres Vorhabens vergaß. Sie faßte übrigens bald wieder Mut, nahm ihre Geistesgegenwart, wie sie’s nannte, zusammen, setzte sich ans Krankenlager und sprach in dem gedämpften Ton einer Person, die jemand aus dem Schlaf zu wecken bemüht ist:

»Fanny! Fanny!«

Keine andere Antwort darauf, als das laute Ticken von Mr. Dombeys Uhr und Doktor Parker Peps‘ Uhr, die in dem tiefen Schweigen einen Wettlauf zu machen schienen.

»Fanny, meine Liebe«, sagte Mrs. Chick mit erkünstelter Sorglosigkeit, »Dombey ist hier, um nach Euch zu sehen. Wollt Ihr nicht mit ihm sprechen? Man will Euer Kind – das kleine Söhnchen – Ihr wißt ja, Fanny, Ihr habt ihn kaum gesehen – zu Bett legen, kann’s aber nicht tun, ehe Ihr Euch ein wenig aufgerafft habt. sternchenland.com Glaubt Ihr nicht auch, es sei Zeit, daß Ihr Euch ein wenig anstrengt? Eh?«

Sie neigte ihr Ohr gegen das Bett und lauschte, während sie zu gleicher Zeit nach den Umstehenden blickte und den Finger erhob.

»Eh?« wiederholte sie. »Was habt Ihr gesagt, Fanny? Ich Habe Euch nicht verstanden.«

Kein Wort, kein Laut zur Erwiderung. Nur Mr. Dombeys Uhr und die des Doktor Parker Peps schienen schneller zu laufen.

»In der Tat, meine liebe Fanny«, fuhr die Schwägerin fort, indem sie ihre Stellung änderte und dabei unwillkürlich mit weniger Zuversicht, dagegen aber mit größerer Strenge sprach, »ich muß böse auf Euch werden, wenn Ihr Euch nicht aufrafft. Ein Kraftaufwand ist für Euch nötig, wie beschwerlich oder schmerzlich er auch sein mag: aber Ihr wißt ja, wir leben in einer Welt des Kämpfens, Fanny, und wir dürfen nicht nachgeben, wenn so viel von uns selbst abhängt. Kommt! Versucht es! Ich muß wahrhaftig mit Euch zanken, wenn Ihr’s nicht tut!«

Das Rennen der Uhren in der darauffolgenden Pause war wild und wütend. Sie schienen gegeneinander anzustoßen und sich auf die Fersen zu treten.

»Fanny!« sagte Louisa, mit steigender Unruhe umherschauend. »Seht mich nur an. öffnet doch die Äugen, um mir anzudeuten, daß Ihr mich hört und versteht – wollt Ihr nicht? Gütiger Himmel, Gentlemen, was ist da anzufangen?«

Die beiden Ärzte wechselten über dem Bett weg einen Blick, und Doktor Parker Pep beugte sich sodann zu dem Kinde nieder, dem er etwas ins Ohr flüsterte. Das kleine Wesen, das die Worte des Arztes nicht verstanden hatte, wandte ihm das farblose Gesicht mit den tiefschwarzen Augen zu, ohne jedoch die Mutter auch nur im mindesten loszulassen.

Das Geflüster wurde wiederholt.

»Mama!« sagte die Kleine.

Die schwache Stimme des heißgeliebten Wesens weckte selbst bei dieser tiefen Ebbe eine Spur von Besinnung. Einen Moment zitterten die geschlossenen Augenlider, die Nasenflügel bewegten sich, und man bemerkte den matten Schatten eines Lächelns.

»Mama!« rief das Kind, laut schluchzend. »O liebe Mama! o liebe Mama!«

Der Doktor streifte sanft die wirren Locken der Kleinen von dem Gesicht und Mund der Mutter. Ach, wie ruhig sie dort lagen! Wie schwach der Atem, der sie nicht in Bewegung zu setzen vermochte!

So entschwebte, den schwachen Mast fest mit ihren Armen umschlingend, die Mutter – hinaus in das dunkle, unbekannte Meer, das die ganze Welt umfließt. sternchenland.com

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Enthält die Folgen, die das Unglück des Midshipman nach sich zieht.

Major Bagstok hatte oft und lang über den Prinzessinnenplatz hinüber durch seinen doppeltstarken Fernstecher unsern Paul beobachtet und hatte durch den Eingeborenen, der deshalb einen beharrlichen Verkehr mit dem Dienstmädchen der Miß Tox unterhielt, täglich, wöchentlich und monatlich ausführliche Berichte über den fraglichen Gegenstand erhalten. So gelangte er zu dem Schlusse, daß Dombey, Sir, ein Mann sei, den man kennenlernen müsse, und daß J.B. diese Bekanntschaft nicht versäumen dürfe.

Miß Tox jedoch behauptete ihr zurückhaltendes Benehmen und wies den Major mit großer Kälte zurück, so oft er sie – was zu sternchenland.com verschiedenen Malen geschah – über diesen Gegenstand auszuforschen versuchte. Der Major wollte daher, trotz seiner angeborenen Zähigkeit und Schlauheit, lieber die Erfüllung seines Wunsches einigermaßen dem Zufall überlassen, der, wie er in seinem Klub kichernd zu bemerken pflegte, »fünfzig gegen einmal stets zugunsten des Joey B. stand, Sir, seit sein älterer Bruder in Westindien an dem gelben Jack starb.«

Es dauerte lange, bis er ihm in dem gegenwärtigen Falle zu Hilfe kam. Am Ende aber hatte er doch Glück. Als der schwarze Diener mit allen Einzelheiten berichtete, daß Miß Tox im Brightondienst abwesend sei, wandelten den Major plötzlich zärtliche Erinnerungen an seinen Freund Bill Bitherstone in Bengalen an, der ihm geschrieben hatte, wenn er je in diese Gegend käme, möchte er doch seinen einzigen Sohn besuchen. Zur Zeit übrigens, als derselbe schwarze Diener meldete, Paul befinde sich bei Mrs. Pipchin. Dadurch gab er dem Major Anlaß, sich des Briefes zu erinnern, den ihm Master Bitherstone bei seiner Ankunft in England überreicht hatte. Zwar war er damals nicht entfernt geneigt, diesem je Aufmerksamkeit zu schenken. Der ehrenwerte Krieger lag nun gerade an einem Gichtanfall danieder, und er wurde über die Meldung so wütend, daß er zum Dank dem Schwarzen einen Fußschemel nachwarf und hoch und teuer schwur, er wolle den Kerl noch eigenhändig umbringen – eine Drohung, die der Schwarze mehr als halb zu glauben geneigt war.

Endlich war der Anfall vorübergegangen, und der Major begab sich eines Sonnabends, den Eingeborenen hinter sich, nach Brighton hinunter, unterwegs stets Miß Tox anredend und über der Aussicht die Augen aufreißend, daß er jetzt den ausgezeichneten Freund, mit dem sie so geheimnisvoll getan und um dessen willen sie ihn verlassen hatte, im Sturm erobern könne.

»Meint Ihr, Ma’am – meint Ihr?« sagte der Major, von Rachsucht glühend, während die dicken Adern seines Kopfes noch mehr aufquollen. »Glaubt Ihr, Ihr könnt Joe B. den Laufpaß geben, Ma’am? Es ist noch nicht so weit, Ma’am, noch lange nicht! Zum Teufel, noch nicht, Sir. Joe hat die Augen offen, Ma’am. Bagstok ist wachsam. J.B. versteht sich auch auf einen und den andern Schachzug, Ma’am. Ihr werdet Josh zäh finden, Ma’am. Zäh, Sir, zäh ist Joseph und verteufelt schlau.«

Sehr zäh fand ihn jedenfalls Master Bitherstone, als er diesen jungen Gentleman zu einem Spaziergang mitnahm. Der Major nämlich mit seinem Gesicht wie ein Stiltonkäse und seinen Augen ähnlich denen eines Kabeljaus streifte, völlig gleichgültig gegen Master Bitherstones Unterhaltung, umher und schleppte ihn mit sich, während er sich allenthalben nach Mr. Dombey und dessen Kindern umsah.

Da er übrigens zuvor von Mrs. Pipchin unterrichtet war, so erspähte er bald Paul und Florence, auf die er unverzüglich zusteuerte. Sie hatten einen stattlichen Gentleman (ohne Zweifel Mr. sternchenland.com Dombey) in ihrer Gesellschaft. Während er mit Mr. Bitherstone in das Herz dieses kleinen Geschwaders brach, traf es sich natürlich, daß der kleine Begleiter die Genossen seiner Leiden anredete. Der Major machte sofort halt, um ihnen seine Aufmerksamkeit und Bewunderung zu schenken, erinnerte sich erstaunt, daß er sie bei seiner Freundin Miß Tox auf dem Prinzessinnenplatz gesehen und gesprochen habe, meinte, Paul sei ein verteufelt hübscher Bursche und sein kleiner Freund, fragte, ob sich dieser des Majors Joey B. entsinne. Schließlich wandte er sich, plötzlich die gesellschaftliche Etikette berücksichtigend, an Mr. Dombey, um sich gegen ihn zu entschuldigen.

»Aber mein kleiner Freund hier, Sir«, sagte der Major, »macht mich wieder zu einem Knaben. Ein alter Soldat, Sir – Major Bagstok, Euch zu dienen – scheut sich nicht, dies einzugestehen.« Der Major lüftete dabei seinen Hut. »Gott verdamm‘ mich, Sir«, fügte der Major mit unerwarteter Wärme bei, »ich beneide Euch.« Dann besann er sich jäh und sagte: »Entschuldigt meine Freimütigkeit.«

Mr. Dombey bat ihn, nicht davon zu reden.

»Ein alter Lagergesell, Sir«, sagte der Major, »ein von Rauch ausgedorrter, sonnverbrannter, verbrauchter, invalider, alter Hund von Major, Sir, wird allerdings nicht zu fürchten haben, wegen seiner Grille von einem Mann, wie Mr. Dombey, verurteilt zu werden. Ich glaube doch, daß ich die Ehre habe, Mr. Dombey anzureden?«

»Ich bin gegenwärtig der unwürdige Repräsentant dieses Namens, Major«, entgegnete Mr. Dombey.

»Bei Gott, Sir!« erwiderte der Major, »es ist ein großer Name. Es ist ein Name, Sir«, fügte er mit Bestimmtheit bei, als wolle er Mr. Dombey zum Widerspruch herausfordern, um alsdann die schmerzliche Pflicht zu erfüllen, mit ihm anzubinden, »den man in allen auswärtigen Besitzungen des britischen Reichs kennt und ehrt. Es ist ein Name, Sir, den man mit Stolz tragen darf. Joseph Bagstok hat nichts von Schmeichelei an sich, Sir. Seine Königliche Hoheit der Herzog von York bemerkte bei mehr als einer Gelegenheit, ›Joey ist kein Schmeichler. Joe ist ein einfacher, alter Soldat. Joseph ist zäh, daß man es fast bedauern möchte.‹ Aber es ist ein großer Name, Sir. Bei dem Allmächtigen, es ist ein großer Name«, fügte der Major feierlich bei.

»Ihr seid gütig genug, ihn vielleicht höher anzuschlagen, als er es verdient, Major«, versetzte Mr. Dombey.

»Nein, Sir«, sagte der Major. »Mein kleiner Freund hier, Sir, wird es Joseph Bagstok bezeugen, daß er ein durchgreifender, fadengerader, ehrlicher, alter Tropf ist, Sir, weiter nichts. Dieser Knabe, Sir«, fuhr der Major in gedämpftem Ton fort, »wird in der Geschichte leben. – Dieser Knabe, Sir, ist keine gewöhnliche Erscheinung. Tragt Sorge für ihn, Mr. Dombey.«

Mr. Dombey schien andeuten zu wollen, daß er sich bemühen werde, es zu tun.

»Da ist auch ein Junge, Sir«, fuhr der Major vertraulich fort sternchenland.com und versetzte dem gemeinten einen Stoß mit seinem Rohr. »Sohn von Bitherstone in Bengalen. Bill Bitherstone, vormals einer der Unsrigen, Der Vater dieses Knaben und ich, wir waren geschworne Freunde. Wohin Ihr auch gehen mochtet, Sir, hörtet Ihr von nichts, als von Bill Bitherstone und Joe Bagstok. Bin ich blind gegen die Mängel dieses Knaben? Keineswegs. Er ist ein Einfaltspinsel, Sir.«

Mr. Dombey blickte nach dem geschmähten Master Bitherstone hin, von dem er wenigstens ebensoviel wußte wie der Major, und versetzte in selbstgefälliger Weise:

»Wirklich?«

»Ja, das ist er, Sir«, sagte der Major. »Er ist ein Einfaltspinsel. Joe Bagstok ist nicht der Mann, etwas zu bemänteln. Der Sohn meines alten Freundes Bill Bitherstone in Bengalen ist ein geborener Einfaltspinsel, Sir.« Dabei lachte der Major, bis er fast blau wurde. »Mein kleiner Freund ist vermutlich für eine öffentliche Schule bestimmt?« fügte er hinzu, nachdem er sich wieder erholt hatte.

»Ich bin noch nicht ganz schlüssig«, entgegnete Mr. Dombey, »Ich glaube nicht. Er ist so zart.«

»Wenn er so zart ist, Sir«, sagte der Major, »so habt Ihr recht. Nur zähe Kameraden können es in Sandhurst aushalten, Sir. Jeder andere wurde dort eigentlich gefoltert. Wir brieten die neuen Ankömmlinge bei einem langsamen Feuer und hingen sie, den Kopf unter sich, zu einem drei Treppen hohen Fenster hinaus. Joseph Bagstok, Sir, wurde gleichfalls für die Dauer von dreizehn Minuten nach der Kollegsuhr an den Fersen seiner Stiefel zum Fenster hinausgehalten.«

Zur Bekräftigung dieses Umstandes hätte sich der Major wohl auf sein Gesicht berufen können, denn dieses schien wirklich den Beweis zu liefern, als hätte er ein bißchen zu lang gehangen.

»Aber es machte uns zu dem, was wir waren«, sagte der Major, den Busenstreif seines Hemdes ordnend, »Wir waren von Eisen, Sir, und solche Übungen dienten als Schmiede. Wohnt Ihr hier, Mr. Dombey?«

»Ich komme in der Regel einmal wöchentlich herunter, Major«, erwiderte dieser Gentleman. »Mein Wohnquartier ist an dem Bedford.«

»So werde ich die Ehre haben. Euch an dem Bedford meine Aufwartung zu machen, Sir, wenn Ihr es mir gestattet«, sagte der Major. »Joe B., Sir, hält im allgemeinen nicht viel auf Besuche, aber Mr. Dombeys Name gehört nicht unter die gewöhnlichen. Ich bin meinem kleinen Freunde sehr viel verpflichtet für die Ehre dieser Bekanntschaft.«

Mr. Dombey gab eine sehr gnädige Erwiderung, und Mr. Bagstok tätschelte Paul auf den Kopf, worauf er gegen Florence bemerkte, »ihre Augen würden bald mit den jungen Burschen ein Teufelsspiel anfangen. Und mit den alten dazu, Sir, wenn wir nun mal darauf kommen«, fügte er unter vielem Kichern bei, störte dann Master Bitherstone mit seinem Spazierstock auf und entfernte sich sternchenland.com mit diesem jungen Gentleman in einer Art von Halbtrab, wobei er mit großer Würde seinen Kopf rollte und hustete, in seinem Marsch die Füße sehr weit auseinander spreizend.

In Erfüllung seiner Zusage machte der Major Mr. Dombey später einen Besuch, der von Mr. Dombey, nachdem er die Armeeliste zu Rate gezogen hatte, erwidert wurde. Dann sprach der Major auch in Mr. Dombeys Stadthaus vor und machte seinen nächsten Besuch zu Brighton in Mr. Dombeys Kutsche. Mit einem Worte, die Bekanntschaft dieser beiden Ehrenmänner nahm einen ungemein schnellen Fortgang, und Mr. Dombey bemerkte in betreff des Majors gegen seine Schwester, daß er zwar ein ganz militärischer Mann sei, aber trotzdem etwas mehr in sich trage, sintemal er eine ganz bewunderungswürdige Vorstellung über die Wichtigkeit von Dingen habe, die zu seinem Beruf in keiner Beziehung stünden.

Als später Mr. Dombey seine Schwester und Miß Tor nach Brighton nahm und den Major daselbst bereits vorfand, lud er ihn zum Diner nach dem Bedford ein und machte schon im voraus Miß Tor große Komplimente wegen ihres Nachbars und Bekannten. Ungeachtet des Herzklopfens, das dergleichen Anspielungen hervorriefen, waren sie doch Miß Tor durchaus nicht unangenehm, da sie sich dabei ungemein interessant machen und eine gelegentliche Verwirrtheit zur Schau tragen konnte, die sie nicht ungern blicken ließ. Der Major gab ihr reichlichen Anlaß, diese Erregung zu entfalten; denn er beklagte sich beim Diner sehr, daß sie von ihm und dem Prinzessinnenplatze desertiert sei, und da ihm dergleichen Klagen große Freude zu machen schienen, so lief alles ganz herrlich ab.

Bei Tafel übernahm der Major die Aufgabe der ganzen Unterhaltung und zeigte hierfür eine ebenso große Gier wie in Beziehung auf die verschiedenen Leckerbissen, in denen er sich, sozusagen, fast wälzte – sehr zur Steigerung seiner inflammatorischen Liebhabereien. Mr. Dombey ließ sich bei seinem gewöhnlichen, abgemessenen Schweigen diese Anmaßung gern gefallen, und der Major fühlte, daß er sich mit Glanz ausnahm. Auch entrang ihm der Schwung seines Geistes eine so endlose Anzahl von neuen Wechseln in seinem Namen, daß er selbst darüber erstaunte. Mit einem Wort, alles vergnügte sich recht gut. Man betrachtete den Major als einen Mann, der eine unerschöpfliche Unterhaltungsgabe habe, und als er endlich nach einer langen Partie Whist sich verabschiedete, machte Mr. Dombey Miß Tor abermals ein Kompliment über ihren Nachbar und Bekannten. Aber auf dem ganzen Weg zu dem Hotel sagte der Major unaufhörlich zu sich und von sich selbst: »Schlau, Sir – schlau, Sir – verteufelt schlau!« Und als er daselbst angelangt war, setzte er sich auf einen Stuhl nieder und brach in ein stummes Gelächter aus – ein Anfall, dem er hin und wieder ausgesetzt war und der ihn stets in einem besonders schauerlichen Licht erscheinen ließ. Bei der erwähnten Gelegenheit hielt er so lange an, daß ihn der schwarze Diener, der ihm aus der Ferne zusah und um keinen Preis der Welt heranzutreten sich erdreistete, zwei- oder dreimal für verloren gab. sternchenland.com Seine ganze Gestalt, namentlich aber sein Gesicht und sein Kopf, erweiterte sich über alle frühere Erfahrung und boten dem Schwarzen einen Anblick, der sich wie eine keuchende Masse von Indigo ausnahm. Endlich verfiel er in einen ungestümen Hustenanfall, und als es damit etwas besser wurde, brach er in nachstehende Ergießung aus:

»Möchtet Ihr, Ma’am – möchtet Ihr? Mistreß Dombey, eh, Ma’am? Ich denke nicht, Ma’am, solange Joe B. eine Speiche in Euer Rad einsetzen kann, Ma’am. J. B. ist jetzt quitt mit Euch, Ma’am. Er ist noch nicht ganz ausgekegelt, Sir – nein, Bagstok ist’s noch nicht. Sie ist gerissen, gerissen, Sir, aber Josh ist noch gerissener. Der alte Joe hat die Augen offen – hell offen – sperrangelweit offen, Sir!«

Die letzte Versicherung war ohne Zweifel bis zu einem furchtbaren Umfang wahr, und so blieb sie es auch während des größten Teils der Nacht, die der Major hauptsächlich in ähnlichen Ausrufen und unter unterschiedlichen Husten- oder Erstickungsanfällen verbrachte, womit er das ganze Haus aufstörte.

Am Tage nach diesem Vorgang, der ein Sonntag war, saßen Mr. Dombey, Mrs. Chick und Miß Tor eben beim Frühstück und ergingen sich in Lobeserhebungen über den Major, als Florence mit glührotem Gesicht und vor Freude funkelnden Augen hereingeeilt kam.

»Papa! Papa!« rief sie. »Hier ist Walter – er will nicht hereinkommen.«

»Wer?« entgegnete Mr. Dombey. »Was meint sie damit? Was soll das heißen?«

»Walter, Papa«, versetzte Florence schüchtern, denn sie fühlte wohl, daß sie mit allzu großer Vertraulichkeit ihrem Vater unter die Augen getreten war, »der mich fand, als ich mich verirrt hatte.«

»Meint sie den jungen Gay, Louisa?« fragte Mr. Dombey, seine Augenbrauen runzelnd. »In der Tat, das Benehmen dieses Kindes ist sehr lärmend geworden. Unmöglich kann sie den jungen Gay meinen. Sieh nach, was es gibt – willst du so gut sein?«

Mrs. Chick eilte in den Flur hinaus und kehrte mit der Kunde zurück, daß allerdings der junge Gay da sei und eine sehr seltsam aussehende Person zum Begleiter habe. Der Knabe wolle sich nicht die Freiheit nehmen, hereinzukommen, weil er gehört habe, daß Mr. Dombey beim Frühstück sei – er warte deshalb, bis ihm von Mr. Dombey die Erlaubnis dazu erteilt werde.

»Bemerke dem Jungen, er solle nur jetzt hereinkommen«, sagte Mr. Dombey. »Nun, Gay, was gibt es? Wer hat Euch heruntergeschickt? Hat niemand anders kommen können?«

»Ich bitte um Verzeihung«, entgegnete Walter, »ich bin nicht geschickt worden. Aus eigenem Antrieb habe ich mich erdreistet, zu kommen, und ich hoffe, Ihr werdet mir vergeben, wenn ich den Grund dazu erzählt habe.«

Aber Mr. Dombey blickte, ohne auf die Worte des Knaben zu achten, ungeduldig rechts und links von ihm, als wäre Walter ein Pfeiler in seinem Weg, nach einem dahinter befindlichen Gegenstand. sternchenland.com »Was ist das?« fragte Mr. Dombey. »Wer ist das? Vermutlich habt Ihr die Tür verfehlt, Sir.«

»O, es tut mir sehr leid, wenn ich Euch mit irgend jemandem aufdringlich bin, Sir«, rief Walter hastig – »aber dies ist – dies ist Kapitän Cuttle, Sir.«

»Wal’r, mein Junge«, bemerkte der Kapitän mit tiefer Stimme, »halt stand!«

Zu gleicher Zeit kam er ein wenig weiter herein und stellte seinen weiten blauen Anzug, den segelförmigen Hemdkragen und die knaufige Nase ins volle Licht. Nachdem er sich gegen Mr. Dombey verbeugt hatte, schwenkte er, den harten Glanzhut in der einen Hand und den Eindruck desselben in einem roten Ring um seine Stirne zur Schau tragend, höflich seinen Haken gegen die Damen.

Mr. Dombey schaute mit Staunen und Unwillen auf diese Erscheinung; seine Blicke schienen anzudeuten, als wolle er Mrs. Chick und Miß Tox zur Abwehr aufbieten. Der kleine Paul, der hinter Florence hereingekommen war, ging, als der Kapitän seinen Hut schwenkte, rücklings auf Miß Tox zu und hielt sich auf Verteidigung gefaßt.

»Nun, Gay«, sagte Mr. Dombey, »was habt Ihr mir zu sagen?«

Abermals bemerkte der Kapitän gleichsam als allgemeine Einleitung zu dem Gespräch, die nicht verfehlen sollte, alle Parteien günstig zu stimmen:

»Wal’r, halt stand!«

»Ich fürchte, Sir«, begann Walter mit Zittern und mit zu Boden geschlagenen Augen, »daß ich mir eine große Freiheit nehme – ja ich weiß sogar, daß ich es tue. Auch würde ich, fürchte ich, kaum den Mut gehabt haben, bei Euch vorzusprechen, Sir, selbst nachdem ich heruntergekommen war – wenn mir nicht Miß Dombey begegnet wäre und –«

»Schon gut«, sagte Mr. Dombey, seinen Augen folgend, als der Knabe nach der aufmerksamen Florence hinblickte, und unwillkürlich die Stirne runzelnd, als er bemerkte, daß sie ihn mit einem Lächeln ermutigte. »Fahrt fort, wenn ich bitten darf.«

»Ja, ja«, bemerkte der Kapitän in der Meinung, es liege ihm ob, seine gute Erziehung zu zeigen und Mr. Dombey zu unterstützen. »Wohl gesprochen! fahrt fort, Wal’r.«

Kapitän Cuttle hätte eigentlich bei dem Blick, den ihm Mr. Dombey zum Dank für diesen Beistand zuwarf, in den Boden sinken sollen; aber etwas der Art fiel ihm nicht ein; denn er schloß bloß zur Erwiderung das eine Auge und gab Mr. Dombey durch gewisse bedeutsame Bewegungen mit seinem Hut zu verstehen, Walter sei zwar anfangs ein bißchen verschämt, werde übrigens bald mit der Farbe herausrücken.

»Es ist ausschließlich eine persönliche Angelegenheit, die mich hierher geführt hat, Sir«, fuhr Walter stockend fort, »und Kapitän Cuttle –«

»Hier!« fiel der Kapitän ein – gleichsam zur Versicherung, daß er zur Hand sei und man sich auf ihn verlassen könne.

»Ein langjähriger Freund von meinem armen Onkel und ein ganz vortrefflicher Mann, Sir«, fuhr Walter fort, indem er seine Augen erhob, um einen Blick der Bitte zugunsten des Kapitäns zu entsenden, »war so gütig, mir seine Begleitung anzubieten, die ich kaum zurückweisen konnte.«

»Nein, nein, nein«, bemerkte der Kapitän selbstgefällig. »Natürlich nicht, war kein Grund zu einer Zurückweisung da. Fahrt fort, Wal’r.«

»Und deshalb, Sir«, sagte Walter, der es nun wagte, zu Mr. Dombeys Auge aufzusehen, und mit größerem Mut fortfuhr, weil er sah, daß der Fall verzweifelt und nicht mehr zu umgehen war, »deshalb bin ich mit ihm gekommen, Sir, um Euch zu sagen, daß mein armer, alter Onkel in sehr großer Not und Bedrängnis ist. Seine Kundschaft hat sich allmählich verloren, und er ist nun nicht imstande, eine Zahlung zu machen, die, wie ich wohl weiß, ihm schon seit Monaten schwer auf dem Herzen gelegen hat. Er hat jetzt Konkurs in seinem Haus und steht in Gefahr, alles, was er hat, zu verlieren. Natürlich muß ihm dies das Herz brechen. Ihr kennt ihn schon längst als einen achtbaren Mann, und wenn Ihr so gütig sein wolltet, etwas zu tun, um ihm aus seiner Schwierigkeit zu helfen, Sir, so könnten wir Euch nie dankbar genug dafür sein.«

Während Walter dies sprach, füllten sich seine Augen mit Tränen, und ebenso erging es Florence. Der Vater bemerkte den Tau an den Wimpern seiner Tochter, obschon er sich den Anschein gab, als sehe er bloß nach Walter hin.

»Es ist eine sehr große Summe, Sir«, sagte Walter. »Mehr als dreihundert Pfund. Mein Onkel ist durch sein Unglück völlig zu Boden gedrückt und außerstande, etwas zu seiner eigenen Erleichterung zu tun. Ja, er weiß nicht einmal, daß ich hier bin, um mit Euch über die Sache zu sprechen. Ihr verlangt wahrscheinlich, Sir«, fügte Walter nach einem kurzen Stocken bei, »ich solle sagen, was ich denn eigentlich wolle. Ich weiß es in der Tat selbst nicht, Sir. Wir haben noch das Warenlager meines Onkels, und ich glaube mit Zuversicht sagen zu können, daß keine weiteren Forderungen darauf haften; auch ist hier Kapitän Cuttle, der sich gleichfalls zur Bürgschaft erbietet. Ich – ich mag kaum einen Verdienst, wie der meine es ist, berühren«, fügte Walter bei; »aber wenn Ihr erlauben wolltet, – stehen lassen – Zahlung – Vorschuß – der Onkel – ein darbender, ehrlicher, alter Mann –«

Von diesen gebrochenen Sätzen aus ging Walter in ein Schweigen über und blieb mit gesenktem Haupt vor seinem Chef stehen.

Kapitän Cuttle hielt diesen Augenblick für günstig, seine Pretiosen zu entfalten, weshalb er an den Tisch trat, unter den Frühstücktassen neben Mr. Dombey einen Platz räumte, die silberne Uhr, das bare Geld, die Teelöffel und die Zuckerzange herausholte und sie in einem Haufen aufschichtete, damit sie sich so wertvoll als möglich ausnehmen möchten. Dabei brachte er folgende Worte hervor:

»Ein halber Laib ist besser, als gar kein Brot, und dieselbe Bemerkung hält auch stich bei den Krumen. Da sind einige. Ein Jahresgehalt von hundert Pfund sieht gleichfalls zur Verfügung, Wenn es in der ganzen Welt einen Mann gibt, der voller Wissenschaft steckt, so ist’s der alte Sol Gills. Und wenn es einen hoffnungsvollen Jungen gibt – einen Jungen, der von Milch und Honig fließt«, fügte der Kapitän in einer von seinen glücklichen Wendungen hinzu – »so ist’s sein Neffe.«

Der Kapitän zog sich nach seinem frühern Platz zurück, wo er stehenblieb und seine wirren Haare mit der Miene eines Mannes ordnete, der in einem schwierigen Geschäft den Schlußpunkt gesetzt hat.

Nachdem Walter zu sprechen aufgehört hatte, wurden Mr. Dombeys Blicke durch den kleinen Paul gefesselt, der, als er seine Schwester aus Mitleid über das vorgetragene Unglück mit gesenktem Haupte stumm weinen sah, zu ihr hinging und sie zu trösten versuchte. Dann blickte er mit einem sehr ausdrucksvollen Gesicht nach Walter und seinem Vater hin. Von Kapitän Cuttles Anrede, die er mit stolzer Geringschätzung aufnahm, auf einen Augenblick abgelenkt, schaute Mr. Dombey wieder nach seinem Sohn hin und blieb einige Momente, das Kind stetig betrachtend, stumm sitzen.

»Aus welchem Anlaß wurde diese Schuld kontrahiert?« fragte endlich Mr. Dombey. »Wer ist der Gläubiger?«

»Er weiß es nicht«, versetzte der Kapitän, seine Hand auf Walters Schulter legend. »Wohl aber ich. Es handelte sich darum, einem Manne, der jetzt tot ist, zu helfen, und dies hat meinem Freund Gills bereits etliche hundert Pfund gekostet. Weiteres unter vier Augen, wenn es erlaubt ist.«

»Leute, die genug mit ihren eigenen Angelegenheiten zu schaffen haben«, sagte Mr. Dombey, der noch immer nach seinem Sohn hinsah, ohne auf die geheimnisvollen Winke zu achten, die der Kapitän hinter Walter machte, »täten am besten, wenn sie sich mit dem, was ihnen selbst obliegt, begnügten und ihre Stellung nicht dadurch erschwerten, daß sie sich für andere Leute verbindlich machen. Es ist ein Akt der Unehrlichkeit und obendrein der Anmaßung«, fügte Mr. Dombey streng hinzu; »eine große Anmaßung, denn auch der Wohlhabende könnte nicht mehr tun. Paul, komm her.«

Der Knabe gehorchte, und Mr. Dombey nahm ihn auf seine Knie.

»Wenn du jetzt Geld hättest«, sagte Mr. Dombey. »Sieh mich an!«

Paul, dessen Blicke nach seiner Schwester und nach Walter hingewandert waren, schaute jetzt seinem Vater ins Gesicht.

»Wenn du jetzt Geld hättest«, sagte Mr. Dombey – »so viel Geld, wie das, von dem der junge Gay gesprochen hat – was würdest du tun?«

»Es seinem alten Onkel geben«, versetzte Paul.

»Es seinem alten Onkel leihen, he?« entgegnete Mr. Dombey. »Gut! du weißt, wenn du alt genug bist, wirst du mein Geld teilen, und wir benützen es dann gemeinschaftlich.«

»Dombey und Sohn«, unterbrach ihn Paul, dem früh diese Phrase eingelernt worden war.

»Dombey und Sohn«, wiederholte sein Vater. »Möchtest du jetzt schon anfangen, Dombey und Sohn zu sein, und dieses Geld dem Onkel des jungen Gay borgen?«

»O gewiß, Papa, wenn ich darf«, sagte Paul; »und ebenso würde es auch Florence machen.«

»Mädchen haben nichts mit Dombey und Sohn zu schaffen«, erwiderte Mr. Dombey. »Du möchtest also –?«

»Ja, Papa, ja.«

»Dann sollst du auch –« erwiderte sein Vater. »Du siehst nun, Paul«, fügte er mit gedämpfter Stimme bei, »wie mächtig das Geld ist und wie sehr es sich die Leute angelegen sein lassen, welches zu erhalten. Der junge Gay ist so weit gekommen, um darum zu bitten, und du, der du es hast, bist so großmütig, es ihm zu geben. Du erweisest ihm damit eine große Gunst, und er muß dir sehr dankbar sein.«

Paul erhob für einen Moment das alte Gesicht, in dem sich aussprach, daß er den Sinn dieser Worte vollkommen begreife; unmittelbar darauf aber wurde sein Antlitz wieder jung und kindlich. Er glitt von dem Knie seines Vaters herunter und eilte auf Florence zu, um ihr zu sagen, sie solle nicht mehr weinen; denn er gehe jetzt, um dem jungen Gay das Geld zu bringen.

Mr. Dombey trat an einen Seitentisch, schrieb einige Zeilen und versiegelte sie. Inzwischen flüsterten Paul und Florence mit Walter, und Kapitän Cuttle schaute auf das Kleeblatt mit so hochstrebenden und unaussprechlich anmaßenden Gedanken herab, daß Mr. Dombey nie daran geglaubt haben würde. Nachdem dieser mit seiner Note zustande gekommen war, kehrte er nach seinem vorigen Platze zurück und hielt sie Walter hin.

»Das erste, was Ihr morgen früh zu tun habt«, sagte er, »ist, daß Ihr Mr. Carker dies übergebt. Er wird Sorge dafür tragen, daß jemand von meinen Leuten durch Bezahlung des Betrags Euern Onkel aus seiner gegenwärtigen Verlegenheit befreit und für die Rückerstattung Vorkehrungen trifft, wie sie sich mit den Umständen Eures Onkels vertragen. Vergeßt dabei nicht, daß Master Paul das für Euch getan hat.«

In der Freude, die Mittel zur Erlösung seines guten Onkels in der Hand zu haben, wollte Walter die Gefühle seines frohen Dankes aussprechen; aber Mr. Dombey fiel ihm ins Wort.

»Vergeßt nicht, daß es durch Master Paul geschehen ist«, wiederholte er. »Ich habe ihm dies auseinandergesetzt, und er begreift es. Ich wünsche, daß kein Wort mehr darüber falle.«

Da der Chef jetzt nach der Türe hin winkte, so konnte sich Walter nur verbeugen und entfernen, Miß Tor aber, als sie sah, daß der Kapitän das gleiche tun wollte, legte sich ins Mittel.

»Mein teurer Sir«, sagte sie zu Mr. Dombey, über dessen Großmut sowohl sie als Mrs. Chick in einen reichlichen Tränenguß ausbrachen, sternchenland.com »ich glaube, Ihr habt etwas übersehen. Verzeiht mir, Mr. Dombey – ich denke, in dem Edelmut Eures Charakters und in dem hohen Ziele, das Ihr Euch setztet, habt Ihr eine Kleinigkeit außer acht gelassen.«

»Wirklich, Miß Tor?« versetzte Mr. Dombey.

»Der Gentleman mit dem – – Instrument«, fuhr Miß Tor fort, indem sie nach Kapitän Cuttle hinsah, »hat neben Euch etwas auf dem Tisch gelassen – –«

»Gütiger Himmel!« sagte Mr. Dombey, das Eigentum des Kapitäns vor sich wegstreifend, als wären es in der Tat nur Brotkrumen gewesen. »Nehmt diese Dinge zurück. Ich bin Euch verbunden, Miß Tor; ich sehe darin ganz Eure gewöhnliche Besonnenheit. Habt die Güte, diese Gegenstände wegzunehmen, Sir!«

Dem Kapitän blieb keine andere Wahl, als zu willfahren. Die Großmut Mr. Dombeys übrigens, der die neben ihm aufgehäuften Schätze zurückwies, erfüllte ihn dermaßen, daß er, sobald er die Teelöffel samt Zuckerzange in der einen, das bare Geld in der andern und die silberne Uhr in der eigens für sie angefertigten Tasche versorgt hatte, sich nicht enthalten konnte, die rechte Hand dieses Gentleman mit der ihm noch gebliebenen Linken zu ergreifen. Während er sie noch offen in seinen gewaltigen Fingern hielt, brachte er in einem Übermaß von Bewunderung den Hut auf den Kopf, und diese Berührung von warmem Gefühl und kaltem Eisen machte auf Mr. Dombey einen Eindruck, daß ihm ein Schauder durch alle Adern rann.

Kapitän Cuttle schwenkte sodann mehreremal mit größter Zierlichkeit und Galanterie seinen Hut gegen die Damen, nahm ganz besonders Abschied von Paul und Florence und folgte Walter nach. Florence wollte in der Fülle ihres Herzens gleichfalls hinaus, um dem alten Sol einen Gruß sagen zu lassen; aber Mr. Dombey rief ihr zu und befahl ihr zu bleiben, wo sie sei.

»Wirst du nie eine Dombey werden, mein liebes Kind?« sagte Mrs. Chick im Ton pathetischen Vorwurfs.

»Liebe Tante, seid nicht böse«, versetzte Florence. »Ich bin dem Papa so dankbar.«

Wie gerne wäre sie auf ihn zugelaufen und hätte ihre Arme um seinen Hals geschlungen; aber sie wagte es nicht, sondern entsandte nur einen Blick des Dankes gegen ihn, wie er sinnend dasaß. Zuweilen schaute er unruhig nach ihr hin; hauptsächlich aber hatte er Paul im Auge, der mit frohem Stolz im Zimmer umherstolzierte, weil er dem jungen Gay das Geld gegeben hatte.

Und der junge Gay – Walter – was ist mit ihm?

Er war überfroh, daß es in seiner Macht lag, das Heim des alten Mannes von Auspfändern und Gerichtsdienern zu reinigen; er eilte daher zurück, um seinem Onkel die gute Kunde zu bringen. Welche Wonne, daß am andern Morgen noch vor dem Mittagessen alles bereinigt und beseitigt sein sollte – daß er abends wieder mit dem alten Sol und dem Kapitän im kleinen Hinterstübchen sitzen – daß er Zeuge sein konnte, wie der Instrumentenmacher wieder sternchenland.com auflebte und einer besseren Zukunft entgegensah, in dem Bewußtsein, daß der hölzerne Midshipman noch immer sein Eigentum war. Ohne daß übrigens seiner Dankbarkeit gegen Mr. Dombey dadurch ein Abtrag geschehen wäre, müssen wir doch gestehen, daß sich Walter gedemütigt und niedergeschlagen fühlte. Wenn unsere knospenden Hoffnungen unwiederbringlich durch einen rauhen Windstoß geknickt sind, fühlen wir uns am meisten geneigt, uns zu vergegenwärtigen, wie später die Blüten ausgefallen sein würden, und als sich jetzt Walter durch die Tiefe des neuen schrecklichen Sturzes so weit von der großen Dombey-Höhe abgeschnitten sah – als er empfand, daß seine alten, wirren Lieblingsvorstellungen bei dem Fall in die Winde zerstreut worden, begann er zu argwöhnen, sie hätten ihn zu harmlosen Visionen verleiten können, deren Ziel in irgendeiner späten Zeit Florences Hand gewesen wäre.

Der Kapitän betrachtete den Gegenstand von einem ganz andern Gesichtswinkel. Er nährte augenscheinlich die Ansicht, die Begegnung, in der er eine so befriedigende und ermutigende Rolle gespielt hatte, stehe nur um ein paar Schritt ab von einer regelmäßigen Verlobung zwischen Florence und Walter. Auch habe das kürzliche Geschäft die Whittingtonschen Hoffnungen ungemein gefördert, wo nicht gar völlig fest begründet. Von dieser Überzeugung, wie auch durch die Freude seines alten Freundes und die folgerichtig daraus fließende eigene Heiterkeit gespornt, versuchte er sogar, als er an demselben Abend die Ballade von der »lieblichen Peeg« zum dritten Male vortrug, aus dem Stegreif den Namen »Florence« einzusetzen. Da ihm das aber schwer wurde, weil das Wort Peeg unabänderlich auf Leg (Bein) reimte – ein Glied, durch dessen Schönheit die besungene Person alle andern Mitbewerberinnen ausstach –, so geriet er auf den glücklichen Gedanken, den Namen in Fle–e–eg umzuwandeln. Er tat dies mit einer fast übernatürlichen Schalkhaftigkeit und mit sehr lärmender Stimme, trotzdem die Zeit nahe war, die ihn nach der Wohnung der schrecklichen Mrs. Mac Stinger zurückbrachte.

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Paul betritt einen neuen Schauplatz.

Obschon Mrs. Pipchin der fleischlichen Schwäche unterworfen war, nach ihren Hammelrippchen der Ruhe zu bedürfen und sich durch die einschläfernde Tätigkeit von Zuckerbrot in Schlummer wiegen zu lassen, war ihre Konstitution doch von so hartem Metall, daß ihr Mrs. Wickhams Prophezeiungen nichts anhaben konnten und sich auch nicht eine Spur von Hinfälligkeit einstellen wollte. Gleichwohl währte Pauls aufrichtige Teilnahme an der alten Dame ungemindert fort, und Mrs. Wickham ließ sich´s nicht nehmen, daß ihre Behauptung sich sicherlich bewahrheiten müsse. Stets sich auf die Seite ihres Onkels Betsey Jane stellend, riet sie Miß Berry als sternchenland.com Freundin, sich aufs Schlimmste gefaßt zu machen, indem sie ihr andeutete, ihre Tante werde einmal so plötzlich und unerwartet absegeln wie eine Pulvermühle.

Die arme Berry schenkte solchen Winken ängstlich Glauben und plackte sich wie gewöhnlich fort, vollkommen überzeugt, daß Mrs. Pipchin eine von den verdienstvollen Personen in der Welt sei, der sie jeden Tag unzählige Male sich selbst zum Opfer bringen müsse. Aber alle diese Hingabe der Nichte wurde von Mrs. Pipchins Freunden und Bewunderern nur der letzteren zur Ehre angerechnet und in Einklang gebracht mit der traurigen Tatsache, daß dem hingeschiedenen Mr. Pipchin die peruanischen Minen das Herz gebrochen hatten.

So gab es zum Beispiel einen ehrlichen Krämer und Kleinhändler, der mit dem Kastell durch ein kleines viel gebrauchtes Abrechnungsbüchlein mit schmieriger roter Decke in Verbindung stand, und die betreffenden Personen hielten oft auf der Matte in dem Flur oder im Besuchzimmer bei geschlossenen Türen unterschiedliche geheime Beratungen und Konferenzen über den Inhalt dieses Registers. Auch fehlte es Master Bitherstone nicht, dessen Temperament durch die Hitze Indiens in seinem Blute rachsüchtig geworden war, an dunkeln Andeutungen auf eine unausgeglichene Bilanz und auf einen Anlaß, dessen er sich noch erinnern konnte, das Fehlen des Zuckers beim Tee betreffend. Dieser Krämer war ein Junggeselle und hatte, da er sich aus dem oberflächlichen Verdienst der Schönheit nichts machte, einmal um Berrys Hand angehalten, war aber von Mrs. Pipchin mit Schimpf und Schande abgewiesen worden. Jedermann lobte diese Handlung der Mrs. Pipchin außerordentlich, da es der Hinterbliebenen eines Mannes, der an den peruanischen Minen starb, ganz würdig sei und den vornehmen, hohen Geist der Dame bekunde. Aber niemand sprach etwas von der armen Berry, die sechs Wochen hindurch weinte – natürlich diese ganze Zeit über von ihrer guten Tante tüchtig ausgeschimpft wurde – und sich endlich in das hoffnungslose Geschick der alten Jungfern ergab.

»Berry hat Euch sehr lieb, nicht wahr?« fragte Paul eines Tages Mrs. Pipchin, als sie wieder mit der Katze beim Feuer zusammensaßen.

»Ja«, antwortete Mrs. Pipchin.

»Warum?« fragte Paul.

»Warum?« erwiderte die alte Dame erstaunt. »Wie könnt Ihr nur solche Dinge fragen? Warum liebt Ihr Eure Schwester Florence?«

»Weil sie sehr gut ist«, sagte Paul. »Es gibt niemand, der mit Florence zu vergleichen wäre.«

»Gut«, entgegnete Mrs. Pipchin etwas pikiert, »und es gibt vermutlich auch niemand, der mit mir zu vergleichen wäre.«

»Gibt es wirklich niemand?« fragte Paul, indem er sich in seinem Stuhl nach vorn beugte und sie mit sehr ernstem Blick ansah.

»Nein«, erwiderte die alte Dame.

»Ich bin froh darüber«, bemerkte Paul, gedankenvoll seine Hände reibend. »Dies ist sehr gut.«

Mrs. Pipchin wagte es nicht, ihn nach dem Grund zu fragen, weil sie Angst hatte, eine völlig vernichtende Antwort zu erhalten. Zur Schadloshaltung für ihre verwundeten Gefühle aber plagte sie bis zum Schlafengehen Master Bitherstone in so hohem Grade, daß dieser noch in derselben Nacht Vorbereitungen zu einer Landreise nach Indien traf, indem er von seinem Abendessen einen Viertels-Weck und ein Stückchen Edamer Käse aufsparte, damit er sich unterwegs davon ernähren könne.

Mrs. Pipchin hatte den kleinen Paul und seine Schwester beinahe zwölf Monate in ihrer Obhut gehabt, ohne daß die Geschwister öfter als zweimal und auch dann nur für einige Tage einen Besuch in der Heimat gemacht hätten. Dagegen hatte Mr. Dombey nicht versäumt, sich jede Woche in dem Hotel einzufinden und seine Kinder zu sich rufen zu lassen. Inzwischen hatten Pauls Kräfte allmählich etwas zugenommen, so daß er seinen Wagen nicht mehr brauchte, gleichwohl aber sah er noch immer sehr schmächtig und blaß aus. Er war dasselbe alte, ruhige, träumerische Kind wie damals, als er Mrs. Pipchin übergeben wurde. Eines Sonntags, zur Zeit der Abenddämmerung, entstand eine große Bestürzung in dem Kastell durch die unerwartete Ankündigung, daß Mr. Dombey Mrs. Pipchin zu besuchen wünsche. Die Bevölkerung des Wohnzimmers wurde wie auf den Flügeln einer Windsbraut eine Treppe höher hinausgejagt, und nach vielem Zuschlagen der Schlafzimmertüren, vielem Getrampel oben und einigen Rippenstößen, die Mrs. Pipchin zur Erleichterung der Verstörtheit ihres Geistes an Master Bitherstone austeilte, zeigten sich die schwarzen Bombasingewänder der würdigen alten Dame in dem Audienzgemach, wo Mr. Dombey den leeren Lehnstuhl seines Sohnes und Erben betrachtete.

»Wie geht’s Euch, Mrs. Pipchin?« fragte Mr. Dombey.

»Danke schön, Sir«, versetzte Mrs. Pipchin; »beziehungsweise ziemlich gut.«

Mrs. Pipchin pflegte sich stets dieser Formel zu bedienen. Sie wollte damit sagen in Beziehung auf ihre Verdienste, Opfer usw.

»Ich kann nicht erwarten, Sir, mich ganz gut zu befinden«, fuhr Mrs. Pipchin fort, indem sie sich auf einen Stuhl setzte und ihren Atem sammelte; »aber wie meine Gesundheit eben ist, bin ich dankbar dafür.«

Mr. Dombey neigte den Kopf mit der selbstzufriedenen Miene eines Gönners, der fühlte, daß dies gerade der rechte Schlag war, für den er so große Summen vierteljährlich bezahlte. Nach einer kurzen Pause ergriff er das Wort.

»Mrs. Pipchin«, sagte er, »ich habe mir die Freiheit genommen, Euch zu besuchen, um mich mit Euch wegen meines Sohnes zu beraten. Ich habe es schon früher tun wollen, verschob es aber immer wieder, bis seine Gesundheit ganz hergestellt wäre. Über diesen Gegenstand hegt Ihr doch keine Besorgnisse mehr, Mrs. Pipchin?«

»Brighton ist ihm sehr gut bekommen, Sir«, erwiderte Mrs. Pipchin.

»Ich habe deshalb im Sinn«, sagte Mr. Dombey, »ihn hier zu lassen.«

Mrs. Pipchin rieb sich die Hände und suchte mit ihren grauen Augen das Feuer.

»Aber«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er seinen Zeigefinger ausstreckte, »aber es ist möglich, daß dennoch eine Veränderung vor sich geht und er hier eine andere Lebensweise führen soll. Kurz, Mrs. Pipchin, dies ist die Ursache meines Besuches. Mein Sohn kommt vorwärts, Mrs. Pipchin, In der Tat, er kommt vorwärts.«

Es lag etwas Schwermütiges in der triumphierenden Miene, denn man sah daraus, wie lang ihm Pauls kindliches Leben geworden war, und wie alle seine Hoffnungen nur auf ein späteres Stadium in seinem Dasein hinwiesen. Bei einem so stolzen, kalten Menschen dürfte das Wort Mitleid befremdend erscheinen, und doch hätte man in jenem Augenblick ihn als einen Gegenstand betrachten können, bei dem ein solches Gefühl sehr am rechten Orte war.

»Sechs Jahre alt!« sagte Mr. Dombey, an seiner Halsbinde zupfend – vielleicht um ein ununterdrücktes Lächeln zu verbergen, das über der Oberfläche seines Gesichts eher ruhlos hinzuhuschen, als daß es für einen Moment zu spielen schien. »Du meine Güte, die sechs werden zu sechzehn umgewandelt sein, ehe wir Zeit haben, uns umzuschauen,«

»Zehn Jahre«, krächzte die unsympathische Pipchin mit einem kalten Blick ihrer starren Augen und einem traurigen Schütteln des gesenkten Kopfes – »zehn Jahre sind eine lange Spanne.«

»Dies hängt von den Umständen ab«, entgegnete Mr. Dombey. »Jedenfalls ist mein Sohn sechs Jahre, und leider besteht kein Zweifel, daß er in seinen Studien hinter vielen Kindern seines Alters weit zurück ist – seiner Jugend, sollte ich vielmehr sagen«, fügte Mr. Dombey in rascher Beantwortung eines schlauen Zwinkerns, das er in dem frostigen Auge der alten Dame zu bemerken glaubte, bei: »denn dies ist ein passenderer Ausdruck. Statt aber seinesgleichen nachzustehen, Mrs. Pipchin, sollte mein Sohn ihnen vielmehr voraus sein – weit voraus. Er hat eine große Höhe zu ersteigen, und in der Laufbahn, die meinem Sohne bevorsteht, ist kein Wandel möglich. Seine Lebensrichtung war schon klar vorbereitet und festgestellt, eh‘ er ins Dasein trat. Die Erziehung eines solchen jungen Gentleman darf nicht verzögert werden – darf nicht unvollkommen bleiben. Man muß immer und mit allem Fleiße daran gehen, Mrs. Pipchin.«

»Gut, Sir«, versetzte Mrs. Pipchin, »ich kann nichts dagegen sagen.«

»Darum habe ich mich auch einer so verständigen Person anvertraut, Mrs. Pipchin«, versetzte Mr. Dombey beifällig.

»Man spricht viel Unsinn – wenn’s nicht etwa gar noch etwas Ärgeres ist – von zu großer Anstrengung junger Menschen in ihrem zarten Alter, von zu vielen Versuchungen und dergleichen, Sir«, fuhr sternchenland.com Mrs. Pipchin fort, indem sie ungeduldig ihre Hakennase rieb. »Zu meiner Zeit dachte man nie daran, und man könnte es auch jetzt unterlassen. Meine Ansicht ist, ihnen nichts zu schenken.«

»Meine gute Madame«, erwiderte Mr. Dombey, »Ihr erfreut Euch nicht unverdient Eures Rufes. Glaubt mir, Mrs. Pipchin, daß ich mit Eurem trefflichen Erziehungsverfahren mehr als zufrieden bin, und daß es mir die größte Freude machen wird, Sie zu empfehlen, wo immer mein geringes Wissen« – Mr. Dombeys Stolz, als er seine eigene Bedeutsamkeit herabzusetzen sich anstellte, überstieg alle Grenzen – »von einigem Nutzen sein kann. Ich habe an Doktor Blimber gedacht, Mrs. Pipchin.«

»Mein Nachbar, Sir?« versetzte Mrs. Pipchin. »Ich halte die Anstalt des Doktors für ganz ausgezeichnet. Wie ich höre, ist die Leitung sehr streng, und man muß lernen vom Morgen bis in die Nacht.«

»Auch ist sie sehr teuer«, fügte Mr. Dombey bei.

»Ja, sehr teuer, Sir«, erwiderte Mrs. Pipchin, sich an diese Tatsache haltend, als hätte sie bei Umgehung derselben das Hauptverdienst des Instituts weggelassen.

»Ich habe schon mit dem Doktor Rücksprache genommen, Mrs. Pipchin«, sagte Mr. Dombey, indem er seinen Stuhl vorsichtig ein wenig näher ans Feuer rückte, »und er ist der Meinung, Paul sei keineswegs zu jung. Er nannte mir einige Knaben, die im gleichen Alter schon Griechisch können. Wenn mich in Beziehung auf diesen Wechsel eine kleine Unruhe quält, Mrs. Pipchin, so liegt der Grund nicht hierin. Da mein Sohn seine Mutter nicht kannte, so hat er allmählich viel – zu viel – von seiner Liebe auf seine Schwester übertragen. Ob ihre Trennung –«

Mr. Dombey sprach nicht weiter, sondern blieb stumm sitzen.

»Papperlapapp!« rief Mrs. Pipchin, ihre schwarzen Bombasinschöße auseinanderschlagend und den ganzen Werwolf, der in ihr stak, entfaltend. »Wenn’s ihr nicht ansteht, Mr. Dombey, so muß man ihr’s eintränken.«

Die gute Dame entschuldigte sich gleich darauf, daß sie eine so gemeine Redewendung brauche, fügte aber – und das war vollkommen der Wahrheit gemäß – bei, daß sie so mit den Kindern zu sprechen pflege.

Mr. Dombey wartete, bis sich an Mrs. Pipchin das Ungestüm, das Kopfschütteln und das Niederzürnen auf eine Legion von Bitherstones und Pankeys gelegt hatte; dann sagte er bloß ruhig, aber zurechtweisend:

»Er, meine gute Madame, er.«

Mrs. Pipchins System würde so ziemlich dieselbe Heilmethode für jede Unruhe bei Paul in Anwendung gebracht haben; da übrigens das harte graue Auge scharf genug war, um zu bemerken, daß das Rezept, wie sehr Mr. Dombey auch dessen Wirksamkeit im Falle der Tochter anerkennen mochte, kein souveränes Mittel für den Sohn war, so erörterte sie den folgenden Punkt und stellte die Behauptung sternchenland.com auf, daß der Wechsel, die neue Gesellschaft und die andere Lebensweise, die er bei Doktor Blimber führen würde, in Vereinigung mit den dort gepflegten Studien ihn sehr bald von diesem Gegenstande abbringen müßten. Dieses stand mit Mr. Dombeys eigenem Hoffen und Glauben in völligem Einklang, weshalb denn auch in den Augen dieses Gentleman die Einsicht der Mrs. Pipchin nur um so höher stand, und da letztere zu gleicher Zeit den Verlust ihres lieben kleinen Freundes beklagte – keine allzugroße Erschütterung für sie, da sie einen ähnlichen Ausgang längst erwartet und von Anfang an sich’s nicht anders gedacht hatte, als daß er etwa drei Monate bei ihr bleiben werde – so bildete sich bei Mr. Dombey eine ebenso gute Meinung über die Uneigennützigkeit der Dame. Es schien deutlich genug, daß er diese Sache sorgfältig erwogen hatte; denn der Plan, welchen er der Werwölfin mitteilte, ging darauf hinaus, Paul nur für das erste halbe Jahr als einen Wochenpensionär in die Anstalt des Doktors zu schicken. Während dieser Zeit sollte Florence in dem Kastell bleiben, damit sie an Sonnabenden von ihrem Bruder besucht werden könne. Hierdurch werde er allmählich entwöhnt, meinte Mr. Dombey – möglicherweise im Hinblick auf einen früheren Anlaß, bei welchem die Entwöhnung sehr plötzlich vor sich gegangen war. Mr. Dombey schloß diese Besprechung, indem er gegen Mrs. Pipchin die Hoffnung aussprach, sie möge stets seinen Sohn in der Zeit seiner Studien zu Brighton überwachen. Nachdem er nun Paul geküßt, Florence die Hand gegeben, Master Bitherstone in seinem Staatskragen gesehen und Miß Pankey durch Tätscheln ihres Kopfes zum Weinen gebracht hatte – sie war nämlich in dieser Gegend ungemein empfindlich, weil Mrs, Pipchin dieselbe gleich einem Fasse mit ihren Fingerknöcheln zu untersuchen pflegte – zog er sich nach seinem Hotel zum Diner zurück, fest entschlossen, daß Paul, der nun alt und kräftig genug sei, eifrig die Schule besuchen solle, welche imstande war, ihn für die Lage zu befähigen, in welcher er einst glänzen sollte. Es war ausgemacht, daß er sofort in Doktor Blimbers Anstalt eintrete.

So oft ein junger Gentleman von Doktor Blimber zur Hand genommen wurde, konnte er eines tüchtigen Drucks versichert sein. Der Doktor übernahm den Unterricht von nur zehn jungen Gentlemen, hatte aber im niedrigsten Anschlag stets eine Gelehrsamkeit für Hunderte in Bereitschaft, und es bildete das Amt und den Genuß seines Lebens, damit die unglücklichen zehn übermäßig zu stopfen.

Doktor Blimbers Institut war in der Tat ein großes Treibhaus, in welchem der Treibapparat sich in steter Tätigkeit befand. Die Knaben blühten insgesamt vor ihrer Zeit. Man sah hier geistige Brockelerbsen um Weihnachten, und intellektueller Spargel war das ganze Jahr über zu finden. Mathematische Stachelbeeren – und zwar sehr saure – ließen sich zu allen Jahreszeiten blicken unter Doktor Blimbers Führung, und zwar an ganz frischen, noch wurzellosen Stöcklingen. Alle Arten von griechischen und lateinischen Gemüsen gediehen an den dürrsten Zweigen von Jungen selbst unter sternchenland.com den frostigsten Umständen. Die Natur spielte dabei durchaus keine Rolle. Gleichviel, wofür auch ein junger Gentleman nach seinen Anlagen bestimmt sein mochte – Doktor Blimber zwang ihn in einer oder der anderen Weise, sich nach seinen idealen Mustern zu bilden.

Das war alles sehr schön und geistreich; aber das Treibhaussystem brachte die gewöhnlichen nachteiligen Folgen mit sich. Die frühreifen Erzeugnisse hatten nicht den rechten Geschmack und hielten sich auch nicht gut. Außerdem hörte ein junger Gentleman mit einer geschwollenen Nase und einem ungemein großen Kopfe – der älteste von den zehn, welcher bereits »alles durchgemacht hatte« – eines Tages plötzlich auf zu blühen, und blieb nur noch als ein bloßer Strunk in der Anstalt. Auch raunten sich die Leute zu, der Doktor habe es mit dem jungen Toots übermacht, und als bei diesem der Backenbart zu sprossen begann, sei ihm das Gehirn auf die Neige gegangen.

Nun, jedenfalls war der junge Toots da. Er besaß die rauheste aller Stimmen und die mißtönendste von allen Geistesrichtungen. In seinem Hemd waren stets Nadeln mit funkelnden Steinen, und in seiner Westentasche hielt er einen Ring verborgen, den er heimlich an den kleinen Finger steckte, wenn die Zöglinge spazierengingen. Er hatte die Gewohnheit, bei dem Anblick eines jeden kleinen Mädchens, das nicht die entfernteste Ahnung von seinem Dasein hatte, in Liebesverzückungen zu geraten, und nahm sich, wenn er nach Schlafengehenszeit aus seinem drei Treppen hohen linken Eckstübchen durch das Eisengitter des Fensters auf die gasbeleuchtete Welt niederschaute, wie ein gewaltig aufgeschossener Cherub aus, der viel zu lange so weit oben gesessen hatte.

Der Doktor war ein stattlicher Gentleman in schwarzem Anzug, Kniehosen und Strümpfen. Er hatte eine sehr glänzende Glatze auf dem Kopf, eine tiefe Stimme und ein so runzeliges Doppelkinn, daß man sich nur wunderte, wie er’s angriff, um sich in den Falten zu rasieren. Dabei war sein kleines Augenpaar fast immer halb geschlossen und der Mund zu einem leichten Grinsen verzogen, als habe er gerade zuvor einen Knaben ins Verhör genommen und laure nun auf Gelegenheit, ihn mit seinen eigenen Worten zu überführen. Wenn man den Doktor so beobachtete, wie er die rechte Hand in die Brust seines Rockes steckte, die andere auf den Rücken hielt, seinen Kopf ein wenig schüttelte und gegen einen Fremden auch nur die gewöhnlichste Bemerkung fallen ließ, so konnte man sich des Gedankens an die Sphinx nicht erwehren und im Augenblick über sein Geschäft ins klare kommen. Er besaß ein sehr schönes Haus gegen die Seeküste gelegen, obschon es im Innern nichts weniger als einen aufheiternden Charakter zeigte. Dunkelfarbige Vorhänge von sehr ärmlich-bescheidenem Aussehen versteckten sich zaghaft hinter den Fenstern. Die Tische und Stühle standen in Reihen wie die Ziffern einer Additionsaufgabe; Feuer wurde so selten in den Zeremonienzimmern angezündet, daß man in einem Brunnen zu sein glaubte, in dem der Gast den Wassereimer vorstellte; der Speisesaal schien der letzte sternchenland.com Platz in der Welt zu sein, wo einem möglicherweise Essen oder Trinken zufließen konnte, und durchs ganze Haus hörte man keinen anderen Laut, als das Picken einer großen Wanduhr in dem Flur, die sich bis in das Dachstübchen hinauf hörbar machte.

Diese Eintönigkeit wurde nur hin und wieder durch ein dumpfes Knurren junger Menschen unterbrochen, die gleich einem Flug melancholischer Tauben über ihren Aufgaben murmelten.

Auch Miß Blimber, obschon eine schlanke, anmutige Jungfrau, trug nicht dazu bei, die kalte Sphäre des Hauses zu mildern. Sie war keine Person, die sich mit leichtfertigen Dingen beschäftigte, hatte krause, kurz geschnittene Haare und trug eine Brille. Die Arbeit in den Gräbern erstorbener Sprachen hatte sie dürr und sandig gemacht. Was wollte auch Miß Blimber von lebendigen Sprachen? Sie mußten tot sein – steintot – erst dann grub sie Miß Blimber aus.

Mistreß Blimber, ihre Mama, besaß selbst keine Gelehrsamkeit, tat aber doch dergleichen, und das lief ungefähr aufs gleiche hinaus. Bei Abendgesellschaften pflegte sie zu sagen, wenn sie das Glück gehabt hätte, Cicero zu kennen, so glaubte sie imstande zu sein, ihr Haupt zufrieden ins Grab niederlegen zu können. Es war immer eine neue Freude für sie, mitanzusehen, wie der Doktor seine jungen Gentlemen spazieren führte – letztere so gar nicht wie alle anderen jungen Gentlemen, sondern in möglichst großen Vatermördern und möglichst steifen Krawatten. Es sei so klassisch, sagte sie.

Was den Mr. Feeder, B. A. Doktor Blimbers Lehrgehilfen, betraf, so war dieser eine Art menschlicher Drehorgel mit einer geringen Anzahl von Weisen, die sich ohne Unterlaß und ohne Abänderung stets aufs neue abhaspelten. Vielleicht hätte er in seinem früheren Leben, wenn sein Geschick günstiger gewesen wäre, sein Glück beim Militär machen können; da es ihm aber nicht so gut geworden, mußte er statt dieser Laufbahn sich auf eine andere einlassen, die ihn zwang, die unreifen Ideen von Doktor Blimbers jungen Gentlemen zu verwirren. Die jungen Gentlemen mußten sich schon früh mit quälenden Ängsten tragen. Die Einübung herzloser Verba, wilder Substantiven, unbeugsamer syntaktischer Sätze und gespenstischer Argumente, die ihnen wie ebenso viele Alpe in den Träumen wiederkamen, ließen sie nicht zur Ruhe kommen, und unter dem Treibhaussystem war in der Regel schon nach drei Wochen der Frohsinn eines jeden jungen Gentleman abgeschnürt. Ein Vierteljahr reichte aus, ihm alle Sorgen der Welt in den Kopf zu pflanzen. Nach vier Monaten lernte er seine Eltern oder Vormünder hassen, nach fünfen war er ein Misanthrop, nach sechsen beneidete er den Curtius, der im Innern der Erde eine glückliche Zufluchtsstätte fand, und am Ende des ersten Jahres war er zu dem Schluß gekommen, von dem er später nie wieder abging, daß alle Produktionen der Dichter und Lehren der Weisen weiter nichts seien, als eine Sammlung von Wörtern und grammatischen Regeln, die in der Welt keinen andern Sinn hätten.

Gleichwohl fuhr er fort, in dem Treibhause des Doktors zu blühen, und groß war der Ruhm und die Herrlichkeit des Doktors, wenn der winterliche Wuchs zu seinen Freunden und Verwandten zurückkehrte.

Eines Tages stand Paul mit klopfendem Herzen, mit der kleinen rechten Hand sich an der seines Vaters haltend, auf der Türschwelle des Doktors. Seine linke war von der seiner Schwester umfaßt. Wie fest und innig war der Druck der einen – wie schlaff und kalt der der andern.

Gleich einem unheilverkündenden Vogel schwebte Mrs. Pipchin mit ihrem schwarzen Gefieder und ihrem krummen Schnabel hinter dem Opfer. Sie war außer Atem – denn Mr. Dombey hatte in der Überfülle seiner großen Gedanken rasch ausgeholt – und heiser erscholl ihr Krächzen, als sie unter dem Hause auf das Aufgehen der Tür harrte.

»Nun, Paul«, sagte Dombey mit einer Siegermiene, »dies ist in der Tat der Weg, um Dombey und Sohn zu werden und zu Geld zu kommen. Du bist jetzt schon fast ein Mann.«

»Fast«, wiederholte das Kind.

Sogar seine kindliche Aufregung konnte den schlauen und doch ergreifenden Blick, mit welchem er die Antwort begleitete, nicht meistern. Über Mr. Dombeys Gesicht flog ein unbestimmter Ausdruck der Unzufriedenheit; als aber die Tür aufging, war alles plötzlich verschwunden.

»Doktor Blimber ist wohl zu Hause?« sprach Mr. Dombey. Der Diener bejahte es, und als sie vorbeigingen, blickte er auf Paul, als wäre dieser ein Mäuschen und das Haus eine Mausefalle. Der Diener war ein etwas blöder junger Mensch, mit einem schwachen Dämmern von Grinsen in seinem Gesichte. Das war aber bloße Einfältigkeit von ihm; aber Mrs. Pipchin setzte es sich in den Kopf, daß es eine Unverschämtheit sei, und machte eine Attacke auf ihn.

»Wie kann Er sich unterstehen, hinter dem Gentleman herzulachen?« fragte Mrs. Pipchin, »und für was hält Er mich?«

»Ich lache über niemanden und halte Sie gewiß für nichts, Madame«, entgegnete der junge Mensch bestürzt.

»Das müßige Hundepack!« rief Mrs. Pipchin, »ist für nichts da, als den Bratspieß zu drehen. Geh und sag deinem Herrn, daß Mr. Dombey hier ist, oder es soll Ihm übel bekommen.«

Der schwachsinnige junge Mensch ging ganz kleinlaut ab, um sich seines Auftrags zu entledigen, und kam alsbald zurück, damit er sie in des Doktors Studierzimmer einlüde.

»Schon wieder gelacht, Sir!« zischte Mrs. Pipchin, als die Reihe an sie kam, in der Nachhut an ihm vorbeizugehen.

»Ich lache nicht«, entgegnete der junge Mensch ganz bekümmert.

»So was ist mir noch nie begegnet!«

»Was gibt es, Mrs. Pipchin?« fragte Mr. Dombey zurückblickend, »seien Sie doch leise, wenn ich bitten darf.«

Mrs. Pipchin murmelte untertänig gegen den jungen Menschen, als sie an ihm vorüberging, nur die Worte: »Das ist ein sauberer Bursche«, und verließ den jungen Menschen, der ganz zerknirscht und vernichtet war, durch den Vorfall bis zu Tränen gerührt. Aber Mrs. Pipchin hatte die Eigenschaft, über alle untertänigen Leute herzufallen; und ihre Freunde fanden das nach den Vorgängen in den peruanischen Bergwerken ganz in Ordnung.

Der Doktor saß in seinem unheimlichen Studierzimmer, einen Globus bei jedem Knie und zwischen Büchern vergraben; die Büsten von Homer und Minerva thronten über der Tür und auf dem Kamingesims.

»Und wie befinden Sie sich, Sir?« sprach er zu Mr. Dombey, »und wie geht’s meinem kleinen Freund?« Feierlich wie eine Orgel war die Stimme des Doktors, und als er aufhörte, schien die große Uhr (für Paul wenigstens) seine Worte aufzunehmen und zu wiederholen; wie – geht – es – mei – nem – klei – nen – Freund; wie – geht – es – mei – nem – klei – nen – Freund?

Da der Freund etwas zu klein war, um von dem Sitze des Doktors über die Bücher seines Tisches hinweg sichtbar zu sein, so machte der Doktor verschiedene vergebliche Versuche, ihn hinter den Tischfüßen zu erspähen. Als Mr. Dombey dies gewahrte, befreite er ihn aus seiner Verlegenheit, indem er Paul auf die Arme nahm und auf einen andern kleinen Tisch dem Doktor gegenüber mitten ins Zimmer setzte.

»Ah!« rief der Doktor, indem er sich mit der Hand auf der Brust in seinem Stuhl zurücklehnte.

»Nun seh‘ ich meinen kleinen Freund, wie geht es, mein kleiner Freund?«

Die Uhr in dem Saale wollte auf diese Veränderung der Worte nicht noch eingehen und fuhr fort zu wiederholen: Wie – geht – es mei – nem – klei – nen – Freund, wie – geht – es – mei – nem – klei – nen – Freund?

»Ganz wohl, ich danke Ihnen, Sir«, erwiderte Paul, der Uhr wie dem Doktor antwortend.

»Ha!« sagte der Doktor Blimber. »Sollen wir einen Mann aus ihm machen?«

»Hörst du, Paul?« fügte Mr. Dombey hinzu.

Paul blieb stumm.

»Sollen wir einen Mann aus ihm machen?« wiederholte der Doktor nochmals.

»Ich möchte lieber ein Kind bleiben«, erwiderte Paul.

»Der Tausend!« sagte der Doktor. »Warum?«

Das Kind blickte, wie es so am Tische saß, mit einem sonderbaren Zug unterdrückter Bewegung in seinem Gesicht nach ihm hin und klopfte mit der einen Hand stolz auf sein Knie, als hätte es die aufsteigenden Tränen bezwungen, die andere Hand aber irrte inzwischen ein wenig weiter ab – noch weiter von ihm weg, bis sie Florences Hals erreichte. ›Dies ist das Warum‹ schien seine Gebärde sternchenland.com zu sagen; aber dann war es mit dem festen Blick vorbei – die zuckenden Wimpern wurden ruhiger, und reichliche Tränen quollen dazwischen hervor.

»Mrs. Pipchin«, sagte sein Vater vorwurfsvoll, »es tut mir in der Tat leid, das zu sehen.«

»Tretet weg von ihm, Mr. Dombey«, bemerkte die Matrone.

»Macht nichts«, sagte der Doktor mit einem milden Kopfnicken, um Mrs. Pipchin zurückzuhalten. »Macht nichts. Wir werden bald neue Sorgen und neue Eindrücke an die Stelle der alten zu pflanzen wissen, Mr. Dombey. Ihr wünscht also, mein Freund solle lernen – –«

»Alles, alles, Doktor«, entgegnete Mr. Dombey fest.

»Ja«, sagte der Doktor und schien mit seinen halbgeschlossenen Augen, mit seinem gewöhnlichen Lächeln Paul zu mustern, als hätte er irgendein seltenes kleines Tier vor sich, das ausgestopft werden sollte. »Ja, ganz recht. Ha! wir werden unserem kleinen Freund eine umfassende Bildung mitteilen, und ich kann wohl behaupten, daß es mit ihm rasch vorwärts gehen wird. Ja, das wage ich zu behaupten. Ganz jungfräulicher Boden, habt Ihr, glaube ich, gesagt, Mr. Dombey?«

»Mit Ausnahme einiger gewöhnlicher Vorbereitungen zu Hause und von seiten dieser Dame«, erwiderte Mr. Dombey mit einem Kopfnicken auf Mrs. Pipchin, die gerade ihrer ganzen Haltung eine große Starrheit verlieh und trotzig anfing zu schnauben, im Fall der Doktor sie herabzuwürdigen versuchen sollte. »Mit solchen Ausnahmen hat sich Paul bis jetzt noch gar keinem Studium zugewendet.«

Doktor Blimber neigte in milder Toleranz gegen eine unbedeutende Wilddieberei, wie die der Mrs. Pipchin sein konnte, das Haupt und entgegnete, es freue ihn, solches zu hören, da es weit befriedigender sei, mit dem Grundbau den Anfang zu machen. Und abermals schielte er nach Paul hin, als wollte er ihm nur gar zu gern das griechische Alphabet abfragen.

»Dieser Umstand, Doktor Blimber«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er nach seinem kleinen Sohn hinblickte, »und die Unterredung, die ich bereits mit Euch zu halten das Vergnügen hatte, macht in der Tat jede weitere Aufklärung, folglich auch jeden weiteren Anspruch an Eurer wertvollen Zeit so unnötig, daß –«

»Nun, Miß Dombey!« sagte die essigscharfe Pipchin.

»Erlaubt mir«, bemerkte der Doktor – »nur einen Augenblick. Ich möchte gern Mrs. Blimber und meine Tochter vorstellen, die mit dem häuslichen Leben unseres jungen Pilgers auf dem Parnaß in nahe Beziehung treten werden. Mrs. Blimber«, denn die Dame, die vielleicht gewartet hatte, trat jetzt ganz gelegen ein und brachte ihre Tochter, jene schöne Totengräberin in der Brille, mit sich, »Mr. Dombey: meine Tochter Cornelia, Mr. Dombey. Mr. Dombey, meine Liebe«, fuhr der Doktor gegen seine Gattin fort, »hat zu uns das Vertrauen – siehst du unsern kleinen Freund?«

Mrs. Blimber hatte in einem Anfall von Höflichkeit, der Mr sternchenland.com Dombey galt, nichts gesehen, denn sie wich rücklings gegen den kleinen Freund hin und gefährdete durch dieses Manöver sehr seinen Sitz auf dem Tisch. Auf diesen Wink aber wandte sie sich um, um seine klassischen und intellektuellen Lineamente zu bewundern: dann drehte sie sich mit einem Seufzer wieder gegen Mr. Dombey und sagte, sie beneide seinen lieben Sohn.

»Wie die Biene, Sir«, sagte Mrs. Blimber mit aufwärts geschlagenen Augen, »die sich umhertreibt in einem Garten mit den herrlichsten Blumen, um daselbst zum erstenmal die Süßigkeiten zu kosten: Virgil, Horaz, Ovid, Terenz, Plautus, Cicero. Welch eine Welt von Honig haben wir hier. Das mag merkwürdig erscheinen, Mr. Dombey, von einer Frau – aber von einer Frau eines solchen Gatten –«

»Pst, pst!« machte der Doktor Blimber. »Pfui! Mr. Dombey wird Nachsicht haben mit der Parteilichkeit einer Gattin«, versetzte Mr. Blimber mit einem ermutigenden Lächeln.

»Durchaus nicht«, antwortete Mr. Dombey, seine Worte vermutlich auf die Parteilichkeit, nicht aber auf die Nachsicht beziehend.

»Und vielleicht erscheint es ebenso merkwürdig an einer Person, die zugleich Mutter ist«, sprach Mrs. Blimber weiter.

»Und solch eine Mutter«, entgegnete Mr. Dombey, sich ob dieser verwirrten Idee, als müsse er Cornelia ein Kompliment machen, vorbeugend.

»Aber in der Tat«, fuhr Mrs. Blimber fort, »ich denke, wenn ich Cicero gekannt hätte, wenn ich seine Freundin und mit ihm in seiner Abgeschiedenheit in Tusculum gewesen wäre – in jenem herrlichen Tusculum – so könnte ich mein Haupt zufrieden ins Grab legen.«

Ein gelehrter Enthusiasmus ist manchmal ansteckend, daß Mr. Dombey halb glaubte, es könne ihr Ernst sein, und sogar Mrs. Pipchin, die, wie wir bereits gesehen haben, in der Regel nicht sehr fügsamen Charakters war, stieß einen leichten Laut aus, mitten inne schwebend zwischen einem Stöhnen und einem Seufzer, als wolle sie damit andeuten, nichts als Cicero hätte ihr nach dem Fehlschlagen der peruanischen Minen einen bleibenden Trost gewähren können; dieser aber wäre in der Tat eine wahre Davysche Sicherheitslampe.

Cornelia sah durch ihre Brille nach Mr. Dombey hin, als hätte sie gute Lust, mit ihm aus der berührten Autorität einige philologische Nüsse zu knacken. Wenn sie aber wirklich einen derartigen Gedanken unterhielt, so wurde seine Ausführung durch ein Pochen an der Tür des Zimmers unterdrückt.

»Was ist das«, fragte der Doktor. »O, herein, Toots – herein. Mr. Dombey, Sir.« Toots verneigte sich. »Welch ein schönes Zusammentreffen«, fuhr Doktor Blimber fort. »Hier haben wir den Anfang und da« Ende – das Alpha und das Omega. Unser ältester Knabe, Mr. Dombey.«

Der Doktor hatte wohl allen Grund, ihn so zu nennen, denn er war mindestens um einen Kopf und um eine Schulter höher als sternchenland.com alle übrigen. Toots errötete sehr, als er diesem Fremden gegenüber stand, und kicherte vor sich hin.

»Ein Zuwachs zu unserem kleinen Portikus, Toots«, sagte der Doktor. »Mr. Dombeys Sohn.«

Der junge Toots errötete abermals, und da er aus dem feierlichen Schweigen, welches jetzt herrschte, entnahm, man erwarte von ihm eine Erwiderung, so sagte er zu Paul: »Wie geht’s Euch?« Das geschah aber mit so tiefer Stimme und in so schwerfälliger Weise, daß man wohl kaum in größeres Staunen hätte geraten können, wenn auf einmal ein Lamm zu brüllen angefangen haben würde.

»Wenn Ihr so gut sein wollt, Toots, so könnt Ihr Mr. Feeder bedeuten«, sagte der Doktor, »er solle für einige Elementarbücher sorgen und Mr. Dombeys Sohn einen bequemen Sitz zum Studieren anweisen. Meine Liebe, ich glaube, Mr. Dombey hat die Dormitorien noch nicht gesehen.«

»Wenn Mr. Dombey mich die Treppe hinaufbegleiten will«, versetzte Mrs. Blimber, »so wäre es mir eine große Ehre, ihm die Domänen des Schlafgottes zu zeigen.«

Mit diesen Worten schritt Mrs. Blimber, eine Dame von auffallender Leutseligkeit, deren Drahtpuppenfigur eine Haube von himmelblauem Stoffe krönte, voran und führte Mr. Dombey die Treppe hinauf. Cornelia war gleichfalls von der Partie, und Mrs. Pipchin folgte nach, unterwegs sich scharf nach ihrem Feinde, dem Bedienten, umsehend.

Während sie fort waren, blieb Paul, der Florences Hand festhielt, auf dem Tisch sitzen und warf von da aus scheue Blicke in dem Zimmer umher, während der Doktor selbst, in seinen Stuhl zurückgelehnt und die eine Hand wie gewöhnlich in die Brusttasche steckend, ein Buch auf Armeslänge vor sich hin hielt und las. Diese Art zu lesen hatte etwas Schauerliches an sich. Es sah so entschlossen, so leidenschaftslos, so unbeugsam und kaltblütig aus, das Gesicht des Doktors war dabei allen Blicken freigegeben, und wenn der Doktor gar argwöhnisch über seinen Autor lächelte, die Stirn runzelte, den Kopf schüttelte oder den Mund verzog, als wolle er sagen – ›kommt mir nicht so, Sir; ich weiß das besser‹ – so war er in der Tat fürchterlich anzusehen.

Auch Toots hatte draußen nichts zu tun und untersuchte nun der Schaustellung halber den Mechanismus seiner Uhr, oder zählte seine halben Kronen. Doch das währte nicht lange; denn als Doktor Blimber zufälligerweise die Lage seiner stämmigen, knapp eingehüllten Beine wechselte, als wollte er aufstehen, verschwand Toots mit aller Behendigkeit und kam nicht wieder zum Vorschein.

Bald nachher hörte man Dombey mit all seinen Begleiterinnen, die sich unterwegs mit ihm unterhielten, die Treppe herunterkommen, und unmittelbar darauf traten sie wieder in das Studierzimmer des Doktors.

»Ich hoffe, Mr. Dombey«, sagte der Doktor, sein Buch niederlegend, »daß die Anordnungen Euren Beifall finden.«

»Sie sind vortrefflich«, sagte Mr. Dombey.

»In der Tat recht ordentlich«, fügte Mrs. Pipchin in gedämpfter Stimme bei, da sie nie Lust zeigte, allzuviel Ermutigung zu geben.

»Mrs. Pipchin«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er sich im Kreise drehte, »wird mit Eurer Erlaubnis, Mr. Blimber, Paul hin und wieder besuchen.«

»So oft es immer Mrs. Pipchin belieben«, antwortete Doktor Blimber.

»Werde mich stets glücklich schätzen, sie zu sehen«, sagte Mrs. Blimber.

»Ich glaube«, ergriff Mr. Dombey wieder das Wort, »ich habe Euch nun mehr aufgehalten als nötig war, und will mich jetzt verabschieden. Paul, mein Kind«, er ging auf den Knaben zu, der noch immer auf dem Tische saß. »Leb‘ wohl.«

»Adieu, Papa.«

Das schwache nachlässige Händchen, das Mr. Dombey in der seinigen hielt, stand in einem auffallenden Einklang mit dem dazu gehörigen sehnsüchtig blickenden Antlitz. Der Vater hatte aber nicht teil an dem kummervollen Ausdruck – ihm galt er nicht. Nein, nein, der Schwester – einzig nur der Schwester.

Hätte sich Mr. Dombey in dem Übermut seines Reichtums je einen grimmigen und unversöhnlichen Feind gemacht, so wäre sicherlich auch diesem für alles geschehene Unrecht reichliche Schadloshaltung zugegangen in dem Schmerz, der in jenem Augenblicke das stolze Herz durchdrang. Mr. Dombey beugte sich über seinen Sohn und küßte ihn. Wenn sein Gesicht dabei trüber wurde durch etwas, das ihm für einen Moment das kleine Antlitz undeutlich machte, so sah vielleicht für diese kurze Zeit sein geistiges Auge um so klarer.

»Ich besuche dich bald wieder, Paul. Du weißt, an Sonnabenden und Sonntagen hast du Ferien.«

»Ja, Papa«, entgegnete Paul, nach seiner Schwester hinsehend. »An Sonnabenden und an Sonntagen.«

»Und du wirst dir Mühe geben, hier viel zu lernen und ein gescheiter Mann zu werden«, sagte Mr. Dombey. »Nicht wahr, das willst du?«

»Ich will mir Mühe geben«, versetzte das Kind in mattem Ton.

»Und du wirst jetzt bald groß sein!« sagte Mr. Dombey.

»O! sehr bald!« entgegnete das Kind.

Wieder zuckte der alte, alte Blick rasch über seine Züge, wie ein fremdes Licht. Er traf auf Mrs. Pipchin und erlosch daselbst in deren schwarzem Anzug. Die treffliche Werwölfin trat vor, um Abschied zu nehmen und Florence fortzuführen – ein Genuß, nach dem sie längst gedürstet hatte. Ihre Bewegung weckte Mr. Dombey auf, dessen Augen an Paul hafteten. Nachdem er dem Knaben den Kopf gestreichelt und abermals dessen kleine Hand gedrückt hatte, verabschiedete er sich von Dr. Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber mit seiner gewohnten höflichen Kälte und verließ das Studierzimmer.

Ungeachtet seiner Bitte, man möchte sich ja nicht stören lassen, drängten sich doch Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber vor, um den reichen Gast nach der Halle zu geleiten, und so kam es denn, daß Mrs. Pipchin zwischen Miß Blimber und den Doktor geriet, und von demselben aus dem Studierzimmer hinausgedrängt wurde, ehe sie Florence zu packen imstande war. Diesem glücklichen Zufall verdankte Paul später die teure Erinnerung, daß Florence auf ihn zulief, um ihren Arm um seinen Nacken zu schlingen, und daß ihr Gesicht das letzte war, dessen er auf der Schwelle ansichtig wurde. Dort wandte sie sich noch einmal mit einem Lächeln der Ermutigung gegen ihn hin – mit einem Lächeln, das durch den Tau der Tränen nur um so heller glänzte.

Sein kindliches Herz wogte, als dieser Anblick vor seinen Augen entschwand, und alles im Zimmer umher, die Globusse, die Bücher, der blinde Homer und Minerva schienen in dem Zimmer zu verschwimmen. Dann aber machten sie auf einmal plötzlich halt, und er hörte die laute Uhr in der Halle noch immer die ernste Frage stellen: ›was, macht, mein, klei, ner, Freund: was, macht, mein, klei, ner, Freund?‹

Mit gefalteten Händen saß er auf seinem Tische und hörte stumm zu. Er hätte antworten mögen: ›ich bin müde, müde, sehr einsam und sehr traurig!‹ Und da saß er nun mit dem schmerzlichen Weh in seinem jungen Herzen – außen alles so kalt, so kahl und fremd – als habe er ein unmöbliertes Leben gemietet und als wolle der Tapezierer um keinen Preis kommen.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Pauls Erziehung.

Nach Ablauf von einigen Minuten, die dem kleinen auf dem Tisch sitzenden Paul wie eine Ewigkeit vorkamen, kehrte Doktor Blimber wieder zurück. Wie stattlich war der Gang des Doktors – wie so ganz darauf berechnet, das jugendliche Gemüt mit feierlichen Empfindungen zu erfüllen. Es war eine Art Marsch; aber wenn der Doktor seinen rechten Fuß ausstreckte, so drehte er ihn mit einer halbzirkelförmigen Schwenkung gravitätisch nach links um seine Achse, und wenn der linke Fuß an die Reihe kam, so wurde er in derselben Weise nach rechts geschwenkt. Auch schien er bei jedem Schritt, den er tat, umherzuschauen, als wollte er sagen:

»Kann wohl jemand die Güte haben, mir, in was immer für einer Richtung, einen Gegenstand anzudeuten, über den ich nicht unterrichtet wäre? – Ich denke, es wird schwer fallen.«

Mit dem Doktor kamen auch Mrs. Blimber und Miß Blimber zurück. Der Doktor hob nun seinen neuen Zögling vom Tisch herunter und übergab ihn seiner Tochter.

»Cornelia«, sagte er, »Dombey wird anfangs deiner Sorge überlassen bleiben. Nimm ihn fort, Cornelia, nimm ihn fort.«

Miß Blimber nahm ihren Mündel aus des Doktors Händen in Empfang, und Paul schlug die Augen nieder, weil er fühlte, daß ihn die Brille musterte.

»Wie alt bist du, Dombey?« fragte Miß Blimber.

»Sechs«, antwortete Paul mit einem verstohlenen Blick auf die Dame, und in nicht geringer Verwunderung, warum ihre Haare nicht lang wuchsen, wie die seiner Schwester, und warum sie so ganz wie ein Knabe aussah.

»Was hast du schon aus der lateinischen Grammatik gelernt, Dombey?« fragte Miß Blimber.

»Nichts«, antwortete Paul.

Da er übrigens fühlte, diese Erwiderung sei ein herber Schlag für Miß Blimbers Zartgefühl, so schaute er zu den drei Gesichtern auf, die zu ihm herniedersahen, und fuhr fort:

»Ich bin nicht gesund gewesen. Ich war ein schwächliches Kind und konnte nicht in der lateinischen Grammatik lernen, weil ich alle Tage mit dem alten Glubb ausfuhr. Es wäre mir lieb, wenn Sie so gut sein wollten, dem alten Glubb zu sagen, er solle auch herkommen und mich besuchen.«

»Welch ein schrecklich gemeiner Name!« sagte Mrs. Blimber. »Unklassisch in höchstem Grade! Wer ist dieses Ungeheuer, Kind?«

»Welches Ungeheuer?« fragte Paul.

»Der Glubb«, entgegnete Mrs. Blimber mit großem Unbehagen.

»Er ist so wenig ein Ungeheuer wie Sie«, erwiderte Paul.

»Wie?« rief der Doktor mit schrecklicher Stimme. »Was sagst du da? Aha! was soll das heißen?«

Paul erschrak heftig, ergriff aber doch die Partei des abwesenden Glubb, obschon es nur mit Zittern geschah.

»Er ist ein sehr lieber alter Mann, Ma’am«, sagte er, »und pflegte meine Kutsche zu ziehen. Er weiß alles von dem tiefen Meer, von den Fischen, die darin sind, und von den großen Ungeheuern, die da kommen und sich auf Felsen sonnen, wenn man sie aber aufschreckt, wieder ins Wasser stürzen und so blasen und plätschern, daß man sie auf weithin hören kann. Es gibt auch einige Tiere«, fuhr Paul fort, der über seinen Gegenstand warm wurde – »weiß nicht, wie viele Ellen lang, habe ihre Namen vergessen; aber Florence weiß es wohl – diese tun, wie wenn ein Mensch in der Not ist, und wenn Leute aus Mitleid sich ihnen nähern, so öffnen sie ihren großen Rachen und packen sie an. Man braucht aber dann nichts zu tun«, fuhr Paul fort, indem er seine Gelehrsamkeit keck sogar vor dem Doktor glänzen ließ – »als in anderer Richtung wegzulaufen: denn weil sie so lang sind und sich nicht biegen können, drehen sie sich nur langsam um, und man kann ihnen gut entgehen. Zwar weiß der alte Glubb nicht, warum das Meer meine Gedanken auf meine Mutter richtet, die tot ist, und auch nicht, was die See sagt und in einem fort sagt – aber dennoch weiß er viel von dem großen Wasser. Und sternchenland.com es wäre mir lieb«, schloß endlich Paul mit kleinlauter Miene, als er wie ein verirrtes Wesen auf die drei fremden Gesichter hinsah, »wenn Ihr den alten Glubb herkommen ließet, damit er mich besuche, denn ich kenne ihn sehr gut, und er kennt mich.«

»Ha!« rief der Doktor, seinen Kopf schüttelnd – »aber das Studieren wird viel ausrichten.«

Mrs. Blimber gab in einer Art Schauderanfall ihre Ansicht dahin ab, daß Paul ein unerklärliches Kind sei, und sah ihn – wenn man den Unterschied der Züge in Rechnung brachte – fast so an, wie es Mrs. Pipchin zu tun pflegte.

»Mach‘ einen Gang mit ihm durchs Haus, Cornelia«, sagte der Doktor, »damit er mit seiner neuen Sphäre vertraut werde. Geh mit dieser jungen Dame, Dombey.«

Dombey gehorchte und gab der geheimnisvollen Cornelia die Hand, sah sie aber unterwegs stets mit schüchterner Neugierde von der Seite an. Wegen der glänzenden Gläser ihrer Brille hatte sie nämlich ein so mysteriöses Aussehen, daß er nie wußte, wohin sie schaute: ja er konnte nicht einmal zu der Gewißheit kommen, ob wirklich Augen dahinter verborgen seien.

Cornelia führte ihn zuerst nach dem Schulzimmer, das an der hintern Seite der Halle lag. Der Zugang wurde durch zwei mit Tuch überzogene Türen vermittelt, welche die Stimmen der jungen Gentlemen dämpften und erstickten. Hier saßen nun acht junge Herrlein in unterschiedlichen Abstufungen geistiger Bedrücktheit, und man konnte deutlich sehen, wie schwer ihnen ihre Arbeit wurde. Toots, als der älteste, hatte in einer Ecke ein Pult für sich, und es kam unserem Paul vor, als befinde sich hinter demselben ein vornehmer sehr alter Mann.

Mr. Feeder, B.A. der an einem andern kleinen Pult saß, studierte seinen Virgil und suchte vier jungen Gentlemen das Versmaß verständlich zu machen. Von den übrigen vieren zupften sich zwei krampfhaft an den Haaren ob der Lösung eines mathematischen Problems; einer mit einem Gesicht, von vielem Weinen einem schmutzigen Fenster ähnlich, gab sich Mühe, vor dem Mittagessen durch eine hoffnungslose Anzahl von Zeilen durchzuzappeln, und ein anderer saß in versteinerter und verzweifelter Betäubung, die sich vom Frühstück an seiner bemächtigt zu haben schien, über seiner Aufgabe.

Da« Erscheinen eines neuen Knaben erregte nicht das Aufsehen, wie man es hätte erwarten sollen. Mr. Feeder, B.A., der um der größeren Abkühlung willen seinen Kopf zu rasieren pflegte, so daß man statt der Haare nur kurze Stoppeln sah, reichte ihm seine knöcherne Hand mit der Bemerkung, es freue ihn, den neuen Ankömmling zu sehen – eine Begrüßung, die Paul herzlich gern erwidert haben würde, wenn es ihm nur ein bißchen von Herzen gegangen wäre. Von Cornelia dazu aufgefordert, reichte sodann Paul den vier jungen Gentlemen an Mr. Feeders Pult die Hand, eine sternchenland.com Prozedur, die später auch an den fieberischen Mathematikern, an dem tintigen jungen Gentleman, der mit der Zeit um die Wette arbeitete, und zuletzt auch an dem betäubten Knaben, der sich ganz kalt und welk anfühlte, vorgenommen wurde.

Da Paul dem jungen Toots bereits vorgestellt war, so erging sich dieser junge Gentleman seiner Gewohnheit nach nur in einem schweratmigen Kichern und fuhr in seiner Beschäftigung fort. Letztere war nicht eben schwer zu nennen; denn da Toots bereits in mehr als einem Sinne so viel »durchgemacht« und auch, wie schon früher angedeutet wurde, in seinem Lenze zu blühen aufgehört hatte, so stand es ihm jetzt frei, seine Studien nach Belieben zu verfolgen. Letztere bestanden hauptsächlich darin, daß er lange Briefe von vornehmen Personen unter der Adresse ›P. Toots, Esquire, Brighton, Sussex‹ an sich selbst schrieb und sie mit großer Sorgfalt in seinem Pult aufbewahrte.

Nach Beendigung dieser Förmlichkeit führte Cornelia Paul nach dem Hausgiebel hinauf – eine etwas langsame Wanderung, weil der Knabe auf jeder Treppe mit beiden Füßen anlangen mußte, ehe er eine weitere ersteigen konnte. Endlich erreichten sie jedoch das Ziel der Reise und traten in ein Vorderstübchen, das gegen die wilde See hinausging. Cornelia zeigte ihm daselbst ein reinliches kleines Bett mit weißen Behängen dicht am Fenster. Oben stak bereits eine Karte, auf welche mit sehr dicken Schatten- und sehr feinen Haarstrichen der Name »Dombey« geschrieben war. Durch eine ähnliche Belehrung erfuhr man, daß die beiden andern kleinen Bettstellen desselben Zimmers beziehungsweise einem Briggs und Tozer gehörten.

Als sie wieder in der Halle unten anlangten, sah Paul den blödsichtigen jungen Menschen, welcher Mrs. Pipchin so tödlich beleidigt hatte, plötzlich einen sehr großen Trommelschlegel ergreifen und auf eine aufgehängte Metallplatte loshämmern, als sei er wahnsinnig geworden oder als wolle er Rache üben. Statt jedoch einen Verweis zu erhalten oder augenblicklich in Haft genommen zu werden, blieb besagter Übeltäter, trotz des schrecklichen Getöses, das er verursacht hatte, völlig unangefochten. Cornelia Blimber sagte jetzt zu Dombey, in einer Viertelstunde werde das Mittagessen aufgetragen, und er tue am besten, wenn er jetzt ins Schulzimmer gehe zu seinen »Freunden«.

Demgemäß ging Dombey ehrerbietig an der Uhr vorbei, die sich stets mit gleicher Besorgnis nach seinem Befinden erkundigte, öffnete die Schulzimmertür ein klein wenig und schlich sich wie ein verirrter Knabe ein, obschon ihm hintendrein das Zuschließen einige Mühe machte. Seine Freunde standen, mit Ausnahme des steinernen, der unbeweglich an seiner Stelle sitzenblieb, im Zimmer umher, und Mr. Feeder streckte sich in seinem grauen Schlafrock, als sei er ohne Rücksicht auf die Unkosten fest entschlossen, die Ärmel abzureißen.

»Heih ho hum!« rief Mr. Feeder, indem er sich wie ein Karrengaul schüttelte. »Jawohl, jawohl! Y-a-a-ah!«

Paul erschrak sehr über Mr. Feeders Gähnen, denn es war ein Gähnen in großartigem Maßstab, und der betreffenden Person schien es fürchterlich ernst damit zu sein. Auch die Knaben insgesamt – mit Ausnahme des einzigen Toots – schienen ganz schachmatt zu sein und bereiteten sich für das Mittagessen vor. Einige banden sich ihre sehr steifen Krawatten neu um, und andere wuschen ihre Hände oder bürsteten sich in einem anstoßenden Vorzimmer die Haare, sahen aber dabei aus, als ob sie sich nicht sonderlich auf die Mahlzeit freuten.

Der junge Toots, der bereits fertig war und deshalb nichts zu tun hatte, konnte allein etwas von seiner Zeit für Paul aufwenden und sagte deshalb mit schwerfälliger Gutmütigkeit:

»Setz dich, Dombey.«

»Danke, Sir«, entgegnete Paul.

Die Mühe, die er sich nun gab, auf einen hohen Fenstersitz hinaufzuklettern, an dem er wieder herunterglitt, schien Toots‘ Geist für die Rezeption einer Entdeckung vorzubereiten.

»Du bist ein sehr kleines Bürschlein«, sagte Mr. Toots.

»Ja, Sir, ich bin klein«, entgegnete Paul. »Danke, Sir.«

Denn Toots hatte ihm auf den Sitz geholfen und noch obendrein diesen Akt in recht liebevoller Weise erfüllt.

»Wer ist dein Schneider?« fragte Toots, nachdem er ihn eine Weile gemustert hatte.

»Bis jetzt hat stets ein Frauenzimmer meinen Anzug gemacht«, sagte Paul. »Die Schneiderin meiner Schwester.«

»Mein Schneider ist Burges und Co.«, versetzte Toots. »Fash’nabl. Aber sehr teuer.«

Paul hatte Verstand genug, seinen Kopf zu schütteln, als wollte er damit sagen, dies sei leicht begreiflich; und in der Tat, so dachte er auch.

»Dein Vater ist notorisch reich, nicht wahr?« fragte Mr. Toots.

»Ja, Sir«, antwortete Paul. »Er ist Dombey und Sohn.«

»Und wer?« fragte Toots.

»Und Sohn, Sir«, versetzte Paul.

Mr. Toots machte in gedämpfter Stimme einige Versuche, die Firma seinem Gedächtnis einzuprägen, da ihm übrigens dies nicht gelang, so bemerkte er gegen Paul, er möchte ihm den Namen morgen früh wieder sagen, da er einigen Wert darauf lege. Und in der Tat sann er auf nichts Geringeres, als augenblicklich ein vertrauliches Privatschreiben von Dombey und Sohn an sich selbst abzufassen.

Mittlerweile hatten sich die übrigen Zöglinge – den steinernen Knaben stets ausgenommen – um ihn versammelt. Sie waren sehr höflich, aber alle blassen Aussehens, sprachen nur in gedämpften Lauten und schienen geistig so niedergedrückt zu sein, daß im Vergleich mit dem allgemeinen Ton dieser Gesellschaft Master Bitherstone ein wahrer Eulenspiegel genannt werden konnte. Und doch wußte Bitherstone, wie hart man mit ihm umging.

»Nicht wahr, du schläfst in meinem Zimmer?« fragte ein feierlicher junger Gentleman, dessen Hemdkragen bis über die Ohrläppchen hinaufstieg.

»Master Briggs?« fragte Paul.

»Tozer«, sagte der junge Gentleman.

Paul antwortete mit Ja, und Tozer deutete auf den steinernen Zögling mit der Bemerkung, daß dieser Briggs sei. Paul hatte bereits die Überzeugung in sich getragen, daß derselbe entweder Briggs oder Tozer sein müsse, obschon er sich für die Stimme in seinem Innern keine Rechenschaft zu geben vermochte.

»Hast du eine starke Konstitution?« fragte Tozer.

Paul entgegnete, er glaube kaum. Tozer erwiderte hierauf, es komme ihm gleichfalls so vor, wenn er Paul ansah; es sei übrigens schade, denn man könne sie hier brauchen. Er fragte sodann Paul, ob Cornelia mit ihm den Anfang machen werde, und als dieser mit Ja antwortete, brachen alle jungen Gentlemen, Briggs ausgenommen, in dumpfes Stöhnen aus.

Es wurde jedoch erstickt durch das Klingen der Metallplatte, welche jetzt ganz wütend erdröhnte, und nun fand ein allgemeiner Aufbruch nach dem Speisezimmer statt – mit Ausnahme des steinernen Knaben Briggs, welcher blieb, wo er war und wie er war. Paul bemerkte noch, wie demselben eine Schnitte Brot vornehm samt Teller und Serviette nebst einer silbernen Gabel, die quer darüber lag, vorgelegt wurde.

Doktor Blimber befand sich bereits an seinem Platz im Speisezimmer; er saß oben an dem Tisch, während Miß Blimber und Mrs. Blimber rechts und links von ihm ihre Plätze einnahmen. Mr. Feeder in einem blauen Rocke befand sich zu unterst. Paul hatte seinen Stuhl zunächst der Miß Blimber; als er jedoch hinaufgestiegen war, zeigte sich, daß seine Augenbrauen nicht viel über dem Niveau des Tafeltuchs standen. Es wurde daher aus dem Studierzimmer des Doktors eine Anzahl Bücher herbeigeholt und er fortan stets auf diese Weise erhoben, obschon er das Material bei späteren Gelegenheiten selbst herbeischleppen mußte, wie ein Elefant seinen Turm.

Nachdem der Doktor das Gebet gesprochen hatte, begann die Mahlzeit. Sie bestand aus etwas Suppe, gebratenem Fleisch, gesottenem Fleisch, Gemüse, einer Pastete und Käse. Jeder junge Gentleman hatte eine schwere silberne Gabel und eine Serviette; auch im übrigen waren die Einrichtungen stattlich und schön. Namentlich servierte ein Diener in blauer Livree mit blanken Knöpfen, welcher dem Tafelbier durch die stolze Art, wie er es einschenkte, eine wahrhafte Weinblume verlieh.

Niemand sprach, ohne angeredet zu werden. Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber ausgenommen, welche gelegentlich eine Unterhaltung anknüpften. So oft übrigens einer der jungen Gentlemen nicht tatsächlich mit seinem Messer, seiner Gabel oder seinem Löffel beschäftigt war, suchte sein Blick, wie infolge unwiderstehlicher sternchenland.com Anziehung, das Auge von Doktor Blimber, Mrs. Blimber oder Miß Blimber, wo er bescheiden haften blieb. Nur Toots schien eine Ausnahme von dieser Regel zu machen. Er hatte auf der Seite, wo Paul saß, seinen Platz zunächst neben Mr. Feeder und schaute oft hinter oder vor der dazwischenliegenden Knabenreihe hin, um sich unsern Paul zu betrachten.

Nur einmal während der Mahlzeit fand eine Unterhaltung statt, an der sich auch die jungen Gentlemen beteiligen konnten. Sie fiel in die Epoche des Käses; denn nachdem der Doktor ein Glas Portwein genommen hatte, räusperte er sich etlichemal und begann:

»Es ist merkwürdig, Mr. Feeder, daß die Römer –«

Bei Erwähnung dieses schrecklichen Volks, ihrer unversöhnlichen Feinde, hefteten sämtliche jungen Gentlemen mit dem Anschein des tiefsten Interesses ihre Blicke auf den Doktor. Einer darunter, welcher eben trank und durch die Wandung des Glases das Auge des Doktors sah, welches ihn scharf fixierte, hörte so plötzlich auf, daß er für einige Augenblicke zu ersticken drohte und in der Folge den Faden von Doktor Blimbers Vortrag völlig verwirrte.

»Es ist merkwürdig, Mr. Feeder«, nahm der Doktor langsam wieder auf, »daß die Römer bei jenen prunkvollen und schlemmerischen Mahlzeiten, von denen wir aus den Tagen der Kaiser lesen, als die Üppigkeit eine vor- oder nachher nie mehr bekannte Höhe erreicht hatte, und als ganze Provinzen verwüstet wurden, um ein einziges kaiserliches Bankett mit allem nur erdenklichen gaumenkitzelnden Material zu versehen – –«

Hier brach der kleine Verbrecher, welcher fortwährend den Krampf hinunterzuwürgen versucht hatte, in ein ungestümes Husten aus.

»Johnson«, sagte Feeder mit gedämpfter vorwurfsvoller Stimme, »nehmt etwas Wasser.«

Der Doktor machte eine finstere Miene, hielt inne, bis das Wasser gebracht wurde, und hub dann wieder an:

»Und als, Mr. Feeder –«

Aber Mr. Feeder, welcher bemerkte, daß Johnson mit einem neuen Ausbruch bedroht war, wußte wohl, daß der Doktor wegen des jungen Gentleman nicht zum Schluß seiner Rede kommen konnte, und verwandte deshalb seine Blicke nicht von dem letzteren. So fügte sich’s dann, daß der Doktor seinen Gehilfen über der Tat ertappte, wie er ihn nicht ansah, und hielt deshalb inne.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Mr. Feeder errötend. »Ich bitte um Verzeihung, Doktor Blimber.«

»Und als«, fuhr der Doktor mit erhöhter Stimme fort, »als, Sir, wie wir lesen, ohne daß wir einen Grund zum Zweifeln dafür fänden, so unglaublich es auch unsern ordinären Zeiten erscheinen mag – der Bruder des Vitellius demselben ein Fest bereitete, bei welchem Fische aufgetragen wurden in zweitausend Gerichten – –«

»Nehmt etwas Wasser, Johnson – Gerichten, Sir«, sagte Mr. Feeder.

»Fünftausend Schüsseln mit den verschiedenartigsten Vögeln –«

»Oder versucht’s mit einem Bissen Brot«, sagte Mr. Feeder.

»Und eine Schüssel«, fuhr Doktor Blimber fort, indem er seine Stimme noch mehr erhob und sich am ganzen Tisch umsah, »die wegen ihres ungeheuern Umfangs den Namen Schild der Minerva führte, angefüllt unter andern kostbaren Ingredienzen mit dem Gehirn von Fasanen –«

»Kwh, kwh, kwh«, ertönte es von Johnson.

»Schnepfen –«

»Kwh, kwh, kwh.«

»Den Schwimmblasen der Fische, Scari genannt –«

»Es wird Euch in Eurem Kopf eine Ader springen«, sagte Mr. Feeder. »Tut Euch lieber keinen Zwang an.«

»Und dem Rogen der Lamprete, von dem karpathischen Meer hergeholt«, fuhr der Doktor in seiner strengsten Stimme fort; »wenn wir von solchen kostbaren Mahlzeiten lesen und uns dabei erinnern, daß wir einen Titus haben –«

»Wie würde Eure Mutter jammern, wenn Ihr an einem Schlagfluß stürbet!« sagte Mr. Feeder.

»Einen Domitian –«

»Ihr seid ja ganz blau«, sagte Mr. Feeder.

»Einen Nero, einen Tiberius, einen Caligula, einen Heliogabalus und noch viele andere«, fügte der Doktor hinzu, »so ist es, Mr. Feeder – wenn Ihr mir die Ehre erweisen wollt, mir Gehör zu schenken – merkwürdig, sehr merkwürdig, Sir –«

Aber Johnson, der außerstande war, länger an sich zu halten, brach jetzt in einen so überwältigenden Hustenanfall aus, daß er vor fünf Minuten nicht wieder zur Ruhe kommen konnte, obschon seine Nachbarn ihn auf den Rücken klopften, Mr. Feeder ihm ein Glas Wasser an die Lippen hielt und der Aufwärter mehreremal zwischen dem Stuhl des Delinquenten und dem Seitentische wie eine Schildwache hin und her ging. Dann aber folgte tiefes Schweigen.

»Gentlemen«, sagte Doktor Blimber, »erhebt Euch zum Gebet. Cornelia, hilf Dombey hinunter.«

Infolge davon sah man nichts als dessen Skalp über dem Tischtuch. »Johnson wird mir morgen früh vor dem Frühstück das erste Kapitel aus dem Brief des heiligen Paulus an die Epheser in griechischer Sprache auswendig hersagen. Mr. Feeder, in einer halben Stunde wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen.«

Die jungen Gentlemen verbeugten sich und traten ab. Mr. Feeder tat desgleichen.

Während der halben Stunde schlenderten die Zöglinge Arm in Arm paarweise auf einem kleinen Stück Rasen hinter dem Hause auf und ab oder bemühten sich, in der Brust von Briggs einen Funken Leben zu entzünden. Von etwas so Gemeinem, wie Spielen war, konnte natürlich keine Rede sein. Pünktlich zu der anberaumten Zeit ertönte die Metallplatte, und die Studien wurden unter der vereinten Leitung des Doktor Blimber und des Mr. Feeder wieder aufgenommen.

Da heute wegen Johnson das olympische Spiel des Auf- und Abschlenderns verkürzt worden war, so durften sie insgesamt vor dem Tee einen Spaziergang machen. Sogar Briggs – obschon er bis jetzt noch nicht angefangen hatte – nahm an dieser Zeitverschwendung teil, und als er unter den Spaziergängern dahinging, schaute er zwei- oder dreimal düster über die Klippe hinunter. Doktor Blimber begleitete sie, und Paul hatte die Ehre, von ihm an der Hand geführt zu werden – eine hohe Auszeichnung, obschon er sich darin gar klein und gebrechlich ausnahm.

Der Tee wurde in ebenso feinem Stil aufgetragen wie das Mittagsmahl. Nach demselben standen die jungen Gentlemen auf, machten wie zuvor ihre Bücklinge und entfernten sich, um die unvollendeten Arbeiten des Tages wieder aufzunehmen oder sich auf die, welche für morgen in Aussicht standen, vorzubereiten. Mr. Feeder zog sich jetzt in sein eigenes Zimmer zurück, und Paul nahm in einer Ecke Platz, bei sich Betrachtungen anstellend, ob wohl Florence auch an ihn denke, und was man in Mrs. Pipchins Kastell treibe.

Mr. Toots wurde anfänglich durch einen wichtigen Brief von dem Herzog von Wellington in Anspruch genommen, suchte aber später Paul auf und fragte ihn, nachdem er ihn wie früher geraume Zeit gemustert hatte, ob er gern Westen trage.

Pauls Antwort lautete:

»Ja, Sir.«

»Ich auch«, versetzte Toots.

Den ganzen Abend sprach Toots kein Wort mehr, blieb aber oft vor Paul stehen und sah ihn an, als ob er Gefallen an ihm fände. Doch auch hierin lag Gesellschaft, und da Paul gleichfalls nicht zum Reden geneigt war, so entsprach dieser stumme Verkehr seinem Zwecke weit besser als die Konversation.

Gegen acht Uhr rief die Metallplatte wieder zum Gebet im Speisezimmer, und nachher erschien der Aufwärter an einem Seitentisch, wo Brot, Käse und Bier für diejenigen jungen Gentlemen, die dergleichen wünschten, aufgestellt war. Die Feierlichkeit schloß mit den Worten des Doktors: »Gentlemen, morgen früh sieben Uhr wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen!« und jetzt zum erstenmal sah Paul Cornelia Blimbers Auge, das auf ihm haftete. Nachdem der Doktor seine ermutigende Rede gehalten hatte, verbeugten sich die Zöglinge wieder und begaben sich zu Bett.

In der vertraulichen Abgeschiedenheit des obern Stübchens sagte Briggs, sein Kopf schmerze ihn zum Zerspringen, und er möchte gern tot sein, wenn nur zu Haus seine Mutter und seine Amsel nicht wären. Tozer sprach nicht viel, seufzte aber desto mehr und gab Paul zu verstehen, er solle nur acht haben, denn morgen werde die Reihe an ihn kommen. Nach diesen prophetischen Worten entkleidete er sich und verbarg seine düstere Stimmung in den Laken seines Bettes. Auch Briggs und Paul hatten bereits ihr Lager eingenommen, als der blödsichtige junge Mann erschien, um das Licht zu holen; er sternchenland.com sternchenland.com wünschte ihnen dabei gute Nacht und angenehme Träume. Soweit Briggs und Tozer in Frage kamen, war dies ein sehr eitler Wunsch; denn Paul, der lange wach blieb und nur mit Unterbrechungen schlief, bemerkte jedesmal, daß Briggs von seiner Aufgabe wie von einem Alp gedrückt wurde, während Tozer, dessen Gemüt auch im Schlaf von ähnlichen Ursachen aufgeregt war, obschon nicht in so hohem Grade, fremde Worte ausstieß. Paul meinte, dies müsse Griechisch oder Lateinisch sein; aber wie dem auch sein mochte, dieser Somnoloquismus übte in dem Schweigen der Nacht eine höchst unheimliche Wirkung aus.

Paul war endlich in einen süßen Schlaf versunken und träumte von Florence, mit welcher er Hand in Hand durch schöne Gärten ging. Da kamen sie plötzlich zu einer großen Sonnenblume, die sich im Nu zu einer großen, runden, laut tönenden Messingplatte verwandelte. Er öffnete die Augen und fand, daß es noch dunkel, ein windiger, regnerischer Morgen war. Aber die wirkliche Platte ließ ihre schrecklichen Töne erschallen, welche die Zöglinge nach der Halle hinunterrief.

Er stand augenblicklich auf und fand, daß Briggs mit einem von Alp und Kummer gedunsenen Gesicht, so daß man kaum seine Augen sah, eben die Stiefel anzog, während Tozer in sehr übler Laune schaudernd dastand und sich die Schultern rieb. Weil Paul nicht daran gewöhnt war, konnte er sich nicht leicht selbst ankleiden und bat daher seine Zimmergenossen, sie möchten die Güte haben, ihm einige Schnüre zuzuknöpfen. Da aber Briggs bloß hierauf erwiderte: »Possen« und Tozer meinte: »Sonst nichts!« ging er, sobald er im übrigen fertig war, nach dem nächsten Stockwerk hinunter, wo er ein hübsches junges Frauenzimmer in ledernen Handschuhen an einem Ofen lehnen sah. Das Mädchen schien sich über sein Aussehen zu verwundern und fragte ihn, wo seine Mutter sei; als ihr aber Paul sagte, sie sei tot, nahm sie ihre Handschuhe ab und tat, was er verlangte. Außerdem rieb sie ihm die Hände, um ihn zu wärmen, gab ihm einen Kuß und bedeutete ihm, so oft er etwas der Art brauche – sie meinte damit seinen Anzug – so solle er nur nach Melia fragen. Nachdem Paul herzlich gedankt und ihr versprochen hatte, er werde dies gewiß tun, schlich er nach dem Zimmer hinunter, in welchem die Gentlemen ihre Studien aufnehmen sollten; als er aber auf diesem Wege an einer halb angelehnten Tür vorbeikam, rief ihm hinter derselben eine Stimme zu: »Ist dies Dombey?«

»Ja, Ma’am«, versetzte Paul, denn er erkannte darin die Stimme der Miß Blimber.

»Nur herein, Dombey«, versetzte die junge Dame.

Und Paul entsprach der Aufforderung.

Miß Blimber sah genau wieder so aus wie gestern, nur daß sie jetzt ein großes Halstuch anhatte. Ihre kleinen blonden Locken waren so kraus wie nur je; auch hatte sie bereits ihre Brille auf, so daß Paul gar zu gern hätte wissen mögen, ob sie sich am Ende nicht auch mit derselben schlafen lege. Das Stübchen war ihr eigenes sternchenland.com und hatte einige Bücher als Ausstattung; aber Feuer war nirgends zu sehen. Miß Blimber fror es nie, und sie wurde nie schläfrig.

»Nun, Dombey«, sagte Miß Blimber, »ich mache einen Ausgang wegen meiner Konstitution.«

Paul wunderte sich, was dies sein möchte und warum sie bei so schlechtem Wetter nicht lieber den Bedienten fortschickte, um es zu holen; indes enthielt er sich jeder Bemerkung über den Gegenstand, da seine Aufmerksamkeit ganz von einem Häufchen neuer Bücher in Anspruch genommen war, mit denen sich Miß Blimber kürzlich beschäftigt zu haben schien.

»Es sind die deinen, Dombey«, sagte Miß Blimber.

»Alle, Ma’am?« fragte Paul.

»Ja«, entgegnete Miß Blimber; »und Mr. Feeder wird bald noch mehr für dich auftreiben, wenn du so fleißig studierst, als ich von dir erwarte, Dombey.«

»Danke schön«, sagte Paul.

»Ich mache also einen Ausgang wegen meiner Konstitution«, nahm Miß Blimber wieder auf, »und während ich fort bin – das heißt, von jetzt an bis zum Frühstück, Dombey – wünsche ich, daß du alles überliest, was ich dir in diesen Büchern angemerkt habe. Du sagst mir dann, ob du vollkommen verstanden hast, was du daraus lernen sollst. Verliere keine Zeit damit, denn du hast keine übrig, sondern nimm die Bücher hinunter und fange augenblicklich an.«

»Ja, Ma’am«, antwortete Paul.

Es waren ihrer so viele, daß das mittlere, obgleich Paul die eine Hand unter das unterste, die andere aber und sein Kinn auf das oberste legte, hinausglitt, noch ehe er die Tür erreicht hatte, und dann purzelten sie alle auf den Boden. Miß Blimber sagte: »O Dombey, Dombey, dies ist in der Tat sehr unachtsam«, und schichtete sie von neuem auf. Diesmal gelang es auch unter sorgfältiger Beachtung des Gleichgewichts, daß Paul zum Zimmer hinauskam und schon einige Treppen zurückgelegt hatte, ehe wieder einige davon Reißaus nahmen. Die übrigen packte er aber so fest, daß bloß auf dem ersten Boden und dann in dem Hausflur wieder eins abhanden kam. Die Hauptmasse legte er sodann in dem Schulzimmer nieder, worauf er abermals die Treppen hinaufstieg, um die Nachzügler zu sammeln. So war denn endlich die ganze Bibliothek beisammen, und er kletterte auf seinen Stuhl hinauf, um die Arbeit zu beginnen, ermutigt durch eine Bemerkung Tozers, der meinte, jetzt fange es bei ihm an. Dies war übrigens die einzige Unterbrechung, die bis zur Frühstückszeit stattfand. Bei dieser Mahlzeit, für die er jedoch keinen Appetit mitbrachte, war alles ebenso feierlich und gentil wie bei den andern, und nachdem sie beendigt war, nahm ihn Miß Blimber die Treppe hinauf.

»Nun, Dombey«, sagte Miß Blimber, »wie bist du mit diesen Büchern zurechtgekommen?«

Sie enthielten ein wenig Englisch und viel Lateinisch – Namen von Dingen, die Deklination von Artikeln und Substantiven, Übungen sternchenland.com darüber und einleitende Regel – ein bißchen Orthographie, einen Blick in die alte Geschichte, ein paar in die neue, etliche Tabellen, zwei oder drei Tafeln über Maß und Gewicht und endlich einige allgemeine Belehrungsgegenstände. Nachdem der arme Paul Nummer zwei durchbuchstabiert hatte, fand er, daß er auch nicht die mindeste Vorstellung von Nummer eins hatte; Bruchstücke davon drängten sich ihm nachher in Nummer drei auf, und dies glitt mit in Nummer vier hinüber, welche sich ihrerseits auf Nummer zwei gründete. Er konnte deshalb durchaus nicht mit sich klar werden, ob zwanzig Romulusse einen Remus machten, ob hic, haec, hoc zum Apothekergewicht gehöre, ob ein Verbum stets sich nach einem alten Britonen richte, oder ob dreimal vier taurus ein Stier sei.

»O Dombey, Dombey!« rief Miß Blimber. »Dies ist ja entsetzlich!«

»Wenn Ihr’s erlauben wolltet«, sagte Paul, »ich glaube, es würde schon besser gehen, wenn ich nur bisweilen ein wenig mit dem alten Glubb mich unterhalten dürfte.«

»Unsinn, Dombey«, sagte Miß Blimber. »Ich will nichts davon hören. Dies ist kein Platz für Glubbse irgendeiner Art. Ich sehe schon, Dombey, du mußt die Bücher eines nach dem andern vornehmen und dich zuerst mit dem Gegenstande A bekannt machen, ehe du überhaupt zu dem Gegenstande B übergehst, und nun sei so gut, das oberste Buch mitzunehmen, Dombey; du kommst dann wieder zu mir, wenn du den Stoff gemeistert hast.«

Miß Blimber drückte ihre Ansicht über Pauls Unwissenheit mit einer gewissen düstern Wonne aus, als hätte sie ein solches Resultat erwartet und freue sich, zu finden, daß sie in stetigem Verkehr bleiben würden. Paul entfernte sich, wie ihm geheißen worden, mit dem ersten Buche und arbeitete in dem Schulzimmer drauflos. Hin und wieder war ihm jedes Wort darin gegenwärtig; dann vergaß er sie aber insgesamt wieder und alles andere mit, und als er es zuletzt wagte, wieder hinaufzugehen, um das Gelernte herzusagen, verlor sich fast alles wieder aus seinem Kopfe, noch ehe er angefangen hatte; denn Miß Blimber schloß das Buch und sagte: »Nur zu, Dombey!« – ein Verfahren, das so deutlich ihre Bekanntschaft mit dem Inhalt verriet, daß Paul die junge Dame bestürzt ansah, als sei sie eine Art gelehrter Guy Faux oder eine künstliche Vogelscheuche, mit schulgerechtem Stroh dick ausgestopft. Gleichwohl machte er seine Sache nicht übel, und Miß Blimber, die ihn wegen des verheißungsvollen Anfangs lobte, versah ihn sogleich mit dem Gegenstand B, von dem er noch vor dem Mittagessen zu C und sogar zu D überging. Daß er so bald nach der Mahlzeit seine Studien wieder aufnehmen sollte, kam ihm sehr hart vor, denn er fühlte sich schwindlig, verwirrt und schläfrig. Indes erging es sämtlichen jungen Gentlemen ebenso, und dennoch mußten auch sie an ihre Studien gehen – einiger Trost wenigstens, wenn man’s so nennen kann. Es war ein Wunder, daß die große Uhr in der Halle stets nur auf ihrer ersten Frage beharrte sternchenland.com und nie sagte: »Gentlemen, wir wollen jetzt unsere Studien aufnehmen«; denn diese Phrase wurde jedenfalls oft genug in ihrer Umgebung wiederholt. Die Studien machten ihren Umgang wie ein großes Rad, und die jungen Gentlemen waren stets darauf geflochten.

Nach dem Tee fingen die Übungen abermals an, und bei Kerzenlicht wurden die Vorbereitungen für den nächsten Tag vorgenommen. Im Laufe der Zeit kam denn nun das Zubettgehen, und auf dem Lager fand man Ruhe und süßes Vergessen, wenn sich nicht die Wiederaufnahme der Studien in die Träume mischte.

O Sonnabende! o glückliche Sonnabende, an denen Florence stets nachmittags kam und selbst beim schlechtesten Wetter nicht wegbleiben mochte, gleichviel wie sehr Mrs. Pipchin darüber schalt, knurrte und das arme Mädchen quälte. Diese Sonnabende waren neben der ganzen Judenschaft zugleich auch Sabbate für zwei kleine Christen und dienten dem heiligen Sabbatwerke, die Liebe eines Bruders und einer Schwester inniger zu knüpfen.

Nicht einmal die Sonntagabende – die schweren Sonntagabende, deren Schatten den ersten erwachenden Lichtstrahl der Sonntagmorgen verdüsterten – konnten diese köstlichen Sonnabende vergällen. Paul kümmerte sich nicht darum, ob sie an der weiten Seeküste zugebracht wurden, wo sie beieinander saßen und miteinander lustwandelten, oder ob sie sich nur in Mrs. Pipchins öder Hinterstube befanden, wo sie ihm so sanft zusang, während er das schläfrige Köpfchen auf ihren Arm lehnte. Alles andere war ihm nichts – nur Florence sein einziger Gedanke. Wenn dann an Sonntagabenden die unheimliche Tür des Doktors offen stand, um ihn wieder für eine Woche zu verschlingen, so fand er nur noch Zeit zum Abschied für Florence, für niemand anders.

Mrs. Wickham war nach dem Hause in London zurückversetzt worden, und Miß Nipper, nunmehr ein stattliches junges Frauenzimmer, hatte in Brighton ihre Stelle ersetzen müssen. Wie manchem Einzelkampfe mit Mrs. Pipchin widmete sich nicht Miß Nipper ritterlich, und wenn je erstere in ihrem ganzen Leben einen ebenbürtigen Gegenpart gefunden hatte, so war dies jetzt der Fall. Miß Nipper warf schon am ersten Morgen, den sie in Mrs. Pipchins Hause zubrachte, die Scheide ihres Säbels weg und verlangte ebensowenig Pardon, als sie ihn selbst gewährte. Sie sagte, es müsse Krieg sein, und so war es auch. Mrs. Pipchin lebte von Stunde an unter einem fortwährenden System von Überraschungen, Plackereien und Herausforderungen; ja, die Scharmützel trafen sie sogar von dem Flur aus in dem unbewachten Augenblicke der Hammelrippchen und vergällten ihr jede Röstschnitte.

Als nach einem Abendgang mit Paul nach dem Hause des Doktors Sonntags Miß Nipper mit Florence nach Hause zurückkehrte, holte letztere aus ihrem Busen einen kleinen Papierstreifen hervor, auf dem sie einige Worte aufgezeichnet hatte.

»Seht her, Susanna«, sagte sie. »Dies sind die Titel der kleinen Bücher, die Paul noch lernen soll, wenn er schon von den langen sternchenland.com Übungen ermattet ist. Ich habe sie gestern abend aufgezeichnet, als er schrieb.«

»O, seid so gut, es mir nicht zu zeigen, Miß Floy«, entgegnete Nipper. »Ich möchte ebensogern Mrs. Pipchin sehen.«

»Ich möchte Euch bitten, Susanna, daß Ihr sie morgen früh für mich kauft«, sagte Florence. »Mein Geld reicht wohl.«

»Ei, du meine Güte, Miß Floy«, erwiderte Miß Nipper, »wie mögt Ihr nur auch so sprechen, da Ihr schon Bücher über Bücher habt, und Lehrer und Lehrerinnen dazu, die Euch ohne Unterlaß alles lehren, obschon ich glaube, Miß Dombey, Euer Papa würde nie daran gedacht haben, Euch etwas lernen zu lassen, wenn Ihr ihn nicht darum gebeten hättet und er es deshalb nicht gut abschlagen konnte. Ja, Miß, es ist ein großer Unterschied, etwas zu tun, wenn man darum angegangen wird, und sich zu etwas unaufgefordert zu erbieten. Ich habe vielleicht nichts dagegen einzuwenden, wenn mir ein junger Mann Gesellschaft leistet, und sage vielleicht ja, falls er mich darum ersucht; dies ist aber etwas ganz anderes, als wenn ich sagen wollte: ›Mögt Ihr nicht so gut sein, mich gerne zu haben‹.«

»Aber Ihr könnt mir ja die Bücher kaufen, Susanna, und Ihr werdet es auch tun, wenn Ihr wißt, warum ich sie wünsche.«

»Gut, Miß; und warum wünscht Ihr sie?« versetzte Nipper und fügte dann in gedämpfter Stimme bei: »Handelt sich’s darum, sie Mrs. Pipchin an den Kopf zu werfen, so will ich Euch eine ganze Wagenlast bringen.«

»Ich glaube, Susanna, wenn ich diese Bücher habe, bin ich vielleicht imstande, Paul einige Hilfe zu leisten«, sagte Florence. »Möglich, daß ihm für die nächste Woche eine kleine Erleichterung dadurch kommt. Ich möchte es wenigstens versuchen. Kauft mir sie also, meine Liebe, und ich werde Euch diese Freundlichkeit nie vergessen.«

Es hätte ein härteres Herz dazu gehört, als das von Susanna Nipper war, um die kleine Börse, die Florence ihr bei diesen Worten darbot, zurückzuweisen, oder dem flehenden Blicke, womit sie ihr Gesuch begleitete, zu widerstehen. Susanna nahm ohne Widerrede das Geld zu sich und machte sich unverweilt auf den Weg, um dem Anliegen zu entsprechen.

Die Bücher waren nicht leicht zu bekommen, denn in den Buchläden lautete in der Regel die Antwort, sie seien eben erst ausgegangen, würden gar nicht geführt, haben sich im letzten Monat in großer Menge vorgefunden oder es würde nächste Woche reichlich Vorrat sein. Susanna war übrigens nicht so bald zu ermüden; denn nachdem sie einen weißhaarigen Jüngling in einer schwarzen Kattunschürze, der in einer ihr bekannten Buchhandlung angestellt war, veranlaßt hatte, sie bei ihrem Nachforschungsgange zu unterstützen, führte sie ihn auf eine Weise hin und her, daß er, nur um sie endlich loszuwerden, sein Äußerstes aufbot und sie dadurch in die Lage setzte, zuletzt einen triumphierenden Heimzug zu feiern.

Nach Beendigung der eigenen täglichen Aufgaben setzte sich nun sternchenland.com Florence abends mit diesen Schätzen nieder, um Pauls Fußstapfen über die dornigen Wege der Gelehrsamkeit zu folgen. Sie besaß von Natur gute Anlagen, und Dank sei es jenem wunderbaren Lehrer, der Liebe – es dauerte nicht lange, bis sie Paul nachgekommen und ihn sogar überholt hatte.

Nicht eine Silbe hiervon verlautete zu Mrs. Pipchin. Aber manche Nacht, wenn alle andern Leute im Bett lagen und Miß Nipper mit aufgewickelten Locken und in sehr unbequemer Stellung an ihrer Seite schlummerte – wenn die Asche im Kamin kalt und grau, die Kerze aber fast niedergebrannt war, gab sich Florence so angelegentlich Mühe, für einen kleinen Dombey zu arbeiten, daß ihr Eifer und ihre Ausdauer ihr fast ein gutes Recht hätten erringen können, diesen Namen selbst zu tragen.

Und wie groß war ihr Lohn, als sie eines Sonnabends, als der kleine Paul in der gewohnten Weise »seine Studien wieder aufnehmen« wollte, an seiner Seite Platz nahm und ihm zeigte, wie für ihn alles Rauhe geebnet und alles Dunkle klar und deutlich gemacht worden sei. Es war nur der Ausdruck der Verwunderung in Pauls bleichem Gesicht – ein Erröten, ein Lächeln – und dann eine innige Umarmung; aber Gott weiß, wie ihr das Herz hupfte bei dieser reichen Belohnung für ihre Mühe.

»O Floy!« rief ihr Bruder. »Wie liebe ich dich! wie liebe ich dich, Floy!«

»Und ich dich, mein Teurer!«

»O, dies weiß ich wohl, Floy!«

Er sprach nicht weiter darüber, aber jenen ganzen Abend saß er in größter Ruhe bei ihr, und nachts rief er aus dem kleinen Alkoven, in dem er schlief, ihr drei- oder viermal zu, daß er sie liebe.

Und fortan war Florence regelmäßig vorbereitet, an Sonnabenden mit Paul zu lernen und in größter Geduld für die Arbeit der nächsten Woche ihm einen möglichst großen Vorsprung zu gewinnen. Der ermunternde Gedanke, daß er an dem weiterspinne, was Florence kurz zuvor um seinetwillen getan hatte, war natürlich unserem Paul ein Sporn für die stetige Aufnahme seiner Studien; da aber hieraus noch eine wesentliche Erleichterung seiner Last erwuchs, so verdankte er diesem Beistand wahrscheinlich, daß er nicht unter der Bürde erlag, die die blonde Cornelia Blimber seinem Rücken im Übermaße auflud.

Wir wollen damit nicht sagen, daß Miß Blimber ihn hart behandelte oder Doktor Blimber seine jungen Gentlemen allzu schwer anzuspannen beabsichtigte. Cornelia hielt sich allein an das Glaubensbekenntnis, in dem sie erzogen worden war, und der Doktor betrachtete in einer teilweisen Verwirrung seiner Ideen die jungen Gentlemen in einem Lichte, als wären sie lauter Doktoren und mit den Eigenschaften dieser akademischen Würde schon in die Welt getreten. Der Beifall, den ihm die nächsten Verwandten der jungen Gentlemen zollten, trug natürlich nur dazu bei, die blinde Eitelkeit und unüberlegte Hast der Familie zu steigern; es hätte daher allerdings sternchenland.com wundernehmen müssen, wenn Doktor Blimber seinen Irrtum entdeckt oder seine schwellenden Segel in anderer Weise angeholt haben würde.

Und so ging es nun auch mit Paul. Sobald Doktor Blimber die Meldung machte, der Knabe habe von Natur gute Anlagen und schreite rasch voran, war Mr. Dombey nur um so mehr darauf versessen, daß man seinen Sohn ansporne und alles mögliche in ihn hineinstopfe; aber ebenso unerbittlich ließ sich der alte Mr. Briggs in ähnlicher Art vernehmen, als ihm der Lehrer berichtete, daß Briggs junior nur geringe Anlagen habe und schlechte Fortschritte mache. Mit einem Worte, wie hoch und wie unzweckmäßig auch die Temperatur sein mochte, in der der Doktor sein Treibhaus erhielt – die Eigentümer der Pflanzen waren stets bereit, an die Blasbälge Hand zu legen und das Feuer zu schüren.

Der Frohsinn, den Paul im Anfang mitgebracht hatte, ging natürlich bald verloren. Dagegen aber erhielt sich alles Seltsame, Alte und Gedankenvolle in seinem Charakter; ja es entwickelte sich sogar noch weit stärker, da die Umstände hierzu sogar förderlich waren.

Der einzige Unterschied, der stattfand, bestand darin, daß er seinen Charakter für sich behielt. Er wurde zwar mit jedem Tage gedankenvoller und zurückhaltender, gewann aber nicht dieselbe Teilnahme an irgendeinem lebenden Wesen in dem Hause des Doktors, wie dies bei Mrs. Pipchin der Fall gewesen. Er blieb gern allein, und in den kurzen Zwischenräumen, in denen er nicht von seinen Büchern in Anspruch genommen war, beschäftigte er sich am liebsten damit, daß er einsam im Hause umherlief oder auf der Treppe saß, um der großen Uhr in der Halle zuzuhören. Die Tapeten der Zimmer hatte er durch und durch studiert; er sah in den Bildern Dinge, die niemand sonst bemerkte, fand kleine Tiger und Löwen, die an den Wänden der Schlafzimmer hinausliefen, und entdeckte sogar schielende Gesichter in den Vierecken der Bodenteppiche. Kurz, der Knabe lebte einsam fort, umgeben von der Arabeskenarbeit seiner sinnenden Phantasie, und niemand begriff ihn. Mrs. Blimber hielt ihn für »wunderlich«, und bisweilen sagten die Dienstboten unter sich, mit dem kleinen Dombey sei es nicht richtig; damit aber hatte es sein Bewenden.

Vielleicht hatte nur der junge Toots in betreff der Sache den Schatten einer Idee, obschon er durchaus nicht imstande war, ihr einen Ausdruck zu verleihen. Wie mit Gespenstern muß man sich auch mit Ideen vorher ein wenig benehmen, ehe sie sich selbst aufklären, und Toots hatte längst aufgehört, an seinen Geist Fragen zu stellen. Mag sein, daß hin und wieder aus dem bleiernen Helm seines Schädels ein Nebel hervorging, der, wenn er Form und Gestalt hätte gewinnen können, den Mann zu einem Genie gemacht haben würde; da aber dies nicht der Fall war, so ahmte er nur das Beispiel des Rauchs in dem Märchen der Scheherezade nach, der in einer dicken Wolke herauswogte und in der Luft schweben blieb. Immerhin blieb übrigens auf einer einsamen Küste eine kleine Figur sichtbar, und Toots stierte unaufhörlich darnach hin.

»Wie geht’s dir?« konnte er wohl fünfzigmal des Tages unsern kleinen Paul fragen.

»Ganz gut, Sir, danke«, pflegte Paul zu antworten.

»Gib mir deine Hand«, ließ Toots darauf folgen.

Natürlich tat Paul dies ohne Zögern, und Mr. Toots sagte dann in der Regel, nachdem er den Kleinen unter schwerem Atmen eine lange Weile angestiert hatte, »wie geht’s dir?« Paul antwortete dann wieder, »ganz wohl, Sir, danke.«

Eines Abends saß Mr. Toots, von seiner Korrespondenz gewaltig in Anspruch genommen, an seinem Pult, als ein großer Gedanke in ihm aufzublitzen schien. Er legte seine Feder nieder und machte sich auf, um Paul zu suchen, den er endlich nach langem Spähen in dem Schlafstübchen fand, wie er eben zum Fenster hinaussah.

»He!« rief Toots in dem Moment, in dem er das Stübchen betrat, um seinen Zweck nicht zu vergessen; »an was denkst du?«

»O, ich denke an sehr viele Dinge«, versetzte Paul.

»Wirklich?« entgegnete Toots; und es hatte den Anschein, als ob er in dieser Tatsache etwas ungemein Überraschendes finde.

»Wenn Ihr sterben müßtet –« sagte Paul zu seinem Gesicht aufblickend.

Mr. Toots stutzte und war sichtlich sehr beunruhigt.

»Glaubt Ihr nicht, Ihr würdet es lieber tun in einer mondhellen Nacht, wenn der Himmel vollkommen klar wäre und der Wind bliese wie in der letzten Nacht?«

Mr. Toots sah Paul zweifelnd an, schüttelte den Kopf und versetzte, er wisse nicht, was er damit meine.

»Es war wenigstens kein Stürmen«, fuhr Paul fort, »sondern die Luft tönte, wie das Rauschen des Meeres in den Muscheln. Eine schöne Nacht! Nachdem ich geraume Zeit dem Wasser zugehört hatte, stand ich auf und sah hinaus. Dort drüben schwamm ein Boot in vollem Licht des Mondes – ein Boot mit einem Segel.«

Das Kind sah ihn fest an und sprach so eifrig, daß Mr. Toots wohl fühlte, er müsse etwas über dieses Boot sagen. Seine Erwiderung lautete daher »Schmuggler«; weil er sich aber unparteiisch erinnerte, daß jede Frage zwei Seiten habe, so fügte er hinzu: »oder Zollschutzwache«.

»Ein Boot mit einem Segel im vollen Licht des Monds«, wiederholte Paul. »Das Segel sah aus wie ein Arm ganz von Silber. Es entfernte sich mehr und mehr, und was glaubt Ihr wohl, was es zu tun schien, als es sich mit den Wellen bewegte?«

»Es schwankte«, sagte Mr. Toots.

»Es schien zu winken«, sagte das Kind, »als wünsche es, daß ich komme! – Da ist sie! – Da ist sie!«

Nach den Vorgängen entsetzte sich Toots höchlich ob diesem plötzlichen Ausruf und erwiderte:

»Wer?«

»Meine Schwester Florence!« rief Paul. »Sie sieht herauf und sternchenland.com winkt mit ihrer Hand. Sie sieht mich! Sie sieht mich – gute Nacht, Liebe, gute Nacht, gute Nacht!«

Der rasche Übergang in einen Zustand überschwenglicher Freude, während der Knabe unter Kußhändchen und Händeklatschen am Fenster stand, wie auch die Art, in der das Licht bei dem Verschwinden der Schwester sich in seinen Zügen verlor und eine geduldige Schwermut auf dem Gesichtchen zurückließ, war zu auffallend, um nicht auch auf einen Menschen wie Toots Eindruck zu machen. Sie wurden jedoch in diesem Augenblick durch einen Besuch von Mrs. Pipchin unterbrochen, die ein- oder zweimal in der Woche Paul just vor Einbruch der Dunkelheit mit ihren schwarzen Gewändern zu erfreuen pflegte, und Toots hatte daher nicht Zeit, die Gelegenheit weiter zu benützen; sie machte übrigens auf sein Gemüt einen so tiefen Eindruck, daß er nach dem Austausch der gewöhnlichen Begrüßungen zweimal wieder zurückkehrte, um Mrs. Pipchin zu fragen, wie sie sich befinde. Die zornige alte Dame nahm dies für eine tief angelegte und lang beabsichtigte Kränkung, hervorgegangen aus dem diabolischen Erfindungsgeist des blödsichtigen jungen Mannes drunten, und legte deshalb noch selbigen Abend gegen letzteren bei Doktor Blimber Beschwerde ein, worauf dieser den beschuldigten jungen Menschen vorlud und ihm zu verstehen gab, wenn er je wieder Ähnliches sich zu Schulden kommen lasse, werde er ihn fortjagen müssen.

Da die Abende jetzt länger wurden, schlich sich Paul regelmäßig nach seinem Fenster hinauf, um sich nach Florence umzusehen. Sie ging stets zu einer gewissen Stunde hin und her, bis sie seiner ansichtig wurde, und das wechselseitige Erkennen war ein Sonnenstrahl in Pauls täglichem Leben. Nach Einbruch der Dunkelheit ging oft auch eine andere Gestalt einsam vor dem Hause des Doktors hin und her. Mr. Dombey suchte jetzt nur selten an Sonnabenden die Gesellschaft der Kleinen, denn er konnte es nicht ertragen. Lieber wollte er unerkannt kommen und zu dem Fenster hinaufsehen, wo sein Sohn sich zu einem Manne bildete – wartend und harrend, Pläne schmiedend und hoffend.

O hätte er nur sehen können – oder hätte er mit den Augen anderer gesehen, wie der zarte schmächtige Knabe oben im Dämmerlicht nach den Wellen und Wolken hinschaute – mit welch sehnsüchtigen Blicken er sich zum Fenster seines einsamen Käfigs hinausbog, wenn die Vögel vorbeiflogen, als wünsche er sich selbst Schwingen, um mit ihnen wetteifern zu können, im Fluge hinaus in die Freiheit. sternchenland.com

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Mr. Dombeys Bureau.

Mr. Dombeys Geschäftslokale befanden sich in einem Hofraum, an dessen Ecke eine altmodische Bude stand, wo auserlesene Früchte feilgeboten wurden. Man sah daselbst herumziehende Händler beiderlei Geschlechts, die zwischen den Stunden zehn und fünf unaufhörlich Pantoffel, Taschentücher, Schwämme, Hundehalsbänder und Windsor-Seife, bisweilen auch einen Hühnerhund oder ein Ölgemälde verkaufen wollten.

Der Hühnerhund mußte stets diesen Weg machen als Spekulation auf die Stockbörse, weil daselbst eine gewisse Wettlust, die ursprünglich aus dem Halten auf neue Hüte hervorging, sehr im Schwung ist. Die übrigen Handelsartikel galten dem Publikum im allgemeinen, wurden aber von den Verkäufern nie Mr. Dombey angeboten. Im Gegenteil, wenn er auftrat, zogen sich diejenigen, die in solchen Waren Geschäfte machten, achtungsvoll zurück. Der Haupt-Pantoffel- und Hundehalsbandmann, der sich selbst für einen öffentlichen Charakter hielt, und dessen Porträt an der Tür eines Künstlers in Cheapside befestigt war, fuhr mit dem Zeigefinger an den Rand seines Hutes, so oft Mr. Dombey vorbeiging, und der Zettelträger, falls er nicht eben in einem Geschäft abwesend war, lief stets diensteifrig voraus, um Mr. Dombeys Bureautür so weit als möglich zu öffnen, und sie mit abgezogenem Hut offen zu halten, bis der große Mann eingetreten war. Die Angestellten im Innern blieben gleichfalls nicht um ein Tüpfelchen zurück in ihren Achtungsbezeugungen. Feierliches Schweigen herrschte, wenn Mr. Dombey durch das äußere Bureau kam, und der Witzling des Kontors wurde im Nu so stumm, wie die Reihe lederner Feuereimer, die hinter ihm hing. Das schale, dumpfe Licht, das durch die Fenster sickerte und auf den Scheiben einen schwarzen Bodensatz zurückließ, zeigte die Bücher, die Papiere und die darüber hingebeugten Gestalten in ein eifriges Halbdunkel gehüllt und dem Anschein nach von der Außenwelt so abgeschieden, als wären sie auf dem Boden des Meeres versammelt, während ein modriger kleiner Raum in dunkler Perspektive, wo stets eine beschirmte Lampe brannte, die Höhle irgendeines Seeungeheuers darstellen konnte, das mit rotem Auge alle diese Geheimnisse der Tiefe betrachtete.

So oft Perch, der Ausläufer, dessen Platz auf einem kleinen Tritt von der Größe eines Zifferblattes war, Mr. Dombey hereinkommen sah – oder vielmehr, so oft er fühlte, daß er komme, denn gewöhnlich empfand er instinktartig dessen Annäherung – so eilte er in das Zimmer des Prinzipals, schürte das Feuer, brachte frische Kohlen aus der Kohlentruhe, hing die Zeitung zum Lüften über den Ständer, rückte den Stuhl zurecht, brachte den Schirm an seinen Platz und hatte bei Mr. Dombeys Eintritt schon rechtsum gemacht, um ihm sternchenland.com Hut und Überrock abzunehmen. Dann griff er nach der Zeitung, faltete sie vor dem Feuer zurecht und legte sie ehrerbietig neben Mr. Dombey hin. Ja, Perch hatte so wenig dagegen, im höchsten Grad unterwürfig zu sein, daß er nur um so glücklicher gewesen sein würde, wenn er sich selbst zu Mr. Dombeys Füßen legen oder ihn mit einem Titel hätte anreden können, wie er vorzeiten dem Kalifen Harun al Raschid verliehen wurde.

Da übrigens eine solche Ehrenbezeugung eine Neuerung und ein Experiment gewesen wäre, so mußte sich Perch zufrieden geben, die Phrase »du bist das Licht meiner Äugen – du bist der Atem meiner Seele – du bist der Beherrscher des gläubigen Perch!« so gut er konnte, in seiner eigenen Weise auszudrücken. Mit diesem nur unvollkommen ermutigenden Glücksgefühl pflegte er sachte die Tür zu schließen, auf den Zehen hinwegzuschleichen und seinen großen Häuptling zurückzulassen, damit derselbe durch ein gotisch geformtes Fenster in den Bleidächern, durch häßliche Schornsteinfirste und Hinterhäuser, namentlich aber durch das kecke Fenster eines Haarschneidesalons auf dem ersten Stock angestiert werden könne, wo eine Wachsfigur, am Morgen kahl wie ein Muselmann und mittags nach elf Uhr mit üppigem Haar und Backenbart in der neuesten christlichen Mode, ihm stets die Hinterseite seines Kopfes zeigte.

Zwischen Mr. Dombey und der gemeinen Außenwelt, sofern sie zugänglich war durch das Medium des äußeren Bureaus, auf das Mr. Dombeys Gegenwart in seinem eigenen Zimmer sozusagen wie feuchte oder kalte Luft einwirkte, gab es zwei Höhenabstufungen. Mr. Carker in seinem Geschäftszimmer bildete die erste, Mr. Morfin in dem seinigen die zweite. Jeder von diesen Gentlemen nahm ein kleines Gemach ähnlich einem Badstübchen ein, die beide an der Außenseite von Mr. Dombeys Tür nach dem Flur hinausgingen. Mr. Carker bewohnte als Großvezier dasjenige Gelaß, das dem des Sultans am nächsten war, und Mr. Morfin als ein Beamter von untergeordneter Stellung behauptete das Stübchen, das an das Geschäftslokal der Angestellten grenzte.

Der letztgenannte Gentleman war ein heiter aussehender ältlicher Junggeselle mit nußbraunem Auge, der seine oberen Partien in Schwarz, die Beine aber gewöhnlich in eine Pfeffer- und Salzfarbe kleidete. Sein dunkles Haar zeigte da und dort einen Anflug von Grau, als hätte der Tritt der Zeit seine Sprenkeln zurückgelassen, und sein Backenbart war bereits schneeweiß. Er hatte gewaltigen Respekt vor Mr. Dombey und zollte ihm die gebührende Huldigung; da er aber ein heiteres Temperament hatte und sich in der stattlichen Gegenwart seines Prinzipals nie recht behaglich fühlen konnte, so quälte ihn keine Eifersucht wegen der vielen Konferenzen, deren sich Mr. Carker zu erfreuen hatte. Im Gegenteil, er fühlte sich in seinem Innern befriedigt, daß er Obliegenheiten zu verrichten hatte, die ihm nur selten eine derartige Auszeichnung zukommen ließen. Nach den Geschäftsstunden zeigte er sich als eifriger musikalischer Dilettant, und er hatte eine wahrhaft väterliche Zuneigung zu seinem sternchenland.com Violoncello, das jede Woche einmal aus seiner Wohnung zu Islington nach einem gewissen Klubzimmer in der Nähe der Bank geschafft wurde, wo an Dienstagabenden von einer Privatgesellschaft die ohrzerreißendsten Quartette aufgeführt wurden.

Mr. Carter mochte etwa achtunddreißig oder vierzig Jahre zählen. Er war ein Mann von blühender Gesichtsfarbe und hatte zwei ununterbrochene Reihen glänzender Zähne, deren Regelmäßigkeit und Weiße einem eigentlich Besorgnisse einflößten. Es war unmöglich, daß sie sich dem Beobachter entzogen; denn der Besitzer zeigte sie stets, so oft er sprach, und hatte in seinem Gesicht ein so breites Lächeln – ein Lächeln, das sich übrigens selten über die Grenzen seines Mundes hinaus erstreckte – daß man unwillkürlich an das Pfauchen einer Katze erinnert wurde. Nach dem Beispiel seines Prinzipals hatte er eine große Vorliebe für eine steife, weiße Halsbinde; auch war er stets in einen knapp anliegenden und vollständig zugeknöpften Anzug gekleidet. Sein Benehmen gegen Mr. Dombey war tief durchdacht und darnach abgemessen; er stand vertraut mit ihm bis an die äußerste Grenze seines Gefühls der Entfernung, die zwischen ihnen stattfand. »Mr. Dombey, einem Mann von Eurer Stellung gegenüber gibt es für einen Mann von der meinigen in Geschäftssachen keinen Grad von Dienstwilligkeit, den ich für zureichend halten könnte, und sage Euch daher offen, Sir, daß ich das Erforderliche lieber vornweg aufgebe. Ich empfinde, daß ich mein inneres Gefühl doch nicht befriedigen kann, und der Himmel weiß, Mr. Dombey, Ihr seid in der Lage, mir die Mühe zu erlassen.« Wenn er diese Worte auf einem Plakat gedruckt mit sich herumgetragen und auf der Brust seines Rockes unaufhörlich Mr. Dombey zum Lesen dargeboten haben würde, so hätte er sich unmöglich bestimmter erklären können, als dies in seinem ganzen Verhalten ausgedrückt war. Dies war Mr. Carker, der Geschäftsführer, Mr. Carker junior, Walters Freund, war sein Bruder und zwei oder drei Jahre älter als der erstgenannte, stand aber vermöge seiner Stellung weit unter ihm. Der Posten des jüngeren Bruders bildete den obersten Teil in der offiziellen Leiter, die des ältesten den untersten. Der ältere Bruder hatte nie eine Sprosse errungen oder auch nur einen Fuß erhoben, um sie zu ersteigen. Junge Menschen gingen ihm über den Kopf weg, stiegen und fielen; er aber befand sich stets zu unterst. Er hatte sich vollkommen in dieses niedrige Verhältnis gefügt, beklagte sich nie darüber und hoffte auch sicherlich nicht, ihm je zu entkommen.

»Wie befindet Ihr Euch heute morgen?« fragte Mr. Carker eines Tages, als er bald nach Mr. Dombeys Ankunft mit einer Handvoll Papiere in dessen Zimmer trat.

»Wie geht’s Euch, Carker?« versetzte Mr. Dombey, sich von seinem Stuhl erhebend und den Rücken gegen das Feuer kehrend. »Habt Ihr da etwas für mich?«

»Ich weiß nicht, ob ich Euch behelligen muß«, entgegnete Carker, indem er in den Papieren blätterte. »Ihr wißt, heute um drei Uhr sollt Ihr einem Komitee beiwohnen.«

»Und einem anderen um dreiviertel auf vier«, fügte Mr. Dombey bei.

»Ja, ehe Ihr etwas vergeßt!« rief Carker noch immer in seinen Papieren blätternd. »Wenn Mr. Paul Euer Gedächtnis erbt, so wird er in diesem Hause ein lästiger Patron werden. Ein einziger ist schon genug.«

»Ihr habt ja selbst ein so gutes Gedächtnis«, sagte Mr. Dombey.

»O, ich?« erwiderte der Geschäftsführer. »Nun, es ist das einzige Kapital eines Mannes von meiner Stellung.«

Mr. Dombey sah nicht weniger pomphaft oder überhaupt mißvergnügt aus, als er so dastand, den Rücken gegen den Kaminsims gelehnt und seinen nichts ahnenden Buchhalter vom Kopf bis zu den Füßen musternd. Das Steife, die Nettigkeit in Mr. Carkers Anzug und eine gewisse Anmaßung in seinem Wesen, mochten diese nun natürlich oder einem nicht fernliegenden Vorbilde nachgeahmt sein, verliehen seiner Demut einen gewissen Nachdruck. Er sah wie ein Mann aus, der, wenn er könnte, gern ankämpfen möchte gegen die Gewalt, die ihn besiegte, sich aber dennoch durch die Größe und Überlegenheit Mr. Dombeys völlig niedergedrückt fühlte.

»Ist Morfin da?« fragte Mr. Dombey nach einer kurzen Pause, während der Mr. Carker mit seinen Papieren gerasselt und einiges aus deren Inhalt vor sich hin gemurmelt hatte.

»Jawohl«, antwortete er, mit einem sehr breiten plötzlichen Lächeln aufblickend; »er summt musikalische Reminiszenzen – wahrscheinlich von der Quartett-Partie des gestrigen Abends – durch die uns trennenden Wände und macht mich dadurch halb toll. Ich wünschte, er brauchte sein Violoncello zu einem Freudenfeuer und verbrennte seine Notenhefte darin.«

»Ich glaube, Ihr habt vor niemand Achtung, Carker«, sagte Mr. Dombey.

»Meint Ihr?« entgegnete Carker mit einem abermaligen breiten, katzenartigen Zeigen seiner Zähne. »Nun ja – ich glaube selbst auch, vor nicht vielen. Ich möchte vielleicht« – fügte er murmelnd hinzu, als spreche er nur in Gedanken für sich hin – »nicht für mehr als für Einen einstehen.«

Eine gefährliche Eigenschaft, wenn sie wirklich, und nicht minder gefährlich, wenn sie geheuchelt war. Aber Mr. Dombey, wie er so dastand, in voller Höhe aufgerichtet, den Nacken gegen das Feuer gekehrt und den Geschäftsführer mit einer würdevollen Fassung musternd, aus der mehr als gewöhnlich das verborgene Bewußtsein der Macht hervorzulauern schien – kam wohl kaum auf diesen Gedanken.

»Da wir eben von Morfin sprechen«, nahm Mr. Carker wieder auf, indem er aus den übrigen eines der Papiere sonderte – »er meldet, daß ein jüngerer Angestellter zu Barbados gestorben sei, und bittet darum, daß man in dem Sohn und Erben, der nach einem Monat ungefähr aussegeln wird, einen Platz als dessen sternchenland.com Nachfolger freihalten möchte. Ich kann mir denken, daß es Euch gleichgültig ist, wer geht. Hier haben wir niemand der Art.«

Mr. Dombey schüttelte mit supremer Gleichgültigkeit den Kopf.

»Es ist kein sehr schätzenswerter Posten«, bemerkte Mr. Carker, indem er eine Feder nahm, um auf der Hinterseite des Papiers eine Bemerkung aufzuzeichnen. »Ich hoffe, er wird sie einem verwaisten Neffen eines seiner musikalischen Freunde übertragen. Diesem kann auf solche Weise vielleicht das Fiedeln gelegt werden, wenn er etwa eine derartige Gabe besitzt. Wer ist da? Herein!«

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Carker. Ich wußte nicht, daß Ihr hier seid, Sir«, entgegnete Walter, der mit einigen unerbrochenen, neuangelangten Briefen hereinkam. »Mr. Carker junior, Sir – Sir –«

Bei Erwähnung dieses Namens durchzuckte es – wenigstens hatte es so den Anschein – Mr. Carker, den Geschäftsführer, bis ins Mark vor Scham und Demütigung. Er heftete seine Augen mit einem ganz veränderten abbittenden Blick auf Mr. Dombey, schlug sie sodann zu Boden und blieb für eine Weile stumm.

»Ich glaubte, Sir«, sagte er plötzlich in ärgerlicher Aufwallung zu Walter, »man habe Euch schon früher ersucht, Mr. Carker junior nicht in Eure Konversation zu mischen.«

»Ich bitte um Verzeihung«, entgegnete Walter. »Meine Absicht war bloß zu sagen, Mr. Carker junior habe mir mitgeteilt, er glaube, Ihr wäret ausgegangen, sonst würde ich mir nicht die Freiheit genommen haben, an die Tür zu klopfen, während Ihr mit Mr. Dombey etwas zu verhandeln hattet. Hier sind Briefe für Mr. Dombey.«

»Gut, Sir«, erwiderte Mr. Carker, der Geschäftsführer, indem er sie hastig seiner Hand entriß. »Geht wieder an Euer Geschäft.«

Als übrigens dem Überbringer die Briefschaften mit so wenig Umständen abgenommen wurden, entfiel ein Stück davon Carkers Hand, ohne daß es dieser bemerkte, und auch Mr. Dombey wurde des Papiers nicht gewahr, obschon es unmittelbar vor seine Füße hingeflogen war. Walter zögerte einen Augenblick, weil er glaubte, einer oder der andere werde darauf achthaben; da jedoch dies nicht geschah, machte er halt, kam zurück, hob den Brief auf und legte ihn auf Mr. Dombeys Pult. Die Briefe waren mit der Post eingelaufen, und zufälligerweise enthielt der letztere Mrs. Pipchins regelmäßigen Bericht, der, weil die gedachte Dame sich nicht gern mit der Feder abgab, wie gewöhnlich von Florence überschrieben war. Mr. Dombey, dessen Aufmerksamkeit in dieser stummen Weise von Walter auf die Handschrift seiner Tochter gelenkt worden war, wurde betroffen und warf dem jungen Menschen einen finstern Blick zu, als glaubte er, derselbe habe ihn absichtlich von den übrigen ausgelesen.

»Ihr könnt das Zimmer verlassen, Sir«, sagte Mr. Dombey stolz und zerknitterte den Brief in seiner Hand; sobald Walter das Zimmer verlassen hatte, steckte er ihn in die Tasche, ohne das Siegel zu erbrechen.

»Ihr sagtet«, bemerkte Mr. Dombey hastig, »man brauche jemand nach Westindien?«

»Ja«, versetzte Mr. Carker.

»So schickt den jungen Gay.«

»Gut – in der Tat sehr gut. Nichts leichter«, sagte Mr. Carker, ohne eine Spur von Überraschung zu zeigen. Er nahm die Feder abermals auf, um mit derselben Gelassenheit wie früher auf der Hinterseite des Schreibens die Bemerkung aufzuzeichnen: ›Der junge Gay soll geschickt werden‹.

»Ruft ihn zurück«, sagte Mr. Dombey.

Mr. Carker zögerte nicht, und Walter war ebenso schnell wieder im Zimmer.

»Gay«, sagte Mr. Dombey, indem er sich ein wenig drehte, um über die Achsel nach ihm hinzusehen. »Es gibt hier einen –«

»Guten Anfang«, fügte Mr. Carker bei, während sich sein Mund so weit wie möglich verzog.

»In Westindien. Zu Barbados. Ich habe im Sinne, Euch hinzuschicken«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er es verschmähte, die kahle Wahrheit zu bemänteln, »damit Ihr die Stelle eines jüngeren Angestellten in dem Kontor zu Barbados ersetzet. Bemerkt Eurem Onkel, ich lasse ihm sagen, daß ich Euch dazu ausersehen habe, nach Westindien zu gehen.«

Das Erstaunen benahm Walter so vollständig den Atem, daß er kaum die Worte hervorzubringen vermochte: »Nach Westindien!«

»Irgend jemand muß gehen«, sagte Mr. Dombey. »Ihr seid jung und gesund – Euer Onkel aber befindet sich in keinen guten Umständen. Bedeutet Eurem Onkel, daß ich Euch für den Posten ausersehen habe. Jetzt braucht Ihr noch nicht zu gehen – es dauert möglicherweise noch einen Monat, vielleicht noch zwei.«

»Soll ich dort bleiben, Sir?« fragte Walter.

»Ob Ihr dort bleiben sollt, Sir?« wiederholte Dombey, sich ein wenig mehr zu ihm hinwendend. »Was wollt Ihr damit sagen? Was meint er damit, Carker?«

»Dort leben, Sir«, stotterte Walter.

»Allerdings«, erwiderte Mr. Dombey.

Walter verbeugte sich.

»Genug jetzt«, sagte Mr. Dombey, seine Briefe nehmend. »Ihr werdet ihn natürlich zur Zeit über die gewöhnliche Ausstattung usw. belehren, Carker. Er braucht nicht zu warten, Carker.«

»Ihr braucht nicht zu warten, Gay«, bemerkte Mr. Carker, die Zähne bis zum Zahnfleisch weisend.

»Es sei denn«, versetzte Mr. Dombey, der in seinem Lesen innehielt, ohne übrigens von dem Brief aufzuschauen, gleichsam als wollte er hören – »es sei denn, daß er etwas zu sagen hätte.«

»Nein, Sir«, erwiderte Walter in großer Verwirrung, Aufgeregtheit und halber Betäubung, da sich eine endlose Abwechslung von Bildern seinem Geiste vergegenwärtigte. Unter diesen befanden sich namentlich Kapitän Cuttle mit seinem Glanzhut, wie er vor sternchenland.com Überraschung fast versteinert in Mrs. Mac Stingers Wohnung die Kunde vernahm, und sein Onkel, wie er in dem kleinen Hinterstübchen den Verlust seines Neffen beklagte. »Ich weiß kaum – ich – ich bin Euch sehr verbunden, Sir.«

»Er braucht nicht zu warten, Carker«, sagte Mr. Dombey.

Da nun Mr. Carker die Worte abermals wiederholte und seine Papiere sammelte, als wolle er gleichfalls gehen, so fühlte Walter, daß sein längeres Zögern als eine unverzeihliche Aufdringlichkeit erscheinen mußte, namentlich da er nichts zu sagen wußte. Er verließ daher in großer Verwirrung das Zimmer.

Mit dem gemischten Bewußtsein und der Hilflosigkeit eines Traums den Flur entlang gehend, hörte er Mr. Dombeys Tür abermals zugehen, und unmittelbar darauf lief ihm Mr. Carker, der herausgekommen war, zu:

»Seid so gut, Sir, Euern Freund Mr. Carker junior in mein Zimmer zu bringen.«

Walter begab sich nun nach dem äußeren Bureau und richtete Mr. Carker junior seinen Auftrag aus. Dieser kam sofort hinter der Scheidewand, neben der er allein in einer Ecke saß, hervor und begab sich mit dem jungen Gay nach dem Zimmer Mr. Carkers, des Geschäftsführer«.

Der letztgenannte Gentleman stand, die Hände unter den Schößen seines Fracks, mit dem Nacken gegen das Feuer gekehrt, und sah über seiner weißen Krawatte so unverheißungsvoll weg, wie es kaum jemand anders als Mr. Dombey möglich war. Er empfing die Eintretenden, ohne seine Stellung zu wechseln oder den rauhen düstern Ausdruck irgendwie zu mildern, indem er Walter nur durch einen Wink bedeutete, die Tür zu schließen.

»John Carker«, begann der Geschäftsführer, der sich, nachdem sein Geheiß erfüllt war, mit seinen zwei Reihen Zähnen plötzlich so wild gegen seinen Bruder wandte, als hätte er ihn beißen mögen, »was ist dies für ein Komplott zwischen Euch und diesem jungen Manne, kraft dessen ich durch die Erwähnung Eures Namens gehetzt und geplagt werden muß? Ist es nicht genug für Euch, John Carker, daß ich Euer naher Verwandter bin und mich nicht entschlagen kann dieses –«

»Sage immerhin ›dieses Schimpfes‹, James«, entgegnete der andere in gedämpfter Stimme, als er fand, daß der Geschäftsführer um ein Wort verlegen war. »Es liegt dir auf der Zunge, und du hast ein Recht, diesen Ausdruck zu gebrauchen.«

»Ja, dieses Schimpfes«, pflichtete sein Bruder mit scharfem Nachdruck bei. »Aber muß diese Tatsache austrompetet und ohne Unterlaß vor dem ganzen Hause ausgeschrien werden? Und noch dazu in Augenblicken des Vertrauens! Glaubt Ihr, Euer Name sei darauf berechnet, an diesem Platze mit Verantwortlichkeit und Vertrauen im Einklang zu stehen, John Carker?« »Nein«, erwiderte der andere, »nein, James. Gott weiß, ich habe keinen solchen Gedanken.«

»Und was denkt Ihr sonst?« entgegnete der Bruder. »Warum drängt Ihr Euch mir in den Weg? Habt Ihr mir nicht bereits genug Schaden zugefügt?«

»Mit Willen ist dies nie geschehen, James.«

»Ihr seid mein Bruder«, sagte der Geschäftsführer. »Dieser Umstand allein steht mir überall im Wege.«

»Ich wollte, ich könnte es ungeschehen machen, James.«

»Auch mir wäre es lieb, wenn Ihr’s könntet und wolltet.«

Während dieses Gesprächs hatte Walter mit den Gefühlen schmerzlichen Erstaunens abwechselnd die beiden Brüder angesehen. Der eine, den Jahren nach der ältere, aber in dem Hause der Junior, stand mit zu Boden geschlagenen Augen und gesenktem Kopfe da, um in aller Demut die Vorwürfe des anderen anzuhören. Sie wurden sowohl durch den Ton, als durch den Blick, womit sie über ihn hereinbrachen, sehr bitter; da aber Walter, den sie in gleicher Weise überraschten und erschütterten, zugegen war, so ließ sich der Gekränkte auf nichts anderes ein, als daß er in bittender Weise die rechte Hand erhob, als wollte er sagen: »Schone mich!« So hätte sich vielleicht ein tapferer Soldat, gebunden und durch körperliche Leiden erschöpft, unter den Händen eines prügelnden Profosen benommen.

Edel und rasch in allen seinen Erregungen ergriff nun Walter, der sich selbst für die unschuldige Ursache dieser Beschimpfungen hielt, mit dem ganzen Ernste seiner Gefühle das Wort.

»Mr. Carker«, sagte er, sich an den Geschäftsführer wendend, »in der Tat, die Schuld liegt ganz allein an mir. In einer Unbedachtsamkeit, die ich mir selbst nicht genug vorwerfen kann, habe ich ohne Zweifel den Namen des Mr. Carker junior weit öfter erwähnt, als nötig war, und ihn bisweilen über meine Lippen gleiten lassen, obschon ich mich dadurch gegen Euren ausgesprochenen Wunsch verfehlte. Der Irrtum liegt übrigens nur auf meiner Seite, Sir – wir haben überhaupt nie über den Gegenstand gesprochen – ja, im ganzen nur noch sehr wenige Worte miteinander gewechselt. Ich muß zwar sagen,« fügte Walter nach einer kurzen Pause hinzu, »ganz aus Unachtsamkeit geschah es nicht, Sir, denn seit meinem Hiersein fühlte ich stets ein Interesse für Mr. Carker, und da ich so viel an ihn dachte, war es kaum anders möglich, als daß ich auch zuweilen von ihm sprach.«

Walter sprach dies aus voller Seele und mit der innigsten Ehrlichkeit. Er sah auf das gebeugte Haupt, die niedergeschlagenen Blicke, die erhobene Hand und dachte: ›Ich habe es gefühlt, und warum sollte ich es nicht zugestehen um dieses freundlosen, unglücklichen Mannes willen‹!

»Um die Wahrheit zu sagen. Ihr habt mich sogar gemieden, Mr. Carker«, sagte Walter, dem in der Wärme seines Mitleids Tränen in die Augen traten. »Ich bemerkte es wohl, und es tat mir schmerzlich leid. Von meinem Eintritt im Hause an und stets habe ich mir Mühe gegeben. Euch ein Freund zu sein, wie dies ein sternchenland.com Mensch in meinem Alter sich herausnehmen durfte; aber alle meine Versuche sind vergeblich gewesen.«

»Und merkt Euch wohl«, entgegnete nun der Geschäftsführer, ihm rasch ins Wort fallend, »es wird noch unnützer sein, Gay, wenn Ihr darauf besteht, Mr. John Carkers Namen der Aufmerksamkeit der Leute aufzudringen. Dies ist nicht die Art, sich mit Mr. John Carker zu befreunden. Fragt ihn selbst, ob er nicht auch dieser Ansicht ist.«

»Ein Dienst erwächst mir nicht daraus«, sagte der Bruder, »sondern es führt im Gegenteil zu Erörterungen, wie die gegenwärtige, und ich brauche nicht zu sagen, daß ich sie recht gern hätte missen mögen. Man kann mir keinen besseren Freundschaftsdienst leisten«, fügte er mit großer Bestimmtheit hinzu, als wolle er seine Worte Walter besonders ans Herz legen, »als wenn man mich vergißt und mich ohne Beachtung oder Frage meiner Wege gehen läßt.«

»Da Ihr für das, was Euch andere zu verstehen geben, ein so kurzes Gedächtnis habt, Gay«, sagte Mr. Carker der Geschäftsführer, der in einer sich steigernden Selbstzufriedenheit wärmer wurde, »so hielt ich es für gut, daß Euch das, um was es sich handelt, von der besten Autorität bedeutet werde« – er nickte dabei nach seinem Bruder hin. »Hoffentlich werdet Ihr’s jetzt nicht mehr vergessen. Damit gut, Gay. Ihr könnt gehen.«

Walter trat ab und war eben im Begriff, die Tür hinter sich zu schließen, als er aufs neue die Stimmen der Brüder vernahm und dabei auch seinen Namen nennen hörte; er blieb daher, die Hand auf der Klinke und bei halb offener Tür unschlüssig stehen, nicht wissend, ob er umkehren oder sich entfernen sollte. In dieser Stellung konnte ihm das, was nun folgte, nicht wohl entgehen.

»Denke milder von mir, wenn du kannst, James«, sagte John Carker, »wenn ich dir sage, daß mein ganzes Herz wieder aufwachte – wie konnte es auch anders sein bei der Geschichte, die hier geschrieben steht« – er schlug sich dabei auf die Brust – »als mir dieser junge Mensch, der Walter Gay, in den Weg kam. Ich betrachtete ihn, als er zum erstenmal hierher kam, fast wie mein anderes Ich.«

»Dein anderes Ich!« wiederholte der Geschäftsführer im Tone der Verachtung.

»Nicht wie ich bin, sondern wie ich war beim Eintritt in dies Haus – so hoffnungsvoll, so schwindelig und in so frischer unerfahrener Jugend – glühend von denselben rastlosen abenteuerlichen Vorstellungen, voll von denselben Eigenschaften und reich an der gleichen Befähigung, zum Guten oder Schlimmen vorwärts zu schreiten.«

»Will nicht hoffen«, sagte sein Bruder mit einem geheimen sarkastischen Sinn in seiner Betonung.

»Du triffst mich schwer. Deine Hand ist fest, und dein Stoß geht tief«, entgegnete der andere mit einer Stimme – wenigstens kam es Walter so vor – als habe ihn bei diesen Worten irgendeine sternchenland.com grausame Waffe durchbohrt. »Ich vergegenwärtigte mir all dieses, als er noch ein Knabe war. Ich glaubte es. Für mich war es eine Wahrheit. Ich sah ihn leichten Fußes hineilen an dem Rande eines unbemerkten Abgrundes, an dem so viele andere mit gleicher Heiterkeit hingleiten und von dem –«

»Die alte Entschuldigung«, unterbrach ihn sein Bruder, in dem Feuer schürend. »So viele. Nur weiter. Sage: so viele stürzten.«

»Von dem ein Wanderer hinabstürzte«, erwiderte der andere, »der, gleich ihm ein Knabe, seine Bahn angetreten hatte, aber immer mehr das sichere Fußen verlor, allmählich weiter und weiter glitt und endlich abwärts rollte, bis kein Halt mehr war und er unten anlangte als ein Zerschmetterter. Denke dir, was ich litt, wenn ich diesen Knaben betrachtete.«

»Du hast alles nur dir selbst zu danken«, versetzte der Bruder.

»Nur mir selbst«, pflichtete er mit einem Seufzer bei. »Ich suche die Schuld ebenso wenig zu teilen, als die Schmach.«

»Die Schande hast du gleichwohl auf andere übertragen«, murmelte James Carter durch seine Zähne, und zwar durch so viele und festgeschlossene Zähne, als bei dem Murmeln nur möglich war.

»Ach, James«, erwiderte sein Bruder, zum ersten Male im Tone des Vorwurfs sprechend, und dem Tone der Stimme nach hatte es den Anschein, als habe er sein Gesicht mit den Händen bedeckt, »seitdem bin ich für dich ein nützliches Stichblatt gewesen. Bei deinem Hinanklettern hast du mich ohne Umstände niedergetreten – tritt mich nicht noch obendrein mit deiner Ferse.«

Es folgte eine Pause. Nach einer Weile hörte man Mr. Carker, den Geschäftsführer, mit seinen Papieren knistern, als sei er willens, die Unterhaltung zum Schlusse zu bringen. Zu gleicher Zeit näherte sich sein Bruder der Tür.

»Weiter ist nichts an der Sache«, sagte er. »Ich beobachtete ihn mit so viel Furcht und Zittern, daß es mir eigentlich zur Strafe wurde, bis er die Stelle überschritten hatte, wo ich das erstemal zu Fall kam; und dann – ich glaube, wenn ich sein Vater gewesen wäre, hätte ich Gott nicht inbrünstiger danken können. Ich wagte es nicht, ihn zu warnen und ihm zu raten; aber wenn ich irgendeine unmittelbare Ursache wahrgenommen hätte, so würde ich ihm mein Beispiel vor Augen geführt haben. Ich scheute mich, auch nur im Gespräch mit ihm gesehen zu werden, damit man nicht glauben möge, ich verlockte ihn zu etwas Schlimmem oder verderbe ihn – ja, ich vermied jede Annäherung, damit dies nicht etwa wirklich geschehe. Ich weiß nicht, aber es kann ein solcher Ansteckungsstoff in mir liegen. Vergleiche meine Geschichte mit der des jungen Walter Gay, vergegenwärtige dir, welche Gefühle er mir einflößen mußte – und denke milder von mir, James, wenn du kannst.«

Mit diesen Worten trat er in den Flur hinaus, wo Walter stand. Er wurde blaß, als er ihn dort sah, und erblaßte noch mehr, als ihn Walter bei der Hand faßte und in Flüsterlauten zu ihm sagte:

»Mr. Carker, ich bitte, erlaubt mir. Euch zu danken, und laßt sternchenland.com mich Euch sagen, wie sehr ich für Euch fühle, wie leid es mir tut, daß ich von alledem die unglückliche Ursache war! Ich betrachte Euch jetzt fast als meinen Beschützer und Hüter! Wie sehr, wie sehr fühle ich mich Euch verpflichtet und wie innig bemitleide ich Euch!« sagte Walter, ihm beide Hände drückend und in seiner Aufregung kaum wissend, was er tat oder sprach.

Mr. Morfins Zimmer befand sich in der Nähe und war leer. Da die Tür weit offen stand, so begaben sie sich wie aus gemeinschaftlichem Antrieb dahin, weil der Flur selten von Vorübergehenden frei war. Dort angelangt, bemerkte Walter in Mr. Carkers Gesicht einige Spuren von innerer Erregung und eine so große Veränderung desselben, daß er fast meinte, er habe dieses Antlitz nie zuvor gesehen.

»Walter«, sagte er, seine Hand auf die Schulter des Jünglings legend, »zwischen uns ist ein weiter Abstand, und möge dieser immer stattfinden. Wißt Ihr, was ich bin?«

»Was Ihr seid?« schien auf Walters Lippen zu schweben, als er den Sprecher aufmerksam betrachtete.

»Es nahm seinen Anfang vor meinem 21. Geburtstag«, sagte Carker – »in Gedanken viel früher vorbereitet, aber erst angefangen um diese Zeit. Ich bestahl sie, als ich volljährig wurde. Ich bestahl sie nachher. Noch vor meinem 22jährigen Geburtstag war alles entdeckt, und damals, Walter, starb ich für die menschliche Gesellschaft.«

Wieder schwebten die letzten Worte zitternd auf Walters Lippen, aber er konnte weder ihnen noch seinen eigenen Gedanken Laute verleihen.

»Das Haus war sehr wohlwollend gegen mich. Möge der Himmel den alten Mann für seine Nachsicht belohnen! Auch dieser eine, sein Sohn – damals noch ein Neuling in der Firma, die mir großes Vertrauen geschenkt hatte! Ich wurde in das Zimmer berufen, das jetzt seins ist – seitdem habe ich’s nie wieder betreten – und kam heraus als der Mensch, den Ihr jetzt in mir kennt. Viele Jahre saß ich an meinem gegenwärtigen Platze, allein wie jetzt, aber damals ein bekanntes und entlarvtes Beispiel für die übrigen. Sie hatten alle Erbarmen mit mir, und ich lebte. Die Zeit hat diesen Teil meiner jammervollen Sühne getilgt, und ich glaube, außer den drei Häuptern des Hauses ist niemand hier, der von meiner Geschichte genau unterrichtet wäre. Ehe der kleine Knabe heranwächst und ihm Mitteilung davon gemacht wird, ist vielleicht meine Ecke erledigt. Gebe Gott, daß es so sei. Dies ist der einzige Wechsel, den ich mir wünschen kann seit jener Zeit, als ich meine Jugend, die Hoffnung und die Gesellschaft aller guten Menschen in jenem Zimmer hinter mir zurückließ. Gott behüte Euch, Walter! Bleibt ehrlich und haltet alle, die Euch lieb sind, zur Redlichkeit an, oder schlagt sie lieber tot!«

Eine schwache Erinnerung, als habe der Redende vom Kopf bis zu den Füßen gezittert, wie bei überwältigendem Frost, und als sei er in Tränen ausgebrochen – dies war alles, dessen Walter sich noch erinnern konnte, wenn er es versuchte, das, was zwischen ihnen vorgefallen war, sich wieder genau ins Gedächtnis zu rufen.

Als ihn Walter wiedersah, hatte er sich in seiner früheren stummen, demütigen Weise über sein Pult gebeugt. Er entnahm daraus, daß der arme Mann fest entschlossen war, allen weiteren Verkehr mit ihm zu vermeiden, und wie er zu wiederholten Malen alles bei sich erwog, was er am Morgen in so kurzer Zeit von der Geschichte der beiden Carker gesehen und gehört hatte, konnte er kaum glauben, daß er für Westindien bestimmt sei und so bald für Onkel Sol und Kapitän Cuttle verloren sein werde. Er dachte dabei auch an Florence Dombey – nein, nicht an Florence, sondern an Paul, wie er sich einreden wollte, und an alle, die er liebte und die ihm im täglichen Leben nahestanden.

Dennoch hatte es seine Richtigkeit, und die Kunde war bereits bis ins äußere Bureau gedrungen; denn während er mit schwerem Herzen dasaß, seinen Betrachtungen nachhing und dabei den Kopf auf den Arm stützte, kam der Ausläufer Perch von seinem Mahagonidreifuß heruntergestiegen, berührte seinen Ellenbogen und bat um Entschuldigung, daß er ihm etwas ins Ohr zu sagen wünsche: ob er nämlich nicht glaube, er könne es einleiten, einen Krug eingemachten Ingwers wohlfeil nach England zu schicken – für Mrs. Perch, damit sie sich nach ihrem nächsten Wochenbett daran erlaben möge.

Einleitung.


Einleitung.

Den Roman »Dombey und Sohn« schuf Dickens in den Jahren 1846 bis 1848, also nach den »Weihnachtserzählungen« und vor »David Copperfield«. Der damals etwa Fünfunddreißigjährige, auf der Höhe seines Schaffens stehend, beschäftigt sich auch hier wieder, wie schon in seinen früheren Arbeiten, mit den »moralischen Problemen« des Lebens, wenn man sich so ausdrücken darf. Die Probleme laufen alle auf die eine Hauptfrage hinaus: Wie ist das Leben recht zu gestalten, so daß wir nicht im Unmaß verhärten? Das rechte Maßhalten bedingt den schönen, wahren und guten Menschen. Aber alles Unmaß ist Sünde und führt ins Verderben. Unmaß im Besitz führt zur Habgier und zum Geiz und zu der Vereinsamung, wie sie Scrooge im »Weihnachtsabend« an sich erfahren hat. Unmaß im Selbstbewußtsein aber leiten zu Hochmut und Stolz und zu jener selbstgewählten grausam marternden Einsamkeit, unter deren Auswirkungen die Kinder des reichen Kaufherrn Dombey so schwer leiden.

Das ganze Werk ist eine großartige psychologische Darstellung der Geschichte eines solchen stolzen, eisernen Herzens, das sich mit Hochmut umpanzert, bis die Katastrophe hereinbricht: Wehe dem Wesen, das nicht zu lieben gelernt hat! Es mag die ganze Welt gewinnen, sie bleibt äußerer Glanz und erwärmt nicht sein Inneres. Es mag zuzeiten stolz und unnahbar dastehen und glauben, die liebende Demut sei Torheit und überflüssig. Aber es wird erfahren, daß zuletzt aller Hochmut aushöhlt, die Seele leer läßt und sie in der Einöde der Heimatlosigkeit frieren läßt, bis sie zu spät ihre Armseligkeit erkennt.

Für all das bietet der stolze Dombey das erschütternde Beispiel. Sein Ehrgeiz läßt ihn überall auf falsche Karten setzen. So verliert er den sorgfältig geschützten und gehegten Sohn Paul, den er nicht um des Kindes selbst willen, sondern um der Firma, des Geschäfts, des äußeren Ansehens willen liebt. So jagt er, den Verlust seiner ersten, wirklich guten Frau gar nicht empfindend, einer blendend schönen Erscheinung nach, der unglückseligen Edith, deren Mutter eine ränkevolle elegante Kupplerin ist. Durch die Verbindung mit dieser äußeren Schönheit, die er nicht liebt, sondern sich durch reiche Ausstattung erkauft, glaubt er sein Ansehen in der Welt erhöhen zu können. Aber Edith betrügt ihn mit seinem Geschäftsführer, und der äußerlich vornehme, dünkelhafte Dombey wird seelisch in den völligen Bankerott gestürzt, den er sich selbst verdient hat. Das Schicksal, das er erlebt, ist zugleich strenge Gerechtigkeit.

Aber wundervoll ist es nun zu beobachten, wie Dickens es versteht, neben dieser Welt der Kälte, der Berechnung, der lieblosen sternchenland.com Hoffahrt eine Welt der Liebe, Hilfsbereitschaft und Güte aufblühen zu lassen. Neben der Gerechtigkeit waltet nun die Gnade und das erlösende Erbarmen, das die Eisesstarre des stolzen Herzens der Dombey-Welt schmilzt und einen Lebensfrühling schließlich heraufzaubert im Sinne von: Ende gut, alles gut! Ohne diese Losung, ohne diesen Glauben an die schließliche Siegeskraft des Guten in der Welt, hat Dickens, wie wir es schon aus den früheren Bänden dieser Ausgabe wissen, überhaupt keinen Roman schreiben und zum Abschluß bringen können. Diese Welt der Liebe blüht auf in den von Dombey verachteten Gestalten, die ihn später retten: in einer lieblichen Tochter, Florence, in der der Dichter ein Idealbild reiner Mädchenhaftigkeit und Weiblichkeit gezeichnet hat, in den originellen Käuzen, wie dem alten Instrumentenmacher Gills und dem wackeren Kapitän Cuttle, einem braven Seebären von rührend-komischer Unbeholfenheit, aber dem treuesten Herzen, das es auf der Welt geben kann. Dickens zeigt hier, wie echtes Gold sich oft unter unscheinbar rauher Außenhülle verbirgt. Endlich in dem prächtigen Walter, dem frischen Jungen, der sich in schweren Sturmesnöten zum gutgearteten Jüngling entwickelt. In den liebenden Mächten, die diese Gestalten verkörpern, läßt der Dichter den Titelhelden seines Romans die Rettung aus dem Zusammenbruch finden.

Außer den immer bleibenden menschlichen Wahrheiten, die sich in diesem Werke herausheben, bietet das Buch ein schon kulturhistorisch interessantes Spiegelbild der damaligen englischen Gesellschaft. Wir sind geneigt, über manche altmodische Umständlichkeiten jener empfindsameren Zeit, als die unsere ist, zu lächeln. Aber wer weiß: werden nicht auch unsere Enkel wieder lächeln über manche Torheiten unserer heutigen Gesellschaft, über Torheiten, die wir heute noch gar nicht als solche empfinden? Man muß Dickens mit Zeit und Behagen lesen, wie wir schon in der Einleitung zu den »Pickwickiern« ausführten. Dann wird man gerade aus dem zeitlichen Kolorit manchen erkenntniswerten Schatz auch für unsere moderne Zeit mitnehmen.

Die Durcharbeitung dieses Werkes fiel für den Herausgeber in eine Zeit, da er selbst durch Amtsgeschäfte und berufliche Tätigkeit sehr in Anspruch genommen war. Um so dankbarer ist er daher seiner bisherigen treuen Helferin an diesem Unternehmen, Frau Clara Weinberg, für die geleistete Unterstützung.

Den 26. Januar 1928.

P. Th. H. sternchenland.com sternchenland.com sternchenland.com

Das erste Viertel


Das erste Viertel

Die Silvesterglocken

Ein Märchen von Glocken, die ein altes Jahr aus- und ein neues Jahr einläuten

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Das erste Viertel

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Es gibt nicht viele Menschen – und da es wünschenswert ist, daß ein Erzähler und sein Leser einander so rasch als möglich vollkommen verstehen, so bitte ich, darauf zu achten, daß ich meine Bemerkung nicht auf junge oder kleine Leute beschränke, sondern sie auf alle ausdehne, mögen sie nun klein oder groß, jung oder alt, erst im Aufschießen oder bereits wieder im Verwelken begriffen sein – ich sage, es gibt nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schliefen. Ich meine damit nicht ein Einschlafen während der Predigt bei warmem Wetter, was wohl hin und wieder vorkommen mag, sondern ein regelrechtes Übernachten, und zwar mutterseelenallein. Ich weiß, sehr viele würden schon am hellichten Tag über ein derartiges Beginnen sich höchlich verwundern. Aber meine Behauptung bezieht sich auf die Nacht. Und diese soll auch den Beweis liefern. Ich verpflichte mich, in einer stürmischen Winternacht, die zu diesem Zweck gewählt werde, meiner Behauptung zu einem glorreichen Sieg zu verhelfen, wenn sich mir ein Gegner aus der Menge allein auf einem alten Friedhof vor ein altes Kirchtor stellt und mich vorher ermächtigt hat, falls es zu seiner Befriedigung notwendig wäre, ihn bis zum Morgen einzusperren.

Denn der Nachtwind besitzt eine unheimliche Geschicklichkeit, ein derartiges Gebäude stöhnend zu umkreisen, mit unsichtbarer Hand an Fenstern und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte aufzuspüren, durch die er sich hineinpfeifen kann. Ist er endlich drinnen, So winselt und heult er, um wieder hinauszukommen, wie jemand, der nicht gefunden hat, was er sucht; und dabei begnügt er sich nicht damit, durch die Schiffe zu schleichen, um die Pfeiler zu huschen, die tiefe Orgel zu probieren, sondern schwingt sich auf zur Decke und bemüht sich, das Sparrenwerk zu zerreißen, stürzt sich verzweifelt hinunter auf die Steinfliesen und dringt murrend in die Grüfte. Gleich darauf kommt er verstohlen wieder herauf, schleicht an den Wänden hin und scheint in Flüstertönen die Inschriften, die den Toten geweiht sind, zu lesen. Vor einigen derselben bricht er schrill aus, wie im Gelächter, während er vor andern ächzt und schluchzt wie in großem Schmerz. In der Nähe des Altars stimmt er einen gar gespenstigen Ton an und singt in seiner wilden Weise von Unrecht, Mord, falscher Gottesverehrung und Trotz gegen die Gesetzestafeln, die so oft gebrochen und mit Füßen getreten werden, obschon sie so schön und glatt aussehen. Hu! der Himmel bewahre uns, die wir so gemächlich um das Feuer sitzen! Er hat eine gar schreckliche Stimme – dieser Wind um Mitternacht, wenn er in einer Kirche singt!

Aber erst hoch oben im Turm! Dort brüllen und pfeifen die unheimlichen Windstöße! Hoch oben im Turm, wo sie frei aus- und einziehen können durch manche luftige Öffnung, sich um die schwindelnde Treppe winden, den stöhnenden Wetterhahn umherwirbeln und sogar das Gemäuer zittern und beben lassen! Hoch oben im Turm, wo der Glockenstuhl ist, wo die eisernen Geländer sich infolge des langjährigen Rostes Schuppen; wo die Blei- und Kupferplatten , runzelig vor Alter und Wetterstürzen, unter dem ungewohnten Tritt krachen und seufzen; wo Vögel ihre Kotnester in die Ecken des alten Eichengebälks stopfen, der Staub alt und grau wird, fleckige Spinnen, während ihrer ungestörten Ruhe fett und faul geworden, gemächlich sich von den schwingenden Glocken hin und her pendeln lassen und niemals die Verbindung mit ihren gesponnenen Luftschlößchen verlieren, oder wie Matrosen in rascher Unruhe hinanklettern, wenn sie sich nicht lieber auf den Boden niederlassen, um ein Dutzend hurtiger Füße zur Rettung eines einzigen Lebens in Tätigkeit zu setzen! Hoch oben im Turm einer alten Kirche, weit über dem Licht und Gemurmel der Stadt, dennoch aber weit unter den fliegenden Wolken, die sie beschatten, ist das wilde, traurige, nächtige Plätzchen, und hoch oben im Turm einer alten Kirche hausen die Glocken, von denen ich spreche.

Es waren, glaubt mir, alte Glocken. Schon vor Jahrhunderten wurden diese Glocken von Bischöfen getauft; vor so vielen Jahrhunderten bereits, daß ihr Taufregister seit unvordenklichen Reiten verloren ging und niemand mehr ihre Namen wußte. Sie hatten ihre Paten und Patinnen gehabt (nebenbei gesagt, ich für meinen Teil möchte lieber die Verantwortlichkeit übernehmen bei einer Glocke, als bei einem Knaben Gevatter zu stehen) und ohne Zweifel auch ihre silbernen Becher erhalten. Aber die Zeit hatte ihre Taufzeugen dahingerafft und Heinrich VIII. ihre Becher, die er einschmelzen ließ. Und so hängen sie denn jetzt namen- und herrenlos in dem Kirchturm.

Wortlos allerdings nicht. Im Gegenteil. Sie hatten klare, laute, lustige, volltönende Stimmen, diese Glocken; und auf dem Rücken des Windes fortgetragen, konnte man sie weithin hören. Sie waren aber viel zu kühne Glocken, als daß sie sich dem Belieben des Windes unterworfen hätten. Denn wenn er ihnen zu launenhaft war, kämpften sie tapfer gegen ihn an und ließen ihre fröhlichen Klänge stolz in ein lauschendes Ohr strömen; sie waren darauf erpicht, in stürmischen Nächten von einer armen Mutter, die bei einem kranken Kinde wachte, oder einer einsamen Frau, deren Gatte zur See war, gehört zu werden. Ja, man weiß sogar, daß sie hin und wieder einen pustenden Nordwest besiegten, ja ihn sogar »in Grund und Boden« schlugen, wie Toby Veck sagte; – denn obgleich man ihn Trotty Veck nannte, hieß er doch Toby, und niemand (außer ihm selbst) konnte ihn ohne ausdrückliche Parlamentsakte zu etwas anderm machen. Er war zu seiner Zeit so gesetzlich getauft worden, wie die Glocken zu der ihrigen, obschon nicht mit ganz so viel Feierlichkeit oder öffentlichem Jubel.

Ich bekenne mich für meinen Teil zu Toby Vecks Glauben; denn ich bin überzeugt, daß er hinreichend Gelegenheit hatte, sich eine richtige Ansicht zu bilden. was daher Toby Veck sagte, sage ich auch, und ich will auf Tobys Seite stehen, obgleich er den ganzen Tag (und das war eine mühsame Arbeit) vor der Kirchentür zu stehen pflegte. Er war nämlich Dienstmann und wartete dort auf Aufträge.

Freilich ein windiger, gänsehäutiger, blaunasiger, rotäugiger, steifzehiger und zähneklappernder Warteplatz zur Winterszeit, wie Toby Veck wohl wußte. Der Wind kam wütend um die Ecke gefahren – insbesondere der Ostwind – als wenn er sich direkt von den Grenzen der Erde aufgemacht hätte, nur um Toby anzuschnauben. Ja, oft schien er den armen Teufel sogar früher zu treffen, als er erwartet hatte; denn wenn er um die Ecke raste und an Toby vorbeifuhr, wirbelte er plötzlich wieder zurück, als wollte er sagen : »Ha, da ist er ja schon!« Unaufhaltsam flog dann Tobys kleine weiße Schürze wie das Röckchen eines unartigen Jungen über seinen Kopf, und man sah das schwache Stöcklein vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen, sah seine Beine in heftige Bewegung geraten, während Toby selbst in schräger Körperhaltung, das Gesicht bald da- bald dorthin wendend, so umhergetrieben und gestoßen wurde, wohl auch zeitweise den Boden unter den Füßen verlor, daß es fast als ein Wunder erschien, wenn er nicht gleich einer Kolonie von Fröschen, Schnecken oder andern tragbaren Geschöpfen in die Luft geführt und an irgendeinem fernen Weltende, wo Dienstmänner unbekannt sind, zum großen Erstaunen der Eingeborenen niedergeregnet wurde.

Windig Wetter war übrigens doch eine Art Festtag für Toby, obschon es ihm so roh zusetzte. Das ist Tatsache. Er schien in dem Wind nicht so lange auf ein Sechspencestück warten zu müssen wie zu andern Reiten. Der Kampf mit dem ungestümen Element lenkte feine Aufmerksamkeit ab und frischte ihn auf, wenn er hungrig oder kleinmütig war. Auch ein harter Frost oder ein Schneegestöber wurde für ihn zu einem Ereignis und schien ihm in der einen oder andern Weise gutzutun, obschon sich der eigentliche Grund nur schwer angeben ließ. Wie dem übrigens sein mochte, Wind, Frost, Schnee und vielleicht ein tüchtiger Hagel waren für Toby Veck die rotgedruckten Tage im Kalender.

Nasses Wetter war das Schlimmste – die kalte, unfreundliche Feuchtigkeit, die ihn wie ein nasser Mantel einhüllte – die einzige Art von Mantel, die Toby sein eigen nennen konnte, auf den er aber doch zur Erhöhung seiner Behaglichkeit gern verzichtet hätte. Die nassen Tage, wenn der Regen langsam, dicht und hartnäckig niederträufelte , wenn die Straßenschlünde wie sein eigner mit schwefeligem Nebel erfüllt waren, wenn dampfende Schirme hin und hergingen und wie ebenso viele Kreisel tanzten, sooft sie auf dem gedrängten Fußweg aneinander anstießen und eine wirbelnde Brause ungemütlicher Tröpfchen von sich schleuderten, wenn die Dachrinnen klatschten und es in den vollen Wassertraufen donnerte, wenn die Nässe von dem vorspringenden Gestein der Kirche -tropf, tropf, tropf- auf Toby niederplumpste und den Strohwisch, auf dem er stand, im Nu zu bloßem Schmutz wandelte – das waren für ihn Tage der Heimsuchung. Und dann konnte man Toby tatsächlich beobachten, wie er ängstlich und mit trostlosem, langem Gesicht aus seinem Schlupfwinkel in einer Ecke der Kirchenmauer hervorguckte. Dieser Zufluchtsort war ein so kärglicher Schutz, daß er zur Sommerszeit nie einen breitern Schatten auf das sonnige Pflaster warf, als ein dicker Spazierstock. Bald aber kam er wieder heraus, um sich durch Bewegung warm zu machen, trottete etliche Male hin und her, was seine Laune wieder aufheiterte, und kehrte dann ganz wohlgemut in seine Nische zurück.

Man nannte ihn Trotty wegen seines Ganges, der wenigstens Eile andeuten sollte. Er hätte vielleicht schneller gehen können; aber würde man ihn seines Trottes beraubt haben, So wäre er krank geworden und gestorben. Dieser Trott bespritzte ihm bei schlechtem Wetter den Rock mit Kot, vernichte ihm zahllose Unannehmlichkeiten und Beschwerden; Toby hätte ungleich müheloser marschieren können – aber das war gerade ein Grund mehr, diese schwierige Gangart krampfhaft beizubehalten. Obschon ein schwaches, schmächtiges altes Männlein, war Toby doch ein wahrer Herkules in seinen guten Absichten. Er hatte eine Freude daran, wenn er sein Geld verdienen konnte. Es gewährte ihm ein großes Vergnügen, zu glauben – Toby war sehr arm und konnte nicht gut auf ein Vergnügen verzichten – daß er seines Lohnes auch wert sei. Mit einem Auftrag, der ihm einen Schilling oder achtzehn Pence eintrug, oder mit einem kleinen Päckchen in der Hand, steigerte sich sein Mut, an dem es ihm nie gebrach, um ein beträchtliches. Wenn er so dahin trabte, pflegte er den schnelleren Briefträgern vor seiner Nase zuzurufen, sie sollten ihm aus dem Weg gehen, weil er nicht anders glaubte, als daß er im Lauf der Dinge sie unausbleiblich einholen und niederrennen müsse; auch lebte er der festen Überzeugung, die freilich nicht oft auf die Probe gestellt wurde, daß er alles zu tragen imstande sei, was ein Mensch zu heben vermöge.

Toby trabte daher auch, wenn er an einem nassen Tag aus seinem Winkel hervorkam, um sich zu wärmen. Er trabte, wenn er mit lecken Schuhen eine krumme Linie wieder zusammenlaufender Fußtapfen durch den Kot zog und, mit gebeugten Knien und sein Rohr unter dem Arm, seine frostigen Hände blies oder gegeneinander rieb, da sie nur ganz ungenügend gegen die schneidende Kälte durch fadenscheinige grauwollene Fäustlinge geschützt waren, an denen nur der Daumen ein eignes Appartement und die übrigen Finger eine gemeinschaftliche Herberge hatten. Desgleichen trabte er, wenn er auf die Straße hinausging, um bei dem Schall der Glocken an dem Turm hinaufzusehen.

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Diesen letztern Ausflug machte er mehrere Male des Tages; denn die Glocken waren gleichsam seine Gesellschaft, und wenn er ihre Stimme hörte, blickte er gern zu ihrem luftigen Wohnsitz hinauf, während er darüber nachdachte, wie sie bewegt wurden und was für Hämmer auf sie schlügen. Vielleicht hatten sie um so mehr Interesse für ihn, weil es zwischen ihnen und ihm selbst Ähnlichkeiten gab. Sie hingen da oben bei jedem Wetter, in Wind und Regen, sahen nur die Außenseite aller jener Häuser, kamen den lodernden Feuern, die durch die Fenster leuchteten oder zu den Schornsteinen herauspusteten, niemals nahe und waren nie imstande, an den guten Dingen teilzunehmen, die ohne Unterlaß durch die Haustüren und Vorhof-Geländer an verschwenderische Köchinnen abgegeben wurden. Viele Gesichter kamen an die Fenster und entfernten sich wieder – bisweilen hübsche Gesichter, jugendliche Gesichter, angenehme Gesichter, hin und wieder aber auch das Gegenteil; doch Toby wußte ebensowenig wie die Glocken (sooft er auch, wenn er müßig in den Straßen stand, Betrachtungen über diese Kleinigkeiten anstellte), woher sie kamen und wohin sie gingen, oder ob im ganzen Jahr nur ein einziges freundliches Wort über ihn gesprochen wurde, wenn sich die Lippen bewegten.

Toby war kein Kasuist – seines Wissens wenigstens nicht – und ich will nicht behaupten, daß er nach und nach sich durch solche Betrachtungen hindurchgerungen oder eine förmliche Heerschau über seine Gedanken abgehalten hatte, ehe er zu den Glocken eine Neigung faßte und seine erste oberflächliche vermittels zarter Fäden zu einem innigeren Bündnis wob. Was ich aber sagen will und auch sage, ist, daß in derselben Weise, wie Tobys körperliche Funktionen, Seine Verdauungsorgane zum Beispiel, vermöge ihrer eignen Schlauheit und ihres mannigfaltigen, ihm unbewußten Zusammenwirkens, dessen Kenntnis ihn nicht wenig in Erstaunen gesetzt haben würde, Zu einem gewissen Ziel gelangten, auch seine geistigen Fähigkeiten, ohne daß er dabei wissentlich tätig war, alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung setzten, als sie daran arbeiteten, in ihm eine Neigung zu den Glocken wachzurufen.

Und wenn ich gesagt hätte: seine Liebe, so würde ich auch dies Wort nicht zurücknehmen, obgleich es kaum ein passender Ausdruck für seine komplizierte Empfindung gewesen wäre. Denn da er ein ganz einfacher Mensch war, verlieh er ihnen einen wundersamen und feierlichen Charakter. Sie waren so geheimnisvoll, weil man sie oft hörte und nie sah, so hoch oben, so weit weg und so voll tiefer, kräftiger Melodie, daß er mit einer Art von Ehrfurcht zu ihnen aufblickte. Ja, wenn er die dunkeln, gewölbten Fenster im Turm betrachtete, erwartete er bisweilen, es werde ihm etwas zuwinken, das keine Glocke war und doch in jenen Klängen ihm so oft ans Ohr getönt hatte. Dennoch wies Toby mit Entrüstung ein gewisses leises Gerücht zurück, daß die Töne behext seien, weil dadurch die Möglichkeit zugegeben war, sie stünden mit irgend etwas Bösem im Bund. Mit einem Wort, sie tönten sehr oft in seinen Ohren, beschäftigten sehr oft seine Gedanken und standen stets hoch in seiner guten Meinung; oft, wenn er lange mit weit offenem Munde an dem Kirchturm hinaufgeschaut hatte, bekam er einen so steifen Nacken, daß er nachher, um ihn zu kurieren, ein oder zwei Extragetrabe einlegen mußte.

Mit dieser außertourlichen Übung war er an einem kalten Tage gerade beschäftigt, als der letzte schläfrige Ton der Zwölfuhrglocke wie ein melodisches, bienenartiges Ungeheuer, aber keineswegs ein fleißiges Bienchen, durch den ganzen Turm summte.

»Wie, Essenszeit?« sagte Toby, vor der Kirche auf und ab trottend. »Ah!«

Tobys Nase war sehr rot; und seine Augenlider waren sehr rot; und er zwinkerte mächtig; und seine Schultern waren dicht an den Ohren, und seine Beine waren sehr steif, und er war überhaupt auf dem frostigsten Punkt der kühlen Temperatur angelangt.

»So, Essenszeit!« wiederholte Toby, den Fäustling seiner rechten Hand wie einen jugendlichen Boxhandschuh gebrauchend und seine Brust züchtigend, weil sie sich unterstand, zu frieren. »Ah-h-h-h!«

Hierauf schlug er für ein paar Minuten einen stummen Trab an.

»Es gibt nichts..« sagte Toby, aufs neue lostrabend; aber mit einem Male machte er in seinem Trott halt und betastete mit einem Gesicht voll Interesse und auch etwas Unruhe seine Nase sorgfältig von unten bis oben. Er war bald damit fertig, denn der Weg war kurz, da er mit einer Nase nicht allzu reichlich gesegnet war.

»Ich glaubte schon, sie sei pfutsch,« fuhr Toby fort, indem er wieder weiter trabte. »Es stimmt aber alles. Ich könnte sie jedoch wirklich nicht tadeln, wenn sie sich auf und davon machte. Sie hat wohl einen herzlich schweren Dienst in dieser Hundekälte und herzlich wenig zu erwarten – denn ich schnupfe ja nicht. Selbst in den besten Zeiten wird das arme Ding hart geprüft; denn wenn sie schon einmal einen angenehmen Duft erwischt, was auch nicht oft vorkommt, dann entsteigt er gewöhnlich dem Mittagessen eines andern, das von dem Pastetenbäcker nach Hause getragen wird.«

Diese Betrachtung erinnerte ihn an die andre, die er unbeendigt gelassen hatte.

»Es gibt nichts Regelmäßigeres,« fuhr er fort, »als die Wiederkehr der Essenszeit, und nichts Unregelmäßigeres, als die Wiederkehr des Mittagessens selbst. Darin besteht ihr großer Unterschied. Ich habe lange dazu gebraucht, es ausfindig zu machen. Möchte doch wissen, ob sichs nicht für einen Gentleman der Mühe lohnte, diese Beobachtung für die Zeitungen oder für das Parlament zu kaufen!«

Toby meinte dies bloß im Scherz, denn er schüttelte in gravitätischer Verneinung seinen Kopf.

»Du mein Himmel!« sagte er, »die Zeitungen sind voll Beobachtungen, und das Parlament auch. Da habe ich eine Nummer von der letzten Woche« – er zog ein sehr schmutziges Blatt aus seiner Tasche und hielt es auf Armeslänge vor sich hin – »nichts als Beobachtungen – nichts als Beobachtungen! Ich möchte so gerne als irgend jemand Neuigkeiten erfahren,« fügte er langsam bei, indem er den Bogen noch ein wenig kleiner zusammenfaltete und ihn wieder in seine Tasche steckte; »aber es geht mir fast gegen den Magen, jetzt eine Zeitung zu lesen. Ich erschrecke beinahe davor und weiß nicht, wohin es noch mit uns armen Leuten kommen, was uns noch bevorstehen wird. Gott gebe, daß uns im neuen Jahr etwas Besseres bevorsteht!«

»Vater! Vater!« rief eine angenehme Stimme in der Nähe.

Aber Toby hörte sie nicht, sondern fuhr fort, hin und her zu trotten und seine Gedanken laut werden zu lassen.

»Es ist, als ob wir nichts rechtmachen könnten oder uns niemals Recht werden würde,« sagte Toby. »Als ich jung war, habe ich nicht viel gelernt; und ich kann nicht herauskriegen, ob wir auf der Erde etwas zu schaffen haben oder nicht. Manchmal glaube ich es wohl – wenn wir auch nicht viel hier zu tun haben; manchmal aber meine ich wieder, daß wir nur Eindringlinge sind. Mitunter bin ich so verdutzt, daß ich nicht mit mir ins reine kommen kann, ob überhaupt etwas Gutes an uns ist, oder ob uns die Schlechtigkeit angeboren ist. Es sieht aus, als täten wir schreckliche Dinge und fielen ungeheuer beschwerlich; man beklagt sich immer über uns und trifft Verwahrungsmaßregeln. Ob so oder so – jedenfalls sind die Zeitungen von uns voll. Da spricht man von einem Neuen Jahr!« fuhr Toby traurig fort. »Ich kann ebensoviel ertragen wie jemals irgendein Mensch; besser sogar als viele, denn ich bin stark wie ein Löwe, was sich nicht von allen Leuten sagen läßt; aber gesetzt, es wäre wirklich wahr, daß wir kein Recht auf ein Neujahr haben, angenommen, daß wir wirklich nur Eindringlinge sind …«

»Vater! Vater!« ließ sich die liebliche Stimme abermals vernehmen.

Toby hörte es diesmal; er stutzte, blieb stehen, rief seinen Blick zurück, der weitausgerichtet war, als suche er im Herzen des herannahenden Jahres Erleuchtung, und fand sich nun seinem eignen Kinde gegenüber, dem er jetzt ganz nahe in die Augen schaute.

Und es waren glänzende Augen – Augen, in die eine ganze Welt schauen konnte, ohne ihnen auf den Grund zu kommen. Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten, nicht blitzend oder auf Wunsch der Eigentümerin, sondern mit einem klaren, ruhigen, ehrlichen, geduldigen Glänze, der Anspruch auf die Zugehörigkeit zu jenem Licht erhob, das der Himmel ins Dasein rief. Augen, schön, wahr und hoffnungsstrahlend – mit so junger und frischer, mit so schwungkräftiger und heller Hoffnung, trotz der zwanzig Jahre Arbeit und Armut, die sie gesehen hatten, daß sie für Trotty Veck zu einer Stimme wurden, die ihm sagten »Ich glaube, wir haben hier wohl etwas zu schaffen – wenn auch nicht viel!«

Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und drückte das blühende Gesicht zwischen seine Hände.

»Ei, Herzchen,« sagte Trotty, »was gibt’s? Ich habe dich heute nicht erwartet, Meg.«

»Auch ich habe nicht aufs Kommen gerechnet, Vater,« rief das Mädchen, indem es lächelnd nickte. »Aber da bin ich – und obendrein nicht allein; nicht allein!«

»Wie? du willst doch nicht sagen,« bemerkte Trotty, neugierig nach einem bedeckten Korbe blickend, den sie in ihrer Hand »daß du …«

»Riech daran, lieber Vater,« versetzte Meg. »Riech einmal!«

Trotty war eben im Begriff, hastig den Deckel abzuheben, als das Mädchen scherzend mit der Hand dazwischenfuhr.

»Nein, nein, nein,« erwiderte Meg fröhlich wie ein Kind. »So geschwind gehts nicht. Ich will nur den Deckelrand ein klein winzig bißchen aufheben,« fügte sie bei, indem sie ganz sachte ihr Vorhaben ausführte und dabei so leise sprach, als fürchte sie, im Innern des Korbes gehört zu werden. »So. Also, was ists?«

Toby schnüffelte ein klein wenig an dem Rande des Korbes und rief entzückt:

»Ei, ’s ist heiß!«

»’s ist brennend heiß,« versetzte Meg. »Ha ha ha! ’s ist siedend heiß.«

»Ha ha ha!« brüllte Toby mit einem Luftsprung. »’s ist siedend heiß.«

»Aber was ist es, Vater?« fragte Meg. »Vorwärts! Du hast es noch nicht erraten. Und du mußt erraten, was es ist. Ich kann nicht daran denken, es herauszunehmen, bis du es erraten hast. Aber laß dir Zeit! Warte eine Minute! Ich will ein bißchen mehr von dem Deckel zurückschieben. Jetzt rate!«

Meg war wirklich in Angst, er könnte vielleicht zu rasch das Richtige raten, und wich deshalb ein wenig zurück, während sie ihm den Korb hinhielt, indem sie zugleich ihre hübschen Schultern in die Höhe zog und das Ohr mit der Hand zuhielt als könne sie in dieser Weise das richtige Wort von Tobys Lippen fernhalten. Dabei ließ sie immer ein sanftes Lachen hören.

Toby hatte mittlerweile die Hände auf seine Knie gelegt, seine Nase zu dem Korb niedergebeugt und sog nun den Duft außerhalb des Deckels tief ein. Während dieser angenehmen Beschäftigung verbreitete sich sein Grinsen immer mehr über das welke Gesicht, als atme er pures Lachgas.

»Ah, das riecht prächtig,« sagte Toby. »Ist es nicht – es werden doch keine Schweinswürste sein?«

»Nein, nein, nein!« rief Meg entzückt. »Etwas ganz andres!«

»Nein,« fuhr Toby nach einem abermaligen Schnüffeln fort, »es ist – es ist zarter als Schweinswürste. Es riecht ausgezeichnet und mit jedem Augenblick besser. Der Geruch ist zu stark für Kalbsfüße – nicht wahr?«

Meg war außer sich vor Freude. Er hätte nicht weiter vom Ziele abschießen können als mit Kalbsfüßen – Schweinswürste ausgenommen.

»Leber?« sagte Toby zu sich selber. »Nein. Der Geruch hat eine Milde, die sich an der Leber nicht findet. Ferkelfüßchen? Nein. Er ist zu stark für Ferkelfüße. Auch fehlt ihm der Beigeschmack der Hahnenköpfe. Und ich weiß, Würste sinds auch nicht. Ich will dir sagen, was drinnen ist – Kalbsgekröse!«

»Nein, nein,« erwiderte Meg, vor Entzücken aufjubelnd. »Nicht erraten!«

»Ei, woran denke ich auch!« entgegnete Toby, plötzlich eine so aufrechte Stellung einnehmend, als ihm möglich war. »Ich werde zuletzt noch meinen eignen Namen vergessen. ’s sind Kuttelflecke!«

Und Kuttelflecke waren es auch. Und Meg beteuerte in strahlender Freude, er werde in einer weitern halben Minute sagen, es seien die besten Kuttelflecke, die jemals gedünstet wurden.

»Und so will ich jetzt gleich den Tisch decken, Vater,« fuhr Meg fort, indem sie sich jubelnd mit dem Korbe beschäftigte; »denn ich habe die Kuttelflecke in einer Schüssel gebracht und die Schüssel in ein Taschentuch eingebunden. Wenn ich nun einmal stolz sein und es als Tischtuch ausbreiten will, so kann mich kein Gesetz hindern, es Tischtuch zu nennen. Nicht wahr, Vater?«

»Nicht daß ich wüßte, meine Liebe,« sagte Toby. »Aber sie erlassen alle Augenblicke ein oder das andre neue Gesetz.«

»Und nach dem, was ich dir neulich aus der Zeitung vorlas, Vater, weißt du noch, was der Richter sagte, setzt man bei uns armen Leuten voraus, daß wir alle diese Gesetze kennen. Ha ha ! welch ein Irrtum! du meine Güte, sie halten uns für gewaltig gescheit.«

»Ja, meine Liebe,« rief Trotty, »und sie würden eine gewaltige Freude an einem von uns haben, wenn er sie alle wüßte. Er würde fett werden von der Arbeit, die er kriegte, dieser Mann, und er kriegte einen Stein im Brett bei all den vornehmen Leuten in seiner Nachbarschaft. Gewiß und wahrhaftig!«

»Wer er auch sein möchte, er würde sein Mittagessen mit gutem Appetit verschmausen, wenn es so gut duftete wie dieses hier,« sagte Meg fröhlich. »Beeile dich, Vater, denn da ist außerdem auch noch eine heiße Kartoffel und ein Seidel frisch abgezogenen Bieres in einer Flasche. Wo willst du essen, Vater? In der Nische oder auf den Stufen? Du mein Himmel, wie gut wirs haben — zwei Plätze zur Auswahl!«

 

»Heute die Stufen, mein Kind,« versetzte Trotty. »Bei trockenem Wetter sind die Stufen, bei nassem die Nische gut. Stufen sind immer bequemer, weil man dabei sitzen kann; aber wenns naß ist, kriegt man Rheumatismus.«

»Hier also,« sagte Meg, nachdem sie sich eine halbe Minute eifrig zu schaffen gemacht hatte und nun in die Hände klatschte; »hier ist es – alles bereit – und wie schön es aussieht! Komm, Vater, komm!«

Seit Trotty entdeckt hatte, was in dem Körbchen war, stand er da und sah Meg an – sprach auch ab und zu – aber in einer zerstreuten Weise, welche bekundete, daß er, obschon sie allein seine Gedanken und Augen beschäftigte – nicht einmal die Kuttelflecke konnten ihn ihr untreu machen – nicht im entferntesten an sie dachte, wie sie in jenem Augenblicke war, sondern irgendein visionäres, undeutliches Bild oder ein Drama ihres künftigen Lebens vor sich hatte. Durch ihre heitere Aufforderung geweckt, unterdrückte er nun ein melancholisches Kopfschütteln, das ihn eben anwandelte, und trabte an ihre Seite. In demselben Augenblick, als er sich niederbeugte, um seinen Sitz einzunehmen, erklangen die Glocken.

»Amen!« sagte Trotty, seinen Hut abnehmend und nach denselben aufblickend.

»Amen den Glocken, Vater?« rief Meg.

»Sie fielen ein wie ein Tischgebet, meine Liebe,« sagte Trotty, indem er Platz nahm. »Ich bin überzeugt, sie würden ein gutes sprechen, wenn sie könnten, und sagen mir überhaupt manches Liebe.«

»Die Glocken, Vater?« lachte Meg, als sie die Schüssel niedersetzte und Messer und Gabel dazulegte. »Der Tausend!«

»Sie scheinens zu tun, mein Herzchen,« versetzte Trotty, indem er mit Eifer über seine Kuttelflecke herfiel. »Und worin liegt da der Unterschied? Wenn ich sie nur höre, was macht es aus, ob sie es wirklich sagen oder nicht? Gott behüte, mein Kind,« fügte er bei, indem er mit der Gabel nach dem Turm deutete und unter dem Einfluß seines Mahles lebhafter wurde, »wie oft habe ich jene Glocken nicht sagen hören: ›Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes! Toby! Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes, Toby!‹ Millionenmal? Reicht nicht – ’s war öfter!«

»Nun, das habe ich noch nie gehört!« rief Meg.

Dennoch war es schon oft und oft der Fall gewesen, denn es war Tobys unaufhörlicher Gesprächsgegenstand.

»Wenn es recht schlecht geht,« fuhr Trotty fort; »ich meine, wenn es recht schlecht geht – fast am schlechtesten, dann rufen sie: ’Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby! Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby!’«

»Und sie kommt dann auch – endlich, Vater, – versetzte Meg mit einem Anflug von Trauer in ihrer lieblichen Stimme.

»Immer,« erwiderte der arglose Toby. »Bleibt nie aus.«

Während dieses Gesprächs machte Trotty keine Pause in seinen Angriffen auf das würzige Mahl vor ihm, sondern schnitt ab und aß, schnitt ab und trank, schnitt ab und kaute, kam von den Kuttelflecken zu den heißen Kartoffeln und von den heißen Kartoffeln wieder zu den Kuttelflecken mit breitem, unermüdlichem Behagen zurück. Als er endlich um die Straßenecke sah, um sich zu überzeugen, ob man nicht von irgendeiner Türe oder einem Fenster nach einem Dienstmann winkte, begegneten seine Augen auf dem Rückweg dem Mädchen, das mit verschlungenen Armen ihm gegenüber saß und mit glücklichem Lächeln seinem emsigen Geschäft zusah.

»Ach, Gott verzeih mir!« rief Trotty, indem er sein Messer und seine Gabel fallen ließ. »Meg, mein Täubchen, warum sagst du mir nicht, was ich für ein Vieh bin?«

»Vater!«

»Sitze ich da«, fuhr Trotty in reuiger Erklärung fort, »und stopfe mich voll, während du vor mir bist, ohne auch nur ein bißchen dein Fasten zu unterbrechen noch den Wunsch dazu zu äußern, während …«

»Aber ich habe mein Fasten schon gebrochen, Vater, und zwar ausgiebig,« unterbrach ihn seine Tochter lachend. »Ich habe mein Mittagessen bereits gehabt.«

»Sprich keinen Unsinn,« versetzte Trotty. »Zwei Mittagessen an einem Tag? Nicht möglich! Du könntest mir ebensogut sagen, daß zwei Neujahrstage auf einmal kommen, oder daß ich mein ganzes Leben über ein Goldstück gehabt habe, ohne es je wechseln zu lassen.«

»Dennoch habe ich schon zu Mittag gegessen, Vater,« sagte Meg, näher herankommend; »und wenn du deines weiter ißt, will ich dir sagen, wie und wo dein Mittagessen zustande kam und – und noch etwas andres dazu.«

Toby machte noch immer eine ungläubige Miene; aber sie sah ihm mit ihren klaren Augen ins Gesicht, legte ihre Hand auf seine Schulter und winkte ihm, weiterzuessen, solange das Fleisch noch warm sei. Trotty nahm daher Messer und Gabel wieder auf und schickte sich zur Arbeit an; sie ging aber viel langsamer vonstatten als zuvor, und er schüttelte den Kopf, als sei er durchaus nicht mit sich zufrieden.

»Ich habe schon gespeist, Vater,« sagte Meg nach einigem Zögern, »mit – mit Richard. Er ißt früh, und da er sein Mittagessen mitbrachte, als er mich besuchte, so – so verzehrten wir es miteinander, Vater.«

Trotty nahm ein Schlücklein Bier und schmatzte mit den Lippen. Dann sagte er »oh!« – weil sie darauf wartete.

»Und Richard sagt, Vater …«, nahm Meg wieder auf. Dann stockte sie abermals.

»Was sagt Richard, Meg?« fragte Toby.

»Richard sagt, Vater …« Neues Stocken.

»Richard braucht lange, bis er etwas sagt,« bemerkte Toby.

»Nun ja, Vater, er sagt,« fuhr Meg fort, indem sie endlich ihre Augen erhob und in bebendem, obschon völlig deutlichem Ton sprach, »es sei wieder ein Jahr beinahe herum, und was es nütze, von einem Jahr auf das andre zu warten, wenn es doch so unwahrscheinlich ist, daß es uns je besser als jetzt ergehen werde. Er sagt, Vater, wir seien jetzt arm und würden auch dann arm sein; aber wir seien jung, und die Jahre würden uns alt machen, ehe wir es wüßten. Er meint, wenn Leute in unsrer Lage warten wollten, bis wir unsern Weg klar vor uns sähen, so würde er wohl recht eng werden – der gemeinschaftliche Weg – das Grab, Vater.«

Sogar ein kühnerer Mann als Trotty Veck hätte alle seine Kühnheit zusammennehmen müssen, um dies in Abrede zu stellen; er blieb daher lieber still.

»Und wie hart ist es, Vater, alt zu werden und zu sterben, wenn wir daran denken, daß wir einander hätten Freude machen und helfen können! Wie hart ist es, sein ganzes Leben über einander liebzuhaben und sich doch getrennt zu sehen, jeden für sich abhärmen zu sehen und zuschauen zu müssen, wie der andre arbeitet, sich verändert, alt und grau wird. Selbst wenn ich es überwinden und ihn vergessen könnte, was nie möglich ist – o lieber Vater, wie schwer wäre es dann, ein Herz zu haben, so voll wie das meinige jetzt ist, und das Leben langsam, tropfenweise verrinnen zu sehen, ohne einen Rückblick auf einen einzigen glücklichen Augenblick, der mich trösten und besser machen könnte!«

Trotty blieb mäuschenstill. Meg trocknete ihre Augen und fuhr heiterer fort – das heißt manchmal unter Lachen und manchmal unter Schluchzen und dann wieder lachend und Schluchzend zu gleicher Zeit:

»Richard sagt daher, Vater, da er gestern für soundso lange eine feste Beschäftigung erhalten habe und ich ihn schon volle drei Jahre liebe – ach, es ist schon länger her, wenn er es nur wüßte! – So solle ich mich am Neujahrstag mit ihm zusammengeben lassen: der beste und glücklichste Tag im ganzen Jahr, sagt er, einer, bei dem man fast sicher annehmen kann, daß er Glück mit sich bringt. Das ist eine kurze Frist – nicht wahr, Vater? – aber ich habe ja kein Vermögen in Ordnung zu bringen und keine Hochzeitskleider machen zu lassen, wie die vornehmen Damen; nicht wahr, Vater? – Und er sagte so viel und sagte es in so nachdrücklicher, ernster, aber doch so sanfter und freundlicher Weise, daß ich ihm versprach, ich wolle mit dir darüber sprechen, Vater. Und da mir ganz unerwarteterweise heute morgen das Geld für meine Arbeit ausbezahlt wurde, und du während der ganzen Woche nur ein armseliges Essen gehabt hast, und ich den Wunsch nicht zurückdrängen konnte, daß etwas getan werden müßte, was dir den heutigen Tag zu einem Feiertag macht, wie er für mich ein glücklicher Tag ist, so kochte ich diesen Festschmaus und brachte ihn dir als Überraschung.«

»Und siehst nun, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

Es war die Stimme desselbigen Richard, der unbemerkt herangekommen war und nun vor Vater und Tochter stand. Er blickte mit einem Gesicht auf sie nieder, so glühend wie das Eisen, auf dem täglich sein schwerer Schmiedehammer erklang. Richard war ein schöner, wohlgebauter, kräftiger Bursche mit Augen, die gleich den rotglühenden Funken eines Essenfeuers sprühten. Sein schwarzes Haar kräuselte sich üppig um die dunklen Schläfen, und sein Lächeln – ein Lächeln, das Megs Lob über seinen Konversationsstil beträchtlich unterstützte.

»Und siehst, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« sagte Richard. »Meg weiß nicht, was er liebt – nein, gewiß nicht!«

Voll Behendigkeit und Feuer reichte Trotty augenblicklich Richard die Hand und wollte eben eine hastige Erwiderung geben, als unversehens die Haustür aufging und ein Bedienter beinahe seinen Fuß in die Kuttelflecke setzte.

»Aus dem Wege da! Müßt Ihr Euch denn immer auf unsre Stufen setzen, und könnt Ihr nicht auch einmal die eines Nachbars dazu nehmen? Ich frage, ob ihr den Weg räumen wollt!«

Genau genommen war die letzte Aufforderung ganz unnötig, weil sie ihr bereits nachgekommen waren.

»Was gibts da?« sagte der Gentleman, für den die Tür geöffnet worden war, und der jetzt mit jenem leichtschweren Tritt aus dem Hause kam, den man so häufig bei Gentlemen antrifft, die die zweite, absteigende Hälfte ihres Lebens sorgenlos genießen, wenn sie, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben, mit knarrenden Stiefeln, Uhrketten und reinen Hemden aus ihren Häusern kommen und in ihrer Miene ausdrücken, daß sie irgendwo eine wichtige, viel Geld einbringende Beschäftigung haben. »Was gibts da? Was gibts da?«

»Muß man Euch denn immer auf den Knien bitten,« fuhr der Bediente mit großem Nachdruck gegen Trotty Veck fort, »unsre Türtreppen sein zu lassen? Warum kommt Ihr denn immer wieder? Könnt Ihr nicht einmal wegbleiben?«

»Schon gut! Das genügt! Das genügt!« sagte der Gentleman. »Heda, Dienstmann!« Er bedeutete Trotty Veck durch eine Kopfbewegung, näher zu treten. »Kommt her da. Was ist dies – Euer Mittagessen?«

»Ja, Sir,« versetzte Trotty, seine Schüssel in einer Ecke stehen lassend.

»Laßt es nicht dort, sondern bringt es her, bringt es her!« rief der Gentleman. »So; das ist also Euer Essen, wie?«

»Ja, Sir,« antwortete Trotty, mit festem Blick und wässerndem Mund den letzten Brocken ängstlich verfolgend, den er sich als köstlichen Schlußbissen aufgehoben hatte, und den nun der Gentleman an dem Gabelende um und um drehte.

Mit ihm waren auch zwei andere Gentlemen herausgekommen. Der eine, ein niedergeschlagenes, schmächtiges Männchen von mittlerem Alter und mit einem trostlosen Gesicht, hielt Seine Hände unaufhörlich in den schlappohrigen Taschen seiner knappen Pfeffer- und Salzhosen versteckt und schien mit der Bürste oder Seife keine sonderlich intime Bekanntschaft zu unterhalten. Der andre war ein großer, geschmeidiger, gut angezogener Gentleman in einem blauen Rock mit gelben Knöpfen und weißer Krawatte. Dieser hatte ein sehr rotes Gesicht, als ob ihm ein ungebührlicher Anteil Blut nach dem Kopf gedrängt worden sei, was vielleicht auch der Grund war, daß er ziemlich kaltherzig aussah.

Derjenige, welcher Tobys Fleisch an der Gabel hatte, rief nun den ersten Gentleman, den er Filer nannte, heran, und dieser, der sehr kurzsichtig war, mußte zur Untersuchung von Tobys noch übrigem Mittagsmahl seinen Kopf so nahe an den Leckerbissen bringen, daß Toby das Herz bis zum Hals schlug. Aber Herr Filer aß ihn nicht.

»Das ist eine Art von animalischer Kost, Alderman,« sagte Filer, indem er mit einem Bleistift kleine Löcher hineinstach, »die gemeiniglich bei der arbeitenden Klasse dieses Landes unter dem Namen Kuttelflecke bekannt ist.«

Der Alderman lachte und blinzelte – denn Alderman Cute war ein lustiger Knabe und dabei auch ein schlauer, verschmitzter Bursche, der über alles ein wachsames Auge hatte und sich nicht hintergehen ließ. Ja, er sah tief in die Herzen der Leute! Er kannte sie gut, dieser Cute. Das will ich glauben!

»Aber wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer fort, indem er umherschaute. »Kuttelflecke sind ausnahmslos der unökonomischste und verschwenderischste Konsumartikel, den die Märkte diesem Landes nur hervorbringen können. Man hat gefunden, daß ein Pfund Kuttelflecke durch Sieden sieben Vierzigstel mehr verliert, als ein Pfund jeder andern animalischen Nahrung. Kuttelflecke sind also verhältnismäßig kostspieliger, als die Treibhaus-Ananas. Wenn man die Anzahl der jährlich geschlachteten Tiere in Betracht zieht und einen niedrigen Überschlag über die Menge von Kuttelflecken macht, die die Leiber dieser – vorausgesetzt verständig – geschlachteten Tiere liefern, so stellt sich heraus, daß man von dem Sudverlust der Kuttelflecke allein eine Garnison von fünfhundert Mann fünf Monate lang, jeder zu einunddreißig Tagen gerechnet, und noch einen Februar dazu, viktualisieren könnte. Welche Vergeudung – Vergeudung!«

Trotty stand entsetzt da, und die Knie zitterten unter ihm. Er schien eigenhändig eine Garnison von fünfhundert Mann ausgehungert zu haben.

»Wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer mit Wärme fort. »Wer ißt Kuttelflecke?«

Trotty machte eine klägliche Verbeugung.

»Ihr also, Ihr?« sagte Herr Filer. »So will ich Euch etwas bedeuten. Ihr reißt Eure Kuttelflecke aus dem Munde der Witwen und Waisen, mein Freund.«

»Ich hoffe nicht, Sir,« versetzte Trotty mit matter Stimme. »Lieber wollte ich verhungern!«

»Teilt man die Menge der vorerwähnten Kuttelflecke durch die geschätzte Anzahl von existierenden Witwen und Waisen, Alderman,« nahm Herr Filer wieder auf, »so trifft auf jeden Kopf für ungefähr einen Penny. Für diesen Mann da bleibt kein Gran übrig – folglich ist er ein Räuber.«

Trotty war so erschüttert, daß er sich nichts daraus machte, als er den Alderman seinen letzten Leckerbissen verzehren sah. Es war ihm eine Erlösung, von diesem irgendwie befreit zu werden.

»Und was sagt Ihr?« fragte der Alderman scherzhaft den rotgesichtigen Gentleman in blauem Rock. »Ihr habt Freund Filer gehört. Was sagt Ihr

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»Was läßt sich da auch möglicherweise sagen?« entgegnete der Gentleman. »Was läßt sich überhaupt sagen? Wer kann sich in so schlechten Zeiten für einen Menschen wie diesen da (er meinte Trotty) interessieren? Schaut ihn an! Welch ein Gegenstand! O die guten alten Zeiten, die herrlichen alten Zeiten, die großartigen alten Zeiten! Das waren die Zeiten für ein kühnes Bauernvolk und dergleichen mehr. Das waren tatsächlich die Zeiten für alles und jedes. Heutzutage gibt es dergleichen nicht mehr. Ach!« seufzte der rotgesichtige Gentleman. »Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten!«

Der Gentleman setzte nicht näher auseinander, was für besondre Zeiten er meinte, und ließ sich ebensowenig darauf ein, was er an der gegenwärtigen aussetzen hatte, weil er sich wahrscheinlich bewußt war, daß sie nichts sehr Merkwürdiges geleistet hatte dadurch, daß sie ihn ins Leben gerufen.

»Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten,« wiederholte der Gentleman. »Was waren das für Zeiten! Das waren noch die einzigen Zeiten. Wozu nützts auch, von andern Zeiten zu reden oder sich darüber auszulassen , was die Leute in diesen Zeiten sind. Ihr werdet sie doch nicht etwa Zeiten nennen wollen? Ich wenigstens tue es nicht. Betrachtet nur einmal Strutts Kostüme und seht, was ein Dienstmann während irgendeiner der guten alten englischen Regierungen zu sein pflegte.«

»Wenn es ihnen recht gut ging, so hatten sie nicht einmal ein Hemd auf dem Leib oder Strümpfe an den Füßen, und in ganz England wuchs für sie kaum ein einziges Gemüse,« sagte Herr Filer. »Ich kann dies durch Tabellen beweisen.«

Aber dennoch pries der rotgesichtige alte Gentleman die guten alten Zeiten, die herrlichen Zeiten, die großartigen Zeiten. Es war ganz gleichgültig, was ein andrer sagte; er haspelte unaufhörlich dieselben Phrasen von den alten Zeiten ab, wie ein armes Eichhörnchen seine Tretmühle abhaspelt, von deren Mechanismus und Ränken es wahrscheinlich ebenso klare Vorstellungen hat, wie dieser rotgesichtige Gentleman von seinem verschwundenen tausendjährigen Reich hatte.

Möglich, daß der Glaube des armen alten Trotty an diese sehr verworrenen alten Zeiten nicht ganz zerstört wurde, denn er fühlte sich in jenem Augenblick verwirrt genug; so viel aber wurde ihm in seiner Not klar, daß, wie sehr auch diese Gentlemen im einzelnen verschiedener Meinung sein mochten, seine Bedenken von heute morgen und von vielen andern Morgen ganz begründet waren.

»Nein, nein, wir können nichts rechtmachen,« dachte Trotty in Verzweiflung. »Es ist nichts Gutes in uns. Wir werden bereit schlecht geboren!«

Aber Trotty hatte ein Vaterherz in seinem Innern, das trotz dieser göttlichen Verordnung irgendwie sich in seine Brust geschwindelt hatte, und konnte es nicht ertragen, daß diese weisen Gentlemen Meg, deren Wangen noch vor Freude strahlten, ihr Schicksal weissagen sollten. »Gott helfe ihr,« dachte der arme Trotty; »sie wird es bald genug kennen lernen.«

Er gab daher dem jungen Schmied ängstlich durch Zeichen zu verstehen, daß er sie fortnehmen möchte; aber Richard plauderte in einiger Entfernung so angelegentlich mit ihr, daß ihm dieser Wunsch erst zu gleicher Zeit mit dem Alderman Cute deutlich wurde. Der Alderman hatte sein Sprüchlein noch nicht angebracht; aber er war ein Philosoph – und obendrein ein praktischer, o ein sehr praktischer Philosoph, und da er sichs nicht einfallen ließ, auf einen Teil seiner Zuhörerschaft zu verzichten, so rief er:

»Halt«

»Ihr wißt,« sagte der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln, das gewöhnlich um seine Lippen spielte, zu seinen beiden Freunden, »ich bin ein einfacher, praktischer Mann und liebe es, in einfacher, praktischer Weise zu Werke zu gehen. Das ist so meine Art. Es ist durchaus nicht schwer, und es steckt kein Geheimnis dahinter, mit derartigen Leuten umzugehen , wenn man sie nur versteht und in ihrer eignen Weise mit ihnen sprechen kann. Hört also, Dienstmann! Bemüht Euch nur ja nicht, mein Freund, mir oder jemand anderm weiszumachen, Ihr hättet nicht immer vom Besten und im Überfluß zu essen; ich weiß das besser. Ihr wißt, ich habe Eure Kuttelflecke gekostet , und Ihr könnt mich nicht beschummeln. Ihr wißt , was ›beschummeln‹ bedeutet, he? Das ist das rechte Wort – nicht wahr? Du mein Himmel,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »es ist das allerleichteste von der Welt, mit derartigen Leuten zu verkehren, wenn man sie nur versteht.«

Ein famoser Mann für das gemeine Volk, der Alderman Cute! Nie aufgebracht über sie! Ein umgänglicher, gesprächiger, scherzhafter, gescheiter Herr!

»Ihr seht, mein Freund,« fuhr der Alderman fort, »man spricht da viel Unsinn vom Mangel und ›Schlechtgehen‹ – nicht wahr, so nennt mans? Ha ha ha! – aber ich gedenke, das Geschrei zu widerlegen. ’s ist nachgerade Mode, viel übers Verhungern zu deklamieren; aber ich will der Sache einen Riegel vorschieben. Gott weiß,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »man kann solchen Leuten alles legen, wenn man nur weiß, wie mans anzugreifen hat!«

Trotty ergriff Megs Hand und zog sie durch seinen Arm, ohne eigentlich recht zu wissen, was er tat.

»Eure Tochter, he?« fragte der Alderman, sie vertraulich unter das Kinn fassend.

Stets leutselig gegen die arbeitende Klasse – der Alderman Cute! Wußte, was ihnen gefiel! Kein bißchen stolz!

»Wo ist ihre Mutter?« fragte der würdige Gentleman.

»Tot,« antwortete Toby. »Ihre Mutter verfertigte Wäsche und wurde in den Himmel abberufen, als Meg auf die Welt kam.«

»Vermutlich wird sie dort keine Wäsche verfertigen,« bemerkte der Alderman scherzhaft.

Toby konnte oder wollte sich vielleicht auch nicht seine Frau im Himmel ohne ihre gewöhnliche Beschäftigung vorstellen. Die Frage ist: wenn Frau Alderman Cute gegen Himmel gefahren wäre, würde sich Herr Alderman Cute seine Gattin so vorgestellt haben, daß sie dort Staat macht und eine hohe Stellung einnimmt?

»Und Ihr macht ihr den Hof, he?« fragte Cute den jungen Schmied.

»Ja,« entgegnete Richard hastig, denn die Frage brannte ihn wie eine Nessel. »Und wir werden am Neujahrstag heiraten.«

»Was sagt Ihr da?« rief Herr Filer scharf. »Heiraten?«

»Nun ja, wir denken daran, Herr,« versetzte Richard. »Ihr seht, wir müssen ein bißchen eilen, für den Fall, daß man uns vielleicht unser Vorhaben ›legen‹ würde.«

»Ah!« rief Filer mit einem Stöhnen. »Jawohl, Alderman, wenn Ihr dies legen könntet, so würdet Ihr etwas tun. Heiraten! heiraten!! Die Unwissenheit dieser Leute in den ersten Grundsätzen der Staatsökonomie, ihr Unverstand und ihre Gottlosigkeit sind, beim Himmel, genug, um – na, seht mir nur einmal dieses Paar an!«

Ei ja, man durfte sie wohl ansehen – und das Heiraten schien eine so vernünftige und billige Handlung zu sein , daß sie es wohl in Betracht ziehen durften.

»Man kann so alt werden wie Methusalem«, sagte Herr Filer, »und sich sein ganzes Leben über zum Besten solcher Leute abmühen; man kann berghoch Zahlen von Tatsachen, Zahlen von Tatsachen und Zahlen von Tatsachen aufhäufen, aber vergeblich hofft man, sie zu überzeugen, daß sie keine Befugnis und kein Recht haben, zu heiraten – ebensowenig als man sie zu belehren vermag, wie ihnen alle Befugnis abgeht, geboren zu werden. Und daß dies der Fall ist, wissen wir recht wohl, da wirs längst zu einer mathematischen Gewißheit erhoben haben.«

Alderman Cute war ungemein aufgeräumt und legte seinen rechten Zeigefinger an die Seite seiner Nase, als wollte er zu seinen beiden Freunden sagen: »Seid nun so gut, auf mich achtzugeben. Richtet euer Augenmerk auf den praktischen Mann!« – Dann rief er Meg heran.

»Kommt her, mein Mädchen!« sagte Alderman Cute. Das junge Blut ihres Liebhabers war in den letzten paar Minuten zornig aufgewallt, und er hatte keine Lust, sie gehen zu lassen. Dennoch tat er sich Zwang an, trat, als sich Meg näherte, mit einem großen Schritt vor und stellte sich an ihre Seite. Trotty hielt noch immer ihre Hand unter seinem Arm, blickte aber so wirr wie ein Schläfer im Traum von Gesicht zu Gesicht.

»Ich will Euch jetzt ein paar Wörtchen als guten Rat geben, mein Mädchen,« sagte der Alderman in seiner leichten, angenehmen Weise. »Ihr wißt, daß es mir zusteht, Rat zu erteilen, weil ich Friedensrichter bin. Es ist Euch wahrscheinlich bekannt, daß ich die Stellung eines Friedensrichters innehabe?«

Meg antwortete schüchtern mit ja. Aber jedermann wußte, daß Alderman Cute ein Friedensrichter war – und, o mein Gott, welch ein tätiger Friedensrichter! Nie gab es einen so glänzenden Splitter im Auge der Öffentlichkeit als Cute.

»Ihr wollt also heiraten , sagt Ihr?« fuhr der Alderman fort. »Das ist sehr unschicklich und unzart von einer Person Eures Geschlechts! Doch reden wir nicht davon. Wenn Ihr geheiratet habt, werdet Ihr mit Euerm Mann streiten und ein unglückliches Weib werden. Ihr glaubts vielleicht nicht, aber Ihr werdet es mit der Zeit, weil ichs Euch sage. Ich warne Euch deshalb ehrlich und bemerke Euch zum voraus, daß ich mir vorgenommen habe, auch den unglücklichen Weibern einen Riegel vorzuschieben. Mir dürft Ihr nicht kommen. Ihr werdet Kinder kriegen – Jungen. Diese Jungen wachsen auf bösen Wegen auf und laufen ohne Schuhe und Strümpfe wild durch die Straßen. Merkt Euch dies, meine junge Freundin – ich werde sie samt und sonders summarisch einstecken lassen, denn ich bin entschlossen, auch den Buben ohne Schuhe und Strümpfe das Handwerk zu legen. Vielleicht stirbt Euer Mann jung (sehr wahrscheinlich) und läßt Euch mit einem Säugling zurück. Man weist Euch dann die Tür, und Ihr müßt auf der Straße umherwandern. Kommt aber nur mir nicht in die Nähe, meine Liebe, denn ich bin entschlossen, es allen wandernden Müttern zu legen. Ja, ich bin entschlossen, es allen jungen Müttern, welcher Art und von welchem Schlag sie sein mögen, zu legen. Glaubt nicht, Ihr könnt Euch mit Krankheit oder mit Säuglingen vor mir entschuldigen, denn ich habe mir vorgenommen, es allen kranken Personen und kleinen Kindlein (hoffentlich kennt Ihr die Stelle im Gebetbuch, ich fürchte aber, nein) zu legen; und wenn Ihr gar verzweifelt, undankbar, gottlos und betrügerisch einen Versuch macht, Euch zu ersäufen oder zu hängen, So will ich kein Mitleid mit Euch haben, denn ich bin festen Willens, es auch dem Selbstmord zu legen! Wenn es etwas gibt,« fuhr der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln fort, »von dem ich sagen kann, daß mein Sinn mehr darauf erpicht sei als auf etwas andres, so ist es das Legen des Selbstmordes. Probierts also nicht erst! Ha ha! Jetzt verstehen wir einander.«

Toby wußte nicht, sollte er sich mehr grämen oder freuen, als er bemerkte , daß Meg totenblaß wurde und die Hand ihres Verlobten fallen ließ.

»Und was Euch betrifft, Ihr junger Bullenbeißer,« fuhr der Alderman fort, indem er sich mit erhöhter Heiterkeit und Leutseligkeit an den jungen Schmied wandte, »was fällt Euch denn ein, daß Ihr heiraten wollt? Wozu braucht Ihr überhaupt das Heiraten, Ihr einfältiger Mensch? Wenn ich ein hübscher, starker junger Bursche wäre wie Ihr, so würde ich mich schämen, so milchsuppig zu sein, um mich an die Schürzenbänder eines Weibes zu hängen! Sie ist ein altes Weib, bevor Ihr ein Mann in den besten Jahren seid! Und Ihr werdet dann eine schöne Figur machen, wenn Euch auf Schritt und Tritt eine Schmutzliese von Frau und ein Haufen krakeelender Kinder nachschreien!«

Oh, wie angenehm wußte Alderman Cute mit den gemeinen Leuten zu scherzen!

»So – jetzt packt Euch und bereut,« sagte der Alderman. »Macht keine solchen Narren aus Euch, am Neujahrstag zu heiraten. Bevor sich dieser Tag jährt, seid Ihr längst andrer Meinung – so ein schmucker junger Bursche wie Ihr, nach dem sich alle Mädels den Hals ausrecken. Also! Geht jetzt!«

Und sie gingen. Nicht Arm in Arm, Hand in Hand oder leuchtende Blicke austauschend: sondern sie in Tränen, er aber düster und niedergeschlagen. Waren dies die Herzen, die erst kürzlich noch das des alten Toby aufhüpfen machten aus seiner Schwäche? Nein, nein. Der Alderman – Segen über sein Haupt! – hatte es ihnen ›gelegt‹.

»Da Ihr zufällig hier seid,« sagte der Alderman zu Toby, »so könnt Ihr mir einen Brief besorgen. Wie stehts aber mit der Geschwindigkeit? – Ihr seid ein alter Mann.«

Toby, der ganz betäubt Meg nachgesehen hatte, versuchte zu murmeln, daß er sehr hurtig und recht gut bei Kräften sei.

»Wie alt seid Ihr?« fragte der Alderman.

»Sechzig vorbei, Sir,« versetzte Toby.

»Der Mann hat das Durchschnittsalter weit überschritten,« fiel Herr Filer ein, als ob seine Geduld wohl einer Heimsuchung fähig sei, dies aber wirklich die Sache ein wenig zu weit treiben heiße.

»Ich spüre wohl, daß ich zur Last bin, Sir,« sagte Toby. »Ich – ich habs schon heute morgen geargwöhnt. Ach du mein Himmel!«

Der Alderman unterbrach ihn, indem er einen Brief aus seiner Tasche zog und ihn Toby Veck übergab. Letzterer würde dazu auch einen Schilling erhalten haben; da aber Herr Filer deutlich bewies, daß er in diesem Fall eine gewisse gegebene Anzahl von Personen je um neuneinhalb Pence bringe, so erhielt er nur ein Sechspencestück und war schon darüber überglücklich.

Dann gab der Alderman jedem seiner Freunde einen Arm und zog triumphierend von dannen; unmittelbar darauf kam er jedoch eiligst allein zurück, als ob er etwas vergessen hätte.

»Dienstmann!« sagte der Alderman.

»Sir!« versetzte Toby.

»Gebt auf Eure Tochter acht. Sie ist viel zu schön.«

»Vermutlich hat sie auch ihr hübsches Gesicht jemandem gestohlen,« dachte Toby, indem er das Sechspencestück in seiner Hand ansah und an die Kuttelflecke dachte. »Sollte mich nicht wundern, wenn sie fünfhundert vornehmen Damen je ein Stück Blüte entrissen hätte. ’s ist ja ganz schrecklich!«

»Sie ist viel zu schön, mein guter Mann,« wiederholte der Alderman. »Ich sehe klar voraus, daß es mit ihr kein gutes Ende nehmen wird. Merkt auf das, was ich Euch sage, und habt ein wachsames Auge auf sie!«

Mit diesen Worten eilte er wieder fort.

»Überall Unrecht – überall Unrecht!« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend. »Schon als schlecht geboren! Nichts hier zu schaffen!«

Die Glocken tönten hallend zusammen, als er diese Worte sprach – voll, laut und kräftig tönend, aber ohne Ermutigung. Nein, keine Spur davon.

»Die Weise hat sich geändert,« rief der alte Mann, als er aufhorchte. »‹s ist nicht eine Silbe darin, an der man eine Freude haben könnte. Doch warum auch? Was geht mich das neue oder das alte Jahr an? Laßt mich sterben!«

Dennoch hallten die Töne fort, daß die ganze Luft in Schwingungen geriet: »Leg es ihnen, leg es ihnen! Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen! Leg es ihnen, leg es ihnen!« Wenn sie überhaupt etwas sagten, So sagten sie nur dies, bis es in Tobys Gehirn zu kreisen begann.

Er preßte seinen armen, wirren Kopf in beide Hände, als ob er ihn vor dem Zerspringen bewahren wollte. Dies war eine Bewegung zur rechten Zeit, denn sie ließ ihn in der einen Hand den Brief fühlen, und so wurde er an seinen Auftrag erinnert. Mechanisch setzte er sich in seinen gewöhnlichen Trab und trottete von hinnen.

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Das zweite Viertel

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Der Brief, den Toby von Alderman Cute erhalten hatte, war an einen großen Mann in dem großen Distrikt der Stadt adressiert. Der größte Distrikt der Stadt. Er mußte es auch wohl sein, weil er allgemein von seinen Einwohnern die ›Welt‹ genannt wurde.

Der Brief kam entschieden Tobys Hand weit schwerer vor, als ein andrer Brief – nicht weil ihn der Alderman mit einem sehr großen Wappen und einer endlosen Lackverschwendung gesiegelt hatte, sondern wegen des wichtigen Namens auf dem Umschlag und der schweren Menge von Gold und Silber, an die er erinnerte.

»Wie ganz verschieden von uns!« dachte Toby in aller Einfalt, als er die Adresse las. »Wenn man die zum Tod bestimmten Schildkröten durch die Anzahl der vornehmen Leute teilte, die sie kaufen könnten, würde er nur seinen eignen Anteil beanspruchen und würde es verachten, irgendeinem Menschen die Kuttelflecke vor dem Mund wegzuschnappen!«

Mit der unwillkürlichen Huldigung, die einem so hochstehenden Charakter gebührte, brachte Toby einen Zipfel seiner Schürze zwischen den Brief und seine Finger.

»Seine Kinder,« fuhr Trotty fort, und ein Nebel legte sich vor seine Augen, »seine Töchter – vornehme Herren können kommen, ihre Herzen gewinnen und sie heiraten. Sie dürfen glückliche Weiber und Mütter werden – sind vielleicht schön, wie meine liebe M – e –.«

Er konnte den Namen nicht zu Ende bringen, denn der letzte Buchstabe schwoll in seiner Kehle zum Umfang des ganzen Alphabets an.

»Doch gleichviel,« dachte Trotty. »Ich weiß, was ich meine, und das ist mehr als genug für mich.«

Und mit dieser tröstlichen Betrachtung trabte er weiter.

Es hatte an diesem Tag hart gefroren, und die Luft war stärkend, frisch und klar. Die winterliche Sonne gab zwar keine Wärme, blickte aber glänzend auf das Eis nieder, das sie nicht schmelzen konnte, und ließ darin ihre Strahlen spiegeln. Zu andern Zeiten hätte Trotty vielleicht dieser Wintersonne eine Lehre für den armen Mann abgewinnen können, aber er war jetzt darüber hinaus.

Das Jahr war sterbensalt an diesem Tag. Das geduldige Jahr hatte die Vorwürfe und Schmähungen seiner Lästerer überlebt und war getreulich mit seinem Werk zustande gekommen. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Es hatte sich durch den ihm angewiesenen Kreislauf gearbeitet und legte jetzt sein müdes Haupt nieder, um zu sterben. Abgeschnitten von aller Hoffnung, von allen starken Impulsen, von allem Lebendigen, und nur noch ein Bote vieler Freuden für andre, verlangte es weiter nichts, als daß man sich seiner vielen mühsamen Tage und geduldigen Stunden erinnere und es dann in Frieden hinscheiden lasse. Trotty hätte aus dem entschwindenden Jahr ein Sinnbild des armen Mannes lesen können – aber er war jetzt darüber hinaus.

Und nur er? Oder war vielleicht seit siebzig Jahren derselbe Aufruf zumal an jeden englischen Arbeiter ergangen, aber vergeblich?

Die Straßen waren sehr belebt und die Läden prunkhaft ausgestattet. Wie einem jugendlichen Erben der ganzen Welt sah man dem neuen Jahr mit Freude, Willkomm und Geschenken entgegen. Da lagen Bücher und Spielzeug für das neue Jahr, funkelndes Geschmeide für das neue Jahr, Anzüge für das neue Jahr, Glücksentwürfe für das neue Jahr; neue Erfindungen, um es um seine Zeit zu betrügen. Sein Leben war in Kalendern und Taschenbüchern haargenau eingeteilt; das Erscheinen der Monde, der Sterne und der Gezeiten war im voraus bis auf die Sekunde bekannt; ja sogar das Wirken der Jahreszeiten bei Tag und bei Nacht war mit ebenso großer Genauigkeit berechnet, wie Herr Filer aus Männern und Weibern Summen herausarbeiten konnte.

Das neue Jahr, das neue Jahr – überall das neue Jahr! Das alte betrachtete man schon als tot, und seine Effekten wurden spottbillig verkauft, wie die eines ertrunkenen Matrosen an Bord. Seine Moden wurden schon der Vergangenheit beigezählt und fielen als Opfer, ehe noch sein Atem ausgegangen war. Seine Schätze waren bloßer Schmutz neben den Reichtümern des neugeborenen Nachfolgers!

Trotty dachte für sich: »Du hast doch keinen Teil weder an dem neuen noch an dem alten Jahr.«

»Leg es ihnen, leg es ihnen! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen. Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Leg es ihnen, leg es ihnen!« – sein Trab ging nach diesem Takt und wollte sich in keinen andern schicken.

Doch auch dieser, so traurig er war, brachte ihn endlich ans Ende seiner Wanderung nach der Wohnung des Sir Joseph Bowley, Parlamentsmitglied.

Die Tür wurde durch einen Portier geöffnet. Und noch dazu durch was für einen Portier! Kein Porter1 von Tobys Rang. Etwas ganz andres. Und bei seiner Stellung konnte er die Botengänge wohl entbehren; nicht aber Toby.

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Dieser Portier mußte zuvor schwer schnauben, ehe er sprechen konnte; denn er hatte sich außer Atem gehetzt, weil er unvorsichtigerweise von seinem Stuhl aufgestanden war, ohne daß er sich zuvor Zeit genommen hatte, darüber nachzudenken und sein Gemüt zu beruhigen. Als er endlich seine Stimme gefunden hatte – freilich dauerte dies eine geraume Zeit, denn sie war weg und unter einer Last Fleisch verborgen – begann er in fettem Geflüster:

»Von wem ists?«

Toby sagte es ihm.

»Ihr müßt es selbst hineintragen,« sagte der Portier, nach einem Zimmer am Ende eines langen Ganges deutend, der an die Halle stieß. »An diesem Tag des Jahres geht alles direkt hinein. Ihr kommt nicht eine Sekunde zu früh, denn der Wagen steht schon vor der Tür, und sie sind ausdrücklich nur für ein paar Stunden nach der Stadt gekommen.«

Toby wischte sich sorgfältig die Füße ab, obschon sie ganz trocken waren, und schlug den ihm angedeuteten Weg ein. Während er durch die Halle trottete, bemerkte er, daß es ein schauerlich großartiges Haus war, aber alles so still und verhüllt, als befände sich die Familie auf dem Land. Er klopfte an die Zimmertür, und als er auf ein ›Herein!‹ eintrat, gelangte er in ein geräumiges Bibliothekzimmer, in dem vor einem mit Papieren bedeckten Tisch eine stattliche Dame im Hut saß. Ein nicht sehr stattlicher, schwarz gekleideter Gentleman schrieb, was sie diktierte, und ein andrer älterer und viel stattlicherer Gentleman, dessen Hut und Stock auf dem Tisch lagen, ging auf und ab, die eine Hand in die Brust steckend und von Zeit zu Zeit sein eignes Porträt in Lebensgröße, das über dem Kamin hing, betrachtend.

»Was ist dies?« fragte der letzterwähnte Gentleman. »Herr Fish, wollen Sie nicht die Güte haben, sich darum zu kümmern?«

Herr Fish bat um Verzeihung, nahm Toby den Brief ab und überreichte ihn mit großer Ehrfurcht.

»Von Alderman Cute, Sir Joseph.«

»Ist dies alles? Habt Ihr sonst nichts, Austräger?« fragte Sir Joseph.

Toby antwortete verneinend.

»Habt Ihr keinen Wechsel, keine Forderung an mich, von welcher Seite her es auch sein mag?« sagte Sir Joseph. »Mein Name ist Bowley – Sir Joseph Bowley; wenn Ihr etwas habt, so gebt es her. Herr Fish hat ein Scheckbuch neben sich liegen. Ich lasse nichts ins neue Jahr hinübergehen. Jede Art Rechnung muß in diesem Haus am Schluß des alten beglichen werden, damit, wenn der Tod – wenn der Tod …«

»Mich wegraffen sollte,« ergänzte Herr Fish.

»Die Saite meines Daseins zerreißen sollte, Sir,« erwiderte Sir Joseph mit großer Strenge – »meine Angelegenheiten hoffentlich im Zustande der Vorbereitung gefunden werden.«

»Mein teurer Sir Joseph!« sagte die Dame, die viel jünger war als der Gentleman. »Wie entsetzlich!«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, der wie unter der ungeheuerlichen Tiefsinnigkeit seiner Bemerkungen hin und wieder stockte, »zu dieser Zeit des Jahres müssen wir an – an – uns selbst denken. Wir sollten Einsicht nehmen in – in unsre Rechnungen. Wir sollten fühlen, daß jede Wiederkehr einer so ereignisvollen Periode im menschlichen Leben Dinge mit sich führt – Dinge von tiefer Bedeutung zwischen dem Menschen und seinem – und seinem Bankier.«

Sir Joseph entledigte sich dieser Worte in einer Weise, als fühle er die volle Moralität derselben und wünsche, daß sogar Trotty Gelegenheit habe, sich an einem derartigen Gespräch zu erbauen. Vielleicht lag dies in seiner Absicht, weil er immer das Siegel des Briefes noch uneröffnet ließ und zu Trotty sagte, er solle noch eine Minute warten.

»Mylady, Sie wollten Herrn Fish schreiben lassen…«, bemerkte Sir Joseph.

»Herr Fish hat es, glaube ich, schon geschrieben,« versetzte die gnädige Frau, nach dem Brief hinsehend. »Aber auf mein Wort, Sir Joseph, ich glaube nicht, daß ich es zulassen kann. Es ist so kostspielig.«

»Was ist kostspielig?« fragte Sir Joseph.

»Dieser Wohltätigkeitsverein, mein Lieber. Sie gestatten nur zwei Stimmen für eine Unterzeichnung von fünf Pfund. Das ist in der Tat zu arg.«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, »Ihr setzt mich in Erstaunen. Steht der Hochgenuß des Gefühls im Verhältnis zu der Anzahl der Stimmen, oder steht er für eine edle Seele im Verhältnis zu der Anzahl der Bewerber und der ganzen Gesinnung, in die sie durch ihre Bewerbung versetzt werden? Liegt nicht Aufregung der reinsten Art in dem Umstand, unter fünfzig Personen über zwei Stimmen zu verfügen?«

»Ich gestehe, für mich nicht, denn man langweilt sich dabei,« entgegnete die gnädige Frau. »Außerdem kann man sich keine Freunde verbinden. Doch ich weiß ja, Ihr seid des armen Mannes Freund, Sir Joseph, und denkt anders.«

»Ich bin allerdings des armen Mannes Freund,« bemerkte Sir Joseph, nach dem anwesenden armen Mann hinblickend. »Als solchen mag man mich immerhin verhöhnen, wie man mich schon verhöhnt hat; ich verlange dennoch keinen ändern Titel!«

»Gott segne diesen edlen Gentleman!« dachte Trotty.

»Mit Cute da zum Beispiel bin ich nicht einverstanden,« sagte Sir Joseph, indem er den Brief ausstreckte. »Ebensowenig sagt mir Filers Partei zu. Ich will nichts von einer Partei wissen. Mein Freund, der arme Mann, hat nichts mit irgend etwas dieser Art zu schaffen, und solche Dinge gehen ihn auch durchaus nichts an. Mir liegt mein Freund, der arme Mann in meinem Distrikt, am Herzen, und kein Mensch und keine Parteigruppe, mögen ihrer auch noch so viele sein, haben ein Recht, sich zwischen mich und meinen Freund zu drängen. Dies ist das Feld, von dem ich nicht weiche. Ich stehe meinem Freunde in der – in der Eigenschaft eines Vaters gegenüber und sage zu ihm: »mein guter Bursche, ich will väterlich an dir handeln.«

Toby hörte mit großem Ernst zu – es wurde ihm nachgerade wohler zumute.

»Mein guter Freund,« fuhr Sir Joseph fort, indem er zerstreut nach Toby hinblickte, »du hast in diesem Leben nichts – ganz und gar nichts zu tun, als dich auf mich zu verlassen, und brauchst dich nicht zu bemühen, über irgend etwas nachzudenken. Ich will für dich denken, denn ich weiß, was gut für dich ist, und bin stets dein Vater. Dies ist die Fügung einer allweisen Vorsehung! Du bist nicht dazu geschaffen, um zu schlemmen, zu trinken und wie das Vieh deine Lust im Essen zu suchen« – Toby dachte mit Gewissensbissen an seine Kuttelflecke – »du sollst nur die Würde der Arbeit fühlen. Geh aufrecht hinaus in die erfrischende Morgenluft und – und bleibe daselbst. Lebe spärlich und mäßig, benimm dich respektvoll, übe dich in der Selbstverleugnung, erziehe deine Familie mit fast nichts, zahle deine Steuer so regelmäßig als die Uhr schlägt, sei pünktlich in deinem Verkehr – ich gebe dir darin ein gutes Beispiel, denn du wirst Herrn Fish, meinen Geheimschreiber, stets mit einer Geldtruhe vor sich sehen – und du kannst auf mich als auf deinen Freund und Vater bauen.«

»In der Tat, saubere Kinder, Sir Joseph,« sagte die Dame mit einem Schauder. »Rheumatismen, Fieber, verkrümmte Beine, Asthma und dergleichen Schrecken.«

»Mylady,« versetzte Sir Joseph mit Feierlichkeit, »nichtsdestoweniger bin ich des armen Mannes Freund und Vater. Nichtsdestoweniger soll er aus meinen Händen Ermutigung erhalten. An jedem Vierteljahrstag kann er sich mit Herrn Fish besprechen. An jedem Neujahrstag werde ich mit Freunden auf seine Gesundheit trinken. Einmal im Jahr werden ich selbst und meine Freunde tief empfundene Worte an ihn richten. Einmal in seinem Leben kann er vielleicht öffentlich und in Anwesenheit der Honoratiorenschaft sogar eine Kleinigkeit von einem Freund erhalten. Und wenn er, nicht mehr durch derartige Antriebe und durch die Würde der Arbeit aufrechtgehalten, in sein trostreiches Grab sinkt, dann, Mylady« – hier blies Sir Joseph seine Nase auf – »werde ich unter denselben Bedingungen ein Freund und Vater sein – seinen Kindern.«

Toby fühlte sich tief bewegt.

»O! Da habt Ihr auch eine dankbare Familie, Sir Joseph!« rief seine Gattin.

»Mylady,« versetzte Sir Joseph in majestätischem Ton, »Undank ist bekanntermaßen die Sünde dieser Klasse. Ich erwarte keinen andern Lohn.«

»Ah! schon als schlecht geboren!« dachte Toby. »Nichts kann unser verhärtetes Gemüt rühren.«

»Was ein Mensch tun kann, geschieht von meiner Seite aus,« fuhr Sir Joseph fort. »Ich erfülle meine Pflicht als des armen Mannes Freund und Vater und bemühe mich, seinen Geist zu bilden, indem ich ihm bei allen Gelegenheiten die eine große moralische Lehre, die diese Klasse braucht, ans Herz lege. Das heißt, unbedingte Abhängigkeit von mir. Sie haben durchaus nichts mit – mit sich selbst zu schaffen. Aber auch wenn gottlose und hinterlistige Personen sie eines andern belehren wollen – wenn sie ungeduldig und unzufrieden werden, sich eines unbotmäßigen Betragens und schwarzen Undanks schuldig machen, was ohne Zweifel der Fall sein wird, bleibe ich dennoch ihr Freund und Vater. Es ist so von der Vorsehung verordnet und liegt in der Natur der Dinge.«

Mit diesem großartigen Gefühl öffnete er den Brief des Alderman und las ihn.

»In der Tat sehr höflich und aufmerksam!« rief Sir Joseph. »Mylady, der Alderman ist so verbindlich, mich zu erinnern, daß er die ›ausgezeichnete Ehre‹ hatte – er ist sehr gütig – mich in dem Haus unsres gemeinschaftlichen Freundes, des Bankiers Deedles, zu treffen, und erweist mir die Gunst, anzufragen, ob es mir angenehm sei, wenn er Will Fern das Handwerk lege.«

»Höchst angenehm!« versetzte Lady Bowley. »Der Schlimmste von allen! Hoffentlich hat er einen Raub begangen.«

»Ei nein,« entgegnete Sir Joseph, in den Brief blickend. »Nicht ganz. Zwar nahe daran, aber nicht ganz. Es scheint, daß er nach London kam, um sich nach Arbeit umzusehen (sich zu verbessern, sagt er), und da wurde er denn nachts in einem Schuppen schlafend gefunden, in Haft genommen und am andern Morgen vor den Alderman gebracht. Der Alderman bemerkt (und zwar sehr richtig), daß er fest entschlossen sei, mit derartigen Vorkommnissen aufzuräumen, und wenn es mir angenehm sei, daß man es Will Fern endlich lege, so schätze er sich glücklich, mit ihm den Anfang zu machen.«

»Jedenfalls soll ein Exempel an ihm statuiert werden,« entgegnete die gnädige Frau. »Als ich letzten Winter unter den Männern und Knaben des Dorfes als eine hübsche Abendbeschäftigung das Spitzen und Öhren der Nadeln einführte und bei dieser Gelegenheit den Vers

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O laßt uns unsre Arbeit üben,
Den Squire und dessen Haus stets lieben,
Von unserm Tagsverdienste leben,
Uns unsres Stands nicht überheben

in Musik setzte, damit sie ihn dazu sängen, langte derselbige Fern – ich kann ihn noch sehen – an seinen Hut und sagten ›Bitt demütig um Verzeihung, Mylady, aber ist nicht doch noch ein Unterschied zwischen mir und einem großen Mädchen?‹ Natürlich erwartete ich dies, denn von dieser Klasse ist doch nichts als Unverschämtheit und Undank vorauszusehen. Doch warum sollte ich mich auch ereifern! Sir Joseph, laßt ein Exempel an ihm statuieren.«

»Hm!« hustete Sir Joseph. »Herr Fish, wollen Sie so gut sein, aufzumerken …«

Herr Fish ergriff augenblicklich seine Feder und schrieb, wie ihm Sir Joseph diktierte.

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»Privat.

Mein teurer Sir!

Ich bin Euch für Eure Höflichkeit in der Sache dieses William Fern, von dem ich leider nichts Günstiges sagen kann, sehr verpflichtet. Ich habe mich ihm gegenüber stets im Lichte eines Vaters und Freundes gesehen, bin aber (wie es leider nur zu gewöhnlich der Fall ist) mit Undank und beharrlicher Opposition gegen meine Pläne belohnt worden. Er ist ein unruhiger, rebellischer Geist. Sein Charakter duldet kein Erforschen. Nichts wird ihn dazu vermögen, glücklich zu sein, da er es doch so gut könnte. Unter diesen Umständen gestehe ich, daß Ihr meiner Ansicht nach der Gesellschaft einen Dienst leisten und ein heilsames Beispiel in einem Land geben würdet – wo, sowohl um derer willen, die im guten oder im bösen Ruf eines Vaters und Freundes der Armen stehen, als auch mit Rücksicht auf die irregeleitete Klasse selbst, Beispiele so nötig sind – wenn Ihr diesen Mann für einige Zeit als Vagabunden einsperren ließet, falls sich derselbe, wie er Euch in dem Verhör versprochen hat (und ich zweifle nicht, daß er Wort halten wird), wieder bei Euch einstellen sollte. Ich verbleibe« usw.

»Es kommt mir vor,« bemerkte Sir Joseph, als er diesen Brief unterzeichnet hatte und Herr Fish ihn eben versiegelte, »als ob dies wahrhaftig eine Verordnung der Vorsehung sei. Am Schluß des Jahres kann ich sogar mit William Fern meine Rechnung begleichen und meine Bilanz aufstellen.«

Trotty, dem der Mut schon längst wieder ganz und gar entsunken war, trat jetzt mit einer Jammermiene vor, um den Brief in Empfang zu nehmen.

»Mit meinem Kompliment und meinem Danke,« sagte Herr Joseph. »Halt!«

»Halt!« wiederholte Fish.

»Ihr habt vielleicht gewisse Bemerkungen gehört,« fuhr Sir Joseph orakelhaft fort, »zu denen ich mich durch den feierlichen Zeitpunkt, an dem wir angelangt sind, und durch die gebieterische Pflicht, in einem solchen Augenblick alle häuslichen Angelegenheiten zu ordnen, verleiten ließ. Ihr habt bemerkt, daß ich mich nicht hinter meine hohe Stellung in der Gesellschaft verschanze, sondern daß Herr Fish – dieser Gentleman da – ein Scheckbuch neben sich liegen hat und nur dazu hier ist, um mich in den Stand zu setzen, ein vollkommen neues Blatt aufzuschlagen, damit die neue Epoche mit einem vollkommen reinen Buche angetreten werden kann. Nun, mein Freund, seid Ihr gleichfalls imstande, Eure Hand aufs Herz zu legen und zu sagen, daß Ihr Eure Vorbereitungen für ein neues Jahr getroffen habt?«

»Ich fürchte, Sir,« stammelte Trotty, ihn demütig anblickend, »daß ich mit der Welt ein – ein – wenig im Rückstand bin.«

»Im Rückstand mit der Welt?« wiederholte Sir Joseph Bowley in einem Ton von erschreckender Deutlichkeit.

»Ich fürchte, Sir,« stotterte Trotty, »daß da noch zehn oder zwölf Schilling sind, die ich Frau Chickenstalker schuldig bin.«

»Frau Chickenstalker schuldig?« wiederholte Sir Joseph in demselben Ton wie zuvor.

»Sie hält einen Laden, in dem alles zu haben ist,« entgegnete Toby. »Auch ein – ein wenig fehlt noch an der Hausmiete. Nur sehr wenig, Sir. Ich weiß, wir sollten nichts schuldig sein, aber es ist uns wahrhaftig recht schlimm ergangen.«

Sir Joseph musterte zweimal seine Gattin, Herrn Fish und Trotty im Kreis, worauf er mit beiden Händen eine trostlose Gebärde machte, als gebe er die Sache ganz und gar auf.

»Wie kann ein Mann, sogar einer aus dieser unbekümmerten und unpraktischen Rasse – ein alter Mann, ein grauer Mann, einem neuen Jahre ins Gesicht sehen, während seine Angelegenheiten sich in einem solchen Zustand beenden! Wie kann er sich nachts zu Bett legen und am Morgen wieder aufstehen, während – da!« fügte er bei, indem er Trotty den Rücken zuwandte – »nehmt den Brief, nehmt den Brief!«

»Wollte Gott, es wäre anders, Sir,« sagte Trotty, der sich sehnlichst zu entschuldigen wünschte. »Aber wir sind bitter heimgesucht worden.«

Da Sir Joseph noch immer sein »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!« wiederholte, und Herr Fish nicht nur das gleiche sagte, sondern auch der Aufforderung dadurch einen weitern Nachdruck gab, daß er gegen die Tür wies, blieb dem armen Trotty nichts übrig, als daß er seine Verbeugung machte und das Haus verließ. Auf der Straße angelangt, zog er seinen alten, abgenützten Hut ins Gesicht, um den Schmerz zu verbergen, den er darüber fühlte, daß er nirgends dem Neujahr einen Halt abgewinnen konnte.

Er hob seine Kopfbedeckung nicht einmal, um an dem Glockenturm hinaufblicken zu können, als er auf dem Rückweg an der alten Kirche vorbeikam. Für einen Augenblick blieb er gewohnheitshalber stehen. Er wußte, daß es dunkel wurde und der Kirchturm schwach und undeutlich über ihm in die trübe Luft stieg; auch wußte er, daß die Glocken alsbald erschallen würden, und daß sie zu einer solchen Zeit wie Stimmen aus den Wolken in seine Ohren zu tönen pflegten. Aber er beeilte sich nur um so mehr, den Brief an den Alderman abzuliefern und ihnen aus dem Wege zu kommen, ehe sie anfingen, denn er fürchtete, in ihrem Bimmeln nichts andres als den ewigen Refrain »Freunde und Väter, Freunde und Väter« zu hören.

Toby sputete sich daher nach Kräften, seinen Auftrag auszurichten, und trabte dann nach Hause. Sein Gang war aber im besten Fall linkisch und wurde durch den tief ins Gesicht gedrückten Hut nicht verbessert, weshalb er nach kurzer Zeit gegen jemand anprallte, der ihn taumelnd auf den Fahrweg hinausschleuderte.

»Ich bitte um Verzeihung !« sagte Trotty, in großer Verwirrung seinen Hut in die Höhe ziehend, dessen zerrissenes Futter aber auf der Stirn sitzen blieb, so daß sein Kopf wie in einem Bienenkorb steckte. »Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Toby war kein so absoluter Samson, daß er möglicherweise irgend jemand hatte beschädigen können; dagegen lag die Wahrscheinlichkeit weit näher, daß er selbst Schaden genommen hatte, denn er war wie ein Feuerball auf die Straße hinausgeflogen. Dennoch hatte er eine so hohe Meinung von seiner eignen Kraft, daß er um den andern wirklich besorgt war und noch einmal fragte:

»Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Der Mann, gegen den er angerannt war, ein sonnverbrannter, muskulöser Bauer mit grauen Haaren und rauhem Kinn, stierte ihn einen Augenblick an, als glaube er, Toby wolle sich mit ihm einen Scherz erlauben. Sobald er jedoch dessen ehrliche Miene gesehen hatte, antwortete er:

»Nein, mein Freund, Ihr habt mich nicht verletzt.«

»Und auch das Kind nicht?« fragte Trotty.

»Auch das Kind nicht,« erwiderte der Mann. »Ich danke Euch sehr.«

Bei diesen Worten blickte er auf das kleine Mädchen, das er schlafend in seinen Armen trug, beschattete ihr Gesicht mit dem langen Ende seines zerrissenen Halstuches und ging langsam weiter.

Der Ton, in dem er sagte: »Ich danke Euch sehr,« drang in Tobys Herz. Der Mann war so ermattet, von der Wanderung beschmutzt und sah so seltsam und betrübt umher, daß es ihm wohl ein Trost sein mußte, jemand danken zu können, für wie wenig es auch sein mochte. Toby blieb stehen und schaute ihm nach, wie er mit wunden Füßen weiter ging, während das Kind den Arm um seinen Hals geschlungen hatte.

Trotty hatte nur noch Augen für die Gestalt in den abgenutzten Schuhen – jetzt nur noch die Schatten und Gespenster einer Fußbekleidung – in den rauhen Lederhosen, dem Zwilchkittel und dem breitkrempigen Hute, wie sie, das an ihren Hals sich anklammernde Kind auf ihrem Arm, dahinglitt. Ehe der Wanderer in der Dunkelheit verschwand, machte er halt und blickte umher. Als er Trotty noch dastehen sah, schien er unschlüssig zu sein, ob er weitergehen oder umkehren sollte. Nachdem er zuerst das eine, dann das andre getan hatte, kam er wieder zurück, und Trotty ging ihm auf halbem Weg entgegen.

»Könnt Ihr mir vielleicht sagen,« begann der Mann mit einem matten Lächeln, »wo Alderman Cute wohnt? Wenn Ihrs wißt, werdet Ihr mir gewiß Auskunft geben. Ich frage lieber Euch, als irgend jemand andern.«

»Ganz in der Nähe,« versetzte Toby. »Ich will Euch mit Freuden sein Haus zeigen.«

»Ich sollte morgen an einem andern Ort mit ihm zusammentreffen,« sagte der Mann, neben Toby hergehend, »aber man hat einen Argwohn auf mich, und ich möchte mich von ihm reinigen, damit ich frei ausgehen und mein Brot suchen kann, obschon ich nicht weiß, wo ichs zu finden habe. Er wird mir daher wohl vergeben, wenn ich heute abend in sein Haus komme.«

»Wie – nein, unmöglich!« rief Toby zusammenfahrend. »Ihr werdet doch nicht Fern heißen?«

»He?« entgegnete der andre, sich erstaunt gegen den Dienstmann umwendend.

»Fern? Will Fern?« sagte Trotty.

»Das ist mein Name,« versetzte der Mann.

»Dann, ums Himmels willen, geht nicht zu ihm!« rief Trotty, ihn am Arm fassend und vorsichtig umherblickend. »Geht nicht zu ihm! Er wird Euch hopp nehmen, so wahr Ihr geboren seid. Da – kommt in dieses Gäßchen herauf; ich will Euch dann sagen, was ich meine. Aber zu ihm müßt Ihr nicht gehen.«

Der Mann sah Toby an, als halte er ihn für toll, folgte ihm aber demungeachtet. Sobald sie sich aller Beobachtung entzogen hatten, teilte ihm Trotty alles mit, was er im Hause des Sir Joseph Bowley über ihn vernommen und was man über seinen Charakter gesagt hatte.

Der Fremde hörte mit einer Ruhe zu, die unsern armen Trotty in Erstaunen setzte. Er widersprach auch nicht ein einziges Mal, sondern nickte nur hin und wieder, mehr wie zur Bekräftigung einer alten Alltagsgeschichte, wie es schien, als in der Absicht, sie von sich abzuweisen. Ein- oder zweimal schob er seinen Hut zurück und fuhr mit der sommersprossigen Hand über eine Stirn, wo jede Furche, die er gepflügt hatte, ihr Bild im kleinen abgedrückt zu haben schien. Doch dies war alles.

»Es ist in der Hauptsache wahr genug,« sagte er. »Ich könnte zwar da und dort den Weizen von der Spreu sichten – aber lassen wirs lieber. Wozu auch? Ich habe gegen seine Pläne gehandelt, und das ist mein Unglück, obschon ich nicht anders konnte und es morgen wieder ebenso machen würde. Was den Charakter betrifft, so spähen und spähen diese vornehmen Leute und wollen ihn frei von allem Makel haben, ehe sie uns mit einem dürren, guten Worte aushelfen! Na, ich hoffe, daß sie ihren guten Leumund nicht so leicht verlieren als wir, denn ihr Leben wäre dann schlimm genug, und es verlohnte sich kaum der Mühe, es zu erhalten. Was mich betrifft, Herr, so hat diese Hand« – er streckte sie vor sich aus – »nie etwas angetastet, das nicht mein Eigentum war, und ist nie zurückgeschreckt vor der Arbeit, wie schwer sie auch und wie ärmlich der Lohn sein mochte. Wer dies leugnen kann, der soll sie mir abhacken. Aber wenn mich die Arbeit nicht wie ein menschliches Geschöpf erhält – wenn ich so schlecht leben muß, daß ich in und außer dem Haus hungere – wenn ich sehe, daß ein ganzes Leben voll Tätigkeit so beginnt, so fortmacht und so endet, ohne eine Aussicht auf einen Wechsel, dann sage ich zu dem vornehmen Volk: ›Haltet euch fern von mir und laßt meine Hütte ungeschoren! Meine Türen sind dunkel genug, ohne daß noch euer Schatten dazu kommt. Von mir dürft ihr nicht verlangen, daß ich in dem Park die Schaustellung vermehren helfe, wenns da einen Geburtstag, eine schöne Rede oder weiß der Himmel was gibt. Führt eure Komödien ohne mich auf, und mögen sie euch wohl bekommen. Wir haben nichts miteinander zu schaffen, und ’s ist am besten, wenn man mich gehen läßt!‹«

Da er bemerkte, daß das Kind in seinen Armen jetzt die Augen geöffnet hatte und verwundert umhersah, hielt er inne, plauderte ein bißchen in seinem Kinderkauderwelsch mit ihm und stellte es neben sich auf die Erde. Dann wand er sich langsam eine der langen Locken des Mädchens wie einen Ring um den Finger, und während die Kleine sich an sein staubiges Bein anklammerte, sagte er zu Trotty.

»Ich bin, glaub ich, nicht von Natur aus widerhaarig und lasse mich leicht zufriedenstellen. Auch trage ich niemand einen Groll nach und wünsche nur zu leben, wie die andern Geschöpfe Gottes. Das kann ich nicht – das tu ich nicht, und so liegt denn eine tiefe Kluft zwischen mir und denen, die es können und tun. Es gibt noch viele, denen es geradeso ergeht wie mir, und Ihr könnt sie eher zu Hunderten und Tausenden abzählen als zu Einern.«

Trotty wußte, daß der Mann hierin die Wahrheit sprach, und nickte zustimmend.

»Ich habe dadurch einen schlimmen Namen erhalten«, sagte Fern, »und fürchte, daß ich wahrscheinlich nie zu einem bessern kommen werde. Es ist gesetzwidrig, unmutig zu sein, und ich bin wirklich unmutig, obgleich Gott weiß, daß ich weit lieber frohgemut wäre, wenn ichs sein könnte. Nun, ich weiß nicht, ob dieser Alderman mir weh tun könnte, wenn er mich ins Gefängnis schickte; aber falls nicht ein Freund ein Wort für mich spräche, so wär ers wohl imstande, und Ihr seht…!«

Er deutete mit dem Finger auf das Kind.

»Sie hat ein schönes Gesicht,« sagte Trotty.

»Ei ja!« entgegnete der Mann mit gedämpfter Stimme, indem er das kleine Gesichtchen mit beiden Händen sanft zu sich emporrichtete und es unverwandt anschaute, »Das habe ich mir schon oft gedacht. Daran dachte ich, wenn mein Herd sehr kalt und mein Schrank leer war. Daran dachte ich erst gestern nacht, als wir wie zwei Diebe aufgegriffen wurden. Aber sie – sie sollten das kleine Gesicht nicht zu oft vor Gericht bringen – meinst nicht, Lilian? Das ist kaum einem Mann erwünscht!«

Er dämpfte feine Stimme fast bis zur Lautlosigkeit und starrte das Kind so seltsam und ernst an, daß Toby, um seinen Gedanken eine andre Richtung zu geben, die Frage stellte, ob sein Weib noch am Leben sei.

»Ich habe nie ein Weib gehabt,« entgegnete er mit Kopfschütteln. »Sie ist meines Bruders Kind – eine Waise – neun Jahre alt, obschon Ihrs kaum glauben würdet; aber sie ist jetzt müde und abgezehrt. Die Union wollte die Sorge für sie übernehmen und sie achtundzwanzig Meilen von dem Orte, wo wir wohnen, zwischen vier Wände einsperren, wie sie‹s auch meinem alten Vater machten, als er nicht mehr arbeiten konnte, obschon er ihnen nicht lange lästig fiel. Da hab denn ich sie zu mir genommen, und sie lebt bei mir. Ihre Mutter hatte einmal eine Freundin hier in London. Wir wollen versuchen, ob wir sie nicht entdecken und zugleich Arbeit finden können; aber ’s ist ein großer Platz. Nun ja, ’s ist auch recht – wir haben dafür um so mehr Raum umherzugehen, Lilly!«

Er sah das Kind mit einem Lächeln an, das Toby mehr als zu Tränen rührte, und drückte dann dem armen Austräger die Hand.

»Ich kenne Euch zwar nicht einmal dem Namen nach,« sagte er, »aber ich habe Euch mein Herz ausgeschüttet, denn ich bin Euch dankbar – und zwar aus gutem Grund. Ich will Euern Rat befolgen und mich fern halten von diesem …«

»Friedensrichter,« ergänzte Toby.

»Ah!« fuhr er fort; »wenn dies der Name ist, den man ihm gibt. Von diesem Friedensrichter. Und morgen will ich versuchen, ob mir nicht irgendwo in der Nähe von London ein besseres Glück blüht. Gute Nacht. Ein glückliches Neujahr!«

»Halt!« rief Trotty, die Hand des andern fest umklammernd, als sie sich losmachen wollte. »Halt! das Neujahr kann nicht glücklich für mich sein, wenn wir uns so trennen. Wie könnte ich auch von einem glücklichen Neujahr sprechen, wenn ich mit ansehen müßte, wie Ihr mit dem Kind weiter zieht, ohne zu wissen, wohin, und ohne ein Obdach für die Nacht. Kommt mit mir nach Hause! Ich bin zwar nur ein armer Mann und habe bloß ein elendes Quartier; aber ich kann Euch doch für eine Nacht ein Lager geben, ohne es zu entbehren. Kommt mit mir! So, ich will sie nehmen!« fügte Trotty bei, indem er das Kind aufhob. »Eine hübsche Kleine! Ich wollte mir zwanzigfach ihr Gewicht aufladen lassen, ohne daß ich es besonders spürte. Sagt mir, ob ich vielleicht zu schnell für Euch gehe – ’s ist meine Gewohnheit zu eilen!«

Während Trotty dies sagte, mußte er stets sechs von seinen kurzen Trabschritten während eines einzigen langen seines müden Gefährten hopsen; und seine dünnen Beine zitterten unter der Last, die er trug.

»Ei, sie ist so leicht,« sagte Trotty, dessen Worte ebenso rasch und stoßweise kamen, wie sein Schritt war, denn er wollte auf keine Danksagung hören und scheute sich, eine Pause eintreten zu lassen; »so leicht wie eine Feder, leichter als eine Pfauenfeder – viel leichter. So, da sind wir – jetzt geht’s da hinein, um die erste Ecke rechts, Onkel Will, an dem Brunnen vorbei und dann den Weg hinauf, dem Wirtshaus gegenüber. Jetzt über den Weg hinüber, Onkel Will, und dort auf den Nierenpastetenmann an der Ecke zu! Da wären wir! Nun an den Ställen hinunter, Onkel Will, und dann macht Ihr an der schwarzen Tür halt, über der ›Toby Veck, Dienstmann‹ auf einem Brett geschrieben steht. So, und jetzt sind wir da, jetzt sind wir wirklich da, und jetzt wirst du dich wundern, liebe Meg!«

Mit diesen Worten setzte der atemlose Trotty das Kind unten in der Stube zu den Füßen seiner Tochter nieder. Der kleine Gast sah Meg an und lief, da er in ihrem Gesicht nichts zweifelerregendes fand, vertrauensvoll in ihre Arme.

»So, da sind wir und da bleiben wir!« rief Toby, keuchend im Zimmer umherlaufend. »Hier, Onkel Will – Ihr seht, hier ist ein Feuer! Warum kommt Ihr nicht ans Feuer? Ha, da sind wir und da bleiben wir! Meg, mein Herz, wo ist der Kessel? So – er wird augenblicklich kochen!«

Trotty hatte wirklich während seines wilden Hin- und Herrennens den Kessel aufzuheben gewußt und über das Feuer gesetzt, während Meg in einer warmen Ecke vor dem Kind niedergekniet war, um ihm die Schuhe auszuziehen und mit einem Tuch die nassen Füßchen zu trocknen. Ja, und sie lachte auch über Trotty – so vergnügt, so herzlich, daß Trotty sie augenblicklich hätte segnen mögen, denn er hatte ja beim Eintreten gesehen, wie sie in Tränen vor dem Feuer saß.

»Ei, Vater,« sagte Meg, »du bist, glaube ich, diesen Abend ganz närrisch. Ich weiß nicht, was die Glocken dazu sagen würden. Die armen Füßchen – wie kalt sie sind!«

»O, sie sind jetzt wärmer!« rief das Kind. »Sie sind jetzt ganz warm!«

»Nein, nein, nein,« sagte Meg. »Wir haben sie noch nicht halb genug gerieben. Wir sind ja so fleißig! So fleißig! Und wenn sie ganz warm sind, dann wollen wir das feuchte Haar auskämmen. Sind wir damit fertig, so wollen wir mit ein bißchen frischem Wasser einige Farbe in das arme blasse Gesicht bringen, und dann wollen wir so froh, so heiter und glücklich sein!«

Das Kind umschlang in einem Anfall von Schluchzen ihren Hals, streichelte mit seinen Händchen ihre Wange und sagte:

»O Meg! o liebe Meg!«

Tobys Segen hätte nicht mehr tun können. Wer wäre auch imstande gewesen, mehr zu tun?

»Ei, Vater!« rief Meg nach einer Pause.

»Da bin ich und da steh ich, mein Lieb!« sagte Trotty.

»Gütiger Himmel!« rief Meg, »er ist ganz von Sinnen! Setzt er da das Hütlein des lieben Kindes auf den Kessel und hängt den Deckel hinter die Tür!«

»Ich habe dies nicht mit Absicht getan, mein Lieb,« entgegnete Trotty, indem er hastig sein Versehen wieder gutmachte. »Meg, mein Kind?«

Meg blickte nach ihm hin und sah, daß er sich mit Vorbedacht hinter den Stuhl seines männlichen Gastes gestellt hatte, wo er mit vielen geheimnisvollen Gebärden das Sechspencestück, das er eingenommen, in die Höhe hielt.

»Als ich hereinkam,« sagte Trotty, »habe ich irgendwo auf der Treppe eine halbe Unze Tee liegen sehen; auch glaube ich wahrhaftig, daß ein Stückchen Speck dabei lag. Ich entsinne mich nicht mehr recht auf den Platz, will aber hingehen und sehen, ob ich’s nicht finde.«

Unter diesem unergründlich scharfsinnigen Vorwande entfernte sich Toby, um die besprochenen Lebensmittel für bares Geld bei Frau Chickenstalker zu kaufen. Er kam bald wieder zurück und sagte, er habe die Sachen anfangs in der Dunkelheit nicht finden können.

»Aber da sind sie endlich,« sagte Trotty, das Teegeschirr aufsetzend – »alles richtig! Ich wußte es ja, daß es Tee und eine schöne Schnitte war. Da, seht selbst. Meg, mein Herzchen, wenn du den Tee zurichten willst, während dein unwürdiger Vater den Speck röstet, so wird alles bald fertig fein. Es ist eine kuriose Sache,« fuhr Trotty fort, indem er mit Hilfe der Röstgabel seine Kochkunst betrieb, »kurios, aber allen meinen Freunden wohlbekannt, daß ich für meine Person mir niemals weder aus Tee noch aus Speck etwas machte. Ich sehe es nur gern, wenn andre Leute sich’s dabei wohl sein lassen,« Sagte er in sehr lautem Tone, um seinem Gast die Tatsache recht bemerklich zu machen, »obschon diese Nahrung mir selbst durchaus nicht behagt.«

Doch schnüffelte Trotty den Wohlgeruch des zischenden Specks ein – ah! – als ob er mit Freuden selbst hätte zulangen mögen, und als er das kochende Wasser in den Teetopf goß, blickte er sehnsüchtig in dessen Tiefe hinunter und ließ sich gern den würzigen Dampf um die Nase kräuseln und den Kopf von einer dichten Wolke bekränzen. Aber trotzdem genoß er nichts weiter davon, als im Anfang der Höflichkeit halber einen einzigen Bissen, der ihm ungemein gut zu schmecken schien, obschon er erklärte, daß er sich nicht das mindeste daraus mache.

Nein, Trottys Beschäftigung bestand darin, Will Fern und Lilian essen und trinken zu sehen, und das gleiche war bei Meg der Fall. Und nie fand ein Zuschauer bei einem Stadt- oder Hofbankett einen solchen Hochgenuß darin, andre – ja, wäre es sogar ein König oder ein Papst gewesen – schmausen zu sehen, als unser Pärlein an jenem Abend. Meg lächelte zu Trotty hinüber, Trotty lachte Meg an. Meg nickte und tat, als klatsche sie mit den Händen, um Trotty ihren Beifall zu erkennen zu geben, während Trotty in stummer Zeichensprache Meg eine unverständliche Geschichte erzählte, wann und wo er seine Gäste gefunden hatte. Und sie waren glücklich – sehr glücklich.

»Obgleich ich sehen muß, daß Megs Verlobung gelöst ist,« dachte Trotty bekümmert, als er Megs Gesicht betrachtete.

»Nun, jetzt werde ich Euch was sagen,« begann Trotty nach dem Tee. »Die Kleine schläft bei Meg.«

»Bei der guten Meg!« rief das Kind, sie liebkosend. »Bei Meg.«

»So ist’s recht,« sagte Trotty. »Und es sollte mich nicht wundern, wenn sie Megs Vater einen Kuß gäbe. Was meinst du, Kind? Ich bin Megs Vater.«

Trotty war hochentzückt, als sich ihm das Kind schüchtern näherte, ihn küßte und dann wieder zu Meg zurückkehrte.

»Sie ist so verständig wie Salomo,« sagte Trotty. »Da kommen und da gehen – nein, das meinte ich nicht – ich – was wollte ich denn sagen, meine liebe Meg?«

Meg blickte auf ihren Gast, der sich an ihren Stuhl gelehnt hatte und, während er das Gesicht von ihr abwandte, den in ihrem Schoß verborgenen Kopf der Kleinen streichelte.

»Natürlich,« sagte Toby. »Natürlich! Weiß ich doch wahrhaftig nicht, was ich heute abend treibe. Ich bin heute ganz zerstreut, glaube ich. Will Fern, Ihr kommt mit mir, denn Ihr seid todmüde und völlig erschöpft, weil Ihr so lange nicht geruht habt. Kommt mit mir.«

Der Mann spielte noch immer mit den Locken des Kindes, lehnte noch immer mit abgewandtem Gesicht an Megs Stuhl. Er sprach kein Wort , aber in seinen rauhen Fingern , die sich im Haar des Kindes ballten und wieder lösten, lag eine Beredsamkeit, die mehr als alle Worte sagte.

»Ja, ja,« fuhr Trotty fort, der unwillkürlich die Frage beantwortete, die auf Megs Gesicht stand. »Nimm sie mit dir, Meg. Bring sie zu Bett. So! jetzt will ich Euch zeigen, wo Ihr liegen könnt, Will. ’s ist zwar nicht viel Platz, sondern nur Heuboden; aber ein Heuboden ist, wie ich immer sage, die größte Bequemlichkeit, wenn man in Ställen wohnt; und bis dieser Schuppen und der Stall besser vermietet werden, leben wir hier sehr billig. Droben ist viel vortreffliches Heu, das einem Nachbar gehört und ein so reinliches Lager bietet, als es Hände und Meg nur machen können. Frischauf! laßt’s Euch nicht nahe gehen. Für jedes neue Jahr ein neues Herz!«

Die Hand, die sich aus dem Haar des Kindes losgemacht hatte, war zitternd in die unsers Toby gefallen, und letzterer führte nun seinen Gast, in einem fort sprechend, so zärtlich hinaus, als wäre dieser gleichfalls ein Kind.

Da er vor Meg wieder zurückkam, so horchte er einen Augenblick an der Tür ihrer an die Stube stoßenden kleinen Kammer. Die Kleine murmelte ein einfaches Nachtgebet , mit dem sie auch den Namen der »lieben Meg« in Verbindung brachte – dann hörte Trotty, wie sie innehielt und nach dem seinigen fragte.

Es dauerte eine kleine Weile, bis der törichte alte Knabe sich so weit fassen konnte, um das Feuer nachzuschüren und seinen Stuhl an den warmen Herd zu ziehen. Als es aber endlich geschehen war und er das Licht geputzt hatte, nahm er seine Zeitung auf der Tasche und begann zu lesen, anfangs gleichgültig, indem er rasch über die Spalten hinflog, sehr bald aber mit großem Ernst und trauriger Aufmerksamkeit.

Denn diese schreckliche Zeitung lenkte Trottys Gedanken abermals auf den nämlichen Pfad, auf dem sie den ganzen Tag über, namentlich infolge der erlebten Ereignisse, gewandert waren. Sein Interesse an den beiden Wanderern hatte ihn zwar für eine Weile in eine glücklichere Stimmung versetzt; sobald er aber wieder allein war und die Verbrechen und Gewalttaten der Leute las, versank er wieder in die frühere zurück.

Endlich kam er zu einem Bericht (und es war nicht der erste derartige, den er las) von einer Frau, die verzweiflungsvoll Hand nicht nur an ihr eignes Leben, sondern auch an das ihres jungen Kindes gelegt hatte. Dieses schreckliche Verbrechen wirkte so empörend auf ihn, daß er, als er dabei an Megs Liebe dachte, das Zeitungsblatt fallen ließ und entsetzt in seinen Stuhl zurücksank.

»Unnatürlich und grausam!« rief Toby. »Unnatürlich und grausam! Nur Leute von ganz verstocktem Herren, die schon schlecht geboren werden und auf Erden eigentlich nichts zu schaffen haben, können solche Taten verüben. Was ich heute den Tag über gehört habe, ist nur zu wahr, nur zu erwiesen. Wir sind schlecht!«

Die Glocken nahmen die Worte so plötzlich auf und ertönten so laut, so klar und voll, daß er meinte, ihre Stimme dringe aus seinem Stuhl hervor.

Und was sagten sie?

»Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Komm, besuch uns; komm, besuch uns! – Schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns – hetzt und jagt ihn, hetzt und jagt ihn! Soll nicht schlafen! Soll nicht schlafen! Toby Veck, Toby Veck, die Tür steht offen, Toby – dann begannen sie diesen Gesang wieder von vorn und klangen dermaßen, daß die Töne sogar aus den Ziegeln und dem Mörtel hervorzuquellen schienen.

Toby lauschte. Einbildung, Einbildung! Das waren wohl nur die Gewissensbisse, weil er ihnen diesen Abend entlaufen war? Nein, nein. Nichts der Art. Aber wieder und wieder, ja noch dutzendmal erklang es: »Hetzt und jagt ihn – schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns!« die ganze Stadt betäubend.

»Meg,« sagte Trotty leise, indem er an ihre Tür klopfte. »Hörst du nichts?«

»Ich höre die Glocken, Vater. Sie sind heute abend sehr laut.«

»Schläft sie?« fuhr Toby fort, diese Frage als Vorwand benutzend, um hineinschauen zu können.

»So ruhig und glücklich! Aber ich kann sie noch nicht verlassen, Vater – schau nur, wie sie meine Hand festhält!«

»Meg!« flüsterte Trotty. »Höre nur auf die Glocken!«

Sie kehrte ihrem Vater das Gesicht zu und lauschte; aber in ihren Zügen ließ sich keine Veränderung bemerken, da sie die Glockenstimmen nicht verstand.

Trotty entfernte sich, nahm wieder bei dem Feuer Platz und lauschte abermals allein. So verblieb er eine Weile.

Aber nein, unmöglich konnte er es länger ertragen; denn ihre Ausdruckskraft war zu schrecklich.

»Wenn die Turmtür wirklich offen ist,« sagte Toby, indem er hastig seine Schürze beiseite legte, ohne jedoch an Seinen Hut zu denken, »was hindert mich dann, hinaufzugehen und mich zu überzeugen? Ist sie aber geschlossen, so brauche ich keinen weitern Beweis mehr. Dann ists genug.«

Er glitt ruhig auf die Straße hinaus, fest überzeugt, daß er die Turmtür geschlossen und verriegelt finden werde; denn er kannte die Tür wohl und hatte sie selten, vielleicht in seinem ganzen Leben nicht mehr als dreimal, offen stehen sehen. Es war ein niederes Bogenportal außerhalb der Kirche, das in einer dunkeln Nische hinter einer Säule stand, und hatte so schwere Eisenbeschläge und ein so ungeheures Schloß, daß von der Tür fast nichts zu sehen war.

Aber wie groß war sein Erstaunen, als er barhäuptig zu der Kirche kam, mit der Hand in die dunkle Nische tastete – wiewohl er gute Lust hatte, sie schaudernd wieder zurückzuziehen, weil er fürchtete, sie möchte unerwartet gepackt werden – und nun bemerkte, daß die Tür, die nach außen aufging, wirklich halb offen stand!

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In der ersten Überraschung wollte er wieder zurückgehen oder doch ein Licht oder einen Begleiter holen; sein Mut kam ihm jedoch bald zu Hilfe, und er beschloß, allein hinaufzusteigen.

»Was habe ich zu fürchtend fragte Trotty. »Es ist eine Kirche! Außerdem sind vielleicht noch die Läuter da und haben vergessen, die Tür zu schließen.«

Er ging daher hinein und tastete sich weiter wie ein blinder Mann, denn es war sehr dunkel – dazu herrschte tiefe Stille, denn die Glocken ließen keinen Laut mehr vernehmen.

Der Straßenstaub war überallhin gedrungen und lag so dicht aufgehäuft, daß der Fuß wie auf weichen Samt trat. Auch hierin lag etwas Befremdliches. Ungleich befand sich die enge Treppe so nahe an der Tür, daß er auf der ersten Stufe strauchelte. Dadurch stieß er mit dem Fuß an die Tür, daß sie anprallte und schwerfällig in ihr Schloß zurückflog, und als er sie wieder zu öffnen versuchte, war all seine Bemühung vergeblich.

Dies war jedoch nur ein Grund mehr, weiter zu gehen. Trotty tastete sich vorwärts – hinauf, hinauf, hinauf – stets kreisend hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher und höher hinauf!

Fürs Tasten war es ein sehr unangenehmes Treppenhaus , so niedrig und so schmal, daß die untersuchende Hand stets etwas berührte. Ja, es dünkte ihn oft, als stehe ein Mensch oder eine gespenstige Gestalt aufrecht da und mache Platz für ihn, damit sie unentdeckt an ihm vorbeigleiten könne. Dabei strich er mit der Hand an der glatten Mauer aufwärts, um deren Gesicht, und abwärts, um deren Füße zu suchen, während zugleich ein eisiger Schauer seinen Körper durchrieselte. Zwei- oder dreimal unterbrach eine Tür oder eine Nische die einförmige Oberfläche, und dann kam es ihm vor, als sei eine Öffnung da, so weit wie die ganze Kirche. Er meinte bei solcher Gelegenheit am Rand eines Abgrundes zu stehen, in den er kopfüber hinunterstürzen müsse, bis er die Mauer wieder gefunden hatte.

Dennoch ging es hinauf, hinauf, hinauf – im Kreis hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich begann die dumpfe, erstickende Atmosphäre frischer zu werden. Der Wind strömte durch und blies bald so stark, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Aber er gelangte an ein gewölbtes, brusthohes Fenster in dem Turm, hielt sich an demselben fest und schaute hinunter auf die Hausgiebel, die rauchenden Schornsteine und das Gewirr von Lichtern (in die Richtung, wo Meg sich jetzt vielleicht über seine Abwesenheit wunderte und nach ihm rief) – alles zu einer Teigmasse von Nebel und Dunkelheit zusammengeknetet.

Dies war der Teil des Glockenhauses, zu dem die Läuter kamen.

Er hatte eines der abgeriebenen Seile gefaßt, die durch Öffnungen in dem Eichendach niederhingen. Anfangs fuhr er zusammen, denn es kam ihm vor, als hätte er Haare ergriffen, dann aber zitterte er schon bei dem Gedanken, die tiefe Glocke zu wecken. Die Glocken selbst hingen höher, und auch Trotty tastete sich höher hinauf, dem Räuber folgend, der ihn lockte. Der Weg wurde jetzt mühsamer und führte auf steilen Leitern weiter, die dem Fuß keinen allzu sichern Halt boten.

Hinauf, hinauf, hinauf geht es, klimmend und kletternd; hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich kam er auf den obern Boden und gelangte, wie er den Kopf über das Gebälk erhob, unter die Glocken. Kaum vermochte er die großen Formen im Dunkel zu unterscheiden; aber da waren sie – schattenhaft, stumm und nachtumhüllt.

Ein banges Gefühl von Furcht und Einsamkeit bemächtigte sich seiner augenblicklich , als er in dieses luftige Nest von Stein und Metall hineinkletterte. Sein Kopf schwindelte – er lauschte und erhob dann seine Stimme zu einem wilden: »Hallo!«

»Hallo!« schalle kläglich das gedehnte Echo nach.

Wirr, schwindlig, erschreckt und atemlos stierte Toby um sich her und brach dann ohnmächtig zusammen.

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Das dritte Viertel

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Schwarz sind die brütenden Wolken und aufgerührt die tiefen Grundwasser, wenn das Meer der Gedanken nach einer Windstille zu rollen beginnt und seine Toten herausgibt. Wilde, gräßliche Ungeheuer erheben sich in voreiliger, unvollkommener Auferstehung; die Teile und Gestalten verschiedener Dinge mischen und vereinigen sich nach dem Walten des Zufalls; und wann und wie und durch welche wunderbaren Abstufungen sich eines von dem andern trennt oder jedes Gefühl oder jeder Gegenstand des Geistes die gewöhnliche Form, das gewöhnliche Leben wieder annimmt, weiß niemand zu sagen, obgleich der Mensch jeden Tag das Abbild dieses großen Geheimnisses in sich selbst beobachten kann.

Wann und wie also die Dunkelheit des nachtschwarzen Kirchturms sich in helles Licht umwandelte – wann und wie der einsame Raum sich mit Myriaden Gestalten bevölkerte – wann und wie das geflüsterte: »Hetz und jag ihn,« das eintönig durch seinen Schlummer oder seine Ohnmacht zog, zu einer Stimme wurde, die in Trottys erwachendes Ohr rief. »Sollst nicht Schlafen!« – wann und wie er aufhörte, eine träge und wirre Vorstellung zu hegen, daß es solche Dinge gebe, die sich mit einer Schar andrer nicht vorhandener verbündeten – dafür gibt es keine bestimmten Angaben. Aber wachend stand er jetzt da auf den Brettern, auf denen er kurz vorher gelegen hatte, und sah dieses Gespenstergesicht.

In dem Turm, wohin ihn seine behexten Schritte gebracht hatten, umschwärmten ihn zwerghafte Phantome, Geister und Elfengestalten der Glocken. Er sah, wie sie ohne Unterlaß aus den Glocken herausquollen, sprangen, flogen oder niederfielen. Sie umringten ihn auf dem Boden, in der Luft, kletterten an den Glockenseilen abwärts, schauten von den massiven, eisenbeschlagenen Balken auf ihn nieder, blickten durch die Spalten und Öffnungen der Mauern nach ihm hin und umflatterten ihn in immer weiter werdenden Kreisen, ähnlich denen im Wasser, wenn plötzlich ein großer Stein hineingeworfen wird. Er sah sie in allen Gestalten, mit allen möglichen Gesichtszügen. Er sah unter ihnen Häßliche, Hübsche, Krüppel und wundervolle Gebilde. Er sah unter ihnen Junge, sah Alte, Sah Gütige, sah Grausame, sah Fröhliche, sah Grimmige, er sah sie tanzen, hörte sie singen, sah sie ihre Haare raufen und hörte sie heulen. Er sah, daß die Luft von ihnen erfüllt war. Er sah sie unablässig kommen und gehen. Er sah sie hinabgleiten, sich emporschwingen, in die Ferne schweben, neben sich kauern – ruhelos, in wilder Bewegung. Steine, Ziegel und Schiefer wurden für ihn so durchsichtig wie für sie. Er sah sie in den Häusern geschäftig an den Betten der Schläfer. Da brachten sie den Leuten beruhigende Träume, dort schlugen sie dieselben mit knotigen Peitschen. Er sah, wie sie den Schlummernden in die Ohren zeterten oder über ihren Pfühlen die sanfteste Musik spielten. Er sah, wie sie einige mit dem jubelnden Gesang der Vögel und mit dem Duft von Blumen beglückten und erheiterten; sah, wie sie aus Zauberspiegeln, die sie mit sich führten, gräßliche Fratzen in den unruhigen Traum andrer blitzen ließen.

Aber er sah diese Gestalten nicht nur unter den Schlafenden, sondern auch unter den Wachenden, wo sie in unversöhnlichem Haß gegeneinander kämpften und ihre verschiedenen Naturen bezeugten, die entweder echt oder auch nur, ihrem Zweck entsprechend, angenommen waren. Dort hatte sich ein Phantom zahllose Schwingen angeschnallt, um seine Eile zu vergrößern, während ein andres sich mit Ketten und Gewichten belud, um die seinige zu mäßigen. Einige trieben die Uhrzeiger vorwärts, andre drehten sie wieder zurück, während wieder andre bemüht waren, das Räderwerk ganz zum Stillstand zu bringen. Hier stellten sie eine Heiratszeremonie, dort eine Beerdigung, in diesem Saal eine Wahl, in jenem einen Ball dar; aber wo sie auch waren – nichts als rastlose, unermüdliche Bewegung.

Von der Unzahl der wechselnden und ungewöhnlichen Gestalten, wie auch durch das Getöse der Glocken, die alle läuteten, verwirrt, klammerte sich Toby an einen hölzernen Pfeiler und drehte in stummem, betäubtem Erstaunen sein leichenblasses Gesicht bald dahin, bald dorthin.

Wie er umhersah, hielt das Glockengeläute inne. Augenblicklicher Wechsel! Der ganze Schwarm wurde undeutlicher; ihre Gestalten fielen zusammen, und ihre Eile verließ sie. Sie suchten im Flug zu enteilen; aber im Niedersinken erstarben sie und zerflossen in Luft. Keine neue Schar folgte ihnen. Ein einziger Nachzügler sprang noch ziemlich rüstig von der großen Glocke herunter und kam auf seine Füße zu stehen; aber er war tot und dahin, noch ehe er sich umwenden konnte. Einige von den Spätlingen, die sich im Turm umgetrieben hatten, schwirrten noch eine Weile länger umher; sie wurden jedoch bei jedem Kreise schwächer und minder zahlreich, bis auch sie das Ende der übrigen fanden. Der letzte von allen war ein kleiner, buckeliger Kobold, der sich in eine widerhallende Ecke geflüchtet hatte, wo er noch geraume Zeit wirbelte und wirbelte und für sich auf und ab schwebte; dabei zeigte er eine solche Hartnäckigkeit, daß er zuletzt zu einem einzigen Bein, ja zu allerletzt zu einem einzigen Fuß zusammenschmolz, ehe er ganz entschwand, und als dies endlich geschehen, war es stumm und still im Turm.

Jetzt erst und nicht früher bemerkte Trotty in jeder Glocke eine bärtige Gestalt von dem Umfang und der Statur der Glocke – unbegreiflich, eine Figur und die Glocke selbst. Riesenhaft, ernst und ihn düster ins Auge fassend, während er in den Boden festgewurzelt stand.

Geheimnisvolle, grausenhafte Gestalten, die nirgends ausruhten, sondern in der Nachtluft des Turmes schwebten, die verhüllten und mit Kapuzen versehenen Köpfe zu dem dunkeln Dach erhebend – regungslos und schattenhaft. Schattenhaft und finster, obgleich er sie in einem fahlen Schein, den sie selbst verbreiteten, sehen konnte – sonst gab es nirgends Licht – und jede Gestalt hielt die eingehüllte Hand auf den gespenstigen Mund gelegt.

Er konnte sich nicht entsetzt durch die Öffnung im Boden hinabstürzen, denn alle Kraft der Bewegung hatte ihn verlassen. Andernfalls würde er dies getan, ja, sich sogar kopfüber von der Turmspitze auf die Straße hinabgestürzt haben – weit lieber, als daß er sich hier mit Augen betrachten lassen mußte, die da gewacht haben würden, selbst wenn ihnen die Pupillen herausgenommen worden wären.

Wieder und wieder berührte ihn der Schrecken und das Entsetzen des einsamen Ortes sowohl als der wilden, furchtbaren Nacht, die hier herrschte wie eine Gespensterhand. Die Ferne jeglicher Hilfe, der lange, finstere, gewundene und von Geistern belagerte Weg, der zwischen ihm und der von Menschen bewohnten Erde lag; der hohe, hohe, hoch oben gelegene Ort, wo es ihn schon schwindelte, wenn er bei Tag dem Flug der Vögel zusah; abgeschnitten von allen guten Leuten, die zu einer solchen Stunde wohlbehalten zu Hause waren und in ihren Betten schliefen – alles dies durchzuckte ihn kalt, nicht als eine Betrachtung, sondern nur als ein körperliches Gefühl. Mittlerweile waren seine Augen, seine Gedanken und seine gräßliche Furcht auf die wachsamen Gestalten gerichtet. Sie sahen in dem tiefen Düster und in dem sie einschließenden Schatten nicht aus wie Gebilde dieser Welt, um so weniger, da sie so übernatürlich über dem Boden schwebten; aber dennoch waren sie so deutlich zu unterscheiden, wie das alte, eichene Rahmenwerk und das Kreuz- und Quergebälk, das die Glocken unterstützte. Dies engte sie ein wie ein ganzer Wald von geschlagenem Holz, zwischen dessen Verschränkungen sie wie unter Zweigen toter Bäume, die zu ihrem gespenstigen Gebrauch ersterben mußten, ihre düstere unablässige Wache hielten.

Ein Windstoß – wie kalt und schrill! – kam stöhnend durch den Turm. Als er dahinstarb, begann die große Glocke oder vielmehr der Geist der großen Glocke zu sprechen.

»Was ist dies für ein Besuch?« fragte er.

Die Stimme war dumpf und tief, und Trotty meinte, sie ertöne ebensowohl aus den andern Formen.

»Ich glaubte, die Glocken hätten meinen Namen gerufen!« sagte Trotty, seine Hände mit flehentlicher Gebärde erhebend. »Ich weiß kaum, warum ich hier bin oder wie ich heraufkam. Ich habe schon seit vielen Jahren den Glockentönen zugehört, und sie haben mich oft wieder froh gestimmt.«

»Hast du ihnen auch gedankt?« fragte die Glocke.

»O, tausendmal!« rief Trotty.

»Ich bin ein armer Mann«, stotterte Trotty, »und konnte ihnen nur mit Worten danken.«

»War dies auch immer der Fall?« fragte der Geist der Glocke. »Hast du uns nie in Worten unrecht getan?«

»Nein!« rief Trotty hastig.

»Uns nie mit Worten schnödes, falsches, böswilliges Unrecht getan?« fuhr der Glockengeist fort.

Trotty wollte eben antworten: »Nie!«, hielt aber mit einem Male verwirrt inne.

»Die Stimme der Zeit«, sagte das Phantom, »ruft dem Menschen zu: ›Vorwärts!‹ Die Zeit dient seinem Fortschreiten und seiner Verbesserung, der Erhöhung seines Wertes und seines Glückes, der Veredelung seines Lebens, der Annäherung an jenes Ziel, das ihm mit Wohlbedacht bereits damals gesteckt wurde, als die Zeit und er ihren Anfang nahmen. Jahrhunderte der Finsternis, der Gottlosigkeit und der Gewalttat sind gekommen und gegangen; unzählige Millionen haben geduldet, gelebt und sind gestorben, um ihm den Weg, der vor ihm liegt, zu zeigen. Wer ihn zur Umkehr zu bewegen sucht oder in seinem Lauf anhalten will, vergeht sich an einer gewaltigen Maschine, die den Unberufenen erschlägt und nur um so ungestümer und wilder wieder losbricht, weil sie für einen Augenblick gestört wurde!«

»Meines Wissens habe ich dies nie getan,« Sagte Trotty, »und wenn es geschah, muß es ganz unabsichtlich geschehen sein. Ich würde mich sicherlich nicht einmengen.«

»Wer in den Mund der Zeit oder ihrer Diener einen Klageruf über Tage legt,« fuhr der Glockengeist fort, »die ihre Heimsuchungen und Täuschungen gehabt und so tiefe Spuren zurückgelassen haben, daß sie sogar die Blinden Sehen können – einen Klageruf, der nur insofern der Gegenwart dient, als er den Menschen sagt, wie sehr ihre Hilfe notwendig ist, wenn ein Ohr eine solche Klage um Vergangenes zu hören glaubt – wer dies tut, begeht ein Unrecht. Und du hast uns, den Glocken, ein solches Unrecht angetan.«

Trottys größte Furcht war jetzt vorüber. Aber, wie wir wissen, hatte er Liebe und Dankbarkeit für die Glocken empfunden , und als er sich als einen Menschen anklagen hörte, der sie so schwer beleidigt hatte, wurde sein Herz von Reue und Kummer schwer.

»Wenn ihr wüßtet,« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend – »oder vielleicht wißt ihr es – wenn ihr also wißt, wie oft ihr mir Gesellschaft geleistet, wie oft ihr mich aufgeheitert habt, wenn ich niedergeschlagen war, und wie ihr meiner kleinen Tochter Meg fast als ein Spielzeug dientet (beinahe das einzige, das sie je hatte), da ihre Mutter starb und uns allein zurückließ, so würdet ihr mir wegen eines übereilten Wortes keinen Groll nachtragen!«

»Wer in uns, den Glocken, nur einen einzigen Ton hört, der Lieblosigkeit oder finsteren Zweifel ausdrückt an den Hoffnungen, Freuden und Schmerzen der vielbedrängten Menge; wer uns antworten hört auf Gesinnungen, die die menschlichen Leidenschaften und Gefühle abmessen, gleich der Menge der erbärmlichen Nahrung, an der die Menschheit dahinsiecht – tut uns unrecht. Dieses Unrecht hast du uns angetan!« sagte die Glocke.

»Ja, ich habe!« versetzte Trotty. »O vergib mir!«

»Wer uns dem schlechten Gewürm der Erde nachlallen hört – den Unterdrückern bereits gebeugter und gebrochener Wesen, die geschaffen sind, um sich viel höher zu erheben, als solche Maden der Zeit klettern oder denken können,« fuhr der Glockengeist fort – »wer dies tut, begeht ein Unrecht an uns. Du hast uns unrecht getan!«

»Nicht mit Absicht!« sagte Trotty. »Nur in meiner Unwissenheit – nicht mit Absicht.«

»Zuletzt und vor allem« – nahm die Glocke wieder auf – »wer den Gefallenen seines Geschlechts den Rücken kehrt, sie als schlecht aufgibt und nicht mit mitleidigem Auge den offenen Abgrund mißt, durch den sie vom Guten abfielen, obschon sie noch in ihrem Sturz nach einigen Schollen des verlorenen Bodens griffen und sich an dieselben anklammerten, selbst als sie schon zerquetscht und sterbend in der Kluft unten lagen – wer dies tut, begeht ein Unrecht an dem Himmel, an der Menschheit, an Zeit und Ewigkeit. Du hast dieses Unrecht getan!«

»Schone mich!« rief Trotty, auf seine Knie niederfallend; »um aller Barmherzigkeit willen!«

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die übrigen Schatten.

»Höre!« sagte eine klare, kindliche Stimme, die Trotty schon früher gehört zu haben vermeinte.

Die Orgel tönte leise in der Kirche unten. Nach und nach anschwellend, stieg die Melodie bis zu dem Dach hinan und erfüllte Chor und Schiff. Mehr und mehr sich ausbreitend , schwang sie sich hinauf, immer höher und höher hinauf, wobei sie in dem derben Eichengebälk, den hohlen Glocken, den eisenbeschlagenen Türen und den steinernen Treppen erregte Herzen weckte, bis die Turmmauern sie nicht mehr fassen konnten und sie gen Himmel schwebte.

Kein Wunder, daß das Herz eines alten Mannes einen so ungeheuren, gewaltigen Ton nicht einzuschließen vermochte. Er brach aus diesem schwachen Gefängnis in einem Strom von Tränen, und Trotty preßte seine Hände vor das Gesicht.

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die andern Schatten.

»Höre!« sagte die Kinderstimme.

Feierliche Akkorde gemischter Stimmen erhoben sich nun in dem Turm.

Es war eine gedämpfte, wehmütige Melodie – ein Totengesang; und wie Trotty lauschte, hörte er sein Kind unter den Sängern.

»Sie ist tot!« rief der alte Mann. »Meg ist tot! Ihr Geist ruft mich – ich höre ihn!«

»Der Geist deines Kindes beklagt die Toten und mischt sich unter die Toten – die erstorbenen Hoffnungen und erstorbenen Jugendträume,« erwiderte die Glocke. »Aber sie lebt. Lerne aus ihrem Leben eine lebendige Wahrheit. Lerne aus dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist, wie schlecht die schlecht Geborenen sind. Sieh, wie jede Knospe und jedes Blatt nacheinander von dem schönsten Stengel gepflückt wurde, und erkenne daraus, wie kahl und elend er dann sein mag. Folge ihr – in die Verzweiflung!«

Jede von den Schattengestalten streckte ihren rechten Arm aus und deutete nach unten.

»Der Geist der Glocken ist dein Begleiter,« sagte die Gestalt. »Geh! er steht hinter dir!«

Trotty wandte sich um und sah – das Kind? das Kind, das Will Fern in der Straße getragen hatte; das Kind, das jetzt schlief und an dessen Bett Meg wachte!

»Ich habe es selbst diesen Abend getragen,« sagte Trotty. »In diesen meinen Armen!«

»Zeigt ihm, was er sein Selbst nennt,« sagten die dunkeln Gestalten im Chor.

Der Turm öffnete sich unter seinen Füßen. Er sah hinab und sah seine Gestalt außen auf dem Boden liegen – zerschmettert und regungslos.

»Nicht mehr ein lebendiger Mensch!« rief Trotty. »Tot!«

»Tot!« sagten die Gestalten alle zugleich.

»Barmherziger Himmel! Und das Neujahr …«

»Vergangen,« sagten die Gestalten.

»Wie?« rief er schaudernd. »So verfehlte ich wohl meinen Weg, gelangte in der Dunkelheit an die Außenseite dieses Turmes und fiel hinunter – vor einem Jahr?«

»Vor neun Jahren!« versetzten die Schatten.

Während sie diese Antwort gaben, nahmen sie ihre ausgestreckten Hände wieder an sich, und wo ihre Gestalten geschwebt hatten, befanden sich jetzt die Glocken.

Und sie erklangen – ihre Zeit war wieder gekommen. Und abermals sprangen zahllose Phantome ins Dasein, die dieselbe Zusammenhangslosigkeit zeigten wie früher; abermals verblichen sie, sobald die Glockenzungen ruhten, und fielen in ein Nichts zusammen.

»Wer sind diese?« fragte er seinen Führer. »Wenn ich nicht verrückt werden soll, wer sind diese?«

»Es sind Geister der Glocken – ihr Ton in der Luft,« entgegnete das Kind. »Sie nehmen dieselben Gestalten und Beschäftigungen an, die ihnen von den Hoffnungen, Gedanken und Erinnerungen der Sterblichen gegeben werden.«

»Und du,« rief Trotty außer sich – »wer bist du?«

»Still, still!« erwiderte das Kind. »Sieh da hin!«

In einem schlechten, ärmlichen Gemach arbeitete an derselben Art von Stickerei, wie er es oft gesehen hatte, seine liebe Tochter Meg. Er versuchte nicht, Küsse auf ihr Gesicht zu drücken oder sie an sein klopfendes Herz zu pressen, denn er wußte, daß es für ihn keine solchen Liebkosungen mehr gab. Aber er hielt seinen zitternden Atem an und wischte die blendenden Tränen weg, um sie sehen, nur sehen zu können.

Ach! verändert – und wie verändert! Wie trüb war das Licht des klaren Auges, wie verblichen der Schmelz ihrer Wangen! Zwar war sie noch so schön wie immer, aber die Hoffnung, die Hoffnung, die Hoffnung – ach, wo war die frische Hoffnung, die ihn wie eine Stimme angerufen hatte!

Sie blickte von ihrer Arbeit auf nach einer Gefährtin. Der alte Mann folgte ihren Augen und fuhr betroffen zurück.

In dem erwachsenen Mädchen erkannte er sie auf den ersten Blick. Er sah in den langen seidenen Haaren noch dieselben Locken, und um die Lippen noch immer den kindlichen Ausdruck. Ja, in den Augen, die sich jetzt fragend an Meg wandten, leuchtete noch derselbe Blick, wie zur Zeit, als er sie nach Hause brachte.

Was war denn dies neben ihm?

Mit Grausen sah er sich nach dem Kinde um und bemerkte in dessen Gesicht etwas Überirdisches , Unbestimmtes, Undeutliches, das kaum mehr an jenes Kind erinnerte als die andre Gestalt; und doch war es dieselbe – dieselbe – und trug auch das nämliche Kleid.

Horch! Sie sprachen.

»Meg,« sagte Lilian stockend. »Wie oft du von deiner Arbeit aufschaust, um mich anzusehen!«

»Sind meine Blicke so verändert, daß sie dich erschrecken?« sagte Meg.

»Nein, meine Liebe! Aber du lächelst selbst darüber! Warum lächelst du nicht, wenn du mich ansiehst?«

»Ich tue es ja. Oder nicht?« antwortete sie, ihr zulächelnd.

»Jetzt wohl,« sagte Lilian, »aber gewöhnlich nicht. Wenn du denkst, ich sei beschäftigt und sehe dich nicht, ist deine Miene so ängstlich und bekümmert, daß ich kaum meine Augen zu erheben wage. Man hat wohl in diesem harten und mühsamen Leben wenig Grund zum Lächeln; aber du warst einst so heiter.«

»Bin ichs nicht noch?« rief Meg im Ton seltsamer Unruhe und erhob sich, um ihre Gefährtin zu umarmen. »Mache ich dir das mühsame Leben noch mühsamer, Lilian?«

»Du warst das Einzige, das unser Leben überhaupt zu einem Leben machte,« sagte Lilian, sie glühend küssend, »und auch das Einzige, das mir bisweilen noch ein solches Leben wert macht, Meg. Ach, diese Arbeit, diese Arbeit! So viele Stunden, so viele Tage, So viele lange, lange Nächte hoffnungsloser, ertötender und nie endender Arbeit – nicht um Reichtümer aufzuhäufen , nicht um herrlich und in Freuden zu leben, nicht um auch bloß sorglos leben zu können, so einfach auch unsre Kost sein mag, sondern nur, um das trockene Brot zu verdienen, just um so viel zusammenzuscharren, damit wir weiterleben und weiter Not leiden und in uns das Bewußtsein unsres harten Schicksals lebendig erhalten können! O Meg, Meg!«

Sie erhob ihre Stimme und schlang ihre Arme um sie, wie in herbem Schmerze. »Wie kann die grausame Welt ihren Kreislauf gehen und den Anblick solcher Leben ertragen!«

»Lilly!« sagte Meg beschwichtigend, indem sie ihr das Haar aus dem feuchten Gesicht strich. »Ach Lilly! Du! So hübsch und so jung!«

»O Meg!« fiel ihr Lilian ins Wort, indem sie ihre Freundin auf Armeslänge vor sich hinhielt und flehend in ihr Gesicht blickte. »Das ist das Schlimmste, das Schlimmste von allem! Mache mich alt, Meg ! Gib mir Runzeln und einen welken Leib, um mich von den schrecklichen Gedanken zu befreien, die mich in meiner Jugend zu verlocken suchen !«

Trotty wandte sich, um nach seinem Führer zu sehen. Aber der Geist des Kindes war entflohen – fort.

Aber auch er blieb nicht an demselben Platze. Sir Joseph Bowley, der Freund und Vater der Armen, hielt in Bowley Hall zu Ehren des Geburtstags der Lady Bowley ein großes Festgelage; und da Lady Bowley am Neujahrstag geboren war – ein Umstand, den die Lokalzeitungen als einen ausdrücklichen Wink der Vorsehung bezeichneten, daß Lady Bowley in der Zahlenreihe der Schöpfung für Nummer Eins bestimmt sei – fand auch dieses Gelage an einem Neujahrstag statt.

Bowley Hall strotzte von Gästen. Der rotgesichtige Gentleman war da, Herr Filer war da, der große Alderman Cute war da – Alderman Cute empfand ein sehr wohltuendes Gefühl im Verkehr mit vornehmen Leuten und hatte vermöge seines aufmerksamen Briefes große Fortschritte in Sir Joseph Bowleys Bekanntschaft gemacht, indem er seitdem eigentlich zu einem Familienfreund wurde – und noch viele andre Gäste waren da. Auch Trottys Geist war zugegen und wanderte traurig als ein armes Phantom auf der Suche nach seinem Führer umher.

In der großen Halle sollte ein prachtvolles Festmahl gegeben werden, und Sir Joseph Bowley in seinem gefeierten Charakter als Freund und Vater der Armen sollte eine bedeutsame Rede dabei halten. Seine Freunde und Kinder durften zuerst in einer andern Halle eine gewisse Anzahl von Pflaumenpuddingen verzehren und sollten dann auf ein gegebenes Signal zu ihren Freunden und Vätern hineinströmen, um eine Familienversammlung zu bilden, bei der kein Männerauge von Tränen unbefeuchtet bleiben sollte.

Aber noch mehr als dies sollte geschehen. Sogar noch mehr. Sir Joseph Bowley, Baronet und Parlamentsmitglied, hatte sich vorgenommen, mit seinen Pächtern eine Kegelpartie – eine wirkliche Kegelpartie – zu machen.

»Das erinnert mich ganz an die Tage des alten Königs Heinz, des wackern Königs Heinz, des leutseligen Königs Heinz,« sagte Alderman Cute. »Ah! ein prächtiger Mann!«

»Sehr,« bemerkte Herr Filer trocken, »um Weiber zu heiraten und sie umzubringen. Und noch obendrein beträchtlich mehr als die Durchschnittszahl der Weiber.«

»Ihr werdet die schönen Damen heiraten und sie nicht umbringen, he?« sagte Alderman Cute zu dem Erben von Bowley, einem zwölfjährigen Jungen. »Ein süßer Knabe! Wir werden diesen kleinen Gentleman im Parlament haben,« fügte er bei, indem er ihn bei der Schulter faßte und ihn so aufmerksam als nur möglich ansah, »ehe wir wissen, wo wir sind. Wir werden hören von seinen Erfolgen bei den Wahlen , von seinen Reden im Hause, von den Anträgen, die ihm die Regierung macht, von seinen herrlichen Kenntnissen auf allen Gebieten! Ja, ich stehe dafür, wir werden im Gemeinderat gleichfalls kleine Reden über ihn halten, ehe wir Zeit haben, uns umzusehen!«

»O welch ein Unterschied bei Schuhen und Strümpfen!« dachte Trotty. Aber sein Herz sehnte sich nach seinem kleinen Führer um derselben schuh- und strumpflosen Knaben willen, die die Kinder der armen Meg sein konnten und der Prophezeiung des Alderman zufolge schlecht ausfallen mußten.

»Richard,« stöhnte Trotty, unter der Gesellschaft auf- und abgehend; »wo ist er? Ich kann Richard nicht finden! Wo ist Richard?«

Wahrscheinlich nicht hier, wenn er noch am Leben ist ! Aber Trottys Kummer und das Gefühl der Einsamkeit hatten ihn ganz wirr gemacht; er wanderte noch immer unter der prunkenden Gesellschaft umher, spähte nach seinem Führer und rief: »Wo ist Richard? Zeigt mir Richard!«

Auf seinen Kreuz- und Quergängen begegnete er Herrn Fish, dem vertrauten Sekretär, der in großer Aufregung ausrief:

»Gott behüte mich! Wo ist Alderman Cute? Hat niemand den Alderman gesehen?«

Den Alderman gesehen? O Himmel, wer hätte auch den Alderman übersehen können? Er war so rücksichtsvoll, so leutselig und verlangte so sehr danach, den Wunsch der Leute, ihn zu Gesicht zu bekommen, so oft als möglich zu erfüllen, daß – angenommen er hätte einen Fehler – es nur der sein konnte, unaufhörlich präsentiert zu werden. Und wo immer vornehme Leute waren, da durfte man sicher auch auf Cute zählen, weil die verwandtschaftliche Sympathie großer Seelen stets anziehend wirkt.

Mehrere Stimmen riefen, er befände sich in dem Kreise um Sir Joseph. Herr Fish eilte dorthin, fand ihn und nahm ihn heimlich an das nächste Fenster. Trotty näherte sich ihnen – nicht aus eignem Antrieb; er fühlte, daß seine Schritte in diese Richtung gelenkt wurden.

»Mein teurer Alderman Cute,« sagte Herr Fish; »ein wenig mehr hierher. Es hat sich, wie ich in diesem Augenblick erst erfahre, etwas höchst schreckliches zugetragen, und ich glaube, es wird am besten sein, Sir Joseph erst davon in Kenntnis zu setzen, wenn der Tag vorüber ist. Ihr kennt Sir Joseph und werdet mir Eure Ansicht mitteilen. Der Schrecklichste und beklagenswerteste Vorfall!«

»Fish!« entgegnete der Alderman, »Fish, mein guter Freund, was gibt es? Hoffentlich doch nichts Revolutionäres? Nein – doch kein Versuch, sich in die Schritte der Obrigkeit zu mengen?«

»Deedles, der Bankier,« keuchte der Sekretär. »Gebrüder Deedles – der heute hätte kommen sollen – der eine so hohe Stellung in der Genossenschaft der Goldschmiede einnimmt …«

»Hat doch nicht seine Zahlungen eingestellt?« rief der Alderman. »Es kann nicht sein!«

»Sich selbst erschossen.«

»Guter Gott!«

»In seinem eignen Kontor sich eine doppelläufige Pistole an den Mund gesetzt und sich das Gehirn hinausgeblasen. Kein Beweggrund. Fürstliche Verhältnisse!«

»Verhältnisse!« rief der Alderman. »Ein Mann von edlem Vermögen. Einer der achtbarsten Männer. Selbstmord, Herr Fish, durch eigne Hand?«

»Erst diesen Morgen,« erwiderte Herr Fish.

»O das Gehirn, das Gehirn!« rief der fromme Alderman, seine Hände erhebend. »O die Nerven, die Nerven – die Geheimnisse dieser Maschine, die man Mensch nennt ! Welche Kleinigkeit reicht nicht hin, sie in Unordnung zu bringen! Was sind wir nicht für arme Geschöpfe! Vielleicht ein Diner, Herr Fish. Vielleicht die Lebensweise seines Sohnes, der, wie ich gehört habe, etwas über den Strang schlagen und ohne jede Ermächtigung Wechsel auf den Namen seines Vaters ausstellen soll. Ein höchst achtbarer Mann – einer von den achtbarsten Männern, die ich je kannte! Ein beklagenswerter Fall, Herr Fish! Ein öffentliches Unglück! Ich werde mirs zur Ehrensache machen, um ihn die tiefste Trauer zu tragen! Ein höchst achtbarer Mann. Aber es ist einer über uns. Wir müssen uns darein fügen, Herr Fish. Wir müssen uns fügen!«

Wie, Alderman? Kein Wort von »den Selbstmord legen«? Erinnere dich, Friedensrichter, wie du dich stolz deiner hohen Moral rühmtest! Bring diese Wagschalen ins Gleichgewicht, Alderman! Wirf in die leere das fehlende Mittagessen und die Quellen der Natur, die bei irgendeinem armen Weib durch das hungernde Elend ausgetrocknet und zum Widerstand gebracht wurden gegen die Ansprüche, zu denen ihr Sprößling von der heiligen Mutter Eva her berechtigt ist. Wäge mir diese beiden, du richtender Daniel, wenn dein Gerichtstag kommen wird! Wäge sie in den Augen leidender Tausende, die aufmerksam der greulichen Posse, die du spielst, zusehen! Oder angenommen, du hättest deine fünf Sinne verloren – du hast nicht so weit dazu, daß es nicht möglich wäre – und legtest Hand an diese deine Kehle, zur Warnung für deinesgleichen (wenn es noch deinesgleichen gibt), damit sie nicht ihre behagliche Schlechtigkeit den zum Wahnsinn getriebenen Gehirnen und gequälten Herzen vorkrächzen – was dann?

Die Worte erhoben sich in Trottys Brust, als würden sie in seinem Innern von einer andern Stimme gesprochen. Alderman Cute machte sich anheischig, Herrn Fish zu unterstützen, um nach Ablauf des Tages Sir Joseph die traurige Kunde beizubringen. Ehe sie sich trennten, drückte er noch Herrn Fish in bitterm Schmerze die Hand und sagte abermals: »Der achtbarste Mann!« Und dann fügte er noch hinzu, daß er kaum verstehe (nicht einmal er!), warum solche Trübsal auf Erden vorkommen dürfe.

»Wenn mans nicht besser wüßte, so möchte man fast glauben,« fuhr Alderman Cute fort, »daß bisweilen in den Dingen eine Umsturzbewegung vorgehe, die die allgemeine Ordnung des sozialen Baues aus ihren Fugen hebt. Gebrüder Deedles!«

Das Kegelspiel verlief mit ungeheurem Erfolg. Sir Joseph warf die Kegel mit wunderbarer Geschicklichkeit um; Master Bowley machte aus kürzerer Entfernung gleichfalls einen Anfangsversuch, und jedermann sagte, daß nun, da ein Baronet und der Sohn eines Baronets Kegel spielten, die Verhältnisse des Landes eine rasche Wendung zum Bessern nehmen müssen.

Im richtigen Moment wurde das Festmahl aufgetragen. Trotty begab sich unwillkürlich mit den übrigen nach der Halle, denn er fühlte sich durch eine stärkere Gewalt, als die seines eignen freien Willens, dahin gedrängt. Der Anblick war ein ungewöhnlich glänzender; die Damen waren sehr hübsch und alle Gäste entzückt, fröhlich und heiter gestimmt. Als die untern Türen geöffnet wurden und die Leute in ihrer ländlichen Kleidung hereinschwärmten, erreichte die Schönheit des Schauspiels ihren Höhepunkt; aber Trotty murmelte nur um so angelegentlicher: »Wo ist Richard? er sollte ihr helfen und sie trösten! Ich kann Richard nicht sehen!«

Es wurden einige Reden gehalten. man trank auf die Gesundheit Lady Bowleys; Sir Joseph hatte sich bedankt und hielt eben seine große Rede, indem er an mancherlei Tatsachen bewies, daß er der geborene Freund und Vater usw. der Armen sei, und brachte ein Hoch auf seine Freunde und Kinder und auf die Würde der Arbeit aus, als eine kleine Unruhe unten in der Halle Tobys Aufmerksamkeit fesselte. Nach einiger Verwirrung, etwas Lärm und Widerstand brach ein einzelner Mann durch die Reihen der übrigen und trat vor.

Nicht Richard. Nein. Aber einer, an den er auch schon gedacht und nach dem er sich oftmals umgesehen hatte. Bei einer spärlicheren Beleuchtung würde er die Identität des alten, grauen, gebeugten und abgelebten Mannes bezweifelt haben; so aber fiel ein heller Lampenglanz auf dessen verwitterten Kopf, und er erkannte in der Person, sobald sie sich vorgedrängt hatte, augenblicklich Will Fern.

»Was soll das?« rief Sir Joseph aufstehend. »Wer hat diesen Mann eingelassen? Dies ist ein Verbrecher aus dem Gefängnis! Herr Fish, Sir, wollen Sie die Güte haben …«

»Eine Minute!« sagte Will Fern. »Eine Minute! Gnädige Frau, Ihr seid an diesem Tag mit einem neuen Jahr geboren worden. Laßt mich eine einzige Minute sprechen!«

Sie legte eine Fürbitte für ihn ein, und Sir Joseph nahm mit angeborener Würde wieder Platz.

Der zerlumpte Gast – denn er war erbärmlich gekleidet – blickte in der Gesellschaft umher und bezeigte ihr seine Huldigung mit einer demütigen Verbeugung.

»Ihr vornehmen Leute,« sagte er, »ihr habt auf die Gesundheit des Arbeiters getrunken. Seht mich an!«

»Kommt just aus dem Gefängnis,« sagte Herr Fish.

»Ja, ich komme aus dem Gefängnis,« versetzte Will. »Und zwar nicht zum ersten, zweiten, dritten – ja nicht einmal zum viertenmal.«

Man hörte Herrn Filer verdrießlich bemerken, daß viermal die Durchschnittszahl übersteige, und er sollte sich vor sich selbst schämen.

»Seht mich immerhin an, ihr vornehmen Leute,« wiederholte Will Fern. »Ihr seht, ich bin bis zum Ärgsten herabgesunken. Man kann mir nichts Schlimmeres mehr anhaben, und ich bin außer dem Bereich eurer Hilfe, denn die Zeit, in der eure freundlichen Worte oder eure freundlichen Handlungen mir hätten guttun können« – er schlug dabei mit der Hand auf die Brust und schüttelte seinen Kopf – »ist vorbei, wie der Duft des Klees vom vorigen Jahr. Aber laßt mich ein Wort für diese sprechen« – er deutete auf die Arbeiter in der Halle – und hört, da ihr wieder zusammengekommen seid, wenigstens einmal die reine Wahrheit!«

»Es ist niemand hier,« sagte der Wirt, »der ihn zum Sprecher haben möchte.«

»Wahrscheinlich genug, Sir Joseph. Ich glaube es. Aber darum ist das, was ich sage, nicht weniger wahr. Vielleicht dient mir das nur zum Beweis meiner Wahrheitstreue. Ihr vornehmen Leute, ich habe manches Jahr an diesem Ort gelebt, und ihr könnt dort meine Hütte mit dem eingefallenen Zaune sehen. Hundertmal war ich Zeuge, wie die Damen sie in ihre Bücher zeichneten. Ich habe sagen hören, sie nehme sich gut auf einem Bilde aus; aber auf Bildern gibt es kein Wetter, und sie mag sich daher besser dazu eignen, als zu einem Wohnplatz. Also! Dort habe ich gelebt. Wie hart – wie bitterhart es mir dort erging, will ich nicht sagen. Ihr könnt es jeden Tag im Jahr selber beurteilen.«

>

Er sprach, wie er in der Nacht gesprochen hatte, als ihn Trotty in der Straße traf. Seine Stimme klang tiefer und heiserer und zitterte dann und wann ein wenig. Aber er ließ sie niemals leidenschaftlich werden, und selten sprach er lauter, als es die schlichten Dinge und Tatsachen forderten, die er berichtete.

»Es ist schwerer, als ihr vornehmen Leute denken mögt, an einem solchen Platz als ordentlicher Mensch zu leben. Daß ich zu einem Mann und nicht zu einem Vieh darin heranwuchs – damals – sagt schon etwas für mich. Über meine jetzige Lage läßt sich nichts mehr sagen, wie denn auch nichts mehr für mich getan werden kann. Ich bin darüber hinaus.«

»Ich freue mich, daß dieser Mann eingetreten ist,« sagte Sir Joseph, heiter im Kreis umherblickend. »Stört ihn nicht. Es scheint Bestimmung zu sein. Er ist ein Beispiel – ein lebendiges Exempel. Ich hoffe und erwarte zuversichtlich, daß es an meinen Freunden hier nicht verloren geht.«

»Ich schleppte mich fort,« sagte Fern nach einer kurzen Pause, »wie es eben gehen mochte. Weder ich noch irgendein andrer Mensch weiß, wie – jedenfalls aber so schwer, daß ich kein heiteres Gesicht dazu schneiden oder andern glauben machen konnte, ich sei etwas andres, als was ich war. Nun, Gentlemen – ihr Gentlemen, die ihr in den Parlamentssitzungen zusammentrefft – wenn ihr einen Mann mit einem unzufriedenen Zug im Gesicht seht, so sagt ihr zueinander. ›Er ist verdächtig. Ich habe meine Bedenken‹, sagt ihr, ›über Will Fern. Faßt diesen Burschen ins Auge.‹ Ich will nicht behaupten, Gentlemen, daß dies nicht ganz natürlich sei – aber ich sage, es ist so, und von dieser Stunde an wird alles auf sein Schuldkonto gebucht, mag nun Will Fern tun oder lassen, was er will.«

Alderman Cute steckte seine Daumen in seine Westentaschen, lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück und blinzelte einem benachbarten Leuchter zu, als wollte er sagen: »Natürlich! ich Sagte es ja. Das gewöhnliche Geschrei! Gott behüte, wir sind derartigen Dingen längst gewachsen – ich selbst und die menschliche Natur.«

»Wohlan, Gentlemen,« fuhr Will Fern fort, indem er seine Hände ausstreckte und ein flüchtiges Rot sein hageres Gesicht einen Augenblick überflammte. »Seht, wie eure Gesetze gemacht sind, um uns einzufangen und zu hetzen, wenn es einmal so weit mit uns gekommen ist. Ich versuche, anderswo meinen Unterhalt zu finden, und man behandelt mich als einen Landstreicher. Ins Gefängnis mit ihm! Ich komme hierher zurück, sammle in den Wäldern Nüsse und breche – wer täte es nichts – ein paar dünne Zweige ab. Ins Gefängnis mit ihm! Einer von den Förstern sieht mich am hellen Tag in der Nähe meines eignen Gartens mit einem Gewehr. Ins Gefängnis mit ihm! Sobald ich wieder frei bin, kommts natürlich zu einem zornigen Wortwechsel mit diesem Mann. Ins Gefängnis mit ihm! Ich schneide mir einen Stock. Ins Gefängnis mit ihm! Ich esse einen faulen Apfel oder eine Rübe. Ins Gefängnis mit ihm! Es ist zwanzig Meilen entfernt, und als ich wieder zurückkomme, bettle ich an der Straße um eine Kleinigkeit. Ins Gefängnis mit ihm! Kurz, der Polizeimann oder der Wildhüter oder sonst jemand findet immer, daß ich hier oder dort irgend etwas anstelle. Ins Gefängnis mit ihm, denn er ist ein Landstreicher und bekannter Zuchthausvogel. So ist denn das Zuchthaus zu seiner einzigen Heimat geworden!«

Der Alderman nickte wohlweise, als wollte er sagen. »Und obendrein eine recht gute Heimat!«

»Glaubt ja nicht, daß ich dies sage, um meiner Sache zu dienen!« rief Fern. »Wer kann mir meine Freiheit, meinen guten Namen und meine unschuldige Nichte zurückgeben? Alle Lords und Ladies in dem weiten England sind es nicht imstande. Aber ihr Gentlemen, wenn ihr mit andern zu tun bekommt, wie mit mir, fangt die Sache an dem rechten Ende an. Seid so barmherzig, uns, wenn wir in unsern Wiegen liegen, eine bessere Heimat zu geben; reicht uns bessere Kost, wenn wir für unsern Unterhalt arbeiten, und gebt uns wohlwollende Gesetze, die uns auf den rechten Weg zurückbringen können, wenn wir von demselben abweichen; aber stellt uns nicht überall, wohin wir uns auch wenden mögen, ewig nur das Gefängnis, das Gefängnis, das Gefängnis vor die Augen! Jede Herablassung, die ihr dem Arbeiter erweisen mögt, wird er so bereitwillig und dankbar hinnehmen, wie nur ein Mensch kann, denn er hat ein geduldiges, friedliches und williges Herz; aber ihr müßt zuerst den rechten Geist in ihm fassen, denn bis jetzt noch ist der seinige von euch getrennt, mag er nun eine solche Ruine oder ein Wrack sein wie ich, oder denen gleichen, die hier herumstehen. Bringt ihn zurück, bringt ihn zurück, ihr vornehmen Leute! bringt ihn zurück, ehe der Tag kommt, da in seiner veränderten Gesinnung auch die Bibel eine andre Gestalt gewinnt und ihm die Worte derselben erscheinen, wie sie mir bisweilen in dem Gefängnis vorkamen: ›Wohin du gehst, kann ich nicht hingehen; wo du wohnst, wohne ich nicht; dein Volk ist nicht mein Volk und dein Gott nicht der meinige!‹«

In der Halle fand nun eine plötzliche Bewegung und Aufregung statt. Trotty meinte anfangs, es hätten sich einige aufgerafft, um den Mann hinauszuwerfen, und daher rühre der Wechsel in der Szene. Aber der nächste Augenblick belehrte ihn, daß der Saal mit der ganzen Gesellschaft seinen Augen entschwunden war und seine Tochter wieder vor ihm saß, wie sie sich bei ihrer Arbeit abmühte. Ihr Dachstübchen war armseliger und schlechter als das frühere, und Lilian befand sich nicht an ihrer Seite.

Der Rahmen, an dem letztere gearbeitet hatte, lag auf einem Sims und war zugedeckt, ihr Stuhl stand gegen die Wand gelehnt. In diesen kleinen Dingen und in Megs gramvollem Gesicht sprach sich eine lange Geschichte aus – o, wer hätte sie nicht zu lesen vermocht!

Meg hatte die Augen auf ihre Arbeit geheftet, bis es zu dunkel war, um den Faden zu sehen, und als die Nacht hereinbrach, zündete sie ihre dünne Kerze an, um weiter zu arbeiten. Noch immer befand sich ihr alter Vater unsichtbar in ihrer Nähe, schaute auf sie nieder und sprach mit ihr – o, mit welch inniger Liebe! – mit leiser Stimme über alte Zeiten und über die Glocken, obschon der arme Trotty wohl wußte, daß sie ihn nicht hören konnte.

>

Der größere Teil des Abends war bereits entschwunden, als an ihre Tür gepocht wurde. Sie öffnete. Ein Mann stand auf der Schwelle – ein mürrischer, schlottriger, schmutziger Trunkenbold, den Laster und Unmäßigkeit gezeichnet hatten und dem die wirren Haare und der ungeschorene Bart ein wildes Aussehen verliehen; aber dennoch waren einige Spuren an ihm zu bemerken, die zeigten, daß er in seiner Jugend gut gebaut und hübsch gewesen war.

Er blieb stehen und wartete, bis ihm Meg einzutreten erlaubte; sie aber wich ein paar Schritte von der offenen Tür zurück und sah ihn stumm und bekümmert an. Trottys Wunsch war erfüllt – er hatte Richard vor sich.

»Darf ich hereinkommen, Margaret?«

»Ja! komm herein. Komm herein!«

Es war gut, daß ihn Trotty erkannt hatte, ehe er sprach; denn wenn auch nur ein Zweifel in ihm geherrscht hätte, so würde ihn die rauhe, mißtönige Stimme überzeugt haben, daß es nicht Richard, sondern ein andrer Mann sei.

Es waren nur zwei Stühle in der Stube. Sie gab ihm den ihrigen und blieb eine Weile in einiger Entfernung stehen, wartend, was er ihr zu sagen habe.

Er setzte sich nieder und blickte mit glanzlosem, blödsinnigem Lächeln stier auf den Boden – ein Anblick so tiefer Verkommenheit, gänzlicher Hoffnungslosigkeit und kläglicher Verwahrlosung, daß sie die Hand vor das Gesicht hielt und sich ab wandte, um ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr sie sein Wesen erschütterte.

Durch das Rauschen ihres Kleides oder irgendein andres unbedeutendes Geräusch aus seinem Stumpfsinn geweckt, erhob er seinen Kopf und begann zu sprechen, als ob seit seinem Eintritt keine Pause gewesen wäre.

»Noch immer bei der Arbeit, Margaret? Du arbeitest spät.«

»Das geschieht gewöhnlich so.«

»Und früh?«

»Und früh.«

»Das hat sie mir gesagt. Sie sagte, du seiest unablässig tätig und gestehest nie deine Müdigkeit. Nie, solange ihr beisammen lebtet – nicht einmal, als du von Arbeit und Fasten ohnmächtig wurdest. Doch ich habe dir dies bereits gesagt, als ich das letzte Mal hier war.«

»Das tatest du,« antwortete sie; »und ich beschwor dich, mir nichts mehr darüber zu sagen. Auch hast du mirs feierlich versprochen, Richard.«

»Feierlich versprochen,« wiederholte er mit einem kindischen Lachen und einem blöden Blick ins Leere. »Feierlich versprochen, natürlich. Feierlich versprochen!«

Nach einer Weile schien er sozusagen in den früheren Zustand aufzuwachen, denn er fügte mit plötzlicher Lebhaftigkeit bei:

»Aber was kann ich dafür, Margaret? Was soll ich tun? Sie ist wieder bei mir gewesen!«

»Wieder?« rief Meg, ihre Hände zusammenschlagend. »O denkt sie so oft an mich? Schon wieder?«

»O schon zwanzigmal,« sagte Richard. »Margaret, sie läßt mir keine Ruhe. Sie kommt aus der Straße hinter mir her und steckt mirs in die Hand. Ich höre ihren Fuß in der Asche, wenn ich bei meiner Arbeit bin (ha ha! das ist nicht oft), und ehe ich meinen Kopf umwenden kann, tönt mir ihre Stimme ins Ohr. ›Richard, dreh dich nicht um. Gib ihr das, um aller Barmherzigkeit willen!‹ Sie bringt es mir in die Wohnung, schickt es in Briefen, klopft an das Fenster und legt es auf den Sims. Was kann ich tun? Schau her!« Er hielt ihr in der Hand eine kleine Börse entgegen und klimperte mit dem darin enthaltenen Gelde.

»Steck es ein,« sagte Meg, »steck es ein! Wenn sie wiederkommt, so Sage ihr, Richard, daß ich sie von ganzem Herren liebe – daß ich mich nie schlafen lege, ohne sie zu segnen und für sie zu beten – daß ich bei meiner einsamen Arbeit nie aufhöre, an sie zu denken, daß ich Tag und Nacht bei ihr bin und daß ich, wenn ich morgen sterbe, mit meinem letzten Atemzug noch ihrer gedenken will, daß ich aber dies nicht ansehen kann!«

Er zog die Hand langsam wieder an sich, knitterte den Beutel zusammen und sagte mit einer Art schläfriger Nachdenklichkeit:

»Ich sagte ihr dies. Ich sagte ihrs so deutlich, als es sich durch Worte nur aussprechen läßt. Dutzendmal nahm ich seitdem diese Gabe wieder zurück und ließ sie an ihrer Tür liegen. Aber als sie zum letzenmal kam und Angesicht gegen Angesicht vor mich hintrat, was konnte ich tun?«

»Du hast sie gesehen?« rief Meg. »Du hast sie gesehen? O Lilian, mein süßes Mädchen! O Lilian, Lilian!«

»Ich habe sie gesehen,« fuhr er fort, nicht gerade als Antwort, sondern seinem Gedankengang folgend. »Sie stand zitternd da – ›Wie sieht sie aus, Richard? Spricht sie nie von mir? Ist sie schmächtiger geworden? Mein alter Platz an dem Tisch – was ist an meinem alten Platz? Und der Rahmen, an dem sie mich unsre frühere Arbeit lehrte – hat sie ihn verbrannt, Richard?‹ Sie war da, und ich hörte sie so sprechen.«

Meg unterdrückte ihr Schluchzen und beugte sich mit hervorstürzenden Tränen über ihn, um ihm zuzuhören und ja keinen Laut von seinen Worten zu verlieren.

Seine Arme waren auf die Knie aufgestützt, und er lehnte sich in seinem Stuhl vornüber, als sei das, was er sagte, in halb leserlichen Zügen, so daß er Mühe hätte sie zu entziffern, auf den Boden geschrieben. Er fuhr fort:

»›Richard, ich bin sehr tief gefallen, und du kannst dir denken, wie viel ich gelitten habe, als mir dies zurückgeschickt wurde, wenn ich es über mich gewinnen konnte, es eigenhändig dir wiederzubringen. Aber soviel ich mich erinnern kann, hast du sie einmal zärtlich geliebt. Andre sind zwischen euch getreten. Furcht, Eifersucht, Zweifel und Eitelkeit entfremdeten dich ihr. Doch du liebtest sie, soweit ich mich erinnern kann.‹ Ich glaube, sie hat darin recht,« sagte er, sich für einen Augenblick unterbrechend. »Es war wirklich der Fall! Doch das gehört nicht hierher. ›O Richard, wenn du sie jemals lieb hattest, wenn du noch ein Gedächtnis hast für das, was dahin ist und verloren, so bring es ihr noch einmal. Nur noch ein einziges Mal! Sag ihr, wie ich gebeten und gebettelt habe. Sag ihr, wie ich meinen Kopf auf deine Schulter legte, wo ihr eigner Kopf hätte ruhen können, und wie ich so demütig gegen dich war, Richard. Sag ihr, du hast mir ins Gesicht gesehen und gefunden , daß meine Schönheit, die sie sonst so zu preisen pflegte, völlig entschwunden sei – völlig dahin – und an ihrer Stelle nur eine so arme, abgezehrte hohle Wange, daß sie weinen würde, wenn sie ihr zu Gesicht käme. Sag ihr alles dies und nimm es wieder mit, sie wird es nicht aufs neue zurückweisen. Nein, sie wird nicht das Herz haben!‹«

Er blieb nachsinnend sitzen und wiederholte die letzten Worte, bis er wieder erwachte und sich erhob.

»Du willst es nicht nehmen, Margaret?«

Sie schüttelte den Kopf und bat ihn mit stummer Gebärde, sich zu entfernen.

»Gute Nacht, Margaret.«

»Gute Nacht!«

Er wandte sich wieder nach ihr um, betroffen von dem Schmerz und vielleicht auch von dem Mitleid mit ihm, das in ihrer Stimme zitterte. Die Bewegung war rasch und hastig, und für einen Augenblick schien etwas von seinem frühern Wesen in seiner Haltung aufzuzucken. Im nächsten Moment aber ging er, wie er gekommen war. Dieses Aufblitzen eines erloschenen Feuers schien in ihm kein lebendigeres Bewußtsein seiner Würdelosigkeit zu entflammen.

Meg mußte in jeder Stimmung, bei schwerem Kummer, bei körperlichen wie seelischen Qualen ihre Arbeit vollenden. So setzte sie sich daher wieder und nähte fort. Abend, Mitternacht – sie arbeitete noch immer.

Ein schwaches Feuer brannte auf ihrem Herd, denn die Nacht war sehr kalt. Sie stand von Zeit zu Zeit auf, um es zu schüren. Während sie so beschäftigt war, schlugen die Glocken halb eins, und als sie ausgetönt hatten, hörte sie ein leises Pochen an der Tür. Sie öffnete sich, noch ehe Meg Zeit hatte, sich Gedanken darüber zu machen, wer sie wohl zu einer so ungewöhnlichen Stunde besuchen möge.

O Jugend und Schönheit, die ihr glücklich sein sollt, schaut hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr selbst gesegnet seid und alles segnet, was in euerm Bereich ist, die ihr die Absichten eures Schöpfers erfüllt, schaut hierher!

Sie sah die eintretende Gestalt und schrie auf: »Lilian!«

Die Gestalt trat schnell vor, fiel vor ihr auf die Knie nieder und klammerte sich an ihr Kleid.

»Ach Himmel, steh auf – steh auf, Lilian! meine teure Lilian!«

»Nie, Meg; nimmermehr! Hier! hier! zu deinen Füßen will ich mich an dich klammern, damit ich deinen teuern Atem auf meinem Gesicht fühle!«

»Süße Lilian! meine teure Lilian! Kind meines Herzens – die Liebe einer Mutter kann nicht zärtlicher sein. Lege dein Haupt an meine Brust!«

»Nie, Meg. Nimmermehr! Als ich zum erstenmal zu deinem Gesicht aufblickte, knietest du vor mir. Laß mich auf den Knien vor dir sterben. Laß – laß mich!«

»Du bist zurückgekommen. Mein Kleinod, wir wollen wieder beisammenleben, miteinander arbeiten, miteinander hoffen und miteinander sterben.«

»Ach, küsse mich, Meg; schlinge deine Arme um mich und drücke mich an dein Herz! Sieh mich freundlich an – aber laß mich hier liegen! Laß mich zum letztenmal dein liebes Gesicht auf den Knien betrachten!«

O glückliche Jugend und Schönheit, blickt hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr den Zwecken eures wohltätigen Schöpfers dient, blickt hierher!

»Vergib mir, Meg! Teure liebe Meg! vergib mir! Ich weiß, du tust es – ich sehe, daß du es tust; aber sprich es auch aus, Meg!«

Sie sprach es aus, ihre Lippen auf Lilians Wange gedrückt. Und mit ihren Armen umschlang sie – sie wußte es jetzt – ein gebrochenes Herz!

»Gottes Segen über dich, meine Teure. Küsse mich noch einmal! Er duldete es, daß die Sünderin sich zu seinen Füßen niedersetzte und sie mit ihren Haaren abtrocknete. O Meg, welch ein Erbarmen – welch ein Mitleid!«

Als sie starb, berührte der Geist des zurückkehrenden Kindes strahlend und unschuldig den alten Mann mit seiner Hand und winkte ihm weiterzugehen.

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Das vierte Viertel

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Eine neue Erinnerung an die gespenstischen Gestalten in den Glocken, ein unbestimmtes Gefühl, als ob letztere wieder läuteten, ein schwindelndes Bewußtsein, den Phantomenschwarm erneut und wieder erneut gesehen zu haben, bis sich das Bild desselben in dem wirren Durcheinander zahlloser Gestalten verloren hatte – eine sekundenlange Erkenntnis, obwohl er nicht wußte, woher sie kam, daß noch mehr Jahre entschwunden waren – und Trotty stand, von dem Geist des Kindes begleitet, wieder vor menschlicher Gesellschaft.

Eine beleibte Gesellschaft, eine rosenwangige Gesellschaft, eine behagliche Gesellschaft. Es waren ihrer nur zwei, aber sie waren rot genug für zehn. Sie saßen vor einem lustig prasselnden Feuer, zwischen sich einen kleinen, niedrigen Tisch, und wenn nicht der Duft von heißem Tee und Semmeln in diesem Gemach länger weilte als in den meisten andern, so mußte der Tisch kurz zuvor eine Mahlzeit gesehen haben. Aber die Tassen waren rein und standen an ihren Plätzen in dem Eßschrank; die Messingröstgabel hing in ihrem gewöhnlichen Winkel und breitete ihre vier müßigen Finger aus, als wolle sie sich einen Handschuh anmessen lassen, und es waren keine weiteren erkennbaren Merkmale eines eben beendigten Mahles vorhanden als diejenigen, die sich in dem Schnurren und Bartputzen der sich wärmenden Katze und in den lieblich (um nicht zu sagen fettig) glänzenden Gesichtern der beiden Personen aussprachen.

Dieses behäbige Paar (augenscheinlich verheiratet) hatte das Feuer ehrlich zwischen sich geteilt und sah den sprühenden Funken zu, die in den Rost fielen, bald ein wenig einnickend, bald wieder aufwachend, wenn etwa ein ungewöhnlich großes glühendes Fragment prasselnd niederkam, als wollte ihm das Feuer nachfolgen.

Es lief jedoch nicht Gefahr, bald zu verlöschen, denn es erglänzte nicht nur in dem kleinen Zimmer, an den Glasscheiben in der Tür und an dem darüber gezogenen Vorhang, sondern auch in dem kleinen Laden draußen. Ein kleiner Laden, zum Ersticken vollgestopft mit dem Überfluß seiner Vorräte – ein wahrhaft gefräßiger kleiner Laden mit einem Magen so bequem und voll wie der eines Haifisches. Käse, Butter, Brennholz, Seife, Pökelfleisch, Schwefelhölzer, Speckseiten, Tafelbier, Schnurrkreisel, Eingemachtes, Papierdrachen, Hanfsamen, kalter Schinken, Birkenbesen, Herdsteine, Salz, Weinessig, Stiefelwichse, Heringe, Schreibmaterialien, Schweinefett, Champignonsauce, Schnürbänder, Brotlaibe, Federbälle, Eier und Schieferstifte – alles war Fisch, was in das Netz dieses gierigen kleinen Ladens kam, und alle diese Gegenstände befanden sich in seinem Netz. Was für andre kleine Waren noch vorhanden waren, würde sich schwer aufzählen lassen; aber da befanden sich noch Bindfadenrollen, Zwiebelreihen, Lichterbündel, Kohlnetze und Bürsten, die traubenförmig wie eine außerordentliche Frucht von der Decke niederhingen, während verschiedene Büchsen, denen ein aromatischer Duft entströmte, den Wahrheitsbeweis der Aufschrift über der Ladentür lieferten , die dem Publikum kundtat , daß der Inhaber dieses Kramladens auch ein privilegierter Tee-, Kaffee-, Tabak-, Pfeffer- und Schnupftabakshändler sei.

Diese Artikel, die in dem Licht des Feuers und in dem weniger lieblichen Glanze zweier rauchender Lampen unterscheidbar wurden, welche düster in dem Laden brannten, als wenn ihnen dessen Vollblütigkeit schwer auf den Lungen läge, und dann ein Blick auf eines von den beiden Gesichtern bei dem Stubenfeuer ließen Trotty leicht die stämmige alte Dame Frau Chickenstalker erkennen. Sie hatte stets zur Korpulenz geneigt, schon in den Tagen, als er sie gekannt und ein kleines Pöstchen in ihren Büchern stehen hatte.

Die Züge ihres Gesellschafters waren ihm nicht so vertraut. Das große breite Kinn mit Falten, groß genug, daß man einen Finger hineinlegen konnte; die erstaunten Augen, die sich selbst Vorwürfe zu machen schienen , daß sie immer tiefer und tiefer in das nachgiebige Fett seines schwammigen Gesichts einsanken; die Nase, die mit jener Funktionsstörung behaftet war, die man in der Regel Stockschnupfen nennt; den kurzen, dicken Hals und die asthmatische Brust mit andern derartigen Schönheiten konnte Trotty, wie sehr sie auch geeignet sein mochten, sich dem Gedächtnis einzuprägen, anfangs niemand zuschreiben, den er gekannt hatte, obschon es ihm vorkam, als hätte er alles dies schon gesehen. Endlich aber erkannte er in Frau Chickenstalkers Lebens- und Handelsassocié den vormaligen Portier des Sir Joseph Bowley – eine apoplektische Unschuld, die in Trottys Geist vor Jahren schon in eine Beziehung zu Frau Chickenstalker getreten war, weil sie ihm Zutritt zu dem Herrenhaus gegeben, wo er seine Verbindlichkeiten gegen diese Dame bekannt und sich dadurch einen so ernsten Vorwurf auf sein unglückliches Haupt geladen hatte.

Nach den Veränderungen, die Trotty bereits gesehen hatte, interessierte er sich wenig für einen derartigen Wechsel; indes sind die Ideenverknüpfungen doch bisweilen sehr stark, und er sah unwillkürlich hinter die Stubentür, wo gewöhnlich die Posten der borgenden Kunden aufgekreidet waren. Sein Name war nicht mehr dabei. Es standen einige Namen da, doch waren sie Trotty fremd und außerdem in beträchtlich geringerer Anzahl als in früherer Zeit, woraus er schloß, daß der Portier die Barzahlung bevorzuge und daß er bei seinem Eintritt ins Geschäft den säumigen Kunden ziemlich scharf zugesetzt haben mußte.

Trotty fühlte ein solches Herzweh und trauerte so sehr um die Jugend und die Aussichten seines armen Kindes, daß es ihm sogar leid tat, keinen Platz mehr in Frau Chickenstalkers Schuldbuch einzunehmen.

»Was ists für eine Nacht, Anna?« fragte der vormalige Portier des Sir Joseph Bowley, indem er seine Beine vor dem Feuer ausstreckte und sie so weit rieb, als er mit seinen kurzen Armen reichen konnte, während seine Miene deutlich zu sagen schien. »Ich sitze da, wenns schlecht ist, und verlange nicht auszugehen, wenns gut ist.«

»Es stürmt, graupelt und droht mit Schnee,« entgegnete seine Frau. »Dunkel. Und sehr kalt.«

»Es freut mich, daran zu denken, daß wir Wecken hatten,« sagte der vormalige Portier in dem Ton eines Mannes, der sein Gewissen zur Ruhe gebracht hat. ’s ist eine Nacht, wie für Wecken gemacht; auch für Pfannkuchen und Teegebäck.«

Der ehemalige Portier brachte die Namen dieser aufeinander folgenden Leckerbissen vor, als ob er nachdenklich seine guten Taten aufzählte. Dann rieb er sich wieder seine fetten Beine, drehte sie in den Kniegelenken vor dem Feuer, um die strahlende Hitze auch den bisher ungerösteten Teilen zuzuführen, und lachte, als ob ihn jemand gekitzelt hätte.

»Du bist ja recht heiter, mein lieber Tugby,« bemerkte seine Frau.

Die Firma hieß jetzt Tugby, vormals Chickenstalker.

»Nein,« versetzte Tugby, »nein. Nicht besonders. Bin nur in etwas gehobener Stimmung. Die Wecken kamen so gelegen!«

Dabei kicherte er, bis er ganz schwarz im Gesicht war, und hatte so viel Not, wieder eine andre Farbe zu kriegen, daß seine fetten Beine die seltsamsten Exkursionen in die Luft machten. Auch wollten sie erst wieder einigermaßen Vernunft annehmen, als ihn Frau Tugby heftig auf den Rücken geklopft und wie eine große Flasche geschüttelt hatte.

»O du grundgütiger Himmel über diesen Mann!« schrie Frau Tugby entsetzt. »Was er nur treibt!«

Herr Tugby wischte sich die Augen und wiederholte mit matter Stimme, daß er sich ein wenig in gehobener Stimmung befinde.

»Na, sei so gut und laß es in Zukunft bleiben,« versetzte Frau Tugby, »wenn du mich mit deinem Rappeln und Herumfechten nicht zu Tod erschrecken willst!«

Herr Tugby erklärte, es nicht mehr tun zu wollen. Aber seine ganze Existenz war ein Fechtgang, bei dem er, wenn man nach seinem stets kürzer werdenden Atem und dem tiefen Purpur seines Gesichtes urteilen durfte, immer den kürzern zog.

»So stürmts also und graupelts und drohts mit Schnee; ists dunkel und sehr kalt, meine Liebe!« sagte Herr Tugby, indem er nach dem Feuer sah und wieder auf die Ursache und den Kern seiner momentanen gehobenen Stimmung kam.

»Bei Gott, ein rauhes Wetter,« erwiderte seine Frau, den Kopf schüttelnd.

»Ja, ja!« sagte Herr Tugby. »Jahre sind in dieser Hinsicht wie die Christen: Einige von ihnen sterben schwer, und bei andern geht es leicht ab. Das gegenwärtige hat nicht mehr weit hin und wehrt sich deshalb; aber es gefällt mir dafür nur um so besser. Es ist ein Kunde da, meine Liebe!«

Frau Tugby hatte das Knarren der Tür bereits vernommen und sich erhoben.

»Nun, was solls?« fragte die Dame, in den kleinen Laden hinausgehend. »O! ich bitt‹ um Verzeihung, Sir; wahrhaftig, ich wußte nicht, daß Sie es wären.«

Diese Entschuldigung galt einem Gentleman in Schwarz, der mit zurückgeschlagenen Ärmeln, den Hut seitwärts auf den Kopf gedrückt und die Hände in seinen Rocktaschen, rittlings auf dem Tafelbierfäßchen saß und ihr entgegennickte.

»Das ist eine schlimme Geschichte da oben, Frau Tugby,« sagte der Gentleman. »Der Mann kann nicht leben.«

»Wie, der aus dem hintern Dachstübchen?« rief Tugby, der in den Laden herauskam und sich an dem Gespräch beteiligte.

»Der Dachstübler, Herr Tugby,« entgegnete der Gentleman, »wird demnächst die Treppe herunterkommen und gar bald unter dem Rasen liegen.«

Während er abwechselnd Tugby und dessen Gattin anschaute, klopfte er mit den Knöcheln das Faß ab, um zu untersuchen, wieviel Bier noch darin sei, und sobald er dies ausfindig gemacht hatte, trommelte er einen Marsch auf dem leeren Teil.

»Das hintere Dachstübchen, Herr Tugby,« sagte der Herr, nachdem Tugby eine Zeitlang in stummer Bestürzung vor sich hingestarrt hatte, »ist im Begriff abzufahren.«

»Dann«, sagte Tugby, sich an seine Frau wendend, »muß er abfahren, bevor er abgefahren ist.«

»Ich glaube nicht, daß Ihr ihn fortschaffen könnt,« sagte der Gentleman, den Kopf schüttelnd. »Ich für meinen Teil möchte wenigstens nicht die Verantwortung auf mich nehmen und die Möglichkeit zugestehen. Laßt ihn bleiben, wo er ist. Er kanns nicht mehr lange treiben.«

»’s ist der einzige Gegenstand,« sagte Tugby, die Butterwagschale krachend auf den Ladentisch drückend, indem er seine Faust darin wog, »über den wir je einen Wortwechsel miteinander gehabt haben – sie und ich – und da sieht man, was am Ende dabei herausgekommen ist! Stirbt er zuletzt gar hier – stirbt auf unserm Grund und Boden – stirbt in unserm Haus!«

»Und wo willst du denn, daß er sterben soll, Tugby?« rief seine Frau.

»Im Armenhaus,« entgegnete er. »Wozu hat man denn Armenhäuser?«

»Dazu nicht,« erwiderte Frau Tugby mit großem Nachdruck. »Dazu nicht! Dazu habe ich dich auch nicht geheiratet. Schlag dir diese Gedanken aus dem Kopf, Tugby – ich wills nicht haben. Ich leide es einmal nicht – lieber ließe ich mich zuerst scheiden, um dein Gesicht nie wiederzusehen. Als mein Witwenname noch über dieser Tür stand – und er hat viele, viele Jahre da gestanden – war dieses Haus weit und breit als Frau Chickenstalkers bekannt, und jedermann rühmte es wegen seines ehrlichen Kredits und seines guten Rufs. Als mein Witwenname noch über jener Tür stand, Tugby, kannte ich ihn als einen schönen, kräftigen, männlichen, unabhängigen Jüngling – ich kannte sie als das süßeste und gutmütigste Mädchen, das man je gesehen hat – ich kannte ihren Vater (der arme alte Mann stürzte vom Turm, den er schlafwandelnd erstiegen hatte, und erschlug sich) als den einfachsten, unermüdlichsten und wohlwollendsten Mann, der nur je geatmet hat, und wenn ich sie aus dem Haus stoße, mögen mich die Engel aus dem Himmel stoßen. Das täten sie auch! Und mir würde nur recht geschehen!«

Ihr altes Gesicht, das zu Tobys Zeiten rund und voll Grübchen gewesen, schien wieder aus ihrem jetzigen hervorzuleuchten, als sie diese Worte sprach. Sie trocknete dann die Augen und schüttelte mit einem Ausdruck von Festigkeit, die augenscheinlich keinen Widerstand duldete, den Kopf und ihr Schnupftuch gegen Tugby, so daß Trotty vor sich hinsprach: »Gott segne sie! Gott segne sie!«

Dann horchte er mit klopfendem Herzen auf das, was nun folgen mochte; denn er wußte noch nichts, als daß sie von Meg sprachen.

Wenn Tugby in dem Stübchen ein wenig in gehobener Stimmung gewesen war, so wurde jetzt das Gleichgewicht mehr als erforderlich wieder hergestellt, indem er nun im Laden nicht wenig gedrückt dastand und seine Frau stumm anglotzte. Dabei – sei es in Anwandlung von Zerstreutheit oder als Vorsichtsmaßregel – ließ er heimlich alles Geld aus der Schublade in seine eignen Tasten gleiten.

Der Gentleman aus dem Tafelbierfaß, der augenscheinlich ein autorisierter Armenarzt war, mochte wohl an kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen Mann und Weib zu sehr gewöhnt sein, um sich im gegenwärtigen Fall eine Bemerkung zu erlauben. Er blieb pfeifend sitzen und ließ kleine Tropfen aus dem Hahn auf den Boden rinnen, bis vollkommene Stille eingetreten war. Dann hob er seinen Kopf und sagte zu Frau Tugby, vormals Chickenstalker:

»Es ist sogar jetzt noch etwas Interessantes an der Frauensperson. Wie kam sie dazu, ihn zu heiraten?«

»Ach,« versetzte Frau Tugby, ihren Sitz neben ihm nehmend, »das ist ein recht grausamer Teil ihrer Geschichte, Sir. Ihr müßt nämlich wissen, daß sie und Richard vor vielen Jahren miteinander verlobt waren. Als sie noch ein junges und schönes Paar waren, hatten sie alles miteinander ausgemacht, und sie wollten sich an einem Neujahrstag trauen lassen. Da setzte aber ein Gentleman Richard in den Kopf, daß er etwas Besseres tun könne; er werde den Schritt bald bereuen – das Mädchen sei nicht gut genug für ihn, und ein lebensfroher junger Mann habe keinen Grund, zu heiraten. Und der Gentleman schüchterte auch sie ein und machte sie melancholisch, indem er ihr sagte, ihr Mann werde sie dann verlassen, ihre Kinder kämen an den Galgen, und es sei gottlos, zu heiraten, und was dergleichen mehr war. Kurz, sie zögerten und zögerten – ihr Vertrauen zueinander wurde gebrochen, und so ging es auch mit der Verlobung. Aber der Fehler lag an ihm, denn sie würde ihn mit Freuden geheiratet haben, Sir. Oftmals nachher habe ich gesehen, wie ihr fast das Herz brach, wenn er in stolzer, gleichgültiger Weise an ihr vorbeiging, und nie grämte sich ein Mädchen aufrichtiger um einen Mann als sie, wie sie zum erstenmal hörte, daß Richard auf Abwege gerate.«

»O! ist er auf Abwege geraten?« sagte der Gentleman, indem er den Luftzapfen des Fäßchens herauszog und durch das Loch nach dem Bier hinunterzugucken versuchte.

»Ja, seht Ihr, Sir, ich glaube nicht, daß er sich selbst recht verstand. Ich glaube, es bedrückte ihn sehr, daß sie miteinander gebrochen hatten, und hätte er sich nicht vor dem Gentleman geschämt – vielleicht trug er auch Bedenken, weil er nicht wußte, wie sie es aufnehmen würde – so hätte er vielleicht alles über sich ergehen lassen, nur um Megs Versprechen und Hand wiederzugewinnen. So glaube ich wenigstens, obschon er mirs leider nie gesagt hat. Er legte sich dann aufs Trinken, wurde ein Faulenzer und hielt sich an schlechte Gesellschaft – lauter Vergnügungen, die – nach dem Ausspruch des Gentleman – so viel besser für ihn sein würden als das behagliche Heim, das er hätte haben können. So verlor er denn sein gutes Aussehen, seinen guten Ruf, seine Gesundheit, seine Kräfte, seine Freunde, seine Arbeit – kurz alles!«

»Er hat nicht alles verloren, Frau Tugby,« erwiderte der Gentleman, »denn er gewann ja ein Weib, und ich möchte wissen, wie dies zuging.«

»Ich komme sofort dazu, Sir. So trieb ers Jahre um Jahre und sank immer tiefer und tiefer; das arme Ding aber erduldete Elend genug, um sich ganz aufzureiben. Endlich war er so herabgekommen, daß ihm niemand mehr Beschäftigung geben oder auf ihn achten wollte, und wohin er kam, wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er wanderte von einem Ort zum andern und kam zum hundertstenmal zu einem gewissen Herrn, der es oft und oft mit ihm versucht hatte; denn er war bis zu allerletzt ein guter Arbeiter. Und dieser Herr, der seine Geschichte kannte, sagte zu ihm: ›Ich glaube, Ihr seid unverbesserlich; es gibt nur eine einzige Person in der Welt, die Euch möglicherweise noch retten kann. Bittet mich nicht mehr um mein Vertrauen, bevor sie nicht einen Versuch mit Euch gemacht hat.‹ So ähnlich fuhr er ihn in seinem Zorn an.«

»Ah!« entgegnete der Gentleman. »Und was weiter?« »Nun, Sir, er ging zu ihr und kniete vor ihr nieder – sagte, so stehe es und so sei es bisher gegangen, und bat sie dann, ihn zu retten.«

»Und sie? – Laßts Euch nicht so zu Herzen gehen, Frau Tugby.«

»Sie kam noch am nämlichen Abend zu mir und fragte mich, ob sie nicht in meinem Haus wohnen könnten. ›Was er mir einmal gewesen ist‹, sagte sie, ›ist tot und begraben, Seite an Seite mit dem, was ich ihm war. Aber ich habe mir die Sache überlegt und will den Versuch machen – in der Hoffnung, ihn zu retten, und um der Liebe des frohherzigen Mädchens willen, das Ihr noch gekannt habt und das an einem Neujahrstag heiraten sollte; um jener Liebe für ihren Richard willen.‹ Und sie sagte, er sei von Lilian zu ihr gekommen, und Lilian habe ihm vertraut, und sie könne dies nie vergessen. So heirateten sie; und als sie hierherkamen und ich sie sah, hoffte ich, daß sich Prophezeiungen, wie diejenigen, die sie in ihrer Jugend trennten, nicht oft erfüllen möchten, wie in diesem Falle; wenigstens möchte ich sie nicht um ganze Goldberge voraussagen.«

Der Gentleman stieg von dem Faß herunter und streckte sich, indem er zugleich bemerkte:

»Vermutlich mißhandelte er sie, sobald sie verheiratet waren?«

»Ich glaube nicht, daß er dies je getan hat,« versetzte Frau Tugby kopfschüttelnd und sich die Augen trocknend. »Es ging mit ihm eine kurze Zeit besser; aber seine Gewohnheiten waren zu stark und zu festgewurzelt, als daß er sie hätte los werden können. Er wurde ein wenig rückfällig, und das wiederholte sich immer öfter und stärker, bis ihn sein Leiden erfaßte. Ich glaube, er hat sie immer geliebt, und bin fest davon überzeugt. Ich habe gesehen, wie er in seinen Anfällen weinend und zitternd ihre Hand zu küssen versuchte, und hörte, wie er sie Meg nannte und wie er sagte, es sei ihr neunzehnter Geburtstag. Jetzt liegt er schon wochen- und monatelang da. Da sie ihre Zeit zwischen ihm und ihrem Kinde teilen muß, war sie nicht imstande, ihre frühere Arbeit fortzusetzen; sie verlor dieselbe, weil sie sie nicht regelmäßig abliefern konnte, wenn sie auch schließlich mit ihr fertig wurde. Wie sie ihr Leben fortzubringen vermochten, weiß ich kaum zu sagen.«

»Aber ich weiß es,« murmelte Herr Tugby, indem er nach der Geldschublade, im Geschäft umher und auf seine Frau blickte; dann wiegte er mit schlauer Miene den Kopf und sagte: »Wie Kampfhähne!«

Er wurde jetzt durch einen Schrei – einen Klagelaut aus dem obern Stockwerk des Hauses unterbrochen. Der Gentleman eilte hastig zur Tür.

»Mein Freund,« sagte er zurückblickend, »Ihr braucht jetzt nicht mehr zu streiten, ob er fortgeschafft werden soll oder nicht; denn ich glaube, er hat Euch die Mühe erspart.«

Mit diesen Worten eilte er die Treppe hinauf, und Frau Tugby folgte ihm nach, während Herr Tugby hinterdrein keuchte und brummte, denn er war kurzatmiger als gewöhnlich infolge der Beute aus der Geldlade, die eine unbequeme Menge Kupfer enthalten hatte. Trotty schwebte, das Kind an seiner Seite, wie ein Windhauch die Treppe hinauf.

»Folge ihr! folge ihr! folge ihr!« Er hörte beim Hinansteigen die gespenstigen Stimmen in den Glocken ihre Worte wiederholen. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

Es war vorüber. Es war vorüber. Dies also war sie, der Stolz und die Freude ihres Vaters! – dieses hagere, unglückliche Weib, die neben dem Bett, wenn es diesen Namen verdiente, weinte und gesenkten Hauptes ein Kind an ihre Brust drückte? Wie abgezehrt, krank und elend das arme Kind aussah – aber doch, wer kann sagen, wie teuer es ihr war?

»Gott sei Dank!« rief Trotty, die Hände gefaltet in die Höhe haltend. »O, Gott sei gedankt! Sie liebt ihr Kind!«

Der Gentleman war durch täglich sich wiederholende ähnliche Szenen gleichgültig gegen den Anblick geworden und wußte, daß sie nur bedeutungslose Ziffern in Filers Summen waren – nur Striche in den Berechnungen. Er legte seine Hand auf das Herz, das nicht mehr schlug, lauschte auf den Atem und sagte:

»Seine Leiden sind vorüber. Ihm ist wohl!«

Frau Tugby versuchte, die arme Frau mit liebevoller Teilnahme zu trösten, während Herr Tugby mit philosophischen Beruhigungsmitteln angestiegen kam.

»Nun, nun!« sagte er, die Hände in seinen Taschen; »Ihr müßt Euch nicht dem Schmerz hingeben. Es führt zu nichts. Ihr müßt dagegen ankämpfen. Was wäre aus mir geworden, wenn ich mich als Portier hätte so unterkriegen lassen, wo wir wohl sechsmal in der Nacht durch das zweimalige Klopfen, das immer einen Wagen ankündigte, aus dem Schlaf gerissen wurden, um dann zu sehen, daß man uns genarrt hatte. Ich aber besaß Geistesstärke genug und machte nicht auf!«

Abermals hörte Trotty die Stimmen sagen: »Folge ihr!« Er wandte sich nach seinem Führer um und sah , wie dieser sich in die Luft schwang. »Folge ihr!« sagte er und verschwand.

Trotty schwebte um sie her, setzte sich zu ihren Füßen nieder, blickte zu ihrem Gesicht auf, um auch nur eine einzige Spur ihres früheren Aussehens zu finden , und lauschte auf einen Ton ihrer alten lieblichen Stimme. Auch das Kind umwandelte er – es war so abgezehrt, so frühalt, so schrecklich in seinem Ernst, so kläglich in seinem schwachen, traurigen Wimmern. Er betete es beinahe an; er klammerte sich an das kleine Geschöpf als ihren einzigen Schutz, als das letzte lebendige Glied, das sie noch an die Welt fesselte. Er setzte seine Vaterhoffnung, sein ganzes Vertrauen auf dieses hinfällige Kind, bewachte jeden ihrer Blicke, als sie es in ihren Armen hielt, und rief zu tausend Malen:

»Sie liebt es! Gott sei Dank, sie liebt es!«

Er war Zeuge, wie die Frau sie nachts pflegte und zu ihr zurückkehrte, sobald ihr brummender Mann schlief und alles still war, um ihr Nahrung zu bringen, sie zu ermutigen und mit ihr zu weinen. Der Tag kam und dann wieder die Nacht – abermals ein Tag und wieder eine Nacht; die Zeit entschwand. Das Haus des Todes entledigte sich seines Toten, und das Zimmer blieb ihr und dem Kind überlassen. Er hörte es stöhnen und weinen; er sah, wie es die Mutter quälte und ermüdete – ja , die vor Erschöpfung kaum Eingeschlummerte wieder wachrief und sie mit seinen kleinen Händchen auf der Folter erhielt. Aber sie blieb ausdauernd , sanft und geduldig. Geduldig! Sie war seine liebende Mutter von ganzer Seele und ganzem Herzen, und sein Leben war mit dem ihrigen so verknüpft, als sei es noch nicht geboren.

In all dieser Zeit litt sie Not, siechte dahin in schrecklichem, verzehrendem Mangel. Das Kind in ihren Armen, wanderte sie da- und dorthin, um Beschäftigung zu suchen, und während sein hageres Gesichtchen in ihrem Schoß lag und zu ihrem Antlitz aufblickte, verrichtete sie jede Arbeit für den erbärmlichsten Preis – Tag und Nacht sich abmühend für so viele Kreuzer, als da Ziffern sind auf dem Uhrblatt! Wenn sie es gezankt, vernachlässigt, nur einen Augenblick mit Haß angesehen oder gar in hastigem Zornaufwallen geschlagen hätte! Nein. Sein Trost war, daß sie es immer liebte.

Sie teilte niemand ihre äußerste Not mit und wanderte tags draußen umher, um nicht von ihrer einzigen Freundin befragt zu werden; denn jede neue Hilfe, die sie von ihren Händen erhielt, hatte einen neuen Hader zwischen der guten Frau und ihrem Gatten zur Folge. Und der Gedanke, da auch noch die Ursache zu täglichem Zank und Wortwechsel zu werden, wo sie schon so viel schuldete, bereitete ihr neues Leid.

Dennoch liebte sie ihr Kind. Sie liebte es mehr und mehr. Aber es kam eine Nacht, in der auch ihre Liebe sich anders gestaltete.

Damals sang sie es leise in den Schlaf und ging auf und ab, um es einzulullen, als sich sacht die Tür öffnete und ein Mann hereinsah.

,,Zum letztenmal!« sagte er.

»William Fern!«

»Zum letztenmal!«

Er lauschte wie einer, hinter dem die Verfolger her sind, und sprach flüsternd:

»Margarete, meine Uhr ist nahezu abgelaufen. Ich konnte nicht enden, ohne Abschied von dir zu nehmen, ohne dir ein Wort des Dankes zu sagen.«

»Was habt Ihr getan?« fragte sie, ihn mit Entsetzen betrachtend.

Er sah sie an, gab aber keine Antwort.

Nach einem kurzen Schweigen machte er eine Gebärde mit der Hand, als wollte er ihre Frage abwehren, sie beiseite schieben, und sagte:

»Es ist jetzt schon lange her, Margarete; aber jene Nacht ist noch so frisch in meinem Gedächtnis , als wäre es erst gestern gewesen. Damals dachten wir nicht,« fügte er, mit einem Blick auf ihre Umgebung, hinzu, «daß wir uns jemals unter solchen Umständen wiedersehen sollten. Ist das dein Kind, Margarete? Laß es mich umarmen. Gib mir dein Kind.«

Er legte seinen Hut auf den Boden und nahm es auf, zitterte aber dabei vom Kopf bis zum Fuß.

»Ist es ein Mädchen?«

»Ja«

Er hielt seine Hand vor ihr kleines Gesichtchen.

»Schau , wie schwach ich geworden bin, Margarete , wenn ich nicht einmal den Mut habe, es anzusehen! Laß sie mir einen Augenblick. Ich tue ihr nichts. Es ist lange her, aber … Wie heißt die Kleine?«

»Margarete,« antwortete sie rasch.

»Das freut mich,« sagte er. »Das freut mich.«

Er schien freier zu atmen. Nach einer kurzen Pause nahm er seine Hand weg und sah dem Kind ins Antlitz. Dann aber bedeckte er es augenblicklich wieder.

»Margarete!« sagte er und gab ihr das Kind zurück. »Es ist Lilians Gesicht.«

»Lilians?«

»Ich hielt dasselbe Gesicht in meinen Armen, als Lilians Mutter starb und sie zurückließ.«

»Als Lilians Mutter starb und sie zurückließ?« wiederholte sie außer sich.

»Wie schrill du sprichst! Warum starrst du mich so an, Margarete?«

Sie sank in einen Stuhl, preßte das Kind an ihre Brust und weinte. Dann sah sie ihm ängstlich ins Gesicht und drückte es abermals an ihr Herz. Wenn sie es aber so betrachtete, schien sich etwas Wildes und Schreckliches in ihre Liebe zu mischen, und ihr alter Vater begann darob zu zittern.

»Folge ihr!« tönte es durch das Haus. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

»Margarete,« sagte Fern, sich über sie beugend und sie auf die Stirn küssend. »Ich danke dir zum letztenmal. Gute Nacht. Gott behüte dich! Gib mir deine Hand und versprich mir, mich von dieser Stunde an zu vergessen, und bilde dir ein, ich sei hier gestorben.«

»Was habt Ihr getan?« sagte sie abermals.

»Es wird heute nacht ein Feuer geben,« sagte er, von ihr zurücktretend. »Es werden in diesem Winter viele Feuer sein, um die dunkeln Nächte zu erhellen im Osten, Westen, Norden und Süden. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, dann wird die Farbe von Flammen herrühren. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, denke nicht mehr an mich; oder wenn du nicht anders kannst, so erinnere dich, welche Hölle in meinem Innern angezündet wurde, und denke, es seien ihre Flammen, die sich in den Wolken spiegeln. Gute Nacht. Gott befohlen!«

Sie rief ihm nach; aber er war fort. Dann setzte sie sich betäubt nieder, bis sie durch ihr Kind zum Gefühl des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit geweckt wurde. Sie ging die liebe lange Nacht in der Stube auf und ab, es in den Armen wiegend und beschwichtigend, wobei sie mitunter vor sich hinmurmelte: »Es gleicht Lilian, als ihre Mutter starb und sie zurückließ!« Warum war ihr Schritt so hastig, ihr Auge so wild, ihre Liebe so ungestüm und schrecklich, sooft sie diese Worte wiederholte?

»Aber es ist Liebe,« sagte Trotty. »Es ist Liebe. Sie wird nie aufhören, es zu lieben. Meine arme Meg!«

Am andern Morgen kleidete sie das Kind mit ungewöhnlicher Sorgfalt – ach, welch eitle Mühe bei so elenden Fetzen! – und versuchte abermals, irgendeinen Verdienst aufzutreiben. Es war der letzte Tag des alten Jahres. Ohne etwas über die Lippen zu bringen, lief sie bis in die Nacht umher; aber all ihre Bemühungen waren vergeblich!

Sie mischte sich unter eine Gruppe herabgekommener Bittsteller, die im Schnee standen, bis ein Beamter , der zur Verteilung der öffentlichen Almosen – die das Gesetz gebot, nicht aber die Barmherzigkeit, die einst auf einem Berg gepredigt wurde – bestellt worden war, sich gnädigst herbeiließ, die Leute hereinzurufen, ins Verhör zu nehmen, dem einen zu sagen, »er solle da und dahin gehen,« dem andern zu bemerken, »er solle nächste Woche wiederkommen,« oder einen dritten Elenden wie einen Ball von hierher dorthin, von Hand zu Hand, von Haus zu Haus zu schleudern, bis er kraftlos umsank, um zu sterben, oder wieder aufsprang, um einen Diebstahl zu begehen und so zu einer höheren Art von Verbrecher zu werden, dessen Ansprüche keine Zögerung gestatteten. Aber auch hier sollte sie ihre Erwartung trügen. Sie liebte ihr Kind und wünschte, daß es an ihrer Brust läge. Dies war ganz genug.

Es war Nacht – eine kalte, dunkle, schneidende Nacht, als sie, das Kind an ihrem Leib wärmend, an das Haus gelangte, das sie ihr Heim nannte. Sie war so matt und schwindlig, daß sie niemand unter dem Haustor stehen sah, bis sie dicht daran war und eintreten wollte. Jetzt erst erkannte sie den Hausherrn, der sich so aufgepflanzt hatte – bei seiner Beleibtheit war dies nicht schwer – daß er den ganzen Eingang versperrte.

»O!« sagte er halblaut. »Ihr seid zurückgekommen?«

Sie blickte ihr Kind an und schüttelte den Kopf.

»Glaubt Ihr nicht , Ihr habt hier lange genug gewohnt , ohne Miete zu bezahlen? Glaubt Ihr nicht , daß Ihr für jemand, der nichts zahlt, eine recht anhängliche Kundin gewesen seid?« sagte Herr Tugby.

Sie wiederholte dieselbe stumme, flehentliche Bitte.

»Was würdet Ihr dazu sagen, wenn Ihr es versuchtet, woanders einzukaufen«, meinte er, »und Euch ein andres Quartier zu verschaffen? Nun! Glaubt Ihr nicht, es ließe sich machen?«

Sie versetzte mit gedämpfter Stimme, »daß es schon sehr spät sei. Morgen.«

»Ah, ich sehe schon, was Ihr wollt und was Ihr im Sinn habt,« entgegnete Tugby; »Ihr wißt, daß es in diesem Hause wegen Euch zwei Parteien gibt, und es macht Euch Freude, sie gegeneinander zu hetzen. Ich will keinen Streit haben und spreche jetzt so leise, um jeder Zänkerei vorzubeugen; aber wenn Ihr nicht geht, will ich laut reden, und es wird Worte setzen, die stolz und heftig genug sind, um Euch zu gefallen. Aber herein kommt Ihr mir nicht, das steht fest.«

Sie strich sich das Haar mit der Hand zurück und sah plötzlich zum Himmel auf in die düstere, dunkle Ferne.

»Dies ist die letzte Nacht des alten Jahres, und ich will nicht Euch oder irgend jemand anderm zuliebe böses Blut, Händel und Unfrieden ins neue hinübernehmen,« sagte Tugby, der in kleinerem Maßstab ein ›Freund und Berater‹ war. »Es wundert mich, daß Ihr Euch nicht vor Euch selbst schämt, mit solchen Kniffen ein neues Jahr anzufangen. Wenn Ihr in der Welt nichts andres zu tun habt als stets zu heulen und den Samen der Zwietracht zu streuen zwischen Mann und Weib, so tut Ihr besser, aus ihr hinauszugehen. Fort mit Euch!«

»Folge ihr! zur Verzweiflung!«

Abermals hörte der alte Mann die Stimmen. Er blickte auf und sah die Gestalten in der Luft schweben, die ihm den dunkeln Weg zeigten, den sie ging.

»Sie liebt es!« rief er in dringlichem Flehen. »Ihr Glocken, sie liebt es noch immer!«

Die Schatten schwebten in die Richtung, die sie eingeschlagen hatte, gleich einer Wolke.

Er schloß sich den Verfolgern an, hielt sich dicht an die Unglückliche und blickte ihr ins Gesicht. Da war derselbe wilde, schreckliche Ausdruck, der sich in ihre Liebe mengte und aus ihren Augen blitzte. Er hörte sie sagen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!« und ihre Eile verdoppelte sich.

O, gab es denn gar nichts, das sie aus ihrem Taumel reißen konnte? Nur ein Anblick, ein Schall, ein Geruch, der in einem Gehirn voll Feuer zartere Erinnerungen heraufbeschwören könnte? O Gott, nur ein einziges friedliches Bild der Vergangenheit sollte sich ihrem Auge zeigen!

»Ich war ihr Vater! ich war ihr Vater!« rief der alte Mann, seine Hand nach den dunkeln Schatten ausstreckend, die in der Luft dahinflogen. »Habt Erbarmen mit ihr und mit mir! Wohin geht sie zurück! Ich war ihr Vater!«

Aber sie deuteten bloß nach ihr hin, während sie weiter eilte, und sagten:

»Zur Verzweiflung! Lerne es an dem Geschöpf, das deinem Herzen am teuersten war!«

Hundert Stimmen hallten es nach, und die ganze Luft war ein für diese Worte verbrauchter Atem. Toby schien sie mit jedem seiner Atemzüge in sich zu saugen. Sie waren überall, und er konnte ihnen nicht entkommen. Dennoch eilte sie weiter – dasselbe unheimliche Licht in ihren Augen, dieselben Laute auf ihren Lippen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!«

Mit einem Male machte sie halt.

»O holt sie zurück!« rief der alte Mann, sich das weiße Haar zerraufend. »Mein Kind! Meine Meg! Holt sie zurück! Ewiger Vater, tu ihr Einhalt!«

Sie wickelte das Kind warm in ihr eignes dünnes Halstuch. Mit fieberigen Händen streichelte sie seine Glieder, legte sein Köpflein zurecht und ordnete den armseligen Anzug. Sie umschlang es mit ihren abgezehrten Armen, als wollte sie es nimmer von sich lassen, und mit ihren vertrockneten Lippen küßte sie es im höchsten Schmerz und im letzten langen Kampf der Liebe.

Sie legte des Kindes abgezehrte Hand auf ihren Hals, hielt es unter ihrem Kleid geschützt, drückte es an ihr verzweifeltes Herz und wandte das schlafende Gesichtchen dem ihren zu – dann eilte sie dem Fluß entgegen.

Dem rollenden, raschen und trüben Strom entgegen, auf dem die Winternacht brütend saß wie die letzten düsteren Gedanken vieler, die früher hier eine Zuflucht gesucht hatten. Wo zerstreute Lichter am Ufer unheimlich rot und trübe glommen, als wären sie Fackeln, die den Weg zum Tode wiesen. Wo kein Wohnplatz lebender Menschen seinen Schatten warf auf das tiefe, undurchdringliche, melancholische Schattenreich.

Dem Fluß entgegen! Zu jener Pforte der Ewigkeit lenkte sie ihre verzweifelten Schritte mit derselben Schnelligkeit, mit der seine raschen Wellen dem Meer zuströmten. Er versuchte, sie festzuhalten, als sie auf ihrem Weg nach dem dunkeln Spiegel an ihm vorbeikam; aber die wirre, wahnsinnige Gestalt, die wilde und schreckliche Liebe, die Verzweiflung, die alles menschliche Hindernis weit hinter sich gelassen hatte, rauschte wie der Wind an ihm vorbei.

Er folgte ihr. Sie hielt einen Augenblick an dem Rand inne, ehe sie den entsetzlichen Sprung tat. Er fiel auf seine Knie nieder und rief kreischend den Gestalten in den Glocken zu, die jetzt über ihnen schwebten.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »Von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist! O rettet sie, rettet sie!«

Er konnte seine Finger in ihren Anzug krampfen, konnte ihn halten! Als diese Worte seinen Lippen entschlüpft waren, fühlte er seinen Tastsinn zurückkehren, und er wußte, daß er sie abhielt.

Die Gestalten schauten festen Blickes auf ihn nieder.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »O habt Erbarmen mit mir in dieser Stunde, wenn ich in meiner Liebe zu ihr, die so jung und so gut ist, die Natur in den Herren der Mütter schmähte und sie zur Verzweiflung brachte! Habt Mitleid mit meiner Anmaßung, mit meinem Frevel und mit meiner Unwissenheit – rettet sie!«

Er fühlte, wie seine Hand kraftloser wurde. Sie schwiegen noch immer.

»Habt Erbarmen mit ihr!« rief er. »Dieses schreckliche Verbrechen wurde nur durch sinnlose Liebe gezeitigt; durch die stärkste, innigste Liebe, die wir gefallenen Menschen kennen! Bedenkt, wie groß ihr Elend gewesen sein muß, wenn solcher Same solche Frucht trägt. Der Himmel hat sie zum Guten bestimmt. Es gibt keine liebende Mutter auf der Erde, die nicht auch so weit getrieben werden könnte, wenn ein solches Leben vorhergegangen. O habt Erbarmen mit meinem Kinde, das selbst in diesem Augenblick Erbarmen mit dem ihren hegt und selber stirbt und ihre unsterbliche Seele dem Verderben preisgibt, um es zu erlösen!«

Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie fest. Er hatte die Kraft eines Riesen.

»Ich sehe den Geist der Glocken unter euch,« sagte der alte Mann, das Kind erblickend, mit einer Art von Begeisterung, die dessen Blicke in ihm entzündeten. »Ich weiß, daß die Zeit unser Erbteil uns verwaltet. Ich weiß, daß eines Tages ein Meer der Zeit sich erheben und alle wie Blätter wegspülen wird, die uns unrecht tun und uns unterdrücken. Ich sehe, wie es heranflutet! Ich weiß, daß wir vertrauen und hoffen müssen und weder an uns noch an andern das Gute bezweifeln dürfen. Ich habe es von dem Wesen gelernt, das meinem Herzen am teuersten. Ich halte es wieder in meinen Armen. O ihr gnädigen und gütigen Geister, ich verschließe eure Lehre in die Brust, an der ich sie halte. O ihr gnädigen und guten Geister, ich danke euch!«

Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, wenn nicht die Glocken, die alten, lieben Glocken, seine guten, treuen, beständigen Freunde, ihr Freudengeläut zum neuen Jahr so munter, so fröhlich und so schwellend begonnen hätten, daß er auf die Füße sprang und so den Zauber löste, der ihn fesselte. –

 

»Und was du auch tust, Vater,« sagte Meg, »du mußt jedenfalls den Arzt befragen, bevor du wieder Kuttelflecke ißt, damit er dir sagen kann, ob sie dir zuträglich sind. Denn was du getrieben hast! Du lieber Gott!«

Sie saß an dem kleinen Tisch am Feuer und nähte an ihrem einfachen Hochzeitskleide, das sie mit Bändern schmückte, und war so stillselig, so blühend und jugendlich, so voll schöner Verheißung, daß er laut aufschrie, als wenn ein Engel in seinem Haus wäre. Dann stürzte er auf sie zu, um sie in seine Arme zu schließen. Doch er verwickelte sich mit den Füßen in die Zeitung, die auf die Erde gefallen war, und jemand drängte sich zwischen ihn und Meg.

»Nein,« sagte die Stimme des besagten Jemand, und es war eine prächtige, helle Stimme! »Nicht einmal Ihr. Der erste Kuß von Meg im neuen Jahr gehört mir. Mir! Ich habe eine Stunde vor dem Haus gestanden, um die Glocken zu hören und mir ihn zu verdienen. Meg, mein liebster Schatz, ein glückliches Neujahr! und mögen wir noch recht viel glückliche Jahre verleben, mein liebes Weibchen!«

Und Richard erstickte sie fast mit seinen Küssen.

Als dies geschah, konnte man keinen glücklicheren Menschen sehen als Trotty. Ich kümmere mich nicht um das, was ihr gesehen und wo ihr es erlebt habt, denn es ist ausgeschlossen, daß ihr auch nur annähernd etwas Ähnliches geschaut habt. Er setzte sich auf seinen Stuhl, schlug sich auf die Knie und weinte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte und weinte in einem Atem. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Meg. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Richard. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte beide zu gleicher Zeit. Er lief zu Meg und nahm ihr frisches Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie und ging rückwärts wie ein Krebs, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, und lief wieder auf sie zu, wie eine Figur in einer Räuberlaterne; und was immer er tat, er setzte sich beständig wieder in seinen Stuhl, blieb aber nicht einen Augenblick sitzen. Genug – und das ist die Wahrheit – er war außer sich vor Freude.

»Und morgen ist dein Hochzeitstag, mein Herzenskind?« sagte Trotty, »wirklich dein glücklicher Hochzeitstag?«

»Heute!« jauchzte Richard und schüttelte ihm die Hände, »heute! Die Glocken läuten eben das neue Jahr ein. Hört sie nur!«

Und sie läuteten wirklich.

Gott segne die kräftigen Burschen! O, es waren große Glocken, melodische, tiefstimmige, edle Glocken, von keinem gemeinen Metall gegossen, von keinem gemeinen Gießer geformt. Wann hätten sie jemals geläutet wie heute!

»Heute, meine Meg,« sagte Trotty, »hattest du wohl mit Richard einen kleinen Wortwechsel?«

»Weil er ein so schlechter Mensch ist, Vater,« sagte Meg. »Bist du das nicht, Richard? Solch ein heftiger, halsstarriger Mensch! Wollte er doch dem großen Herrn Alderman seine Meinung sagen, und er genierte sich so wenig, als er sich genieren würde …«

»Meg zu küssen,« half Richard ein und tat es sogleich.

»Nein, nicht ein bißchen mehr. Doch ich wollte ihn nicht lassen, Vater. Was hätte es genützt?«

»Richard, mein Junge,« sagte Trotty, »du bist ein Prachtkerl und wirst ein Prachtkerl bleiben bis an dein seliges Ende. Doch du, mein Liebling, weintest heute abend am Feuer – als ich nach Hause kam? Warum weintest du denn am Feuer?«

»Ich dachte an die Jahre, die wir miteinander verlebt haben, Vater. Bloß deshalb. Und ich dachte, du würdest mich recht vermissen und dich allein fühlen.«

Trotty kehrte wieder zu jenem ominösen Stuhl zurück, als das Kind, das von dem Lärm erwacht war, halb angekleidet hereinkam.

»Ei, hier ist sie ja,« sagte Trotty und hob sie auf, »hier ist sie ja, die kleine Lilian! Ha ha! hier sind wir und hier gehen wir! O, hier sind wir und hier gehen wir wieder! Und hier sind wir und hier gehen wir und auch Onkel Will!«

Er hielt in seinem Trab inne, um ihn herzlich zu begrüßen. »Ach, Onkel Will, was hab ich heute abend für eine Erscheinung gehabt, weil ich Euch beherbergt habe. Ach, Onkel Will, wie bin ich Euch verpflichtet, daß Ihr zu mir gekommen seid, mein guter Freund!«

Ehe Will Fern die mindeste Antwort geben konnte, trat eine Musikbande in das Zimmer in Begleitung von einer Menge Nachbarn, die alle: »Glückliches Neujahr, Meg! Fröhliche Hochzeit! Noch recht lange Jahre!« und andre gute Wünsche dieser Art riefen. Der Trommler, der ein besonders guter Freund Trottys war, trat hervor und sagte: »Trotty Veck, mein alter Knabe, wir haben erfahren, daß Eure Tochter heute heiratet. Es gibt keine Menschenseele, die Euch kennt und Euch nicht das beste Glück wünscht, oder die sie kennt und ihr nicht Segen gönnt, oder die Euch beide kennt und Euch beiden nicht alles Glück wünscht, das das neue Jahr bescheren kann. Und hier sind wir deshalb, um es einzuspielen und einzutanzen.«

Das wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Der Trommler war freilich ziemlich betrunken, aber das schadete weiter nichts.

»Was für ein Glück ist es doch,« sagte Trotty, »in solcher Achtung zu stehen! Wie freundlich und nachbarlich ihr seid! Das geschieht alles meiner lieben Tochter wegen. Sie verdient es!«

Sie waren in einer halben Sekunde zum Tanz fertig, Meg und Richard voran, und der Trommler war eben im Begriff, aus allen Kräften loszuledern, da ließ sich draußen ein Gemisch von wunderbaren Tönen hören, und eine gutmütig aussehende, schmucke Frau von fünfzig Jahren oder daherum trat herein in Begleitung eines Mannes, der einen steinernen Henkelkrug von erschrecklichem Umfang trug. Dicht hinter ihnen wurden die Klapperinstrumente und Glocken getragen; aber nicht die Glocken, sondern ein tragbares Glockenspiel in einem Gestell.

Trotty sagte: »Frau Chickenstalker!« und setzte sich nieder und schlug sich wieder auf die Knie.

»Was? heiraten und mir kein Wort davon sagen, Meg?« sagte die gute Frau. »Unerhört! Ich konnte am letzten Abend des alten Jahres nicht ruhen, ohne zu kommen und dir Glück und Freude zu wünschen. Nein, ich hätte es nicht gekonnt, Meg, und wenn ich bettlägerig gewesen wäre. Und so bin ich denn hier, und da es Neujahrsabend und zugleich dein Polterabend ist, so habe ich ein wenig Eierpunsch machen lassen und denselben mitgebracht.«

Frau Chickenstalkers Begriff von »ein wenig Eierpunsch« machte ihrem Charakter alle Ehre. Der Krug dampfte und rauchte wie ein Vulkan, und dem Mann, der ihn trug, war ganz schwach zumute.

»Frau Tugby,« sagte Trotty, der ganz entzückt um sie herumging, »ich wollte sagen Chickenstalker, Gott segne Sie! Ein glückliches Neujahr und noch recht viele hinterdrein, Frau Tugby,« sagte Trotty, als er sie geküßt hatte, »ich wollte sagen Chickenstalker – dies ist William Fern und Lilly.«

Die würdige Frau wurde zu seinem Erstaunen sehr blaß und sehr rot.

»Doch nicht Lilly Fern, deren Mutter in Dorsetshire gestorben ist?« sagte sie.

Ihr Onkel bejahte, und sie wechselten schnell einige Worte miteinander, deren Ergebnis war, daß Frau Chickenstalker ihm beide Hände schüttelte, Trotty noch einmal aus freien Stücken auf die Wange küßte und das Kind an ihre geräumige Brust drückte.

»Will Fern,« sagte Trotty, indem er seinen rechten Fausthandschuh anzog, »doch nicht die Freundin, die Ihr zu finden hofftet?«

»Freilich,« entgegnete Will und legte Trotty beide Hände auf die Schultern, »und wie es scheint, eine ebenso gute Freundin, wenn das sein kann, wie der Freund, den ich in Euch gefunden habe.«

»O!« sagte Trotty, »wollt ihr dort nicht aufspielen? Seid so gut!«

Bei dem Klang der Musik, der Schellen, der Klapperinstrumente – alles zu gleicher Zeit – und während noch die Glocken lustig vom Turm niederbrummten, führte Trotty Frau Chickenstalker, Meg und Richard als zweites Paar folgend, zum Tanz und haspelte denselben in einem vorher und nachher unbekannten Pas ab, der auf seinen eigentümlichen Trab begründet war. –

Hatte Trotty geträumt? Oder sind seine Freuden und Leiden und die handelnden Personen darin nur ein Traum? Er selber ein Traum? Der Erzähler dieser Geschichte ein Träumer, der eben erwacht? – Sollte dies so sein, lieber Leser, dann präge die bösen Wirklichkeiten, aus denen diese Schatten entspringen, deiner Seele ein und suche sie in deinem Kreise – keiner ist zu weit und keiner zu enge für solch einen Zweck – zu bessern und minder drückend zu machen. Möge das neue Jahr ein glückliches für dich, ein glückliches noch für viele sein, deren Glück von dir abhängt! Möge jedes Jahr glücklicher sein als das letzte, und nicht der geringste unsrer Brüder oder Schwestern ausgeschlossen bleiben von dem gerechten Anteil an dem, was unser großer Schöpfer zu ihrer Freude geschaffen!

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  1. Ein Wortspiel mit ›Porter‹, das im Englischen einen Portier und eine Last- oder Austräger bezeichnet

Das erste Viertel


Das erste Viertel

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Es gibt nicht viele Menschen – und da es wünschenswert ist, daß ein Erzähler und sein Leser einander so rasch als möglich vollkommen verstehen, so bitte ich, darauf zu achten, daß ich meine Bemerkung nicht auf junge oder kleine Leute beschränke, sondern sie auf alle ausdehne, mögen sie nun klein oder groß, jung oder alt, erst im Aufschießen oder bereits wieder im Verwelken begriffen sein – ich sage, es gibt nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schliefen. Ich meine damit nicht ein Einschlafen während der Predigt bei warmem Wetter, was wohl hin und wieder vorkommen mag, sondern ein regelrechtes Übernachten, und zwar mutterseelenallein. Ich weiß, sehr viele würden schon am hellichten Tag über ein derartiges Beginnen sich höchlich verwundern. Aber meine Behauptung bezieht sich auf die Nacht. Und diese soll auch den Beweis liefern. Ich verpflichte mich, in einer stürmischen Winternacht, die zu diesem Zweck gewählt werde, meiner Behauptung zu einem glorreichen Sieg zu verhelfen, wenn sich mir ein Gegner aus der Menge allein auf einem alten Friedhof vor ein altes Kirchtor stellt und mich vorher ermächtigt hat, falls es zu seiner Befriedigung notwendig wäre, ihn bis zum Morgen einzusperren.

Denn der Nachtwind besitzt eine unheimliche Geschicklichkeit, ein derartiges Gebäude stöhnend zu umkreisen, mit unsichtbarer Hand an Fenstern und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte aufzuspüren, durch die er sich hineinpfeifen kann. Ist er endlich drinnen, So winselt und heult er, um wieder hinauszukommen, wie jemand, der nicht gefunden hat, was er sucht; und dabei begnügt er sich nicht damit, durch die Schiffe zu schleichen, um die Pfeiler zu huschen, die tiefe Orgel zu probieren, sondern schwingt sich auf zur Decke und bemüht sich, das Sparrenwerk zu zerreißen, stürzt sich verzweifelt hinunter auf die Steinfliesen und dringt murrend in die Grüfte. Gleich darauf kommt er verstohlen wieder herauf, schleicht an den Wänden hin und scheint in Flüstertönen die Inschriften, die den Toten geweiht sind, zu lesen. Vor einigen derselben bricht er schrill aus, wie im Gelächter, während er vor andern ächzt und schluchzt wie in großem Schmerz. In der Nähe des Altars stimmt er einen gar gespenstigen Ton an und singt in seiner wilden Weise von Unrecht, Mord, falscher Gottesverehrung und Trotz gegen die Gesetzestafeln, die so oft gebrochen und mit Füßen getreten werden, obschon sie so schön und glatt aussehen. Hu! der Himmel bewahre uns, die wir so gemächlich um das Feuer sitzen! Er hat eine gar schreckliche Stimme – dieser Wind um Mitternacht, wenn er in einer Kirche singt!

Aber erst hoch oben im Turm! Dort brüllen und pfeifen die unheimlichen Windstöße! Hoch oben im Turm, wo sie frei aus- und einziehen können durch manche luftige Öffnung, sich um die schwindelnde Treppe winden, den stöhnenden Wetterhahn umherwirbeln und sogar das Gemäuer zittern und beben lassen! Hoch oben im Turm, wo der Glockenstuhl ist, wo die eisernen Geländer sich infolge des langjährigen Rostes Schuppen; wo die Blei- und Kupferplatten , runzelig vor Alter und Wetterstürzen, unter dem ungewohnten Tritt krachen und seufzen; wo Vögel ihre Kotnester in die Ecken des alten Eichengebälks stopfen, der Staub alt und grau wird, fleckige Spinnen, während ihrer ungestörten Ruhe fett und faul geworden, gemächlich sich von den schwingenden Glocken hin und her pendeln lassen und niemals die Verbindung mit ihren gesponnenen Luftschlößchen verlieren, oder wie Matrosen in rascher Unruhe hinanklettern, wenn sie sich nicht lieber auf den Boden niederlassen, um ein Dutzend hurtiger Füße zur Rettung eines einzigen Lebens in Tätigkeit zu setzen! Hoch oben im Turm einer alten Kirche, weit über dem Licht und Gemurmel der Stadt, dennoch aber weit unter den fliegenden Wolken, die sie beschatten, ist das wilde, traurige, nächtige Plätzchen, und hoch oben im Turm einer alten Kirche hausen die Glocken, von denen ich spreche.

Es waren, glaubt mir, alte Glocken. Schon vor Jahrhunderten wurden diese Glocken von Bischöfen getauft; vor so vielen Jahrhunderten bereits, daß ihr Taufregister seit unvordenklichen Reiten verloren ging und niemand mehr ihre Namen wußte. Sie hatten ihre Paten und Patinnen gehabt (nebenbei gesagt, ich für meinen Teil möchte lieber die Verantwortlichkeit übernehmen bei einer Glocke, als bei einem Knaben Gevatter zu stehen) und ohne Zweifel auch ihre silbernen Becher erhalten. Aber die Zeit hatte ihre Taufzeugen dahingerafft und Heinrich VIII. ihre Becher, die er einschmelzen ließ. Und so hängen sie denn jetzt namen- und herrenlos in dem Kirchturm.

Wortlos allerdings nicht. Im Gegenteil. Sie hatten klare, laute, lustige, volltönende Stimmen, diese Glocken; und auf dem Rücken des Windes fortgetragen, konnte man sie weithin hören. Sie waren aber viel zu kühne Glocken, als daß sie sich dem Belieben des Windes unterworfen hätten. Denn wenn er ihnen zu launenhaft war, kämpften sie tapfer gegen ihn an und ließen ihre fröhlichen Klänge stolz in ein lauschendes Ohr strömen; sie waren darauf erpicht, in stürmischen Nächten von einer armen Mutter, die bei einem kranken Kinde wachte, oder einer einsamen Frau, deren Gatte zur See war, gehört zu werden. Ja, man weiß sogar, daß sie hin und wieder einen pustenden Nordwest besiegten, ja ihn sogar »in Grund und Boden« schlugen, wie Toby Veck sagte; – denn obgleich man ihn Trotty Veck nannte, hieß er doch Toby, und niemand (außer ihm selbst) konnte ihn ohne ausdrückliche Parlamentsakte zu etwas anderm machen. Er war zu seiner Zeit so gesetzlich getauft worden, wie die Glocken zu der ihrigen, obschon nicht mit ganz so viel Feierlichkeit oder öffentlichem Jubel.

Ich bekenne mich für meinen Teil zu Toby Vecks Glauben; denn ich bin überzeugt, daß er hinreichend Gelegenheit hatte, sich eine richtige Ansicht zu bilden. was daher Toby Veck sagte, sage ich auch, und ich will auf Tobys Seite stehen, obgleich er den ganzen Tag (und das war eine mühsame Arbeit) vor der Kirchentür zu stehen pflegte. Er war nämlich Dienstmann und wartete dort auf Aufträge.

Freilich ein windiger, gänsehäutiger, blaunasiger, rotäugiger, steifzehiger und zähneklappernder Warteplatz zur Winterszeit, wie Toby Veck wohl wußte. Der Wind kam wütend um die Ecke gefahren – insbesondere der Ostwind – als wenn er sich direkt von den Grenzen der Erde aufgemacht hätte, nur um Toby anzuschnauben. Ja, oft schien er den armen Teufel sogar früher zu treffen, als er erwartet hatte; denn wenn er um die Ecke raste und an Toby vorbeifuhr, wirbelte er plötzlich wieder zurück, als wollte er sagen : »Ha, da ist er ja schon!« Unaufhaltsam flog dann Tobys kleine weiße Schürze wie das Röckchen eines unartigen Jungen über seinen Kopf, und man sah das schwache Stöcklein vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen, sah seine Beine in heftige Bewegung geraten, während Toby selbst in schräger Körperhaltung, das Gesicht bald da- bald dorthin wendend, so umhergetrieben und gestoßen wurde, wohl auch zeitweise den Boden unter den Füßen verlor, daß es fast als ein Wunder erschien, wenn er nicht gleich einer Kolonie von Fröschen, Schnecken oder andern tragbaren Geschöpfen in die Luft geführt und an irgendeinem fernen Weltende, wo Dienstmänner unbekannt sind, zum großen Erstaunen der Eingeborenen niedergeregnet wurde.

Windig Wetter war übrigens doch eine Art Festtag für Toby, obschon es ihm so roh zusetzte. Das ist Tatsache. Er schien in dem Wind nicht so lange auf ein Sechspencestück warten zu müssen wie zu andern Reiten. Der Kampf mit dem ungestümen Element lenkte feine Aufmerksamkeit ab und frischte ihn auf, wenn er hungrig oder kleinmütig war. Auch ein harter Frost oder ein Schneegestöber wurde für ihn zu einem Ereignis und schien ihm in der einen oder andern Weise gutzutun, obschon sich der eigentliche Grund nur schwer angeben ließ. Wie dem übrigens sein mochte, Wind, Frost, Schnee und vielleicht ein tüchtiger Hagel waren für Toby Veck die rotgedruckten Tage im Kalender.

Nasses Wetter war das Schlimmste – die kalte, unfreundliche Feuchtigkeit, die ihn wie ein nasser Mantel einhüllte – die einzige Art von Mantel, die Toby sein eigen nennen konnte, auf den er aber doch zur Erhöhung seiner Behaglichkeit gern verzichtet hätte. Die nassen Tage, wenn der Regen langsam, dicht und hartnäckig niederträufelte , wenn die Straßenschlünde wie sein eigner mit schwefeligem Nebel erfüllt waren, wenn dampfende Schirme hin und hergingen und wie ebenso viele Kreisel tanzten, sooft sie auf dem gedrängten Fußweg aneinander anstießen und eine wirbelnde Brause ungemütlicher Tröpfchen von sich schleuderten, wenn die Dachrinnen klatschten und es in den vollen Wassertraufen donnerte, wenn die Nässe von dem vorspringenden Gestein der Kirche -tropf, tropf, tropf- auf Toby niederplumpste und den Strohwisch, auf dem er stand, im Nu zu bloßem Schmutz wandelte – das waren für ihn Tage der Heimsuchung. Und dann konnte man Toby tatsächlich beobachten, wie er ängstlich und mit trostlosem, langem Gesicht aus seinem Schlupfwinkel in einer Ecke der Kirchenmauer hervorguckte. Dieser Zufluchtsort war ein so kärglicher Schutz, daß er zur Sommerszeit nie einen breitern Schatten auf das sonnige Pflaster warf, als ein dicker Spazierstock. Bald aber kam er wieder heraus, um sich durch Bewegung warm zu machen, trottete etliche Male hin und her, was seine Laune wieder aufheiterte, und kehrte dann ganz wohlgemut in seine Nische zurück.

Man nannte ihn Trotty wegen seines Ganges, der wenigstens Eile andeuten sollte. Er hätte vielleicht schneller gehen können; aber würde man ihn seines Trottes beraubt haben, So wäre er krank geworden und gestorben. Dieser Trott bespritzte ihm bei schlechtem Wetter den Rock mit Kot, vernichte ihm zahllose Unannehmlichkeiten und Beschwerden; Toby hätte ungleich müheloser marschieren können – aber das war gerade ein Grund mehr, diese schwierige Gangart krampfhaft beizubehalten. Obschon ein schwaches, schmächtiges altes Männlein, war Toby doch ein wahrer Herkules in seinen guten Absichten. Er hatte eine Freude daran, wenn er sein Geld verdienen konnte. Es gewährte ihm ein großes Vergnügen, zu glauben – Toby war sehr arm und konnte nicht gut auf ein Vergnügen verzichten – daß er seines Lohnes auch wert sei. Mit einem Auftrag, der ihm einen Schilling oder achtzehn Pence eintrug, oder mit einem kleinen Päckchen in der Hand, steigerte sich sein Mut, an dem es ihm nie gebrach, um ein beträchtliches. Wenn er so dahin trabte, pflegte er den schnelleren Briefträgern vor seiner Nase zuzurufen, sie sollten ihm aus dem Weg gehen, weil er nicht anders glaubte, als daß er im Lauf der Dinge sie unausbleiblich einholen und niederrennen müsse; auch lebte er der festen Überzeugung, die freilich nicht oft auf die Probe gestellt wurde, daß er alles zu tragen imstande sei, was ein Mensch zu heben vermöge.

Toby trabte daher auch, wenn er an einem nassen Tag aus seinem Winkel hervorkam, um sich zu wärmen. Er trabte, wenn er mit lecken Schuhen eine krumme Linie wieder zusammenlaufender Fußtapfen durch den Kot zog und, mit gebeugten Knien und sein Rohr unter dem Arm, seine frostigen Hände blies oder gegeneinander rieb, da sie nur ganz ungenügend gegen die schneidende Kälte durch fadenscheinige grauwollene Fäustlinge geschützt waren, an denen nur der Daumen ein eignes Appartement und die übrigen Finger eine gemeinschaftliche Herberge hatten. Desgleichen trabte er, wenn er auf die Straße hinausging, um bei dem Schall der Glocken an dem Turm hinaufzusehen.

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Diesen letztern Ausflug machte er mehrere Male des Tages; denn die Glocken waren gleichsam seine Gesellschaft, und wenn er ihre Stimme hörte, blickte er gern zu ihrem luftigen Wohnsitz hinauf, während er darüber nachdachte, wie sie bewegt wurden und was für Hämmer auf sie schlügen. Vielleicht hatten sie um so mehr Interesse für ihn, weil es zwischen ihnen und ihm selbst Ähnlichkeiten gab. Sie hingen da oben bei jedem Wetter, in Wind und Regen, sahen nur die Außenseite aller jener Häuser, kamen den lodernden Feuern, die durch die Fenster leuchteten oder zu den Schornsteinen herauspusteten, niemals nahe und waren nie imstande, an den guten Dingen teilzunehmen, die ohne Unterlaß durch die Haustüren und Vorhof-Geländer an verschwenderische Köchinnen abgegeben wurden. Viele Gesichter kamen an die Fenster und entfernten sich wieder – bisweilen hübsche Gesichter, jugendliche Gesichter, angenehme Gesichter, hin und wieder aber auch das Gegenteil; doch Toby wußte ebensowenig wie die Glocken (sooft er auch, wenn er müßig in den Straßen stand, Betrachtungen über diese Kleinigkeiten anstellte), woher sie kamen und wohin sie gingen, oder ob im ganzen Jahr nur ein einziges freundliches Wort über ihn gesprochen wurde, wenn sich die Lippen bewegten.

Toby war kein Kasuist – seines Wissens wenigstens nicht – und ich will nicht behaupten, daß er nach und nach sich durch solche Betrachtungen hindurchgerungen oder eine förmliche Heerschau über seine Gedanken abgehalten hatte, ehe er zu den Glocken eine Neigung faßte und seine erste oberflächliche vermittels zarter Fäden zu einem innigeren Bündnis wob. Was ich aber sagen will und auch sage, ist, daß in derselben Weise, wie Tobys körperliche Funktionen, Seine Verdauungsorgane zum Beispiel, vermöge ihrer eignen Schlauheit und ihres mannigfaltigen, ihm unbewußten Zusammenwirkens, dessen Kenntnis ihn nicht wenig in Erstaunen gesetzt haben würde, Zu einem gewissen Ziel gelangten, auch seine geistigen Fähigkeiten, ohne daß er dabei wissentlich tätig war, alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung setzten, als sie daran arbeiteten, in ihm eine Neigung zu den Glocken wachzurufen.

Und wenn ich gesagt hätte: seine Liebe, so würde ich auch dies Wort nicht zurücknehmen, obgleich es kaum ein passender Ausdruck für seine komplizierte Empfindung gewesen wäre. Denn da er ein ganz einfacher Mensch war, verlieh er ihnen einen wundersamen und feierlichen Charakter. Sie waren so geheimnisvoll, weil man sie oft hörte und nie sah, so hoch oben, so weit weg und so voll tiefer, kräftiger Melodie, daß er mit einer Art von Ehrfurcht zu ihnen aufblickte. Ja, wenn er die dunkeln, gewölbten Fenster im Turm betrachtete, erwartete er bisweilen, es werde ihm etwas zuwinken, das keine Glocke war und doch in jenen Klängen ihm so oft ans Ohr getönt hatte. Dennoch wies Toby mit Entrüstung ein gewisses leises Gerücht zurück, daß die Töne behext seien, weil dadurch die Möglichkeit zugegeben war, sie stünden mit irgend etwas Bösem im Bund. Mit einem Wort, sie tönten sehr oft in seinen Ohren, beschäftigten sehr oft seine Gedanken und standen stets hoch in seiner guten Meinung; oft, wenn er lange mit weit offenem Munde an dem Kirchturm hinaufgeschaut hatte, bekam er einen so steifen Nacken, daß er nachher, um ihn zu kurieren, ein oder zwei Extragetrabe einlegen mußte.

Mit dieser außertourlichen Übung war er an einem kalten Tage gerade beschäftigt, als der letzte schläfrige Ton der Zwölfuhrglocke wie ein melodisches, bienenartiges Ungeheuer, aber keineswegs ein fleißiges Bienchen, durch den ganzen Turm summte.

»Wie, Essenszeit?« sagte Toby, vor der Kirche auf und ab trottend. »Ah!«

Tobys Nase war sehr rot; und seine Augenlider waren sehr rot; und er zwinkerte mächtig; und seine Schultern waren dicht an den Ohren, und seine Beine waren sehr steif, und er war überhaupt auf dem frostigsten Punkt der kühlen Temperatur angelangt.

»So, Essenszeit!« wiederholte Toby, den Fäustling seiner rechten Hand wie einen jugendlichen Boxhandschuh gebrauchend und seine Brust züchtigend, weil sie sich unterstand, zu frieren. »Ah-h-h-h!«

Hierauf schlug er für ein paar Minuten einen stummen Trab an.

»Es gibt nichts..« sagte Toby, aufs neue lostrabend; aber mit einem Male machte er in seinem Trott halt und betastete mit einem Gesicht voll Interesse und auch etwas Unruhe seine Nase sorgfältig von unten bis oben. Er war bald damit fertig, denn der Weg war kurz, da er mit einer Nase nicht allzu reichlich gesegnet war.

»Ich glaubte schon, sie sei pfutsch,« fuhr Toby fort, indem er wieder weiter trabte. »Es stimmt aber alles. Ich könnte sie jedoch wirklich nicht tadeln, wenn sie sich auf und davon machte. Sie hat wohl einen herzlich schweren Dienst in dieser Hundekälte und herzlich wenig zu erwarten – denn ich schnupfe ja nicht. Selbst in den besten Zeiten wird das arme Ding hart geprüft; denn wenn sie schon einmal einen angenehmen Duft erwischt, was auch nicht oft vorkommt, dann entsteigt er gewöhnlich dem Mittagessen eines andern, das von dem Pastetenbäcker nach Hause getragen wird.«

Diese Betrachtung erinnerte ihn an die andre, die er unbeendigt gelassen hatte.

»Es gibt nichts Regelmäßigeres,« fuhr er fort, »als die Wiederkehr der Essenszeit, und nichts Unregelmäßigeres, als die Wiederkehr des Mittagessens selbst. Darin besteht ihr großer Unterschied. Ich habe lange dazu gebraucht, es ausfindig zu machen. Möchte doch wissen, ob sichs nicht für einen Gentleman der Mühe lohnte, diese Beobachtung für die Zeitungen oder für das Parlament zu kaufen!«

Toby meinte dies bloß im Scherz, denn er schüttelte in gravitätischer Verneinung seinen Kopf.

»Du mein Himmel!« sagte er, »die Zeitungen sind voll Beobachtungen, und das Parlament auch. Da habe ich eine Nummer von der letzten Woche« – er zog ein sehr schmutziges Blatt aus seiner Tasche und hielt es auf Armeslänge vor sich hin – »nichts als Beobachtungen – nichts als Beobachtungen! Ich möchte so gerne als irgend jemand Neuigkeiten erfahren,« fügte er langsam bei, indem er den Bogen noch ein wenig kleiner zusammenfaltete und ihn wieder in seine Tasche steckte; »aber es geht mir fast gegen den Magen, jetzt eine Zeitung zu lesen. Ich erschrecke beinahe davor und weiß nicht, wohin es noch mit uns armen Leuten kommen, was uns noch bevorstehen wird. Gott gebe, daß uns im neuen Jahr etwas Besseres bevorsteht!«

»Vater! Vater!« rief eine angenehme Stimme in der Nähe.

Aber Toby hörte sie nicht, sondern fuhr fort, hin und her zu trotten und seine Gedanken laut werden zu lassen.

»Es ist, als ob wir nichts rechtmachen könnten oder uns niemals Recht werden würde,« sagte Toby. »Als ich jung war, habe ich nicht viel gelernt; und ich kann nicht herauskriegen, ob wir auf der Erde etwas zu schaffen haben oder nicht. Manchmal glaube ich es wohl – wenn wir auch nicht viel hier zu tun haben; manchmal aber meine ich wieder, daß wir nur Eindringlinge sind. Mitunter bin ich so verdutzt, daß ich nicht mit mir ins reine kommen kann, ob überhaupt etwas Gutes an uns ist, oder ob uns die Schlechtigkeit angeboren ist. Es sieht aus, als täten wir schreckliche Dinge und fielen ungeheuer beschwerlich; man beklagt sich immer über uns und trifft Verwahrungsmaßregeln. Ob so oder so – jedenfalls sind die Zeitungen von uns voll. Da spricht man von einem Neuen Jahr!« fuhr Toby traurig fort. »Ich kann ebensoviel ertragen wie jemals irgendein Mensch; besser sogar als viele, denn ich bin stark wie ein Löwe, was sich nicht von allen Leuten sagen läßt; aber gesetzt, es wäre wirklich wahr, daß wir kein Recht auf ein Neujahr haben, angenommen, daß wir wirklich nur Eindringlinge sind …«

»Vater! Vater!« ließ sich die liebliche Stimme abermals vernehmen.

Toby hörte es diesmal; er stutzte, blieb stehen, rief seinen Blick zurück, der weitausgerichtet war, als suche er im Herzen des herannahenden Jahres Erleuchtung, und fand sich nun seinem eignen Kinde gegenüber, dem er jetzt ganz nahe in die Augen schaute.

Und es waren glänzende Augen – Augen, in die eine ganze Welt schauen konnte, ohne ihnen auf den Grund zu kommen. Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten, nicht blitzend oder auf Wunsch der Eigentümerin, sondern mit einem klaren, ruhigen, ehrlichen, geduldigen Glänze, der Anspruch auf die Zugehörigkeit zu jenem Licht erhob, das der Himmel ins Dasein rief. Augen, schön, wahr und hoffnungsstrahlend – mit so junger und frischer, mit so schwungkräftiger und heller Hoffnung, trotz der zwanzig Jahre Arbeit und Armut, die sie gesehen hatten, daß sie für Trotty Veck zu einer Stimme wurden, die ihm sagten »Ich glaube, wir haben hier wohl etwas zu schaffen – wenn auch nicht viel!«

Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und drückte das blühende Gesicht zwischen seine Hände.

»Ei, Herzchen,« sagte Trotty, »was gibt’s? Ich habe dich heute nicht erwartet, Meg.«

»Auch ich habe nicht aufs Kommen gerechnet, Vater,« rief das Mädchen, indem es lächelnd nickte. »Aber da bin ich – und obendrein nicht allein; nicht allein!«

»Wie? du willst doch nicht sagen,« bemerkte Trotty, neugierig nach einem bedeckten Korbe blickend, den sie in ihrer Hand »daß du …«

»Riech daran, lieber Vater,« versetzte Meg. »Riech einmal!«

Trotty war eben im Begriff, hastig den Deckel abzuheben, als das Mädchen scherzend mit der Hand dazwischenfuhr.

»Nein, nein, nein,« erwiderte Meg fröhlich wie ein Kind. »So geschwind gehts nicht. Ich will nur den Deckelrand ein klein winzig bißchen aufheben,« fügte sie bei, indem sie ganz sachte ihr Vorhaben ausführte und dabei so leise sprach, als fürchte sie, im Innern des Korbes gehört zu werden. »So. Also, was ists?«

Toby schnüffelte ein klein wenig an dem Rande des Korbes und rief entzückt:

»Ei, ’s ist heiß!«

»’s ist brennend heiß,« versetzte Meg. »Ha ha ha! ’s ist siedend heiß.«

»Ha ha ha!« brüllte Toby mit einem Luftsprung. »’s ist siedend heiß.«

»Aber was ist es, Vater?« fragte Meg. »Vorwärts! Du hast es noch nicht erraten. Und du mußt erraten, was es ist. Ich kann nicht daran denken, es herauszunehmen, bis du es erraten hast. Aber laß dir Zeit! Warte eine Minute! Ich will ein bißchen mehr von dem Deckel zurückschieben. Jetzt rate!«

Meg war wirklich in Angst, er könnte vielleicht zu rasch das Richtige raten, und wich deshalb ein wenig zurück, während sie ihm den Korb hinhielt, indem sie zugleich ihre hübschen Schultern in die Höhe zog und das Ohr mit der Hand zuhielt als könne sie in dieser Weise das richtige Wort von Tobys Lippen fernhalten. Dabei ließ sie immer ein sanftes Lachen hören.

Toby hatte mittlerweile die Hände auf seine Knie gelegt, seine Nase zu dem Korb niedergebeugt und sog nun den Duft außerhalb des Deckels tief ein. Während dieser angenehmen Beschäftigung verbreitete sich sein Grinsen immer mehr über das welke Gesicht, als atme er pures Lachgas.

»Ah, das riecht prächtig,« sagte Toby. »Ist es nicht – es werden doch keine Schweinswürste sein?«

»Nein, nein, nein!« rief Meg entzückt. »Etwas ganz andres!«

»Nein,« fuhr Toby nach einem abermaligen Schnüffeln fort, »es ist – es ist zarter als Schweinswürste. Es riecht ausgezeichnet und mit jedem Augenblick besser. Der Geruch ist zu stark für Kalbsfüße – nicht wahr?«

Meg war außer sich vor Freude. Er hätte nicht weiter vom Ziele abschießen können als mit Kalbsfüßen – Schweinswürste ausgenommen.

»Leber?« sagte Toby zu sich selber. »Nein. Der Geruch hat eine Milde, die sich an der Leber nicht findet. Ferkelfüßchen? Nein. Er ist zu stark für Ferkelfüße. Auch fehlt ihm der Beigeschmack der Hahnenköpfe. Und ich weiß, Würste sinds auch nicht. Ich will dir sagen, was drinnen ist – Kalbsgekröse!«

»Nein, nein,« erwiderte Meg, vor Entzücken aufjubelnd. »Nicht erraten!«

»Ei, woran denke ich auch!« entgegnete Toby, plötzlich eine so aufrechte Stellung einnehmend, als ihm möglich war. »Ich werde zuletzt noch meinen eignen Namen vergessen. ’s sind Kuttelflecke!«

Und Kuttelflecke waren es auch. Und Meg beteuerte in strahlender Freude, er werde in einer weitern halben Minute sagen, es seien die besten Kuttelflecke, die jemals gedünstet wurden.

»Und so will ich jetzt gleich den Tisch decken, Vater,« fuhr Meg fort, indem sie sich jubelnd mit dem Korbe beschäftigte; »denn ich habe die Kuttelflecke in einer Schüssel gebracht und die Schüssel in ein Taschentuch eingebunden. Wenn ich nun einmal stolz sein und es als Tischtuch ausbreiten will, so kann mich kein Gesetz hindern, es Tischtuch zu nennen. Nicht wahr, Vater?«

»Nicht daß ich wüßte, meine Liebe,« sagte Toby. »Aber sie erlassen alle Augenblicke ein oder das andre neue Gesetz.«

»Und nach dem, was ich dir neulich aus der Zeitung vorlas, Vater, weißt du noch, was der Richter sagte, setzt man bei uns armen Leuten voraus, daß wir alle diese Gesetze kennen. Ha ha ! welch ein Irrtum! du meine Güte, sie halten uns für gewaltig gescheit.«

»Ja, meine Liebe,« rief Trotty, »und sie würden eine gewaltige Freude an einem von uns haben, wenn er sie alle wüßte. Er würde fett werden von der Arbeit, die er kriegte, dieser Mann, und er kriegte einen Stein im Brett bei all den vornehmen Leuten in seiner Nachbarschaft. Gewiß und wahrhaftig!«

»Wer er auch sein möchte, er würde sein Mittagessen mit gutem Appetit verschmausen, wenn es so gut duftete wie dieses hier,« sagte Meg fröhlich. »Beeile dich, Vater, denn da ist außerdem auch noch eine heiße Kartoffel und ein Seidel frisch abgezogenen Bieres in einer Flasche. Wo willst du essen, Vater? In der Nische oder auf den Stufen? Du mein Himmel, wie gut wirs haben — zwei Plätze zur Auswahl!«

 

»Heute die Stufen, mein Kind,« versetzte Trotty. »Bei trockenem Wetter sind die Stufen, bei nassem die Nische gut. Stufen sind immer bequemer, weil man dabei sitzen kann; aber wenns naß ist, kriegt man Rheumatismus.«

»Hier also,« sagte Meg, nachdem sie sich eine halbe Minute eifrig zu schaffen gemacht hatte und nun in die Hände klatschte; »hier ist es – alles bereit – und wie schön es aussieht! Komm, Vater, komm!«

Seit Trotty entdeckt hatte, was in dem Körbchen war, stand er da und sah Meg an – sprach auch ab und zu – aber in einer zerstreuten Weise, welche bekundete, daß er, obschon sie allein seine Gedanken und Augen beschäftigte – nicht einmal die Kuttelflecke konnten ihn ihr untreu machen – nicht im entferntesten an sie dachte, wie sie in jenem Augenblicke war, sondern irgendein visionäres, undeutliches Bild oder ein Drama ihres künftigen Lebens vor sich hatte. Durch ihre heitere Aufforderung geweckt, unterdrückte er nun ein melancholisches Kopfschütteln, das ihn eben anwandelte, und trabte an ihre Seite. In demselben Augenblick, als er sich niederbeugte, um seinen Sitz einzunehmen, erklangen die Glocken.

»Amen!« sagte Trotty, seinen Hut abnehmend und nach denselben aufblickend.

»Amen den Glocken, Vater?« rief Meg.

»Sie fielen ein wie ein Tischgebet, meine Liebe,« sagte Trotty, indem er Platz nahm. »Ich bin überzeugt, sie würden ein gutes sprechen, wenn sie könnten, und sagen mir überhaupt manches Liebe.«

»Die Glocken, Vater?« lachte Meg, als sie die Schüssel niedersetzte und Messer und Gabel dazulegte. »Der Tausend!«

»Sie scheinens zu tun, mein Herzchen,« versetzte Trotty, indem er mit Eifer über seine Kuttelflecke herfiel. »Und worin liegt da der Unterschied? Wenn ich sie nur höre, was macht es aus, ob sie es wirklich sagen oder nicht? Gott behüte, mein Kind,« fügte er bei, indem er mit der Gabel nach dem Turm deutete und unter dem Einfluß seines Mahles lebhafter wurde, »wie oft habe ich jene Glocken nicht sagen hören: ›Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes! Toby! Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes, Toby!‹ Millionenmal? Reicht nicht – ’s war öfter!«

»Nun, das habe ich noch nie gehört!« rief Meg.

Dennoch war es schon oft und oft der Fall gewesen, denn es war Tobys unaufhörlicher Gesprächsgegenstand.

»Wenn es recht schlecht geht,« fuhr Trotty fort; »ich meine, wenn es recht schlecht geht – fast am schlechtesten, dann rufen sie: ’Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby! Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby!’«

»Und sie kommt dann auch – endlich, Vater, – versetzte Meg mit einem Anflug von Trauer in ihrer lieblichen Stimme.

»Immer,« erwiderte der arglose Toby. »Bleibt nie aus.«

Während dieses Gesprächs machte Trotty keine Pause in seinen Angriffen auf das würzige Mahl vor ihm, sondern schnitt ab und aß, schnitt ab und trank, schnitt ab und kaute, kam von den Kuttelflecken zu den heißen Kartoffeln und von den heißen Kartoffeln wieder zu den Kuttelflecken mit breitem, unermüdlichem Behagen zurück. Als er endlich um die Straßenecke sah, um sich zu überzeugen, ob man nicht von irgendeiner Türe oder einem Fenster nach einem Dienstmann winkte, begegneten seine Augen auf dem Rückweg dem Mädchen, das mit verschlungenen Armen ihm gegenüber saß und mit glücklichem Lächeln seinem emsigen Geschäft zusah.

»Ach, Gott verzeih mir!« rief Trotty, indem er sein Messer und seine Gabel fallen ließ. »Meg, mein Täubchen, warum sagst du mir nicht, was ich für ein Vieh bin?«

»Vater!«

»Sitze ich da«, fuhr Trotty in reuiger Erklärung fort, »und stopfe mich voll, während du vor mir bist, ohne auch nur ein bißchen dein Fasten zu unterbrechen noch den Wunsch dazu zu äußern, während …«

»Aber ich habe mein Fasten schon gebrochen, Vater, und zwar ausgiebig,« unterbrach ihn seine Tochter lachend. »Ich habe mein Mittagessen bereits gehabt.«

»Sprich keinen Unsinn,« versetzte Trotty. »Zwei Mittagessen an einem Tag? Nicht möglich! Du könntest mir ebensogut sagen, daß zwei Neujahrstage auf einmal kommen, oder daß ich mein ganzes Leben über ein Goldstück gehabt habe, ohne es je wechseln zu lassen.«

»Dennoch habe ich schon zu Mittag gegessen, Vater,« sagte Meg, näher herankommend; »und wenn du deines weiter ißt, will ich dir sagen, wie und wo dein Mittagessen zustande kam und – und noch etwas andres dazu.«

Toby machte noch immer eine ungläubige Miene; aber sie sah ihm mit ihren klaren Augen ins Gesicht, legte ihre Hand auf seine Schulter und winkte ihm, weiterzuessen, solange das Fleisch noch warm sei. Trotty nahm daher Messer und Gabel wieder auf und schickte sich zur Arbeit an; sie ging aber viel langsamer vonstatten als zuvor, und er schüttelte den Kopf, als sei er durchaus nicht mit sich zufrieden.

»Ich habe schon gespeist, Vater,« sagte Meg nach einigem Zögern, »mit – mit Richard. Er ißt früh, und da er sein Mittagessen mitbrachte, als er mich besuchte, so – so verzehrten wir es miteinander, Vater.«

Trotty nahm ein Schlücklein Bier und schmatzte mit den Lippen. Dann sagte er »oh!« – weil sie darauf wartete.

»Und Richard sagt, Vater …«, nahm Meg wieder auf. Dann stockte sie abermals.

»Was sagt Richard, Meg?« fragte Toby.

»Richard sagt, Vater …« Neues Stocken.

»Richard braucht lange, bis er etwas sagt,« bemerkte Toby.

»Nun ja, Vater, er sagt,« fuhr Meg fort, indem sie endlich ihre Augen erhob und in bebendem, obschon völlig deutlichem Ton sprach, »es sei wieder ein Jahr beinahe herum, und was es nütze, von einem Jahr auf das andre zu warten, wenn es doch so unwahrscheinlich ist, daß es uns je besser als jetzt ergehen werde. Er sagt, Vater, wir seien jetzt arm und würden auch dann arm sein; aber wir seien jung, und die Jahre würden uns alt machen, ehe wir es wüßten. Er meint, wenn Leute in unsrer Lage warten wollten, bis wir unsern Weg klar vor uns sähen, so würde er wohl recht eng werden – der gemeinschaftliche Weg – das Grab, Vater.«

Sogar ein kühnerer Mann als Trotty Veck hätte alle seine Kühnheit zusammennehmen müssen, um dies in Abrede zu stellen; er blieb daher lieber still.

»Und wie hart ist es, Vater, alt zu werden und zu sterben, wenn wir daran denken, daß wir einander hätten Freude machen und helfen können! Wie hart ist es, sein ganzes Leben über einander liebzuhaben und sich doch getrennt zu sehen, jeden für sich abhärmen zu sehen und zuschauen zu müssen, wie der andre arbeitet, sich verändert, alt und grau wird. Selbst wenn ich es überwinden und ihn vergessen könnte, was nie möglich ist – o lieber Vater, wie schwer wäre es dann, ein Herz zu haben, so voll wie das meinige jetzt ist, und das Leben langsam, tropfenweise verrinnen zu sehen, ohne einen Rückblick auf einen einzigen glücklichen Augenblick, der mich trösten und besser machen könnte!«

Trotty blieb mäuschenstill. Meg trocknete ihre Augen und fuhr heiterer fort – das heißt manchmal unter Lachen und manchmal unter Schluchzen und dann wieder lachend und Schluchzend zu gleicher Zeit:

»Richard sagt daher, Vater, da er gestern für soundso lange eine feste Beschäftigung erhalten habe und ich ihn schon volle drei Jahre liebe – ach, es ist schon länger her, wenn er es nur wüßte! – So solle ich mich am Neujahrstag mit ihm zusammengeben lassen: der beste und glücklichste Tag im ganzen Jahr, sagt er, einer, bei dem man fast sicher annehmen kann, daß er Glück mit sich bringt. Das ist eine kurze Frist – nicht wahr, Vater? – aber ich habe ja kein Vermögen in Ordnung zu bringen und keine Hochzeitskleider machen zu lassen, wie die vornehmen Damen; nicht wahr, Vater? – Und er sagte so viel und sagte es in so nachdrücklicher, ernster, aber doch so sanfter und freundlicher Weise, daß ich ihm versprach, ich wolle mit dir darüber sprechen, Vater. Und da mir ganz unerwarteterweise heute morgen das Geld für meine Arbeit ausbezahlt wurde, und du während der ganzen Woche nur ein armseliges Essen gehabt hast, und ich den Wunsch nicht zurückdrängen konnte, daß etwas getan werden müßte, was dir den heutigen Tag zu einem Feiertag macht, wie er für mich ein glücklicher Tag ist, so kochte ich diesen Festschmaus und brachte ihn dir als Überraschung.«

»Und siehst nun, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

Es war die Stimme desselbigen Richard, der unbemerkt herangekommen war und nun vor Vater und Tochter stand. Er blickte mit einem Gesicht auf sie nieder, so glühend wie das Eisen, auf dem täglich sein schwerer Schmiedehammer erklang. Richard war ein schöner, wohlgebauter, kräftiger Bursche mit Augen, die gleich den rotglühenden Funken eines Essenfeuers sprühten. Sein schwarzes Haar kräuselte sich üppig um die dunklen Schläfen, und sein Lächeln – ein Lächeln, das Megs Lob über seinen Konversationsstil beträchtlich unterstützte.

»Und siehst, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« sagte Richard. »Meg weiß nicht, was er liebt – nein, gewiß nicht!«

Voll Behendigkeit und Feuer reichte Trotty augenblicklich Richard die Hand und wollte eben eine hastige Erwiderung geben, als unversehens die Haustür aufging und ein Bedienter beinahe seinen Fuß in die Kuttelflecke setzte.

»Aus dem Wege da! Müßt Ihr Euch denn immer auf unsre Stufen setzen, und könnt Ihr nicht auch einmal die eines Nachbars dazu nehmen? Ich frage, ob ihr den Weg räumen wollt!«

Genau genommen war die letzte Aufforderung ganz unnötig, weil sie ihr bereits nachgekommen waren.

»Was gibts da?« sagte der Gentleman, für den die Tür geöffnet worden war, und der jetzt mit jenem leichtschweren Tritt aus dem Hause kam, den man so häufig bei Gentlemen antrifft, die die zweite, absteigende Hälfte ihres Lebens sorgenlos genießen, wenn sie, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben, mit knarrenden Stiefeln, Uhrketten und reinen Hemden aus ihren Häusern kommen und in ihrer Miene ausdrücken, daß sie irgendwo eine wichtige, viel Geld einbringende Beschäftigung haben. »Was gibts da? Was gibts da?«

»Muß man Euch denn immer auf den Knien bitten,« fuhr der Bediente mit großem Nachdruck gegen Trotty Veck fort, »unsre Türtreppen sein zu lassen? Warum kommt Ihr denn immer wieder? Könnt Ihr nicht einmal wegbleiben?«

»Schon gut! Das genügt! Das genügt!« sagte der Gentleman. »Heda, Dienstmann!« Er bedeutete Trotty Veck durch eine Kopfbewegung, näher zu treten. »Kommt her da. Was ist dies – Euer Mittagessen?«

»Ja, Sir,« versetzte Trotty, seine Schüssel in einer Ecke stehen lassend.

»Laßt es nicht dort, sondern bringt es her, bringt es her!« rief der Gentleman. »So; das ist also Euer Essen, wie?«

»Ja, Sir,« antwortete Trotty, mit festem Blick und wässerndem Mund den letzten Brocken ängstlich verfolgend, den er sich als köstlichen Schlußbissen aufgehoben hatte, und den nun der Gentleman an dem Gabelende um und um drehte.

Mit ihm waren auch zwei andere Gentlemen herausgekommen. Der eine, ein niedergeschlagenes, schmächtiges Männchen von mittlerem Alter und mit einem trostlosen Gesicht, hielt Seine Hände unaufhörlich in den schlappohrigen Taschen seiner knappen Pfeffer- und Salzhosen versteckt und schien mit der Bürste oder Seife keine sonderlich intime Bekanntschaft zu unterhalten. Der andre war ein großer, geschmeidiger, gut angezogener Gentleman in einem blauen Rock mit gelben Knöpfen und weißer Krawatte. Dieser hatte ein sehr rotes Gesicht, als ob ihm ein ungebührlicher Anteil Blut nach dem Kopf gedrängt worden sei, was vielleicht auch der Grund war, daß er ziemlich kaltherzig aussah.

Derjenige, welcher Tobys Fleisch an der Gabel hatte, rief nun den ersten Gentleman, den er Filer nannte, heran, und dieser, der sehr kurzsichtig war, mußte zur Untersuchung von Tobys noch übrigem Mittagsmahl seinen Kopf so nahe an den Leckerbissen bringen, daß Toby das Herz bis zum Hals schlug. Aber Herr Filer aß ihn nicht.

»Das ist eine Art von animalischer Kost, Alderman,« sagte Filer, indem er mit einem Bleistift kleine Löcher hineinstach, »die gemeiniglich bei der arbeitenden Klasse dieses Landes unter dem Namen Kuttelflecke bekannt ist.«

Der Alderman lachte und blinzelte – denn Alderman Cute war ein lustiger Knabe und dabei auch ein schlauer, verschmitzter Bursche, der über alles ein wachsames Auge hatte und sich nicht hintergehen ließ. Ja, er sah tief in die Herzen der Leute! Er kannte sie gut, dieser Cute. Das will ich glauben!

»Aber wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer fort, indem er umherschaute. »Kuttelflecke sind ausnahmslos der unökonomischste und verschwenderischste Konsumartikel, den die Märkte diesem Landes nur hervorbringen können. Man hat gefunden, daß ein Pfund Kuttelflecke durch Sieden sieben Vierzigstel mehr verliert, als ein Pfund jeder andern animalischen Nahrung. Kuttelflecke sind also verhältnismäßig kostspieliger, als die Treibhaus-Ananas. Wenn man die Anzahl der jährlich geschlachteten Tiere in Betracht zieht und einen niedrigen Überschlag über die Menge von Kuttelflecken macht, die die Leiber dieser – vorausgesetzt verständig – geschlachteten Tiere liefern, so stellt sich heraus, daß man von dem Sudverlust der Kuttelflecke allein eine Garnison von fünfhundert Mann fünf Monate lang, jeder zu einunddreißig Tagen gerechnet, und noch einen Februar dazu, viktualisieren könnte. Welche Vergeudung – Vergeudung!«

Trotty stand entsetzt da, und die Knie zitterten unter ihm. Er schien eigenhändig eine Garnison von fünfhundert Mann ausgehungert zu haben.

»Wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer mit Wärme fort. »Wer ißt Kuttelflecke?«

Trotty machte eine klägliche Verbeugung.

»Ihr also, Ihr?« sagte Herr Filer. »So will ich Euch etwas bedeuten. Ihr reißt Eure Kuttelflecke aus dem Munde der Witwen und Waisen, mein Freund.«

»Ich hoffe nicht, Sir,« versetzte Trotty mit matter Stimme. »Lieber wollte ich verhungern!«

»Teilt man die Menge der vorerwähnten Kuttelflecke durch die geschätzte Anzahl von existierenden Witwen und Waisen, Alderman,« nahm Herr Filer wieder auf, »so trifft auf jeden Kopf für ungefähr einen Penny. Für diesen Mann da bleibt kein Gran übrig – folglich ist er ein Räuber.«

Trotty war so erschüttert, daß er sich nichts daraus machte, als er den Alderman seinen letzten Leckerbissen verzehren sah. Es war ihm eine Erlösung, von diesem irgendwie befreit zu werden.

»Und was sagt Ihr?« fragte der Alderman scherzhaft den rotgesichtigen Gentleman in blauem Rock. »Ihr habt Freund Filer gehört. Was sagt Ihr

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»Was läßt sich da auch möglicherweise sagen?« entgegnete der Gentleman. »Was läßt sich überhaupt sagen? Wer kann sich in so schlechten Zeiten für einen Menschen wie diesen da (er meinte Trotty) interessieren? Schaut ihn an! Welch ein Gegenstand! O die guten alten Zeiten, die herrlichen alten Zeiten, die großartigen alten Zeiten! Das waren die Zeiten für ein kühnes Bauernvolk und dergleichen mehr. Das waren tatsächlich die Zeiten für alles und jedes. Heutzutage gibt es dergleichen nicht mehr. Ach!« seufzte der rotgesichtige Gentleman. »Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten!«

Der Gentleman setzte nicht näher auseinander, was für besondre Zeiten er meinte, und ließ sich ebensowenig darauf ein, was er an der gegenwärtigen aussetzen hatte, weil er sich wahrscheinlich bewußt war, daß sie nichts sehr Merkwürdiges geleistet hatte dadurch, daß sie ihn ins Leben gerufen.

»Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten,« wiederholte der Gentleman. »Was waren das für Zeiten! Das waren noch die einzigen Zeiten. Wozu nützts auch, von andern Zeiten zu reden oder sich darüber auszulassen , was die Leute in diesen Zeiten sind. Ihr werdet sie doch nicht etwa Zeiten nennen wollen? Ich wenigstens tue es nicht. Betrachtet nur einmal Strutts Kostüme und seht, was ein Dienstmann während irgendeiner der guten alten englischen Regierungen zu sein pflegte.«

»Wenn es ihnen recht gut ging, so hatten sie nicht einmal ein Hemd auf dem Leib oder Strümpfe an den Füßen, und in ganz England wuchs für sie kaum ein einziges Gemüse,« sagte Herr Filer. »Ich kann dies durch Tabellen beweisen.«

Aber dennoch pries der rotgesichtige alte Gentleman die guten alten Zeiten, die herrlichen Zeiten, die großartigen Zeiten. Es war ganz gleichgültig, was ein andrer sagte; er haspelte unaufhörlich dieselben Phrasen von den alten Zeiten ab, wie ein armes Eichhörnchen seine Tretmühle abhaspelt, von deren Mechanismus und Ränken es wahrscheinlich ebenso klare Vorstellungen hat, wie dieser rotgesichtige Gentleman von seinem verschwundenen tausendjährigen Reich hatte.

Möglich, daß der Glaube des armen alten Trotty an diese sehr verworrenen alten Zeiten nicht ganz zerstört wurde, denn er fühlte sich in jenem Augenblick verwirrt genug; so viel aber wurde ihm in seiner Not klar, daß, wie sehr auch diese Gentlemen im einzelnen verschiedener Meinung sein mochten, seine Bedenken von heute morgen und von vielen andern Morgen ganz begründet waren.

»Nein, nein, wir können nichts rechtmachen,« dachte Trotty in Verzweiflung. »Es ist nichts Gutes in uns. Wir werden bereit schlecht geboren!«

Aber Trotty hatte ein Vaterherz in seinem Innern, das trotz dieser göttlichen Verordnung irgendwie sich in seine Brust geschwindelt hatte, und konnte es nicht ertragen, daß diese weisen Gentlemen Meg, deren Wangen noch vor Freude strahlten, ihr Schicksal weissagen sollten. »Gott helfe ihr,« dachte der arme Trotty; »sie wird es bald genug kennen lernen.«

Er gab daher dem jungen Schmied ängstlich durch Zeichen zu verstehen, daß er sie fortnehmen möchte; aber Richard plauderte in einiger Entfernung so angelegentlich mit ihr, daß ihm dieser Wunsch erst zu gleicher Zeit mit dem Alderman Cute deutlich wurde. Der Alderman hatte sein Sprüchlein noch nicht angebracht; aber er war ein Philosoph – und obendrein ein praktischer, o ein sehr praktischer Philosoph, und da er sichs nicht einfallen ließ, auf einen Teil seiner Zuhörerschaft zu verzichten, so rief er:

»Halt«

»Ihr wißt,« sagte der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln, das gewöhnlich um seine Lippen spielte, zu seinen beiden Freunden, »ich bin ein einfacher, praktischer Mann und liebe es, in einfacher, praktischer Weise zu Werke zu gehen. Das ist so meine Art. Es ist durchaus nicht schwer, und es steckt kein Geheimnis dahinter, mit derartigen Leuten umzugehen , wenn man sie nur versteht und in ihrer eignen Weise mit ihnen sprechen kann. Hört also, Dienstmann! Bemüht Euch nur ja nicht, mein Freund, mir oder jemand anderm weiszumachen, Ihr hättet nicht immer vom Besten und im Überfluß zu essen; ich weiß das besser. Ihr wißt, ich habe Eure Kuttelflecke gekostet , und Ihr könnt mich nicht beschummeln. Ihr wißt , was ›beschummeln‹ bedeutet, he? Das ist das rechte Wort – nicht wahr? Du mein Himmel,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »es ist das allerleichteste von der Welt, mit derartigen Leuten zu verkehren, wenn man sie nur versteht.«

Ein famoser Mann für das gemeine Volk, der Alderman Cute! Nie aufgebracht über sie! Ein umgänglicher, gesprächiger, scherzhafter, gescheiter Herr!

»Ihr seht, mein Freund,« fuhr der Alderman fort, »man spricht da viel Unsinn vom Mangel und ›Schlechtgehen‹ – nicht wahr, so nennt mans? Ha ha ha! – aber ich gedenke, das Geschrei zu widerlegen. ’s ist nachgerade Mode, viel übers Verhungern zu deklamieren; aber ich will der Sache einen Riegel vorschieben. Gott weiß,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »man kann solchen Leuten alles legen, wenn man nur weiß, wie mans anzugreifen hat!«

Trotty ergriff Megs Hand und zog sie durch seinen Arm, ohne eigentlich recht zu wissen, was er tat.

»Eure Tochter, he?« fragte der Alderman, sie vertraulich unter das Kinn fassend.

Stets leutselig gegen die arbeitende Klasse – der Alderman Cute! Wußte, was ihnen gefiel! Kein bißchen stolz!

»Wo ist ihre Mutter?« fragte der würdige Gentleman.

»Tot,« antwortete Toby. »Ihre Mutter verfertigte Wäsche und wurde in den Himmel abberufen, als Meg auf die Welt kam.«

»Vermutlich wird sie dort keine Wäsche verfertigen,« bemerkte der Alderman scherzhaft.

Toby konnte oder wollte sich vielleicht auch nicht seine Frau im Himmel ohne ihre gewöhnliche Beschäftigung vorstellen. Die Frage ist: wenn Frau Alderman Cute gegen Himmel gefahren wäre, würde sich Herr Alderman Cute seine Gattin so vorgestellt haben, daß sie dort Staat macht und eine hohe Stellung einnimmt?

»Und Ihr macht ihr den Hof, he?« fragte Cute den jungen Schmied.

»Ja,« entgegnete Richard hastig, denn die Frage brannte ihn wie eine Nessel. »Und wir werden am Neujahrstag heiraten.«

»Was sagt Ihr da?« rief Herr Filer scharf. »Heiraten?«

»Nun ja, wir denken daran, Herr,« versetzte Richard. »Ihr seht, wir müssen ein bißchen eilen, für den Fall, daß man uns vielleicht unser Vorhaben ›legen‹ würde.«

»Ah!« rief Filer mit einem Stöhnen. »Jawohl, Alderman, wenn Ihr dies legen könntet, so würdet Ihr etwas tun. Heiraten! heiraten!! Die Unwissenheit dieser Leute in den ersten Grundsätzen der Staatsökonomie, ihr Unverstand und ihre Gottlosigkeit sind, beim Himmel, genug, um – na, seht mir nur einmal dieses Paar an!«

Ei ja, man durfte sie wohl ansehen – und das Heiraten schien eine so vernünftige und billige Handlung zu sein , daß sie es wohl in Betracht ziehen durften.

»Man kann so alt werden wie Methusalem«, sagte Herr Filer, »und sich sein ganzes Leben über zum Besten solcher Leute abmühen; man kann berghoch Zahlen von Tatsachen, Zahlen von Tatsachen und Zahlen von Tatsachen aufhäufen, aber vergeblich hofft man, sie zu überzeugen, daß sie keine Befugnis und kein Recht haben, zu heiraten – ebensowenig als man sie zu belehren vermag, wie ihnen alle Befugnis abgeht, geboren zu werden. Und daß dies der Fall ist, wissen wir recht wohl, da wirs längst zu einer mathematischen Gewißheit erhoben haben.«

Alderman Cute war ungemein aufgeräumt und legte seinen rechten Zeigefinger an die Seite seiner Nase, als wollte er zu seinen beiden Freunden sagen: »Seid nun so gut, auf mich achtzugeben. Richtet euer Augenmerk auf den praktischen Mann!« – Dann rief er Meg heran.

»Kommt her, mein Mädchen!« sagte Alderman Cute. Das junge Blut ihres Liebhabers war in den letzten paar Minuten zornig aufgewallt, und er hatte keine Lust, sie gehen zu lassen. Dennoch tat er sich Zwang an, trat, als sich Meg näherte, mit einem großen Schritt vor und stellte sich an ihre Seite. Trotty hielt noch immer ihre Hand unter seinem Arm, blickte aber so wirr wie ein Schläfer im Traum von Gesicht zu Gesicht.

»Ich will Euch jetzt ein paar Wörtchen als guten Rat geben, mein Mädchen,« sagte der Alderman in seiner leichten, angenehmen Weise. »Ihr wißt, daß es mir zusteht, Rat zu erteilen, weil ich Friedensrichter bin. Es ist Euch wahrscheinlich bekannt, daß ich die Stellung eines Friedensrichters innehabe?«

Meg antwortete schüchtern mit ja. Aber jedermann wußte, daß Alderman Cute ein Friedensrichter war – und, o mein Gott, welch ein tätiger Friedensrichter! Nie gab es einen so glänzenden Splitter im Auge der Öffentlichkeit als Cute.

»Ihr wollt also heiraten , sagt Ihr?« fuhr der Alderman fort. »Das ist sehr unschicklich und unzart von einer Person Eures Geschlechts! Doch reden wir nicht davon. Wenn Ihr geheiratet habt, werdet Ihr mit Euerm Mann streiten und ein unglückliches Weib werden. Ihr glaubts vielleicht nicht, aber Ihr werdet es mit der Zeit, weil ichs Euch sage. Ich warne Euch deshalb ehrlich und bemerke Euch zum voraus, daß ich mir vorgenommen habe, auch den unglücklichen Weibern einen Riegel vorzuschieben. Mir dürft Ihr nicht kommen. Ihr werdet Kinder kriegen – Jungen. Diese Jungen wachsen auf bösen Wegen auf und laufen ohne Schuhe und Strümpfe wild durch die Straßen. Merkt Euch dies, meine junge Freundin – ich werde sie samt und sonders summarisch einstecken lassen, denn ich bin entschlossen, auch den Buben ohne Schuhe und Strümpfe das Handwerk zu legen. Vielleicht stirbt Euer Mann jung (sehr wahrscheinlich) und läßt Euch mit einem Säugling zurück. Man weist Euch dann die Tür, und Ihr müßt auf der Straße umherwandern. Kommt aber nur mir nicht in die Nähe, meine Liebe, denn ich bin entschlossen, es allen wandernden Müttern zu legen. Ja, ich bin entschlossen, es allen jungen Müttern, welcher Art und von welchem Schlag sie sein mögen, zu legen. Glaubt nicht, Ihr könnt Euch mit Krankheit oder mit Säuglingen vor mir entschuldigen, denn ich habe mir vorgenommen, es allen kranken Personen und kleinen Kindlein (hoffentlich kennt Ihr die Stelle im Gebetbuch, ich fürchte aber, nein) zu legen; und wenn Ihr gar verzweifelt, undankbar, gottlos und betrügerisch einen Versuch macht, Euch zu ersäufen oder zu hängen, So will ich kein Mitleid mit Euch haben, denn ich bin festen Willens, es auch dem Selbstmord zu legen! Wenn es etwas gibt,« fuhr der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln fort, »von dem ich sagen kann, daß mein Sinn mehr darauf erpicht sei als auf etwas andres, so ist es das Legen des Selbstmordes. Probierts also nicht erst! Ha ha! Jetzt verstehen wir einander.«

Toby wußte nicht, sollte er sich mehr grämen oder freuen, als er bemerkte , daß Meg totenblaß wurde und die Hand ihres Verlobten fallen ließ.

»Und was Euch betrifft, Ihr junger Bullenbeißer,« fuhr der Alderman fort, indem er sich mit erhöhter Heiterkeit und Leutseligkeit an den jungen Schmied wandte, »was fällt Euch denn ein, daß Ihr heiraten wollt? Wozu braucht Ihr überhaupt das Heiraten, Ihr einfältiger Mensch? Wenn ich ein hübscher, starker junger Bursche wäre wie Ihr, so würde ich mich schämen, so milchsuppig zu sein, um mich an die Schürzenbänder eines Weibes zu hängen! Sie ist ein altes Weib, bevor Ihr ein Mann in den besten Jahren seid! Und Ihr werdet dann eine schöne Figur machen, wenn Euch auf Schritt und Tritt eine Schmutzliese von Frau und ein Haufen krakeelender Kinder nachschreien!«

Oh, wie angenehm wußte Alderman Cute mit den gemeinen Leuten zu scherzen!

»So – jetzt packt Euch und bereut,« sagte der Alderman. »Macht keine solchen Narren aus Euch, am Neujahrstag zu heiraten. Bevor sich dieser Tag jährt, seid Ihr längst andrer Meinung – so ein schmucker junger Bursche wie Ihr, nach dem sich alle Mädels den Hals ausrecken. Also! Geht jetzt!«

Und sie gingen. Nicht Arm in Arm, Hand in Hand oder leuchtende Blicke austauschend: sondern sie in Tränen, er aber düster und niedergeschlagen. Waren dies die Herzen, die erst kürzlich noch das des alten Toby aufhüpfen machten aus seiner Schwäche? Nein, nein. Der Alderman – Segen über sein Haupt! – hatte es ihnen ›gelegt‹.

»Da Ihr zufällig hier seid,« sagte der Alderman zu Toby, »so könnt Ihr mir einen Brief besorgen. Wie stehts aber mit der Geschwindigkeit? – Ihr seid ein alter Mann.«

Toby, der ganz betäubt Meg nachgesehen hatte, versuchte zu murmeln, daß er sehr hurtig und recht gut bei Kräften sei.

»Wie alt seid Ihr?« fragte der Alderman.

»Sechzig vorbei, Sir,« versetzte Toby.

»Der Mann hat das Durchschnittsalter weit überschritten,« fiel Herr Filer ein, als ob seine Geduld wohl einer Heimsuchung fähig sei, dies aber wirklich die Sache ein wenig zu weit treiben heiße.

»Ich spüre wohl, daß ich zur Last bin, Sir,« sagte Toby. »Ich – ich habs schon heute morgen geargwöhnt. Ach du mein Himmel!«

Der Alderman unterbrach ihn, indem er einen Brief aus seiner Tasche zog und ihn Toby Veck übergab. Letzterer würde dazu auch einen Schilling erhalten haben; da aber Herr Filer deutlich bewies, daß er in diesem Fall eine gewisse gegebene Anzahl von Personen je um neuneinhalb Pence bringe, so erhielt er nur ein Sechspencestück und war schon darüber überglücklich.

Dann gab der Alderman jedem seiner Freunde einen Arm und zog triumphierend von dannen; unmittelbar darauf kam er jedoch eiligst allein zurück, als ob er etwas vergessen hätte.

»Dienstmann!« sagte der Alderman.

»Sir!« versetzte Toby.

»Gebt auf Eure Tochter acht. Sie ist viel zu schön.«

»Vermutlich hat sie auch ihr hübsches Gesicht jemandem gestohlen,« dachte Toby, indem er das Sechspencestück in seiner Hand ansah und an die Kuttelflecke dachte. »Sollte mich nicht wundern, wenn sie fünfhundert vornehmen Damen je ein Stück Blüte entrissen hätte. ’s ist ja ganz schrecklich!«

»Sie ist viel zu schön, mein guter Mann,« wiederholte der Alderman. »Ich sehe klar voraus, daß es mit ihr kein gutes Ende nehmen wird. Merkt auf das, was ich Euch sage, und habt ein wachsames Auge auf sie!«

Mit diesen Worten eilte er wieder fort.

»Überall Unrecht – überall Unrecht!« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend. »Schon als schlecht geboren! Nichts hier zu schaffen!«

Die Glocken tönten hallend zusammen, als er diese Worte sprach – voll, laut und kräftig tönend, aber ohne Ermutigung. Nein, keine Spur davon.

»Die Weise hat sich geändert,« rief der alte Mann, als er aufhorchte. »‹s ist nicht eine Silbe darin, an der man eine Freude haben könnte. Doch warum auch? Was geht mich das neue oder das alte Jahr an? Laßt mich sterben!«

Dennoch hallten die Töne fort, daß die ganze Luft in Schwingungen geriet: »Leg es ihnen, leg es ihnen! Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen! Leg es ihnen, leg es ihnen!« Wenn sie überhaupt etwas sagten, So sagten sie nur dies, bis es in Tobys Gehirn zu kreisen begann.

Er preßte seinen armen, wirren Kopf in beide Hände, als ob er ihn vor dem Zerspringen bewahren wollte. Dies war eine Bewegung zur rechten Zeit, denn sie ließ ihn in der einen Hand den Brief fühlen, und so wurde er an seinen Auftrag erinnert. Mechanisch setzte er sich in seinen gewöhnlichen Trab und trottete von hinnen.

Das zweite Viertel


Das zweite Viertel

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Der Brief, den Toby von Alderman Cute erhalten hatte, war an einen großen Mann in dem großen Distrikt der Stadt adressiert. Der größte Distrikt der Stadt. Er mußte es auch wohl sein, weil er allgemein von seinen Einwohnern die ›Welt‹ genannt wurde.

Der Brief kam entschieden Tobys Hand weit schwerer vor, als ein andrer Brief – nicht weil ihn der Alderman mit einem sehr großen Wappen und einer endlosen Lackverschwendung gesiegelt hatte, sondern wegen des wichtigen Namens auf dem Umschlag und der schweren Menge von Gold und Silber, an die er erinnerte.

»Wie ganz verschieden von uns!« dachte Toby in aller Einfalt, als er die Adresse las. »Wenn man die zum Tod bestimmten Schildkröten durch die Anzahl der vornehmen Leute teilte, die sie kaufen könnten, würde er nur seinen eignen Anteil beanspruchen und würde es verachten, irgendeinem Menschen die Kuttelflecke vor dem Mund wegzuschnappen!«

Mit der unwillkürlichen Huldigung, die einem so hochstehenden Charakter gebührte, brachte Toby einen Zipfel seiner Schürze zwischen den Brief und seine Finger.

»Seine Kinder,« fuhr Trotty fort, und ein Nebel legte sich vor seine Augen, »seine Töchter – vornehme Herren können kommen, ihre Herzen gewinnen und sie heiraten. Sie dürfen glückliche Weiber und Mütter werden – sind vielleicht schön, wie meine liebe M – e –.«

Er konnte den Namen nicht zu Ende bringen, denn der letzte Buchstabe schwoll in seiner Kehle zum Umfang des ganzen Alphabets an.

»Doch gleichviel,« dachte Trotty. »Ich weiß, was ich meine, und das ist mehr als genug für mich.«

Und mit dieser tröstlichen Betrachtung trabte er weiter.

Es hatte an diesem Tag hart gefroren, und die Luft war stärkend, frisch und klar. Die winterliche Sonne gab zwar keine Wärme, blickte aber glänzend auf das Eis nieder, das sie nicht schmelzen konnte, und ließ darin ihre Strahlen spiegeln. Zu andern Zeiten hätte Trotty vielleicht dieser Wintersonne eine Lehre für den armen Mann abgewinnen können, aber er war jetzt darüber hinaus.

Das Jahr war sterbensalt an diesem Tag. Das geduldige Jahr hatte die Vorwürfe und Schmähungen seiner Lästerer überlebt und war getreulich mit seinem Werk zustande gekommen. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Es hatte sich durch den ihm angewiesenen Kreislauf gearbeitet und legte jetzt sein müdes Haupt nieder, um zu sterben. Abgeschnitten von aller Hoffnung, von allen starken Impulsen, von allem Lebendigen, und nur noch ein Bote vieler Freuden für andre, verlangte es weiter nichts, als daß man sich seiner vielen mühsamen Tage und geduldigen Stunden erinnere und es dann in Frieden hinscheiden lasse. Trotty hätte aus dem entschwindenden Jahr ein Sinnbild des armen Mannes lesen können – aber er war jetzt darüber hinaus.

Und nur er? Oder war vielleicht seit siebzig Jahren derselbe Aufruf zumal an jeden englischen Arbeiter ergangen, aber vergeblich?

Die Straßen waren sehr belebt und die Läden prunkhaft ausgestattet. Wie einem jugendlichen Erben der ganzen Welt sah man dem neuen Jahr mit Freude, Willkomm und Geschenken entgegen. Da lagen Bücher und Spielzeug für das neue Jahr, funkelndes Geschmeide für das neue Jahr, Anzüge für das neue Jahr, Glücksentwürfe für das neue Jahr; neue Erfindungen, um es um seine Zeit zu betrügen. Sein Leben war in Kalendern und Taschenbüchern haargenau eingeteilt; das Erscheinen der Monde, der Sterne und der Gezeiten war im voraus bis auf die Sekunde bekannt; ja sogar das Wirken der Jahreszeiten bei Tag und bei Nacht war mit ebenso großer Genauigkeit berechnet, wie Herr Filer aus Männern und Weibern Summen herausarbeiten konnte.

Das neue Jahr, das neue Jahr – überall das neue Jahr! Das alte betrachtete man schon als tot, und seine Effekten wurden spottbillig verkauft, wie die eines ertrunkenen Matrosen an Bord. Seine Moden wurden schon der Vergangenheit beigezählt und fielen als Opfer, ehe noch sein Atem ausgegangen war. Seine Schätze waren bloßer Schmutz neben den Reichtümern des neugeborenen Nachfolgers!

Trotty dachte für sich: »Du hast doch keinen Teil weder an dem neuen noch an dem alten Jahr.«

»Leg es ihnen, leg es ihnen! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen. Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Leg es ihnen, leg es ihnen!« – sein Trab ging nach diesem Takt und wollte sich in keinen andern schicken.

Doch auch dieser, so traurig er war, brachte ihn endlich ans Ende seiner Wanderung nach der Wohnung des Sir Joseph Bowley, Parlamentsmitglied.

Die Tür wurde durch einen Portier geöffnet. Und noch dazu durch was für einen Portier! Kein Porter2 von Tobys Rang. Etwas ganz andres. Und bei seiner Stellung konnte er die Botengänge wohl entbehren; nicht aber Toby.

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Dieser Portier mußte zuvor schwer schnauben, ehe er sprechen konnte; denn er hatte sich außer Atem gehetzt, weil er unvorsichtigerweise von seinem Stuhl aufgestanden war, ohne daß er sich zuvor Zeit genommen hatte, darüber nachzudenken und sein Gemüt zu beruhigen. Als er endlich seine Stimme gefunden hatte – freilich dauerte dies eine geraume Zeit, denn sie war weg und unter einer Last Fleisch verborgen – begann er in fettem Geflüster:

»Von wem ists?«

Toby sagte es ihm.

»Ihr müßt es selbst hineintragen,« sagte der Portier, nach einem Zimmer am Ende eines langen Ganges deutend, der an die Halle stieß. »An diesem Tag des Jahres geht alles direkt hinein. Ihr kommt nicht eine Sekunde zu früh, denn der Wagen steht schon vor der Tür, und sie sind ausdrücklich nur für ein paar Stunden nach der Stadt gekommen.«

Toby wischte sich sorgfältig die Füße ab, obschon sie ganz trocken waren, und schlug den ihm angedeuteten Weg ein. Während er durch die Halle trottete, bemerkte er, daß es ein schauerlich großartiges Haus war, aber alles so still und verhüllt, als befände sich die Familie auf dem Land. Er klopfte an die Zimmertür, und als er auf ein ›Herein!‹ eintrat, gelangte er in ein geräumiges Bibliothekzimmer, in dem vor einem mit Papieren bedeckten Tisch eine stattliche Dame im Hut saß. Ein nicht sehr stattlicher, schwarz gekleideter Gentleman schrieb, was sie diktierte, und ein andrer älterer und viel stattlicherer Gentleman, dessen Hut und Stock auf dem Tisch lagen, ging auf und ab, die eine Hand in die Brust steckend und von Zeit zu Zeit sein eignes Porträt in Lebensgröße, das über dem Kamin hing, betrachtend.

»Was ist dies?« fragte der letzterwähnte Gentleman. »Herr Fish, wollen Sie nicht die Güte haben, sich darum zu kümmern?«

Herr Fish bat um Verzeihung, nahm Toby den Brief ab und überreichte ihn mit großer Ehrfurcht.

»Von Alderman Cute, Sir Joseph.«

»Ist dies alles? Habt Ihr sonst nichts, Austräger?« fragte Sir Joseph.

Toby antwortete verneinend.

»Habt Ihr keinen Wechsel, keine Forderung an mich, von welcher Seite her es auch sein mag?« sagte Sir Joseph. »Mein Name ist Bowley – Sir Joseph Bowley; wenn Ihr etwas habt, so gebt es her. Herr Fish hat ein Scheckbuch neben sich liegen. Ich lasse nichts ins neue Jahr hinübergehen. Jede Art Rechnung muß in diesem Haus am Schluß des alten beglichen werden, damit, wenn der Tod – wenn der Tod …«

»Mich wegraffen sollte,« ergänzte Herr Fish.

»Die Saite meines Daseins zerreißen sollte, Sir,« erwiderte Sir Joseph mit großer Strenge – »meine Angelegenheiten hoffentlich im Zustande der Vorbereitung gefunden werden.«

»Mein teurer Sir Joseph!« sagte die Dame, die viel jünger war als der Gentleman. »Wie entsetzlich!«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, der wie unter der ungeheuerlichen Tiefsinnigkeit seiner Bemerkungen hin und wieder stockte, »zu dieser Zeit des Jahres müssen wir an – an – uns selbst denken. Wir sollten Einsicht nehmen in – in unsre Rechnungen. Wir sollten fühlen, daß jede Wiederkehr einer so ereignisvollen Periode im menschlichen Leben Dinge mit sich führt – Dinge von tiefer Bedeutung zwischen dem Menschen und seinem – und seinem Bankier.«

Sir Joseph entledigte sich dieser Worte in einer Weise, als fühle er die volle Moralität derselben und wünsche, daß sogar Trotty Gelegenheit habe, sich an einem derartigen Gespräch zu erbauen. Vielleicht lag dies in seiner Absicht, weil er immer das Siegel des Briefes noch uneröffnet ließ und zu Trotty sagte, er solle noch eine Minute warten.

»Mylady, Sie wollten Herrn Fish schreiben lassen…«, bemerkte Sir Joseph.

»Herr Fish hat es, glaube ich, schon geschrieben,« versetzte die gnädige Frau, nach dem Brief hinsehend. »Aber auf mein Wort, Sir Joseph, ich glaube nicht, daß ich es zulassen kann. Es ist so kostspielig.«

»Was ist kostspielig?« fragte Sir Joseph.

»Dieser Wohltätigkeitsverein, mein Lieber. Sie gestatten nur zwei Stimmen für eine Unterzeichnung von fünf Pfund. Das ist in der Tat zu arg.«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, »Ihr setzt mich in Erstaunen. Steht der Hochgenuß des Gefühls im Verhältnis zu der Anzahl der Stimmen, oder steht er für eine edle Seele im Verhältnis zu der Anzahl der Bewerber und der ganzen Gesinnung, in die sie durch ihre Bewerbung versetzt werden? Liegt nicht Aufregung der reinsten Art in dem Umstand, unter fünfzig Personen über zwei Stimmen zu verfügen?«

»Ich gestehe, für mich nicht, denn man langweilt sich dabei,« entgegnete die gnädige Frau. »Außerdem kann man sich keine Freunde verbinden. Doch ich weiß ja, Ihr seid des armen Mannes Freund, Sir Joseph, und denkt anders.«

»Ich bin allerdings des armen Mannes Freund,« bemerkte Sir Joseph, nach dem anwesenden armen Mann hinblickend. »Als solchen mag man mich immerhin verhöhnen, wie man mich schon verhöhnt hat; ich verlange dennoch keinen ändern Titel!«

»Gott segne diesen edlen Gentleman!« dachte Trotty.

»Mit Cute da zum Beispiel bin ich nicht einverstanden,« sagte Sir Joseph, indem er den Brief ausstreckte. »Ebensowenig sagt mir Filers Partei zu. Ich will nichts von einer Partei wissen. Mein Freund, der arme Mann, hat nichts mit irgend etwas dieser Art zu schaffen, und solche Dinge gehen ihn auch durchaus nichts an. Mir liegt mein Freund, der arme Mann in meinem Distrikt, am Herzen, und kein Mensch und keine Parteigruppe, mögen ihrer auch noch so viele sein, haben ein Recht, sich zwischen mich und meinen Freund zu drängen. Dies ist das Feld, von dem ich nicht weiche. Ich stehe meinem Freunde in der – in der Eigenschaft eines Vaters gegenüber und sage zu ihm: »mein guter Bursche, ich will väterlich an dir handeln.«

Toby hörte mit großem Ernst zu – es wurde ihm nachgerade wohler zumute.

»Mein guter Freund,« fuhr Sir Joseph fort, indem er zerstreut nach Toby hinblickte, »du hast in diesem Leben nichts – ganz und gar nichts zu tun, als dich auf mich zu verlassen, und brauchst dich nicht zu bemühen, über irgend etwas nachzudenken. Ich will für dich denken, denn ich weiß, was gut für dich ist, und bin stets dein Vater. Dies ist die Fügung einer allweisen Vorsehung! Du bist nicht dazu geschaffen, um zu schlemmen, zu trinken und wie das Vieh deine Lust im Essen zu suchen« – Toby dachte mit Gewissensbissen an seine Kuttelflecke – »du sollst nur die Würde der Arbeit fühlen. Geh aufrecht hinaus in die erfrischende Morgenluft und – und bleibe daselbst. Lebe spärlich und mäßig, benimm dich respektvoll, übe dich in der Selbstverleugnung, erziehe deine Familie mit fast nichts, zahle deine Steuer so regelmäßig als die Uhr schlägt, sei pünktlich in deinem Verkehr – ich gebe dir darin ein gutes Beispiel, denn du wirst Herrn Fish, meinen Geheimschreiber, stets mit einer Geldtruhe vor sich sehen – und du kannst auf mich als auf deinen Freund und Vater bauen.«

»In der Tat, saubere Kinder, Sir Joseph,« sagte die Dame mit einem Schauder. »Rheumatismen, Fieber, verkrümmte Beine, Asthma und dergleichen Schrecken.«

»Mylady,« versetzte Sir Joseph mit Feierlichkeit, »nichtsdestoweniger bin ich des armen Mannes Freund und Vater. Nichtsdestoweniger soll er aus meinen Händen Ermutigung erhalten. An jedem Vierteljahrstag kann er sich mit Herrn Fish besprechen. An jedem Neujahrstag werde ich mit Freunden auf seine Gesundheit trinken. Einmal im Jahr werden ich selbst und meine Freunde tief empfundene Worte an ihn richten. Einmal in seinem Leben kann er vielleicht öffentlich und in Anwesenheit der Honoratiorenschaft sogar eine Kleinigkeit von einem Freund erhalten. Und wenn er, nicht mehr durch derartige Antriebe und durch die Würde der Arbeit aufrechtgehalten, in sein trostreiches Grab sinkt, dann, Mylady« – hier blies Sir Joseph seine Nase auf – »werde ich unter denselben Bedingungen ein Freund und Vater sein – seinen Kindern.«

Toby fühlte sich tief bewegt.

»O! Da habt Ihr auch eine dankbare Familie, Sir Joseph!« rief seine Gattin.

»Mylady,« versetzte Sir Joseph in majestätischem Ton, »Undank ist bekanntermaßen die Sünde dieser Klasse. Ich erwarte keinen andern Lohn.«

»Ah! schon als schlecht geboren!« dachte Toby. »Nichts kann unser verhärtetes Gemüt rühren.«

»Was ein Mensch tun kann, geschieht von meiner Seite aus,« fuhr Sir Joseph fort. »Ich erfülle meine Pflicht als des armen Mannes Freund und Vater und bemühe mich, seinen Geist zu bilden, indem ich ihm bei allen Gelegenheiten die eine große moralische Lehre, die diese Klasse braucht, ans Herz lege. Das heißt, unbedingte Abhängigkeit von mir. Sie haben durchaus nichts mit – mit sich selbst zu schaffen. Aber auch wenn gottlose und hinterlistige Personen sie eines andern belehren wollen – wenn sie ungeduldig und unzufrieden werden, sich eines unbotmäßigen Betragens und schwarzen Undanks schuldig machen, was ohne Zweifel der Fall sein wird, bleibe ich dennoch ihr Freund und Vater. Es ist so von der Vorsehung verordnet und liegt in der Natur der Dinge.«

Mit diesem großartigen Gefühl öffnete er den Brief des Alderman und las ihn.

»In der Tat sehr höflich und aufmerksam!« rief Sir Joseph. »Mylady, der Alderman ist so verbindlich, mich zu erinnern, daß er die ›ausgezeichnete Ehre‹ hatte – er ist sehr gütig – mich in dem Haus unsres gemeinschaftlichen Freundes, des Bankiers Deedles, zu treffen, und erweist mir die Gunst, anzufragen, ob es mir angenehm sei, wenn er Will Fern das Handwerk lege.«

»Höchst angenehm!« versetzte Lady Bowley. »Der Schlimmste von allen! Hoffentlich hat er einen Raub begangen.«

»Ei nein,« entgegnete Sir Joseph, in den Brief blickend. »Nicht ganz. Zwar nahe daran, aber nicht ganz. Es scheint, daß er nach London kam, um sich nach Arbeit umzusehen (sich zu verbessern, sagt er), und da wurde er denn nachts in einem Schuppen schlafend gefunden, in Haft genommen und am andern Morgen vor den Alderman gebracht. Der Alderman bemerkt (und zwar sehr richtig), daß er fest entschlossen sei, mit derartigen Vorkommnissen aufzuräumen, und wenn es mir angenehm sei, daß man es Will Fern endlich lege, so schätze er sich glücklich, mit ihm den Anfang zu machen.«

»Jedenfalls soll ein Exempel an ihm statuiert werden,« entgegnete die gnädige Frau. »Als ich letzten Winter unter den Männern und Knaben des Dorfes als eine hübsche Abendbeschäftigung das Spitzen und Öhren der Nadeln einführte und bei dieser Gelegenheit den Vers

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O laßt uns unsre Arbeit üben,
Den Squire und dessen Haus stets lieben,
Von unserm Tagsverdienste leben,
Uns unsres Stands nicht überheben

in Musik setzte, damit sie ihn dazu sängen, langte derselbige Fern – ich kann ihn noch sehen – an seinen Hut und sagten ›Bitt demütig um Verzeihung, Mylady, aber ist nicht doch noch ein Unterschied zwischen mir und einem großen Mädchen?‹ Natürlich erwartete ich dies, denn von dieser Klasse ist doch nichts als Unverschämtheit und Undank vorauszusehen. Doch warum sollte ich mich auch ereifern! Sir Joseph, laßt ein Exempel an ihm statuieren.«

»Hm!« hustete Sir Joseph. »Herr Fish, wollen Sie so gut sein, aufzumerken …«

Herr Fish ergriff augenblicklich seine Feder und schrieb, wie ihm Sir Joseph diktierte.

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»Privat.

Mein teurer Sir!

Ich bin Euch für Eure Höflichkeit in der Sache dieses William Fern, von dem ich leider nichts Günstiges sagen kann, sehr verpflichtet. Ich habe mich ihm gegenüber stets im Lichte eines Vaters und Freundes gesehen, bin aber (wie es leider nur zu gewöhnlich der Fall ist) mit Undank und beharrlicher Opposition gegen meine Pläne belohnt worden. Er ist ein unruhiger, rebellischer Geist. Sein Charakter duldet kein Erforschen. Nichts wird ihn dazu vermögen, glücklich zu sein, da er es doch so gut könnte. Unter diesen Umständen gestehe ich, daß Ihr meiner Ansicht nach der Gesellschaft einen Dienst leisten und ein heilsames Beispiel in einem Land geben würdet – wo, sowohl um derer willen, die im guten oder im bösen Ruf eines Vaters und Freundes der Armen stehen, als auch mit Rücksicht auf die irregeleitete Klasse selbst, Beispiele so nötig sind – wenn Ihr diesen Mann für einige Zeit als Vagabunden einsperren ließet, falls sich derselbe, wie er Euch in dem Verhör versprochen hat (und ich zweifle nicht, daß er Wort halten wird), wieder bei Euch einstellen sollte. Ich verbleibe« usw.

»Es kommt mir vor,« bemerkte Sir Joseph, als er diesen Brief unterzeichnet hatte und Herr Fish ihn eben versiegelte, »als ob dies wahrhaftig eine Verordnung der Vorsehung sei. Am Schluß des Jahres kann ich sogar mit William Fern meine Rechnung begleichen und meine Bilanz aufstellen.«

Trotty, dem der Mut schon längst wieder ganz und gar entsunken war, trat jetzt mit einer Jammermiene vor, um den Brief in Empfang zu nehmen.

»Mit meinem Kompliment und meinem Danke,« sagte Herr Joseph. »Halt!«

»Halt!« wiederholte Fish.

»Ihr habt vielleicht gewisse Bemerkungen gehört,« fuhr Sir Joseph orakelhaft fort, »zu denen ich mich durch den feierlichen Zeitpunkt, an dem wir angelangt sind, und durch die gebieterische Pflicht, in einem solchen Augenblick alle häuslichen Angelegenheiten zu ordnen, verleiten ließ. Ihr habt bemerkt, daß ich mich nicht hinter meine hohe Stellung in der Gesellschaft verschanze, sondern daß Herr Fish – dieser Gentleman da – ein Scheckbuch neben sich liegen hat und nur dazu hier ist, um mich in den Stand zu setzen, ein vollkommen neues Blatt aufzuschlagen, damit die neue Epoche mit einem vollkommen reinen Buche angetreten werden kann. Nun, mein Freund, seid Ihr gleichfalls imstande, Eure Hand aufs Herz zu legen und zu sagen, daß Ihr Eure Vorbereitungen für ein neues Jahr getroffen habt?«

»Ich fürchte, Sir,« stammelte Trotty, ihn demütig anblickend, »daß ich mit der Welt ein – ein – wenig im Rückstand bin.«

»Im Rückstand mit der Welt?« wiederholte Sir Joseph Bowley in einem Ton von erschreckender Deutlichkeit.

»Ich fürchte, Sir,« stotterte Trotty, »daß da noch zehn oder zwölf Schilling sind, die ich Frau Chickenstalker schuldig bin.«

»Frau Chickenstalker schuldig?« wiederholte Sir Joseph in demselben Ton wie zuvor.

»Sie hält einen Laden, in dem alles zu haben ist,« entgegnete Toby. »Auch ein – ein wenig fehlt noch an der Hausmiete. Nur sehr wenig, Sir. Ich weiß, wir sollten nichts schuldig sein, aber es ist uns wahrhaftig recht schlimm ergangen.«

Sir Joseph musterte zweimal seine Gattin, Herrn Fish und Trotty im Kreis, worauf er mit beiden Händen eine trostlose Gebärde machte, als gebe er die Sache ganz und gar auf.

»Wie kann ein Mann, sogar einer aus dieser unbekümmerten und unpraktischen Rasse – ein alter Mann, ein grauer Mann, einem neuen Jahre ins Gesicht sehen, während seine Angelegenheiten sich in einem solchen Zustand beenden! Wie kann er sich nachts zu Bett legen und am Morgen wieder aufstehen, während – da!« fügte er bei, indem er Trotty den Rücken zuwandte – »nehmt den Brief, nehmt den Brief!«

»Wollte Gott, es wäre anders, Sir,« sagte Trotty, der sich sehnlichst zu entschuldigen wünschte. »Aber wir sind bitter heimgesucht worden.«

Da Sir Joseph noch immer sein »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!« wiederholte, und Herr Fish nicht nur das gleiche sagte, sondern auch der Aufforderung dadurch einen weitern Nachdruck gab, daß er gegen die Tür wies, blieb dem armen Trotty nichts übrig, als daß er seine Verbeugung machte und das Haus verließ. Auf der Straße angelangt, zog er seinen alten, abgenützten Hut ins Gesicht, um den Schmerz zu verbergen, den er darüber fühlte, daß er nirgends dem Neujahr einen Halt abgewinnen konnte.

Er hob seine Kopfbedeckung nicht einmal, um an dem Glockenturm hinaufblicken zu können, als er auf dem Rückweg an der alten Kirche vorbeikam. Für einen Augenblick blieb er gewohnheitshalber stehen. Er wußte, daß es dunkel wurde und der Kirchturm schwach und undeutlich über ihm in die trübe Luft stieg; auch wußte er, daß die Glocken alsbald erschallen würden, und daß sie zu einer solchen Zeit wie Stimmen aus den Wolken in seine Ohren zu tönen pflegten. Aber er beeilte sich nur um so mehr, den Brief an den Alderman abzuliefern und ihnen aus dem Wege zu kommen, ehe sie anfingen, denn er fürchtete, in ihrem Bimmeln nichts andres als den ewigen Refrain »Freunde und Väter, Freunde und Väter« zu hören.

Toby sputete sich daher nach Kräften, seinen Auftrag auszurichten, und trabte dann nach Hause. Sein Gang war aber im besten Fall linkisch und wurde durch den tief ins Gesicht gedrückten Hut nicht verbessert, weshalb er nach kurzer Zeit gegen jemand anprallte, der ihn taumelnd auf den Fahrweg hinausschleuderte.

»Ich bitte um Verzeihung !« sagte Trotty, in großer Verwirrung seinen Hut in die Höhe ziehend, dessen zerrissenes Futter aber auf der Stirn sitzen blieb, so daß sein Kopf wie in einem Bienenkorb steckte. »Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Toby war kein so absoluter Samson, daß er möglicherweise irgend jemand hatte beschädigen können; dagegen lag die Wahrscheinlichkeit weit näher, daß er selbst Schaden genommen hatte, denn er war wie ein Feuerball auf die Straße hinausgeflogen. Dennoch hatte er eine so hohe Meinung von seiner eignen Kraft, daß er um den andern wirklich besorgt war und noch einmal fragte:

»Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Der Mann, gegen den er angerannt war, ein sonnverbrannter, muskulöser Bauer mit grauen Haaren und rauhem Kinn, stierte ihn einen Augenblick an, als glaube er, Toby wolle sich mit ihm einen Scherz erlauben. Sobald er jedoch dessen ehrliche Miene gesehen hatte, antwortete er:

»Nein, mein Freund, Ihr habt mich nicht verletzt.«

»Und auch das Kind nicht?« fragte Trotty.

»Auch das Kind nicht,« erwiderte der Mann. »Ich danke Euch sehr.«

Bei diesen Worten blickte er auf das kleine Mädchen, das er schlafend in seinen Armen trug, beschattete ihr Gesicht mit dem langen Ende seines zerrissenen Halstuches und ging langsam weiter.

Der Ton, in dem er sagte: »Ich danke Euch sehr,« drang in Tobys Herz. Der Mann war so ermattet, von der Wanderung beschmutzt und sah so seltsam und betrübt umher, daß es ihm wohl ein Trost sein mußte, jemand danken zu können, für wie wenig es auch sein mochte. Toby blieb stehen und schaute ihm nach, wie er mit wunden Füßen weiter ging, während das Kind den Arm um seinen Hals geschlungen hatte.

Trotty hatte nur noch Augen für die Gestalt in den abgenutzten Schuhen – jetzt nur noch die Schatten und Gespenster einer Fußbekleidung – in den rauhen Lederhosen, dem Zwilchkittel und dem breitkrempigen Hute, wie sie, das an ihren Hals sich anklammernde Kind auf ihrem Arm, dahinglitt. Ehe der Wanderer in der Dunkelheit verschwand, machte er halt und blickte umher. Als er Trotty noch dastehen sah, schien er unschlüssig zu sein, ob er weitergehen oder umkehren sollte. Nachdem er zuerst das eine, dann das andre getan hatte, kam er wieder zurück, und Trotty ging ihm auf halbem Weg entgegen.

»Könnt Ihr mir vielleicht sagen,« begann der Mann mit einem matten Lächeln, »wo Alderman Cute wohnt? Wenn Ihrs wißt, werdet Ihr mir gewiß Auskunft geben. Ich frage lieber Euch, als irgend jemand andern.«

»Ganz in der Nähe,« versetzte Toby. »Ich will Euch mit Freuden sein Haus zeigen.«

»Ich sollte morgen an einem andern Ort mit ihm zusammentreffen,« sagte der Mann, neben Toby hergehend, »aber man hat einen Argwohn auf mich, und ich möchte mich von ihm reinigen, damit ich frei ausgehen und mein Brot suchen kann, obschon ich nicht weiß, wo ichs zu finden habe. Er wird mir daher wohl vergeben, wenn ich heute abend in sein Haus komme.«

»Wie – nein, unmöglich!« rief Toby zusammenfahrend. »Ihr werdet doch nicht Fern heißen?«

»He?« entgegnete der andre, sich erstaunt gegen den Dienstmann umwendend.

»Fern? Will Fern?« sagte Trotty.

»Das ist mein Name,« versetzte der Mann.

»Dann, ums Himmels willen, geht nicht zu ihm!« rief Trotty, ihn am Arm fassend und vorsichtig umherblickend. »Geht nicht zu ihm! Er wird Euch hopp nehmen, so wahr Ihr geboren seid. Da – kommt in dieses Gäßchen herauf; ich will Euch dann sagen, was ich meine. Aber zu ihm müßt Ihr nicht gehen.«

Der Mann sah Toby an, als halte er ihn für toll, folgte ihm aber demungeachtet. Sobald sie sich aller Beobachtung entzogen hatten, teilte ihm Trotty alles mit, was er im Hause des Sir Joseph Bowley über ihn vernommen und was man über seinen Charakter gesagt hatte.

Der Fremde hörte mit einer Ruhe zu, die unsern armen Trotty in Erstaunen setzte. Er widersprach auch nicht ein einziges Mal, sondern nickte nur hin und wieder, mehr wie zur Bekräftigung einer alten Alltagsgeschichte, wie es schien, als in der Absicht, sie von sich abzuweisen. Ein- oder zweimal schob er seinen Hut zurück und fuhr mit der sommersprossigen Hand über eine Stirn, wo jede Furche, die er gepflügt hatte, ihr Bild im kleinen abgedrückt zu haben schien. Doch dies war alles.

»Es ist in der Hauptsache wahr genug,« sagte er. »Ich könnte zwar da und dort den Weizen von der Spreu sichten – aber lassen wirs lieber. Wozu auch? Ich habe gegen seine Pläne gehandelt, und das ist mein Unglück, obschon ich nicht anders konnte und es morgen wieder ebenso machen würde. Was den Charakter betrifft, so spähen und spähen diese vornehmen Leute und wollen ihn frei von allem Makel haben, ehe sie uns mit einem dürren, guten Worte aushelfen! Na, ich hoffe, daß sie ihren guten Leumund nicht so leicht verlieren als wir, denn ihr Leben wäre dann schlimm genug, und es verlohnte sich kaum der Mühe, es zu erhalten. Was mich betrifft, Herr, so hat diese Hand« – er streckte sie vor sich aus – »nie etwas angetastet, das nicht mein Eigentum war, und ist nie zurückgeschreckt vor der Arbeit, wie schwer sie auch und wie ärmlich der Lohn sein mochte. Wer dies leugnen kann, der soll sie mir abhacken. Aber wenn mich die Arbeit nicht wie ein menschliches Geschöpf erhält – wenn ich so schlecht leben muß, daß ich in und außer dem Haus hungere – wenn ich sehe, daß ein ganzes Leben voll Tätigkeit so beginnt, so fortmacht und so endet, ohne eine Aussicht auf einen Wechsel, dann sage ich zu dem vornehmen Volk: ›Haltet euch fern von mir und laßt meine Hütte ungeschoren! Meine Türen sind dunkel genug, ohne daß noch euer Schatten dazu kommt. Von mir dürft ihr nicht verlangen, daß ich in dem Park die Schaustellung vermehren helfe, wenns da einen Geburtstag, eine schöne Rede oder weiß der Himmel was gibt. Führt eure Komödien ohne mich auf, und mögen sie euch wohl bekommen. Wir haben nichts miteinander zu schaffen, und ’s ist am besten, wenn man mich gehen läßt!‹«

Da er bemerkte, daß das Kind in seinen Armen jetzt die Augen geöffnet hatte und verwundert umhersah, hielt er inne, plauderte ein bißchen in seinem Kinderkauderwelsch mit ihm und stellte es neben sich auf die Erde. Dann wand er sich langsam eine der langen Locken des Mädchens wie einen Ring um den Finger, und während die Kleine sich an sein staubiges Bein anklammerte, sagte er zu Trotty.

»Ich bin, glaub ich, nicht von Natur aus widerhaarig und lasse mich leicht zufriedenstellen. Auch trage ich niemand einen Groll nach und wünsche nur zu leben, wie die andern Geschöpfe Gottes. Das kann ich nicht – das tu ich nicht, und so liegt denn eine tiefe Kluft zwischen mir und denen, die es können und tun. Es gibt noch viele, denen es geradeso ergeht wie mir, und Ihr könnt sie eher zu Hunderten und Tausenden abzählen als zu Einern.«

Trotty wußte, daß der Mann hierin die Wahrheit sprach, und nickte zustimmend.

»Ich habe dadurch einen schlimmen Namen erhalten«, sagte Fern, »und fürchte, daß ich wahrscheinlich nie zu einem bessern kommen werde. Es ist gesetzwidrig, unmutig zu sein, und ich bin wirklich unmutig, obgleich Gott weiß, daß ich weit lieber frohgemut wäre, wenn ichs sein könnte. Nun, ich weiß nicht, ob dieser Alderman mir weh tun könnte, wenn er mich ins Gefängnis schickte; aber falls nicht ein Freund ein Wort für mich spräche, so wär ers wohl imstande, und Ihr seht…!«

Er deutete mit dem Finger auf das Kind.

»Sie hat ein schönes Gesicht,« sagte Trotty.

»Ei ja!« entgegnete der Mann mit gedämpfter Stimme, indem er das kleine Gesichtchen mit beiden Händen sanft zu sich emporrichtete und es unverwandt anschaute, »Das habe ich mir schon oft gedacht. Daran dachte ich, wenn mein Herd sehr kalt und mein Schrank leer war. Daran dachte ich erst gestern nacht, als wir wie zwei Diebe aufgegriffen wurden. Aber sie – sie sollten das kleine Gesicht nicht zu oft vor Gericht bringen – meinst nicht, Lilian? Das ist kaum einem Mann erwünscht!«

Er dämpfte feine Stimme fast bis zur Lautlosigkeit und starrte das Kind so seltsam und ernst an, daß Toby, um seinen Gedanken eine andre Richtung zu geben, die Frage stellte, ob sein Weib noch am Leben sei.

»Ich habe nie ein Weib gehabt,« entgegnete er mit Kopfschütteln. »Sie ist meines Bruders Kind – eine Waise – neun Jahre alt, obschon Ihrs kaum glauben würdet; aber sie ist jetzt müde und abgezehrt. Die Union wollte die Sorge für sie übernehmen und sie achtundzwanzig Meilen von dem Orte, wo wir wohnen, zwischen vier Wände einsperren, wie sie‹s auch meinem alten Vater machten, als er nicht mehr arbeiten konnte, obschon er ihnen nicht lange lästig fiel. Da hab denn ich sie zu mir genommen, und sie lebt bei mir. Ihre Mutter hatte einmal eine Freundin hier in London. Wir wollen versuchen, ob wir sie nicht entdecken und zugleich Arbeit finden können; aber ’s ist ein großer Platz. Nun ja, ’s ist auch recht – wir haben dafür um so mehr Raum umherzugehen, Lilly!«

Er sah das Kind mit einem Lächeln an, das Toby mehr als zu Tränen rührte, und drückte dann dem armen Austräger die Hand.

»Ich kenne Euch zwar nicht einmal dem Namen nach,« sagte er, »aber ich habe Euch mein Herz ausgeschüttet, denn ich bin Euch dankbar – und zwar aus gutem Grund. Ich will Euern Rat befolgen und mich fern halten von diesem …«

»Friedensrichter,« ergänzte Toby.

»Ah!« fuhr er fort; »wenn dies der Name ist, den man ihm gibt. Von diesem Friedensrichter. Und morgen will ich versuchen, ob mir nicht irgendwo in der Nähe von London ein besseres Glück blüht. Gute Nacht. Ein glückliches Neujahr!«

»Halt!« rief Trotty, die Hand des andern fest umklammernd, als sie sich losmachen wollte. »Halt! das Neujahr kann nicht glücklich für mich sein, wenn wir uns so trennen. Wie könnte ich auch von einem glücklichen Neujahr sprechen, wenn ich mit ansehen müßte, wie Ihr mit dem Kind weiter zieht, ohne zu wissen, wohin, und ohne ein Obdach für die Nacht. Kommt mit mir nach Hause! Ich bin zwar nur ein armer Mann und habe bloß ein elendes Quartier; aber ich kann Euch doch für eine Nacht ein Lager geben, ohne es zu entbehren. Kommt mit mir! So, ich will sie nehmen!« fügte Trotty bei, indem er das Kind aufhob. »Eine hübsche Kleine! Ich wollte mir zwanzigfach ihr Gewicht aufladen lassen, ohne daß ich es besonders spürte. Sagt mir, ob ich vielleicht zu schnell für Euch gehe – ’s ist meine Gewohnheit zu eilen!«

Während Trotty dies sagte, mußte er stets sechs von seinen kurzen Trabschritten während eines einzigen langen seines müden Gefährten hopsen; und seine dünnen Beine zitterten unter der Last, die er trug.

»Ei, sie ist so leicht,« sagte Trotty, dessen Worte ebenso rasch und stoßweise kamen, wie sein Schritt war, denn er wollte auf keine Danksagung hören und scheute sich, eine Pause eintreten zu lassen; »so leicht wie eine Feder, leichter als eine Pfauenfeder – viel leichter. So, da sind wir – jetzt geht’s da hinein, um die erste Ecke rechts, Onkel Will, an dem Brunnen vorbei und dann den Weg hinauf, dem Wirtshaus gegenüber. Jetzt über den Weg hinüber, Onkel Will, und dort auf den Nierenpastetenmann an der Ecke zu! Da wären wir! Nun an den Ställen hinunter, Onkel Will, und dann macht Ihr an der schwarzen Tür halt, über der ›Toby Veck, Dienstmann‹ auf einem Brett geschrieben steht. So, und jetzt sind wir da, jetzt sind wir wirklich da, und jetzt wirst du dich wundern, liebe Meg!«

Mit diesen Worten setzte der atemlose Trotty das Kind unten in der Stube zu den Füßen seiner Tochter nieder. Der kleine Gast sah Meg an und lief, da er in ihrem Gesicht nichts zweifelerregendes fand, vertrauensvoll in ihre Arme.

»So, da sind wir und da bleiben wir!« rief Toby, keuchend im Zimmer umherlaufend. »Hier, Onkel Will – Ihr seht, hier ist ein Feuer! Warum kommt Ihr nicht ans Feuer? Ha, da sind wir und da bleiben wir! Meg, mein Herz, wo ist der Kessel? So – er wird augenblicklich kochen!«

Trotty hatte wirklich während seines wilden Hin- und Herrennens den Kessel aufzuheben gewußt und über das Feuer gesetzt, während Meg in einer warmen Ecke vor dem Kind niedergekniet war, um ihm die Schuhe auszuziehen und mit einem Tuch die nassen Füßchen zu trocknen. Ja, und sie lachte auch über Trotty – so vergnügt, so herzlich, daß Trotty sie augenblicklich hätte segnen mögen, denn er hatte ja beim Eintreten gesehen, wie sie in Tränen vor dem Feuer saß.

»Ei, Vater,« sagte Meg, »du bist, glaube ich, diesen Abend ganz närrisch. Ich weiß nicht, was die Glocken dazu sagen würden. Die armen Füßchen – wie kalt sie sind!«

»O, sie sind jetzt wärmer!« rief das Kind. »Sie sind jetzt ganz warm!«

»Nein, nein, nein,« sagte Meg. »Wir haben sie noch nicht halb genug gerieben. Wir sind ja so fleißig! So fleißig! Und wenn sie ganz warm sind, dann wollen wir das feuchte Haar auskämmen. Sind wir damit fertig, so wollen wir mit ein bißchen frischem Wasser einige Farbe in das arme blasse Gesicht bringen, und dann wollen wir so froh, so heiter und glücklich sein!«

Das Kind umschlang in einem Anfall von Schluchzen ihren Hals, streichelte mit seinen Händchen ihre Wange und sagte:

»O Meg! o liebe Meg!«

Tobys Segen hätte nicht mehr tun können. Wer wäre auch imstande gewesen, mehr zu tun?

»Ei, Vater!« rief Meg nach einer Pause.

»Da bin ich und da steh ich, mein Lieb!« sagte Trotty.

»Gütiger Himmel!« rief Meg, »er ist ganz von Sinnen! Setzt er da das Hütlein des lieben Kindes auf den Kessel und hängt den Deckel hinter die Tür!«

»Ich habe dies nicht mit Absicht getan, mein Lieb,« entgegnete Trotty, indem er hastig sein Versehen wieder gutmachte. »Meg, mein Kind?«

Meg blickte nach ihm hin und sah, daß er sich mit Vorbedacht hinter den Stuhl seines männlichen Gastes gestellt hatte, wo er mit vielen geheimnisvollen Gebärden das Sechspencestück, das er eingenommen, in die Höhe hielt.

»Als ich hereinkam,« sagte Trotty, »habe ich irgendwo auf der Treppe eine halbe Unze Tee liegen sehen; auch glaube ich wahrhaftig, daß ein Stückchen Speck dabei lag. Ich entsinne mich nicht mehr recht auf den Platz, will aber hingehen und sehen, ob ich’s nicht finde.«

Unter diesem unergründlich scharfsinnigen Vorwande entfernte sich Toby, um die besprochenen Lebensmittel für bares Geld bei Frau Chickenstalker zu kaufen. Er kam bald wieder zurück und sagte, er habe die Sachen anfangs in der Dunkelheit nicht finden können.

»Aber da sind sie endlich,« sagte Trotty, das Teegeschirr aufsetzend – »alles richtig! Ich wußte es ja, daß es Tee und eine schöne Schnitte war. Da, seht selbst. Meg, mein Herzchen, wenn du den Tee zurichten willst, während dein unwürdiger Vater den Speck röstet, so wird alles bald fertig fein. Es ist eine kuriose Sache,« fuhr Trotty fort, indem er mit Hilfe der Röstgabel seine Kochkunst betrieb, »kurios, aber allen meinen Freunden wohlbekannt, daß ich für meine Person mir niemals weder aus Tee noch aus Speck etwas machte. Ich sehe es nur gern, wenn andre Leute sich’s dabei wohl sein lassen,« Sagte er in sehr lautem Tone, um seinem Gast die Tatsache recht bemerklich zu machen, »obschon diese Nahrung mir selbst durchaus nicht behagt.«

Doch schnüffelte Trotty den Wohlgeruch des zischenden Specks ein – ah! – als ob er mit Freuden selbst hätte zulangen mögen, und als er das kochende Wasser in den Teetopf goß, blickte er sehnsüchtig in dessen Tiefe hinunter und ließ sich gern den würzigen Dampf um die Nase kräuseln und den Kopf von einer dichten Wolke bekränzen. Aber trotzdem genoß er nichts weiter davon, als im Anfang der Höflichkeit halber einen einzigen Bissen, der ihm ungemein gut zu schmecken schien, obschon er erklärte, daß er sich nicht das mindeste daraus mache.

Nein, Trottys Beschäftigung bestand darin, Will Fern und Lilian essen und trinken zu sehen, und das gleiche war bei Meg der Fall. Und nie fand ein Zuschauer bei einem Stadt- oder Hofbankett einen solchen Hochgenuß darin, andre – ja, wäre es sogar ein König oder ein Papst gewesen – schmausen zu sehen, als unser Pärlein an jenem Abend. Meg lächelte zu Trotty hinüber, Trotty lachte Meg an. Meg nickte und tat, als klatsche sie mit den Händen, um Trotty ihren Beifall zu erkennen zu geben, während Trotty in stummer Zeichensprache Meg eine unverständliche Geschichte erzählte, wann und wo er seine Gäste gefunden hatte. Und sie waren glücklich – sehr glücklich.

»Obgleich ich sehen muß, daß Megs Verlobung gelöst ist,« dachte Trotty bekümmert, als er Megs Gesicht betrachtete.

»Nun, jetzt werde ich Euch was sagen,« begann Trotty nach dem Tee. »Die Kleine schläft bei Meg.«

»Bei der guten Meg!« rief das Kind, sie liebkosend. »Bei Meg.«

»So ist’s recht,« sagte Trotty. »Und es sollte mich nicht wundern, wenn sie Megs Vater einen Kuß gäbe. Was meinst du, Kind? Ich bin Megs Vater.«

Trotty war hochentzückt, als sich ihm das Kind schüchtern näherte, ihn küßte und dann wieder zu Meg zurückkehrte.

»Sie ist so verständig wie Salomo,« sagte Trotty. »Da kommen und da gehen – nein, das meinte ich nicht – ich – was wollte ich denn sagen, meine liebe Meg?«

Meg blickte auf ihren Gast, der sich an ihren Stuhl gelehnt hatte und, während er das Gesicht von ihr abwandte, den in ihrem Schoß verborgenen Kopf der Kleinen streichelte.

»Natürlich,« sagte Toby. »Natürlich! Weiß ich doch wahrhaftig nicht, was ich heute abend treibe. Ich bin heute ganz zerstreut, glaube ich. Will Fern, Ihr kommt mit mir, denn Ihr seid todmüde und völlig erschöpft, weil Ihr so lange nicht geruht habt. Kommt mit mir.«

Der Mann spielte noch immer mit den Locken des Kindes, lehnte noch immer mit abgewandtem Gesicht an Megs Stuhl. Er sprach kein Wort , aber in seinen rauhen Fingern , die sich im Haar des Kindes ballten und wieder lösten, lag eine Beredsamkeit, die mehr als alle Worte sagte.

»Ja, ja,« fuhr Trotty fort, der unwillkürlich die Frage beantwortete, die auf Megs Gesicht stand. »Nimm sie mit dir, Meg. Bring sie zu Bett. So! jetzt will ich Euch zeigen, wo Ihr liegen könnt, Will. ’s ist zwar nicht viel Platz, sondern nur Heuboden; aber ein Heuboden ist, wie ich immer sage, die größte Bequemlichkeit, wenn man in Ställen wohnt; und bis dieser Schuppen und der Stall besser vermietet werden, leben wir hier sehr billig. Droben ist viel vortreffliches Heu, das einem Nachbar gehört und ein so reinliches Lager bietet, als es Hände und Meg nur machen können. Frischauf! laßt’s Euch nicht nahe gehen. Für jedes neue Jahr ein neues Herz!«

Die Hand, die sich aus dem Haar des Kindes losgemacht hatte, war zitternd in die unsers Toby gefallen, und letzterer führte nun seinen Gast, in einem fort sprechend, so zärtlich hinaus, als wäre dieser gleichfalls ein Kind.

Da er vor Meg wieder zurückkam, so horchte er einen Augenblick an der Tür ihrer an die Stube stoßenden kleinen Kammer. Die Kleine murmelte ein einfaches Nachtgebet , mit dem sie auch den Namen der »lieben Meg« in Verbindung brachte – dann hörte Trotty, wie sie innehielt und nach dem seinigen fragte.

Es dauerte eine kleine Weile, bis der törichte alte Knabe sich so weit fassen konnte, um das Feuer nachzuschüren und seinen Stuhl an den warmen Herd zu ziehen. Als es aber endlich geschehen war und er das Licht geputzt hatte, nahm er seine Zeitung auf der Tasche und begann zu lesen, anfangs gleichgültig, indem er rasch über die Spalten hinflog, sehr bald aber mit großem Ernst und trauriger Aufmerksamkeit.

Denn diese schreckliche Zeitung lenkte Trottys Gedanken abermals auf den nämlichen Pfad, auf dem sie den ganzen Tag über, namentlich infolge der erlebten Ereignisse, gewandert waren. Sein Interesse an den beiden Wanderern hatte ihn zwar für eine Weile in eine glücklichere Stimmung versetzt; sobald er aber wieder allein war und die Verbrechen und Gewalttaten der Leute las, versank er wieder in die frühere zurück.

Endlich kam er zu einem Bericht (und es war nicht der erste derartige, den er las) von einer Frau, die verzweiflungsvoll Hand nicht nur an ihr eignes Leben, sondern auch an das ihres jungen Kindes gelegt hatte. Dieses schreckliche Verbrechen wirkte so empörend auf ihn, daß er, als er dabei an Megs Liebe dachte, das Zeitungsblatt fallen ließ und entsetzt in seinen Stuhl zurücksank.

»Unnatürlich und grausam!« rief Toby. »Unnatürlich und grausam! Nur Leute von ganz verstocktem Herren, die schon schlecht geboren werden und auf Erden eigentlich nichts zu schaffen haben, können solche Taten verüben. Was ich heute den Tag über gehört habe, ist nur zu wahr, nur zu erwiesen. Wir sind schlecht!«

Die Glocken nahmen die Worte so plötzlich auf und ertönten so laut, so klar und voll, daß er meinte, ihre Stimme dringe aus seinem Stuhl hervor.

Und was sagten sie?

»Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Komm, besuch uns; komm, besuch uns! – Schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns – hetzt und jagt ihn, hetzt und jagt ihn! Soll nicht schlafen! Soll nicht schlafen! Toby Veck, Toby Veck, die Tür steht offen, Toby – dann begannen sie diesen Gesang wieder von vorn und klangen dermaßen, daß die Töne sogar aus den Ziegeln und dem Mörtel hervorzuquellen schienen.

Toby lauschte. Einbildung, Einbildung! Das waren wohl nur die Gewissensbisse, weil er ihnen diesen Abend entlaufen war? Nein, nein. Nichts der Art. Aber wieder und wieder, ja noch dutzendmal erklang es: »Hetzt und jagt ihn – schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns!« die ganze Stadt betäubend.

»Meg,« sagte Trotty leise, indem er an ihre Tür klopfte. »Hörst du nichts?«

»Ich höre die Glocken, Vater. Sie sind heute abend sehr laut.«

»Schläft sie?« fuhr Toby fort, diese Frage als Vorwand benutzend, um hineinschauen zu können.

»So ruhig und glücklich! Aber ich kann sie noch nicht verlassen, Vater – schau nur, wie sie meine Hand festhält!«

»Meg!« flüsterte Trotty. »Höre nur auf die Glocken!«

Sie kehrte ihrem Vater das Gesicht zu und lauschte; aber in ihren Zügen ließ sich keine Veränderung bemerken, da sie die Glockenstimmen nicht verstand.

Trotty entfernte sich, nahm wieder bei dem Feuer Platz und lauschte abermals allein. So verblieb er eine Weile.

Aber nein, unmöglich konnte er es länger ertragen; denn ihre Ausdruckskraft war zu schrecklich.

»Wenn die Turmtür wirklich offen ist,« sagte Toby, indem er hastig seine Schürze beiseite legte, ohne jedoch an Seinen Hut zu denken, »was hindert mich dann, hinaufzugehen und mich zu überzeugen? Ist sie aber geschlossen, so brauche ich keinen weitern Beweis mehr. Dann ists genug.«

Er glitt ruhig auf die Straße hinaus, fest überzeugt, daß er die Turmtür geschlossen und verriegelt finden werde; denn er kannte die Tür wohl und hatte sie selten, vielleicht in seinem ganzen Leben nicht mehr als dreimal, offen stehen sehen. Es war ein niederes Bogenportal außerhalb der Kirche, das in einer dunkeln Nische hinter einer Säule stand, und hatte so schwere Eisenbeschläge und ein so ungeheures Schloß, daß von der Tür fast nichts zu sehen war.

Aber wie groß war sein Erstaunen, als er barhäuptig zu der Kirche kam, mit der Hand in die dunkle Nische tastete – wiewohl er gute Lust hatte, sie schaudernd wieder zurückzuziehen, weil er fürchtete, sie möchte unerwartet gepackt werden – und nun bemerkte, daß die Tür, die nach außen aufging, wirklich halb offen stand!

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In der ersten Überraschung wollte er wieder zurückgehen oder doch ein Licht oder einen Begleiter holen; sein Mut kam ihm jedoch bald zu Hilfe, und er beschloß, allein hinaufzusteigen.

»Was habe ich zu fürchtend fragte Trotty. »Es ist eine Kirche! Außerdem sind vielleicht noch die Läuter da und haben vergessen, die Tür zu schließen.«

Er ging daher hinein und tastete sich weiter wie ein blinder Mann, denn es war sehr dunkel – dazu herrschte tiefe Stille, denn die Glocken ließen keinen Laut mehr vernehmen.

Der Straßenstaub war überallhin gedrungen und lag so dicht aufgehäuft, daß der Fuß wie auf weichen Samt trat. Auch hierin lag etwas Befremdliches. Ungleich befand sich die enge Treppe so nahe an der Tür, daß er auf der ersten Stufe strauchelte. Dadurch stieß er mit dem Fuß an die Tür, daß sie anprallte und schwerfällig in ihr Schloß zurückflog, und als er sie wieder zu öffnen versuchte, war all seine Bemühung vergeblich.

Dies war jedoch nur ein Grund mehr, weiter zu gehen. Trotty tastete sich vorwärts – hinauf, hinauf, hinauf – stets kreisend hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher und höher hinauf!

Fürs Tasten war es ein sehr unangenehmes Treppenhaus , so niedrig und so schmal, daß die untersuchende Hand stets etwas berührte. Ja, es dünkte ihn oft, als stehe ein Mensch oder eine gespenstige Gestalt aufrecht da und mache Platz für ihn, damit sie unentdeckt an ihm vorbeigleiten könne. Dabei strich er mit der Hand an der glatten Mauer aufwärts, um deren Gesicht, und abwärts, um deren Füße zu suchen, während zugleich ein eisiger Schauer seinen Körper durchrieselte. Zwei- oder dreimal unterbrach eine Tür oder eine Nische die einförmige Oberfläche, und dann kam es ihm vor, als sei eine Öffnung da, so weit wie die ganze Kirche. Er meinte bei solcher Gelegenheit am Rand eines Abgrundes zu stehen, in den er kopfüber hinunterstürzen müsse, bis er die Mauer wieder gefunden hatte.

Dennoch ging es hinauf, hinauf, hinauf – im Kreis hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich begann die dumpfe, erstickende Atmosphäre frischer zu werden. Der Wind strömte durch und blies bald so stark, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Aber er gelangte an ein gewölbtes, brusthohes Fenster in dem Turm, hielt sich an demselben fest und schaute hinunter auf die Hausgiebel, die rauchenden Schornsteine und das Gewirr von Lichtern (in die Richtung, wo Meg sich jetzt vielleicht über seine Abwesenheit wunderte und nach ihm rief) – alles zu einer Teigmasse von Nebel und Dunkelheit zusammengeknetet.

Dies war der Teil des Glockenhauses, zu dem die Läuter kamen.

Er hatte eines der abgeriebenen Seile gefaßt, die durch Öffnungen in dem Eichendach niederhingen. Anfangs fuhr er zusammen, denn es kam ihm vor, als hätte er Haare ergriffen, dann aber zitterte er schon bei dem Gedanken, die tiefe Glocke zu wecken. Die Glocken selbst hingen höher, und auch Trotty tastete sich höher hinauf, dem Räuber folgend, der ihn lockte. Der Weg wurde jetzt mühsamer und führte auf steilen Leitern weiter, die dem Fuß keinen allzu sichern Halt boten.

Hinauf, hinauf, hinauf geht es, klimmend und kletternd; hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich kam er auf den obern Boden und gelangte, wie er den Kopf über das Gebälk erhob, unter die Glocken. Kaum vermochte er die großen Formen im Dunkel zu unterscheiden; aber da waren sie – schattenhaft, stumm und nachtumhüllt.

Ein banges Gefühl von Furcht und Einsamkeit bemächtigte sich seiner augenblicklich , als er in dieses luftige Nest von Stein und Metall hineinkletterte. Sein Kopf schwindelte – er lauschte und erhob dann seine Stimme zu einem wilden: »Hallo!«

»Hallo!« schalle kläglich das gedehnte Echo nach.

Wirr, schwindlig, erschreckt und atemlos stierte Toby um sich her und brach dann ohnmächtig zusammen.

Das dritte Viertel


Das dritte Viertel

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Schwarz sind die brütenden Wolken und aufgerührt die tiefen Grundwasser, wenn das Meer der Gedanken nach einer Windstille zu rollen beginnt und seine Toten herausgibt. Wilde, gräßliche Ungeheuer erheben sich in voreiliger, unvollkommener Auferstehung; die Teile und Gestalten verschiedener Dinge mischen und vereinigen sich nach dem Walten des Zufalls; und wann und wie und durch welche wunderbaren Abstufungen sich eines von dem andern trennt oder jedes Gefühl oder jeder Gegenstand des Geistes die gewöhnliche Form, das gewöhnliche Leben wieder annimmt, weiß niemand zu sagen, obgleich der Mensch jeden Tag das Abbild dieses großen Geheimnisses in sich selbst beobachten kann.

Wann und wie also die Dunkelheit des nachtschwarzen Kirchturms sich in helles Licht umwandelte – wann und wie der einsame Raum sich mit Myriaden Gestalten bevölkerte – wann und wie das geflüsterte: »Hetz und jag ihn,« das eintönig durch seinen Schlummer oder seine Ohnmacht zog, zu einer Stimme wurde, die in Trottys erwachendes Ohr rief. »Sollst nicht Schlafen!« – wann und wie er aufhörte, eine träge und wirre Vorstellung zu hegen, daß es solche Dinge gebe, die sich mit einer Schar andrer nicht vorhandener verbündeten – dafür gibt es keine bestimmten Angaben. Aber wachend stand er jetzt da auf den Brettern, auf denen er kurz vorher gelegen hatte, und sah dieses Gespenstergesicht.

In dem Turm, wohin ihn seine behexten Schritte gebracht hatten, umschwärmten ihn zwerghafte Phantome, Geister und Elfengestalten der Glocken. Er sah, wie sie ohne Unterlaß aus den Glocken herausquollen, sprangen, flogen oder niederfielen. Sie umringten ihn auf dem Boden, in der Luft, kletterten an den Glockenseilen abwärts, schauten von den massiven, eisenbeschlagenen Balken auf ihn nieder, blickten durch die Spalten und Öffnungen der Mauern nach ihm hin und umflatterten ihn in immer weiter werdenden Kreisen, ähnlich denen im Wasser, wenn plötzlich ein großer Stein hineingeworfen wird. Er sah sie in allen Gestalten, mit allen möglichen Gesichtszügen. Er sah unter ihnen Häßliche, Hübsche, Krüppel und wundervolle Gebilde. Er sah unter ihnen Junge, sah Alte, Sah Gütige, sah Grausame, sah Fröhliche, sah Grimmige, er sah sie tanzen, hörte sie singen, sah sie ihre Haare raufen und hörte sie heulen. Er sah, daß die Luft von ihnen erfüllt war. Er sah sie unablässig kommen und gehen. Er sah sie hinabgleiten, sich emporschwingen, in die Ferne schweben, neben sich kauern – ruhelos, in wilder Bewegung. Steine, Ziegel und Schiefer wurden für ihn so durchsichtig wie für sie. Er sah sie in den Häusern geschäftig an den Betten der Schläfer. Da brachten sie den Leuten beruhigende Träume, dort schlugen sie dieselben mit knotigen Peitschen. Er sah, wie sie den Schlummernden in die Ohren zeterten oder über ihren Pfühlen die sanfteste Musik spielten. Er sah, wie sie einige mit dem jubelnden Gesang der Vögel und mit dem Duft von Blumen beglückten und erheiterten; sah, wie sie aus Zauberspiegeln, die sie mit sich führten, gräßliche Fratzen in den unruhigen Traum andrer blitzen ließen.

Aber er sah diese Gestalten nicht nur unter den Schlafenden, sondern auch unter den Wachenden, wo sie in unversöhnlichem Haß gegeneinander kämpften und ihre verschiedenen Naturen bezeugten, die entweder echt oder auch nur, ihrem Zweck entsprechend, angenommen waren. Dort hatte sich ein Phantom zahllose Schwingen angeschnallt, um seine Eile zu vergrößern, während ein andres sich mit Ketten und Gewichten belud, um die seinige zu mäßigen. Einige trieben die Uhrzeiger vorwärts, andre drehten sie wieder zurück, während wieder andre bemüht waren, das Räderwerk ganz zum Stillstand zu bringen. Hier stellten sie eine Heiratszeremonie, dort eine Beerdigung, in diesem Saal eine Wahl, in jenem einen Ball dar; aber wo sie auch waren – nichts als rastlose, unermüdliche Bewegung.

Von der Unzahl der wechselnden und ungewöhnlichen Gestalten, wie auch durch das Getöse der Glocken, die alle läuteten, verwirrt, klammerte sich Toby an einen hölzernen Pfeiler und drehte in stummem, betäubtem Erstaunen sein leichenblasses Gesicht bald dahin, bald dorthin.

Wie er umhersah, hielt das Glockengeläute inne. Augenblicklicher Wechsel! Der ganze Schwarm wurde undeutlicher; ihre Gestalten fielen zusammen, und ihre Eile verließ sie. Sie suchten im Flug zu enteilen; aber im Niedersinken erstarben sie und zerflossen in Luft. Keine neue Schar folgte ihnen. Ein einziger Nachzügler sprang noch ziemlich rüstig von der großen Glocke herunter und kam auf seine Füße zu stehen; aber er war tot und dahin, noch ehe er sich umwenden konnte. Einige von den Spätlingen, die sich im Turm umgetrieben hatten, schwirrten noch eine Weile länger umher; sie wurden jedoch bei jedem Kreise schwächer und minder zahlreich, bis auch sie das Ende der übrigen fanden. Der letzte von allen war ein kleiner, buckeliger Kobold, der sich in eine widerhallende Ecke geflüchtet hatte, wo er noch geraume Zeit wirbelte und wirbelte und für sich auf und ab schwebte; dabei zeigte er eine solche Hartnäckigkeit, daß er zuletzt zu einem einzigen Bein, ja zu allerletzt zu einem einzigen Fuß zusammenschmolz, ehe er ganz entschwand, und als dies endlich geschehen, war es stumm und still im Turm.

Jetzt erst und nicht früher bemerkte Trotty in jeder Glocke eine bärtige Gestalt von dem Umfang und der Statur der Glocke – unbegreiflich, eine Figur und die Glocke selbst. Riesenhaft, ernst und ihn düster ins Auge fassend, während er in den Boden festgewurzelt stand.

Geheimnisvolle, grausenhafte Gestalten, die nirgends ausruhten, sondern in der Nachtluft des Turmes schwebten, die verhüllten und mit Kapuzen versehenen Köpfe zu dem dunkeln Dach erhebend – regungslos und schattenhaft. Schattenhaft und finster, obgleich er sie in einem fahlen Schein, den sie selbst verbreiteten, sehen konnte – sonst gab es nirgends Licht – und jede Gestalt hielt die eingehüllte Hand auf den gespenstigen Mund gelegt.

Er konnte sich nicht entsetzt durch die Öffnung im Boden hinabstürzen, denn alle Kraft der Bewegung hatte ihn verlassen. Andernfalls würde er dies getan, ja, sich sogar kopfüber von der Turmspitze auf die Straße hinabgestürzt haben – weit lieber, als daß er sich hier mit Augen betrachten lassen mußte, die da gewacht haben würden, selbst wenn ihnen die Pupillen herausgenommen worden wären.

Wieder und wieder berührte ihn der Schrecken und das Entsetzen des einsamen Ortes sowohl als der wilden, furchtbaren Nacht, die hier herrschte wie eine Gespensterhand. Die Ferne jeglicher Hilfe, der lange, finstere, gewundene und von Geistern belagerte Weg, der zwischen ihm und der von Menschen bewohnten Erde lag; der hohe, hohe, hoch oben gelegene Ort, wo es ihn schon schwindelte, wenn er bei Tag dem Flug der Vögel zusah; abgeschnitten von allen guten Leuten, die zu einer solchen Stunde wohlbehalten zu Hause waren und in ihren Betten schliefen – alles dies durchzuckte ihn kalt, nicht als eine Betrachtung, sondern nur als ein körperliches Gefühl. Mittlerweile waren seine Augen, seine Gedanken und seine gräßliche Furcht auf die wachsamen Gestalten gerichtet. Sie sahen in dem tiefen Düster und in dem sie einschließenden Schatten nicht aus wie Gebilde dieser Welt, um so weniger, da sie so übernatürlich über dem Boden schwebten; aber dennoch waren sie so deutlich zu unterscheiden, wie das alte, eichene Rahmenwerk und das Kreuz- und Quergebälk, das die Glocken unterstützte. Dies engte sie ein wie ein ganzer Wald von geschlagenem Holz, zwischen dessen Verschränkungen sie wie unter Zweigen toter Bäume, die zu ihrem gespenstigen Gebrauch ersterben mußten, ihre düstere unablässige Wache hielten.

Ein Windstoß – wie kalt und schrill! – kam stöhnend durch den Turm. Als er dahinstarb, begann die große Glocke oder vielmehr der Geist der großen Glocke zu sprechen.

»Was ist dies für ein Besuch?« fragte er.

Die Stimme war dumpf und tief, und Trotty meinte, sie ertöne ebensowohl aus den andern Formen.

»Ich glaubte, die Glocken hätten meinen Namen gerufen!« sagte Trotty, seine Hände mit flehentlicher Gebärde erhebend. »Ich weiß kaum, warum ich hier bin oder wie ich heraufkam. Ich habe schon seit vielen Jahren den Glockentönen zugehört, und sie haben mich oft wieder froh gestimmt.«

»Hast du ihnen auch gedankt?« fragte die Glocke.

»O, tausendmal!« rief Trotty.

»Ich bin ein armer Mann«, stotterte Trotty, »und konnte ihnen nur mit Worten danken.«

»War dies auch immer der Fall?« fragte der Geist der Glocke. »Hast du uns nie in Worten unrecht getan?«

»Nein!« rief Trotty hastig.

»Uns nie mit Worten schnödes, falsches, böswilliges Unrecht getan?« fuhr der Glockengeist fort.

Trotty wollte eben antworten: »Nie!«, hielt aber mit einem Male verwirrt inne.

»Die Stimme der Zeit«, sagte das Phantom, »ruft dem Menschen zu: ›Vorwärts!‹ Die Zeit dient seinem Fortschreiten und seiner Verbesserung, der Erhöhung seines Wertes und seines Glückes, der Veredelung seines Lebens, der Annäherung an jenes Ziel, das ihm mit Wohlbedacht bereits damals gesteckt wurde, als die Zeit und er ihren Anfang nahmen. Jahrhunderte der Finsternis, der Gottlosigkeit und der Gewalttat sind gekommen und gegangen; unzählige Millionen haben geduldet, gelebt und sind gestorben, um ihm den Weg, der vor ihm liegt, zu zeigen. Wer ihn zur Umkehr zu bewegen sucht oder in seinem Lauf anhalten will, vergeht sich an einer gewaltigen Maschine, die den Unberufenen erschlägt und nur um so ungestümer und wilder wieder losbricht, weil sie für einen Augenblick gestört wurde!«

»Meines Wissens habe ich dies nie getan,« Sagte Trotty, »und wenn es geschah, muß es ganz unabsichtlich geschehen sein. Ich würde mich sicherlich nicht einmengen.«

»Wer in den Mund der Zeit oder ihrer Diener einen Klageruf über Tage legt,« fuhr der Glockengeist fort, »die ihre Heimsuchungen und Täuschungen gehabt und so tiefe Spuren zurückgelassen haben, daß sie sogar die Blinden Sehen können – einen Klageruf, der nur insofern der Gegenwart dient, als er den Menschen sagt, wie sehr ihre Hilfe notwendig ist, wenn ein Ohr eine solche Klage um Vergangenes zu hören glaubt – wer dies tut, begeht ein Unrecht. Und du hast uns, den Glocken, ein solches Unrecht angetan.«

Trottys größte Furcht war jetzt vorüber. Aber, wie wir wissen, hatte er Liebe und Dankbarkeit für die Glocken empfunden , und als er sich als einen Menschen anklagen hörte, der sie so schwer beleidigt hatte, wurde sein Herz von Reue und Kummer schwer.

»Wenn ihr wüßtet,« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend – »oder vielleicht wißt ihr es – wenn ihr also wißt, wie oft ihr mir Gesellschaft geleistet, wie oft ihr mich aufgeheitert habt, wenn ich niedergeschlagen war, und wie ihr meiner kleinen Tochter Meg fast als ein Spielzeug dientet (beinahe das einzige, das sie je hatte), da ihre Mutter starb und uns allein zurückließ, so würdet ihr mir wegen eines übereilten Wortes keinen Groll nachtragen!«

»Wer in uns, den Glocken, nur einen einzigen Ton hört, der Lieblosigkeit oder finsteren Zweifel ausdrückt an den Hoffnungen, Freuden und Schmerzen der vielbedrängten Menge; wer uns antworten hört auf Gesinnungen, die die menschlichen Leidenschaften und Gefühle abmessen, gleich der Menge der erbärmlichen Nahrung, an der die Menschheit dahinsiecht – tut uns unrecht. Dieses Unrecht hast du uns angetan!« sagte die Glocke.

»Ja, ich habe!« versetzte Trotty. »O vergib mir!«

»Wer uns dem schlechten Gewürm der Erde nachlallen hört – den Unterdrückern bereits gebeugter und gebrochener Wesen, die geschaffen sind, um sich viel höher zu erheben, als solche Maden der Zeit klettern oder denken können,« fuhr der Glockengeist fort – »wer dies tut, begeht ein Unrecht an uns. Du hast uns unrecht getan!«

»Nicht mit Absicht!« sagte Trotty. »Nur in meiner Unwissenheit – nicht mit Absicht.«

»Zuletzt und vor allem« – nahm die Glocke wieder auf – »wer den Gefallenen seines Geschlechts den Rücken kehrt, sie als schlecht aufgibt und nicht mit mitleidigem Auge den offenen Abgrund mißt, durch den sie vom Guten abfielen, obschon sie noch in ihrem Sturz nach einigen Schollen des verlorenen Bodens griffen und sich an dieselben anklammerten, selbst als sie schon zerquetscht und sterbend in der Kluft unten lagen – wer dies tut, begeht ein Unrecht an dem Himmel, an der Menschheit, an Zeit und Ewigkeit. Du hast dieses Unrecht getan!«

»Schone mich!« rief Trotty, auf seine Knie niederfallend; »um aller Barmherzigkeit willen!«

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die übrigen Schatten.

»Höre!« sagte eine klare, kindliche Stimme, die Trotty schon früher gehört zu haben vermeinte.

Die Orgel tönte leise in der Kirche unten. Nach und nach anschwellend, stieg die Melodie bis zu dem Dach hinan und erfüllte Chor und Schiff. Mehr und mehr sich ausbreitend , schwang sie sich hinauf, immer höher und höher hinauf, wobei sie in dem derben Eichengebälk, den hohlen Glocken, den eisenbeschlagenen Türen und den steinernen Treppen erregte Herzen weckte, bis die Turmmauern sie nicht mehr fassen konnten und sie gen Himmel schwebte.

Kein Wunder, daß das Herz eines alten Mannes einen so ungeheuren, gewaltigen Ton nicht einzuschließen vermochte. Er brach aus diesem schwachen Gefängnis in einem Strom von Tränen, und Trotty preßte seine Hände vor das Gesicht.

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die andern Schatten.

»Höre!« sagte die Kinderstimme.

Feierliche Akkorde gemischter Stimmen erhoben sich nun in dem Turm.

Es war eine gedämpfte, wehmütige Melodie – ein Totengesang; und wie Trotty lauschte, hörte er sein Kind unter den Sängern.

»Sie ist tot!« rief der alte Mann. »Meg ist tot! Ihr Geist ruft mich – ich höre ihn!«

»Der Geist deines Kindes beklagt die Toten und mischt sich unter die Toten – die erstorbenen Hoffnungen und erstorbenen Jugendträume,« erwiderte die Glocke. »Aber sie lebt. Lerne aus ihrem Leben eine lebendige Wahrheit. Lerne aus dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist, wie schlecht die schlecht Geborenen sind. Sieh, wie jede Knospe und jedes Blatt nacheinander von dem schönsten Stengel gepflückt wurde, und erkenne daraus, wie kahl und elend er dann sein mag. Folge ihr – in die Verzweiflung!«

Jede von den Schattengestalten streckte ihren rechten Arm aus und deutete nach unten.

»Der Geist der Glocken ist dein Begleiter,« sagte die Gestalt. »Geh! er steht hinter dir!«

Trotty wandte sich um und sah – das Kind? das Kind, das Will Fern in der Straße getragen hatte; das Kind, das jetzt schlief und an dessen Bett Meg wachte!

»Ich habe es selbst diesen Abend getragen,« sagte Trotty. »In diesen meinen Armen!«

»Zeigt ihm, was er sein Selbst nennt,« sagten die dunkeln Gestalten im Chor.

Der Turm öffnete sich unter seinen Füßen. Er sah hinab und sah seine Gestalt außen auf dem Boden liegen – zerschmettert und regungslos.

»Nicht mehr ein lebendiger Mensch!« rief Trotty. »Tot!«

»Tot!« sagten die Gestalten alle zugleich.

»Barmherziger Himmel! Und das Neujahr …«

»Vergangen,« sagten die Gestalten.

»Wie?« rief er schaudernd. »So verfehlte ich wohl meinen Weg, gelangte in der Dunkelheit an die Außenseite dieses Turmes und fiel hinunter – vor einem Jahr?«

»Vor neun Jahren!« versetzten die Schatten.

Während sie diese Antwort gaben, nahmen sie ihre ausgestreckten Hände wieder an sich, und wo ihre Gestalten geschwebt hatten, befanden sich jetzt die Glocken.

Und sie erklangen – ihre Zeit war wieder gekommen. Und abermals sprangen zahllose Phantome ins Dasein, die dieselbe Zusammenhangslosigkeit zeigten wie früher; abermals verblichen sie, sobald die Glockenzungen ruhten, und fielen in ein Nichts zusammen.

»Wer sind diese?« fragte er seinen Führer. »Wenn ich nicht verrückt werden soll, wer sind diese?«

»Es sind Geister der Glocken – ihr Ton in der Luft,« entgegnete das Kind. »Sie nehmen dieselben Gestalten und Beschäftigungen an, die ihnen von den Hoffnungen, Gedanken und Erinnerungen der Sterblichen gegeben werden.«

»Und du,« rief Trotty außer sich – »wer bist du?«

»Still, still!« erwiderte das Kind. »Sieh da hin!«

In einem schlechten, ärmlichen Gemach arbeitete an derselben Art von Stickerei, wie er es oft gesehen hatte, seine liebe Tochter Meg. Er versuchte nicht, Küsse auf ihr Gesicht zu drücken oder sie an sein klopfendes Herz zu pressen, denn er wußte, daß es für ihn keine solchen Liebkosungen mehr gab. Aber er hielt seinen zitternden Atem an und wischte die blendenden Tränen weg, um sie sehen, nur sehen zu können.

Ach! verändert – und wie verändert! Wie trüb war das Licht des klaren Auges, wie verblichen der Schmelz ihrer Wangen! Zwar war sie noch so schön wie immer, aber die Hoffnung, die Hoffnung, die Hoffnung – ach, wo war die frische Hoffnung, die ihn wie eine Stimme angerufen hatte!

Sie blickte von ihrer Arbeit auf nach einer Gefährtin. Der alte Mann folgte ihren Augen und fuhr betroffen zurück.

In dem erwachsenen Mädchen erkannte er sie auf den ersten Blick. Er sah in den langen seidenen Haaren noch dieselben Locken, und um die Lippen noch immer den kindlichen Ausdruck. Ja, in den Augen, die sich jetzt fragend an Meg wandten, leuchtete noch derselbe Blick, wie zur Zeit, als er sie nach Hause brachte.

Was war denn dies neben ihm?

Mit Grausen sah er sich nach dem Kinde um und bemerkte in dessen Gesicht etwas Überirdisches , Unbestimmtes, Undeutliches, das kaum mehr an jenes Kind erinnerte als die andre Gestalt; und doch war es dieselbe – dieselbe – und trug auch das nämliche Kleid.

Horch! Sie sprachen.

»Meg,« sagte Lilian stockend. »Wie oft du von deiner Arbeit aufschaust, um mich anzusehen!«

»Sind meine Blicke so verändert, daß sie dich erschrecken?« sagte Meg.

»Nein, meine Liebe! Aber du lächelst selbst darüber! Warum lächelst du nicht, wenn du mich ansiehst?«

»Ich tue es ja. Oder nicht?« antwortete sie, ihr zulächelnd.

»Jetzt wohl,« sagte Lilian, »aber gewöhnlich nicht. Wenn du denkst, ich sei beschäftigt und sehe dich nicht, ist deine Miene so ängstlich und bekümmert, daß ich kaum meine Augen zu erheben wage. Man hat wohl in diesem harten und mühsamen Leben wenig Grund zum Lächeln; aber du warst einst so heiter.«

»Bin ichs nicht noch?« rief Meg im Ton seltsamer Unruhe und erhob sich, um ihre Gefährtin zu umarmen. »Mache ich dir das mühsame Leben noch mühsamer, Lilian?«

»Du warst das Einzige, das unser Leben überhaupt zu einem Leben machte,« sagte Lilian, sie glühend küssend, »und auch das Einzige, das mir bisweilen noch ein solches Leben wert macht, Meg. Ach, diese Arbeit, diese Arbeit! So viele Stunden, so viele Tage, So viele lange, lange Nächte hoffnungsloser, ertötender und nie endender Arbeit – nicht um Reichtümer aufzuhäufen , nicht um herrlich und in Freuden zu leben, nicht um auch bloß sorglos leben zu können, so einfach auch unsre Kost sein mag, sondern nur, um das trockene Brot zu verdienen, just um so viel zusammenzuscharren, damit wir weiterleben und weiter Not leiden und in uns das Bewußtsein unsres harten Schicksals lebendig erhalten können! O Meg, Meg!«

Sie erhob ihre Stimme und schlang ihre Arme um sie, wie in herbem Schmerze. »Wie kann die grausame Welt ihren Kreislauf gehen und den Anblick solcher Leben ertragen!«

»Lilly!« sagte Meg beschwichtigend, indem sie ihr das Haar aus dem feuchten Gesicht strich. »Ach Lilly! Du! So hübsch und so jung!«

»O Meg!« fiel ihr Lilian ins Wort, indem sie ihre Freundin auf Armeslänge vor sich hinhielt und flehend in ihr Gesicht blickte. »Das ist das Schlimmste, das Schlimmste von allem! Mache mich alt, Meg ! Gib mir Runzeln und einen welken Leib, um mich von den schrecklichen Gedanken zu befreien, die mich in meiner Jugend zu verlocken suchen !«

Trotty wandte sich, um nach seinem Führer zu sehen. Aber der Geist des Kindes war entflohen – fort.

Aber auch er blieb nicht an demselben Platze. Sir Joseph Bowley, der Freund und Vater der Armen, hielt in Bowley Hall zu Ehren des Geburtstags der Lady Bowley ein großes Festgelage; und da Lady Bowley am Neujahrstag geboren war – ein Umstand, den die Lokalzeitungen als einen ausdrücklichen Wink der Vorsehung bezeichneten, daß Lady Bowley in der Zahlenreihe der Schöpfung für Nummer Eins bestimmt sei – fand auch dieses Gelage an einem Neujahrstag statt.

Bowley Hall strotzte von Gästen. Der rotgesichtige Gentleman war da, Herr Filer war da, der große Alderman Cute war da – Alderman Cute empfand ein sehr wohltuendes Gefühl im Verkehr mit vornehmen Leuten und hatte vermöge seines aufmerksamen Briefes große Fortschritte in Sir Joseph Bowleys Bekanntschaft gemacht, indem er seitdem eigentlich zu einem Familienfreund wurde – und noch viele andre Gäste waren da. Auch Trottys Geist war zugegen und wanderte traurig als ein armes Phantom auf der Suche nach seinem Führer umher.

In der großen Halle sollte ein prachtvolles Festmahl gegeben werden, und Sir Joseph Bowley in seinem gefeierten Charakter als Freund und Vater der Armen sollte eine bedeutsame Rede dabei halten. Seine Freunde und Kinder durften zuerst in einer andern Halle eine gewisse Anzahl von Pflaumenpuddingen verzehren und sollten dann auf ein gegebenes Signal zu ihren Freunden und Vätern hineinströmen, um eine Familienversammlung zu bilden, bei der kein Männerauge von Tränen unbefeuchtet bleiben sollte.

Aber noch mehr als dies sollte geschehen. Sogar noch mehr. Sir Joseph Bowley, Baronet und Parlamentsmitglied, hatte sich vorgenommen, mit seinen Pächtern eine Kegelpartie – eine wirkliche Kegelpartie – zu machen.

»Das erinnert mich ganz an die Tage des alten Königs Heinz, des wackern Königs Heinz, des leutseligen Königs Heinz,« sagte Alderman Cute. »Ah! ein prächtiger Mann!«

»Sehr,« bemerkte Herr Filer trocken, »um Weiber zu heiraten und sie umzubringen. Und noch obendrein beträchtlich mehr als die Durchschnittszahl der Weiber.«

»Ihr werdet die schönen Damen heiraten und sie nicht umbringen, he?« sagte Alderman Cute zu dem Erben von Bowley, einem zwölfjährigen Jungen. »Ein süßer Knabe! Wir werden diesen kleinen Gentleman im Parlament haben,« fügte er bei, indem er ihn bei der Schulter faßte und ihn so aufmerksam als nur möglich ansah, »ehe wir wissen, wo wir sind. Wir werden hören von seinen Erfolgen bei den Wahlen , von seinen Reden im Hause, von den Anträgen, die ihm die Regierung macht, von seinen herrlichen Kenntnissen auf allen Gebieten! Ja, ich stehe dafür, wir werden im Gemeinderat gleichfalls kleine Reden über ihn halten, ehe wir Zeit haben, uns umzusehen!«

»O welch ein Unterschied bei Schuhen und Strümpfen!« dachte Trotty. Aber sein Herz sehnte sich nach seinem kleinen Führer um derselben schuh- und strumpflosen Knaben willen, die die Kinder der armen Meg sein konnten und der Prophezeiung des Alderman zufolge schlecht ausfallen mußten.

»Richard,« stöhnte Trotty, unter der Gesellschaft auf- und abgehend; »wo ist er? Ich kann Richard nicht finden! Wo ist Richard?«

Wahrscheinlich nicht hier, wenn er noch am Leben ist ! Aber Trottys Kummer und das Gefühl der Einsamkeit hatten ihn ganz wirr gemacht; er wanderte noch immer unter der prunkenden Gesellschaft umher, spähte nach seinem Führer und rief: »Wo ist Richard? Zeigt mir Richard!«

Auf seinen Kreuz- und Quergängen begegnete er Herrn Fish, dem vertrauten Sekretär, der in großer Aufregung ausrief:

»Gott behüte mich! Wo ist Alderman Cute? Hat niemand den Alderman gesehen?«

Den Alderman gesehen? O Himmel, wer hätte auch den Alderman übersehen können? Er war so rücksichtsvoll, so leutselig und verlangte so sehr danach, den Wunsch der Leute, ihn zu Gesicht zu bekommen, so oft als möglich zu erfüllen, daß – angenommen er hätte einen Fehler – es nur der sein konnte, unaufhörlich präsentiert zu werden. Und wo immer vornehme Leute waren, da durfte man sicher auch auf Cute zählen, weil die verwandtschaftliche Sympathie großer Seelen stets anziehend wirkt.

Mehrere Stimmen riefen, er befände sich in dem Kreise um Sir Joseph. Herr Fish eilte dorthin, fand ihn und nahm ihn heimlich an das nächste Fenster. Trotty näherte sich ihnen – nicht aus eignem Antrieb; er fühlte, daß seine Schritte in diese Richtung gelenkt wurden.

»Mein teurer Alderman Cute,« sagte Herr Fish; »ein wenig mehr hierher. Es hat sich, wie ich in diesem Augenblick erst erfahre, etwas höchst schreckliches zugetragen, und ich glaube, es wird am besten sein, Sir Joseph erst davon in Kenntnis zu setzen, wenn der Tag vorüber ist. Ihr kennt Sir Joseph und werdet mir Eure Ansicht mitteilen. Der Schrecklichste und beklagenswerteste Vorfall!«

»Fish!« entgegnete der Alderman, »Fish, mein guter Freund, was gibt es? Hoffentlich doch nichts Revolutionäres? Nein – doch kein Versuch, sich in die Schritte der Obrigkeit zu mengen?«

»Deedles, der Bankier,« keuchte der Sekretär. »Gebrüder Deedles – der heute hätte kommen sollen – der eine so hohe Stellung in der Genossenschaft der Goldschmiede einnimmt …«

»Hat doch nicht seine Zahlungen eingestellt?« rief der Alderman. »Es kann nicht sein!«

»Sich selbst erschossen.«

»Guter Gott!«

»In seinem eignen Kontor sich eine doppelläufige Pistole an den Mund gesetzt und sich das Gehirn hinausgeblasen. Kein Beweggrund. Fürstliche Verhältnisse!«

»Verhältnisse!« rief der Alderman. »Ein Mann von edlem Vermögen. Einer der achtbarsten Männer. Selbstmord, Herr Fish, durch eigne Hand?«

»Erst diesen Morgen,« erwiderte Herr Fish.

»O das Gehirn, das Gehirn!« rief der fromme Alderman, seine Hände erhebend. »O die Nerven, die Nerven – die Geheimnisse dieser Maschine, die man Mensch nennt ! Welche Kleinigkeit reicht nicht hin, sie in Unordnung zu bringen! Was sind wir nicht für arme Geschöpfe! Vielleicht ein Diner, Herr Fish. Vielleicht die Lebensweise seines Sohnes, der, wie ich gehört habe, etwas über den Strang schlagen und ohne jede Ermächtigung Wechsel auf den Namen seines Vaters ausstellen soll. Ein höchst achtbarer Mann – einer von den achtbarsten Männern, die ich je kannte! Ein beklagenswerter Fall, Herr Fish! Ein öffentliches Unglück! Ich werde mirs zur Ehrensache machen, um ihn die tiefste Trauer zu tragen! Ein höchst achtbarer Mann. Aber es ist einer über uns. Wir müssen uns darein fügen, Herr Fish. Wir müssen uns fügen!«

Wie, Alderman? Kein Wort von »den Selbstmord legen«? Erinnere dich, Friedensrichter, wie du dich stolz deiner hohen Moral rühmtest! Bring diese Wagschalen ins Gleichgewicht, Alderman! Wirf in die leere das fehlende Mittagessen und die Quellen der Natur, die bei irgendeinem armen Weib durch das hungernde Elend ausgetrocknet und zum Widerstand gebracht wurden gegen die Ansprüche, zu denen ihr Sprößling von der heiligen Mutter Eva her berechtigt ist. Wäge mir diese beiden, du richtender Daniel, wenn dein Gerichtstag kommen wird! Wäge sie in den Augen leidender Tausende, die aufmerksam der greulichen Posse, die du spielst, zusehen! Oder angenommen, du hättest deine fünf Sinne verloren – du hast nicht so weit dazu, daß es nicht möglich wäre – und legtest Hand an diese deine Kehle, zur Warnung für deinesgleichen (wenn es noch deinesgleichen gibt), damit sie nicht ihre behagliche Schlechtigkeit den zum Wahnsinn getriebenen Gehirnen und gequälten Herzen vorkrächzen – was dann?

Die Worte erhoben sich in Trottys Brust, als würden sie in seinem Innern von einer andern Stimme gesprochen. Alderman Cute machte sich anheischig, Herrn Fish zu unterstützen, um nach Ablauf des Tages Sir Joseph die traurige Kunde beizubringen. Ehe sie sich trennten, drückte er noch Herrn Fish in bitterm Schmerze die Hand und sagte abermals: »Der achtbarste Mann!« Und dann fügte er noch hinzu, daß er kaum verstehe (nicht einmal er!), warum solche Trübsal auf Erden vorkommen dürfe.

»Wenn mans nicht besser wüßte, so möchte man fast glauben,« fuhr Alderman Cute fort, »daß bisweilen in den Dingen eine Umsturzbewegung vorgehe, die die allgemeine Ordnung des sozialen Baues aus ihren Fugen hebt. Gebrüder Deedles!«

Das Kegelspiel verlief mit ungeheurem Erfolg. Sir Joseph warf die Kegel mit wunderbarer Geschicklichkeit um; Master Bowley machte aus kürzerer Entfernung gleichfalls einen Anfangsversuch, und jedermann sagte, daß nun, da ein Baronet und der Sohn eines Baronets Kegel spielten, die Verhältnisse des Landes eine rasche Wendung zum Bessern nehmen müssen.

Im richtigen Moment wurde das Festmahl aufgetragen. Trotty begab sich unwillkürlich mit den übrigen nach der Halle, denn er fühlte sich durch eine stärkere Gewalt, als die seines eignen freien Willens, dahin gedrängt. Der Anblick war ein ungewöhnlich glänzender; die Damen waren sehr hübsch und alle Gäste entzückt, fröhlich und heiter gestimmt. Als die untern Türen geöffnet wurden und die Leute in ihrer ländlichen Kleidung hereinschwärmten, erreichte die Schönheit des Schauspiels ihren Höhepunkt; aber Trotty murmelte nur um so angelegentlicher: »Wo ist Richard? er sollte ihr helfen und sie trösten! Ich kann Richard nicht sehen!«

Es wurden einige Reden gehalten. man trank auf die Gesundheit Lady Bowleys; Sir Joseph hatte sich bedankt und hielt eben seine große Rede, indem er an mancherlei Tatsachen bewies, daß er der geborene Freund und Vater usw. der Armen sei, und brachte ein Hoch auf seine Freunde und Kinder und auf die Würde der Arbeit aus, als eine kleine Unruhe unten in der Halle Tobys Aufmerksamkeit fesselte. Nach einiger Verwirrung, etwas Lärm und Widerstand brach ein einzelner Mann durch die Reihen der übrigen und trat vor.

Nicht Richard. Nein. Aber einer, an den er auch schon gedacht und nach dem er sich oftmals umgesehen hatte. Bei einer spärlicheren Beleuchtung würde er die Identität des alten, grauen, gebeugten und abgelebten Mannes bezweifelt haben; so aber fiel ein heller Lampenglanz auf dessen verwitterten Kopf, und er erkannte in der Person, sobald sie sich vorgedrängt hatte, augenblicklich Will Fern.

»Was soll das?« rief Sir Joseph aufstehend. »Wer hat diesen Mann eingelassen? Dies ist ein Verbrecher aus dem Gefängnis! Herr Fish, Sir, wollen Sie die Güte haben …«

»Eine Minute!« sagte Will Fern. »Eine Minute! Gnädige Frau, Ihr seid an diesem Tag mit einem neuen Jahr geboren worden. Laßt mich eine einzige Minute sprechen!«

Sie legte eine Fürbitte für ihn ein, und Sir Joseph nahm mit angeborener Würde wieder Platz.

Der zerlumpte Gast – denn er war erbärmlich gekleidet – blickte in der Gesellschaft umher und bezeigte ihr seine Huldigung mit einer demütigen Verbeugung.

»Ihr vornehmen Leute,« sagte er, »ihr habt auf die Gesundheit des Arbeiters getrunken. Seht mich an!«

»Kommt just aus dem Gefängnis,« sagte Herr Fish.

»Ja, ich komme aus dem Gefängnis,« versetzte Will. »Und zwar nicht zum ersten, zweiten, dritten – ja nicht einmal zum viertenmal.«

Man hörte Herrn Filer verdrießlich bemerken, daß viermal die Durchschnittszahl übersteige, und er sollte sich vor sich selbst schämen.

»Seht mich immerhin an, ihr vornehmen Leute,« wiederholte Will Fern. »Ihr seht, ich bin bis zum Ärgsten herabgesunken. Man kann mir nichts Schlimmeres mehr anhaben, und ich bin außer dem Bereich eurer Hilfe, denn die Zeit, in der eure freundlichen Worte oder eure freundlichen Handlungen mir hätten guttun können« – er schlug dabei mit der Hand auf die Brust und schüttelte seinen Kopf – »ist vorbei, wie der Duft des Klees vom vorigen Jahr. Aber laßt mich ein Wort für diese sprechen« – er deutete auf die Arbeiter in der Halle – und hört, da ihr wieder zusammengekommen seid, wenigstens einmal die reine Wahrheit!«

»Es ist niemand hier,« sagte der Wirt, »der ihn zum Sprecher haben möchte.«

»Wahrscheinlich genug, Sir Joseph. Ich glaube es. Aber darum ist das, was ich sage, nicht weniger wahr. Vielleicht dient mir das nur zum Beweis meiner Wahrheitstreue. Ihr vornehmen Leute, ich habe manches Jahr an diesem Ort gelebt, und ihr könnt dort meine Hütte mit dem eingefallenen Zaune sehen. Hundertmal war ich Zeuge, wie die Damen sie in ihre Bücher zeichneten. Ich habe sagen hören, sie nehme sich gut auf einem Bilde aus; aber auf Bildern gibt es kein Wetter, und sie mag sich daher besser dazu eignen, als zu einem Wohnplatz. Also! Dort habe ich gelebt. Wie hart – wie bitterhart es mir dort erging, will ich nicht sagen. Ihr könnt es jeden Tag im Jahr selber beurteilen.«

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Er sprach, wie er in der Nacht gesprochen hatte, als ihn Trotty in der Straße traf. Seine Stimme klang tiefer und heiserer und zitterte dann und wann ein wenig. Aber er ließ sie niemals leidenschaftlich werden, und selten sprach er lauter, als es die schlichten Dinge und Tatsachen forderten, die er berichtete.

»Es ist schwerer, als ihr vornehmen Leute denken mögt, an einem solchen Platz als ordentlicher Mensch zu leben. Daß ich zu einem Mann und nicht zu einem Vieh darin heranwuchs – damals – sagt schon etwas für mich. Über meine jetzige Lage läßt sich nichts mehr sagen, wie denn auch nichts mehr für mich getan werden kann. Ich bin darüber hinaus.«

»Ich freue mich, daß dieser Mann eingetreten ist,« sagte Sir Joseph, heiter im Kreis umherblickend. »Stört ihn nicht. Es scheint Bestimmung zu sein. Er ist ein Beispiel – ein lebendiges Exempel. Ich hoffe und erwarte zuversichtlich, daß es an meinen Freunden hier nicht verloren geht.«

»Ich schleppte mich fort,« sagte Fern nach einer kurzen Pause, »wie es eben gehen mochte. Weder ich noch irgendein andrer Mensch weiß, wie – jedenfalls aber so schwer, daß ich kein heiteres Gesicht dazu schneiden oder andern glauben machen konnte, ich sei etwas andres, als was ich war. Nun, Gentlemen – ihr Gentlemen, die ihr in den Parlamentssitzungen zusammentrefft – wenn ihr einen Mann mit einem unzufriedenen Zug im Gesicht seht, so sagt ihr zueinander. ›Er ist verdächtig. Ich habe meine Bedenken‹, sagt ihr, ›über Will Fern. Faßt diesen Burschen ins Auge.‹ Ich will nicht behaupten, Gentlemen, daß dies nicht ganz natürlich sei – aber ich sage, es ist so, und von dieser Stunde an wird alles auf sein Schuldkonto gebucht, mag nun Will Fern tun oder lassen, was er will.«

Alderman Cute steckte seine Daumen in seine Westentaschen, lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück und blinzelte einem benachbarten Leuchter zu, als wollte er sagen: »Natürlich! ich Sagte es ja. Das gewöhnliche Geschrei! Gott behüte, wir sind derartigen Dingen längst gewachsen – ich selbst und die menschliche Natur.«

»Wohlan, Gentlemen,« fuhr Will Fern fort, indem er seine Hände ausstreckte und ein flüchtiges Rot sein hageres Gesicht einen Augenblick überflammte. »Seht, wie eure Gesetze gemacht sind, um uns einzufangen und zu hetzen, wenn es einmal so weit mit uns gekommen ist. Ich versuche, anderswo meinen Unterhalt zu finden, und man behandelt mich als einen Landstreicher. Ins Gefängnis mit ihm! Ich komme hierher zurück, sammle in den Wäldern Nüsse und breche – wer täte es nichts – ein paar dünne Zweige ab. Ins Gefängnis mit ihm! Einer von den Förstern sieht mich am hellen Tag in der Nähe meines eignen Gartens mit einem Gewehr. Ins Gefängnis mit ihm! Sobald ich wieder frei bin, kommts natürlich zu einem zornigen Wortwechsel mit diesem Mann. Ins Gefängnis mit ihm! Ich schneide mir einen Stock. Ins Gefängnis mit ihm! Ich esse einen faulen Apfel oder eine Rübe. Ins Gefängnis mit ihm! Es ist zwanzig Meilen entfernt, und als ich wieder zurückkomme, bettle ich an der Straße um eine Kleinigkeit. Ins Gefängnis mit ihm! Kurz, der Polizeimann oder der Wildhüter oder sonst jemand findet immer, daß ich hier oder dort irgend etwas anstelle. Ins Gefängnis mit ihm, denn er ist ein Landstreicher und bekannter Zuchthausvogel. So ist denn das Zuchthaus zu seiner einzigen Heimat geworden!«

Der Alderman nickte wohlweise, als wollte er sagen. »Und obendrein eine recht gute Heimat!«

»Glaubt ja nicht, daß ich dies sage, um meiner Sache zu dienen!« rief Fern. »Wer kann mir meine Freiheit, meinen guten Namen und meine unschuldige Nichte zurückgeben? Alle Lords und Ladies in dem weiten England sind es nicht imstande. Aber ihr Gentlemen, wenn ihr mit andern zu tun bekommt, wie mit mir, fangt die Sache an dem rechten Ende an. Seid so barmherzig, uns, wenn wir in unsern Wiegen liegen, eine bessere Heimat zu geben; reicht uns bessere Kost, wenn wir für unsern Unterhalt arbeiten, und gebt uns wohlwollende Gesetze, die uns auf den rechten Weg zurückbringen können, wenn wir von demselben abweichen; aber stellt uns nicht überall, wohin wir uns auch wenden mögen, ewig nur das Gefängnis, das Gefängnis, das Gefängnis vor die Augen! Jede Herablassung, die ihr dem Arbeiter erweisen mögt, wird er so bereitwillig und dankbar hinnehmen, wie nur ein Mensch kann, denn er hat ein geduldiges, friedliches und williges Herz; aber ihr müßt zuerst den rechten Geist in ihm fassen, denn bis jetzt noch ist der seinige von euch getrennt, mag er nun eine solche Ruine oder ein Wrack sein wie ich, oder denen gleichen, die hier herumstehen. Bringt ihn zurück, bringt ihn zurück, ihr vornehmen Leute! bringt ihn zurück, ehe der Tag kommt, da in seiner veränderten Gesinnung auch die Bibel eine andre Gestalt gewinnt und ihm die Worte derselben erscheinen, wie sie mir bisweilen in dem Gefängnis vorkamen: ›Wohin du gehst, kann ich nicht hingehen; wo du wohnst, wohne ich nicht; dein Volk ist nicht mein Volk und dein Gott nicht der meinige!‹«

In der Halle fand nun eine plötzliche Bewegung und Aufregung statt. Trotty meinte anfangs, es hätten sich einige aufgerafft, um den Mann hinauszuwerfen, und daher rühre der Wechsel in der Szene. Aber der nächste Augenblick belehrte ihn, daß der Saal mit der ganzen Gesellschaft seinen Augen entschwunden war und seine Tochter wieder vor ihm saß, wie sie sich bei ihrer Arbeit abmühte. Ihr Dachstübchen war armseliger und schlechter als das frühere, und Lilian befand sich nicht an ihrer Seite.

Der Rahmen, an dem letztere gearbeitet hatte, lag auf einem Sims und war zugedeckt, ihr Stuhl stand gegen die Wand gelehnt. In diesen kleinen Dingen und in Megs gramvollem Gesicht sprach sich eine lange Geschichte aus – o, wer hätte sie nicht zu lesen vermocht!

Meg hatte die Augen auf ihre Arbeit geheftet, bis es zu dunkel war, um den Faden zu sehen, und als die Nacht hereinbrach, zündete sie ihre dünne Kerze an, um weiter zu arbeiten. Noch immer befand sich ihr alter Vater unsichtbar in ihrer Nähe, schaute auf sie nieder und sprach mit ihr – o, mit welch inniger Liebe! – mit leiser Stimme über alte Zeiten und über die Glocken, obschon der arme Trotty wohl wußte, daß sie ihn nicht hören konnte.

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Der größere Teil des Abends war bereits entschwunden, als an ihre Tür gepocht wurde. Sie öffnete. Ein Mann stand auf der Schwelle – ein mürrischer, schlottriger, schmutziger Trunkenbold, den Laster und Unmäßigkeit gezeichnet hatten und dem die wirren Haare und der ungeschorene Bart ein wildes Aussehen verliehen; aber dennoch waren einige Spuren an ihm zu bemerken, die zeigten, daß er in seiner Jugend gut gebaut und hübsch gewesen war.

Er blieb stehen und wartete, bis ihm Meg einzutreten erlaubte; sie aber wich ein paar Schritte von der offenen Tür zurück und sah ihn stumm und bekümmert an. Trottys Wunsch war erfüllt – er hatte Richard vor sich.

»Darf ich hereinkommen, Margaret?«

»Ja! komm herein. Komm herein!«

Es war gut, daß ihn Trotty erkannt hatte, ehe er sprach; denn wenn auch nur ein Zweifel in ihm geherrscht hätte, so würde ihn die rauhe, mißtönige Stimme überzeugt haben, daß es nicht Richard, sondern ein andrer Mann sei.

Es waren nur zwei Stühle in der Stube. Sie gab ihm den ihrigen und blieb eine Weile in einiger Entfernung stehen, wartend, was er ihr zu sagen habe.

Er setzte sich nieder und blickte mit glanzlosem, blödsinnigem Lächeln stier auf den Boden – ein Anblick so tiefer Verkommenheit, gänzlicher Hoffnungslosigkeit und kläglicher Verwahrlosung, daß sie die Hand vor das Gesicht hielt und sich ab wandte, um ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr sie sein Wesen erschütterte.

Durch das Rauschen ihres Kleides oder irgendein andres unbedeutendes Geräusch aus seinem Stumpfsinn geweckt, erhob er seinen Kopf und begann zu sprechen, als ob seit seinem Eintritt keine Pause gewesen wäre.

»Noch immer bei der Arbeit, Margaret? Du arbeitest spät.«

»Das geschieht gewöhnlich so.«

»Und früh?«

»Und früh.«

»Das hat sie mir gesagt. Sie sagte, du seiest unablässig tätig und gestehest nie deine Müdigkeit. Nie, solange ihr beisammen lebtet – nicht einmal, als du von Arbeit und Fasten ohnmächtig wurdest. Doch ich habe dir dies bereits gesagt, als ich das letzte Mal hier war.«

»Das tatest du,« antwortete sie; »und ich beschwor dich, mir nichts mehr darüber zu sagen. Auch hast du mirs feierlich versprochen, Richard.«

»Feierlich versprochen,« wiederholte er mit einem kindischen Lachen und einem blöden Blick ins Leere. »Feierlich versprochen, natürlich. Feierlich versprochen!«

Nach einer Weile schien er sozusagen in den früheren Zustand aufzuwachen, denn er fügte mit plötzlicher Lebhaftigkeit bei:

»Aber was kann ich dafür, Margaret? Was soll ich tun? Sie ist wieder bei mir gewesen!«

»Wieder?« rief Meg, ihre Hände zusammenschlagend. »O denkt sie so oft an mich? Schon wieder?«

»O schon zwanzigmal,« sagte Richard. »Margaret, sie läßt mir keine Ruhe. Sie kommt aus der Straße hinter mir her und steckt mirs in die Hand. Ich höre ihren Fuß in der Asche, wenn ich bei meiner Arbeit bin (ha ha! das ist nicht oft), und ehe ich meinen Kopf umwenden kann, tönt mir ihre Stimme ins Ohr. ›Richard, dreh dich nicht um. Gib ihr das, um aller Barmherzigkeit willen!‹ Sie bringt es mir in die Wohnung, schickt es in Briefen, klopft an das Fenster und legt es auf den Sims. Was kann ich tun? Schau her!« Er hielt ihr in der Hand eine kleine Börse entgegen und klimperte mit dem darin enthaltenen Gelde.

»Steck es ein,« sagte Meg, »steck es ein! Wenn sie wiederkommt, so Sage ihr, Richard, daß ich sie von ganzem Herren liebe – daß ich mich nie schlafen lege, ohne sie zu segnen und für sie zu beten – daß ich bei meiner einsamen Arbeit nie aufhöre, an sie zu denken, daß ich Tag und Nacht bei ihr bin und daß ich, wenn ich morgen sterbe, mit meinem letzten Atemzug noch ihrer gedenken will, daß ich aber dies nicht ansehen kann!«

Er zog die Hand langsam wieder an sich, knitterte den Beutel zusammen und sagte mit einer Art schläfriger Nachdenklichkeit:

»Ich sagte ihr dies. Ich sagte ihrs so deutlich, als es sich durch Worte nur aussprechen läßt. Dutzendmal nahm ich seitdem diese Gabe wieder zurück und ließ sie an ihrer Tür liegen. Aber als sie zum letzenmal kam und Angesicht gegen Angesicht vor mich hintrat, was konnte ich tun?«

»Du hast sie gesehen?« rief Meg. »Du hast sie gesehen? O Lilian, mein süßes Mädchen! O Lilian, Lilian!«

»Ich habe sie gesehen,« fuhr er fort, nicht gerade als Antwort, sondern seinem Gedankengang folgend. »Sie stand zitternd da – ›Wie sieht sie aus, Richard? Spricht sie nie von mir? Ist sie schmächtiger geworden? Mein alter Platz an dem Tisch – was ist an meinem alten Platz? Und der Rahmen, an dem sie mich unsre frühere Arbeit lehrte – hat sie ihn verbrannt, Richard?‹ Sie war da, und ich hörte sie so sprechen.«

Meg unterdrückte ihr Schluchzen und beugte sich mit hervorstürzenden Tränen über ihn, um ihm zuzuhören und ja keinen Laut von seinen Worten zu verlieren.

Seine Arme waren auf die Knie aufgestützt, und er lehnte sich in seinem Stuhl vornüber, als sei das, was er sagte, in halb leserlichen Zügen, so daß er Mühe hätte sie zu entziffern, auf den Boden geschrieben. Er fuhr fort:

»›Richard, ich bin sehr tief gefallen, und du kannst dir denken, wie viel ich gelitten habe, als mir dies zurückgeschickt wurde, wenn ich es über mich gewinnen konnte, es eigenhändig dir wiederzubringen. Aber soviel ich mich erinnern kann, hast du sie einmal zärtlich geliebt. Andre sind zwischen euch getreten. Furcht, Eifersucht, Zweifel und Eitelkeit entfremdeten dich ihr. Doch du liebtest sie, soweit ich mich erinnern kann.‹ Ich glaube, sie hat darin recht,« sagte er, sich für einen Augenblick unterbrechend. »Es war wirklich der Fall! Doch das gehört nicht hierher. ›O Richard, wenn du sie jemals lieb hattest, wenn du noch ein Gedächtnis hast für das, was dahin ist und verloren, so bring es ihr noch einmal. Nur noch ein einziges Mal! Sag ihr, wie ich gebeten und gebettelt habe. Sag ihr, wie ich meinen Kopf auf deine Schulter legte, wo ihr eigner Kopf hätte ruhen können, und wie ich so demütig gegen dich war, Richard. Sag ihr, du hast mir ins Gesicht gesehen und gefunden , daß meine Schönheit, die sie sonst so zu preisen pflegte, völlig entschwunden sei – völlig dahin – und an ihrer Stelle nur eine so arme, abgezehrte hohle Wange, daß sie weinen würde, wenn sie ihr zu Gesicht käme. Sag ihr alles dies und nimm es wieder mit, sie wird es nicht aufs neue zurückweisen. Nein, sie wird nicht das Herz haben!‹«

Er blieb nachsinnend sitzen und wiederholte die letzten Worte, bis er wieder erwachte und sich erhob.

»Du willst es nicht nehmen, Margaret?«

Sie schüttelte den Kopf und bat ihn mit stummer Gebärde, sich zu entfernen.

»Gute Nacht, Margaret.«

»Gute Nacht!«

Er wandte sich wieder nach ihr um, betroffen von dem Schmerz und vielleicht auch von dem Mitleid mit ihm, das in ihrer Stimme zitterte. Die Bewegung war rasch und hastig, und für einen Augenblick schien etwas von seinem frühern Wesen in seiner Haltung aufzuzucken. Im nächsten Moment aber ging er, wie er gekommen war. Dieses Aufblitzen eines erloschenen Feuers schien in ihm kein lebendigeres Bewußtsein seiner Würdelosigkeit zu entflammen.

Meg mußte in jeder Stimmung, bei schwerem Kummer, bei körperlichen wie seelischen Qualen ihre Arbeit vollenden. So setzte sie sich daher wieder und nähte fort. Abend, Mitternacht – sie arbeitete noch immer.

Ein schwaches Feuer brannte auf ihrem Herd, denn die Nacht war sehr kalt. Sie stand von Zeit zu Zeit auf, um es zu schüren. Während sie so beschäftigt war, schlugen die Glocken halb eins, und als sie ausgetönt hatten, hörte sie ein leises Pochen an der Tür. Sie öffnete sich, noch ehe Meg Zeit hatte, sich Gedanken darüber zu machen, wer sie wohl zu einer so ungewöhnlichen Stunde besuchen möge.

O Jugend und Schönheit, die ihr glücklich sein sollt, schaut hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr selbst gesegnet seid und alles segnet, was in euerm Bereich ist, die ihr die Absichten eures Schöpfers erfüllt, schaut hierher!

Sie sah die eintretende Gestalt und schrie auf: »Lilian!«

Die Gestalt trat schnell vor, fiel vor ihr auf die Knie nieder und klammerte sich an ihr Kleid.

»Ach Himmel, steh auf – steh auf, Lilian! meine teure Lilian!«

»Nie, Meg; nimmermehr! Hier! hier! zu deinen Füßen will ich mich an dich klammern, damit ich deinen teuern Atem auf meinem Gesicht fühle!«

»Süße Lilian! meine teure Lilian! Kind meines Herzens – die Liebe einer Mutter kann nicht zärtlicher sein. Lege dein Haupt an meine Brust!«

»Nie, Meg. Nimmermehr! Als ich zum erstenmal zu deinem Gesicht aufblickte, knietest du vor mir. Laß mich auf den Knien vor dir sterben. Laß – laß mich!«

»Du bist zurückgekommen. Mein Kleinod, wir wollen wieder beisammenleben, miteinander arbeiten, miteinander hoffen und miteinander sterben.«

»Ach, küsse mich, Meg; schlinge deine Arme um mich und drücke mich an dein Herz! Sieh mich freundlich an – aber laß mich hier liegen! Laß mich zum letztenmal dein liebes Gesicht auf den Knien betrachten!«

O glückliche Jugend und Schönheit, blickt hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr den Zwecken eures wohltätigen Schöpfers dient, blickt hierher!

»Vergib mir, Meg! Teure liebe Meg! vergib mir! Ich weiß, du tust es – ich sehe, daß du es tust; aber sprich es auch aus, Meg!«

Sie sprach es aus, ihre Lippen auf Lilians Wange gedrückt. Und mit ihren Armen umschlang sie – sie wußte es jetzt – ein gebrochenes Herz!

»Gottes Segen über dich, meine Teure. Küsse mich noch einmal! Er duldete es, daß die Sünderin sich zu seinen Füßen niedersetzte und sie mit ihren Haaren abtrocknete. O Meg, welch ein Erbarmen – welch ein Mitleid!«

Als sie starb, berührte der Geist des zurückkehrenden Kindes strahlend und unschuldig den alten Mann mit seiner Hand und winkte ihm weiterzugehen.