22. Kapitel


22. Kapitel

Wieso und warum Martin selbst ein Löwe wurde

Kaum war die Tatsache, Mr. Chuzzlewit, der junge Engländer, habe sich im Tale Eden angekauft und sei willens, sich mit dem nächsten Dampfboot in dieses irdische Paradies zu begeben, im National Hotel allgemein ruchbar geworden, da war er auch schon mit einem Mal sozusagen ein populärer Charakter. Warum dies geschah oder wie es zuging, wußte er ebensowenig, wie sich Mrs. Gamp von Kingsgate Street, High Holborn, ihren Ruf zu erklären vermochte. Tatsache aber blieb, daß er plötzlich durch Volkswahl der Löwe der Watertoastgemeinde war und daß man seine Gesellschaft in einer für ihn wenig angenehmen Weise suchte. Die erste Mitteilung, die er von diesem Wechsel in seiner Stellung erhielt, bestand in folgender Epistel, die, mit dünner geläufiger Hand geschrieben und hie und da mit fetten Buchstaben durchsetzt, um den Allgemeineindruck zu heben, fast einen ganzen blau linierten Briefbogen ausfüllte:

»National Hotel, Montagmorgen.

Sehr geehrter Herr!

Als ich vorgestern das Glück hatte, Ihr Reisegefährte auf der Eisenbahn zu sein, ließen Sie einige Bemerkungen über den Tower von London fallen, die ich gerne vor einer öffentlichen Versammlung wiederholt hören möchte.

Als Schriftführer der Jüngling-Watertoast-Association in dieser Stadt bin ich aufgefordert, Ihnen mitzuteilen, daß die Gesellschaft es sich zur Ehre anrechnen würde, eine Vorlesung von Ihnen über den Londoner Tower in dem Saale der Gesellschaft morgen abend um sieben Uhr anhören zu dürfen.

Da sich ein großer Absatz von Vierteldollarbilletts erwarten läßt, so werden Sie durch Ihre freundliche Zusage an den Überbringer verbinden, sehr geehrter Herr, Ihren aufrichtig ergebenen Lafayette Kettle.

An seine Hochwohlgeboren Mr. Chuzzlewit.

P.S. Die Gesellschaft möchte durchaus nicht, daß Sie sich auf eine Schilderung des Londoner Towers beschränken. Gestatten Sie mir daher die Andeutung, daß auch einige Bemerkungen über die Elemente der Geologie, oder, wenn es Ihnen gelegener wäre, über die Schriften Ihres talentvollen und witzigen Landsmannes, des allgemein verehrten Mr. Miller, sehr willkommen sein würden.«

Höchlichst erschrocken über diese Einladung schrieb Martin sogleich eine höfliche Absage, allein kaum war er damit fertig, da erhielt er einen zweiten Brief.

Nr. 47, Bunker Hill Street, Montag früh. (Privat)

Sir,

Ich bin in den endlosen Steppen, durch die unser mächtiger Mississippi, ›der Vater der Gewässer‹, seine stürmischen Fluten dahinwälzt, geboren.

Ich bin noch jung und begeisterungsfähig und voll der Poesie, die die Wildnis gebiert, wo jeder Alligator, der im Schlamme liegend sich sonnt, sich selbst ein Epos ist. Ich strebe nach Ruhm. Das ist mein Durst und mein Schmachten.

Kennen Sie vielleicht, Sir, irgendein Mitglied des Kongresses in England, der es auf sich nehmen würde, für sechs Monate die Kosten eines dortigen Aufenthaltes für mich zu bestreiten?

Ein inneres Gefühl sagt mir, daß eine so hochherzige Gönnerschaft mir gegenüber die besten Früchte tragen würde. In Literatur oder Kunst, vor den Gerichtsschranken, auf der Kanzel oder auf der Bühne – in einem oder dem andern, wo nicht in allem –, weiß ich, müßte mir zuverlässig ein großer Wurf gelingen.

Wenn Sie selbst zu sehr beschäftigt sein sollten, um sich an einen derartigen Mäzen zu wenden, so bitte ich Sie, mir die Adressen von drei oder vier geeigneten Leuten mitzuteilen, die am wahrscheinlichsten darauf eingehen würden, damit ich mich brieflich an sie wenden kann. Auch wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich mit ein paar Zeilen wissen ließen, wie Sie über das Werk ›Kain‹, ein Mysterium, von seiner Hochgeboren Lord Byron, denken.

Ich verbleibe, Sir, Ihr (verzeihen Sie, wenn ich hinzusetze: hochstrebender)

Putnam Smif.

P.S. Adressieren Sie, bitte, Ihre Antwort an Chiffre: Amerika junior, Messrs. Hancock and Floby. Schnittwarengeschäft, wie oben.«

Diese beiden Briefe, zugleich mit Martins Antwort darauf, wurden später einem löblichen Brauche der Stadt gemäß, der sehr danach angetan war, das Gefühl des Anstandes und gegenseitigen gesellschaftlichen Vertrauens zu fördern, in einer Nummer der Watertoast-Gazette veröffentlicht.

Martin hatte übrigens kaum seine Korrespondenz beendigt, als Kapitän Kedgick, der Wirt, mit äußerst liebenswürdiger Miene heraufkam, um nachzusehen, wie Martin sich befinde. Ohne lange Umstände setzte er sich auf die Bettleiste, und da er diese etwas hart fand, schließlich auf das Kopfkissen.

»Nun, Sir«, begann er, nachdem er sich’s genügend bequem gemacht und seinen Hut ein wenig mehr aufs Ohr gerückt hatte, offenbar, weil er ihm zu eng war, »Sie sind, schätze ich, bereits ein Mann der Öffentlichkeit.«

»So scheint es«, versetzte Martin ermüdet und abgespannt. »Unsere Mitbürger, Sir«, fuhr der Kapitän fort, »haben im Sinne, Ihnen ihre Hochachtung zu bezeugen. Sie werden eine Art von ›Leweh‹ zu halten haben, Sir, solange Sie noch hier sind.«

»Gott im Himmel!« rief Martin. »Aber das ist mir doch ganz unmöglich, lieber Herr.«

»Sie werden müssen, es wird nicht anders gehen«, meinte der Kapitän.

»›Müssen‹ ist kein angenehmes Wort, Kapitän«, entgegnete Martin.

»Nun, ich habe unsere Muttersprache nicht erfunden und kann sie daher nicht ändern«, sagte der Kapitän ruhig, »sonst würde ich sie wohl etwas angenehmer gestaltet haben. Sie müssen die Besuche empfangen, weiter kann ich nichts sagen.«

»Aber warum soll ich Leute empfangen, denen ich ebenso gleichgültig bin wie sie mir?« fragte Martin.

»Nun, weil ich in der Bar unten ein Muniment angeheftet habe«, entgegnete der Kapitän.

»Was haben Sie angeheftet?« fragte Martin.

»Ein Muniment.«

Martin warf einen verzweifelten Blick auf Mark, der ihm daraufhin mitteilte, der Kapitän meine ein geschriebenes Plakat, worauf angekündigt sei, daß Mr. Chuzzlewit heute um zwei Uhr vor den Herren der Watertoast-Association Cercle halten werde. Es hinge in der Schenkstube unten, wie er kraft eigener Inaugenscheinnahme bezeugen könne.

»Ich weiß, Sie werden sich nicht gerne unpopulär machen«, fing der Kapitän wieder an und schnitt sich kaltblütig die Nägel. »Unsre Bürger lassen nicht mit sich spaßen, das kann ich Ihnen versichern, und unsre Gazette wäre imstande, Ihnen die Haut abzuziehen wie einer wilden Katze.«

Martin wollte eben zornig losbrechen, besann sich jedoch eines Besseren und entgegnete:

»Also lassen Sie sie in Gottes Namen kommen.«

»Oh, sie werden schon von selbst kommen«, erwiderte der Kapitän. »Ich habe zu diesem Behufe bereits das große Zimmer unten reserviert.«

»Aber möchten Sie nicht vielleicht die Güte haben«, bat Martin, als er bemerkte, daß der Kapitän sich entfernen wollte, »mir wenigstens zu sagen, warum man mich eigentlich sehen will? Was habe ich denn getan, und wie kommt es, daß man ein so plötzliches Interesse an mir nimmt?«

Kapitän Kedgick lüftete ein wenig seinen Hut, setzte ihn dann sorgfältig wieder auf, fuhr sich mit der einen Hand von der Stirne bis zum Kinn über das ganze Gesicht herunter, sah Martin und dann Mark und dann wieder Martin an, blinzelte und ging hinaus.

»Meiner Seel«, rief Martin und ließ die Faust schwer auf den Tisch niederfallen, »so ein vollkommen unerklärlicher Kerl wie dieser ist mir noch nicht vorgekommen.«

»Nun, Sir«, versetzte sein Associé, »meine Meinung ist, daß Sie ganz einfach ›einer der hervorragendsten Köpfe des Landes‹ geworden sind.«

Pünktlich um zwei Uhr mit dem Glockenschlag kehrte Kapitän Kedgick zurück, um Martin nach dem Staatszimmer zu geleiten, und als er ihn dort wohlbehalten abgegeben, rief er seinen Mitbürgern die Treppe hinunter zu, Mr. Chuzzlewit sei nunmehr »zum Empfang bereit«.

Daraufhin füllte sich die Stube bis zum letzten Platz, und durch die offene Türe eröffnete sich eine geradezu schauerliche Perspektive auf eine Menge Menschen auf der Treppe, die alle noch hereinwollten. Einer nach dem andern, zu Dutzenden und Dutzenden, ja schockweise und mehr und mehr drängten sie sich heran, um Martin die Hand zu drücken. Alle möglichen Abarten von Händen gab es da; dicke, dünne, kurze, lange, fette, magere, grobe, zarte, heiße, kalte, trockene, feuchte und schlaffe; und jede drückte anders: die eine fest, die andere locker, und immer kamen noch mehr und mehr und mehr Leute herauf; und immer hörte man die Stimme des Kapitäns aus dem Gedränge: »Es sind noch mehr unten, es sind noch mehr unten. – Nun meine Herren, Sie sind jetzt bei Mr. Chuzzlewit gewesen; bitte, wollen Sie den Neuankommenden gefälligst Platz machen.«

Doch ohne im geringsten auf den Ruf des Kapitäns zu achten, räumten die Leute das Zimmer nicht nur nicht, sondern blieben stehen, bolzgerade und die Augen weit aufgerissen.

Zwei bei der Watertoast Gazette angestellte Gentlemen waren ausdrücklich gekommen, um Material zu einem Artikel über Martin zu sammeln, und hatten sich verabredet, sich in die Arbeit zu teilen, und so war dem einen der obere Teil, dem andern der Teil des Redners von der Weste abwärts zugefallen. Beide standen ganz vorn, den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt und aufmerksam auf alles achtend, was in ihr Departement fiel. Wenn Martin den einen Stiefel vor den andern setzte, so notierte es der Gentleman für die untere Abteilung, rieb Martin sich die Nase, so wurde es von dem Gentleman für die obere Abteilung gebucht. Öffnete er den Mund, so ließ sich derselbe Gentleman auf ein Knie vor ihm nieder und studierte mit dem prüfenden Blicke eines Zahnarztes sein Gebiß. Dilettanten der physiognomischen und phrenologischen Wissenschaften umschwärmten ihn mit achtsamen Augen und gierigen Fingern und hin und wieder wagte einer oder der andere der Keckeren einen Griff nach Martins Hinterkopf und verschwand wieder im Gedränge. Alle möglichen Ansichten über ihn, über sein En-Face, sein Profil, sein Dreiviertelprofil und seine Schädelbildung wurden laut. Die weniger wissenschaftlich Gebildeten sprachen hörbar ihre Meinungen über sein Äußeres aus. Seine Nase, hieß es, böte ganz verschiedene neue Gesichtspunkte; über sein Haar kamen die widersprechendsten Gerüchte in Umlauf, und noch immer hörte man die Stimme des Kapitäns erstickt aus dem Gewühl wie unter einem Federbett hervor: »Meine Herrn, Sie sind jetzt Mr. Chuzzlewit vorgestellt, bitte, wollen Sie doch gefälligst Platz machen.«

Aber selbst als die Phrenologen Platz zu machen anfingen, wurde es nicht besser, denn nun wogte ein Strom von Herren herein, jeder mit einer Dame am Arm, genau so, wie der Chor im National Hochgesang, wenn die Majestät im Prachteinband die Bühne betritt. Jede Gruppe frischer an Kraft als die vorhergehende und fest entschlossen, bis zum letzten Augenblick zu bleiben. Wurde Martin angeredet, was nicht oft geschah, so waren es stets dieselben Fragen und alle in demselben Ton und mit nicht mehr Rücksicht oder Zartgefühl vorgebracht, als wäre er eine Steinfigur gewesen, gekauft, bezahlt und zur allgemeinen Belustigung hier aufgestellt. Und als dann die Pärchen schließlich entschwebten, war es so schlimm wie vorher, wo nicht schlimmer; denn jetzt wurden die halbwüchsigen Jungen frech, kamen in Trupps herein und benahmen sich genau so, wie sie es vorher von den Erwachsenen gesehen hatten. Auch höchst seltsame Nachzügler tauchten auf, Gentlemen, die wie auferstandene Tote aussahen und, wenn sie einmal da waren, nicht wußten, wie sie wieder fort kommen sollten; vor allem ein stummer Herr mit verglasten Fischaugen und nur einem einzigen, aber sehr großen und gewaltig glänzenden Metallknopf an seiner Weste war besonders hartnäckig und blieb unbeweglich an der Wand stehen wie eine Standuhr, als die anderen längst fort waren.

Vor Ermüdung, Abspannung und Ärger im höchsten Grade mitgenommen, glaubte Martin sich auf den Boden werfen und liegen bleiben zu müssen, aber auch dazu ließ man ihm keine Zeit. Briefe und Botschaften mit der Drohung, ihn öffentlich an den Pranger zu stellen, wenn man die Absender nicht vorließe, strömten wie ein Hagelsturm herein, und da auch, während er einsam Kaffee trank, noch immer Besuche kamen und Mark trotz aller Wachsamkeit nicht imstande war, sie an der Türe abzuhalten, so entschloß sich Martin, zu Bett zu gehen. Nicht, daß er dort hinreichenden Schutz zu finden glaubte, sondern nur, um auch dies letzte verzweifelte Mittel nicht unversucht zu lassen. Er hatte seinen Plan Mark mitgeteilt und wollte gerade entwischen, als die Türe abermals mit großem Ungestüm aufgerissen wurde und ein ältlicher Gentleman eintrat, eine lange hagere Dame am Arm, die nichts weniger als jung oder gar hübsch genannt werden konnte. Letzeres war allerdings Geschmackssache. Sie trug sich sehr gerade und war sowohl hinsichtlich Antlitz wie Gestalt ungefähr das Gegenteil von Beweglichkeit. Auf dem Kopfe trug sie einen großen Strohhut mit dito Blumen, in dem sie aussah, als habe ein ungeschickter Arbeiter einem Turm ein Dach aufgesetzt, und in der Hand hielt sie einen Fächer von beispiellosen Dimensionen.

»Mr. Chuzzlewit, wie ich vermute?« begann der Gentleman.

»Ja, das ist mein Name.«

»Ich muß bemerken, Sir«, sagte der Gentleman, »daß meine Zeit sehr gemessen ist.«

»Gott sei Dank«, dachte Martin.

»Ich reise in meine Heimat zurück«, fuhr der Gentleman fort, »und zwar per Bahn. Der Zug kann jeden Augenblick abgehen. ›Abgehen‹ ist kein Wort, das bei Ihnen zu Hause üblich wäre, nicht wahr, Sir?«

»O doch«, versicherte Martin.

»Sie befinden sich im Irrtum, Sir«, entgegnete der Gentleman mit großer Entschiedenheit. »Aber lassen wir das Thema fallen. Ich liebe es nicht, Widerspruch zu erwecken. – Gestatten Sie, Sir: Mrs. Hominy.«

Martin verbeugte sich.

»Mrs. Hominy, Sir, ist die Gattin des Majors Hominy, eines unserer ersten Köpfe, und gehört einer der aristokratischsten Familien an. – Sie kennen vielleicht Mrs. Hominys Schrift.«

Martin mußte leider verneinen.

»Nun, da haben Sie noch viel zu lernen, und es stehen Ihnen noch große Genüsse bevor, Sir«, sagte der Gentleman. »Mrs. Hominy wird bis Ende des Jahres bei ihrer verheirateten Tochter in der Ansiedelung Neu-Thermopylae – drei Tagereisen vor Eden – wohnen bleiben. Jede Aufmerksamkeit, Sir, die Sie Mrs. Hominy auf der Reise erweisen, wird Ihnen den Major und unsere Mitbürger zu größtem Dank verpflichten. – Mrs. Hominy, ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht und viel Vergnügen für die Reise, Madame.«

Martin wollte es anfangs kaum glauben, aber Tatsache: da saß Mrs. Hominy und trank die Milch von seinem Kaffee.

»Ich bin wahrhaftig ganz und gar kaputt«, bemerkte sie. »Die Wagen stoßen, als ob der Schienenweg voller Knorren und Höcker läge.«

»Voller Knorren und Höcker?« stotterte Martin geistesabwesend.

»Nun ja, verstehen Sie denn nicht?« fuhr Mrs. Hominy auf. »Oder setzen Sie vielleicht Zweifel in meine Worte?«

Dann band sie sich kaltblütig ihre Hutbänder auf und sagte, sie wolle draußen in der Garderobe ablegen, werde aber gleich wiederkommen.

»Mark«, flüsterte Martin, »bitte, zwicke mich mal in den Arm. Sei so gut. Bin ich überhaupt wach?«

»Ja, ja, die Hominy ist schon echt«, entgegnete Mark, »’s is eins von den Weibsbildern, die, ob man sie nun bei Tag oder bei Nacht überrascht, immer die Augen offen haben und im Geiste für das Wohl ihres Vaterlandes arbeiten.«

Weiter kam er nicht, denn Mrs. Hominy stelzte wieder herein, sehr aufrecht – zum Beweise ihrer aristokratischen Abstammung –, und hielt in ihren gefalteten Händen ein rotes baumwollenes Taschentuch, wahrscheinlich ein Abschiedsgeschenk des Geistesheroen – des Majors. Sie hatte ihren Hut draußen gelassen und erschien jetzt in einer hocharistokratischen und klassischen Haube, die, unter dem Kinne zusammengebunden, eine Art Kopfputz bildete, der bewunderungswürdig zu ihrem Gesichte paßte. Martin bot ihr einen Stuhl an. Ehe er jedoch zu seinem eigenen Sitze zurückkehren konnte, hielt sie ihn mit den Worten zurück:

»Bitte, Sir, wo sind Sie gebucht?«

»Ich fürchte, meine Auffassungskraft ist nicht mehr die beste«, stotterte Martin; »ich bin wirklich außerordentlich müde. Auf mein Wort, ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

Mrs. Hominy schüttelte mit einem melancholischen Lächeln den Kopf, als wollte sie damit sagen: »Sogar die Sprache verleiden sie einem im alten Lande drüben.« Dann aber ließ sie sich zu der gnädigen Erklärung herab:

»Wo sind Sie her?«

»Ach so«, sagte Martin. »Ich stamme aus Kent.«

»Und wie gefällt Ihnen unser Land, Sir?«

»Wahrhaftig – hm – wirklich sehr gut«, stammelte Martin halb im Schlaf, »wenigstens – das heißt ziemlich, Madame.«

»Die meisten Fremden – namentlich die Engländer – sind sehr überrascht über das, was sie in den Vereinigten Staaten zu sehen bekommen.«

»Sie haben auch wahrhaftig allen Grund dazu, Madame«, versetzte Martin. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so überrascht.«

»Unsere Institutionen gehen ins Aschgraue, nicht wahr, Sir?«

»Der kurzsichtigste Mensch kann das auf den ersten Blick mit bloßem Auge sehen«, versicherte Martin.

Mrs. Hominy war Philosophin und Schriftstellerin und daher gewiß sehr abgehärtet, aber diese undezente und unziemliche Redensart war denn doch zu viel für sie. Ein Gentleman – allein mit einer Dame – und die Türe offen – und spricht von einem bloßen Auge!

Eine ziemliche Weile verging, ehe sie – obgleich sie eine Dame von männlichem, hochstrebendem Geiste war – so viel Mut aufbringen konnte, um das Gespräch wieder anzuknüpfen. Aber es gelang ihr, denn sie war eine vielgereiste Frau und schrieb Revuen und analytische Untersuchungen. Ihre Briefe aus dem Ausland, die sämtlich mit »Mein heiß geliebter Anonymus« begannen und mit »die Mutter der modernen Gracchen« unterzeichnet waren – unter den Gracchen verstand sie ihre verheiratete Tochter nebst Gatten –, erschienen regelmäßig in öffentlichen Journalen, die Ausbrüche ihrer Entrüstung mit fetter und die Sarkasmen mit gesperrter Schrift gedruckt. Mrs. Hominy hatte fremde Länder mit dem Auge einer vollkommenen Republikanerin – noch frisch aus dem Backofen – betrachtet und konnte folglich stundenlang von ihren Erlebnissen sprechen – oder schreiben. Sie setzte daher Martin tüchtig zu. Da er fest eingeschlafen war, hatte sie um so freieres Spiel und zermalmte ihn denn auch nach Herzenslust mit Gründen und Räsonnements.

Es ist ziemlich gleichgültig, was Mrs. Hominy sagte, genug, was sie sagte, hatte sie aus dem Geschwätz einer großen Klasse ihrer Mitbürger gelernt, die mit jedem Worte bekennen, daß sie für die hohen Prinzipien, aus denen Amerika als Nation ins Leben sprang, fühllos und unempfindlich sind. Allmählich wurde Martin soweit wach, daß er sich des Gefühls eines schrecklichen Alpdrucks bewußt wurde – eines halbfertigen Traumes, daß er einen lieben Freund ermordet habe und seine Leiche nicht los werden könne. Als er die Augen öffnete, stierte ihm das Phantom ins Gesicht und wandelte sich langsam in die schreckliche Mrs. Hominy, die immer noch tiefsinnige Wahrheiten in einem melodischen Schnüffelton heruntersprach und in ihrer Größe schwelgte, so daß des Majors bitterster Feind, wenn er sie gehört hätte, ihm aus dem Grunde seines Herzens vergeben haben würde. Martin wollte eben irgendeinen verzweifelten Schritt tun, aber in diesem Augenblick ertönte die Glocke zum Abendessen und erlöste ihn aus seiner Qual. Als er Mrs. Hominy am obern Ende der Tafel glücklich verstaut hatte, nahm er selbst seine Zuflucht zum untersten und stahl sich nach einem hastigen Mahl aus dem Speisesaal, während die Dame noch mit geräuchertem Ochsenfleisch und einem ganzen Teller von eingesalzenen Fixings beschäftigt war.

Es würde schwerhalten, sich einen richtigen Begriff von Mrs. Hominys Frische am nächsten Morgen oder von der Gier, mit der sie sich beim Frühstück kopfüber in »moralische« Themen stürzte, zu machen. Eine gewisse essigsaure Schärfe war wohl an ihr zu bemerken, aber das kam wahrscheinlich von den Mixed Pickles und den Fixings am Abend vorher. Den ganzen Tag über klammerte sie sich an Martin an; sie saß an seiner Seite, während er Leute empfing – denn immer noch nahmen die Besuche kein Ende –, entwickelte allerlei Theorien und beantwortete imaginäre Einwürfe mit einer Beharrlichkeit, daß Martin schließlich zu glauben begann, er träume und spreche für zwei. Sie zitierte endlose Stellen aus gewissen von ihr selbst geschriebenen Aufsätzen über Staatskunst – gebrauchte das Taschentuch des Majors, als ob das Schneuzen eine temporäre Krankheit sei, die sie um jeden Preis loswerden müsse –, kurz, sie war eine in jeder Hinsicht so merkwürdige Reisegefährtin, daß Martin innerlich zu dem Schlusse kam, das beste sei, solche Personen in jeder neuen Ansiedlung um des allgemeinen Friedens willen auf der Stelle mit einer Hacke totzuschlagen.

Unterdessen war Mark von morgens früh bis abends spät in die Nacht hinein beschäftigt, Vorräte jeder Art, Werkzeuge und andere Utensilien an Bord des Dampfbootes zu schaffen, die man ihnen, als in der Kolonie unentbehrlich, mitzunehmen angeraten hatte. Der Ankauf aller dieser Sachen und die Bezahlung ihres Logis im National-Hotel führte eine solche Ebbe in ihrer gemeinsamen Kasse herbei, daß, wenn der Kapitän mit der Abfahrt noch länger gezögert hätte, sie wahrscheinlich in derselben Klemme gewesen wären wie die mittellosen Auswanderer, die, durch die aufdringliche schreiende Annonce an Bord angelockt, wochenlang im Zwischendeck zugebracht und ihren armseligen Mundvorrat aufgezehrt hatten, ehe die Fahrt noch begonnen. Und solcher Auswanderer gab es viele auf dem Schiff. In Gruppen lagerten sie um die Maschine oder das Heizfeuer herum – Bauern, die noch nie einen Pflug geführt, Holzfäller, die noch nie eine Axt in der Hand gehabt, Baumeister, die keinen Koffer zusammenzimmern konnten, und alle ausgestoßen aus ihrer Heimat, ohne eine mitfühlende Seele zurückzulassen – Neulinge in einer neuen Welt, Kinder an Hilflosigkeit, Männer an Bedürfnis, mit kleinen Kindern auf den Armen –, um zu leben oder unterzugehen, wie es der Zufall eben fügen mochte.

Der Morgen kam, und gegen Mittag sollte die Reise losgehen. Aber der Mittag kam, und die Abreise wurde auf den Abend verschoben. Doch nichts dauert ewig in dieser Welt, nicht einmal die Saumseligkeit eines amerikanischen Bootskapitäns; und so war in der Nacht alles zur Abfahrt bereit.

Im höchsten Grade ermattet und entmutigt, aber mehr »Löwe« als je (er hatte den ganzen Nachmittag nichts anderes getan, als Briefe von Fremden zu beantworten, die sämtlich entweder leeres Stroh droschen oder Geld borgen wollten, aber sämtlich auf augenblickliche Antwort drängten), quetschte sich Martin durch ein Gedränge von Menschen, Mrs. Hominy am Arm, zum Kai durch und begab sich an Bord. Mark hingegen hatte sich in den Kopf gesetzt, das Rätsel der »Löwenschaft«, koste es, was es wolle, zu lösen, und lief daher, auf die Gefahr hin, das Schiff zu versäumen, noch einmal nach dem Hotel zurück.

Kapitän Kedgick saß in der Kolonnade, ein Eisgetränk auf den Knien und eine Zigarre im Mund, und rief, als er Marks ansichtig wurde:

»Was, um Gottes willen, führt Sie wieder hierher?«

»Aufrichtig gesagt, Kapitän«, keuchte Mark, »ich möchte Ihnen eine Frage stellen.«

»Fragen kann niemand verwehren«, entgegnete Kedgick, damit andeutend, daß man andererseits nicht verpflichtet sei, gestellte Fragen auch zu beantworten.

»Weshalb haben Sie so viel Wesens mit ihm gemacht?« fragte Mark schlau. »Na, sagen Sie’s mal ganz offen!«

»Unsere Bevölkerung liebt die Aufregung«, antwortete Kedgick, an seiner Zigarre saugend.

»Aber warum war sie denn aufgeregt?« forschte Mark.

Der Kapitän sah ihn mit einem Gesicht an, als habe er einen Riesenspaß auf der Zunge, wolle aber nicht recht mit der Sprache heraus.

»Sie wollten doch abreisen?«

»Wollten?« rief Mark. »Jede Sekunde ist kostbar für mich.«

»Na, dann hören Sie. Also, Mr. Chuzzlewit ist nicht wie die Emigranten im allgemeinen und hat die Leute seit seinem Hiersein ununterbrochen in Spannung erhalten –« der Kapitän blinzelte und brach in ein ersticktes Lachen aus »– jawohl, seit seinem Hiersein. – Scadder ist ein famoser Bursche und – und – niemand, der nach Eden geht, kommt lebendig wieder zurück.«

Der Dampferhalteplatz war ganz in der Nähe, und in diesem Augenblick hörte Mark seinen Associé rufen, er solle sich beeilen oder der Dampfer fahre ab. Es war daher zu spät, ein böses Gesicht zu machen oder die Sache noch zu ändern zu versuchen. Er gab daher dem Kapitän seinen Segen zum Abschied und raste davon wie ein Besessener. »Mark, Mark!« rief Martin.

»Da bin ich, Sir«, schrie Mark vom Rande des Kais herab und sprang mit einem Satz an Bord. »In meinem Leben war ich noch nicht halb so vergnügt wie gerade vorhin. Alles in Ordnung. Los!«

Dann sprühten die Funken aus den zwei Rauchfängen, als wäre das Fahrzeug ein eben erst angezündetes Feuerwerk, und dahin brausten sie auf dem dunkeln Gewässer.

23. Kapitel


23. Kapitel

Martin und sein Kompagnon treten ihren Besitz an. Dieser erfreuliche Anlaß gibt Gelegenheit zu einem weiteren Bericht über Eden

Martin bemerkte an Bord des Dampfschiffs einige Passagiere ganz desselben Schlages wie sein New Yorker Freund, Mr. Bevan, und das machte ihn bald wieder heiter und zuversichtlich. Die Herren befreiten ihn, so gut es eben gehen wollte, aus den intellektuellen Schlingen Mrs. Hominys und bewiesen in ihrem ganzen Reden und Tun so viel gesunden Menschenverstand und Hochherzigkeit, daß er sie gar nicht genug schätzen zu können glaubte.

»Wäre Amerika wirklich eine Republik der Intelligenz und des wahren Menschenwertes«, sagte er, »während sie nur blauen Dunst und Prellerei hervorbringt, so würde es hier nicht an Hebeln fehlen, die Staatsmaschine in Bewegung zu erhalten.«

»Aber gute Werkzeuge haben und schlechte gebrauchen«, entgegnete Mr. Tapley, »heißt das nicht ein erbärmlicher Zimmermann sein?«

Martin nickte: »Es scheint, als ob die Last der Arbeit ihre Zwecke und Kräfte unendlich übersteigt, und deshalb pfuschen sie.«

»Das schönste bei der Sache ist«, meinte Mark, »daß, wenn sie wirklich einmal etwas Anständiges ausführen, so wie bessere Arbeiter, die weniger vom Glück begünstigt sind, es täglich tun, ohne es für etwas Besonderes anzusehen, sie immer ein riesiges Aufhebens davon machen. Denken Sie an meine Worte, Sir! Wenn jemals der bankerotte Teil dieses Landes seine Schulden zahlen sollte – wenn er schließlich merkt, daß das Nichtbezahlen nicht angeht und unangenehme Folgen hat –, so werden sie so das Maul vollnehmen, als ob seit Erschaffung der Welt noch nie ein geborgter Dollar zurückgezahlt worden wäre. So belügen sie einander, Sir. Ich durchschaue die Burschen. Denken Sie an meine Worte, Sir.«

»Wahrhaftig, Sie sind ja schrecklich scharfsinnig auf einmal«, lachte Martin.

»Vielleicht kommt es daher«, brummte Mark, »daß ich eine Tagesreise näher an Eden bin und die Erleuchtung über mich kommt, ehe ich sterbe. Wer weiß, vielleicht werde ich gar ein Prophet, ehe wir noch in Eden sind.«

Er sprach diese Gedanken zwar nicht aus, aber die außerordentliche Fröhlichkeit, die sie in ihm hervorriefen, sagte genug. Obwohl Martin zuweilen tat, als habe er kein Verständnis für den unerschöpflich heitern Sinn seines Kompagnons, und manchmal – wie in dem Falle bei Mr. Zephania Scadder – seine Kommentare zu allem und jedem etwas gar zu spaßhaft fand, so war er doch immer empfänglich für die belebende und aufmunternde Wirkung des Beispiels, das ihm Mark Tapley gab.

Anfangs wurden ziemlich viel Reisende ein- oder zweimal des Tages an Land gesetzt und andere kamen dafür an Bord, aber je weiter sie stromauf fuhren, desto dünner schienen die Städte gesät zu sein, und oft dauerte es viele Stunden, ohne daß sie andere Ansiedlungen zu Gesicht bekamen als die Hütten der Holzfäller, an denen der Dampfer Brennmaterial einnahm. – Himmel, Wald und Wasser den ganzen lieben Tag lang und eine Hitze, die Blasen zog, wohin die Strahlen der Sonne fielen.

So ging es fort durch große Einöden, wo Buschwerk dicht und eng das Ufer bedeckte, Bäume in der Strömung trieben, aus der Tiefe ihre verdorrten Arme in die Höhe reckend oder vom Lande aus in das Wasserbett niedertauchten, halb noch wachsend, halb im schlammigen Wasser modernd. Fort und fort in ewiger Eintönigkeit, den ganzen Tag und die traurige Nacht, in der sengenden Sonnenglut und im Dunst und Nebel des Abends – immer weiter und weiter, bis ein Umkehren unmöglich war und ein Wiedersehen der Heimat nur noch wie ein Traum erschien.

Es waren schließlich nur noch wenige Passagiere mehr an Bord und diese so stumpfsinnig und träge wie die Vegetation der Ufer mit ihrem qualvoll ermüdenden Anblick. Keine Äußerung des Frohsinns oder der Hoffnung wurde laut, und kein angenehmes Geplauder verkürzte den trägen Lauf der Stunden. Und nirgends bildeten sich die kleinen Gruppen, wie es sonst auf Reisen der Fall zu sein pflegt, um durch Gespräche gegen die Öde der Landschaft anzukämpfen. Hätte man nicht zu gewissen Stunden aus einem gemeinschaftlichen Troge seine Nahrung verschlungen, so hätte man denken müssen, das Dampfschiff sei die Fähre des alten Charon, der melancholische Schatten zum jüngsten Gerichte führt.

Endlich kamen sie in die Nähe von Neu-Thermopylae, wo noch am selben Abend Mrs. Hominy an Land gehen wollte. Ein Strahl des Trostes senkte sich in Martins Herz, als sie ihm dies eröffnete. Mark war weniger trostbedürftig, aber auch ihm mißfiel diese Veränderung nicht.

Es war fast Nacht, als sie an dem Landungsplatz anlegten – steiles Gestade und darauf ein »Hotel«, das wie eine Scheune aussah, ein oder zwei hölzerne Magazine und einige zerstreut umherstehende Schuppen.

»Sie wollen wohl hier übernachten und dann morgen weiterreisen, Madame?« fragte Martin.

»Wohin sollte ich denn weiterfahren?« rief die Mutter der modernen Gracchen.

»Ich denke, doch nach Neu-Thermopylae?«

»Aber, das ist doch hier!«

Martin sah sich neugierig um, konnte jedoch nichts entdecken, was den Namen Neu-Thermopylae auch nur halbwegs verdient hätte.

»Aber da liegt es doch!« rief Mrs. Hominy und deutete auf den eben erwähnten Schuppen.

»Da?«

»Jawohl. Und man kann sagen, was man will, Eden läßt sich nicht damit vergleichen«, sagte Mrs. Hominy und nickte ausdrucksvoll mit dem Kopfe. Inzwischen war die verheiratete Tochter Mrs. Hominys an Bord gekommen, und ihr Gatte bestätigte stolz die Behauptungen seiner Schwiegermutter. Dankend lehnte Martin die Einladung der Herrschaften ab, für die halbe Stunde, während der das Boot anhielt, an Land zu gehen und dort etwas zu genießen; und nachdem er Mrs. Hominy und das rote Taschentuch, das immer noch in Tätigkeit war, glücklich über die Fallreepstreppe begleitet hatte, kehrte er in höchst nachdenklicher Stimmung zurück, um den Auswandrern zuzusehen, wie sie ihre Habe ausschifften.

Mark stand neben ihm und trachtete zuweilen verstohlen in seinen Zügen zu lesen, welchen Eindruck wohl die Worte Mrs. Hominys auf ihn gemacht haben mochten. Es wäre ihm lieb gewesen, Martins Hoffnungen herabgestimmt zu sehen, bevor sie ihren Bestimmungsort erreichten, damit der Schlag, den er befürchtete, nicht zu vernichtend ausfiele, aber Martin blickte nur dann und wann nach den ärmlichen Bauten auf dem Hügel und verriet mit keiner Miene, was in seinem Innern vorging, bis sie wieder weiterfuhren.

»Mark«, sagte er dann, »ist wirklich niemand außer uns an Bord, der mit nach Eden fährt?« »Keine Seele, Sir. Sie wissen doch, daß die meisten zurückgeblieben sind; die wenigen, die noch da sind, gehen weiter als nach Eden. Was liegt übrigens daran. Um so mehr Platz werden wir dort haben.«

»Freilich«, sagte Martin, »aber ich dachte – –« dann verstummte er plötzlich.

»Nun, Sir?« fragte Mark.

»Ist es nicht merkwürdig, daß die Leute ihr Glück in einem so elenden Nest wie diesem hier zum Beispiel versuchen wollen, während doch ein so viel besserer und ganz anderer Ort wie Eden von hier aus so leicht zu erreichen ist?«

Der Ton, in dem er dies sagte, war so verschieden von seiner gewöhnlichen Zuversicht und verriet so auffallend seine Furcht vor Marks Antwort, daß dieser in seiner Gutmütigkeit das tiefste Mitleid mit ihm empfand.

»Nun, wissen Sie, Sir«, sagte Mark so sanft und schonungsvoll wie möglich; »wir müssen uns hüten, nicht allzu sanguinisch zu sein; weshalb sollten wir es denn auch, da wir doch entschlossen sind, zum bösesten Spiele die beste Miene zu machen. Nicht wahr, Sir?«

Martin blickte ihn an, ohne eine Silbe zu erwidern.

»Auch Eden, wie Sie wissen, ist ja noch nicht vollständig aufgebaut.«

»Um Himmels willen, Mensch«, rief Martin zornig, »so nennen Sie doch nicht immer Eden in ein und demselben Atem mit diesem Dorfe hier. Sind Sie toll?! Übrigens seien Sie mir nicht böse, daß ich so aufbrause, ich bin ein wenig nervös.«

Damit wandte er sich ab und ging volle zwei Stunden unruhig auf dem Deck auf und ab. Auch sprach er, ein einziges »Gute Nacht« ausgenommen, kein Wort weiter bis zum nächsten Morgen, vermied auch dann noch das Thema geflissentlich und redete von andern, gleichgültigen Dingen.

Als sie weiterkamen und sich mehr und mehr dem Ziele ihrer Reise näherten, steigerte sich die einförmige Öde der Landschaft, die jetzt geradezu trostlos wurde, in so hohem Grade, daß man hätte meinen können, man sähe leibhaftig die grausen Domänen des Riesen Verzweiflung vor sich. Ein flacher Morast, mit gefällten Bäumen bedeckt, ein Moorboden, auf dem gesundes Wachstum einem abscheulichen Moder Platz gemacht hatte und sogar die Bäume das Aussehen riesiger Kräuter zu haben schienen, durch die herniedersengende Sonne aus dem Schlamme hervorgelockt. Wo todbringende Krankheiten auf der Lauer lagen, die Lebewesen zu vergiften, nächtlicherweise in Nebelgestalten hervorkommend, auf dem Wasser weiterkriechend und gespenstisch ihr Opfer verfolgend bis zum Tagesanbruch – wo sogar der helle Sonnenstrahl zum Schrecken wurde, wie er auf die modernden Elemente der Verderbnis und des Siechtums niederbrannte: das war das Land der Hoffnung, durch das sie jetzt vordrangen.

Endlich machten sie halt, und zwar in Eden. Wahrscheinlich waren die Wasser der Sintflut eben erst vor einer Woche abgelaufen, so erstickt von Schlamm und Dschungel war der abscheuliche Sumpf, der diesen Namen trug.

Da das Ufer in eine Sandbank auslief, mußten sie vermittelst eines Bootes ihre Habe an Land bringen. Einige Blockhäuser wurden zwischen den dunklen Bäumen sichtbar. Die besten sahen aus wie ein schlechter Kuh- oder Pferdestall. Von öffentlichen Kais, Marktplätzen, Gebäuden und so weiter – keine Spur.

»Da kommt jemand aus Eden«, rief Mark, »er kann uns unsere Sachen fortschaffen helfen. – Kopf hoch, Sir! – Hallo, Sie da!«

Sofort wankte der Mann, auf einem Stock gestützt, durch die Dunkelheit auf sie zu. Als sie näher kamen, bemerkten sie, daß er blaß und abgezehrt aussah und daß seine kummervollen Augen tief in ihren Höhlen lagen. Sein Anzug aus blauer Hausleinwand hing in Fetzen, und sein Kopf und seine Füße waren nackt. Auf dem halben Wege setzte er sich auf einen Baumstumpf, winkte ihnen heranzukommen, die Hand an die Seite gelegt, wie vor Schmerzen, holte tief Atem und starrte sie verwundert an.

»Fremde?« rief er, sobald er wieder sprechen konnte.

»Ja«, antwortete Mark. »Sind Sie krank, Sir?«

»Ich habe am Fieber darniedergelegen«, antwortete der Mann mit schwacher Stimme. »Ich habe viele Wochen lang nicht auf den Beinen stehen können. – Das sind wohl Ihre Sachen hier?«

Dabei deutete er auf das Gepäck.

»Ja, Sir, so ist’s«, versetzte Mark; »könnten sie uns nicht vielleicht jemanden empfehlen, der uns ein bißchen hülfe, es nach der Stadt hinaufzuschaffen? Wie?«

»Mein ältester Sohn würde es gerne tun, wenn er könnte«, entgegnete der Mann; »aber er hat heute wieder seinen Fieberanfall und liegt in Decken eingehüllt in seinem Bett. – Mein Jüngster starb vor einer Woche.«

»Ich bedaure Sie von ganzem Herzen, Sie Ärmster«, sagte Mark und drückte ihm die Hand; »kümmern Sie sich nicht um uns. Kommen Sie mit mir und reichen Sie mir den Arm. Ich werde Sie zurückführen. Unser Gepäck liegt sicher genug«, fügte er zu Martin gewendet hinzu; »es gibt hier nicht viele Menschen, die sich damit aus dem Staube machen könnten; das ist wenigstens ein Trost.«

»Nein«, rief der Mann, »die Menschen müßt ihr hier« – dabei stieß er mit dem Stock auf den Boden – »und dort im Gebüsch weiter nördlich suchen. Wir haben die meisten von ihnen begraben; die übrigen sind fortgezogen, und die noch hier sind, kommen bei Nacht nicht aus ihren Hütten.«

»Die Nachtluft ist wohl nicht sehr gesund?« fragte Mark.

»Sie ist ein tödliches Gift«, lautete die Antwort des Ansiedlers.

Mark verriet nicht mehr Unruhe, wie wenn sie ihm als Ambrosia geschildert worden wäre, reichte dem Manne seinen Arm, teilte ihm unterwegs die Geschichte ihres Kaufes mit und befragte ihn, wo ihr Besitztum liege.

»Dicht neben meinem eigenen Blockhaus«, sagte der Mann, »so dicht, daß wir Ihre Wohnung bisher als Vorratshaus für Welschkorn benützt haben.« Dann bat er Mark, sich noch diese Nacht zu gedulden. Morgen werde er es sich angelegen sein lassen, die Vorräte herauszuschaffen. Als etwas ganz Nebensächliches bemerkte er dabei, daß er den letzten Eigentümer eigenhändig begraben habe; eine Kunde, die Mark ebenfalls ohne die mindeste Erschütterung seines Gleichmutes hinnahm.

Sodann führte er Mark und Martin nach einem erbärmlichen, aus rohen Holzstämmen zusammengefügten Hause oder vielmehr einer Hütte, deren Türe ausgehoben war – vermutlich, um die Aussicht auf die wilde Landschaft und in die dunkle Nacht hinein zu erweitern. Mit Ausnahme des erwähnten kleinen Maisvorrates befand sich nichts darin. Sie holten daher eine ihrer Kisten vom Landungsplatz, und der Ansiedler lieh ihnen dazu eine Holzfackel. Mark befestigte sie auf dem Herde, erklärte, das Haus sehe jetzt ungemein gemütlich aus, und eilte dann mit Martin fort, um das Gepäck herbeischaffen zu helfen. Auf dem ganzen Hin- und Herwege plauderte er unablässig, um zu verhindern, daß sein Kompagnon ganz und gar in seiner Verzweiflung den Kopf verliere.

Aber wohl auch ein Kräftigerer als Martin wäre bei der so grausamen Zerstörung seines Luftschlosses niedergebrochen, und als sie die Blockhütte zum zweitenmal erreichten, warf er sich auf die Erde nieder und weinte laut.

»Kopf hoch, Sir, um Gottes willen, Kopf hoch!« rief Mr. Tapley in großem Schrecken. »Sie dürfen nicht so entmutigt sein. Nur nicht gleich die Flinte ins Korn werfen! Damit hat sich noch nie ein Mann, ein Weib oder ein Kind auch nur über den niedrigsten Zaun geholfen, Sir, und wird es auch niemals imstande sein. Und abgesehen davon, daß Ihr Weinen Ihnen nichts hilft, so macht es die Sache nur schlimmer, denn ich kann so etwas nicht mitansehen. Es wirft mich zu Boden. Alles, alles, nur das nicht!«

Zweifellos sprach er die Wahrheit, und der außerordentliche Schrecken, mit dem er Martin ansah, dabei auf den Knien vor der Kiste liegend, um sie aufzubrechen, bewies es hinlänglich.

»Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, lieber Freund«, jammerte Martin, »aber ich kann nicht anders. Und wenn man mir den Kopf herunterschlüge.«

»Mich um Verzeihung bitten?« rief Mark mit seiner gewohnten Heiterkeit und fuhr dabei fort, die Kiste auszupacken; »der Hauptassocié der Firma bittet die Kompagnie um Vergebung! Wie? Da muß etwas faul sein in der Firma. Ich muß auf der Stelle die Bücher nachsehen und die Rechnungen prüfen lassen. – So, da wären wir«, damit packte er die mitgebrachten Vorräte aus, »und jetzt alles an seinen richtigen Platz: hier das eingesalzene Schweinefleisch, hier der Zwieback, hier der Whisky – wie fein der riecht! – Und hier die Zinnkanne. Die Zinnkanne allein ist schon ein kleines Vermögen wert. Und hier die Decken und hier die Axt! Da soll einer noch sagen, daß wir nicht fein ausgestattet sind. Mir kommt’s fast so vor, als sei ich als Seekadett nach Indien gereist und mein edler Vater Präsident des Direktoren-Kollegiums. Nun, wenn ich noch etwas Wasser aus dem Fluß vor der Türe geholt und den Grog gemischt habe«, rief er und eilte hinaus, »so haben wir ein Abendessen fertig, das alle Delikatessen der Jahreszeit umfaßt. – So, Sir, und jetzt wird aufgedeckt. Ein Zigeunerlager ist ein Quark dagegen.«

Es wäre unmöglich gewesen, in der Gesellschaft eines solchen Menschen nicht Mut zu fassen. Martin setzte sich neben den Koffer auf den Boden, zog sein Messer heraus und aß und trank, was das Zeug hielt.

»Nun, sehen Sie«, sagte Mark, nachdem Sie ihrem Mundvorrat kräftig zugesprochen hatten, »mit unsern beiden Messern stecke ich diese Decke hier vor der Türe fest oder vielmehr dort, wo zivilisierte Zimmerleute das Loch zu lassen pflegen. Wie nett das jetzt aussieht! Dann verstopfe ich die Öffnung unten, indem ich die Kiste davorstelle. Auch das macht sich nicht übel. – So. – Und hier ist Ihre Schlafdecke und hier die meinige. Was kann uns jetzt hindern, eine famose Nacht zu verbringen?«

Trotz aller dieser leichtherzigen Reden dauerte es doch ziemlich lange, bevor er einschlief. Er wickelte seine Decke um sich, legte sich die Axt zur Hand und suchte sein Lager quer vor der Schwelle der Türe, war aber zu ängstlich und zu wachsam, um ein Auge schließen zu können. Das Ungewohnte ihrer traurigen Lage, die Furcht vor Raubtieren oder menschlichen Feinden, die schreckliche Ungewißheit, wie sie weiterhin an einem solchen Orte ihre Leben würden fristen können – der Gedanke an die immense Entfernung bis zu zivilisierten Orten und die ungeheueren Hindernisse, die sich vor ihnen auftürmen mußten, wenn sie daran dachten, England je wieder zu erreichen, mußten ihn notwendigerweise aufs höchste beunruhigen. Zwar stellte sich Martin schlafend, aber Mark fühlte ganz genau, daß er gleichfalls wachte und eine Beute derselben quälenden Befürchtungen war. Und das war fast schlimmer für ihn als alles andere, denn wenn er selbst anfing, sich dem Brüten über das gemeinsame Elend zu überlassen, statt den Versuch zu machen, dagegen anzukämpfen, so unterlag es wohl kaum einem Zweifel, daß eine derartige Gemütsstimmung den Einfluß der verpestenden Miasmen mächtig unterstützen mußte. Nie war daher der Tagesanbruch einem menschlichen Auge auch nur halb so willkommen wie ihm beim Erwachen nach qualvollem Schlummer. Er merkte den Sonnenaufgang daran, daß die Ritzen im Dach und die Lücken, die die Decke an der Türe freiließ, zu schimmern begannen.

Leise – da Martin noch schlief – schlich er hinaus, erquickte sich durch ein Bad in dem Fluß, der an der Türe vorbeiströmte, und warf einen Blick auf die Ansiedlung, die im Ganzen aus nicht mehr als zwanzig Hütten bestand, die Hälfte davon augenscheinlich unbewohnt, alle aber morsch und dem Verfalle nahe. Die schlechteste und elendeste darunter hieß das »Bankbureau des National-Kredit-Vereins«; und nur noch einige schwache Stützen hinderten das Gebäude, gänzlich im Schlamm zu versinken. Hie und da war augenscheinlich der Versuch gemacht worden, das Land zu lichten; – auch hatte man eine Art Feld abgesteckt, auf dem unter den Stümpfen und der Asche verbrannter Bäume eine spärliche Ernte von Welschkorn wuchs. An anderen Stellen war eine schlangenförmige oder zickzackartige Verzäunung angefangen worden, nirgends aber bis zur völligen Ausführung gediehen; und die umgefallenen Holzpflöcke verfaulten jetzt halb im Boden steckend. Drei oder vier abgezehrte Hunde, einige langbeinige Schweine, in den Lichtungen nach Nahrung suchend, und ein paar fast nackte Kinder, die aus den Hütten blickten – das waren so ungefähr die einzigen lebenden Wesen, deren er ansichtig wurde. Ein häßlicher Dunst, heiß und erstickend wie die Luft eines Backofens, stieg aus der Erde empor und lagerte sich über die ganze Umgegend; und wo der Fuß im Moorboden einsank, da drang eine schwarze Jauche empor, um die Spur wieder auszutilgen.

Ihr gemeinsamer Besitz bestand nur aus Urwald. Die Bäume waren so dick und standen so nahe beieinander, daß sie sich gegenseitig fast von ihren Plätzen verdrängten und die schwächsten, in seltsam verdrehte Formen gezwängt, wie Krüppel dahinsiechten. Aber auch die besten unter ihnen waren durch den Druck und den Mangel an Raum krank und verkümmert. Hoch um die Stämme herum wuchsen langes, wucherndes Gras, Unkraut und muffiges vermodertes Unterholz wie eine einzige verfilzte Masse, weder in der Erde noch im Wasser wurzelnd, sondern in einer fauligen Masse, die sich aus dem breiigen Abfall dieser beiden Elemente und ihrem eigenen Moder gebildet hatte.

Mark eilte zum Landungsplatz hinunter, wo sie gestern abend ihre Habe hatten stehen lassen, und fand dort ein halbes Dutzend Leute versammelt; alle bleich und elend, aber doch gerne zur Hilfe bereit und erbötig, ihm das Gepäck nach dem Blockhause tragen zu helfen. Sie schüttelten die Köpfe, als er von einer »Ansiedlung« sprach, und konnten ihm auch nicht einen Schimmer von Hoffnung oder Trost geben. Wenn einer noch die Mittel besessen, um wegzufahren, so hatte er alles im Stiche gelassen. Den armen Zurückgebliebenen waren ihre Weiber, Kinder, Freunde oder Brüder gestorben, und sie selbst hatten viel gelitten. Die Mehrzahl von ihnen lag ununterbrochen krank, trotzdem sie früher kerngesund gewesen.

Freiwillig boten sie Mark ihren Rat und Beistand an und entfernten sich dann, um an ihre eigenen Geschäfte zu gehen.

Inzwischen war Martin aufgestanden. Schon eine einzige Nacht hatte eine große Veränderung in ihm hervorgebracht: er sah blaß und erschöpft aus, klagte über Schmerzen und Schwäche in den Gliedern und sagte, daß ihn schon das Sprechen angreife. Um so mehr nahm Mark seine ganze Munterkeit und Tatkraft zusammen, schleppte eine Türe von einer der verlassenen Hütten herbei und nagelte sie an ihr eigenes Blockhaus. Dann ging er fort, um eine grobgeschnitzte Bank zu holen, die ihm ins Auge gefallen war, und kehrte im Triumph mit ihr zurück. Und nachdem er dieses herrliche Möbel draußen neben den Eingang gestellt hatte, pflanzte er die unschätzbare Zinnkanne und anderes Gerät darauf, so daß sie eine Art Anrichtetisch repräsentierte. Höchst zufrieden mit dieser getroffenen Einrichtung, rollte er das mitgebrachte Mehlfaß ins Haus und stellte es in einem Winkel als Ecktisch auf. Als Speisetisch mußte eine Kiste dienen. Die Decken, die Kleider usw. hängte er an Pflöcke und Nägel, und schließlich brachte er ein großes Plakat zum Vorschein, das Martin im Jubel seines Herzens eigenhändig im National-Hotel angefertigt hatte und das die Inschrift trug: Chuzzlewit & Comp., Architekt und Landvermesser, und klebte es höchst ernsthaft an die Fassade des Blockhauses, als ob die blühende Stadt Eden bereits existiere und die Firma mit Geschäften überlaufen sei.

»Diese Instrumente«, sagte er, entnahm Martins Reißzeug einen Zirkel und steckte ihn mit den beiden Spitzen in die Türe, »sollen hier vor aller Augen prangen, damit die Leute sehen, wie wir ausgerüstet sind. So. – Und wenn jetzt ein Gentleman ein Haus zu bauen gedenkt, so möge er sich beeilen, bevor wir anderweitig vergeben sind.«

In Anbetracht der herrschenden intensiven Hitze war dies keine schlechte Morgenarbeit gewesen, aber, ohne sich auch nur einen Augenblick Ruhe zu gönnen, trotzdem ihm der Schweiß aus jeder Pore rann, verschwand Mark wieder im Hause und kam gleich darauf mit einem Beil heraus. »Da steht ein häßlicher alter Baum im Wege, Sir«, bemerkte er, »wie wär’s, wenn wir ihn beseitigten und dann nachmittags an das Ofenbauen gingen? Was den Lehm in Eden anbelangt, glaube ich, könnt es keinen bessern in der ganzen Welt geben. – Jedenfalls ein Vorteil.«

Martin gab keine Antwort. Die ganze Zeit über saß er, den Kopf auf die Hand gestützt, da und starrte auf den rasch vorüberströmenden Fluß, und selbst der Schall der kräftigen Streiche, die Mark gegen den Baum führte, vermochte ihn nicht aus seinem kummervollen Brüten zu wecken.

Als Mark sah, daß alle seine Bemühungen, seinen Freund aufzumuntern, nutzlos blieben, hielt er in seiner Arbeit inne und trat auf ihn zu.

»Verlieren Sie den Mut nicht, Sir!« ermahnte er.

»Ach, Mark«, jammerte Martin, »was habe ich nur verbrochen, daß dieses schwere Los mir jetzt zuteil wird?«

»Ach, Sir, was das betrifft«, bemerkte Mark, »so könnten ja alle, die hier sind, dasselbe sagen. Viele vielleicht noch mit größerem Recht als Sie oder ich. – Kopf hoch, Sir. Am besten, Sie legen mit Hand an. Was meinen Sie, würde es Ihnen nicht vielleicht eine gewisse Erleichterung verschaffen, wenn Sie an Scadder einen groben Brief schrieben? – Wie?«

»Nein, nein«, sagte Martin und schüttelte kläglich den Kopf, »über das bin ich hinaus.«

»Nun, wenn Sie über das bereits hinaus sind«, entgegnete Mark, »müssen Sie krank sein und bedürfen der Pflege.«

»Kümmern Sie sich nicht um mich«, ächzte Martin. »Sorgen Sie nur für sich; Sie werden sowieso sehr bald nur noch an sich selbst zu denken haben. – Und dann helfe Ihnen Gott nach Hause und verzeihe mir, daß ich Sie hierher gelockt habe. Mein Los wird sein, hier zu sterben. Ich habe es in dem Augenblick gefühlt, als ich meinen Fuß an dieses Ufer setzte. Im Schlafen und im Wachen, Mark, habe ich die ganze Nacht davon geträumt.«

»Ich vermutete gleich, Sie müßten krank sein«, versetzte Mark mit Wärme, »aber jetzt bin ich davon überzeugt. Wahrscheinlich ein kleiner Fieberanfall, wie ihn die Wasserausdünstungen hier zur Folge haben. Aber, Gott, was will das weiter heißen. Es ist so eine Art Akklimatationsprozeß. Wir alle müssen uns daran einmal gewöhnen; das hat weiter nichts zu sagen.«

Martin seufzte nur und schüttelte den Kopf.

»Warten Sie noch eine halbe Minute«, tröstete Mark, »bis ich zu einem unserer Nachbarn gelaufen bin und gefragt habe, was man am besten dagegen einnehmen kann. Ich lasse mir dann ein bißchen von der Arznei geben, und Sie nehmen sie ein, und morgen werden Sie wieder so kräftig sein wie je. Ich bleibe keine Minute aus. Nur den Mut nicht verloren, während ich weg bin! Es wird alles wieder gut werden.«

Damit warf er sein Beil hin und eilte davon. In einiger Entfernung blieb er wieder stehen und blickte zurück. Dann nahm er seinen Lauf wieder auf.

»Nun, Mr. Tapley«, sagte er und gab sich einen fürchterlichen Schlag auf die Brust, um seinen Mut wieder zu beleben; »jetzt höre, was ich dir zu sagen habe. Die Dinge stehen so schlimm wie nur möglich, junger Mann; und so bald wirst du in deinem Leben wohl keine so günstige Gelegenheit wieder finden, deinen Humor zu beweisen, mein Junge. Darum Mark Tapley, jetzt oder nie!«

24. Kapitel


24. Kapitel

Wie sich gewisse Liebesangelegenheiten weiter entwickelten. – Haß, Eifersucht und Rache

»Hallo! Mr. Pecksniff«, rief Mr. Jonas aus dem Wohnzimmer, »wann wird denn endlich jemand hinausgehen und die Haustüre aufmachen?«

»Sogleich, Mr. Jonas, sogleich.«

»Mordselement«, brummte der verwaiste junge Mann. »Ich dächte, es wäre schon höchste Zeit. Jetzt ist schon dreimal geklopft worden, und jedesmal laut genug, um die –« er hatte eine solche Scheu vor dem Gedanken an die Auferweckung der Toten, daß ihm die Worte in der Kehle stecken blieben und er den Satz beendete; »– um die elftausend schlafenden Jungfrauen zu erwecken.« »Sogleich, Mr. Jonas, sogleich«, wiederholte Pecksniff. »Thomas« – er wußte nicht, sollte er Tom seinen lieben Freund oder einen Spitzbuben nennen, und schüttelte daher bloß die geballte Faust gegen ihn – »gehen Sie hinauf zu meinen Töchtern und sagen Sie ihnen, wer da ist. Sagen Sie ihnen, sie sollen sofort still sein. Hören Sie, Sir?«

»Sogleich, Sir«, rief Tom und eilte bestürzt fort, um seine Botschaft auszurichten.

»Sie müssen mich – ha ha ha! – entschuldigen, Mr. Jonas, wenn ich die Türe hier ein wenig schließe, wie?« sagte Pecksniff. »Ich glaube, es kommt jemand in Geschäftsangelegenheiten; das heißt, ich weiß sogar gewiß, daß es so ist. Ich danke Ihnen.« Dann trillerte er fröhlich ein ländliches Lied, setzte seinen Gartenhut auf, nahm einen Spaten in die Hand und öffnete die Haustüre, unbefangen auf die Schwelle tretend, als habe er das dunkle Gefühl, von seinen »Weinbergen« aus jemanden sachte klopfen gehört zu haben. Als er einen Gentleman und eine Dame vor sich sah, fuhr er verwirrt zurück, wie ein rechtschaffener Mann mit einem kristallklaren Gewissen beim Anblick einer ganz unerwarteten Erscheinung. Im nächsten Augenblick faßte er sich jedoch und rief:

»Mr. Chuzzlewit! Was sehe ich! Mein höchst wertgeschätzter Herr, o mein lieber Herr, das ist ja eine frohe Stunde. Eine glückliche Stunde. In der Tat! Bitte, treten Sie doch ein. Sie finden mich in meinem Gartenrock, aber Sie werden mich entschuldigen, ich weiß. Eine edle Beschäftigung von alters her, der Gartenbau. Wenn ich nicht irre, mein wertgeschätzter Herr, war Adam der erste Gärtner. Meine Eva, ich sage es mit Schmerz, ist nicht mehr, Sir. Aber« – er zeigte auf den Spaten und schüttelte den Kopf, als halte er nur mühsam seine Tränen zurück – »ich spiele immer noch ein klein wenig den Adam.«

Mittlerweile hatte er seine Gäste in das beste Wohnzimmer geleitet, wo seine Büste von Spoker und sein Porträt von Spiller hing.

»Meine Töchter«, säuselte er, »werden außer sich sein vor Freude. – Wenn ich ein solches Thema je satt bekommen könnte, so wäre es schon längst der Fall gewesen, mein werter Herr, so ununterbrochen haben die Mädchen von dem Glück, das jetzt eingetroffen ist, seit unserem Zusammentreffen bei Mrs. Todgers gesprochen. Und Ihre schöne junge Freundin«, fragte er, mit einem Blick auf Mr. Chuzzlewits Begleiterin, »die sie so lebhaft kennenzulernen wünschen – freilich, sie kennenlernen und lieben ist eins –, befindet sich doch hoffentlich wohl? – Und wenn ich sage: Willkommen unter meinem geringen Dache, so hoffe ich, finde ich ein Echo in ihrer Seele. Doch, wenn ihre Gesichtszüge ein Spiegel des Herzens sind, so habe ich keine Sorge darum. Ein außerordentlich anziehendes Antlitz, Mr. Chuzzlewit, werter Herr – ungemein anziehend.«

»Mary«, wandte sich der alte Mann an seine Begleiterin, »Mr. Pecksniff schmeichelt Ihnen. – Eine Schmeichelei von ihm ist nichts Alltägliches. Aber sie kommt ihm von Herzen. Wir dachten, Mr. – –«

»Pinch«, ergänzte Mary.

»Mr. Pinch sei vor uns angekommen, Sir?«

»Allerdings kam er vor Ihnen an, mein werter Herr«, entgegnete Mr. Pecksniff, seine Stimme erhebend, damit ihn Tom oben auf der Treppe hören könne. »Und er beabsichtigte wahrscheinlich, mir Ihre Ankunft zu melden, als ich ihn bat, zuerst in das Zimmer meiner Töchter zu gehen und nach Charitas zu fragen, weil das liebe Kind nicht so ganz wohl ist, als ich wünschen möchte. Nein – beunruhigen Sie sich nicht«, rief er als Antwort auf die besorgten Blicke seiner Gäste, »es tut mir gewiß leid, sagen zu müssen, daß sie nicht wohl ist – aber es ist nur ein nervöser Anfall, nichts weiter. Ich bin nicht in Unruhe deshalb. – – – Mr. Pinch! Thomas! Ach, bitte, kommen Sie doch herunter. Sie wissen, Sie sind kein Fremder hier. – – Thomas ist seit langer Zeit mein Freund« – erklärte er – »müssen Sie wissen.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, versetzte Tom, »es ist so gütig von Ihnen, daß Sie mich in dieser Weise vorstellen. Es ergreift mich tief.«

»Immer der alte Thomas«, rief der Architekt wohlwollend, »Gott segne Sie.«

Sodann berichtete Thomas, daß die jungen Damen sogleich erscheinen würden und die besten Erfrischungen, die das Haus bieten könne, soeben gemeinsam zubereiteten. Aufmerksam blickte ihn der alte Mr. Chuzzlewit an, und zwar mit weit weniger Härte, als er es sonst gewohnt war. Auch schien die beiderseitige Verlegenheit Toms und der jungen Dame – er konnte sich’s nicht erklären, woher sie rühren mochte – seiner Beobachtung nicht zu entgehen.

»Pecksniff«, sagte er nach einer Weile, stand auf und zog seinen Wirt in eine Fensternische, »ich war sehr erschüttert, als ich von dem Tode meines Bruders vernahm. Wir sind uns viele Jahre vollständig fremd gewesen. Mein einziger Trost ist, daß er glücklicher und als besserer Mensch gelebt haben muß, da er nur auf sich selbst baute und nicht, wie die andern, auf mich und mein Geld rechnete. Friede seiner Asche! Wir waren einstens gute Spielkameraden, und vielleicht wäre es für uns beide das beste gewesen, der Tod hätte uns schon damals ereilt.«

Da Mr. Pecksniff den alten Herrn in so versöhnlicher Stimmung sah, fing er an, einen Ausweg aus seinen Verlegenheiten zu sehen, bei dem er Jonas nicht über Bord zu werfen brauchte.

»Mein wertgeschätzter Herr, daß irgend jemand auf der Welt möglicherweise glücklicher sein kann, weil er mit Ihnen nicht in näherer Verbindung steht«, entgegnete er, »müssen Sie mir zu bezweifeln erlauben. Aber daß Mr. Anthony an seinem Lebensabend glücklich war, kann ich Ihnen versichern. Um so mehr, als er sich von seinem vortrefflichen Sohne – einem Musterbild, mein werter Herr, einem Musterbild für alle Söhne – heiß geliebt wußte. Außerdem stand er, sozusagen, unter der Obhut eines weitläufigen Verwandten, dessen guter Wille keine Grenzen kannte, wie unbedeutend auch seine Mittel sein mochten, ihm nützlich zu sein.«

»Was ist das!« rief Mr. Chuzzlewit mißtrauisch. »Sind Sie vielleicht mit einem Legat bedacht worden, Sir?«

»Ich sehe«, seufzte Mr. Pecksniff, »daß Sie mich immer noch nicht recht verstehen. – Nein, Sir, ich bin nicht mit einem Legat bedacht worden und bin stolz darauf, sagen zu können, daß es nicht so ist. Desgleichen rechne ich mir’s zur Ehre an, daß auch keines von meinen Kindern unter die Legatare gehört. Aber trotzdem, Sir, war ich Anthonys ausdrücklichem Wunsche gemäß in seinen letzten Stunden um ihn. Er verstand mich besser, Sir. Er schrieb mir in seinem letzten Brief: Ich fühle mich krank; ich fühle, daß es mit mir zu Ende geht. Bitte, kommen Sie zu mir. Und ich ging zu ihm. Ich saß neben seinem Bette, Sir, und stand neben seinem Grabe. – Allerdings geschah es auf die Gefahr hin, Sie zu verletzen, mein Herr. Aber ich tat es doch. Und wenn dieses Zugeständnis zu unserer Trennung führen und jene zarten Bande zerreißen sollte, die kürzlich zwischen uns geknüpft wurden, so kann ich es dennoch nicht in Abrede stellen. Aber ein Legatar bin ich nicht«, fügte er mit seligem Lächeln hinzu, »und rechnete auch niemals darauf. Ich wußte es von Anfang an.«

»Sein Sohn soll ein Musterbild sein?« rief der alte Mr. Chuzzlewit. »Wie können Sie mir das ins Gesicht sagen? – Auch auf meinem Bruder lastete der alte Fluch des Reichtums, dieser Wurzel allen Elends. Er schleppte diesen verderblichen Einfluß mit sich herum, wohin er ging, und steckte alles damit an, selbst seinen eigenen Herd. Sein eigenes Kind wurde dadurch zu einem gierigen Erbschaftsjäger, der jeden Tag und jede Stunde zählte, die das Leben seines Vaters vom Grabe trennten, und der dem langsamen Vorrücken der Zeit auf ihrem unheimlichen Wege fluchte.«

»Nein«, rief Mr. Pecksniff kühn, »durchaus nicht, Sir – Sie irren.«

»Aber ich habe doch gesehen, als ich das letztemal mit ihm beisammen war, welche Schatten in seinem Hause spukten«, widersprach Martin Chuzzlewit, »und habe ihn davor gewarnt. Soll ich vielleicht meinen eigenen Augen nicht glauben – ich, der ich so viele Jahre von dem gleichen Gespenste verfolgt wurde?«

»Ich stelle es in Abrede«, antwortete Mr. Pecksniff mit Wärme, »ich stelle es entschieden in Abrede. Der verwaiste junge Mann weilt jetzt in diesem Hause und sucht in einem Ortswechsel den Seelenfrieden, der so furchtbar gestört wurde. Und soll ich ihm vielleicht nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen, wo selbst der Leichenbestatter und der Sarglieferant von seinem Benehmen tief gerührt worden sind? Wo selbst die Officiers des Pompes-funèbres seines Lobes voll waren und der Arzt, der seinen Vater behandelte, nicht wußte, was er vor Gemütserregung und Rührung beginnen sollte? Da ist zum Beispiel eine Frauensperson namens Gamp, Sir – Mrs. Gamp –, die Sie selbst fragen können. Sie hat Mr. Jonas in der Zeit seiner schweren Prüfung selbst gesehen. Erkundigen Sie sich bei ihr, Sir! Sie ist eine höchst ehrenwerte Person und durchaus nicht sentimental, aber sie wird die Tatsache bestätigen. Ein paar Zeilen an Mrs. Gamp im Vogelladen, Kingsgate Street, High Holborn, London, werden gewiß umgehend und ganz in meinem Sinne beantwortet werden. Ich zweifle keinen Augenblick daran. Nehmen Sie sie in ein Kreuzverhör, mein werter Herr. Hören und sehen Sie selbst, Mr. Chuzzlewit, und dann können Sie beurteilen, ob ich recht habe oder nicht. Verzeihen Sie mir, mein wertgeschätzter Herr«, rief Mr. Pecksniff und erfaßte Martins beide Hände, »wenn ich warm werde, aber ich bin ein ehrlicher Mann und kann mit der Wahrheit nicht hinter dem Berge halten.«

Als Zeugnis dafür ließ er ein paar Tränen der Ergriffenheit aus seinem Auge niederträufeln.

Eine Sekunde lang sah ihn der alte Herr höchst erstaunt an und wiederholte dann für sich selbst: »Hier in diesem Hause?«

»Ich will ihn sehen«, rief er nach einer Pause.

»Aber doch hoffentlich nicht in Groll«, fragte Mr. Pecksniff besorgt. »Verzeihen Sie, Sir, wenn ich so spreche, aber er steht unter dem Schutz meiner armseligen Gastfreundschaft.«

»Ich habe gesagt, ich will ihn sehen«, wiederholte der alte Herr. »Wenn ich noch Groll gegen ihn hegte, würde ich gesagt haben: halten Sie ihn mir drei Schritte vom Leibe.«

»Gewiß, mein lieber Herr, gewiß, das hätten Sie gesagt. Ich weiß doch, Sie sind die Offenherzigkeit selbst. – Wenn Sie mich eine Minute entschuldigen wollen«, flötete Mr. Pecksniff und wandte sich zur Tür, »so will ich ihm dieses große Glück – nach und nach – und schonend mitteilen.«

Und tatsächlich leitete er diese Enthüllung so allmählich ein, daß eine ganze Viertelstunde verstrich, bevor er mit Mr. Jonas zurückkehrte. Mittlerweile erschienen auch die beiden jungen Damen, denn der Tisch stand zu einem Imbiß für die Reisenden bereit. Wie sehr nun auch Mr. Pecksniff in seinem Moralitätsgefühl Jonas ein pflichtgemäßes Benehmen gegenüber seinem Onkel eingeschärft und wie vollkommen Jonas bei seiner angebotenen Schlauheit ihre Wichtigkeit begriffen und aufgefaßt hatte, so war doch die Haltung des jungen Mannes, als er dem Bruder seines Vaters vorgestellt wurde, nichts weniger als männlich oder gewinnend. Es drückte sich vielmehr eine so auffallende Mischung von Trotz und Unterwürfigkeit, von Furcht und Keckheit, Hinterhältigkeit und Kriecherei in seinem ganzen Wesen aus, daß eine höchst peinliche Verlegenheitspause eintrat. Kaum hatte er seine Augen zu Mr. Martins Gesicht erhoben, so sah er auch schon wieder weg, öffnete seine Hände und schloß sie wieder verlegen zur Faust, trat von einem Fuß auf den andern, kurz, wußte nicht, was er sagen solle.

»Lieber Neffe«, begann der alte Herr, »wie ich höre, sind Sie ein höchst pflichtgetreuer Sohn gewesen.«

»Ich glaube, nicht pflichtgetreuer, als Söhne im allgemeinen sind«, brummte Jonas, blickte einen Moment auf und schlug dann die Augen wieder nieder. »Ich rühme mich nicht, besser zu sein als andere Söhne, kann aber auch andererseits sagen, daß ich nicht schlechter bin.«

»Sie seien ein vorbildliches Muster gewesen, hat man mir versichert«, fuhr der alte Herr fort und faßte Mr. Pecksniff scharf ins Auge.

»Mordselement«, rief Jonas, sah einen Moment auf und schlug dann abermals die Augen nieder. »Ein so guter Sohn, wie Sie ein Bruder waren, bin ich immer noch gewesen. Es ist die alte Geschichte vom Topf und vom Deckel, wenn Sie wollen.«

»Das Übermaß des Schmerzes hat Sie verbittert«, sagte Martin nach einer Pause, »geben Sie mir die Hand.«

Jonas tat es und schien aufzuatmen.

»Pecksniff«, flüsterte er, als sie ihre Stühle an den Tisch rückten, »ich hab ihm gut die Meinung gesagt, was? Der täte auch besser, vor seiner eigenen Türe zu kehren.«

Mr. Pecksniff antwortete bloß durch einen Stoß mit dem Ellbogen, was ebensogut ein unwilliger Verweis wie eine herzliche Zustimmung sein konnte; jedenfalls war es aber eine nachdrückliche Ermahnung an seinen künftigen Schwiegersohn, den Mund zu halten. Im nächsten Augenblick widmete er sich mit seiner gewohnten Leichtigkeit und Liebenswürdigkeit ganz seiner Pflicht als Herr vom Hause, seinen Gästen die Honneurs zu machen.

Aber nicht einmal seine arglose Heiterkeit brachte es zustande, eine solche Gesellschaft harmonisch zu stimmen, oder so gänzlich verschiedene Elemente, wie sie hier beisammen saßen, miteinander zu versöhnen. Die bodenlose Eifersucht und der Haß, den die Brautwerbung an diesem Abend entfacht, waren nicht so leicht auszurotten und brachen mehr als einmal mit solchem Nachdruck hervor, daß sekundenlang eine vollständige Enthüllung aller Umstände fast unvermeidlich schien, zumal die schöne Gratia, in dem Wonnegefühl, Siegerin geblieben zu sein, das Gefühl bitterer Enttäuschung in ihrer Schwester durch spöttisches Gesichterschneiden immer wieder aufstachelte und tausend kleine Versuche machte, Mr. Jonas‘ Treue auf die Probe zu stellen, so daß Charitas fast wahnsinnig wurde und schließlich in einem Ausbruch von Leidenschaft – kaum weniger heftig als im ersten Sturm ihres Zornes – den Tisch verlassen mußte. Der Zwang, der der Familie durch Mary Grahams Gegenwart – unter diesem Namen hatte der alte Mr. Martin Chuzzlewit seine Begleiterin eingeführt – auferlegt wurde, besserte die Sachlage keineswegs, wie sanft und ruhig auch das Benehmen des jungen Mädchens war. Mr. Pecksniff balancierte sozusagen auf der Messerschneide: einmal mußte er beständig den Frieden unter seinen Töchtern aufrecht erhalten und die althergebrachte Ehre in seinem Hauswesen retten und dann wieder die immer mehr steigende Heiterkeit und Sorglosigkeit Mr. Jonas‘ zügeln, der sich verschiedentliche Unverschämtheiten gegen Mr. Pinch und unbeschreibliche Taktlosigkeiten gegen Mary erlaubte, weil beide in seinen Augen ja nur ein paar abhängige Personen waren, – des Umstandes gar nicht zu gedenken, daß es eine wichtige Aufgabe für ihn sein mußte, seinen reichen alten Verwandten fortwährend in guter Stimmung zu erhalten und die Hunderte böser Omina, die an diesem Abend ihr loses Spiel trieben, zu paralysieren. Da ihm überdies niemand auch nur im geringsten in seinen Bemühungen beistand, kann man sich leicht denken, daß seine Gefühle recht gemischter Natur sein mußten. Vermutlich hatte er sich in seinem Leben noch nie so erleichtert gefühlt, als schließlich der alte Herr auf seine Uhr sah und ankündigte, daß es Zeit sei, aufzubrechen.

»Wir haben uns vorderhand«, sagte Martin, »im ›Drachen‹ einige Zimmer genommen; ich gehe zwar mit Vorliebe abends immer noch ein wenig spazieren, aber es wird jetzt schon so zeitig dunkel, daß ich Mr. Pinch bitten möchte, uns nach Hause zu leuchten. Geht das?«

»Aber, mein wertgeschätzter Herr«, rief Pecksniff, »ich selbst mache mir das Vergnügen daraus. Gratia, mein Kind, bitte die Laterne!«

»Nein, nein, meine Liebe«, wehrte der alte Herr ab. »Ich kann nicht zugeben, daß Ihr Vater heute abend so spät noch ausgeht. – Kurz und gut, ich will es nicht.«

Mr. Pecksniff hatte bereits seinen Hut in der Hand, aber Mr. Chuzzlewit sprach mit solcher Bestimmtheit, daß er innehielt.

»Ich kann nur Mr. Pinchs Begleitung annehmen, sonst müßte ich vorziehen, allein zu gehen«, sagte Martin. »Was von beiden soll also gehen?«

»Dann begleitet Sie natürlich Tom Pinch, Sir«, rief Mr. Pecksniff, »wenn Sie es schon durchaus nicht anders haben wollen. – Thomas, mein lieber Freund, haben Sie die Güte, ja recht achtzugeben.«

Tom bedurfte einigermaßen dieser Ermahnung, denn er fühlte sich so im Innersten aufgewühlt und zitterte dermaßen, daß es ihm schwer wurde, die Laterne zu halten, – um wieviel schwerer erst, als sie, auf des alten Herrn Geheiß, ihren Arm in den seinen legte.

»Sie haben also, Mr. Pinch«, fing Martin Chuzzlewit an, als sie auf dem Heimweg waren, »Sie haben also eine recht behagliche Stellung hier – nicht wahr?«

Tom versicherte womöglich mit noch mehr Enthusiasmus als gewöhnlich, daß er gegen Mr. Pecksniff Dankesverpflichtungen habe, die er, und wenn er ihm sein ganzes Leben hindurch umsonst dienen würde, nur ungenügend abstatten könne. »Wie lange haben Sie meinen Neffen gekannt?«

»Ihren Neffen, Sir?« stotterte Tom. – »Ja, Mr. Jonas Chuzzlewit.«

»Ach ja so«, rief Tom sehr erleichtert, denn er hatte an Martin gedacht, »natürlich ja. – Ich habe ihn heute abend das erstemal gesprochen, Sir.«

»Bei ihm, dächte ich, würde es Gratisdienste einer halben Lebenszeit bedürfen, um seine Freundlichkeiten in genügendem Maße heimzuzahlen. – Nicht?« bemerkte der alte Herr.

Tom begriff, daß das ein Hieb war, und fühlte auch, daß die Bemerkung in zweiter Linie seinem Herrn gelten sollte. Er schwieg daher. Mary sah, daß es mit Mr. Pinchs Geistesgegenwart nicht weit her war und sie, so wie die Sachen standen, nicht wenig genug sagen könne, sie schwieg deshalb gleichfalls. Der alte Mann seinerseits sah in seinem gewohnten Mißtrauen in dem Lobe Mr. Pecksniffs eine ebenso schamlose wie ekelhafte Liebedienerei und faßte daher sofort das Vorurteil, den armen Mr. Pinch für einen hinterlistigen, kriecherischen und erbärmlichen Speichellecker zu halten. Deshalb schwieg auch er. Die allgemeine Stimmung war infolgedessen ziemlich unbehaglich. Am wenigsten wohl befand sich dabei der alte Herr, da er anfangs eine große Zuneigung zu Tom empfunden und dessen offenkundige Schlichtheit ihn sehr angesprochen hatte.

»Du bist eben auch wie die andern«, brummte er und sah dem ahnungslosen Tom scharf ins Gesicht. »Du hättest mich beinah hinters Licht geführt, aber so leicht geht das Gott sei Dank nicht. Deine Kriecherei ist zu dick aufgetragen und verrät sich von selbst.«

Während des ganzen übrigen Spazierganges wurde kein Wort weiter gewechselt. Die erste Begegnung mit Mary, der Tom so lange mit klopfendem Herzen entgegengesehen hatte, zeichnete sich durch nichts als durch Verlegenheit und Verwirrung aus. So schieden sie voneinander an der Türe des Drachen.

Seufzend löschte Mr. Pinch die Laterne aus und kehrte im Dunkeln wieder über die Felder zurück.

Als er sich der ersten Wegschranke näherte – einer einsamen Stelle, die durch eine Anpflanzung junger Föhren in tiefem Schatten lag –, glitt ein Mann an ihm vorbei, machte, an der Schranke angelangt, halt und setzte sich auf den Schlagbaum. Tom blieb verblüfft einen Augenblick stehen; aber gleich darauf schritt er auf den Unbekannten zu. Es war, wie sich herausstellte, Jonas, der jetzt seine Beine hin und her baumeln ließ, an dem Knopf seines Stockes saugte und ihn höhnisch anblickte.

»Gott bewahre«, rief Tom, »wer hätte gedacht, daß Sie es wären! – Sie sind uns also nachgegangen?«

»Ach, Sie sind’s?« sagte Jonas. »Scheren Sie sich zum Teufel!«

»Das ist nicht besonders höflich, dächte ich«, bemerkte Tom.

»Für Sie höflich genug«, entgegnete Jonas. »Wer sind Sie eigentlich?«

»Ein Mensch, der so gut ein Recht hat auf Höflichkeit wie irgendein anderer« versetzte Tom gelassen.

»Das ist dummes Zeug. Sie lügen. Sie haben kein Recht auf irgendwelche Höflichkeit. Sie haben überhaupt auf nichts ein Recht. Nette Frechheit, von Rechten zu sprechen! Ha, ha, Rechte!«

»Wenn Sie in dieser Weise fortzufahren gedenken«, erwiderte Tom, und das Blut stieg ihm ins Gesicht, »so würden Sie mich verbinden, wenn Sie mich vorbeiließen. Ich hoffe jedoch, Sie werden jetzt aufhören, den Spaß noch weiter zu treiben.«

»Ja, ja, das ist so eure Manier, ihr Hunde«, knurrte Mr. Jonas; »wenn ihr seht, daß einer im vollen Ernst spricht, so tut ihr, als hieltet ihr’s für Spaß, um nicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Aber bei mir zieht so was nicht; das ist ein alter, abgedroschener Trick. – Na, hören Sie doch gefälligst zu, Mr. Pitch oder Titch oder wie Sie sonst heißen.«

»Mein Name ist Pinch«, bemerkte Tom, »wenn Ihnen daran liegt, mich bei meinem ehrlichen Namen zu nennen.«

»Was! Man darf Sie nicht einmal beim unrechten Namen nennen? Was!« rief Jonas. »Lehrlinge aus dem Armenhaus wollen am Ende gar noch die Nase hoch tragen. Donnerwetter noch einmal, in der Stadt wissen wir besser, mit solcher Sorte umzuspringen.«

»Es kümmert mich nicht, wie man in der Stadt verfährt. Also was haben Sie mir zu sagen?«

»Folgendes, Mr. Pinch«, zischte Jonas und schnellte sein Gesicht vor, daß Tom erschreckt einen Schritt zurückprallte. »Ich rate Ihnen, halten Sie Ihren Mund und mischen Sie sich nicht in Sachen, die Sie nichts angehen. Ich habe Ihre kriecherische Art durchschaut, mein Lieber, und rate Ihnen, dergleichen zu lassen, bis ich mich mit einer von Pecksniffs Jungfern verheiratet habe. Das könnte mir gerade fehlen, daß Sie sich bei meinen Verwandten einschmeicheln. Sie wissen ganz gut, wenn ein knurrender Hund lästig fällt, so wird er durchgepeitscht. So, das ist mein freundlicher Rat. Haben Sie verstanden. Was? – Hol mich der Teufel, wer sind Sie eigentlich«, rief Jonas verächtlich, »daß Sie mit denen da nach Hause gehen dürfen, außer hinterdrein, wie jeder andere Bediente ohne Livree?«

»Schon gut«, rief Tom, »ich sehe, es ist besser, Sie lassen mich vorbei, damit ich nach Hause gehen kann. Bitte, machen Sie Platz, wenn’s gefällig ist.«

»Fällt mir nicht im Traume ein«, höhnte Jonas und spreizte seine Beine nur noch mehr; »vielleicht später, wenn’s mir paßt, aber momentan paßt’s mir zufällig nicht. – – Wie?! Sie fürchten wahrscheinlich, daß ich Ihnen jetzt eins auf die Schnauze haue, Sie Schleicher.«

»Ich fürchte mich im allgemeinen überhaupt nicht viel und ganz bestimmt nicht vor Ihnen. – Ich bin übrigens kein Achselträger, wie Sie zu glauben scheinen, und verachte alle Gemeinheit. Sie irren sich vollständig in mir. – – Heißt das wirklich gentlemanlike von jemandem gehandelt«, rief Tom unwillig, »der sich, wie Sie, in einer angenehmeren Stellung befindet. Aber ich bitte Sie jetzt allen Ernstes, lassen Sie mich vorbei. Je weniger Worte ich mache, desto besser ist es.«

»Ja, das stimmt«, entgegnete Jonas und blieb frech sitzen. »Sie scheinen überhaupt gern wenig Worte zu machen; was? Donnerwetter, ich sollte nur herausbekommen, was zwischen Ihnen und einem gewissen vagabundierenden Mitglied meiner Familie vorgeht! Ich wette, daß da natürlich auch wieder ›gar nichts‹ dahinter steckt.«

»Ich kenne kein vagabundierendes Mitglied Ihrer Familie«, rief Tom empört.

»Doch. Sie kennen eins.«

»Nein. Der Namensvetter Ihres Onkels, wenn Sie diesen meinen, ist kein Vagabund. Jeder Vergleich zwischen Ihnen und ihm« – Tom schnappte, allmählich in Zorn geratend, mit den Fingern – »fällt unendlich zu Ihrem Nachteile aus.«

»So, so, tut er das«, spöttelte Jonas; »und was halten Sie von seiner Geliebten – seiner bettelhaften geliebten Hinterlassenschaft? Was, Mr. Pinch?!«

»Es ist das beste, ich rede kein Wort mehr. Ich bleibe auch keinen Augenblick länger mehr hier.«

»Wie gesagt, Sie sind ein Lügner!« schrie Jonas. »Halt! Sie haben hier zu bleiben. Verstanden! Warum gehorchen Sie nicht?« Und er schlug mit seinem Stock nach Toms Kopf, aber im nächsten Augenblick flog dieser wirbelnd durch die Luft, und er selbst lag zappelnd im Gras.

Während des kurzen Ringens hatte Mr. Pinch seinen Gegner, ohne es zu wollen, mit der Stockzwinge an der Stirne verletzt, so daß das Blut reichlich aus einer ziemlich tüchtigen Wunde an der Schläfe hervorquoll. Thomas merkte es erst, als er sah, daß Jonas sein Taschentuch auf die verletzte Stelle drückte und beim Aufstehen taumelte.

»Haben Sie sich verletzt?« fragte er. »Oh, das täte mir wirklich sehr leid. Stützen Sie sich auf mich, Sir. Sie brauchen mir deswegen nicht zu verzeihen, wenn Sie noch Groll gegen mich hegen. Ich wüßte freilich nicht, warum Sie mir zürnen sollten, denn ich habe Sie doch nicht beleidigt, ehe wir uns hier trafen.«

Jonas gab keine Antwort und schien anfangs weder ein Wort zu verstehen, noch zu merken, daß er verwundet war, trotzdem er mehrmals das Taschentuch von der Wunde nahm und das Blut ansah. Endlich schien er zu sich zu kommen, wenigstens blickte er Tom wild an, und der Ausdruck seines Gesichtes verriet, daß er langsam begriff, was vorgefallen war, und daß er die Angelegenheit nicht so bald zu vergessen gedenke. Dann wandten sie sich beide stumm zum Heimweg. Jonas ging einige Schritte voraus und Tom Pinch folgte ihm, traurig und bekümmert bei dem Gedanken, welch tiefe Betrübnis die Kunde von diesem Streit seinem trefflichen Wohltäter bereiten werde.

Das Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf, als Jonas schließlich an der Tür klopfte, Miss Gratia herausleuchtete und beim Anblick ihres verwundeten Bräutigams laut aufschrie. Stumm folgte er den beiden in die Wohnstube, und als Jonas zu reden begann, glaubte er, es drehe sich alles um ihn wie ein Wirbelwind.

»Macht kein weiteres Aufhebens davon«, brummte Jonas ärgerlich, »es ist nicht der Rede wert. Ich habe den Weg verfehlt, und die Nacht ist sehr dunkel, und gerade, als ich Mr. Pinch begegnete, rannte ich an einen Baum. Es ist nur eine Schramme.«

»Kaltes Wasser, Gratia, mein Kind«, rief Mr. Pecksniff. »Einen Umschlag, eine Schere, ein Stück alte Leinwand. Liebe Cherry, bitte, richte eine Bandage her. – Gott im Himmel, Mr. Jonas!«

»Hol Sie der Kuckuck mit Ihrem dummen Gewäsch«, murrte liebreich der Schwiegersohn in spe. »Helfen Sie lieber mit, wenn Sie können, und wenn nicht, dann lassen Sie mich gütigst in Frieden.«

Trotz der Aufforderung ihres Vaters, Hilfe zu leisten, blieb Miss Charitas lächelnd und kerzengerade in ihrem Sessel sitzen und rührte keinen Finger. Gratia wusch die Wunde aus, und Mr. Pecksniff hielt den Kopf des Patienten mit beiden Händen, als ob er sonst rettungslos entzwei gehen müßte. Tom Pinch schüttelte in der Qual seines Schuldbewußtseins ununterbrochen eine Flasche mit kölnischem Wasser, bis es nur noch ganz ordinärer englischer Schaum war, und hielt in der andern Hand ein riesiges Tranchiermesser, das gegen die Geschwulst gedrückt werden sollte, machte aber dabei ein Gesicht, daß ein Unbefangener geglaubt haben würde, er warte nur darauf, bis sein Gegner verbunden worden sei, um ihm dann sofort den Todesstoß zu versetzen.

Bis zum Schluß leistete Charitas nicht den mindesten Beistand und ließ auch nicht ein Wort des Trostes laut werden.

Als schließlich Mr. Jonas‘ Kopf verbunden, der Patient zu Bett gebracht und alles im Hause ruhig geworden war, saß Mr. Pinch sinnend auf seiner Bettstatt und machte sich allerlei Gedanken über den Vorfall, da hörte er plötzlich ein leises Klopfen an seiner Türe, und als er öffnete, sah er zu seinem großen Erstaunen Miss Cherry, die Finger an die Lippen gelegt, vor sich stehen.

»Mr. Pinch«, flüsterte sie, »lieber Mr. Pinch, sagen Sie mir die Wahrheit. Nicht wahr, Sie haben das getan? Sie haben Streit mit ihm gehabt und ihn geschlagen! Es muß so gewesen sein, ich lasse mir’s nicht nehmen.« Es war das vielleicht das erstemal im Laufe vieler Jahre, daß sie so freundlich zu Tom sprach. Kein Wunder daher, daß er anfangs nicht ein Wort hervorbringen konnte.

»War es so oder nicht?« drängte Charitas.

»Er hat mich gereizt«, stotterte Tom.

»Dann habe ich also recht«, rief Charitas mit leuchtenden Augen.

»Ja, allerdings. Ich geriet mit ihm in Streit, weil er mich nicht vorbeilassen wollte«, berichtete Tom. »Aber wahrhaftig, es lag nicht in meiner Absicht, ihn so stark zu verletzen.«

»So stark!« rief Charitas, ballte zu Toms großer Verwunderung die Hand und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Reden Sie nicht so. Es war wacker von Ihnen; ich schätze Sie deshalb. Wenn Sie wieder in Streit mit ihm geraten, so schonen Sie ihn nicht! Schlagen Sie ihn nieder und setzen Sie ihm den Fuß auf die Brust, aber sagen Sie keinem Menschen ein Sterbenswort davon. – Lieber Mr. Pinch, von heute an bin ich Ihre Freundin und werde es immer bleiben.«

Damit wandte sie ihr glühendes Gesicht Tom zu, und der wutverzerrte Ausdruck ihrer Mienen verriet, was in ihr vorging. Sie ergriff seine Hand, drückte sie an ihre Brust und küßte sie. Es lag durchaus nichts Verfängliches in dieser Handlungsweise, und sogar Tom Pinch, der sich doch gewiß keiner besonderen Beobachtungsgabe rühmen konnte, erkannte aus der Erregung, mit der sie es tat, daß sie jede Hand, die Jonas Chuzzlewit den Schädel eingeschlagen hätte, würde liebkost haben, gleichgültig, wie schmutzig und schmierig sie auch gewesen wäre.

Von einer Flut von Gedanken überwältigt, legte sich Tom zu Bett. Daß ein so schreckliches Zerwürfnis in der Familie hatte stattfinden müssen, denn nur dies konnte den ganzen Vorgang erklären und die Ursache sein, weshalb Charitas Pecksniff so plötzlich seine Freundin geworden war, daß Jonas, dem er so arg mitgespielt, sich so hochherzig gezeigt, das Geheimnis ihres Streites zu bewahren, und daß er selbst sich so hatte gehenlassen, das waren zu ernste und peinliche Betrachtungen, als daß er so bald die Augen hätte schließen können. Die Reue über seine Heftigkeit bedrückte ihn schließlich so sehr, daß er zu glauben begann, er sei von geheimen Mächten dazu verdammt, der böse Engel seines Gönners zu sein. Endlich aber fiel er doch in Schlaf und träumte – eine neue Quelle zur Unruhe nach seinem Erwachen –, daß er das ihm geschenkte Vertrauen verraten und Mary Graham entführt habe.

Aber nicht nur im Schlaf, sondern auch im Wachen war sein Verhältnis zu dieser jungen Dame peinlich und beunruhigend genug für ihn. Je öfter er sie zu Gesicht bekam, desto mehr mußte er ihre Schönheit, ihren Verstand und ihre liebenswürdigen Eigenschaften bewundern, die selbst auf den Familienzwist in Mr. Pecksniffs Hause einen wohltätigen Einfluß übten und binnen kurzem wenigstens einen Schein von Harmonie und gutem Einvernehmen zwischen den beiden feindlichen Schwestern wieder herstellten. Wenn sie sprach, hielt er den Atem an, und wenn sie sang, lauschte er wie ein Verzückter. Sie spielte auf seiner Orgel, und von diesem beseligenden Zeitpunkt an begann dieses Instrument – der alte Gefährte seiner seligsten Stunden –, obschon er es zuvor bereits über alles geliebt, für ihn eine Art geweihter Gegenstand zu sein.

Nicht weniger schwierig wurde seine Lage durch den Umstand, daß zwischen ihm und der jungen Dame niemals auch nur ein Wort über Martin gesprochen wurde. Voll Ehrenhaftigkeit seines Versprechens eingedenk, gab er ihr zwar alle möglichen Gelegenheiten zu einer Aussprache und war früh und spät in der Kirche oder auf ihren Lieblingsspaziergängen im Dorf, im Garten, auf den Wiesen, kurz an allen Orten, wo sie es hätte ungeniert tun können; aber immer vermied sie in solchen Fällen sorgsam seine Gesellschaft und kam ihm nie ohne Begleitung in den Weg. Der Grund dafür konnte nicht gut darin liegen, daß sie ihn nicht leiden mochte oder ihm mißtraut hätte, denn sie zeichnete ihn vielmehr, wenn andere zugegen waren, durch tausend zarte, nur für ihn berechnete kleine Aufmerksamkeiten aus und war gegen ihn die Freundlichkeit selbst. Konnte sie etwa mit Martin gebrochen oder vielleicht gar seine Liebe niemals erwidert haben, trotzdem dieser davon fest überzeugt gewesen? Toms Wangen erglühten vor Selbstvorwurf bei diesem Gedanken.

Während dieser ganzen Zeit kam und ging der alte Martin in seiner gewohnten, eigenwilligen Weise oder sonderte sich, in Gedanken vertieft, ab, ohne jemanden mit seinem Verkehr in Anspruch zu nehmen. Trotzdem er sich durchaus nicht umgänglich zeigte, war er jetzt doch niemals mehr eigensinnig, streitsüchtig oder mürrisch. Auch schien er nie vergnügter zu sein, als wenn man ihn ganz unbeachtet bei dem Buche, das er gerade las, sitzen ließ und sich ohne weitere Rücksicht auf ihn in seiner Gegenwart miteinander unterhielt. Es war vollkommen unmöglich herauszubekommen, für wen oder wofür er sich interessierte, und wenn man ihn nicht direkt anredete, schien er weder Augen noch Ohren zu haben für das, was um ihn herum vorging.

Eines Tages saß die sonst so lebhafte Gratia mit niedergeschlagenen Augen unter einem schattigen Baume des Kirchhofs, wohin sie sich zurückgezogen, nachdem sie sich in allerlei Heimsuchungen von Mr. Jonas‘ Geduld erschöpft hatte, da bemerkte sie mit einem Male, daß ein Schatten zwischen sie und die Sonne trat, und als sie die Augen aufschlug in der Erwartung, ihren geliebten Bräutigam zu erblicken, war sie nicht wenig überrascht, statt dessen den alten Martin vor sich stehen zu sehen. Ihr Erstaunen steigerte sich noch, als er sich neben sie auf den Rasen setzte und mit folgenden Worten ein Gespräch eröffnete:

»Wann werden Sie heiraten?«

»Ach du lieber Gott, Mr. Chuzzlewit, ich weiß es selber nicht; hoffentlich nicht so bald.«

»Hoffentlich?« versetzte der alte Mann.

Er sagte dies mit sehr ernstem Tone, aber Gratia nahm es für Scherz und kicherte ausgelassen.

»Na«, fuhr Mr. Chuzzlewit mit ungewöhnlicher Milde fort, »Sie sind eben noch jung, hübsch und, wie ich glaube, auch gutmütig – allerdings auch etwas leichtsinnig. Sie scheinen sich wenigstens darin zu gefallen. Aber Sie müssen doch einigermaßen Herz und Gefühl besitzen.« »Ich habe mein Herz noch nicht so ganz verschenkt, wie Sie vielleicht glauben, kann ich Ihnen versichern«, versetzte Gratia schlau lächelnd und zupfte ein paar Grashalme aus.

»Aber doch teilweise?«

Die junge Dame warf die Grashalme in die Luft, wendete ihr Gesicht ab und schwieg.

Martin wiederholte seine Frage.

»Ach Gott, lieber Mr. Chuzzlewit, warum fragen Sie? Was Sie doch für ein seltsamer Mensch sind.«

»Sie finden es seltsam, daß ich zu wissen wünsche, ob Sie den jungen Mann lieben, den Sie dem Vernehmen nach heiraten sollen?« rief Martin. »Ist es da so wunderbar, daß ich frage?«

»Sie wissen doch, er ist ein ekelhafter Mensch«, schmollte Gratia.

»Dann lieben Sie ihn also nicht? Habe ich das so zu verstehen?«

»Aber, lieber Mr. Chuzzlewit, ich habe ihm mindestens hundertmal des Tages gesagt, daß ich ihn nicht leiden kann. – Sie müssen es doch gewiß selbst schon gehört haben.«

»Allerdings schon oft«, gab Martin zu.

»Und es ist mir ernst damit«, rief Gratia; »es ist mein vollkommenster Ernst.«

»Und trotzdem wollen Sie ihn heiraten?«

»Nun ja. Aber ich habe ihm von Anfang an versichert, wenn ich je heirate – nämlich ihn –, so täte ich es nur, um ihn mein ganzes Leben lang zu hassen und zu quälen.«

Sie fühlte sehr richtig, daß Jonas bei dem alten Mann nicht besonders beliebt war, und glaubte daher mit dieser Äußerung ihm einen Gefallen zu tun. Befremdlicherweise hatte es aber jetzt durchaus nicht den Anschein, als ob Martin Chuzzlewit damit einverstanden sei, denn als er ihr antwortete, geschah es im Tone größter Strenge.

»Sehen Sie um sich!« sagte er und deutete auf die Gräber. »Und bedenken Sie, daß von der Stunde ihrer Trauung an bis zu dem Tage, wo Sie sich in ein solches Bett legen, keine Umkehr mehr möglich ist. Sprechen und handeln Sie einmal wie ein vernünftiges Geschöpf. Sagen Sie mir ganz offen, tut man Ihren Neigungen irgendwelchen Zwang an? Drängt man Sie zu dieser Verbindung? Versucht man Sie vielleicht hinterlistig dazu zu verlocken? Ich will nicht fragen, wer es tut – aber habe ich recht?«

»Nein«, hauchte Gratia und zuckte die Achseln. »Nicht, daß ich wüßte.«

»Wirklich nicht?«

»Nein«, wiederholte Gratia »niemand hat mir auch nur mit einem Worte zugeredet, und wenn man es versucht hätte, würde ich nicht einen Augenblick zugehört haben.«

»Man sagte mir, er habe anfangs als der Verehrer Ihrer Schwester gegolten«, forschte Martin.

»Ach, du lieber Gott, Mr. Chuzzlewit, wenn er auch ein Ekel ist, so wäre es doch unrecht, ihn für anderer Leute Eitelkeit verantwortlich zu machen«, rief Gratia, »und die liebe gute Cherry ist das eitelste Ding von der Welt.«

»Also sie hat sich geirrt?«

»Jedenfalls. Aber seitdem ist sie so schrecklich eifersüchtig und widerwärtig gewesen, daß es rein unmöglich war, mit ihr auszukommen. – Ich habe mich daher von ihr ferngehalten.«

»Also nicht gezwungen oder überredet«, murmelte Martin gedankenvoll. »Ja, ja, kein Zweifel, es ist so. – Doch ich sehe noch eine dritte Wahrscheinlichkeit. Sie haben sich durch Ihre Unüberlegtheit zu dieser Verbindung verleiten lassen. Es war also vielleicht eine vorschnelle oder leichtsinnige Handlung. Habe ich recht?«

»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, rief Gratia geziert, »was den Leichtsinn betrifft, so bin ich freilich so leicht wie eine Feder – mein Leichtsinn zieht mich förmlich in die Höhe wie ein Luftballon. – Ich weiß, daß das bei Ihnen zum Beispiel nie der Fall gewesen ist.«

Der alte Herr hatte sie ruhig und geduldig ausreden lassen und sagte dann mit sanfter, jedoch fester Stimme und bemüht, ihr Vertrauen zu gewinnen:

»Wünschen Sie vielleicht – oder lebt vielleicht etwas wie Hoffnung in Ihrem Innern, die sich in Stunden der Überlegung zu einem solchen Wunsche umgestalten könnte – dieses Verlöbnis wieder aufzuheben?« Schmollend blickte Miss Gratia auf den Boden, rupfte wieder ein paar Grashalme ab und zuckte die Achseln. – – Nein, sie sei sich keines derartigen Wunsches bewußt – glaube fest, diese Frage verneinen zu können, – ja, könne es sogar mit Bestimmtheit tun. – Die Sache sei ihr vollständig – gleichgültig.

»Und haben Sie nie daran gedacht«, rief Martin, »daß Ihre Ehe elend, unglücklich und voll Bitternis werden könnte?«

Wieder blickte Gratia zu Boden und riß jetzt die Grashalme heftig mit der Wurzel aus.

»Aber, lieber Mr. Chuzzlewit, wie abscheulich ernst Sie reden! Natürlich werde ich mich mit ihm zanken; aber ich würde mich mit jedem andern Manne auch zanken. Verheiratete Leute, glaube ich, streiten doch immer miteinander. Und was Sie da reden von Elendsein, Bitternis und all den schrecklichen Geschichten, so könnte uns ein derartiges Schicksal nicht gut treffen, ohne daß er den Löwenanteil davon abbekäme. – – Er ist schon jetzt mein vollkommener Sklave«, kicherte sie.

»Nun denn«, seufzte Martin und stand auf, »mag die Sache ihren Lauf nehmen. Ich wollte nur wissen, wie es mit Ihrem Herzen steht, mein Kind, und Sie haben es offen vor mir enthüllt. Ich wünsche Ihnen alles Glück« – er sah sie fest an und deutete auf das Kirchhofpförtchen, durch das Jonas soeben eintrat, und dann entfernte er sich, ohne seinen Neffen abzuwarten, und ging auf einem andern Wege hinaus.

»Ach, der schreckliche alte Griesgram«, schmollte Gratia und schüttelte fröhlich ihre Locken, »was für ein abscheuliches Ungeheuer, bei hellichtem Tag auf den Kirchhöfen herumzuwandern und einen zu erschrecken, daß man fast den Verstand verliert. – – Bleiben Sie nur dort, wo Sie sind, Sie Unhold, oder ich laufe davon!«

Der »Unhold« galt Mr. Jonas, der sich jedoch dadurch nicht abschrecken ließ und sich neben Gratia auf den Rasen niederließ.

»Wovon hat mein Onkel gesprochen?« fragte er verdrießlich.

»Von Ihnen«, antwortete Gratia; »er sagte, Sie verdienten mich gar nicht.« »Na ja, natürlich, das wissen wir alle. Hoffentlich macht er uns ein Brautgeschenk, das wenigstens dafür steht«, brummte Jonas. »Hat er vielleicht etwas derartiges fallenlassen?«

»Gar keine Spur«, rief Gratia sehr entschieden.

»Alter Geizkragen«, murmelte Jonas. »Nun, Schätzchen?«

»Ja, Sie Unhold«, fuhr Miss Gratia mit geheucheltem Erstaunen auf, »ja, was erlauben Sie sich denn, Sie Unhold?«

»Ich wollte Sie nur ein bißchen knutschen«, sagte Jonas enttäuscht, »es ist doch hoffentlich nichts Unrechtes dabei.«

»Sogar sehr viel, wenn es mir nicht paßt«, antwortete Gratia. »Rücken Sie weg, – Sie machen mir heiß.«

Mr. Jonas zog seinen Arm zurück und sah sie einen Augenblick lang eher wie ein Mörder als wie ein Liebhaber an. Doch gleich darauf wurde er wieder freundlicher und begann:

»Ich wollte nur fragen, Schatz –«

»Was sagen Sie da, Sie gemeiner Kerl?« rief die zärtliche Braut.

»– wann wir endlich miteinander ins reine kommen werden. Ich kann doch nicht hier mein halbes Leben vertrödeln, und auch Pecksniff meint, daß mein Alter erst vor kurzem gestorben sei, hindere weiter nicht. Wir könnten uns hier unten in aller Stille trauen lassen, und mein Verwaistsein wäre bei den Nachbarn der beste Grund und die beste Entschuldigung, daß ich so bald eine Frau heimführe. Besonders eine, die mein Vater bei Lebzeiten gekannt hat. Und was den Mr. Totenknochen, meinen Onkel, anbelangt, so wirft er uns gewiß auch keinen Knüppel in den Weg; wenigstens sagte er diesen Morgen noch zu Pecksniff, wenn Sie einverstanden seien, Cousine, so habe er gar nichts dreinzureden. Also was ist, Schatz? Wann soll’s losgehen?«

»Da hört sich denn doch –« begann Gratia.

»Was meinen Sie zu nächster Woche?« fiel ihr Jonas ins Wort.

»Zu nächster Woche? – Wenn Sie von dem nächsten Vierteljahr gesprochen hätten, würde ich mich schon über Ihre Unverschämtheit gewundert haben.«

»Aber ich habe nicht von dem nächsten Vierteljahr gesprochen, nur von der nächsten Woche.« »Und dann, Sie Unhold«, rief Gratia, stand hastig auf und stieß ihn von sich, »dann sage ich nein; nicht die nächste Woche. Nicht eher, als bis es mir gut dünkt, und das wird noch mehrere Monate dauern. So!«

Jonas blickte vom Boden auf und sah sie an, fast so finster, als hätte Tom Pinch vor ihm gestanden.

»So ein garstiger Kobold mit einem Pflaster über dem Auge möchte hier noch herumkommandieren oder gar etwas dreinzureden haben«, gellte Gratia. »Das fehlte gerade noch.«

– Mr. Jonas schwieg noch immer. –

»Wenn’s nächsten Monat geschieht, ist’s Zeit genug; aber ich werde mir auch das noch bis morgen überlegen. – – Und wenn es Ihnen nicht paßt, kann die Sache ja überhaupt ganz und gar unterbleiben«, setzte sie hinzu. »Und wenn Sie mir jetzt nachgehen und mich nicht in Ruhe lassen, so unterbleibt’s gleichfalls. – So! Und wenn Sie nicht alles tun, was ich Ihnen befehle, so wird überhaupt nichts draus. Also ruhig hiergeblieben. – So! Sie Kobold!« – – Und mit diesen Worten hüpfte Gratia fröhlich davon.

»Na, warte nur, mein Kätzchen«, murmelte Jonas ihr nachblickend und zerbiß wütend einen Strohhalm; »das werde ich dir heimzahlen, wenn wir nur erst mal verheiratet sind. Vorderhand muß ich mir’s ja leider gefallen lassen; aber schuldig bleiben werde ich dir nichts, darauf kannst du dich verlassen. – – Übrigens ein scheußlich widerwärtiger Ort hier, um allein dazusitzen. Von jeher habe ich die moderigen alten Kirchhöfe nicht leiden können.«

Als er in die Allee hinaustrat, blickte Miss Gratia, die inzwischen weit vorausgeeilt war, zufälligerweise zurück.

»Ja, ja«, brummte Jonas mit einem finstern Lächeln, »treib’s nur so fort, solang’s noch geht. Jetzt bist du noch frei und kannst tun und lassen, was du willst.«

25. Kapitel


25. Kapitel

Handelt zum Teil von Berufsangelegenheiten und gibt dem Publikum manchen wertvollen Wink, wie man Kranke pflegt

Umringt von seinen Penaten, genoß Mr. Mould in stiller Wonne das beseeligende Glück häuslicher Ruhe. Da der Tag schwül und das Fenster offen war, hatte Mr. Mould seine Beine auf das Fensterbrett gelegt und lehnte sich mit dem Rücken an den offenen Laden; über seine schimmernde Glatze hatte er der Fliegen wegen ein Schnupftuch gebreitet. Im Zimmer duftete es würzig nach Punsch, und ein großes, mit diesem lieblichen Getränk gefülltes Gefäß stand im Handbereich auf einem runden Tischchen. So trefflich war der Trank gemischt, daß, wenn Mr. Moulds Auge in das kühle, durchscheinende Naß blickte, ein zweites Auge hinter der Zitronenschale hervor ihm hell wie ein Stern entgegenfunkelte.

Mr. Moulds Etablissement lag weit drin in der City im Cheapviertel. Sein Harem, oder besser gesagt, das Wohnzimmer von Mrs. Mould und Familie lag nach rückwärts hinaus über dem kleinen Comptoir hinter dem Laden mit der Aussicht auf einen kleinen schattigen Friedhof. In diesem traulichen Stäbchen nun saß Mr. Mould und blickte als zufriedener und friedlicher Mann auf seinen Punsch und sein häusliches Besitztum. Wenn sein Auge für eine Sekunde nach weiterer Aussicht umherspähte, um dann mit erneutem Eifer zu den Ergötzlichkeiten des Gemaches zurückzukehren, wanderte sein feuchter Blick wie ein Sonnenstrahl durch ländlich schlichtes Gitterwerk von Feuerkresse, die an gespannten Bindfäden vor dem Fenster in die Höhe rankte, hinaus, und mit der Miene eines Künstlers schaute er auf die Gräber nieder.

In seiner Gesellschaft befanden sich sein Ehegespons und seine beiden Zwillingstöchter. Jede der Misses Mould war fett wie ein Rebhuhn, und Mrs. Mould fetter als beide zusammengenommen. Ihre stattlichen Proportionen waren so voll und rund wie die Leiber zu den Engelsgesichtern unten im Laden. Nur ausgewachsener. Selbst ihre Pfirsichwangen waren aufgeblasen, als seien sie von Rechts wegen bestimmt, in himmlische Posaunen zu stoßen.

Zärtlich blickte jetzt Mr. Mould auf seine dicht neben ihm sitzende Gattin, die ihm bei seinem Punsch wie in allen andern irdischen Dingen treu zur Seite stand. Die seraphinischen Töchter erfreuten sich gleichfalls ihres Anteils seiner Zuneigung und lächelten ihm von Zeit zu Zeit freundlich zu. So gesegnet war Mr. Moulds Besitzstand, so groß die Menge der zu seinem Beruf gehörigen Handelsartikel, daß selbst hier, mitten im Allerheiligsten seiner Häuslichkeit, ein Wandschrank aus Mahagoni stand, der mit Leichentüchern, Totenhemden und anderer Grabwäsche bis zum Rande angefüllt war. Trotzdem die Misses Mould gleichsam unter den Augen dieses bedeutungsvollen Möbels aufgewachsen waren, so hatte es doch keinen Schatten auf ihre Kinderjahre oder die fröhliche Zeit ihrer blühenden Mädchenschaft zu werfen vermocht. Von der Wiege auf gewöhnt, Einsegnungs- und Begräbnisszenen zu spielen, waren die Misses Mould gegen dergleichen abgehärtet. Trauerflore bedeuteten für sie nur soundso viele Ellen Seide oder Krepp und die Totenhemden nur ein Stück Leinwand. Von dem Schauspielerrock, dem Kleide einer Hofdame oder einer Parlamentarierrobe konnten sich die Misses Mould allenfalls noch romantische Ideen machen, aber Bahrtücher waren für sie etwas ganz Banales; fertigten sie sie doch zuweilen selber. Mr. Moulds Wohnung war gegen das Getöse in den Hauptstraßen fast ganz und gar abgeschlossen. Sie lag in einem stillen Winkel, wo der Lärm der City zu einem schläfrigen Summen herabsank, das dann und wann anstieg, dann wieder leise wurde und manchmal ganz verstummte, so daß man glauben konnte, in dem geräuschvollen Verkehr von Cheapside sei plötzlich eine Stockung eingetreten. Funkelnd und blinzelnd fiel das Tageslicht durch das Spalier von Feuerkresse herein, als ob der Friedhof draußen Mr. Mould vertraulich zuwinkte und sagte: »Wir verstehen einander, was?« Und aus einem entfernt liegenden Gewölbe tönte das liebliche Klopfen des Sargtischlergehilfen mit seinen melodischen Hammerschlägen, rat, tat, tat, tat, und wirkte ebenso förderlich auf den Schlummer wie auf die Verdauung.

»Ganz wie das Gesumme sommerlicher Insekten«, murmelte Mr. Mould und schloß wollüstig die Augen. »Es gemahnt einen an die Laute der belebten Natur draußen in den ackerbautreibenden Distrikten; es ist wie das Klopfen des Baumspechts.«

»Am Ulmenbaum klopfet der Specht«, trällerte Mrs. Mould, den Text des Volksliedes durch das Wort Ulme bereichernd, aus welchem Holz bekanntlich die Särge angefertigt werden.

»Ha ha ha«, lachte Mr. Mould, »famoser Witz, meine Liebe. Wirklich sehr gut, ich habe schon viel schlechtere in den Sonntagsblättern gelesen.«

Höchst aufgeräumt ob dieses Lobspruchs nahm Mrs. Mould einen herzhaften Schluck Punsch und reichte dann das Glas ihren Töchtern hin, die ehrerbietig ihrem Beispiel folgten.

»Ulmenbaum«, wiederholte Mr. Mould und zappelte aus Freude über den hübschen Spaß ein wenig mit den Beinen. »Im Liede ist’s, glaube ich, eine Buche, was? Ja ja, natürlich, ha ha ha, wirklich einer der besten Witze, die ich je gehört habe.«

Die Variante mit der Ulme schien ihm so ungemein zu gefallen, daß er sie gar nicht vergessen konnte und vielleicht zwanzigmal hintereinander vor sich hin murmelte: »Ulme, ha ha, natürlich, haha! Meiner Seel, das sollte man einem Witzblatt einschicken! Der beste Scherz, den ich je gehört habe. Ulme! Ja ja, natürlich, ha ha ha!«

Da klopfte es plötzlich an die Stubentüre.

»Das ist Tacker«, rief Mrs. Mould, »ich erkenne ihn an seinem Schnaufen. Wenn man ihn so hört, sollte man glauben, daß er immer genug Wind hat, um allein die Trauerfederbüsche zum Wehen zu bringen – kommen Sie nur herein, Tacker!«

»Bitt um Entschuldigung«, murmelte Tacker und spähte zur Tür herein. »Ich hab gemeint, der Herr wäre hier.«

»Na ja, ich bin ja auch hier«, meldete sich Mr. Mould.

»Meiner Seel, ich hab Sie gar nicht gesehen«, sagte Tacker und steckte den Kopf ein wenig weiter zur Türe herein. »Ich denk, es wird Ihnen wahrscheinlich nicht passen, einen Auftrag für ein ordinäres Begräbnis anzunehmen. Gemeines Fichtenholz und eine Blechplatte.«

»Nein, nein«, entgegnete Mr. Mould, »viel zu ordinär. Ausgeschlossen.« »Ich hab auch gleich gesagt, es sei zu schofel«, bemerkte Mr. Tacker.

»Sagen Sie nur den Leuten, sie sollten sich zu jemand anderem bemühen. Ich nehme keine solchen Aufträge an«, grollte Mr. Mould, »eine Unverschämtheit, mir mit so was zu kommen. Wer ist’s denn übrigens?«

»Hm«, meinte Tacker stockend, »sehen Sie, das ist’s ja eben; es ist der Schwiegersohn vom Kirchspieldiener.«

»Ach so, der Schwiegersohn vom Kirchspieldiener«, sagte Mould, »na gut, dann will ich’s ausnahmsweise übernehmen, vorausgesetzt, daß der Kirchspieldiener selbst in seinem dreieckigen Hut mitgeht, sonst aber nicht. Dann hat’s wenigstens einen dienstlichen Anstrich, und man kann die Sache vor sich selber rechtfertigen; aber wohlverstanden: der dreieckige Hut muß mit.«

»Ich werd’s ausrichten, Sir«, erwiderte Tacker. »Ja, und dann ist auch noch Mrs. Gamp unten und wünscht mit Ihnen zu sprechen.«

»Sie soll heraufkommen«, sagte Mould. »Ah, da sind Sie ja, Mrs. Gamp! Nun, Mrs. Gamp, was bringen Sie uns Neues?«

Die würdige Dame war inzwischen eingetreten und machte Mrs. Mould ihren Knicks. Im Augenblick erfüllte ein eigentümlich würziger Duft das Zimmer, als sei eine Fee, die lang in einem Weinkeller eingesperrt gewesen, vorbeigeflogen und habe das Aufstoßen gekriegt.

Mrs. Gamp antwortete nicht auf Mr. Moulds Frage, sondern machte abermals einen Knicks, hob die Hände in die Höhe und blickte gen Himmel, wie in einem Dankgebet, daß sie Mrs. Mould so wohl aussehend finde. Sie war sauber, wenn auch nicht festtäglich gekleidet und trug den Trauerrock, in dem schon Mr. Pecksniff das Vergnügen gehabt hatte, sie kennenzulernen.

»Es gibt halt scho so glückliche Leut«, bemerkte Mrs. Gamp, »wo mit der Zeit immer jünger werden, und da ghörn Sie auch dazu, Mrs. Mould. So jemandem kann halt die Zeit nix anhaben. Solche Leut bleiben halt immer jung. Noch vor kurzem hab i zu der Harris gsagt«, fuhr Mrs. Gamp fort, »grad am letzten Montagabend vor vierzehn Täg hab i zu der Harris gsagt, grad als sie zu mir gsagt hat, die Jahre und unsre Leiden, Frau Gamp, hat s‘ gsagt, gehen niemals nicht spurlos an uns vorüber. Reden S‘ net so, liebe Harris, hab i gsagt, wann mir gute Freund bleiben solln, denn dös kann net a jeds von sich behaupten. Schauen S‘, die Frau von Mould, hab i gsagt, und i bin so frei, den Namen zu wiederholen« – wieder machte sie einen Knicks – »is eine von denen, wo schnurstracks ein Beweis für das Gegenteil sin, und niemals, liebe Harris, hab i gsagt, so lang i noch an Atemzug machen kann, kann i Ihna deswegen recht geben. – ›Na ja, dös is was anders‹, hat die Harris gesagt, ›da geb i Oma gern nach, und übrigens, wenn je a Frauensperson glebt hat, wo sich für ihre Mitmenschen die Füß ablaufen möcht, so heißt diese Frauensperson Sarah Gamp.‹«

Hier mußte die würdige Dame einen Augenblick innehalten, um Atem zu holen, und wir wollen diese Pause benützen, um zu bemerken, daß ein undurchdringliches Geheimnis die sagenhafte Mrs. Harris umgab. Niemand aus den Kreisen von Mrs. Gamps Bekanntschaft hatte sie jemals gesehen, noch wußte ein menschliches Wesen, wo sie wohnte, obgleich Mrs. Gamp beständig mit ihr in Verbindung zu stehen schien. Die widerstreitendsten Gerüchte waren diesbezüglich im Umlauf, doch herrschte die Ansicht vor, Mrs. Harris sei ein Phantom und Mrs. Gamps Gehirn entsprungen, ähnlich wie das Daimonion des Sokrates, und ausdrücklich zu dem Zwecke geschaffen, mit Mrs. Gamp visionäre Zwiegespräche zu halten und jedesmal mit einem Kompliment auf ihre Vortrefflichkeit zu schließen.

»Und jetzt gar die Freud«, fing Mrs. Gamp wieder an und wandte ihren tränenumflorten Blick den beiden Misses Mould zu, »die zwei jungen Damen zu sehen, wo i scho kennt hab, wo s‘ noch kan Zahn net im Mund ghabt ham. I weiß noch wie heut, wie s‘ in der Werkstatt drunten Begrabn gspielt haben und das lange Bestellbuch in der eisernen Kisten zur ewigen Ruh bestattet ham. O mein, wo sin die Zeiten, Mr. Mould! Net wahr, Mr. Mould?«

»Veränderung ist der Lauf der Zeit, Mrs. Gamp«, versetzte der Leichenbestatter.

»Es werden noch viel mehr Veränderungen kommen, eh’s mit der Veränderung a End hat«, scherzte Mrs. Gamp mit schalkhaftem Nicken. »So junge Damen mit so hübsche Gesichter denken auch an was anders als ans Begrabn, meinen S‘ net auch, Mr. Mould?«

»Da kann ich Ihnen wirklich keine Auskunft geben, Mrs. Gamp«, kicherte Mould, »nicht schlecht von Mrs. Gamp, was meine Liebe?«

»Ach ja, Sie wissen’s ja ganz gut«, sagte Mrs. Gamp, »und Mrs. Mould, Ihre hübsche Ehehälfte, weiß es auch, und i selbst weiß es ebenfalls, wann mir auch der Segen, a Töchterl zu haben, versagt geblieben is. Na ja, i bitt Ihna, und wann mir auch a Töchterl kriegt hätten, der Gamp hätt ihm gewiß die klanen Schuh von die Füß weg versoffen, wie er’s nachher mit unserm lieben Buam tan hat. I denk’s noch wie heut. Da hat er den Buam fortgeschickt, er soll eam seinen Stelzfuß verkaufen und Schnaps dafür holen. Und der Bub hat’s tan, und merkwürdig gscheit für seine Jahre hat er’s gmacht, aber nachher hat er’s beim Anmäuerln verlurn und is nach Haus kemman und hat gflennt und hat gsagt, er wollt ins Wasser gehen, wann wir nur wieder gut wären – o mein; Sie wissen ja, Mr. Mould.«

Mrs. Gamp wischte sich mit ihrem Schal eine Träne aus dem Auge. »Es steht noch so manchs andre in die Zeitungen, wie Geburten und Begräbnisse. Net wahr, Mr. Mould?«

Mr. Mould blinzelte seiner Gattin, die sich ihm inzwischen auf den Schoß gesetzt, zu und sagte: »Ohne Zweifel. Noch viele andere Dinge, Mrs. Gamp. – Wie spaßhaft Mrs. Gamp heute aufgelegt ist, was, meine Liebe?«

»Heiraten, zum Beispiel«, scherzte Mrs. Gamp und zwinkerte den beiden Töchtern zu. »Gott gebe ihnen Glück und Segen. Sie wissen’s ganz gut – Sie haben auch verstanden, was dös heißt, und Mrs. Mould auch, wie Sie beide noch in dem Alter waren. Aber o mein, Sie sin halt beide noch jung, und was Sie und Mrs. Mould betrifft – wenn Sie amal a paar Enkerln –«

»Aber, aber, Mrs. Gamp, Unsinn!« wehrte der Leichenbestatter ab. »Wie spaßhaft sie heute ist!« rief er leise – »meine Liebe –« setzte er laut hinzu, »Mrs. Gamp möchte vielleicht ein Gläschen Rum! Nehmen Sie doch Platz, Mrs. Gamp.«

Mrs. Gamp setzte sich auf den Stuhl dicht neben der Türe, blickte zur Decke empor und tat äußerst zerstreut, bis ihr eine der jungen Damen ein Gläschen Rum überreichte. Dann schien sie aufs äußerste überrascht.

»Na, wirklich«, sagte sie zu Mrs. Mould, »so was kommt selten bei mir vor. Außer, wann i net wol bin und mi meine Quart Bier im Magen druckt. Die Harris sagt immer – ›Gamp‹, hat’s neulich gsagt, ›na wirklich, i verstehe Ihna nöt.‹ Liebe Harris, sag i nacher immer, wieso denn nöt? Nur raus mit der Sprach. ›Offen gestanden, liebe Gamp‹, sagt nacher die Harris, ›auf Ehr und Seligkeit, i kann net verstehn, wie a Frau, wie Sie, als Kranken- und Kindbettwärterin mit so wenig Trinken auskommen kann.‹ Ja mein, liebe Harris, sag ich nacher, keins von uns weiß, was es aushalten kann, bevor’s es net ausprobiert hat. Wie mein Mann selig noch glebt hat, hab i a immer so daher gredt, aber jetzt komm i mit am Quart Bier ganz gut aus. Nur frisch vom Faß muß kemman. Aber ob i jetzt Kranke pfleg oder Wöchnerinnen, liebe Harris, i tu immer mei Pflicht. I bin a arms Weib und muß mei Brot schwer verdiena und drum muß i drauf bestehn, daß mein Quart Bier immer regelmäßig vom Faß kemmt. Dös gesteh i zu.«

Der logische Zusammenhang zwischen diesen Bemerkungen und dem Glase Rum war nicht sehr einleuchtend. Mrs. Gamp ließ sich auch nicht weiter darüber aus, sondern beschränkte sich nur auf die Worte: »Auf Ihner Wol, meine Herrschaften«, und stürzte dann den Tropfen kunstgerecht hinunter.

»Und was bringen Sie uns für Neuigkeiten?« fragte Mr. Mould, während Mrs. Gamp sich die Lippen mit dem Halstuch abwischte und ein Stückchen Zwieback benagte, das sie als Gegengift gegen aufgedrungene Schnäpse in der Tasche zu führen schien, »wie geht’s zum Beispiel Mr. Chuffey?«

»Dem Chuffey«, erklärte Mrs. Gamp, »geht’s wie immer; net schlechter und net besser. Aber schön is doch von dem jungen Herrn, daß er Ihna gschrieben hat: ›Lassen S‘ ’n pflegn von der Gamp, bis i wieder komm.‹ Er is halt immer gut und hat a weichs Herz, ’s gibt net viel solchene. Na ja, sonst wären ja auch die Kirchen überflüssig.«

»Und worüber wollten Sie eigentlich mit mir sprechen, Mrs. Gamp?« fragte Mr. Mould, zur Sache kommend. »Von nix anders als von dem«, entgegnete Mrs. Gamp. »I dank der Nachfrag. Es is a Herr im Ochsen zu Holborn krank wordn und liegt jetzt fest im Bett. Ma hat a Tagwärterin holen lassen vom Bartholomäspital. I bin mit ihr bekannt, Mr. Mould, und sie heißt Prig und is a kreuzbrave Haut. Aber für die Nacht ist sie anderswo vergeben jetzt, und drum brauchen s‘ jetzt drüben jemand anders zum Nachtwachen. Mir sin jetzt scho zwanzg Jahr gute Freundinnen, und deshalb hat s‘ gsagt: die nüchternste Person weit und breit, gradezu a Segen für a Krankenzimmer, is die Gamp. Schicken S‘ an Laufbubn nach Kingsgate, hat s‘ gsagt, und schaun S‘ zu, daß Sie die Gamp um jeden Preis kriegen. Die is net mit Gold aufzuwiegn. Na, und der Wirt hat mir’s gsagt und hat gmeint, es wär a angenehmer Platz, und da ziemlich was dabei rausschaugt, sollet i’s annehmen. Net um alles in der Welt, hab i gsagt, net ohne daß der Mr. Mould was davon weiß. Früher is net dran zu denken. Aber i will zu eahm gehn, hab i gsagt, und eahm fragen, was er meint« – dabei warf sie einen Blick nach dem Leichenbestatter und hielt lauschend inne.

»Nachtwachen, so?« brummte Mould und rieb sich das Kinn.

»Von acht Uhr abends bis acht Uhr früh, net damit Sie glauben, i sag Ihna die Unwahrheit«, erklärte Mrs. Gamp.

»Und dann wären Sie frei?« fragte Mould.

»Ganz frei, und i kann dann ruhig wieder zu Mr. Chuffey gehn. Er is a ganz ruhiger Mensch – geht zeitig zu Bett und schlaft fast die ganze Nacht durch. I will’s net leugnen«, setzte Mrs. Gamp mit weicher Stimme hinzu, »ich bin nur a arms Weib, und das bisserl Geld fallt bei mir ins Gewicht, aber darauf dürfen S‘ ka Rücksicht net nehmen, Mr. Mould. Die Reichen reiten gern auf Kamelen, aber so leicht is net, durch a Nadelöhr durchschlupfen, sag i immer, und dös is mei Trost.«

»Nun, Mrs. Gamp«, meinte Mould, »ich sehe nicht ein, warum Sie nicht unter solchen Umständen auf ehrliche Weise ein paar Groschen verdienen sollten. Mich gehts ja schließlich weiter nichts an, Mrs. Gamp; ich würde es vor Mr. Chuzzlewit auch nicht weiter erwähnen, außer er würde mich direkt danach fragen.«

»Sehen S‘, dös mein i a«, versetzte Mrs. Gamp, »und nehmen mir amal an, der Herr möcht sterben, so hoff i, darf i mir doch die Freiheit nehmen zu sagen, es sei mir ein gwisser Leichenbestatter bekannt – net wahr, Sie nehmen dös doch net für übel, Mr. Mould?«

»Durchaus nicht, Mrs. Gamp«, versicherte Mr. Mould herablassend, »Sie können in solchen Fällen immer bemerken, daß wir dergleichen in jedem beliebigen Stile ausführen, und zwar auf eine für die Überlebenden so tröstliche Weise wie nur möglich. Aber ja nicht zu aufdringlich, verstehen Sie? Ja nicht zu aufdringlich. Nur so nebenhin. – Meine Liebe, du bist vielleicht so gut, Mrs. Gamp ein paar von unsern Geschäftskarten mitzugeben.«

Mrs. Gamp nahm die Karten und stand auf, um sich zu verabschieden, da die Rumflasche bereits eingeschlossen war und demnach nichts mehr für sie herausschaute.

»Also nochmals, Glück und Segen der ganzen Familie!« sagte sie. »Schönen guten Nachmittag, Mrs. Mould. Sehen S‘, wann i der Herr Mould wär, i wär eifersüchtig auf Ihna, und wann i an Ihrer Stell war, würd i wiederum auf den Herrn Gemahl eifersüchtig sein.«

»Aber Mrs. Gamp, reden Sie nicht so!« rief der Leichenbestatter vergnügt.

»Und was die jungen Damen betrifft«, fuhr Mrs. Gamp mit einem Knicks fort, »Gott bewahre ihna ihre Schönheit. – Wann i nur wüßt, wie sie’s mit ihrem Gewissen verantworten können, bei so jungen Eltern schon so erwachsen zu sein. – Na, mi geht’s a nix weiter an.«

»Dummes Zeug! Unsinn! So hören Sie doch auf, Mrs. Gamp!« rief Mr. Mould, konnte es sich aber nicht versagen, vor Freude seine Gattin heimlich in den Arm zu kneifen.

»Ich will dir was sagen, meine Liebe«, bemerkte er, nachdem Mrs. Gamp sich entfernt und die Türe hinter sich zugemacht hatte; »diese Frau ist eine durch und durch gescheite Person und hat einen Verstand, der weit über ihren Beruf hinausgeht. Sie hat eine ganz ungewöhnliche Beobachtungsgabe und einen so gesunden Menschenverstand. – Wahrhaftig, es ist eine Person«, fügte er hinzu, zog sich sein seidenes Schnupftuch wieder über die Glatze und schickte sich zu einem Schläfchen an, »bei der man fast geneigt wäre, sie umsonst zu begraben und noch obendrein erster Klasse.«

Mrs. Mould nebst Töchtern schien damit vollständig einverstanden zu sein.

Mrs. Gamp hatte inzwischen die Straße erreicht, aber die frische Luft schien sie so anzugreifen, daß sie noch eine Weile unter dem Torbogen stehenbleiben mußte, um sich zu erholen. Aber selbst nach dieser Vorsichtsmaßregel war ihr Gang noch so schwankend, daß sie die mitleidigen Blicke einiger gutmütiger Straßenjungen auf sich zog, die für ihren Zustand das lebhafteste Interesse an den Tag legten und ihr in ihrer ungekünstelten Ausdrucksweise zuriefen, sie solle sich nichts draus machen, das ginge vorüber; sie habe nur ein bißchen viel »geladen«.

Wie dem übrigens auch sei oder welchen Namen das medizinische Wörterbuch Mrs. Gamps bresthaftem Zustande beigelegt haben würde, so fand sie sich doch bald und ohne weitere Fährlichkeiten nach ihrem Bestimmungsorte zurecht, langte glücklich in dem Hause »Anthony Chuzzlewits Sohn« an, begab sich zur Ruhe und schlief bis sieben Uhr abends. Dann überredete sie den armen alten Chuffey, zu Bett zu gehen, und machte sich auf, ihren neuen Dienst anzutreten. Zuerst verfügte sie sich in ihre eigene Wohnung in Kingsgate Street, um sich ein Bündel Kleider und Umschlagtüchter für die Nacht zu holen, und dann nach dem »Ochsen« in Holborn. Als sie dort ankam, schlug es gerade acht.

Im Hofe blieb Mrs. Gamp neugierig stehen, denn der Wirt, die Wirtin und das erste Stubenmädchen unterhielten sich auf der Zimmerschwelle angelegentlich mit einem jungen Herrn, der soeben erst angekommen zu sein schien und augenscheinlich die Absicht hatte, sich wieder zu entfernen. Die ersten Worte, die ihr Ohr trafen, bezogen sich fraglos auf den Patienten, und da es für sie als Wärterin nur förderlich sein konnte, soviel wie möglich von dem Falle zu wissen, dessentwegen man sie hatte holen lassen, so hielt sie es geradezu für ihre Pflicht, zu lauschen.

»Nicht besser also?« bemerkte der junge Mann.

»Schlimmer«, versetzte der Wirt.

»Viel schlimmer«, fügte die Wirtin hinzu. »Oh, viel, viel schlimmer!« rief das Stubenmädchen aus dem Hintergrunde, riß die Augen auf und schüttelte das Haupt.

»Der arme Mensch!« seufzte der junge Mann. »Es tut mir sehr leid, das zu hören; und das Schlimmste dabei ist, daß ich mir durchaus nicht denken kann, wer wohl seine Freunde und Verwandten sein mögen oder wo sie wohnen. Sicher ist nur eins, daß man sie nicht in London zu suchen hat.«

Der Wirt sah die Wirtin an, die Wirtin den Wirt, und das Stubenmädchen bemerkte, von allen vagen Vermutungen, und deren gäbe es in einem Gasthaus nicht wenige, sei dies die allervageste.

»Wie ich Ihnen gestern schon sagte«, fuhr der junge Mann fort, »als Sie zu mir schickten, weiß ich so viel wie gar nichts von ihm. Wir waren früher Schulkameraden, aber seitdem habe ich ihn nur zweimal wiedergesehen. Beide Male kam ich auf Ferien nach London aus Wiltshire – auf eine Woche ungefähr –, und dann verlor ich ihn wieder aus den Augen. Der Brief mit meinem Namen und meiner Adresse, den Sie auf seinem Tische fanden und der Sie veranlaßte, zu mir zu schicken, ist eine Antwort – wie Sie bemerken werden – auf einen Brief, den er mir an demselben Tage, wo er krank wurde, von hier aus schrieb und worin er mir ein Rendezvous vorschlug. – Hier ist sein Brief, wenn Sie ihn einsehen wollen.«

Der Wirt las das Schreiben, und die Wirtin guckte ihm über die Schulter. Das Stubenmädchen im Hintergrunde fing gleichfalls so viel davon ab, als ihr irgend möglich war, ergänzte den Rest für sich und betrachtete das Ganze fortan als ein positives Beweisstück.

»Er hat sehr wenig Gepäck, sagen Sie«, bemerkte der junge Mann, der niemand anders war als John Westlock.

»Nichts als ein Felleisen«, versetzte der Wirt, »und wenig genug ist drin.«

»Aber Sie sprachen doch von einigen Guineen in seiner Börse?«

»Ja; ich habe das Geld eingesiegelt und in meine Kasse gelegt. Die Summe hab ich aufgeschrieben, wenn Sie’s sehen wollen.« »Gut«, sagte John. »Der Arzt ist der Ansicht, bevor das Fieber nicht nachließe, könne man nichts anderes tun, als ihm regelmäßig seine Medizin zu reichen und ihm die sorgfältigste Pflege angedeihen zu lassen. Auch ich kann weiter nichts hinzufügen, bis er in der Lage ist, selbe Auskunft erteilen zu können. – Hätten Sie sonst noch etwas zu sagen?«

»N-nein«, versetzte der Wirt, »ausgenommen –«

»Wer für ihn bezahlen soll, nicht wahr?« fragte John.

»Freilich«, meinte der Wirt stockend, »möchte ich das gerne wissen.«

»Ja, ja, natürlich«, sagte die Wirtin.

»Auch wegen des Trinkgelds wär’s gut«, brummte das Stubenmädchen.

»Das ist nur recht und billig«, entgegnete John Westlock, »aber jedenfalls haben Sie für den Augenblick sein Geld als Sicherheit, und was den Doktor und die Krankenpflege betrifft, erkläre ich mich gern bereit, dafür aufzukommen.«

»Oh«, rief Mrs. Gamp, »das nenne ich mir an feinen Herrn!«

Sie hatte diesen Stoßseufzer so hörbar vorgebracht, daß sich alle nach ihr umdrehten. Sie fühlte daher die Notwendigkeit, mit ihrem Bündel in der Hand näher zu treten, um sich vorzustellen.

»I bin die Wärterin aus Kingsgate«, sagte sie, »und die Mrs. Prig, die Wärterin für den Tag, is meine beste Freundin. Sie is wirklich a kreuzbrave Haut. Na, und wie geht’s denn dem armen lieben Herrn heut abend? Wenn’s noch net besser is, muß mer halt abwarten. Es is net das erstemal, Madame« – dabei machte sie der Wirtin einen Knicks – »daß die Prig und i zusamm als Krankenwärterinnen die Tag- und Nachtwach versehn habn. Mir kennen uns und helfen oft noch, wo nix mehr zu helfen is. Mir machen’s billig« – sie wandte sich zu John – »wenn ma die Natur unsrer schmerzlichen Pflichten ins Aug faßt. O mein, wenn’s nur nach uns ging, möchten wir am liebsten gar nix verlangen.«

Als sie sich dieser Einführungsrede glücklich entledigt, knickste sie noch einmal in die Runde und gab den Wunsch zu erkennen, jetzt nach dem Schauplatz ihrer amtlichen Tätigkeit geführt zu werden. Das Stubenmädchen geleitete sie daraufhin durch ein Labyrinth von Gängen nach dem Obergeschoß des Hauses und zeigte dort auf eine einsame Türe am Ende einer Galerie, bedeutete ihr, daß dahinter der Patient liege, und eilte mit größter Geschwindigkeit wieder von dannen.

Mrs. Gamp ging, von der Last ihres umfangreichen Bündels erhitzt, bis zu der Türe und klopfte an. Sofort öffnete Mrs. Prig, die bereits Hut und Schal umgenommen hatte und sichtlich darauf brannte, fortzukommen. Mrs. Prig war so ziemlich von Mrs. Gamps Statur, nur nicht so fett; ihre Stimme klang tiefer und fast männlich. Auch zierte sie ein stattlicher Bart.

»Hab scho gmeint, Sie kommen gar nimmer«, bemerkte sie etwas mißvergnügt. »Morgen abend hol mer’s scho wieder nach«, tröstete Mrs. Gamp, »i hab zuvor noch nach Haus müssen und meine Sachen holen.« Sie ging sodann zur Zeichensprache über, um sich über den Zustand des Patienten zu unterrichten und zu fragen, ob er sie vielleicht hören könne – es stand nämlich eine spanische Wand vor der Tür –, aber Mrs. Prig zerstreute rasch ihr Bedenken.

»Er is ganz ruhig«, sagte sie laut, »aber net bei Besinnung, Sie brauche Ihna net schenieren.« »Sonst hätten S‘ mir nix zu sagen, bevor S‘ gehen, liebe Prig?« fragte Mrs. Gamp, zerrte ihr Bündel in die Stube und sah ihre Kollegin zärtlich an.

»Der marinierte Lachs«, erwiderte Mrs. Prig, »is ausgezeichnet, i kann ihn Ihna bsonders empfehlen. Des kalte Fleisch schmeckt nach Stall, aber die Getränke sin alle gut.«

Mrs. Gamp erklärte sich höchlichst zufriedengestellt.

»Was die Medizinen und die andern Gschichten sin, so stehen s‘ aufm Kamin und aufm Kasten«, warf Mrs. Prig hin, »das letztemal hat er um sieben Uhr eingnommen. Der Lehnstuhl is damisch hart, i rat Ihna, nehmen S‘ sein Kopfpolster.« Mrs. Gamp dankte ihr für diese Winke, wünschte ihr freundlich gute Nacht und hielt die Türe offen, bis sie am anderen Ende der Galerie verschwunden war. Nachdem sie so die Pflicht der Gastfreundschaft erfüllt und ihre Kollegin glücklich verabschiedet hatte, riegelte sie von innen zu, nahm ihr Bündel und ging um die spanische Wand herum, um ihr Geschäft als Wärterin zu beginnen.

»Sakrisch fad, aber es könnt ja a noch schlimmer sein«, brummte sie vor sich hin. »Wann a Feuer auskimmt, so bin i froh, daß a Glander da is und viele Dächer mit Rauchfäng, da kann ma wenigstens gut aussakrallen.«

Aus diesen Bemerkungen ist leicht zu ersehen, daß Mrs. Gamp zum Fenster hinausschaute. Nachdem sie die Aussicht genügend genossen, versuchte sie den Lehnstuhl und erklärte unwillig, er sei härter als ein Ziegelstein. Dann dehnte sie ihre Untersuchung auf die Arzneiflaschen, Gläser, Töpfe und Teetassen aus. Nachdem sie auch hier ihre Neugierde vollständig befriedigt, knöpfte sie ihre Haubenbänder los und trat ans Bett, um sich den Patienten zu betrachten.

Er war ein junger Mann von dunkler Gesichtsfarbe und recht angenehmen Zügen. Seine langen schwarzen Haare nahmen sich auf der weißen Leinwand noch viel dunkler aus, als sie vielleicht in Wirklichkeit waren. Seine Augen hatte er halb geschlossen, und trotzdem sein Körper still dalag, wälzte er ohne Unterlaß den Kopf von einer Seite des Kissens zur andern. Er sprach nicht, ließ aber zuweilen einen Ausruf der Ungeduld oder Überraschung laut werden, dabei beständig den Kopf, wie schon seit Stunden, hin und her bewegend.

Mrs. Gamp labte sich mit einer Prise Schnupftabak und sah ihn eine Weile mit seitwärts geneigtem Haupte an, wie etwa ein Kenner ein etwas zweifelhaftes Kunstwerk betrachten würde. Allmählich bemächtigte sich ihrer eine schreckliche Erinnerung an einen andern Zweig ihres Berufs. Sie beugte sich nieder und drückte ihm die unsteten Arme an die Seite, um zu sehen, wie er sich – als Leiche ausnehmen würde. So gräßlich es auch klingen mag, tatsächlich juckten ihr die Finger vor Verlangen, ihn in die letzte Stellung der Todesstarre zurechtzulegen.

»Herrschaft«, knurrte sie dabei und trat ein paar Schritte zurück, »dös wär a wunderschöne Leich!«

Dann fuhr sie fort, ihr Bündel auszupacken, zündete mit Hilfe eines auf der Kommode stehenden Feuerzeugs ein Licht an, füllte einen kleinen Kessel als Vorbereitung für ein Täßchen Tee für die Nacht, machte zu demselben philanthropischen Zweck »a bisserl a Feuer« an, wie sie es nannte, und zog einen Teetisch herbei, um den traulichen Eindruck zu erhöhen. Diese Vorbereitungen nahmen so lange Zeit in Anspruch, daß es nach ihrer Beendigung höchste Zeit war, ans Abendbrot zu denken. Mrs. Gamp klingelte daher, um es zu bestellen.

»I glaub, Jungfer«, sagte sie in einem Tone, der ihre Angegriffenheit entsprechend illustrieren sollte, zu dem zweiten Stubenmädchen, »a bisserl a geräucherten Lachs mit etwas Fenchel und aner Prisen weißen Pfeffer dabei möcht mir gut tun, ebenso a krachets Weißbrot mit frischer Butter und a Stückerl Käs. Wann S‘ so was wie a Gurken im Haus hätten, so sin S‘ leicht so gut und bringen S‘ mir’s auffi. Es is mei Leibspeis und tut in aner Krankenstubn oft Wunder. Und wann S‘ grad a Doppelbier anzapfen, bringen S‘ mir leicht a a Maß. Die Doktoren sagen immer, es halt wach. Und nachher, Jungfer, vergessen S‘ net für an Schilling Wacholderschnaps und warms Wasser, damit i’s hab, wann i nochamal läut. Des is mei Ration, und i trink kein Tropfen drüber.«

Nachdem sie diese außerordentlich maßvollen Anforderungen gestellt hatte, bemerkte sie, sie wolle an der Türe stehen bleiben und warten, damit der Patient nicht durch wiederholtes Öffnen gestört würde. Sie werde sich aus demselben Grunde dem Stubenmädchen sehr zu Dank verpflichtet fühlen, wenn es sich beeile.

Das Teebrett kam, und alles, sogar die Gurke, befand sich darauf. Mrs. Gamp setzte sich sogleich hin und aß und trank nach Herzenslust. Der Hochgenuß und die Unersättlichkeit, mit der sie dem Gurkenessig zusprach und dann sogar noch die Klinge des Messers ableckte, läßt sich kaum beschreiben.

»O mein«, seufzte sie, als sie bei ihrer Schillingsdosis warmen Grogs hielt, »was für a Glück is es doch, wann der Mensch in dem irdischen Jammertal hienieden sich seine Zufriedenheit bewahrt. Was für a Segen, kranke Leut in ihre Betten glücklich zu machen und sich selbst dabei zu vergessen, solang ma noch Dienste leisten kann. I glaub, in mein ganzen Leben hab i noch kei schönere Gurken gsehn.« In der gleichen seligen Stimmung fortmoralisierend, bis ihr Glas leer war, erinnerte sie sich schließlich, daß sie dem Patienten seine Arzenei zu reichen habe. Sie drückte ihm die Kehle zusammen, um ihn zu veranlassen, den Mund zu öffnen, und schüttete ihm dann den Trank in die Gurgel.

»Meiner Seel, jetzt hätt i fast des Kopfkissen vergessen«, murmelte sie und holte sofort das Versäumte nach. »Jetzt hat er’s so bequem, wie’s der Mensch nur haben kann; jetzt muß i schaun, daß i mir’s auch bequem mach.«

In dieser Absicht zog sie sich einen zweiten Lehnstuhl für die Füße herbei und improvisierte sich eine Lagerstätte. Sodann entnahm sie ihrem Bündel eine gigantische, hinsichtlich Aussehen von einem Kohlkopf nur schwer zu unterscheidende gelbe Schlafmütze und band sie sich auf, nachdem sie vorher eine Reihe alter Locken abgelegt hatte, die den Ausdruck »falsch« eigentlich nicht verdienten, denn von einer Vortäuschung körperlicher Reize konnte hier nicht die Rede sein. Dann zog sie sich eine Nachtjacke an und endlich eine Art Nachtwächterrock, dessen Ärmel sie sich um den Hals band, so daß sie von rückwärts aussah wie eine Vogelscheuche, die von einem Flurwächter umarmt wird.

Nachdem sie alle diese Anstalten sorgfältig erledigt, zündete sie ein Nachtlicht an, krümmte sich auf ihrem Lager zusammen und schickte sich zu einem Schlummer an.

Die Stube war jetzt schaurig dunkel und voll düsterer lauernder Schatten. Nach und nach verstummten die fernen Töne in den Straßen, und das Haus wurde so ruhig wie ein Grab.

Oh, die öden, öden Stunden! Durch das Dunkel der Vergangenheit unfähig, sich vom Elend der Gegenwart loszumachen, schleppte die arme Seele des Kranken ihre schwere Sorgenkette durch eingebildete Festesfreuden, durch Träume voll schauerlicher Pracht, irrte suchend dahin über die längst vergessenen Spielplätze der Kindheit und fand in den Zufluchtsorten von gestern und heute nur Angst und Grausen. Ach, die öden, bleiernen Stunden! Was waren die Irrfahrten Kains gegen diese Wanderungen!

Immer noch wälzte der Kranke, ohne einen Augenblick Ruhe zu finden, sein brennendes Haupt hin und her. Von Zeit zu Zeit wurden seine Mattigkeit, seine Ungeduld und Pein auf diesem Folterbette durch laute Ausrufe kund, wenn seine Lippen auch keine Worte bilden konnten. Endlich gegen Mitternacht fing er an zu reden, wartete zuweilen angstvoll auf Antwort, als ob unsichtbare Gestalten sein Bett umgäben und er ihnen Rede und Antwort stünde.

Mrs. Gamp erwachte und setzte sich in ihrem Bett auf. Ihr Schatten an der Wand sah aus wie die Silhouette eines gespenstischen Nachtwächters, gegen den sich ein Gefangener wehren will.

»Na, werdn S‘ net endlich ’s Maul halten«, rief sie in verweisendem Tone. »Hier wird ka Lärm gemacht, verstanden?«

Nicht die geringste Veränderung im Gesichte des Patienten verriet, daß er sie verstand. Irr phantasierte er weiter.

»Na ja, natürlich«, schimpfte Mrs. Camp und stand räuspernd und unwillig auf, »i hab halt zu gut geschlafen, als daß einem so was lang vergunnt wär. Mir scheint, der Teufel is los, daß ’s heut nacht so kalt is.«

»Trink nicht so viel«, phantasierte der Kranke. »Du wirst uns noch alle zugrunde richten. Siehst du denn nicht, wie die Quelle versiegt und wie es jetzt dunkel wird, wo eben noch das Wasser funkelte?«

»Jawohl, Wasser funkeln«, knurrte Mrs. Garnp, »i will lieber a funkelnde Tassn Tee zu mir nehmen. Wann er nur scho endlich mit dem blöden Gred aufhörn möcht.«

Der Patient brach jetzt in ein Gelächter aus, das gar nicht enden zu wollen schien und schließlich in ein unheimliches Gewinsel überging. Dann hielt er inne und begann rasch hintereinander zu zählen:

»Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs.«

»Eins, zwei, koch mir den Brei«, murmelte Mrs. Gamp, auf den Knien liegend und bemüht, das Ofenfeuer anzuzünden. »Drei, vier, halt zu die Tür – gscheiter wär’s, du hieltest den Mund – fünf, sechs, bucklete Hex! – Ja, wann i hexen könnt, nacher sollt mir der Kessel scho bälder sieden.«

Damit setzte sie sich so dicht an die Kaminstange, daß ihre Nase darauf zu ruhen kam, und unterhielt sich eine Weile damit, diesen Vorsprung ihres Gesichts an dem Metall hin und her zu reiben, soweit dies ohne wesentliche Änderung ihrer Stellung anging. Dabei kommentierte sie fortwährend die irren Reden des Mannes im Bett.

»Zusammen fünfhundertundeinundzwanzig Leute, alle gleich gekleidet und alle gleich das Gesicht verzerrt, so sind sie zum Fenster herein- und zur Tür herausgegangen«, rief er angstvoll. »Schau da, fünfhundertzweiundzwanzig – dreiundzwanzig – vierundzwanzig, siehst du sie?«

»Na ja, natürlich seh ich sie«, brummte Mrs. Gamp. »Die ganze Bande numeriert wie die Droschken. – Oder leicht net?«

»Rühr mich nicht an, ich muß mich überzeugen.«

»I werd dir scho die Arznei einschütten, wann der Kessel siedet«, entgegnete Mrs. Gamp ruhevoll. »Und nacher wirst scho angrührt werden. Und fest a no.«

»Fünfhundertachtundzwanzig – fünfhundertneunundzwanzig – fünfhundertdreißig – schau da!«

»Was gibt’s denn scho wieder?« fragte Mrs. Gamp.

»Jetzt kommen sie zu viert nebeneinander, jeder hat seinen Arm in den des andern eingehängt und die Hand auf dessen Schulter. Was haben sie auf ihren Armen und auf dem Banner?«

»Wahrscheinlich Spinnaweben«, brummte Mrs. Gamp.

»Flor, schwarzer Flor! Gott im Himmel, warum tragen sie ihn außen?«

»Na ja, innawendig könnens ’n doch net tragen», höhnte Mrs. Gamp. »Aber still jetzt, dös Maul ghalten.«

Mittlerweile hatte das Feuer angefangen, eine angenehme Wärme zu verbreiten, und Mrs. Gamp wurde stumm. Langsamer und immer langsamer rieb sie ihre Nase an der Kaminstange, und endlich verfiel sie in einen schweren Schlaf. Sie erwachte plötzlich, denn durch das Zimmer, deuchte ihr, hallte ein Name, den sie gut kannte.

»Chuzzlewit!«

Der Ton war so bestimmt, so wirklich und glich so ganz einem flehentlichen Ruf, daß Mrs. Gamp erschrocken aufsprang und zur Türe eilte. Sie erwartete halb und halb, den Gang mit Leuten angefüllt zu finden, die gekommen wären, ihr zu sagen, das Haus in der City stünde in Flammen. Aber die Galerie war leer. Keine Seele da! Sie öffnete das Fenster und blickte hinaus. Nichts als dunkle, rauchige, öde Dachgiebel. Als sie in die Stube zurückkehrte, warf sie einen Blick auf den Kranken. Ganz wie früher lag er auf seinem Bett, nur seine Lippen schwiegen jetzt. Mrs. Gamp war es so warm geworden, daß sie ihren Nachtwächtermantel abwarf und sich Kühlung zufächelte.

»So laut war’s, daß fast die Flaschen gscheppert habn«, brummte sie. »Von was i nur träumt hab? Wahrscheinlich von dem zwidern Chuffey.«

Diese Vermutung hatte viel für sich. Für alle Fälle kräftigte sich Mrs. Gamp mit einer Prise Schnupftabak, und das Singen des dampfenden Teekessels beruhigte gar bald ihre ohnehin nicht besonders schwachen Nerven. Dann schenkte sie sich ihren Tee ein, röstete sich eine Butterschnitte und nahm, das Gesicht dem Feuer zugekehrt, vor dem Tischchen Platz.

Da klangen mit einem Mal in noch gräßlicherem Tone als vorher die Worte in ihr Ohr:

»Chuzzlewit! Jonas! Nein!«

Erschreckt setzte sie die Tasse, die sie eben an ihre Lippen hatte führen wollen, nieder und wandte sich so rasch um, daß das kleine Tischchen beinah umgefallen wäre. Der Schrei war offenbar von dem Bette hergekommen.

Als sie das nächste Mal wieder zum Fenster hinausschaute, war es bereits heller Morgen, und die Sonne ging heiter auf. Der Himmel wurde Lichter und Lichter, der Lärm auf den Straßen wuchs immer mehr an, und hoch in die Sommerluft empor stieg der Rauch frisch angezündeter Feuer, bis es völlig Tag war.

Pünktlich, wie es sich gehört, kam Mrs. Prig, die bei ihrem Patienten ebenfalls eine gute Nacht verbracht hatte, zur Ablösung. Mr. Westlock fand sich um die gleiche Zeit ein, wurde aber nicht vorgelassen, da die Krankheit möglicherweise ansteckend sein könnte. Auch der Doktor erschien und schüttelte den Kopf – alles, was ein Arzt in solchen Umständen tun kann –, und zwar recht gründlich. »Was hat er für eine Nacht gehabt, Wärterin?«

»A schlechte«, antwortete Mrs. Gamp.

»Viel phantasiert?«

»Na, macht sich«, sagte Mrs. Gamp. »Konnte man nichts aus seinen Reden entnehmen?«

»I Gott bewahr, lauter ungereimtes Zeug war’s.«

»Nun«, meinte der Doktor, »da müssen wir ihn vorläufig noch in Ruhe lassen. Halten Sie das Zimmer kühl, reichen Sie ihm regelmäßig seine Arznei und geben Sie überhaupt sorgfältig auf ihn acht. Weiter läßt sich nichts tun.«

»Habens ka Sorg net; solang die Prig und i bei eahm san, is ka Gfahr net«, versicherte Mrs. Gamp.

»Was? Gibt’s wirklich nix Neues, Mrs. Gamp?« fragte Mrs. Prig, als sie beide den Arzt hinauskomplimentiert hatten.

»Na, wirkli nix«, sagte Mrs. Gamp. »Er red lauter dumms Zeug daher und nennt a Masse Namen. Mer braucht si net dran kehren.«

»Na ja, des a no! Fallet mir grad ein«, entgegnete Mrs. Prig, »i hab an gscheitere Sachen zu denken.«

»Heut abend bring i meine Schuld von gestern wieder ein und komm etwas zeitlicher, liebe Prig«, versprach Mrs. Gamp, »aber eins möcht i Ihna noch raten«, fügte sie enthusiastisch hinzu, »probiern S‘ amal die Gurken. – Bhüat Ihna Gott.«

19. Kapitel


19. Kapitel

Einige außergewöhnliche Mitglieder der medizinischen Fakultät treten auf. Der treffliche Mr. Jonas beweist abermals seine kindliche Liebe

Mr. Pecksniff saß in einem Mietkabriolett, denn Mr. Jonas hatte zu ihm gesagt: »Sparen Sie kein Geld.«

Das Menschengeschlecht ist in seinem ganzen Wesen und Denken bodenlos schlecht, und Jonas war daher fest entschlossen, auch nicht ein Jota Veranlassung zu müßigen Gerüchten zu geben. Man sollte ihm nie zum Vorwurf machen, daß er bei dem Begräbnis seines Vaters mit Geld gegeizt habe. Deshalb hatte er – gültig bis zum Schluß der Beerdigungsfeierlichkeiten – das Motto ausgegeben: man spare keine Kosten.

Mr. Pecksniff war bei dem Leichenbestatter gewesen und befand sich jetzt auf dem Wege zu einem andern ihm empfohlenen dienstbaren Geist, nämlich einer Weibsperson, die bei Verstorbenen zu wachen und alle die geheimnisvollen nötigen Vorrichtungen vorzunehmen pflegte. Sie hieß, wie Mr. Pecksniff aus einem Zettel in seiner Hand ersah, Mrs. Gamp und wohnte in Kingsgate Street, High Holburn. Mr. Pecksniff rasselte daher in seiner Droschke über das Pflaster von Holborn, um Mrs. Gamp aufzusuchen.

Die Dame wohnte bei einem Vogelhändler. Die zweitnächste Tür führte zu einem berühmten Hammelpastetenladen, der gerade gegenüber echtes Katzenfleisch verkaufte. Wie alle solchen Etablissements trug auch dieser Laden ein entsprechendes Reklameschild über der Türe. Es war ein kleines Haus und daher sehr geeignet für Mrs. Gamp, die in ihrer höchsten Kunststufe Wochenwärterin oder, wie ihr Aushängeschild kühn besagte, Hebamme war. Sie konnte, da sie auf die Gasse hinaus und zu ebener Erde wohnte, bei Nacht leicht durch an die Fenster geworfene Kieselsteine oder vermittelst Spazierstöcken und Tabakspfeifenrohren geweckt und herausgeklopft werden. Das alles war nämlich weit wirksamer als der Haustürklopfer, der klugerweise so konstruiert war, daß er wohl die ganze Straße wecken und sogar Feueralarm in Holborn hätte verbreiten können, im Hause selbst jedoch unter keinen Umständen auch nur den mindesten Eindruck machte.

Mrs. Gamp war die ganze verflossene Nacht über auf gewesen, um einer Zeremonie beizuwohnen, der das Frauengeschlecht einen zweisilbigen Namen für den über Adam verhängten Fluch gegeben hat. Sie war dabei nicht allein tätig gewesen, sondern man hatte sie in Anbetracht ihres großen Rufes geholt, um einer andern Dame vom Fach mit Rat und Tat an die Hand zu gehen. Nachdem sodann alle interessanten Phasen des Falles ihr Ende erreicht, hatte sie sich wieder nach dem Hause des Vogelhändlers zurückgezogen und unverzüglich zu Bett begeben. Aus diesem Grunde waren daher zur Zeit des Vorfahrens von Mr. Pecksniffs Droschke Mrs. Gamps Vorhänge dicht zugezogen, und die Dame selbst lag dahinter in tiefstem Schlaf.

Wäre der Vogelhändler zu Hause geblieben, wie es sich gehört hätte, so würde das nicht viel bedeutet haben, so aber befand er sich auswärts, und sein Laden war verschlossen. Allerdings waren die Jalousien nicht heruntergelassen, und hinter jeder Fensterscheibe stand je ein winziger Käfig, in dem ein kleines Vögelchen zwitscherte, sein kleines Verzweiflungsballett abhüpfte und sich an den Stäben abflatterte, während ein melancholischer Blaufink, der daneben eine große Villa mit seinem Namen an der Tür bewohnte und sein Trinkwasser mittels eines kleinen Pumpwerks selbst hinaufziehen mußte, die Passanten stumm anflehte, sie möchten ihm doch für einen Penny Gift hineinmischen. Die Haustüre war geschlossen. Mr. Pecksniff drückte auf die Klinke, rüttelte daran und setzte eine jämmerlich tönende Klingel in Bewegung. Aber niemand erschien. Der Vogeldresseur war gleichzeitig Barbier und auch fashionabler Haarkräusler, und daher war es anzunehmen, daß man ihn nach dem Westende der Stadt gerufen hatte, um einen Lord oder eine Lady zu frisieren. Wie dem nun auch sein mochte, keinesfalls befand er sich auf seinem eigenen Grund und Boden. Auch war nichts vorhanden, was der Einbildungskraft eines nach ihm Fragenden hätte nachhelfen können, als ein bei derlei Kunstgenossen übliches gedrucktes Plakat, das einen Friseur in eleganter Haltung darstellte, wie er eine Modedame vor einem großartigen, aufgeklappten Pianoforte bediente.

In der Unschuld seines Herzens griff Mr. Pecksniff nach dem Türklopfer, aber schon beim ersten Doppelschlage wimmelte es an allen Fenstern der Straße von Frauenköpfen, und noch ehe er seine Aufforderung wiederholen konnte, sammelten sich Scharen verheirateter Damen, von denen einige ganz das Aussehen hatten, als ob sie selbst in Bälde Mrs. Gamp würden bemühen müssen, um die Türschwelle und riefen wie aus einem Mund mit höchstem Interesse:

»Klopfen Sie an das Fenster – klopfen Sie an das Fenster! Um Gottes willen, verlieren Sie ja keine Zeit, klopfen Sie an das Fenster!«

Unverzüglich borgte sich Mr. Pecksniff von seinem Kutscher die Peitsche aus und richtete gleich darauf eine nicht geringe Verheerung unter den Blumentöpfen des Hochparterres an. Mrs. Gamp wurde dadurch glücklich geweckt, und zur großen Freude der umstehenden Menge hörte man gleich darauf den Ruf erschallen:

»Ich komme schon!«

»Er ist so bleich wie Semmelkrumen«, sagte eine Matrone mit einem Blick auf Mr. Pecksniffs Gesicht.

»Das muß er auch sein, wenn er überhaupt menschliches Gefühl im Leibe hat«, bemerkte eine andere.

Eine dritte Dame meinte mit verschränkten Armen, es wäre besser gewesen, er hätte eine andere Zeit gewählt, um Mrs. Gamp zu holen, aber so sei’s ja bekanntlich immer.

Mr. Pecksniff fühlte sich begreiflicherweise sehr geniert, aus diesen Bemerkungen entnehmen zu müssen, man glaube, er komme zu Mrs. Gamp aus Gründen, die nicht das Ende, sondern den Anfang eines Lebens beträfen. Mrs. Gamp schien dasselbe zu glauben, wenigstens stieß sie das Fenster auf und rief, sich dabei hastig ankleidend, hinter den Gardinen hervor: »Ist es Mrs. Perkins?«

»Nein«, entgegnete Mr. Pecksniff scharf. »Nichts dergleichen. Im Gegenteil.«

»Ah, Sie sind’s, Mr. Whilks«, rief Mrs. Gamp. »Ach Gott, und Mrs. Whilks hat noch nicht einmal ein Steckkissen vorbereitet. Oder sind Sie’s vielleicht nicht, Mr. Whilks?«

»Es ist nicht Mr. Whilks«, beteuerte Pecksniff. »Ich kenne den Mann nicht. Es betrifft überhaupt nichts dergleichen. Ein Herr ist gestorben. Da man eine Person im Hause braucht, bin ich von Mr. Mould, dem Leichenbestatter, an Sie gewiesen worden.«

Mrs. Gamp, die für jeden ihrer Geschäftszweige einen besonderen Gesichtsausdruck vorrätig hatte, war inzwischen so weit, sich zeigen zu können. Sie steckte rasch eine Trauerphysiognomie zum Fenster heraus und sagte, sie werde sogleich hinunterkommen. Die versammelten Matronen nahmen es natürlich sehr übel, daß Mr. Pecksniffs Sendung von so geringer Wichtigkeit war, und die Dame mit den unterschlagenen Armen sagte ihm tüchtig ihre Meinung und betonte, es sei gewissenlos, Damen in delikaten Umständen mit der Erwähnung von Leichen zu erschrecken. Auch ein so scheußlicher Kerl wie er habe gewissermaßen Rücksichten zu nehmen. Auch die andern Damen sparten mit ähnlichen Ausdrücken nicht, und die Kinder, die sich inzwischen in etlichen Dutzenden angesammelt hatten, verhöhnten Mr. Pecksniff und gebärdeten sich wie eine Rotte kleiner Teufel. Der Ärmste pries sich glücklich, als Mrs. Gamp endlich erschien, packte sie ohne viel Zeremonien in die Droschke und fuhr, von den Verwünschungen der Menge verfolgt, von hinnen.

Mrs. Gamp hatte ein großes Bündel, ein Paar Überschuhe und einen gewaltigen Regenschirm mitgenommen, letzteren von der Farbe eines welken Blattes, außer an der Spitze, um die ein kreisrunder Fleck von hellem Blau geschickt eingeflickt war. Sie sah sehr erhitzt aus, offenbar von der Eile, zu der sie genötigt gewesen, und litt unter den irrigsten Vorstellungen hinsichtlich des Wesens des Kabrioletts. Sie schien nämlich diese Gattung Fuhrwerk mit einem Post- oder Frachtwagen zu verwechseln und bemühte sich beständig, während der ersten halben Meile ihr Gepäck durch das kleine Fenster auf den Bock zu zwängen und dem Kutscher zuzurufen, er solle ihr Päckchen doch in den Korb stecken. Als diese Wahnidee endlich bei ihr nachließ, löste sich ihr ganzes Wesen in Angst und Sorge um ihre Überschuhe auf, mit denen sie in einem fort auf Mr. Pecksniffs Schienbeinen Wurfscheibe spielte. Erst als sie vor dem Trauerhause vorführen, faßte sie sich so weit, um bemerken zu können:

»Also der Gentleman is tot, Sir. Das is a Jammer. Aber diesem Los entgeht keiner von uns. Es kommt so sicher wie das Geborenwerden, nur kann man’s net so genau vorhersagen. Ach Gott, der liebe, arme Herr!«

Mrs. Gamp war eine fette, alte Dame mit einer heiseren Stimme und einem Triefauge, das sie auf eine so merkwürdige Weise gen Himmel kehren konnte, daß man nur das Weiße drin zu sehen vermochte. Da sie sich überdies eines sehr kurzen Halses erfreute, so kostete es sie stets einige Mühe, den Kopf nach denen zu drehen, mit denen sie gerade sprach. Sie trug ein rostfleckiges schwarzes Kleid, dessen Aussehen durch den Umstand, daß sie Tabak zu schnupfen pflegte, nicht sehr gewonnen hatte, und ein dementsprechendes Halstuch und eine Haube. In diesen kläglichen Anzug pflegte sie sich bei solchen Gelegenheiten stets zu hüllen, erstens einmal, um damit ihre achtungsvolle Verehrung vor Toten auszudrücken, und dann, um die nächsten leidtragenden Verwandten stumm aufzufordern, ihr neue Trauerkleider zu verehren; ein Appell, der so häufig von glücklichem Erfolge gekrönt war, daß man zu jeder Stunde des Tages in mindestens einem Dutzend der Trödelläden Holborns ihr leibhaftiges Gespenst heraushängen sehen konnte. Ihr Gesicht und besonders die Nase waren etwas rot und geschwollen; auch konnte man sich nicht gut ihrer Gesellschaft erfreuen, ohne sich nicht eines gewissen Branntweinduftes bewußt zu werden. Wie die meisten Personen, die in ihrem Fach einen besonderen Ruf erworben haben, war auch sie dem ihrigen eifrig zugetan und ging, vielleicht von ihren natürlichen weiblichen Liebhabereien abgesehen, ebenso gern und bereitwillig zu einem Wochen- wie zu einem Totenbett.

»O mein, o mein!« wiederholte Mrs. Gamp, denn dies war für alle Trauerfälle ein höchst passender Ausdruck. »O mein. Als Gamp zu seiner ewigen Heimat zurückberufen wurde – ich sehe ihn noch vor mir, wie er in Guys Hospital lag mit einem Penny auf jedem Auge und das hölzerne Bein unter dem linken Arm –, da hab i glaubt, i müßt ohnmächtig zsammfalln. Aber i hab mi grad noch derfangt.«

Wenn man einem gewissen Gerüchte, das in den Kingsgate-Street-Zirkeln kursierte, Glauben schenken darf, hatte sie es in einer ganz überraschenden Weise getragen und dabei eine so intensive Seelenstärke an den Tag gelegt, daß sie sogar über Mr. Gamps sterbliche Überreste im Interesse der Wissenschaft verfügte. Allerdings war das jetzt schon zwanzig Jahre her, und das liebenswürdige Ehepaar hatte sich zuvor schon lange getrennt, da ihre Ansichten, besonders wenn sie etwas hinter die Binde gegossen hatten, nicht besonders miteinander harmonierten. »Sie sind wohl seitdem ziemlich gleichgültig geworden, nicht wahr?« fragte Mr. Pecksniff. »Gewohnheit kann zur zweiten Natur werden, Mrs. Gamp.«

»Ja, ja, man kann’s schon a zweite Natur nennen«, versetzte die Dame. »Erschtens sin solchene Sachen a Ansturm aufs Gfüll, und nacher werdens einem zur Gewohnheit, aber freilich hätt i net alls durchmachen können, was i schon durchgmacht hab, wenn i net hie und da an Schluck Schnaps gnommen hätt, aber immer natürli nur einen Schluck, mehr bin i beim besten Willen net imstande. Mrs. Harris, hab i gesagt, in dem letzten Fall, wo i dabei gwesen bin und wo sich’s um a junge Person ghandelt hat –, Mrs. Harris hab i gsagt, lassens die Flaschn auf dem Kaminsims stehn, aber redens mir net zu, etwas davon zu trinken; i muß immer nur die Lippen dran setzen, wenn i grad Lust hab, und dann will i tun, was i tun muß, so gut i’s halt imstand bin. Mrs. Gamp, hat die Harris gsagt, wenns je a nüchterne Person geben hat, wo von arbeitende Leut achtzehn Pence täglich nimmt und von vornehme drei Schilling sechs Pence, die Nachtwachen natürlich net mit eingrechnet«, betonte Mrs. Gamp mit Nachdruck, »so sind Sie diese unschätzbare Person. – Mrs.Harris, hab i drauf gsagt, reden S‘ nix von Lohn, und wenn i’s derschwingen kunnt, so möcht i für alle meine Mitmenschen umasunst das Totenbett herrichten, und würd’s mit Freuden tun und mit lauter Liebe. Aber was jetzt die sin, wo dem Hauswesen vorstehen, Mrs. Harris, hab i gsagt«, dabei heftete Mrs. Gamp ausdrucksvoll ihr Triefauge auf Mr. Pecksniff, »ob’s jetzt Herren sin oder Damen, so soll man mich net fragen, ob i was zu mir nehmen will, es genügt, wenn man die Flaschen mit Schnaps auf dem Kaminsims stehen laßt, damit i hie und da mir die Lippen anfeuchten kann, wann i grad Lust dazu hab.«

In diesem Augenblick fuhr die Droschke vor dem Hause vor. In dem Flur kam ihnen Mr. Mould, der Leichenbestatter, entgegen, ein kleiner, ältlicher, glatzköpfiger Gentleman in schwarzem Anzug. Er trug ein Notizbuch in der Hand, und eine massive goldene Uhrkette baumelte aus seiner Westentasche herunter. In seinem Gesicht lag ein mißglückter Versuch, traurig auszusehen, und zugleich ein Schmunzeln von Zufriedenheit, so daß er wie ein Mensch aussah, der nach einem Schluck auserlesenen Weins zunächst sich die Lippen leckt und dann die Leute glauben machen will, es sei eine bittere Arzenei gewesen.

»Mrs. Gamp, wie geht’s Ihnen?« fragte Mr. Mould mit einer Stimme, die so leise war wie sein Tritt.

»Ach, recht gut, i dank der Nachfrage«, versetzte Mrs. Gamp mit einem Knicks.

»Sie müssen hier ganz besonders Obacht geben, Mrs. Gamp; es ist kein gewöhnlicher Fall, Mrs. Gamp! Und richten Sie nur alles recht nett und hübsch her, Mrs. Gamp«, sagte der Leichenbestatter und nickte mit feierlicher Miene.

»Es soll alles geschehen«, versetzte Mrs. Gamp und machte abermals einen Knicks. »Ich hoffe, wir kennen uns.«

»Das hoffe ich auch, Mrs. Gamp«, sagte der Leichenbesorger.

Mrs. Gamp machte ihren dritten Knicks.

»Dies ist einer der ergreifendsten Fälle, Sir«, fuhr Mr. Mould – zu Mr. Pecksniff gewendet – fort, »den ich in all den Jahren meiner Berufstätigkeit gesehen habe.«

»Wirklich, Mr. Mould?« rief Mr. Pecksniff erschüttert. »Eine so von Herzen kommende Trauer, Sir, habe ich noch nie gesehen. Sie hat keine Grenzen – wahrhaftig, keine Grenzen« – Mr. Mould riß die Augen weit auf und stellte sich auf die Zehenspitzen – – »in punkto Kosten. Ich habe den Auftrag, Sir, mein ganzes Personal von stummen Leidtragenden aufzubieten. Und das kommt sehr hoch, Mr. Pecksniff. Was sie trinken, gar nicht mit eingerechnet. Und dann die silberplattierten Handgriffe von bester Qualität, mit den teuersten Engelsköpfen verziert! Auch an Trauerfedern darf kein Mangel sein. Kurz, Sir, es soll etwas absolut Prachtvolles werden.«

»Mein Freund, Mr. Jonas, ist ein vortrefflicher Mann«, flötete Mr. Pecksniff.

»Ich hab mein Lebtag lang viel Kindesliebe zu sehen bekommen, Sir«, versetzte Mr. Mould, »aber auch Unkindlichkeit. Das ist so unser Los. Unser Beruf bringt es mit sich, daß wir viele solche Geheimnisse kennenlernen. Aber eine Kindesliebe wie diese ist so ehrenvoll für die menschliche Natur, so berechnet, uns mit der Welt, in der wir leben, zu versöhnen, daß ich sagen kann, es ist mir noch nichts Ähnliches bisher vorgekommen. Sie beweist übrigens nur, Sir, was der vielbeweinte Schauspieldichter, der zu Stratford begraben liegt, gesagt hat: – ›daß in allem etwas Gutes zu finden ist‹.«

»Freut mich ungemein, so etwas aus Ihrem Munde zu hören, Mr. Mould«, rief Pecksniff.

»Sie sind sehr gütig, Sir. Und was Mr. Chuzzlewit für ein Mann war – Oh, was das für ein Mann war! Da reden sie immer«, fuhr Mould fort und winkte mit der Hand der ganzen großen Menschheit ab, »von Lord-Mayor, von Sheriff, Ratsherren und dem ganzen übrigen Plunder, aber man zeige mir einen Mann in dieser Stadt, der wert wäre, in den Schuhen des verstorbenen Mr. Chuzzlewit zu wandeln! Nein, nein«, rief Mould bitter, »man hebe sie auf, man hebe sie auf, man gebe ihnen neue Sohlen und bewahre sie für seinen Sohn auf, bis er reif genug ist, sie zu tragen. Aber keiner versuche, sie selbst anzuziehen, sie würden ihm nicht passen. – Wir kennen ihn«, schloß Mould und steckte sein Notizbuch wieder in die Tasche, »Wir kennen ihn und lassen uns nicht mit Speck fangen wie die Mäuse. – Guten Morgen, Mr. Pecksniff, guten Morgen.«

Mr. Pecksniff erwiderte das Kompliment, und Mould, überzeugt, daß er sich höchlichst ausgezeichnet, wandte sich zum Gehen. Ein Lächeln der Freude über seine Geschäftstüchtigkeit zuckte in seinen Mienen auf, verschwand aber schnell wieder, um einem Ausdruck der Niedergeschlagenheit und einem Seufzer Platz zu machen. Dann blickte er in seinen Hut, als ob er hier Trost suche, setzte ihn aber, da er offenbar nichts dergleichen darin fand, auf und entfernte sich mit leisem Schritt.

Mrs. Gamp und Mr. Pecksniff stiegen die Treppen hinauf. Man wies die Dame in die Kammer, wo die zugedeckten sterblichen Überreste Anthony Chuzzlewits lagen, nur von einem einzigen treuen, liebenden Menschenherz betrauert, und Mr. Pecksniff begab sich in die dunkle Wohnstube, um Jonas aufzusuchen, den er schon beinah zwei Stunden nicht gesehen hatte.

»Pecksniff«, begann Jonas flüsternd, »vergessen Sie nicht, Sie haben die Oberleitung über alles und müssen jedermann, der davon spricht, sagen können, daß alles in Ordnung vorgegangen ist! Wissen Sie übrigens niemanden, den Sie zum Leichenbegängnis einladen könnten?«

»Nein, Mr. Jonas, ich kenne niemanden.«

»Denn wenn das wäre«, versetzte Jonas, »so müßte man es unbedingt tun. Wir haben nichts zu verbergen!«

»Nein«, wiederholte Pecksniff nach kurzem Nachdenken. »Leider weiß ich niemanden. – Ich bin Ihnen wirklich sehr für Ihre freigebige Gastlichkeit verbunden, Mr. Jonas, aber beim besten Willen, ich weiß niemanden.« »Auch recht«, brummte Jonas, »Sie, ich, Chuffey und der Doktor werden gerade eine Droschke ausfüllen. Wir müssen den Doktor dabei haben, weil er weiß, wie die Sache vor sich ging und daß ich nichts daran ändern konnte.«

»Wo steckt denn unser lieber Freund, Mr. Chuffey?« fragte Pecksniff, sah sich in der Stube um und blinzelte mit den Augen, denn er war natürlich sehr ergriffen.

Er wurde dabei durch das plötzliche Auftauchen Mrs. Gamps erschreckt, die plötzlich ohne Schal und Haube, den Kopf in den Nacken geworfen, mit stolzem Gang zornig ins Zimmer trat und in spitzigem Ton eine Privatunterredung – draußen vor der Tür – mit ihm verlangte.

»Wenn Sie irgend etwas zu sagen haben, so können Sie es doch gerade so gut hier tun«, seufzte Mr. Pecksniff und schüttelte melancholisch den Kopf.

»Ich hab net viel zu sagen, wo die Leute trauern um Tote und Hingeschiedene«, entgegnete Mrs. Gamp, »aber nix für ungut, was ich sag, gehört zur Sache. Ich bin meinerzeit an vielen Orten gwesen, meine Herren, und hoffe zu wissen, was meine Schuldigkeit ist und wie ich sie zu erfüllen hab. Es war natürlich sehr sonderbar, wenn’s net so war, und sehr unrecht von so an feinen Herrn, wie der Herr Mould, der doch die höchsten Familien in unserm Land zur größten Zufriedenheit bedient hat, mich so zu empfehlen, wie er’s getan hat. Ich hab selbst schon viel Jammer mitgmacht«, sie legte großen Nachdruck auf diese Worte, »und kann ganz gut mitfühlen, wie’s einem is bei solchen Heimsuchungen, aber i bin ka Russ und a ka Preuß und kann’s daher net leiden, wenn eins spioniert.«

Ehe es möglich war, Mrs. Gamp zu antworten, fuhr sie, immer röter im Gesicht werdend, fort:

»’s ist net so einfach, meine Herren, in der Welt als a Witwe zu leben, bsonders wenn der Tag mit an Verlust anfangt, der sich net so leicht wieder einbringen laßt, aber ein jeds, wo sein Brot verdienen muß, hat auch seine eigenen Regeln und Bestimmungen, wo net übertreten werden dürfen. Manche Leut«, fuhr sie erregt fort und verschanzte sich hinter ihrem stärksten Beweisbollwerk, das, wie sie zu glauben schien, kein menschlicher Scharfsinn zu erstürmen vermochte, »manche Leut mögen Russen und manche mögen Preußen sein, aber die sin halt scho so geboren und müssen sich’s so gfallen lassen. Aber die, wo von einer andren Natur sin, die denken anders.«

»Wenn ich die gute Frau verstehe«, wandte sich Mr. Pecksniff zu Jonas, »so scheint Mr. Chuffey etwas lästig zu sein. Soll ich ihn herunterholen?«

»Ja, tun Sie’s«, riet Jonas. »Ich wollte gerade sagen, daß er noch oben sei, als Sie hereinkamen. Ich würde ihn selbst holen gehen, – – aber es wäre mir doch lieber, wenn Sie es täten, wenn es Ihnen einerlei ist.« Mr. Pecksniff entfernte sich sogleich bereitwillig. Mrs. Gamp folgte ihm, und ihre Miene hellte sich auf, als sie sah, daß er eine Flasche und ein Glas vom Tische mitnahm.

»Wissen S’«, sagte sie, »wenn’s net zu seinem eigenen Besten war, so möcht mir so wenig dran liegen, ob er da is oder net, als wenn er a Mucken war. Aber wenn eins an dergleichen Sachen net gewöhnt is, geht’s ihm nachher net so leicht wieder aus dem Kopf und ’s is a Freundschaftsdienst, wenn man so jemand net sein eigenen Willen laßt. – Und selbst«, schloß Mrs. Gamp, wahrscheinlich auf einige Redeblumen anspielend, die sie auf das Haupt Mr. Chuffeys gestreut haben mochte, »selbst wenn man so jemand ausschimpft, so geschieht’s nur, um eahm zu zerstreuen.«

Was für Epitheta sie auch immer dem alten Buchhalter gegeben haben mochte, aufgeheitert oder aufgeweckt hatte sie ihn nicht. Er saß noch immer neben dem Bett in dem Lehnstuhl, den er die ganze Nacht vorher eingenommen hatte, die Hände gefaltet und den Kopf auf die Brust gesenkt, und sah weder auf, als sie eintraten, noch gab er ein Zeichen des Bewußtseins von sich, bis ihn Mr. Pecksniff endlich am Arme berührte.

»Dreimal zwanzig und zehn«, sagte er, »macht null und sieben. Manche Menschen sind so zäh, daß sie’s bis viermal zwanzig bringen. Viermal null ist null und viermal zwei ist acht, macht achtzig. O warum warum – warum – lebte er nicht bis viermal null macht null und viermal zwei macht acht, gleich achtzig?«

»O du irdisches Jammertal«, rief Mrs. Gamp und bemächtigte sich des Glases und der Flasche. »Warum ist er gestorben vor seinem armen, alten, gebrechlichen Diener«, jammerte Chuffey, schlug die Hände zusammen und blickte kummervoll auf. »Was bleibt mir jetzt, wo er fort ist!«

»Mr. Jonas«, rief Pecksniff feierlich. »Mr. Jonas, mein lieber Freund!«

»Ich habe ihn so gern gehabt«, ächzte der alte Mann weinend. »Er war immer so gut gegen mich. Wir haben zusammen die Tara und den Rabatt in der Schule gelernt. Ich habe ihn einmal, ihn und sechs andere, in der Arithmetik ausgestochen. Gott verzeih mir’s, daß ich das Herz hatte, ihn auszustechen.«

»Kommen Sie, Mr. Chuffey«, tröstete ihn Pecksniff. »Kommen Sie mit. Fassen Sie sich, Mr. Chuffey.«

»Ja, das will ich«, hauchte der alte Buchhalter; »ja, ich will mich zusammennehmen – – wievielmal zwanzig – o Chuzzlewit und Sohn – Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit – Ihr eigenes Fleisch und Blut!«

Dann versank er wieder in seinen alten Stumpfsinn und ließ sich geduldig wegführen. Mrs. Gamp setzte sich, die Flasche auf dem einen und das Glas auf dem andern Knie, nieder und schüttelte eine Zeitlang trübe den Kopf; schließlich schenkte sie sich geistesabwesend ein wenig von dem Branntwein ein und erhob das Glas an ihre Lippen. Sie ließ einen zweiten, einen dritten Schluck folgen, und entweder waren ihre Gedanken über Tod und Leben so traurig oder ihre Bewunderung des Getränkes so überschwenglich, – kurz, sie verdrehte die Augen dermaßen, daß nur mehr das Weiße sichtbar war, und schüttelte dabei rastlos den Kopf.

Der alte Chuffey wurde in seinen gewohnten Winkel geführt und blieb dort sitzen, still und stumm. Nur hie und da stand er auf und ging in der Stube auf und ab, rang die Hände oder stieß plötzlich einen seltsamen wilden Schrei aus.

Eine ganze Woche lang blieben die drei so Tag für Tag um den Kamin versammelt, ohne das Haus zu verlassen. Mr. Pecksniff wäre wohl ganz gerne in den Abendstunden ein wenig ausgegangen, aber Jonas wollte auch nicht eine Minute allein sein. In dieser Weise brüteten sie in dem dunklen Zimmer vom Morgen bis in die Nacht ohne Erholung oder Zerstreuung. Der Gedanke an den, der da oben in der Leichenkammer steif und starr ausgestreckt lag, lastete so schwer auf Jonas, daß er fast darunter zusammenbrach. Während der ganzen langen sieben Tage und Nächte umspukte ihn ununterbrochen das schreckliche Gefühl, daß der Tote noch im Hause sei. Wenn sich die Türe bewegte, sah er mit leichenfahlem Gesicht und entsetztem Auge hin, als glaube er, gespenstische Finger hielten die Klinke umkrallt. Flackerte das Feuer im Luftzug, so blickte er über die Achsel in der Furcht, eine in Leichentücher gehüllte Gestalt zu sehen, die es mit ihrem schrecklichen Kleide fächelte. Das leiseste Geräusch machte ihn zusammenschauern und zusammenfahren, und einmal in der Nacht rief er bei dem Klang von Schritten über seinem Haupte, der Tote wandle, trap, trap, trap, in Leichenkleidern herum. Nachts lag seine Schlafmatratze auf dem Boden des Besucherzimmers, gerade so wie die Mr. Pecksniffs, da sein eigenes Zimmer Mrs. Gamp angewiesen worden war. Das Heulen eines Hundes vor dem Hause erfüllte ihn mit Entsetzen – mit einem Entsetzen, das er nicht verbergen konnte. Dem Widerschein des Lichtes aus der Leichenkammer, der sich an den gegenüberliegenden Fenstern widerspiegelte, wich er aus wie einem zornigen Auge.

Nacht für Nacht fuhr er aus seinem unruhigen Schlummer auf, blickte stier umher und rief nach dem Morgen. Die Leitung sämtlicher Angelegenheiten, sogar die Bestellung der täglichen Mahlzeiten, hatte er Mr. Pecksniff überlassen, der infolgedessen in der festen Überzeugung, der Leidtragende bedürfe des Trostes in Form kräftiger Nahrung, die Gelegenheit benützte, während dieser trübseligen Zeit nur die leckersten Sachen auf die Tafel setzen zu lassen. Zuckerbackwerk, geschmorte Nieren, Austern und andere leichtverdauliche Speisen für jedes Nachtessen und dazu die entsprechende Menge heißen Punsches, wobei er dann so viele moralische Reflexionen und geistige Tröstungen entwickelte, daß ein Heide davon hätte bekehrt werden müssen. Namentlich, wenn er nicht Englisch verstanden hätte.

Mr. Pecksniff war überdies keineswegs der einzige Leidtragende, der sich in diesen Tagen der Trübsal kulinarischer Genüsse hingab, denn auch Mrs. Gamp zeigte einen sehr erlesenen Geschmack in punkto Essen. Gehacktes Hammelfleisch wies sie mit Verachtung zurück. Auch hinsichtlich Trinken war sie sehr pünktlich und wählerisch; so verlangte sie eine Pinte milden Porters zum Lunch, eine Pinte zum Dinner, eine halbe Pinte als eine Art Zwischenstation zwischen Dinner und dem Tee und eine Pinte von dem berühmten starken Ale oder echten alten »Brighton Tipper« zum Souper. Außerdem stand beständig die Flasche Brandy auf dem Kamin, und dann und wann appellierte sie an die gute Erziehung ihrer Auftraggeber, sie zu einem Tropfen Wein einzuladen. Ebenso fanden sich Mr. Moulds Leute genötigt, ihren Gram wie ein junges Kätzchen am ersten Morgen seines Daseins zu ertränken, und pünktlich, ehe sie an ihr Geschäft gingen, benebelten sie sich, um allzu großer Ergriffenheit vorzubeugen. Kurz, die ganz seltsame Woche verging in schauerlicher Fidelität und grimmig stillem Wohlleben, und außer dem armen Chuffey feierte jeder, der in den Schattenbereich von Anthony Chuzzlewits Leichenbegängnis gehörte, ein Festmahl wie die Ghoule aus Tausendundeiner Nacht.

Endlich kam der Tag der Beisetzung. Mr. Mould lehnte, in der einen Hand die goldene Uhr, mit der andern ein Glas edlen Portweins zwischen Auge und Licht haltend, an dem Schreibpult in dem kleinen Glastürbureau und besprach sich mit Mrs. Gamp. Zwei stumme Leidtragende standen an der Haustür und schnitten so klägliche Gesichter, wie sich nur von Leuten eines profitablen Geschäftes erwarten ließ. Mr. Moulds ganzes Etablissement war aufgeboten und versah innerhalb und außerhalb des Hauses den Dienst. Federn nickten, Rosse schnaubten, Seide und Samt flatterte, kurz alles war geschehen – wie Mr. Mould nachdrücklich bemerkte – was für Geld geschehen konnte.

»Und was will man weiter, Mrs. Gamp!« rief er, nachdem er sein Glas geleert, mit den Lippen schmatzend.

»Natürlich nichts, Sir.«

»Natürlich nichts«, wiederholte Mr. Mould, »Sie haben recht, Mrs. Gamp. Weshalb verwenden eigentlich die Leute –« er füllte sein Glas abermals, »mehr Geld auf einen Todesfall, Mrs. Gamp, als auf eine Geburt? Das müssen Sie doch am besten wissen, es schlägt in Ihr Fach. Wie erklären Sie sich das?« »Na ja, weil mer halt an Leichenbestatter lieber sieht als a Hebamm«, gluckste Mrs. Gamp verschmitzt und strich sich ihr neues schwarzes Kleid glatt.

»Hahaha«, lachte Mr. Mould, »man sieht, Sie haben heute morgen auf anderer Leute Kosten gefrühstückt, Mrs. Gamp.«

Als jedoch sein Blick bei diesen Worten einen kleinen an der Wand hängenden Rasierspiegel streifte und er darin sein Gesicht ungebührlich heiter lächeln sah, setzte er sofort seine Trauermiene wieder auf.

»Seit Sie mich so gütig empfohlen haben, hab i net oft auf eigne Kosten gfrühstückt, und hoffentlich wird’s auch in Zukunft net der Fall sein«, entgegnete Mrs. Gamp mit einem apologisierenden Knicks.

»Nun«, meinte Mr. Mould, »wie die Vorsehung will. Ich kann Ihnen übrigens selbst sagen, Mrs. Gamp, worin der Grund liegt. Es kommt daher, daß das Anlegen des Geldes bei einem geordneten Unternehmen, wo alles im allerfeinsten Stil ausgeführt wird, wie ein Verband auf das gebrochene Herz wirkt und Balsam in die verwundete Seele gießt. Wenn Leute sterben, bedürfen die Herzen eines Verbandes; der Geist will Linderung haben. Sehen Sie sich zum Beispiel nur den Gentleman heut an, wie er aussieht!«

»Ein freigebiger Gentleman«, rief Mrs. Gamp enthusiastisch.

»Nein, nein«, versicherte der Leichenbestatter, »er ist durchaus kein freigebiger Herr für gewöhnlich. Da kennen Sie ihn schlecht. Aber ein betrübter Herr ist er, ein gefühlvoller Herr. Er weiß, was für ihn dabei alles herauskommen kann, wenn er seine Liebe und Verehrung für den Hingeschiedenen so an den Tag legt. Er hat für sein Geld«, erklärte Mr. Mould und schwenkte seine Uhrkette im Kreise herum, »erstens vier Trauerpferde vor jedem Wagen, ebensoviele samtene Pferdedecken, Kutscher in Tuchmänteln und Stulpenstiefeln, schwarzgefärbte Straußenfedern und eine Menge Begleiter zu Fuß, alle nach der neuesten Trauermode gekleidet, mit messingbeschlagenen Stäben in der Hand, und ein Grab – ff. Wenn er entsprechend zahlt, kann er sich sogar in der Westminster-Abtei begraben lassen. Nein, nein, Mrs. Gamp, Geld ist keine Schimäre, wenn man solche Sachen dafür haben kann.«

»Und ein wahrer Segen Gottes ist es«, sagte Mrs. Gamp, »daß es noch solche Leute gibt wie Sie, Mr. Mould, wo solchene Sachen verkaufen oder verschaffen.«

»Ja, Mrs. Gamp, da haben Sie recht«, rief der Leichenbestatter, »wir sollten ein viel höher geehrter Stand sein. Wir tun das Gute insgeheim und erröten, wenn es in unsern kleinen Rechnungen erwähnt wird. Wieviel Trost hab ich – ja ich –« rief Mr. Mould, »schon unter meinen Mitmenschen verbreitet mit meinen vier langschweifigen Prachtpferden, die gar nicht angeschirrt werden unter zehn Pfund zehn Schilling.«

Mrs. Gamp öffnete den Mund zu einer passenden Antwort, wurde jedoch durch das Eintreten eines von Mr. Moulds Gehilfen, seinem Hauptleidtragenden, einem fetten runden Mann, dessen Weste fast bis zu den Knien reichte, und mit einer über und über mit Finnen besäten Nase, unterbrochen. In frühern Jahren war der Mann ein zartes Bürschchen gewesen, dann aber, infolge seines beständigen Aufenthalts in der fetten Leichenatmosphäre nach und nach so üppig ins Kraut geschossen.

»Nun, Tacker«, fragte Mr. Mould, »ist unten alles bereit?«

»Ein wundervolles Schauspiel, Sir«, versetzte Tacker. »Die Pferde sind stolzer und frischer, als ich sie jemals gesehen hab, und mit die Köpf stoßen s‘, als ob s‘ wüßten, was die Federn kosten. Eins, zwei, drei, vier«, zählte Mr. Tacker sodann auf und warf vier schwarze Mäntel über den linken Arm.

»Ist Tom da mit dem Kuchen und dem Wein?« fragte Mr. Mould.

»Er muß im Augenblick kommen, Sir.«

»Dann«, sagte Mr. Mould, steckte seine Uhr ein und betrachtete sich in dem kleinen Rasierspiegel, um sicher zu sein, daß sein Gesicht auch den gehörigen Trauerausdruck habe, »dann, denke ich, können wir an die Arbeit gehen. – Geben Sie mir das Papier mit den Handschuhen her, Tacker. – – Oh, was war das für ein vortrefflicher Herr, der Verstorbene. – Tacker, Tacker, was war das für ein Mann!«

Mr. Tacker, der infolge seiner bei Leichenbegängnissen gesammelten großen Erfahrungen einen trefflichen pantomimischen Schauspieler hätte abgeben können, blinzelte Mrs. Gamp zu, ohne daß dies dem Ernste seines Gesichts, abgesehen von einem Grinsen, Abbruch getan hätte, und folgte seinem Gebieter ins nächste Zimmer.

Es gehörte zu Mr. Moulds gewerbsmäßigen Gepflogenheiten, von denen er nie abging, daß er sich stets das Ansehen gab, als ob er den Doktor nicht kenne, obgleich sie in Wahrheit nahe beieinander wohnten und sich oft, wie zum Beispiel im gegebenen Falle, in die Hände arbeiteten. Er händigte ihm jetzt ein paar schwarze Glacéhandschuhen ein, wie wenn er ihn nie in seinem Leben gesehen hätte, während der Doktor seinerseits sich so gemessen benahm, als habe er wohl von Leichenbestattern gehört oder gelesen, sei auch schon an ihren Läden vorbeigekommen, könne sich aber durchaus nicht erinnern, je mit einem Herrn dieses Schlages in Berührung gekommen zu sein.

»Wie? Handschuhe?« fragte der Doktor. »Bitte, Mr. Pecksniff, nach Ihnen.«

»Oh, bitte sehr, durchaus nicht«, versetzte Mr. Pecksniff.

»Sie sind sehr gütig«, bedankte sich der Doktor und wählte sich ein Paar Handschuhe. »Nun, Sir, wie ich Ihnen bereits sagte, wurde ich ungefähr um halb zwei Uhr zu dem Patienten gerufen – Kuchen und Wein, he? Welches ist der Portwein?«

Auch Mr. Pecksniff nahm ein Glas.

»Ungefähr um halb zwei Uhr morgens, Sir«, fing der Doktor wieder an, »wurde ich zu dem Patienten gerufen. Beim ersten Läuten der Nachtglocke springe ich aus dem Bett, reiße das Fenster auf, stecke den Kopf hinaus – – Mantel, eh? Bitte, ziehen Sie ihn nicht zu fest zu. – Ja, so wird’s gut sein.«

Nachdem Mr. Pecksniff in ähnlicher Weise eingekleidet war, fuhr der Doktor fort:

»Und stecke meinen Kopf hinaus – Hut? Lieber Freund, nein, das ist nicht der meinige. Pardon, Mr. Pecksniff, aber ich glaube, wir haben unabsichtlich unsere Kopfbedeckungen vertauscht. – Ich danke Ihnen. Nun, Sir, was ich sagen wollte –«

»Wir sind fertig«, unterbrach ihn Mould mit leiser Stimme.

»Fertig, wie?« fragte der Doktor. »Sehr gut. Mr. Pecksniff, ich werde Ihnen gelegentlich, wenn wir in der Kutsche sitzen, das Weitere erzählen. Es ist etwas seltsam. Fertig? Wie? Hoffentlich regnet’s doch nicht!« »Nein, es ist sehr schön, Sir«, entgegnete Mould.

»Ich fürchtete schon, wir würden nasses Wetter kriegen, denn mein Barometer fiel gestern sehr stark. Wir können uns Glück wünschen, daß wir so gut weggekommen sind.« – In diesem Augenblick traten Mr. Jonas und Chuffey ein. Hastig zog der Arzt sein weißes Taschentuch heraus und drückte es an die Augen, offenbar um einen Schmerzensausbruch zu verbergen. Dann schritt er Seite an Seite mit Mr. Pecksniff zur Türe hinaus.

Mr. Mould und seine Leute hatten die Großartigkeit der getroffenen Anstalten durchaus nicht übertrieben. Es war in der Tat ein glänzendes Begräbnis. Die vier Leichenwagenpferde warfen die Köpfe in die Höhe und scharrten mit den Hufen, als wüßten sie, daß ein Mensch gestorben sei, und triumphierten darüber. »Sie spannen uns ins Joch, peitschen uns, malträtieren uns und verkrüppeln uns nur zu ihrem Vergnügen, aber sterben müssen sie doch; hurra! Sterben müssen sie doch.«

Und fort ging der Leichenzug Anthony Chuzzlewits durch die schmalen Straßen und gewundenen Gäßchen der City. Verstohlen lugte Mr. Jonas aus dem Kutschenfenster, um den Eindruck zu beobachten, den das Gepränge auf die Menge mache. Mr. Mould wanderte mit langsamen Schritten einher und lauschte voller Stolz den bewundernden Ausrufen der Umstehenden. Der Doktor flüsterte Mr. Pecksniff seine Geschichte zu, ohne jedoch, wie es schien, dem Ende näher zu kommen als anfangs. Der arme alte Chuffey saß unbeobachtet in seiner Ecke und schluchzte. Schon bei Beginn der Zeremonie hatte er Mr. Mould großes Ärgernis gegeben, weil er sein Taschentuch ganz wider alles Herkommen im Hute getragen und sich die Augen mit den Fingerknöcheln gewischt hatte. Kurz, sein Benehmen verstieß gegen jeden Anstand und war überhaupt eines solchen feierlichen Anlasses unwürdig. Von Rechts wegen hätte man ihn gar nicht zuziehen dürfen.

Aber er war nun einmal da. Auch auf dem Kirchhof benahm er sich nicht weniger anstößig, denn er stützte sich auf Mr. Tacker, der ihm offen heraus sagte, er tauge zu einem solchen Begräbnis nicht; höchstens zu einem dritter Klasse. Aber Chuffey hörte ihn nicht, denn das Echo einer für immer verstummten Stimme klang in seinem Herzen wider. »Ich habe ihn so gern gehabt«, rief er immer wieder und sank auf das Grab nieder, als alles vorbei war. »Er war immer so gut gegen mich. Oh, mein lieber alter Freund und Herr!«

»Kommen Sie, kommen Sie, Mr. Chuffey«, redete ihm der Doktor zu, »das taugt zu nichts. Der Boden ist lehmig, Mr. Chuffey Sie dürfen das nicht tun, so fassen Sie sich doch!«

»Wenn’s die ordinärste Sorte Begräbnis und Mr. Chuffey ein Träger gewesen wäre, meine Herren«, sagte Mould desperat und half ihnen den armen alten Buchhalter aufheben, »meiner Seel, er hätte es nicht ärger treiben können.«

»Seien Sie ein Mann, Mr. Chuffey!« sagte auch Mr. Pecksniff.

»Seien Sie ein Gentleman, Mr. Chuffey!« redete ihm Mr. Mould zu. – »Mein Ehrenwort, lieber Freund«, murmelte der Doktor in streng verweisendem Tone und trat zu dem alten Buchhalter heran, »das ist schlimmer als bloße Schwachheit; es ist schlecht, selbstsüchtig und unrecht, Mr. Chuffey! Sie sollten sich an uns ein Beispiel nehmen, mein werter Herr, und nicht vergessen, daß Sie durch keine Bande des Blutes mit unserm Freund verbunden waren. Zumal ein sehr naher und sehr teuerer Verwandter von ihm da ist.«

»Ach ja, sein leiblicher Sohn!« rief der alte Mann und faltete leidenschaftlich die Hände. »Sein eigenes Fleisch und Blut!«

»Er ist nicht richtig im Kopfe«, erklärte Jonas und wurde blaß. »Sie dürfen nicht darauf achten, was er sagt. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er plötzlich den gräßlichsten Unsinn behauptete. Bitte, achten Sie nicht auf ihn. Ich tue es auch nicht. Mein Vater hat ihn meiner Fürsorge anempfohlen und damit genug. Was er sagt oder tut, ist gleichgültig. Ich werde schon für ihn sorgen.«

Ein Murmeln der Bewunderung erhob sich unter dem Trauergefolge – Mr. Mould und seine Leute mit eingeschlossen – über diesen neuen Beweis von Hochherzigkeit und kindlichem Sinn, aber Chuffey ließ es nicht mehr weiter darauf ankommen, sprach kein Wort mehr und kehrte stumm in seine Kutsche zurück.

Wohl erblaßte Jonas, als das Benehmen des alten Schreibers die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, jedoch war seine Bestürzung nur ganz vorübergehend, und bald erholte er sich wieder. Und das war nicht der einzige Wechsel, der an diesem Tage in ihm vorging.

Mr. Pecksniffs neugieriges Auge hatte bald herausgefunden, daß er auffallend ruhiger zu werden begann, sobald der Leichenzug das Haus verlassen hatte. Im Verlauf der Bestattungszeremonien wurde er bald ganz wieder wie sonst. Sein früheres Aussehen, seine Haltung, seine gewohnten angenehmen Eigentümlichkeiten in Sprache und Benehmen kehrten zurück, und in jeder Hinsicht wurde er wieder der frühere bestrickende Jonas. Als sie nach Hause fuhren, und ganz besonders, als sie dort anlangten und die Entdeckung machten, daß Licht und Luft durch die offenen Fenster hereinströmten, da fühlte sich Mr. Pecksniff so vollkommen überzeugt, Jonas sei ganz wieder der alte wie vor einer Woche, daß er freiwillig seine inzwischen erworbene Machtstellung aufgab und ohne einen Versuch, sie noch weiter zu behaupten, seine Stellung als milder und ergebener Gast wieder annahm. Mrs. Gamp kehrte zu dem Vogelhändler zurück und wurde noch in derselben Nacht zu einer Zwillingsgeburt herausgeklopft. Mr. Mould speiste heiter im Schoße seiner Familie und verbrachte den Abend höchst vergnügt in seinem Klub. Der Leichenwagen kehrte, nachdem er einige Zeit an der Tür eines lärmenden Wirtshauses gestanden, samt den Federbüschen und den zwölf auf dem Dache sitzenden rotnasigen Leichenbestattungsgehilfen, die sich jetzt an den schmutzigen Stiften hielten, an denen zur Zeit des Prunkes Büsche zu wehen pflegten, nach seinem Schuppen zurück. Die diversen Leichendraperien wurden sorgfältig in Schränke gelegt, die feurigen Rosse verfügten sich nach der Tränke ruhig in ihren Stall, und der Doktor vergnügte sich bei einem Hochzeitsmahle mit Wein und vergaß darüber seine Geschichte, die er noch immer nicht zu Ende erzählt hatte, ganz und gar. – Kurz, alles, was von dem Gepränge übrigblieb, beschränkte sich auf die genauen Aufzeichnungen in den Büchern des Leichenbestatters.

Und auch auf dem Friedhof war alles so gut wie vergessen. Die Tore wurden geschlossen, die Nacht dunkelte, und ein leichter Regen fiel auf das wuchernde Unkraut hernieder. Nur ein neuer Grabhügel, der am Tage vorher noch nicht dagewesen, war zu den übrigen hinzugekommen. Wie ein Maulwurf, der unter dem Boden fortwühlt, hatte die Zeit ein Häuflein Erde aufgeworfen, und das war alles.

2.Kapitel


2.Kapitel

Worin dem Leser gewisse Personen vorgeführt werden, mit denen er, wenn er will, genauer bekannt werden kann

Es war schon recht spät im Herbst, als die sinkende Sonne, sich durch den Nebel kämpfend, der sie den ganzen Tag über verschleierte, ihre hellen Strahlen auf das kleine, nur eine schwache Tagreise von der schönen, alten Stadt Salisbury entlegene Dorf Wiltshire herniedersandte.

Wie eine plötzlich aufblitzende Erinnerung die Seele eines Greises erhellt, goß sie ihre Herrlichkeit über die Landschaft, so daß entschwundene Jugend und Frische wieder neu aufzuleben schienen. Das feuchte Gras funkelte im Licht, die spärlichen grünen Flecken in den Hecken – wo noch ein paar belaubte Zweige ritterlich standhielten und bis auf den letzten Augenblick den schneidenden Winden und Frühreifen Widerstand leisteten – faßten sich ein Herz und wurden wieder lebensvoll und frisch; der Strom, der den ganzen Tag über trüb und verdrießlich dahingeflossen, zeigte ein heiteres Lächeln; die Vögel auf den nackten Zweigen begannen zu zwitschern, als glaubten sie voller Hoffnung, der Winter sei vorüber und der Frühling wieder im Anzuge. Der Wetterhahn auf dem spitzen Turmdach der alten Kirche glitzerte von seinem hohen Posten fröhlich herab, und die efeubeschatteten Fenster warfen einen solchen Lichterglanz auf den glühenden Himmel zurück, daß es schien, als seien in dem ehrwürdigen Gebäude zwanzig Sommer mit all ihrer Glut und Wärme aufgespeichert.

Selbst jene Merkmale der Jahreszeit, die so bedeutungsvoll vom kommenden Winter flüstern, zierten die Landschaft und hatten für den Augenblick nicht den Anflug von Traurigkeit wie sonst. Das gefallene Laub strömte einen lieblichen Duft aus und dämpfte die rauhen Töne ferner Pferdehufe und Räder. Da und dort streute der Bauer die Saat oder zog geräuschlos mit dem Pflug anmutige Streifen durch die weiche braune Erde. An den reglosen Zweigen der Sträucher hingen Herbstbeeren wie Korallenschnüre in den Fabelgärten, wo die Früchte Juwelen sind. Bäume standen, ihres Schmuckes beraubt, inmitten eines Häufleins gelber Blätter und sahen ihrem eigenen langsamen Verfalle traurig zu. Andere trugen zwar noch ihr Laub, aber es war dürr und runzelig, wie verbrannt, und hie und da lagen um die Stämme in roten Hügeln die Äpfel aufgehäuft, die sie dieses Jahr getragen. Nur die tapfern Immergrüns blickten ernst und düster drein, als seien sie von der Natur berufen, die Lehre zu verkündigen, daß es nicht immer die gefühlvollsten und frohherzigsten ihrer Lieblinge sind, denen sie die längste Lebensfrist gewährt. Quer durch ihre dunkeln Zweige hindurch brachen die Sonnenstrahlen Bahnen von tieferem Gold, und das rote Licht, das sich um ihre schwärzlichen Äste legte, diente ihnen als Folie, um den Glanz und die Pracht des sterbenden Tages noch zu erhöhen.

Ein Augenblick, und die Herrlichkeit war versunken. Die Sonne stieg hinab hinter die langen, dunkeln Berg- und Wolkenreihen, die im Westen eine luftige Stadt bildeten, Mauer auf Mauer und Zinnen auf Zinnen getürmt. Verschwunden war das Licht, das blinkende Turmdach wurde kalt und dunkel, der Strom vergaß sein Lächeln, die Vögel verstummten, und allüberall lagerte sich der Trübsinn des Winters. Da erhob sich ein Abendwind, und die Zweige krachten und raschelten zu seiner stöhnenden Musik, als führten Totengerippe einen Tanz auf. Die welken Blätter fuhren auf – aus ihrer Ruhe gestört –, wie um Schutz zu suchen vor seinem kalten Hauch; der Landmann spannte die Pferde aus und führte sie, das Haupt gesenkt, mit eiligem Schritt nach Hause. Aus den Fenstern der Hütten begannen die Lichter zu schimmern und in die dunkel werdenden Felder hinauszublinken.

Jetzt erwachte die Dorfschmiede zu ihrer ganzen glanzvollen Macht. Die eifrigen Blasbälge brausten ihr »Ha ha« dem hellen Feuer zu, das sausend Antwort gab und zu dem fröhlichen Klingen des Hammers vergnügt leuchtende Funken tanzen ließ. Das rote Eisen wetteiferte mit diesem Sprühen und warf freigebig glühende Edelsteine umher. Der starke Schmied und seine Gesellen führten so mächtige Schläge, daß selbst die melancholische Nacht froh wurde und Glut ihr dunkles Antlitz übergoß, wie sie durch Türen und Fenster herein neugierig einem Dutzend müßiger Zuschauer über die Schulter spähte. Wie gebannt standen die Gaffer da, warfen nur hin und wieder einen Blick in die Finsternis hinter sich, pflanzten ihre Ellenbogen noch träger und bequemer auf das Sims und lehnten sich noch ein wenig weiter hinein in die Schmiede – augenscheinlich ebenso wenig geneigt, sich zu entfernen, als hätten sie, wie Heimchen, ausdrücklich den Beruf, sich um die prasselnde Feuerstätte zu scharen.

Hui, wie der zornige Wind, erst seufzend, dann heulend, um die lustige Schmiede brauste, das Pförtchen auf und zu schlug und im Schornstein toste, als wolle er den braven Blasebalg verhöhnen, daß er so gehorsam arbeite. Ein ohnmächtiger Prahlhans war er trotz all seines Lärmens! Wenn er überhaupt einen Einfluß auf seinen rauhen Kameraden übte, so war es höchstens der, daß dieser sein fröhliches Lied noch lauter sang und das Feuer noch heller brennen und die Funken noch lustiger tanzen machte. Endlich sprühte es so toll ringsum, daß es dem sauertöpfischen Wind zu arg wurde und er mit einem Geheul entwich und dabei dem alten Schild vor dem Wirtshause einen Tritt gab, daß der blaue Drache sich noch höher als vorher aufrichtete und später – vor Weihnachten – ganz aus seinem morschen Rahmen herausfiel.

Für einen respektabeln Wind war es recht kleinlich, seinen Grimm an so armen Dingern wie den gefallenen Herbstblättern auszulassen. Kaum hatte er nämlich sein Mütchen an dem armen Drachen gekühlt, da stieß er auf einen großen Haufen Blätter und wirbelte sie so durcheinander, daß sie wild hierhin und dorthin flogen, sich überstürzten, auf ihren dünnen Kanten einherrollten, wahnsinnige Luftfahrten machten und im Übermaße ihrer Verzweiflung die außerordentlichsten Possen trieben. Und noch nicht zufrieden damit, sie umherzujagen, sonderte er eine kleine Partie ab, hetzte sie nach der Sägegrube eines Wagners und unter die Planken und das Werkholz im Hofe, spürte ihnen unter dem Sägemehl, das er in die Luft streute, wieder nach; und wenn er sie erwischte – o je, wie er ihnen da auf den Fersen folgte.

Es war eine schwindelnde Jagd, sie gerieten an unbesuchte Orte, wo kein Ausgang war und ihr Verfolger sie nach Belieben umherwirbeln konnte; sie krochen unter die Dachrinnen der Häuser und klammerten sich wie Fledermäuse dicht an die Seiten der Heuschober an; sie flogen zu offenen Stubenfenstern hinein und kauerten sich ins Gehege – kurz, allenthalben suchten sie Schutz. Das Possierlichste, was sie jedoch ausführten, war, daß sie sich das plötzliche Aufgehen von Mr. Pecksniffs Haustüre zunutze machten und wild in den Flur hineinstürmten. Der Wind kam gleich hinter ihnen drein, und da er die Hintertüre offen fand, blies er augenblicklich die Kerze, die Miss Pecksniff in der Hand hielt, aus und schlug die Haustüre mit solcher Gewalt Mr. Pecksniff an die Brust, daß dieser im Nu an der untersten Treppe auf dem Rücken lag. Dann solcher kleinlichen Heldentaten müde, eilte er lärmend von hinnen und fuhr über Moor und Wiesen, Tal und Hügel, bis er auf die See hinausgeriet, wo er mit andern zu gleichen Possen aufgelegten Freunden zusammentraf und eine lustige Nacht durchmachte.

Inzwischen lag Mr. Pecksniff, der von einer scharfen Treppenkante jene Art von Kopfstück erhalten hatte, die im Schädelinnern den bekannten Lichtertanz zu erzeugen pflegt, mit friedlichem Starrblick auf der Schwelle und sah seine Haustüre an. Es schien, als gebe ihm dieser Anblick mehr zu denken als die gewöhnlichen Haustüren, denn er blieb eine unsinnig lange Zeit liegen, ohne sich zu vergewissern, ob er Schaden genommen oder nicht. Ja, er gab nicht einmal eine Antwort, als Miss Pecksniff mit so schriller Stimme, daß sie ganz gut einer erzürnten jugendlichen Windsbraut hätte angehören können, durch das Schlüsselloch ein »Wer ist da!« rief. Und als die junge Dame die Türe abermals öffnete, die Kerze mit der Hand beschattend hinausschaute und herausfordernd nach jeder Richtung blickte, nur nicht dorthin, wo er lag, gab er weder einen Laut von sich, noch deutete er im geringsten den Wunsch an, aufgehoben zu werden.

»Oh, ich habe dich ganz gut gesehen«, rief Miss Pecksniff dem vermeintlichen Schelm nach, der, wie sie glaubte, geklopft und dann Reißaus genommen hatte. »Aber wir werden dich schon kriegen, Bürschchen!«

Mr. Pecksniff sagte noch immer nichts, vielleicht weil er sein Teil schon »gekriegt« hatte.

»Du bist jetzt um die Ecke, ich weiß schon!« rief Miss Pecksniff zwar aufs Geratewohl, aber es lag doch etwas Wahres darin, denn von Mr. Pecksniff, der eben im Begriffe stand, dem erwähnten Lichtertanz ein Ende zu machen und die Anzahl der Messingknäufe an seiner Haustüre von vier- oder fünfhundert, wie es ihm zuvor geschienen, auf etwa ein Dutzend zu reduzieren, ließ sich in gewissem Sinne wohl sagen, daß er »um die Ecke« wieder zu sich kam.

Nach einer lautgekreischten Drohung mit Gefängnis, Konstabler, Rad und Galgen war Miss Pecksniff gerade dabei, die Türe wieder zu schließen, als Mr. Pecksniff, der noch immer unten am Treppenabsatz lag, sich auf einem Ellenbogen aufrichtete und nieste.

»Himmel, welche Stimme!« rief Miss Pecksniff. »Mein Vater!«

Bei diesem Ausruf stürzte eine zweite Miss Pecksniff aus dem Wohnzimmer, und dann zerrten die beiden jungen Damen unter allerlei unzusammenhängenden Redensarten Mr. Pecksniff in eine sitzende Stellung.

»Papa!« riefen sie einstimmig. »Pa! So sprich doch, Pa! Mach kein so verstörtes Gesicht, liebster Pa!«

Da aber ein Gentleman in einem solchen Falle erfahrungsgemäß nicht Herr seines Mienenspiels zu sein pflegt, so fuhr Mr. Pecksniff fort, Mund und Augen sehr weit aufzusperren und seine Kinnlade nach Art eines Nußknackers sinken zu lassen. Da ihm außerdem der Hut herabgefallen, sein Gesicht bleich, sein Haar gesträubt und sein Rock sehr schmutzig war, so bot er einen derartig kläglichen Anblick, daß keine von den beiden Misses Pecksniff ein unwillkürliches Aufkreischen unterdrücken konnte.

»Macht weiter nichts«, sagte Mr. Pecksniff. »Ich fühle mich schon besser.«

»Er kommt wieder zu sich!« rief die jüngere Miss Pecksniff.

»Er spricht wieder!« stellte die Ältere fest.

Und mit diesen frohen Worten küßten sie Mr. Pecksniff auf beide Wangen und trugen ihn ins Zimmer. Sodann eilte die jüngere Miss Pecksniff wieder hinaus, um seinen Hut, ein Paket, seinen Schirm, seine Handschuhe und andere verstreute Kleinigkeiten aufzulesen, worauf sie die Haustüre schloß und sich mit ihrer Schwester anschickte, im Hinterzimmer Mr. Pecksniffs Wunden zu verbinden.

Diese waren nicht sehr bedenklicher Natur und beschränkten sich auf Hautschürfungen an denjenigen Teilen, die die ältere Miss Pecksniff an ihres Vaters Organismus »die Graupleten« nannte – nämlich an den Knien und Ellenbogen –, und außerdem auf das plötzliche Vorhandensein einer ganz neuen, dem Phrenologen unbekannten beulenartigen Erhöhung am Hinterkopf. Nachdem man diese Beschädigungen äußerlich mit Streifen von essiggetränktem Löschpapier und innerlich mit heißem Grog behandelt hatte, setzte sich die ältere Miss Pecksniff nieder, um den Tee zu bereiten, wozu bereits alles hergerichtet war, und die jüngere Miss Pecksniff holte inzwischen aus der Küche eine dampfende Schüssel mit Schinken und Eiern, setzte sie ihrem Vater vor und nahm dann auf einem Schemel zu seinen Füßen Platz, wodurch sie ihre Augen in gleiche Höhe mit dem Teebrett brachte.

Aus dieser kindlichen Stellung darf jedoch nicht geschlossen werden, daß sie so jung gewesen wäre, um der Kürze ihrer Beine wegen auf einem Schemel habe sitzen zu müssen. Sie wählte diesen Platz lediglich aus Einfalt und Unschuld und weil alles an ihr mädchenhaft, neckisch und wildfangartig war. Sie war das schelmischste und zugleich harmloseste junge Mädchen, das man sich nur denken konnte, die jüngere Miss Pecksniff, und darin lag ihr größter Reiz. Sie war zu naiv, zu unschuldig, zu kindisch-lebhaft, die jüngere Miss Pecksniff, als daß sie hätte einen Kamm tragen, ihr Haar frisieren oder in Zöpfe flechten mögen. Sie trug es kurz und natürlich gelockt. Ihre Gestalt war ziemlich üppig und eigentlich frauenhaft, aber trotzdem trug sie bisweilen ein Lätzchen. Und wie bezaubernd ihr das dann stand! Oh, die jüngere Miss Pecksniff war wirklich das »Zuckergoscherl«, wie sie von einem jungen Herrn in der lyrischen Ecke einer Provinzzeitung genannt wurde.

Mr. Pecksniff hingegen war der moralische Mann, – ein ernster Mann, ein Mann von nobler Denk- und Redeweise, der seine Tochter hatte Gratia taufen lassen. Gratia! Welch ein bezaubernder Name für ein Wesen von so reinem Herzen wie die jüngere Miss Pecksniff! Ihre Schwester hieß Charitas. Wie trefflich: Gratia und Charitas!

Charitas mit ihrem gebildeten und hellen Verstande und ihrem milden, seelenvollen Ernst verdiente so recht diesen Namen und bildete ein schönes Seitenstück zu ihrer Schwester! Welch liebliches Bild, wenn man sah, wie sie sich liebten, miteinander sympathisierten, sich gegenseitig als Stütze dienten, füreinander lebten und doch, gewissermaßen als Gegensatz, einander gelegentlich tadelten und sich Hindernisse in den Weg legten! Und die Krone in diesem ganzen entzückenden Register von Eigenschaften war, daß die beiden hübschen Wesen sich alles dessen so gar nicht bewußt waren! Sie hatten nicht die mindeste Ahnung davon, ebensowenig wie Mr. Pecksniff. Die Natur spielte sie gegeneinander aus: die beiden Misses Pecksniff hatten durchaus keine Hand dabei im Spiele.

Mr. Pecksniff, wie bereits erwähnt, war ein höchst moralischer Mann. Selbstverständlich! Vielleicht gab es überhaupt noch nie einen moralischern Mann als Mr. Pecksniff; namentlich aus seinen Gesprächen und Briefen ging das hervor. Einer seiner Bewunderer hatte einst von ihm gesagt, er trage einen wahren Fortunatussäckel von guten Grundsätzen in seinem Innern. In dieser Hinsicht war er fast wie das Mädchen in dem Feenmärchen, und wenn auch nicht wirkliche Diamanten von seinen Lippen fielen, so waren es doch glänzend nachgemachte von geradezu wundervollem Feuer. Er war ein höchst exemplarischer Mann und mit mehr Sittensprüchen ausgestattet als ein Schullesebuch. Einige wollten ihn mit einem Wegweiser verglichen wissen, der beständig nach einem Ort hinzeigt, aber nie selber hingeht. Doch das waren natürlich gehässige Feinde – weiter nichts als die Schatten, die sein Strahlenglanz erzeugte. Sogar seine Gurgel hatte etwas Moralisches. Man konnte einen guten Teil davon sehen, denn sie schaute über die niedere Umzäunung einer weißen Halsbinde hinweg, deren Schleife noch kein Sterblicher erblickt, da Mr. Pecksniff sie hinten zu binden pflegte, und da lag sie, ein Tal zwischen zwei Vorgebirgen von Vatermördern, friedvoll und bartlos vor dem erstaunten Auge des Beschauers. Sie schien für Mr. Pecksniff zu sagen: »Hier ist nicht Lug, nicht Trug, meine Damen und Herren; alles eitel Friede – eine heilige Ruhe durchdringt mich.« Ähnlich war es mit dem leicht ergrauten Haar, das, aus der Stirne gebürstet, bolzgerade in die Höhe stand oder sich in inniger Harmonie mit den Augenlidern leicht senkte. Dieselbe Biederkeit strahlten auch seine wohlgenährte, wenn auch nicht korpulente Figur und sein geschmeidiges, ölglattes Benehmen aus. Auch sein schlichter, schwarzer Anzug, sein Witwerstand, die baumelnde Lorgnette – kurz alles stand damit im Einklang und verkündete laut: »Seht, seht den moralischen Pecksniff!« Das Messingschild auf der Türe, das, da es Mr. Pecksniff angehörte, natürlich nicht lügen konnte, trug die Aufschrift:

PECKSNIFF, ARCHITEKT,

welchen Worten Mr. Pecksniff auf seinen Geschäftsadressen noch:

UND GÜTERBESCHAUER

hinzuzufügen pflegte. Letzteres konnte er in einem gewissen Sinne allerdings genannt werden, da er eine sehr umfassende Aussicht von den Fenstern seines Hauses aus genoß.

Von seinen Taten als Baumeister wußte man nichts Bestimmtes. Sicher war, daß er nie einen Plan entworfen oder etwas gebaut hatte; aber trotzdem hieß es allgemein, seine Kenntnisse gingen in dieser Hinsicht in geradezu schauerliche Tiefen.

Seine Berufstätigkeit beschränkte sich fast ausschließlich, wo nicht ganz, auf die Aufnahme von Zöglingen, denn das Zinseinsammeln für Haus- und Grundbesitzer, womit er sich hin und wieder zur Abwechslung beschäftigte, kann kaum ein architektonischer Akt genannt werden. Sein Genie betätigte sich darin, Eltern und Vormünder zu umgarnen und Pensionsgelder einzustecken. Kam ein junger Herr, nachdem auf ein Jahr vorausbezahlt worden, in Mr. Pecksniffs Haus, so borgte sich dieser von ihm sein Reißzeug aus, vorausgesetzt, daß es mit Silber ausgelegt oder in anderer Weise wertvoll war, ersuchte ihn, sich von diesem Augenblicke an als Mitglied der Familie zu betrachten, lobte ihn nach Umständen höchlichst bei seinen Eltern oder Vormündern und logierte ihn schließlich in einem geräumigen Zimmer im obern Stock ein, wo er in Gesellschaft einiger Zeichenbretter, Winkelmaße, steifbeiniger Zirkel und zweier oder dreier andrer junger Herren sich je nach dem Kontrakt drei oder fünf Jahre an Rissen der Salisbury-Kathedrale von jedem erdenklichen Gesichtspunkte aus vervollkommnen und im Bauen unzähliger Luftschlösser, Parlamentshäuser und anderer öffentlicher Gebäude nach Herzenslust üben konnte. An keinem Ort auf Erden wurden vielleicht je so viele prachtvolle Bauten dieser Art aufgeführt wie unter Mr. Pecksniffs Auspizien, und wenn nur der zwanzigste Teil der Kirchen, die in dieser »Schule« gebaut wurden – mit einer oder der andern Miss Pecksniff am Altare, um sich dem Architekten antrauen zu lassen – vom Parlamente für verwendbar erklärt werden könnte, so würde es mindestens für die nächsten fünf Jahrhunderte nicht mehr an Gotteshäusern fehlen.

»Selbst die irdischen Dinge, die wir soeben zu uns genommen«, sagte Mr. Pecksniff, nach Beendigung seiner Mahlzeit um sich blickend, »selbst der Rahm, der Zucker, der Tee, die Röstschnitten, der Schinken –«

»Und die Eier«, ergänzte Charitas mit leiser Stimme.

»Und die Eier. – Selbst sie haben ihre Moral. Seht, wie sie kommen und verschwinden! Jede Freude ist vergänglich. Sogar essen können wir nicht – ewig. Wenn wir in unschädlichen Flüssigkeiten zuviel des Guten tun, bekommen wir die Wassersucht, und von aufregenden Getränken werden wir betrunken. Welche Beruhigung liegt nicht in diesem Gedanken!«

»Sage nicht, Pa, wir werden betrunken«, bat die ältere Miss Pecksniff.

»Wenn ich sage wir, meine Liebe«, erwiderte der Vater, »so meine ich die Menschheit im allgemeinen – das menschliche Geschlecht als Gesamtheit und nicht in seiner Individualität. Die Moral hat nichts Persönliches, meine Liebe. Selbst so etwas«, erklärte Mr. Pecksniff und legte den Zeigefinger seiner linken Hand auf den Löschpapierstreifen an seinem Kopf, »so gering der Unfall auch gewesen sein mag, erinnert er uns doch, daß wir nichts weiter sind als« – er wollte sagen: »Würmer«, erinnerte sich aber noch rechtzeitig, daß diese Tiere sich nicht durch besondern Haarschmuck auszeichnen, und schloß deshalb mit den Worten: »Fleisch und Blut.«

»Was gleichfalls«, rief er nach einer Pause, während der er sich mit nicht sonderlichem Glücke nach neuen Moralbeispielen umgesehen zu haben schien – »was gleichfalls sehr beruhigend ist. Gratia, mein Kind, schüre das Feuer nach und schiebe die Asche zurück.«

Die junge Dame gehorchte, nahm dann ihren Schemel wieder ein und legte den einen Arm auf das Knie Mr. Pecksniffs, um ihn ihrer blühenden Wange als Unterlage dienen zu lassen. Miss Charitas rückte ihren Stuhl näher ans Feuer, wie jemand, der sich auf ein Gespräch gefaßt macht, und blickte erwartungsvoll ihren Vater an.

»Ja«, begann Mr. Pecksniff nach einer kurzen Pause, während der er stumm vor sich hingelächelt und zum Kamin hingenickt hatte – »ich bin in Erreichung meines Zieles abermals glücklich gewesen. In Bälde wird ein neuer Hausgenosse unter uns weilen.«

»Ein junger Mann, Papa?« fragte Charitas.

»J-ja, ein junger Mann«, antwortete Mr. Pecksniff. »Er will sich die schätzbare Gelegenheit zunutze machen, die sich ihm jetzt bietet, die Vorteile der besten praktischen Architekturbildungsschule mit den Annehmlichkeiten einer Heimat und dem beständigen Aufenthalt unter Leuten zu vereinigen, die (wie unbedeutend ihr Wirkungskreis und wie beschränkt ihre Fähigkeiten auch sein mögen) doch stets ihrer moralischen Verantwortlichkeit eingedenk sein werden.«

»Oh, Pa!« rief Gratia, schalkhaft ihren Finger erhebend, »siehe Annonce!«

»Du neckische – neckische Spottdrossel!« rief Mr. Pecksniff.

Wir müssen hier bemerken, daß Miss Pecksniff durchaus nicht musikalisch war und den Namen Drossel eigentlich nicht verdiente. Mr. Pecksniff pflegte nur häufig ein Wort zu gebrauchen, wenn er glaubte, daß es einen guten Klang habe und einen Satz passend abrunde, ohne sich dabei viel an dessen Bedeutung zu kehren. Und das tat er oft auf eine so kühne und originelle Weise, wenn seine Beredsamkeit einmal im Gange war, daß sogar die klügsten Leute darob in Verwirrung gerieten und den Atem anhielten.

»Ist er schön, Pa?« fragte die jüngere Tochter.

»Törichte Gracy!« tadelte die ältere Miss Pecksniff. (Gracy war nämlich ein Kosename für Gratia.) »Was zahlt er Kostgeld, Pa? Sag!«

»Ach, du lieber Himmel, Cherry!« rief Miss Gratia und hob mit dem gewinnendsten Kichern von der Welt ihre Händchen empor, »was du für ein geldsüchtiges Mädchen bist! O du garstiges, berechnendes, kluges Ding!«

Es war wahrhaft entzückend und eines idyllischen Schäferzeitalters würdig, wie die zwei Misses Pecksniff neckisch nach einander schlugen und dann mit einer Umarmung endeten.

»Er sieht gut aus«, erklärte Mr. Pecksniff langsam und deutlich; »recht gut. Übrigens erwarte ich nicht gerade direkt ein Kostgeld von ihm.« Trotz ihres so verschiedenartigen Naturells sperrten bei dieser Kunde sowohl Charitas wie Gratia ihre Augen so ungemein weit auf, und ihre Gesichter nahmen für den Moment einen so leeren Ausdruck an, daß es schien, als ob ihre Gedanken eigentlich doch in der Hauptsache einig gewesen wären.

»Wozu auch das?« fuhr Mr. Pecksniff fort, noch immer nach dem Feuer hinlächelnd. »Hoffentlich gibt es doch noch Uneigennützigkeit auf der Welt? Wir stehen nicht alle in feindlichen Reihen einander gegenüber – in der Offensive und der Defensive. Es gibt noch Menschen, die mitten hindurch wandeln und den Bedürftigen helfen, wo sie können und sich zu keiner der beiden Parteien schlagen. – Nich?«

Es lag etwas in diesem philanthropischen Erguß, was die Schwestern einigermaßen beruhigte. Sie wechselten einen Blick und wurden wieder heiter.

»Lasset uns nicht immer rechnen, Pläne machen und für die Zukunft sorgen«, sagte Mr. Pecksniff und lächelte immer holdseliger ins Feuer, »ich bin dessen müde. Wenn nur unsere Absicht gut und aufrichtig ist, so wollen wir ihr kühnlich willfahren, sollte sie uns auch Verlust bringen statt Gewinn. Was meinst du, Charitas?«

Und jetzt warf er zum erstenmal, seit er sich diesen Betrachtungen hingegeben, seinen Töchtern einen Blick zu, und als er bemerkte, daß beide lächelten, blinzelte er ihnen einen Moment so launig, aber doch mit einer Art frommen Schalkhaftigkeit zu, daß sich die jüngere sofort fröhlich auf sein Knie setzte, ihren schönen Arm um seinen Nacken schlang und ihn wohl zwanzigmal küßte. Während dieses Zärtlichkeitsergusses lachte sie auf die ausgelassenste Art, und auch die kluge Cherry nahm an ihrer Heiterkeit teil.

»Pst, pst!« ermahnte Mr. Pecksniff, schob seine Letztgeborene sanft zurück, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und nahm wieder eine ruhige Miene an. »Was das doch für Torheiten sind! Lasset uns auf der Hut sein, wenn wir ohne Grund lachen, daß wir nicht einen Grund zum Weinen finden. – Was hat sich seit gestern Neues im Hause zugetragen? John Westlock ist hoffentlich fort?«

»Nein, immer noch nicht«, versetzte Charitas.

»Und warum nicht? Seine Lehrzeit lief gestern ab. Auch weiß ich, daß sein Koffer gepackt war, denn ich sah ihn am Morgen im Flur stehen.«

»Er hat gestern im ›Drachen‹ übernachtet und mit Mr. Pinch diniert«, erklärte die junge Dame. »Sie haben den Abend zusammen verbracht, und Mr. Pinch ist erst sehr spät nach Hause gekommen.«

»Und als ich ihm diesen Morgen auf der Treppe begegnete, Pa«, fiel Gratia mit ihrer gewohnten Lebhaftigkeit ein, »o Gott, wie abscheulich er da aussah! Sein Gesicht spielte alle Farben, und seine Augen waren so trübe, als wären sie gesotten. Ich bemerkte sofort, daß er schrecklich Kopfweh haben müsse, und seine Kleider rochen – i Gitt nach« – hier schauderte die junge Dame zusammen – »nach Tabak und Punsch.«

»Nun, ich denke«, sagte Mr. Pecksniff mit seiner gewohnten Milde, obgleich mit der Miene eines Dulders, der schweres Unrecht mutig trägt, »ich denke, Mr. Pinch hätte etwas Besseres tun können, als die Gesellschaft eines Menschen zu suchen, der, wie er wohl weiß, in der letzten Zeit unseres langen Zusammenseins nichts unterlassen hat, meine Gefühle zu verletzen. Ich weiß nicht, ob es zart von Mr. Pinch gehandelt war. Ja, ich kann noch weiter gehen und sagen: ich bin nicht ganz überzeugt, ob es sich von Seite Mr. Pinchs überhaupt nur mit ganz gewöhnlicher Dankbarkeit verträgt.«

»Was läßt sich anderes von einem Mr. – Pinch erwarten?« rief Charitas verächtlich.

»Nun ja«, gab Mr. Pecksniff, die Hand gütig erhebend, zu, »man kann allerdings recht wohl sagen: was läßt sich von Mr. – Pinch erwarten; aber Mr. Pinch ist unser Nebenmensch, meine Liebe. Mr. Pinch ist ein Teil von der unendlichen Totalsumme der Menschheit, meine Teure, und wir haben ein Recht – ja, es ist sogar unsere Schuldigkeit, auch bei Mr. Pinch eine Entwicklung jener besseren Eigenschaften zu erwarten, deren Besitz uns eine bescheidene Selbstachtung einflößt. – Nein«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »behüte der Himmel, daß ich sage, von Mr. Pinch ließe sich nichts Besseres erwarten, oder daß ich sage, es lasse sich von irgendeinem Menschenkinde, wie verrucht es auch sein möge (was doch in der Tat bei Mr. Pinch nicht der Fall ist), nichts Gutes erwarten. Aber Mr. Pinch hat mich enttäuscht. Er hat mich verletzt. Aber wenn ich um dessentwillen auch ein wenig schlimmer von ihm denke, so lasse ich es doch nicht die ganze Menschheit entgelten. O nein, nein!«

»Horch!« rief Miss Charitas und hielt den Finger in die Höhe, da sich ein leises Pochen an der Haustür hören ließ. »Da kommt der Mensch! Denkt an mich, er kommt mit John Westlock zurück, um den Koffer zu holen, und will ihm ihn auf die Postkutsche schaffen helfen. Denkt an mich, ob das nicht seine Absicht ist!«

Noch während sie sprach, schien der Koffer, nach dem Geräusch zu schließen, aus dem Hause getragen zu werden; dann, nach einem kurzen Gemurmel von Frage und Antwort, hörte man ihn niedersetzen, und jemand klopfte an die Zimmertür.

»Herein!«; rief Mr. Pecksniff – nicht etwa strenge, nein, nur tugendhaft. »Herein!«

Ein linkischer, unbehilflich aussehender, sehr kurzsichtiger und trotz seiner Jugend kahlköpfiger Mensch machte von dieser Erlaubnis Gebrauch, blieb aber, als er bemerkte, daß Mr. Pecksniff ihm den Rücken zukehrte und in das Feuer blickte, mit der Türklinke in der Hand zögernd stehen. Er war nichts weniger als hübsch und trug einen schnupftabakfarbenen Rock von sehr plumpem Schnitt, der vom langen Tragen zerknittert und auf jede mögliche Weise zerdehnt und verzogen war; aber trotz seines Anzuges, seiner linkischen Art und seines krummen Buckels, der durch die lächerliche Gewohnheit, den Kopf vorwärts zu schieben, noch mehr auffiel, wäre doch niemand auf den Gedanken gekommen, den Menschen für einen Bösewicht zu halten, wenn nicht Mr. Pecksniff so etwas angedeutet hätte. Er mochte ungefähr um die Dreißig herum sein, hätte aber ebensogut sechzehn oder sechzig sein können, da er eines jener wunderlichen Geschöpfe war, die immer desto älter aussehen, je jünger sie sind.

Die Hand noch immer auf der Türklinke, ließ er wiederholt seinen Blick von Mr. Pecksniff zu Gratia, von Gratia zu Charitas und von Charitas wieder zu Mr. Pecksniff zurückschweifen; aber da die jungen Damen ebensosehr in das Feuer verliebt schienen wie ihr Vater und keins von dem Kleeblatt irgend Notiz von ihm nahm, begann er endlich:

»Oh, ich bitte um Verzeihung, Mr. Pecksniff – pardon, wenn ich lästig falle, aber –«

»Durchaus nicht, Mr. Pinch«, versetzte Mr. Pecksniff mit seinen süßesten Tönen, ohne sich jedoch umzusehen. »Bitte, Platz zu nehmen, Mr. Pinch. Haben Sie die Güte, die Tür zu schließen, Mr. Pinch.«

»Sehr wohl, Sir«, entgegnete Pinch, tat jedoch nicht, wie ihm geheißen worden, hielt die Tür vielmehr noch weiter offen und winkte ängstlich jemandem draußen zu. »Mr. Westlock, Sir, hat gehört, daß Sie wieder zu Hause sind –«

»Mr. Pinch, Mr. Pinch!« seufzte Mr. Pecksniff und rollte mit der Miene tiefster Schwermut seinen Stuhl herum, »ich hätte das nicht von Ihnen erwartet. Wirklich, ich habe das nicht um Sie verdient.«

»Nein, nein – aber möchten Sie nicht die Güte haben, Sir –« flehte Pinch angelegentlichst. »Mr. Westlock, Sir, reist ab und möchte nicht in Groll scheiden. Sie haben kürzlich mit Mr. Westlock einen Zwist gehabt. Kleine Mißhelligkeiten – – –« »Kleine Mißhelligkeiten!« rief Charitas spitz.

»Kleine Mißhelligkeiten?« echote Gratia.

»Meine Lieben!« rief Mr. Pecksniff innig pathetisch, »meine teuern Kinder!« Dann, nach einer feierlichen Pause, verbeugte er sich gelassen gegen Mr. Pinch, als wollte er sagen: »Fahren Sie fort.« Aber Mr. Pinch war so verlegen und blickte so hilflos auf die beiden Misses Pecksniff, daß die Unterhaltung wahrscheinlich ein rasches Ende genommen haben würde, wenn nicht ein hübsch aussehender junger Mann, kaum dem Jünglingsalter entwachsen, sich von der Haustüre her genähert und den Faden des Gesprächs aufgenommen hätte.

»Na, Mr. Pecksniff«, rief er mit einem Lächeln, »bitte, lassen Sie uns nicht im Bösen scheiden. Es tut mir sehr leid, daß wir Streit miteinander hatten, und namentlich tut es mir leid, Sie gekränkt zu haben. Tragen Sie mir beim Abschied keinen Groll nach, Sir.«

»Ich hege gegen keinen Menschen auf Erden Groll«, entgegnete Mr. Pecksniff milde.

»Ich sagte dir’s doch«, flüsterte Pinch; »ich wußte es doch. So ist er immer.«

»Dann werden Sie mir gewiß auch die Hand geben, Sir«, rief Westlock, trat ein paar Schritte vor und warf Mr. Pinch einen bedeutsamen Blick zu.

»Wie?« fragte Mr. Pecksniff in seinem gewinnendsten Tone.

»Dann werden Sie mir auch die Hand geben, Sir.«

»Nein, John«, lehnte Mr. Pecksniff mit wahrhaft himmlischer Ruhe ab, »ich gebe Ihnen nicht die Hand, John. Ich habe Ihnen vergeben. Ich hatte Ihnen bereits verziehen, noch ehe Sie aufhörten, mich zu schmähen und zu kränken. Ich habe Sie im Geiste umarmt, John, was mehr ist als ein Händedruck!«

»Nun, Pinch«, sagte der junge Mann und wandte sich mit Widerwillen von seinem Lehrer ab. »Nun, was habe ich dir gesagt?«

Der arme Pinch blickte unruhig auf Mr. Pecksniff, dessen Augen von Anfang an auf ihn geheftet gewesen, und schaute dann stumm und verlegen zur Decke empor.

»Und was Ihre Verzeihung anbelangt, Mr. Pecksniff«, fuhr der junge Mann fort, »so verzichte ich darauf. Ich brauche keine Vergebung von Ihnen.«

»Wirklich nicht, John?« rief Mr. Pecksniff. »Sie müssen. Sie können nichts dagegen tun. Die Kraft, zu vergeben, ist eine hohe Tugend, die weit über Ihrer Macht und Ihrem Einfluß steht, John. Ich will Ihnen verzeihen. Sie können mich einfach nicht dazu zwingen, allen Unrechts eingedenk zu sein, das Sie mir zugefügt haben, John.«

»Unrecht?« rief Westlock mit der ganzen Hitze und dem Ungestüm seiner Jugend. »Da hört sich wirklich alles auf! Unrecht! Ich soll ihm Unrecht angetan haben! Der fünfhundert Pfund will er wahrscheinlich nicht ›eingedenk‹ sein, die er mir unter falschen Vorspiegelungen herausgelockt hat, oder der siebzig Pfund jährlich für eine Kost und eine Wohnung, die für siebzehn zu teuer gewesen wären! Da schau einer diesen Märtyrer!«

»Geld, John«, deklamierte Mr. Pecksniff, »ist die Wurzel allen Übels. Ich bedaure, sehen zu müssen, daß es bereits an Ihnen seine üblen Früchte trägt. Doch ich will nicht daran denken und sogar das Betragen dieses irregeleiteten Menschen vergessen – –«, (dabei lag etwas in seiner Stimme, wenn er auch wie ein Mann sprach, der im Frieden mit der ganzen Welt lebt, das deutlich verriet: »Ich habe jetzt ein Auge auf diesen Schuft«) – »dieses irregeleiteten Menschen, der Sie diesen Abend wieder hierher gebracht hat und der – zum Glück darf ich sagen – vergeblich bemüht ist, die Herzensruhe und den Seelenfrieden eines Mannes zu stören, der sein Herzblut seinetwegen vergossen haben würde.«

Mr. Pecksniffs Stimme bebte bei diesen Worten, und seine Töchter brachen in Schluchzen aus. Außerdem schwammen noch andere Töne in der Luft, wie wenn zwei Geisterstimmen ausgerufen hätten – die eine: Bestie! die andere: Unmensch!

»Vergebung«, begann Mr. Pecksniff wiederum, »reine und aufrichtige Vergebung ist nicht unverträglich mit einem verwundeten Herzen, und vielleicht wird sie eben deshalb nur zu einer desto größeren Tugend. Obgleich meine Brust wund und bis ins Innerste verletzt ist durch die Undankbarkeit dieses Menschen, so sage ich doch mit Stolz und Freude, daß ich vergebe. Nein, ich bitte«, rief er, seine Stimme erhebend, als Pinch augenscheinlich sprechen wollte, »ich bitte dieses Individuum, keine Gegenbemerkungen zu machen. Der Betreffende wird mich wahrhaft verbinden, wenn er jetzt kein Wort mehr spricht, da ich nicht weiß, ob ich der Versuchung gewachsen bin. In ganz kurzer Zeit werde ich wieder Seelenstärke genug besitzen, um mit ihm reden zu können, als ob diese Vorfälle sich nie zugetragen hätten. Nur jetzt nicht«, – Mr. Pecksniff wendete sich wieder zum Feuer und winkte mit der Hand zur Türe, »nur jetzt nicht!«

»Bah!« rief John Westlock mit der ganzen Summe von Verachtung, die sich durch dieses einsilbige Wort ausdrücken läßt. »Guten Abend, meine Damen. Komm, Pinch, die Sache ist nicht wert, daß man daran denkt. Ich habe eben recht behalten und du unrecht. Es ist nur eine Kleinigkeit, aber ein andermal wirst du hoffentlich klüger sein.«

Mit diesen Worten klopfte er seinem betrübten Kameraden auf die Schulter, drehte sich auf dem Absatz um und ging in den Flur hinaus, wohin ihm der arme Pinch, nachdem er noch einige Sekunden unschlüssig und mit der Miene tiefsten geistigen Elends dagestanden, nachfolgte. Dann hoben sie zusammen den Koffer auf und machten sich auf den Weg zur Postkutsche.

Dies flüchtige Gefährt passierte allabendlich die Ecke einer unweit gelegenen Gasse, und dorthin lenkten sie ihre Schritte. Einige Minuten schritten sie schweigend dahin, bis endlich der junge Westlock in lautes Gelächter ausbrach. Aber immer noch blieb sein Kamerad stumm.

»Ich will dir was sagen, Pinch«, begann John nach einer längeren Pause – »du hast nicht halb genug vom Teufel im Leib. Was sage ich, halb genug? Nein, gar nichts.«

»Nun«, seufzte Pinch, »ich weiß wahrhaftig nicht – aber das ist doch eher ein Kompliment. Wenn ich nichts vom Teufel in mir habe, desto besser. Nicht?«

»Desto besser?« wiederholte Westlock hitzig. »Um so schlimmer, willst du wohl sagen.«

»Und doch«, fuhr Pinch, wie geistesabwesend und ohne auf den Einwurf seines Freundes zu achten, fort, »muß ich ziemlich viel vom Teufel in mir haben, denn wie hätte ich sonst Mr. Pecksniff so aufbringen können? Ich hätte ihm diesen Kummer – – – um alle Schätze der Welt – ich bitte dich, lache nicht, John. – Du weißt, wie betrübt er war!«

»Er betrübt?«

»Hast du denn nicht bemerkt, daß ihm fast die Tränen in die Augen traten?!« rief Pinch. »Gott, Gott, John, ist es vielleicht eine Kleinigkeit, einen Mann so bewegt zu sehen und zu wissen, daß man schuld daran ist?! Und hast du ihn nicht sagen hören, daß er sein Herzblut für mich vergossen hätte?«

»Ach was, Herzblut!« rief Westlock gereizt. »Er sollte dir lieber geben, was du nötiger brauchst! Beschäftigung, Unterricht, Taschengeld! Er gibt dir doch nicht einmal die entsprechende Portion Schöpsenbraten zu deinen Kartoffeln und Gemüsen!«

»Ich fürchte«, seufzte Pinch, »ich bin ein starker Esser. Ich kann es mir selbst nicht verhehlen, daß ich einen gewaltigen Appetit habe. Du weißt es doch auch, John.«

»Du ein starker Esser?« fuhr John entrüstet auf. »Woher, bitt ich dich, kannst denn du das überhaupt wissen?«

Die Frage schien etwas schwer zu beantworten, weshalb Mr. Pinch nur mit leiser Stimme wiederholte, er habe hinsichtlich dieses Punktes immerhin seine Bedenken und fürchte, daß er ein starker Esser sein müsse.

»Sei dem übrigens, wie ihm wolle«, fügte er hinzu, »das kommt wenig oder gar nicht in Betracht, wenn er mich nur nicht für undankbar hält, John. Es gibt kaum eine Sünde auf der Welt, die in meinen Augen so himmelschreiend ist wie Undank, und wenn er mir das zur Last legt und mich schuldig glaubt, so macht er mich elend und unglücklich.«

»Meinst du, er weiß das nicht recht gut?« rief Westlock verächtlich. »Aber komm, Pinch, ehe ich noch ein Wort darüber verliere, wollen wir einmal die Gründe betrachten, warum du ihm überhaupt zu Dank verpflichtet sein sollst. Aber warte, zuvor die Hände gewechselt, der Koffer ist zu schwer. So wird’s gehen. Also, fang an!«

»Erstlich«, begann Pinch, »nahm er mich, für viel weniger, als er anfangs forderte, als Zögling auf.«

»Gut«, versetzte John, ohne sich durch diesen Beleg von Großmut erschüttern zu lassen. »Und zweitens?«

»Zweitens?!« wiederholte Pinch in einer Art Verzweiflung; »zweitens – – das begreift überhaupt alles in sich! Meine arme, alte Großmutter starb glücklich in dem Gedanken, mich bei einem so trefflichen Manne untergebracht zu haben. Ich bin in seinem Hause aufgewachsen, genieße sein Vertrauen, bin sein Gehilfe und beziehe von ihm Gehalt. Geht’s mit seinem Geschäft besser, so bessern sich auch meine Aussichten. Alles dies und noch viel mehr gehört zu Nummer zwei. Und als Vorrede und Prolog zu ›erstens‹, John, mußt du einen Umstand berücksichtigen, den niemand besser kennt als ich – daß ich nämlich zu viel einfacheren und geringeren Dingen geboren bin und weder eine gute Hand noch Talent für sein Geschäft oder überhaupt für etwas anderes habe als für allerhand Kleinigkeiten, die niemandem etwas nützen.«

Pinch sagte das mit so viel Ernst und in so innigem Tone, daß sein Kamerad wider Willen einen Augenblick wie umgestimmt war. Sie hatten inzwischen den Eckstein am Ende der Gasse erreicht und setzten sich auf den Koffer.

»Ich glaube, Tom Pinch, du bist einer der besten Kerle, die es auf der Welt gibt«, begann Westlock nach einer Weile.

»Ach, ganz und gar nicht. Wenn du nur Pecksniff so gut kennen würdest wie ich, so könntest du das von ihm sagen und hättest dann wirklich recht.« »Gut, so soll er also meinetwegen alles sein, was du willst«, erklärte John. »Ich werde kein Wort mehr gegen ihn sagen.«

»Ich fürchte, du tust es um meinet- und nicht um seinetwillen«, seufzte Pinch und schüttelte ernst den Kopf.

»Sei es, wessentwegen es will, wenn es dich nur beruhigt, Tom. Oh, er ist ein famoser Mensch. Er hat natürlich nie den sauern Erwerb deiner armen Großmutter in die Tasche gesteckt – sie war Haushälterin, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Pinch, streichelte seine großen Knie und nickte: »Haushälterin bei einem Gentleman.«

»Pecksniff hat natürlich nie ihren sauer verdienten Sparpfennig eingeheimst und ihr Aussichten von deinem Glück und deinem Fortkommen vorgespiegelt, das sich, wie niemand besser wußte als er, nie verwirklichen konnte?! Er hat nie ihren Stolz auf dich und ihren Wunsch, daß du mindestens zu einem Gentleman herangebildet werden solltest, zu Gegenständen der Spekulation und des Wuchers gemacht?! Natürlich nicht! Was, Tom?!«

»Nein, gewiß nicht«, versicherte Tom und sah seinem Freunde ins Gesicht, als verstehe er ihn nicht recht.

»Ich sage doch auch«, entgegnete Westlock, »freilich, er hat es nie getan. Er hat nicht weniger genommen, als er anfänglich forderte, weil dieses Wenige ihre ganze Habe und mehr war, als er erwartet hatte; er nicht, Tom, Gott bewahre! Er hat dich zu seinem Gehilfen gemacht, weil du ihm in jeder Beziehung von Nutzen bist, weil dein wunderbarer Glaube an seine angeblichen Verdienste ihm, wenn es darauf ankommt, unschätzbare Dienste leistet, weil ein Abglanz deiner Ehrlichkeit auch auf ihn fällt, weil dein Lerneifer in deinen freien Stunden, wo du alte Bücher liest und fremde Sprachen studierst, sogar bis Salisbury bekannt ist und deshalb ihn, den Lehrer zu einem unterrichteten und ungemein bedeutenden Mann stempelt! Dir hat er nichts von seinem Renommee zu danken, Tom, nein, gewiß nicht.«

»Natürlich nicht«, sagte Pinch und sah seinen Freund noch unruhiger an als zuvor. »Pecksniff mir sein Renommee danken! So etwas!«

»Sage ich denn nicht auch, daß es lächerlich wäre, an so etwas auch nur zu denken?« spottete John.

»Freilich, es wäre der pure Wahnsinn«

»Wahnsinn!« brummte der junge Westlock. »Allerdings, Wahnsinn. Wer anders als ein Wahnsinniger könnte annehmen, Pecksniff läge irgend etwas daran, wenn man sich erzählte, der junge Mann, der sonntags unentgeltlich die Orgel spielt und sich an späten Sommerabenden emsig darin übt, sei sein Schüler – was, Tom? Wer sonst als ein Wahnsinniger könnte glauben, ein Mann wie er schlüge Kapital daraus, seinen Namen in jedermanns Mund zu wissen – eben wegen der tausend ›nutzlosen Kleinigkeiten‹, die du verrichtest, und die er natürlich dich gelehrt hat? Wer anders als ein Tollhäusler könnte glauben, du machest ihm hier in der ganzen Umgebung besser und billiger Reklame als ein öffentlicher Anschlag! – Nicht wahr, Tom? Ebensogut könnte jemand annehmen, er schütte nicht bei jeder Gelegenheit sein ganzes Herz und seine ganze Seele vor dir aus und zahle dir nicht ein geradezu übermäßiges Jahresgehalt – oder, um mich womöglich noch phantastischer auszudrücken – ebensogut könnte jemand glauben: daß Pecksniff dich schlau ausnützt – dich, der du so schüchtern und mißtrauisch gegen dich selbst und so vertrauensvoll gegen alle andern Menschen, am meisten aber gegen ihn, bist, der es am wenigsten verdient. Das wäre natürlich hirnverbrannte Tollheit, Tom!«

Mr. Pinch hatte alles das mit einer Verlegenheit angehört, die zum Teil durch den Inhalt der Rede seines Kameraden, zum Teil durch die heftige Art und den ungestümen Ton, mit dem dieser gesprochen, veranlaßt zu sein schien. Dann atmete er tief auf, blickte Westlock gespannt an, als wünsche er aus dessen Mienen den Sinn der eben gefallenen Worte zu lesen. Er wollte gerade antworten, da ertönte das Posthorn lustig aus der Dunkelheit und machte der Unterhaltung plötzlich ein Ende. – Wie es schien, zur großen Freude Johns, der rasch aufsprang und seinem Freunde die Hand reichte.

»Beide Hände, Tom! Von London aus schreibe ich dir, verlaß dich drauf!«

»Bitte, ja«, bat Pinch. »Ja. Sei so gut. Also, leb wohl und: Gott mit dir! Ich kann es kaum glauben, daß du wirklich gehst. Es ist mir, als seiest du erst gestern angekommen. Also, leb wohl, lieber alter Freund!«

John Westlock verabschiedete sich mit nicht weniger Herzlichkeit und sprang auf das Wagenverdeck hinauf. Und fort rollte die Kutsche im Trab die dunkle Straße hinab; die Lampen flimmerten hell, und das Horn weckte weit und breit das schlummernde Echo.

»So zieh denn deines Weges«, apostrophierte Pinch die Kutsche. »Du kommst mir wirklich vor wie ein lebendes Wesen – wie irgendein großes Ungeheuer, das von Zeit zu Zeit diesen Ort heimsucht, um meine Freunde hinaus in die Welt zu entführen. Du scheinst heute abend ja ungewöhnlich aufgeräumt und guter Dinge zu sein. Hast recht, du kannst jubeln über deine Beute. Er ist ein hübscher, talentvoller Junge und hat nur den einzigen Fehler – er meint’s zwar nicht so, wie er es sagt – aber er ist grausam ungerecht gegen Pecksniff.«

16. Kapitel


16. Kapitel

Martin besucht New York, macht einige Bekanntschaften und speist in einem Kosthause. – Was dabei alles vorfiel

Schon am äußersten Saume des Landes der Freiheit herrschte keine geringe Aufregung, war doch tags vorher ein Alderman gewählt worden. Und da bei solchen Anlässen der Parteisinn sich besonders lebhaft zu äußern pflegt, so hatten die Anhänger des durchgefallenen Kandidaten es für nötig erachtet, die grandiosen Grundsätze der Meinungs- und Wahlfreiheit dadurch besonders zu betonen, daß sie ihren Mitmenschen, wo es irgend anging, Arme und Beine brachen und besonders mißbeliebte Gentlemen mit der menschenfreundlichen Absicht, ihnen die Nase abzuschneiden, durch alle Straßen verfolgten. Diese kleinen Ausbrüche der Volkslaune waren an und für sich weiter nicht merkwürdig und hätten – würden sie nur eine Nacht gedauert haben – kein besonderes Aufsehen erregt, aber sie erhielten immer frisches Leben und neue Bedeutung durch die Lungenbetätigung der Zeitungsjungen, die die neuesten Nachrichten nicht nur in allen Haupt- und Seitenstraßen der Stadt, sondern auch auf den Werften und Kais, besonders aber auf dem Verdeck und in den Kajüten des Dampfbootes mit schrillem Ruf verkündeten. Noch hatte die Barkasse das Ufer nicht erreicht, als sie bereits von einer ganzen Legion solcher kleiner Bürger der Republik geentert und überfüllt war.

»Hier die heutige New Yorker Kloake!« rief der eine. »Hier ist der heutige New Yorker Gurgelabschneider!«

»Hier der New Yorker Familienspion!«

»Hier haben Sie den New Yorker Horcher an der Wand!«

»Der New Yorker Spitzel – der Beutelschneider – der Schlüssellochgucker!«

»Hier der New Yorker Grobian!« Kurz, alle New Yorker Blätter wurden ausgerufen! Ausführliche Berichte über die gestrige Locofocobewegung, in der die Whigs eine Schlappe davontrugen, und die letzte Alabama-Boxertournee und das interessante Arkansasduell mit Bowiemessern sowie alle politischen, kommerziellen und Modeneuigkeiten füllten die Seiten! »Nur das Allerneueste! Extrablatt, Extrablatt!«

»Neueste Nummer der ›Kloake‹! Kaufen Sie die New Yorker Kloake!« schrie ein anderer. »Bereits das zwölfte Tausend heute gedruckt. Beste Marktnachrichten, alle Schiffsneuigkeiten, ausführliche Beschreibung des Balls bei Mrs. White, wo die ganze vornehme Welt von New York versammelt war. Besondere Nachrichten über das geheime Privatleben der dort anwesenden Damen. Kaufen Sie die Kloake! Bereits zwölftes Tausend der New Yorker Kloake. Enthüllungen über die ›schwarze Bande‹; in Wallstreet und die Washingtonclique! Ausführlicher Bericht der ›Kloake‹ über eine himmelschreiende Lumperei, begangen von dem Staatssekretär, als er bereits acht Jahre alt war: mit den größten Unkosten von seiner eigenen Amme eingeholt! Kaufen Sie die Kloake! Bereits zwölftes Tausend. Eine ganze Liste von New Yorker Namen der Gesellschaft, die demnächst an die Reihe kommen. – Alles schwarz auf weiß! Kaufen Sie die Kloake! Das erste Blatt der Vereinigten Staaten! Bereits das zwölfte Tausend aus dem Druck, und immer noch sind die Pressen in Gang. Kaufen Sie die New Yorker Kloake, Gentlemen!«

»Durch solche lichtvolle Mittel«, rief eine Stimme fast in Martins Ohr, »machen sich die übersprudelnden Leidenschaften meines Vaterlandes Luft.« Unwillkürlich wandte sich Martin nach dem Sprecher um und erblickte dicht an seiner Seite einen bleichen Gentleman mit eingefallenen Wangen, schwarzem Haar, unruhigem Blick und einem eigentümlichen Ausdruck um die tiefliegenden Augen, der weder als Scheelblick noch als Hohn gedeutet werden konnte und doch im ersten Moment ganz offenkundig eines von beiden zu sein schien. Auch bei einer näheren Bekanntschaft würde es schwer gewesen sein, den Zug anders denn als eine Mischung von Dünkel und niederträchtiger Schlauheit zu deuten. Um sich das Ansehen eines Weisen zu geben, trug der Gentleman einen breitkrempigen Hut und hatte, um seiner Haltung etwas Imponierendes zu geben, die Arme verschränkt. Er war ein wenig schäbig in einen blauen Mantel gekleidet, der ihm fast bis an die Knöchel reichte, seine kurzen weiten Hosen waren von derselben Farbe, und durch eine verschossene, gelbe Weste kämpfte sich ein verschossener Busenstreif, als wolle er mit den andern Anzugsbestandteilen gewissermaßen eine Art Gleichheit hinsichtlich bürgerlicher Rechte behaupten und auf eigene Faust eine besondere Art Unabhängigkeit proklamieren. Die ungewöhnlich großen Füße des Gentlemans waren nachlässig gekreuzt, während er selbst halb auf dem Seitengeländer des Dampfbootes saß, halb daran lehnte. Ein dicker Spazierstock, an dem einen Ende mit einer gewaltigen Zwinge und am andern mit einem großen Metallknopf verziert, von dem ein paar Quasten herunterbaumelten, vervollständigte seine Garderobe. Als der Gentleman bemerkte, daß es ihm gelungen, Martins Aufmerksamkeit zu erregen, zog er den rechten Mund- und Augenwinkel gleichzeitig in die Höhe und wiederholte:

»Durch solche lichtvolle Mittel machen sich die übersprudelnden Leidenschaften meines Vaterlandes Luft.«

Da er dabei Martin ansah und niemand anders in der Nähe war, der darunter gemeint sein konnte, neigte dieser den Kopf und erwiderte:

»Wie meinen Sie das?«

»Ich denke dabei an das Palladium rationeller Freiheit bei uns, Sir, und an die Scheußlichkeiten fremden Unterdrückertums im Ausland«, erklärte der Gentleman und deutete mit seinem Stock auf einen einäugigen und ganz besonders schmutzigen Zeitungsjungen, »an den Neid der großen Welt, Sir, und die Bahnbrecher der Zivilisation der Menschheit. Aber gestatten Sie die Frage, Sir«, setzte er mit der Miene eines Mannes hinzu, der sich nicht so leicht mit Phrasen abspeisen läßt, und stieß dabei seine Stockzwinge heftig auf das Verdeck; »wie gefällt Ihnen Amerika?«

»Ich bin außerstande, diese Frage jetzt schon beantworten zu können, da ich das Land ja noch gar nicht betreten habe«, sagte Martin.

»Ja ja, ich verstehe, Sie waren nicht darauf gefaßt, solche überwältigenden Anzeichen eines unerschöpflichen Nationalwohlstandes zu erblicken.«

Dabei deutete der Gentleman auf die vielen Schiffe, die an den Quais lagen, und schwenkte seinen Stock in der Runde, als wolle er Luft und Wasser mit in den erwähnten Reichtum einbezogen wissen.

»Nun, wie man’s nimmt«, sagte Martin. »Offen gestanden, glaube ich, war ich es.«

Der Gentleman sah ihn mit einem listigen Blicke an und meinte, diese Art Politik gefalle ihm nicht. Aber es mache weiter nichts; er als Philosoph finde ein gewisses Vergnügen darin, die Vorurteile der menschlichen Natur zu beobachten.

»Wie ich sehe, Sir«, fuhr er zu Martin gewendet fort und stützte sich mit dem Kinn auf den Knopf seines Stockes, »haben Sie hier wieder mal das übliche Quantum von Elend und Armut, Unwissenheit und Verbrechen mitgebracht, um es in den Schoß der großen Republik auszuschütten. Macht nichts, Sir! Lassen Sie sie nur in vollen Schiffsladungen vom alten Lande herüberkommen, die da. Ein sinkendes Schiff verlassen die Ratten, sagt man. Es liegt sehr viel Wahres in dieser Bemerkung. Meinen Sie nicht?«

»Nun, ich denke, unser altes Regierungsschiff in England wird sich schon noch ein paar Jahre über Wasser halten«, versetzte Martin und mußte sowohl über den Inhalt der Rede des Gentlemans wie auch über seine sonderbare Art zu sprechen – er legte nämlich einen starken Nachdruck auf die kleinen Flickworte und Silben, während er die größeren achtlos herunterschluckte – unwillkürlich lächeln. »Die Hoffnung, Sir, sagt schon der Dichter«, fing der Amerikaner wieder an, »ist des Wunsches Amme.«

Martin gab zu, gehört zu haben, daß diese Kardinaltugend gelegentlich solche häuslichen Dienste übernehme.

»Im gegenwärtigen Falle jedoch wird sie ihr Kind nicht großziehen. Sie werden sehen.«

»Na, die Zeit wird’s ja lehren«, meinte Martin.

Der Gentleman nickte ernst mit dem Kopf und fragte dann:

»Wie heißen Sie, Sir?«

Martin sagte es ihm.

»Wie alt sind Sie, Sir?«

Martin sagte ihm auch dies.

»Welchen Beruf haben Sie, Sir?«

»Architekt.«

»Und Ihre Pläne, Sir?«

»Wahrhaftig«, meinte Martin lachend, »über diesen Punkt kann ich Ihnen wirklich keine Auskunft geben. Ich weiß es nämlich selbst nicht.«

»So?« rief der Gentleman.

»Ja, so ist es.«

Der Gentleman nahm daraufhin seinen Stock unter den linken Arm und betrachtete Martin genauer und mit größerer Sorgfalt, als er es bisher getan. Nachdem er mit seiner Untersuchung fertig war, streckte er den rechten Arm aus, schüttelte Martin die Hand und sagte:

»Mein Name, Sir, ist Oberst Diver. Ich bin Herausgeber des New Yorker ›Grobian‹.«

Selbstverständlich nahm Martin diese Eröffnung mit der gebührenden Ehrfurcht entgegen.

»Das New Yorker Journal ›Grobian‹, Sir«, fing der Oberst wieder an, »ist, wie Sie wohl wissen werden, das Organ der Aristokratie in der Stadt.«

»So? Gibt es denn hier eine solche?« fragte Martin. »Aus was für Elementen setzt sie sich zusammen?«

»Aus den Elementen der Intelligenz, Sir! Aus Intelligenz und Moral und ihrer notwendigen Folgeerscheinung, nämlich aus den Dollars.« Martin war außerordentlich erfreut, das zu hören. Wenn Intelligenz und Moral in Amerika notwendigerweise zur Erwerbung von Dollars führen, sagte er sich, so könne es nicht fehlen, daß er sehr bald ein großer Kapitalist sein würde. Er wollte eben seine Freude über diese Mitteilung aussprechen, als er durch den Schiffskapitän unterbrochen wurde, der soeben heraufkam, um dem Oberst die Hand zu drücken, und bei dem Anblick eines fein gekleideten Fremden – Martin hatte nämlich seinen Mantel abgelegt – sich beeilte, auch diesen herzlich zu begrüßen. Martin empfand es als etwas sehr Angenehmes, denn trotz der unumschränkten Herrschaft von Moral und Intelligenz in Amerika hätte es ihn doch tief verletzt, sich vor Oberst Diver als armer Zwischendeckpassagier behandelt zu sehen.

»Nun, Kapitän?« fragte der Oberst.

»Nun, Oberst?« rief der Kapitän. »Übrigens, Sie sehen ja verdammt fein aus, Sir. Hätte Sie kaum erkannt, Sir. Tatsache.«

»Gute Fahrt gehabt, Kap’tän?« fragte der Oberst.

»Ja ja, lief ganz gut ab, Sir,« sagte oder vielmehr sang der Kapitän, der ein echter Neuengländer war. »Punkto Wetter nämlich.«

»So? Wirklich?«

»Ja ja, Tatsache. Habe übrigens eben die Passagierliste durch einen Jungen in Ihr Bureau geschickt.«

»Haben Sie vielleicht sonst noch einen Jungen übrig, Kap’tän?« fragte der Oberst in einem Ton, der fast an Strenge grenzte.

»Ich glaube, es sind noch ’n paar Dutzend hier, wenn Sie welche brauchen, Oberst.«

»Nur einen. Er braucht nicht sehr groß zu sein; nur muß er ein paar Dutzend Flaschen Champagner in mein Bureau tragen können«, bemerkte der Oberst bedeutsam. »Haben also ’ne gute Fahrt gehabt, was?«

»Ja, macht sich«, war die Antwort.

»Mein Bureau ist ganz in der Nähe, Sir«, fing der Oberst wieder an. »Freut mich, daß Sie ’ne gute Fahrt gehabt haben, Kap’tän. Hm – Macht übrigens nichts, wenn Sie keine ganzen Flaschen haben; der Junge kann ebensogut zweimal gehen und vierundzwanzig halbe Flaschen bringen. Also eine besonders hübsche Fahrt war’s, Kap’tän, was?«

»Ja, eine ganz vor-zügliche Fahrt«, sagte der Seemann.

»Sie haben eben immer Glück, Kap’tän. – Hm. – Sie könnten mir übrigens auch ’n Korkzieher und ’n paar Dutzend Gläser borgen. – Wie sehr sich auch die Elemente gegen meines Vaterlands edles Paketschiff, die ›Schraube‹, verschwören mögen«, wendete sich der Oberst jetzt wieder gegen Martin und machte mit seinem Spazierstock seine Lieblingsschwenkung, »so kann man doch immer darauf wetten, daß es eine feine Fahrt macht.«

Der Kapitän, in dessen Kajüte in diesem Augenblick die Redaktion der New Yorker »Kloake« ein ungeheures Gabelfrühstück verschlang, während in einer andern ein paar Journalisten eines zweiten vornehmen Blattes sich toll und voll soffen, benützte die günstige Gelegenheit, sich zu verabschieden, drückte seinem Freunde und Gönner, dem Obersten, herzlich die Hand und eilte fort, um den Champagner zu besorgen. Er wußte – wie sich später herausstellte – ganz genau, daß, wenn er den Redakteur des »Grobian« nicht für sich gewann, dieser Druckerschwärzepotentat ihn samt seinem Schiffe binnen vierundzwanzig Stunden mit großen Plakatbuchstaben an den Pranger stellen und vielleicht sogar das Andenken seiner Mutter, die erst zwanzig Jahre tot war, mit Kot bewerfen würde.

Der Oberst war nunmehr wieder mit Martin allein, hielt ihn, als er sich ebenfalls empfehlen wollte, am Arme zurück und machte sich erbötig, ihm als Engländer und Fremdem die Stadt und nachher, wenn er es wünsche, ein anständiges Kosthaus zu zeigen. Doch bevor sie aufbrächen, sagte er, bitte er um die Ehre seines Besuches auf dem Bureau des »Grobian«, um mit ihm eine Flasche Champagner auszustechen.

Das klang alles so außerordentlich freundlich und gastlich, daß Martin, obgleich es noch sehr früh am Morgen war, die Einladung dankend annahm. Er befahl daher Mark, der noch immer angelegentlich mit seiner Freundin und ihren drei Kindern beschäftigt war, wenn er damit fertig sei und das Gepäck an Land gebracht habe, im Bureau des »Grobian« weitere Weisungen einzuholen, und begab sich sodann mit seinem neuen Bekannten an Land.

Mühsam bahnten sie sich ihren Weg durch das traurige Gedränge der Auswanderer auf dem Kai – die Armen verstanden und wußten so wenig von dem Lande, unter dessen blauem Himmel und auf dessen kahlem Boden jetzt ihre Betten und Koffer lagen, als wären sie eben aus irgendeinem Planeten heruntergeschneit – und gingen dann eine kurze Strecke zusammen durch eine belebte Straße, auf deren einer Seite Kais und Schiffszimmerplätze lagen, während auf der andern eine lange Reihe aus roten Ziegeln gebauter Magazine und Bureaus sich hinzog, die mit mehr schwarzen Schildern mit weißen Buchstaben und weißen Schildern mit schwarzen Buchstaben behängt waren, als Martin je zuvor auf einem fünfzigmal größeren Räume gesehen hatte. Sodann bogen sie in eine schmale Straße und von da aus in andere enge Gassen ab, bis sie endlich vor einem Hause haltmachten, an dem mit großen Buchstaben die Inschrift: Redaktion des »Grobian« prangte.

Der Oberst, der den ganzen Weg über, eine Hand in der Westenbrust und den Hut schief auf dem Ohre, einhergeschritten war wie ein Mann, dem das Gefühl der eigenen Größe eine Qual bedeutet, ging über eine dunkle, schmutzige Treppe voraus in ein Zimmer von ähnlichem Aussehen, das mit Haufen von Papierschnitzeln und Fetzen von Manuskripten und Korrekturen bestreut war. Hinter einem alten, morschen und unappetitlichen Schreibtisch saß, einen Federstumpf im Mund und eine große Schere in der Hand, ein junger Mensch und schnitt an einem Stoß Journalen herum. Er sah so lächerlich aus, daß Martin sich die größte Mühe gab, seinen Ernst zu bewahren, zumal Oberst Diver ihn scharf beobachtete.

Der Herr, der wie erwähnt die Grobianzeitung mit der Schere redigierte, war ein kleiner Gentleman von sehr jugendlichem Aussehen und einer ungesunden Gesichtsfarbe, die wahrscheinlich zum Teil von seinen tiefen Gedanken, vielleicht aber auch von der Wirkung übermäßigen Tabakgenusses herrührte. Wenigstens hatte er im Augenblick den ganzen Mund voll Priemchen. Den Hemdkragen trug er zurückgeschlagen über ein schwarzes breites Band, und sein dünnes, langes und straffes Haar war nicht nur glatt gekämmt und aus der Stirne zurückgestrichen, damit nur ja kein Strahl der Poesie seines Gesichts verlorenginge, sondern auch stellenweise mit der Wurzel ausgerissen, wodurch sich einigermaßen die große Anzahl von Pickeln und entzündeten Flecken auf der Kopfhaut erklären ließ. Seine Nase gehörte zu jener Kategorie, die die Scheelsucht des Menschengeschlechtes mit dem Ausdruck: »Mopsnase« getauft hat. An der Spitze war sie aus Überfluß an Weltverachtung ein wenig umgestülpt. Auf der Oberlippe des Gentlemans prangten einige Anzeichen eines gelben Flaums, aber so weich und spärlich, wenn auch nach Kräften gepflegt, daß sie wie die Brösel eines Lebkuchens aussahen und durchaus nicht wie ein Schnurrbart. Doch das zarte Alter des Herrn entschuldigte diesen Mangel zur Genüge.

Der junge Mann war in seine Arbeit außerordentlich vertieft, und sooft er die große Schere zusammenschnappen ließ, machte er eine entsprechende Bewegung mit den Kinnladen, was ihm ein märchenhaft grimmiges Aussehen verlieh.

Martin schwante so etwas, als ob dies Oberst Divers Sohn sein müsse – sozusagen die Hoffnung seiner Familie und der künftige Haupthebel des »Grobians«. Schon hatte er einen Anlauf genommen, um zu sagen, es sei ungemein komisch, wie Mr. Divers Sprößling in aller Unschuld der Kindheit den Redakteur spiele, da unterbrach ihn der Oberst stolz mit den Worten:

»Mein Kriegskorrespondent, Sir, Mr. Jefferson Brick.«

Der Schrecken fuhr Martin in die Glieder bei dem Gedanken, welch fürchterlichen Mißgriff er beinahe begangen hätte. Mr. Brick bezog den Eindruck, der sich plötzlich auf Martins Gesicht spiegelte, auf sich, schien sich sehr darüber zu freuen und drückte ihm mit einer Gönnermiene, die Martin bedeuten sollte, er brauche sich durchaus nicht zu fürchten, die Hand.

»Wie ich merke, haben Sie schon von Mr. Jefferson Brick gehört, Sir«, sagte der Oberst lächelnd. »Ich will’s meinen, daß England den Namen Jefferson Brick zur Genüge kennt. Ganz Europa hat von Jefferson Brick gehört. Warten Sie mal – wann haben Sie England verlassen, Sir?« »Vor fünf Wochen.«

»Vor fünf Wochen«, wiederholte der Oberst gedankenvoll, setzte sich auf den Tisch und baumelte mit den Beinen. »Gestatten Sie mir die Frage, Sir, welcher von Mr. Bricks Artikeln hat damals bei dem britischen Parlament und dem Hofe in St. James am meisten Anstoß erregt?«

»Auf mein Wort«, stotterte Martin, »ich –«

»Ich weiß natürlich, Sir«, unterbrach ihn der Oberst, »daß die aristokratischen Kreise Ihrer Nation vor dem Namen Jefferson Brick zittern, aber ich möchte gern von Ihren eigenen Lippen hören, Sir, welcher von seinen Artikeln den tödlichen Streich geführt hat.«

»– die tausendköpfige Hydra der Verderbnis, die sich jetzt im Staub windet aus Furcht vor der Lanze der Vernunft und ihr schwarzes Herzblut gen Himmel spritzt«, deklamierte Mr. Brick, offenbar damit seinen letzten Artikel zitierend, und setzte des Eindrucks wegen eine kleine, blaue Tuchkappe mit einem Schild aus Glanzleder auf.

»Die Libation der Freiheit, Brick«, soufflierte der Oberst.

»– muß zuweilen aus Blut bestehen, Oberst«, ergänzte Brick.

Als er das Wort Blut aussprach, schnappte er dabei mit seiner großen Schere, als ob auch sie »Blut« sage und ganz seiner Ansicht sei.

Sodann sahen beide Herren Martin an, gespannt auf seine Antwort wartend.

»Wahrhaftig«, versicherte Martin, der inzwischen seine Fassung wiedergewonnen, »ich kann Ihnen keine genügende Auskunft darüber geben, denn tatsächlich habe ich –«

»Halt!« rief der Oberst, seinen Kriegskorrespondenten finster anblickend und bei jedem Wort nachdrücklich mit dem Kopf nickend, »wollen Sie vielleicht sagen, daß Sie niemals etwas von Jefferson Brick gehört haben oder von ihm lasen oder nie den ›Grobian‹ zu Gesicht bekamen – ja nicht einmal etwas von seinem kolossalen Einfluß auf die Kabinette Europas wußten – wie?«

»Allerdings wollte ich etwas derartiges bemerken«, gab Martin zu. »Bleiben Sie ruhig, Jefferson«, sagte der Oberst würdevoll, »regen Sie sich nicht auf. – Oh, ihr Europäer! – Na; – trinken wir lieber ein Glas Wein.«

Mit diesen Worten sprang er vom Tisch herab und holte aus einem Korb vor der Türe eine Flasche Champagner und drei Gläser.

»Mr. Jefferson Brick, Sir«, sagte er, füllte Martins Glas und reichte dann die Flasche dem Herrn mit der Schere hin, »wird einen Toast ausbringen.«

»Mit Vergnügen, Sir«, rief der Kriegskorrespondent, »wenn Sie es wünschen. – Also, der ›Grobian‹ soll leben und alle Blätter derselben Tendenz. Der Born der Wahrheit, dessen Wasser schwarz sind, da sie aus Druckerschwärze bestehen, ist dennoch klar genug, um der Spiegel zu sein, in dem mein Vaterland den Glanz seiner Bestimmung voraussehen kann.«

»Hört, hört!« rief der Oberst wohlgefällig. »Sagen Sie selbst, ist die blumenreiche Sprache meines Freundes nicht bewundernswert?«

»Allerdings«, gab Martin zu.

»Und hier ist der heutige ›Grobian‹, Sir«, bemerkte der Oberst und reichte ihm eine Nummer der Zeitung hin; »Sie werden daraus ersehen, daß Mr. Jefferson Brick auf seinem gewohnten Posten steht als Flügelmann des Fortschritts in der Avantgarde der menschlichen Zivilisation und sittlichen Ordnung.«

Er hatte sich inzwischen wieder auf den Tisch gesetzt, Mr. Brick nahm neben ihm Platz, und dann fingen beide an, tüchtig zu zechen. Dabei warfen sie des öfteren Martin, der gehorsam die bezeichneten Artikel las, und einander Blicke zu. Als dieser endlich die Zeitung niederlegte – die beiden Herren köpften inzwischen bereits die zweite Flasche –, fragte ihn der Oberst, was er davon halte.

»Aber das alles ist ja entsetzlich persönlich«, meinte Martin.

Der Oberst schien durch diese Bemerkung sehr geschmeichelt zu sein und sagte, er wolle das hoffen.

»Wir sind hierzulande nämlich freie unabhängige Männer, Sir«, erklärt Mr. Jefferson Brick, »und tun und lassen, was uns beliebt.« »Demnach müßte es logischerweise hierzulande auch viele tausend Leute geben, die gerade das Gegenteil von frei und unabhängig sind und die tun müssen, was ihnen nicht gefällt?« fragte Martin.

»In diesem Fall unterliegen sie eben dem gewaltigen Geist der volksbelehrenden Presse, Sir«, erklärte der Oberst; »allerdings lehnen sie sich von Zeit zu Zeit auf, aber im allgemeinen behaupten wir eine feste Herrschaft über unsere Bürger, sowohl im öffentlichen wie im Privatleben, und das ist ebensogut eine der veredelndsten Einrichtungen unseres Landes wie –«

»Wie die Negersklaverei eine ist«, ergänzte Mr. Brick.

»Sehr richtig«, bemerkte der Oberst.

»Darf ich«, sagte Martin stockend, »darf ich mir in betreff eines Falles, den ich hier gerade in Ihrem Blatte lese, eine Frage erlauben? – Geht nicht doch zuweilen die volksbelehrende Presse – ich bin wirklich in Verlegenheit, wie ich mich ausdrücken soll, ohne Sie zu beleidigen – auf Grund unrichtiger Informationen – auf Grund anonymer Briefe zum Beispiel«, setzte er hinzu, denn der Oberst blieb vollkommen ruhig und ließ sich nicht im mindesten aus der Fassung bringen, »oder auf Grund solcher Mitteilungen, die möglicherweise von Fälschern herrühren könnten, vor?«

»Gewiß, Sir«, gab der Oberst freimütig zu. »Hie und da kommt das gewiß vor.«

»Und das Volk – was sagt es dazu?«

»Es kauft die Zeitung«, antwortete der Oberst.

Mr. Jefferson Brick spuckte aus und lachte nur; ersteres reichlich, letzteres beifällig.

»Es kauft die Zeitung zu Hunderten und Tausenden Exemplaren. Ja, ja, wir sind eben ein famoses Volk hier und wissen Gerissenheit wohl zu schätzen.«

»Ist ›Gerissenheit‹ der amerikanische Ausdruck für Fälschung?« fragte Martin.

»Ach Gott«, meinte der Oberst, »es ist so der amerikanische Ausdruck für – so mancherlei, was ihr drüben mit andern Namen bezeichnet. Aber ihr in Europa seid ja überhaupt schwerfällig und unbeholfen. Aber was für einen Namen wir auch dafür wählen wollen« – der Oberst beugte sich nieder, um die dritte leere Flasche zu den beiden übrigen in eine Ecke zu rollen – »so vermute ich, daß die Kunst der Fälschung hierzulande gerade nicht erfunden wurde, Sir.«

»Das habe ich auch nicht behauptet«, versetzte Martin.

»Und ich denke, auch ebensowenig wie irgendeine andere Art von Gerissenheit.«

»Erfunden? Nein, das glaube ich nicht.«

»Nun«, sagte der Oberst lächelnd, »dann geben Sie ja selbst zu, daß wir alles von dem alten Lande drüben haben. Das alte Land trifft in diesem Falle der Vorwurf, nicht das neue. Übrigens damit basta. Also, wenn Sie jetzt gefälligst austrinken wollen, meine Herren, und vorausgehen, so werde ich das Bureau abschließen und Ihnen dann sofort nachkommen.«

Auf diesen nicht mißzuverstehenden Wink folgte Martin dem Kriegskorrespondenten, der mit majestätischen Schritten die Treppe voraus hinunterging. Der Oberst kam ihnen nach, und einen Augenblick später befanden sie sich wieder auf der Straße. Martin hätte am liebsten dem Obersten ein paar Fußtritte wegen seiner offenkundigen Unverschämtheit und Zudringlichkeit versetzt, und in seinen Mienen war auch etwas derartiges zu lesen, aber Mr. Diver kümmerte sich offenbar in seinem Selbstbewußtsein und seiner Machtstellung sehr wenig darum, was Martin oder sonst irgend jemand von ihm dachte. Seine gepfefferten Artikel waren lediglich auf Absatz berechnet und fanden auch die entsprechende Anzahl Abnehmer. Die Leser durften ihm daher bei ihrer ausgesprochenen Vorliebe für Klatsch und Unflat ebensowenig einen Vorwurf machen, wie ein Schlemmer für seine Ausschweifungen seinen Koch hätte verantwortlich machen dürfen, und nichts hätte überdies dem Oberst mehr Freude bereiten können, als wenn ihm jemand ins Gesicht gesagt hätte, daß ein Mann wie er sich in keinem andern Lande am hellichten Mittag auf der Straße blicken lassen dürfte. Er würde darin nur den Beweis gesehen haben, daß er seine Zeitung vortrefflich dem herrschenden Geschmack anzupassen wisse und er selbst eine echt nationale, amerikanische Erscheinung sei. So gingen sie eine Meile oder etwas darüber durch eine hübsche Straße, die, wie der Oberst sagte, Broadway hieß und, nach Mr. Jeffersons Erklärung, für das ganze übrige Universum einen Schlag ins Gesicht bedeutete. Schließlich bogen sie in eine der zahlreichen Gassen ein, die in diese Hauptstraße mündeten, und blieben zuletzt bei einem unscheinbaren Hause mit Jalousien vor den Fenstern stehen. Vor der grün angestrichenen Haustüre befand sich eine Treppe mit einem weißen Ornament an jeder Geländerseite, das wie ein versteinerter und polierter Tannenzapfen aussah. Über dem Klopfer war eine längliche Platte mit dem Namen »Pawkins« eingelassen, und vier Schweine blickten in der Gegend umher.

Mit der Miene eines Mannes, der zu Hause ist, klopfte der Oberst an die Türe, und gleich darauf steckte ein irisches Mädchen den Kopf aus einem der Dachfenster, um nachzusehen, wer unten sei. Während sie noch die Treppe herunterkam, hatten die Schweine mit zwei oder drei Kollegen aus der nächsten Straße Freundschaft geschlossen und wälzten sich friedlich zusammen in der Gosse.

»Ist der Major zu Hause?« fragte der Oberst eintretend.

»Meinen Sie den Master, Sir?« fragte das Mädchen schüchtern, da im Hause offenbar kein Mangel an Majoren war.

»Der Master!« rief Oberst Diver, blieb stehen und sah sich nach seinem Kriegskorrespondenten um.

»Da haben wir wieder die heillosen Mißbräuche aus dem alten England«, rief Mr. Jefferson Brick. »Master!«

»Warum ficht Sie dieses Wort so an?« fragte Martin.

»Der Ausdruck ist hierzulande verpönt«, erklärte Mr. Brick. »Man hört ihn höchstens noch aus dem Munde eines entarteten Dienstboten, dem die Segnungen unserer Regierung noch fremd und neu sind, wie dieser Magd hier. Bei uns gibt es keine ›Master‹.«

»Da gibt es also in Amerika nur ›Eigentümer‹?« fragte Martin.

Mr. Jefferson Brick folgte dem Herausgeber des »Grobian« und erwiderte kein Wort. Der Oberst ging voran in eine Stube im rückwärtigen Teil des Hauses zu ebener Erde, die hell und hübsch groß war, aber einen überaus ungemütlichen und ungastlichen Eindruck machte, da darin nichts zu sehen war als vier nackte, weiße Wände, die Zimmerdecke, ein ordinärer Teppich und ein entsetzlich langer Speisetisch, von einem Ende des Saales bis zum andern reichend, und eine ungeheure Menge von Rohrsesseln. Im Hintergrunde dieser Speisehalle stand ein Kamin – auf jeder Seite mit einem großen messingenen Spucknapf flankiert –, oder besser gesagt ein aus drei aufrecht stehenden eisernen Fäßchen zusammengestellter Ofen, die – hinter einer Art Umzäunung – sämtlich nach Art der siamesischen Zwillinge miteinander verbunden waren. Vor dem Feuer saß in einem Schaukelstuhl ein großer Gentleman, den Hut auf dem Kopf und eifrig damit beschäftigt, einmal links und einmal rechts in die Spucknäpfe zu spucken.

Ein Negerjunge, in eine schmutzige Jacke gekleidet, belegte gerade den Tisch mit zwei langen Reihen von Messern und Gabeln und stellte hie und da Krüge mit Wasser dazwischen. Als er die unterste Reihe der Tafel erreicht hatte, zog er mit seinen schmutzigen Pfoten das noch schmutzigere schiefgelegte Tischtuch zurecht, das seit dem Frühstück offenbar nicht entfernt worden war. Infolge der erstickenden Ofenhitze herrschte eine ungemein schwüle Atmosphäre im Zimmer, die überdies durch den penetranten Suppengeruch aus der Küche und den vorherrschenden Tabakgestank für die Sinne eines nicht daran Gewöhnten fast unerträglich war.

Der Gentleman in dem Schaukelstuhl kehrte den Eintretenden den Rücken und schien so sehr von seiner sinnigen Beschäftigung in Anspruch genommen, daß er ihrer gar nicht ansichtig wurde, bis der Oberst zu dem Ofen hinging und auch sein Scherflein in dem Spucknapf links deponierte. Major Pawkins blickte daraufhin mit der Miene stiller Mattigkeit auf, wie ein Mann, der die ganze Nacht über aufgewesen ist – ein Gesichtsausdruck, den übrigens Martin bereits am Obersten und an Mr. Jefferson Brick bemerkt hatte.

»Nun, Oberst?« fragte er faul.

»Ich habe Ihnen hier einen Gentleman aus England mitgebracht, Major«, versetzte der Oberst, »der sich bei Ihnen einmieten möchte, falls ihm der Preis zusagt.« »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir«, brummte der Major und streckte Martin, ohne einen Muskel seines Gesichtes zu verziehen, die Hand hin. »Wie geht es Ihnen?«

»Gut, ich danke«, antwortete Martin.

»In Amerika auch nicht gut anders möglich«, versetzte der Major, »hier bei uns scheint eben die Sonne.«

»Ich glaube mich erinnern zu können, daß ich sie bisweilen auch in meiner Heimat scheinen sah«, bemerkte Martin lächelnd.

»Das glaube ich nicht.«

Der Major sagte dies mit so stoischer Gleichgültigkeit, aber doch mit so entschiedenem Tone, daß die Sache damit abgetan zu sein schien; dann schob er seinen Hut ein wenig aufs Ohr, um sich bequemer den Kopf kratzen zu können, und begrüßte Mr. Jefferson Brick mit einem trägen Nicken.

Major Pawkins, der sich pennsylvanischer Abkunft rühmen konnte, zeichnete sich durch einen auffallend großen Schädel und eine breite gelbe Stirn aus, weswegen man ihn in Schenkstuben und andern öffentlichen Orten für einen Mann von ungeheurem Scharfsinn hielt. Höchst merkwürdig an ihm war auch sein schläfriger Blick und sein träges, schwerfälliges Wesen. Kurz, er war ein Mann, der, wie man sagt, viel Platz und Zeit braucht, um sich umzudrehen. Mit seinem Weisheitsschatze verfuhr er nach dem Grundsatze jener Krämer, die stets alle Waren, die sie besitzen, und noch mehr ins Schaufenster stellen, und das verfehlte bei seinem Anhang von Bewunderern nicht, einen großen Eindruck zu machen.

Wie Mr. Jefferson Brick Martin ins Ohr flüsterte, war Major Pawkins einer der hervorragendsten Köpfe des Landes. Und das beruhte auch auf Richtigkeit, denn er war ein großer Politiker, und sein einziger Glaubensartikel in bezug auf alle öffentlichen Verpflichtungen, bei denen Treu und Glauben und der gute Ruf seines Vaterlandes ins Spiel kamen, war: alle alten Geschichten mit einem Federstrich rasch abzumachen und dann wieder von neuem anzufangen. Das stempelte ihn zum Patrioten. Hinsichtlich Handel und Wandel war er ein kühner Spekulant, oder besser gesagt: ein Schwindelgenie. Er verstand es, aus dem Effeff Banken zu gründen, ein Anlehen zu placieren oder eine Landaktienkompagnie zusammenzutrommeln, die dann Verderben, Pest und Tod über Hunderte von Familien brachte. Das stempelte ihn zu einem bewunderungswürdigen Geschäftsmann. Überdies brachte er es zuwege, ganze Tage in Schenken zu verlungern und über Politik zu schwätzen und dabei mehr Zeit totzuschlagen, mehr Tabak zu kauen und zu rauchen, mehr Rumtoddy, Pfefferminzlikör und Cocktail zu konsumieren als irgendein Privatmann weit und breit. Das stempelte ihn zum Redner und Volksmann. Kurz, der Major war ein aufgehender Stern, ein populärer Charakter und auf dem schönsten Wege von der Volkspartei nach New York, wo nicht gar nach Washington selbst entsandt zu werden. Da jedoch der Wohlstand eines Mannes nicht immer gleichen Schritt hält mit seiner patriotischen Hingabe und betrügerische Unternehmungen ebensogut glücken wie nicht glücken können, so befand sich der Major zuweilen nicht gerade in den glänzendsten Verhältnissen. Das war auch der Grund, weshalb er augenblicklich, das heißt besser gesagt, seine Gattin, ein Kosthaus hielt, und er selbst seine Zeit mehr mit Herumlungern und Flanieren zubrachte als mit andern Dingen.

»Sie finden unser Land zur Zeit in einem Zustande kommerzieller Flauheit«, sagte der Major.

»Einer bedrohlichen Krisis«, setzte der Oberst hinzu.

»In einer Periode beispiellosen Stillstandes«, betonte Mr. Jefferson Brick.

»Sehr bedauerlich«, versetzte Martin, »hoffentlich wird es nicht lange dauern.«

Martin kannte Amerika noch nicht, sonst hätte er wissen müssen – wenn man den allgemeinen Versicherungen glauben darf –, daß es sich immerwährend in einer bedrohlichen Krisis befindet und auch nie anders befand, trotzdem öffentlich immer das Gegenteil behauptet und beschworen wird und es stets heißt, Amerika sei das glücklichste und gesegnetste Land auf Erden.

»Es wird hoffentlich nicht lange dauern«, wiederholte Martin.

»Nun, ich glaube«, meinte der Major, »auf irgendeine Weise werden wir schon wieder zurechtkommen.«

»Es ist ein elastisches Land«, rief der Herausgeber des »Grobian«. »Ein junger Löwe!« ergänzte Mr. Jefferson Brick.

»Was meinen Sie zu einem Bittern vor dem Essen, Oberst?« wechselte der Major das Thema. Da Mr. Diver mit großer Bereitwilligkeit auf diesen Vorschlag einging, beantragte Major Pawkins einen allgemeinen Aufbruch nach einer benachbarten Schenke, die, wie er bemerkte, sich gleich nebenan befände, und verwies Martin hinsichtlich Kost und Quartier an Mrs. Pawkins, die er beim Dinner, das sehr bald stattfinde, da man um zwei Uhr speise, also in einer Viertelstunde, kennenzulernen das Vergnügen haben werde. Dies erinnerte den Major daran, daß es höchste Zeit sei, noch schnell einen Bittern zu nehmen, und entschlossen erhob er sich daher, entfernte sich und überließ es seinen Gästen, ihm, wenn sie wollten, nachzukommen.

Als er von seinem Schaukelstuhle vor dem Kamin aufstand, wurde der Geruch nach kaltem Tabakrauch so lebhaft, daß kein Zweifel mehr herrschen konnte, er gehe hauptsächlich von seinen Kleidern aus; und als Martin hinter ihm her in die Schenke schritt, konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie sehr der große vierschrötige Major in seiner Trägheit einer großen Tabakpflanze glich oder einem Unkraut, das man am besten zum Wohle der übrigen Gewächse aus dem allgemeinen Mistbeet ausrotten müsse.

In der Schenkstube befanden sich noch andere Unkräuter dieser Art, alle so ziemlich von derselben Kategorie. Nachdem sie sodann den Bittern zu sich genommen, kehrten sie – Martin Arm in Arm mit Mr. Jefferson Brick und der Major und der Oberst Seite an Seite vorausgehend – nach Haus zurück. Als sie sich der Wohnung des Majors näherten, hörten sie plötzlich ungestüm eine Glocke läuten, und sofort stürzten der Oberst und der Major wie wahnsinnig fort, die Treppe hinauf und zu der offenstehenden Haustüre hinein, während Mr. Jefferson Brick sich von Martins Arm losmachte, nach derselben Richtung hineilte und verschwand.

»Gott im Himmel«, dachte Martin, »das Haus steht wahrscheinlich in Flammen. Es war eine Alarmglocke.«

Da aber weder Flammen noch Rauch oder sonstige Brandanzeichen zu bemerken waren, blieb er zögernd auf dem Pflaster stehen, während weitere drei Gentlemen mit allen Merkmalen des Schreckens und der Aufregung in den Gesichtern wild um die Straßenecke gestürmt kamen, die Treppe hinaufeilten, einen Augenblick um den Vortritt miteinander rangen und dann – ein wirrer Haufen von Armen und Beinen – in das Haus stürzten. Jetzt zögerte Martin nicht länger und folgte ihnen, aber trotz seiner Eile wurde er von zwei nachdrängenden Herren, die vor Aufregung fast wahnsinnig zu sein schienen, fast umgerannt und beiseite gestoßen.

»Wo ist es?« rief Martin atemlos einem Neger zu, dem er im Flur begegnete.

»Im Speisezimmer, Sar, Oberst sagen er Sitz reserviert neben ihm, Sar.«

»Einen Sitz?!« rief Martin.

»Beim Essen, Sar.«

Martin riß erstaunt die Augen auf und brach dann in ein lautes Gelächter aus, in das der Neger, wahrscheinlich aus Gutmütigkeit, oder um ihm als Fremdem einen Gefallen zu tun, so herzlich mit einstimmte, daß seine Zähne wie ein Lichtstreifen glänzten.

»Du bist der prächtigste Bursche, den ich noch hier gesehen habe, ha, ha, ha«, lachte Martin und klopfte dem Schwarzen auf den Rücken, »und machst mir mehr Appetit als alle Bittern der Welt zusammengenommen.«

Damit ging er in den Speisesaal und ließ sich auf einem Stuhl neben dem Obersten nieder, den dieser für ihn reserviert, das heißt an den Tisch gelehnt hatte. Es war eine zahlreiche Gesellschaft zugegen, achtzehn oder zwanzig Personen vielleicht, darunter fünf oder sechs Damen, die, zu einer kleinen Phalanx zusammengekeilt, gesondert saßen. Sämtliche Messer und Gabeln arbeiteten mit einer wahrhaft beunruhigenden Schnelligkeit. Man sprach nur wenig, und jeder tat hinsichtlich Essen sein Bestes; rein, als ob noch vor dem morgigen Frühstück eine Hungersnot zu erwarten sei. Das Geflügel, das offenbar den Glanzpunkt der Mahlzeit bildete – denn obenan standen ein Truthahn, unten ein paar Enten und in der Mitte ein paar Hühner – verschwand so schnell, als ob jeder der Vögel noch seine Schwingen besäße und wie im Schlaraffenland den Gästen in den Mund flöge. Die Austern, gedämpfte wie marinierte, hüpften schockweise von ihren Platten hinweg und zu Dutzenden in die Münder der Gesellschaft. Die schärfsten Mixed Pickles verschwanden im Handumdrehen und ganze saure Gurken auf einmal wie eingemachte Pflaumen; und keiner blinzelte auch nur mit den Wimpern. Berge unverdaulicher Stoffe schmolzen dahin wie Eis an der Sonne. Es war ein feierlicher und zugleich schauerlicher Anblick. Dyspepsiebehaftete Personen verschlangen große Teile ungekaut und fütterten damit nicht sich, sondern das Alpdrücken, das beständig in ihrem Nervensystem lauerte. Magere Burschen mit eingefallenen blassen Wangen zogen, trotzdem sie die schwersten Gerichte heruntergeschlungen, offenbar immer noch hungrig ab und warfen noch im Gehen sehnsüchtige Blicke auf das Backwerk. Was Mrs. Pawkins Tag für Tag zur Essensstunde leiden mußte, entzieht sich menschlichem Wissen, nur ein Trost blieb ihr: es ging rasch vorüber.

Als der Oberst mit dem Dinner fertig war, was ungefähr mit dem Zeitpunkte zusammentraf, wo Martin, der sich etwas von dem Truthahn hatte vorlegen lassen, zu essen begann, fragte er Martin, was er von den Kostgängern halte, die aus allen Teilen der Vereinigten Staaten zusammengeströmt seien, und ob er vielleicht Näheres über jeden einzelnen zu erfahren wünsche.

»Ja, sehr gern«, sagte Martin. »Bitte, wer ist zum Beispiel die krank aussehende Kleine vis-à-vis mit den kugelrunden, weit aufgerissenen Augen? Ich sehe hier niemanden, der ihre Mutter sein könnte oder die Aufsicht über sie zu haben schiene.«

»Meinen Sie die Matrone in Blau, Sir?« fragte der Oberst mit Nachdruck. »Das ist Mrs. Jefferson Brick, Sir.«

»Nein, nein. Ich meine das kleine Mädchen, das wie eine Puppe aussieht – gerade uns gegenüber –«

»Nun ja, Sir«, rief der Oberst, »das ist doch Mrs. Jefferson Brick!«

Martin sah dem Oberst ins Gesicht, ob er nicht vielleicht scherze.

»Was Sie sagen! Nun, da wird vermutlich nächstens ein junger Brick ankommen«, forschte er unsicher. »Es sind bereits zwei junge Bricks da«, versetzte der Oberst.

Die Dame sah nun aber so auffallend kindlich aus, daß Martin sich nicht enthalten konnte, es gegen den Oberst zu bemerken.

»Gewiß, Sir«, entgegnete dieser, »aber in manchen Ländern entwickelt sich eben die menschliche Natur sehr schnell und in andern bleibt sie zurück.«

»Jefferson Brick«, setzte er nach einer kurzen Pause zum Lobe seines Kriegskorrespondenten hinzu, »ist – einer der hervorragendsten Köpfe unseres Landes, Sir.«

Er sagte dies im Flüsterton, denn der vortreffliche Gentleman, auf den sich seine Worte bezogen, saß ganz in der Nähe.

»Bitte, Mr. Brick«, wendete sich Martin, mehr aus Höflichkeit als weil es ihn wirklich interessiert hätte, an diesen mit einer Frage: »Wer ist dieser – –« er wollte schon sagen »Junge«, hielt es aber für angebracht, schnell ein anderes Wort zu wählen – »jener auffallend kleine Gentleman dort mit der roten Nase?«

»Das ist Pro–fessor Mullit, Sir«, erwiderte Jefferson.

»Darf ich fragen, in welchem Fach er Professor ist?«

»Pädagogik, Sir.«

»Also wohl eine Art Lehrer?« wagte Martin zu bemerken.

»Er ist ein Mann von hoher moralischer Gesinnung, Sir, und ungewöhnlich begabt«, antwortete der Kriegskorrespondent. »Bei der letzten Präsidentenwahl sah er sich genötigt, seinen Vater an den Pranger zu stellen, weil dieser für eine der seinigen entgegengesetzte Partei stimmte. Er hat seitdem einige unerhört wirkungsvolle Flugschriften herausgegeben, und zwar unter dem Namen ›Suturb‹, umgekehrt: ›Brutus‹. Er ist einer – – der hervorragendsten Köpfe unseres Landes, Sir.«

Deren scheint es ja hier außerordentlich viele zu geben, dachte Martin.

Nach und nach erfuhr er, daß nicht weniger als vier Majore, zwei Oberste, ein General und ein Kapitän anwesend seien, so daß er sich schließlich des Gedankens nicht erwehren konnte, es müsse in der amerikanischen Armee nur Offiziere und gar keine Gemeinen geben. Jeder der Anwesenden schien einen Titel zu haben, und diejenigen, die keinen militärischen Rang bekleideten, waren entweder Doktoren, Professoren oder geistliche Würdenträger. Drei höchst unfreundlich aussehende Gentlemen mit ordinären Gesichtszügen befanden sich als Emissäre benachbarter Staaten hier, der eine zwecks Ordnung finanzieller Angelegenheiten, der andere in politischen Aufträgen und der dritte als Missionar irgendeiner Sekte. Der Kreis der Damen setzte sich aus Mrs. Pawkins, einer hagern, knochigen und schweigsamen Person, dann einer Greisin mit scharfen Gesichtszügen, die sich höchst lebhaft über Frauenrechte aussprach und bereits darüber allerlei Vorlesungen gehalten hatte, und noch einigen andern Damen zusammen, deren Seelen man ganz gut miteinander hätte vertauschen können, ohne daß es ihnen selbst oder jemand anderm aufgefallen wäre. Übrigens waren diese letztern die einzigen unter den Anwesenden, die nicht zu den »hervorragenden Köpfen des Landes« gehörten.

Als die Mahlzeit vorüber war, entfernten sich die Herren einer nach dem andern, sämtlich kauend, und machten in der Regel noch eine Sekunde am Kamine halt, um sich der Spucknäpfe zu bedienen. Nur einige gesetztere blieben noch eine volle Viertelstunde bei Tisch und erhoben sich erst, als die Damen aufstanden.

»Wohin gehen die Herrschaften?« fragte Martin Mr. Jefferson Brick.

»In ihre Zimmer, Sir.«

»Findet denn hier kein Dessert oder ein anderer Anlaß zu einer Unterhaltung statt?« fragte Martin, der sich gerne nach seiner langen Reise ein wenig ausgeruht hätte.

»Wir sind ein geschäftiges Volk, Sir, und haben keine Zeit dazu«, lautete die Antwort.

Und so defilierten denn die Damen, eine nach der andern, vorüber und hinaus, und Mr. Jefferson Brick und die übrigen verheirateten Herren verabschiedeten sich von ihren Ehehälften mit einem kurzen gleichgültigen Nicken. Martin kam dieser Brauch etwas seltsam vor, jedoch behielt er seine Meinung für sich, da er lieber zuhören und aus dem Gespräche der Herren etwas lernen wollte, die sich jetzt aufatmend um den Kamin versammelten, als sei ihnen durch den Abgang des schönen Geschlechts ein Stein vom Herzen gefallen, und von den Spucknäpfen und ihren Zahnstochern reichlich Gebrauch machten. Die Konversation bot eigentlich nur wenig Interessantes und drehte sich im allgemeinen lediglich um Geld. Alle Sorgen, Hoffnungen, Freuden, Neigungen, Tugenden und Verhältnisse schienen unzertrennlich vom Dollar zu sein. Was immer für Stoffe in den träge brodelnden Kessel des Gesprächs geworfen wurden, immer mußte der Brei mit Dollars dick und fett gemacht werden. Die Menschen wurden nach Dollars abgewogen, die Maße nach Dollars geeicht, und als Kunst galt nur die Fähigkeit, die Dollars zu vermehren. Je mehr einer von dem wertlosen Ballast »Ehrenhaftigkeit und Ehrlichkeit« aus dem guten Schiff seines Namens und Gewissens über Bord warf, desto mehr Packraum blieb ihm für Dollars. Das Wort Handel war nur eine Umschreibung für eine große Lüge und einen großartigen Diebstahl; die Nationalflagge, ein alberner Fetzen, befleckt Stern um Stern, und Streifen um Streifen riß man herab wie einem degradierten Soldaten die Ehrenzeichen; alles des Dollars wegen.

Derjenige war der größte Patriot, der am lautesten schrie und sich am wenigsten um Recht und Billigkeit kümmerte.

Ein eingefleischter Freund von Fuchsjagden wird bei fast allen Jagdritten Hals und Glieder an das Gelingen wagen, und ähnlich war es auch bei diesen Gentlemen. In ihren Augen galt derjenige als der größte Patriot, der am lautesten prahlte und vor keinem Mittel zurückscheute, und so erfuhr Martin in den ersten fünf Minuten des Gesprächs am Kamin, daß es als eine glänzende Tat galt, Pistolen, Stockdegen und andere friedliche Werkzeuge mit in öffentliche Versammlungen zu nehmen und seinem Gegner an die Gurgel zu fahren wie eine Ratte oder ein Hund. Und alles das galt nicht als Verletzung der Freiheit, sondern war Weihrauch auf ihren Altären, der den patriotischen Nasenlöchern lieblich duftete und sich in die Höhe kräuselte bis zum siebenten Himmel des Ruhmes.

Als Martin ahnungslos und unbefangen gewisse Fragen, wie sie ihm eben einfielen, über Nationaldichter, Theater, Literatur und schöne Künste stellte, da bedeutete ihm ein Kapitän, der aus den westlichen Distrikten stammte: »Wir sind ein geschäftstreibendes Volk, Sir, und haben keine Zeit, uns mit dem Lesen von Phantastereien abzugeben. Was geht das alles uns an, wo wir so gewaltigen Stoff anderer Art in den Zeitungen lesen können! Hol der Teufel eure Bücher!«

Ganz besonders dem General schien der bloße Gedanke, man könne etwas lesen, was nicht mit Handel oder Politik zu tun habe und nicht in einer Zeitung stehe, solche Übelkeit zu bereiten, daß er fragte, ob denn keiner von den Herren eines hinter die Binde gießen wolle. Der Vorschlag fand solchen Beifall, daß die Gesellschaft fast unverzüglich aufbrach und sich in die nächste Schenke begab und von da wahrscheinlich in ihre Kontors oder wieder in andere Schenkstuben, um aufs neue vom Dollar zu sprechen und ihren Geist durch Zeitungstratsch oder leeres Strohdreschen zu bilden, bis die Zeit des Gähnens im Familienkreis herannahte.

Vergebens mühte sich Martin ab, die Frage zu lösen, ob die Leute in Amerika wirklich so viel zu tun hätten, wie sie vorgaben, oder ob sie nur häusliche und gesellige Vergnügungen nicht recht zu würdigen verstanden. Grübelnd und sehr deprimiert setzte er sich an dem leeren Tisch nieder. Der Gedanke an alle die Schwierigkeiten, die ihm noch bevorstehen mochten, und die Ungewißheit seiner Lage machte ihn immer verzweifelter und erpreßte ihm manchen schweren Seufzer.

Nun hatte ein Mann in mittleren Jahren mit dunklen Augen und sonnenverbrannter Stirne, der schon vorher durch den ehrlichen Ausdruck seines Gesichtes Martins Aufmerksamkeit auf sich gezogen, an dem Dinner teilgenommen. Von den andern Herrn nicht weiter beachtet und auch nicht ins Gespräch gezogen, war er zurückgeblieben, und als er jetzt Martin so laut seufzen hörte, ließ er eine gleichgültige Bemerkung fallen, als wünsche er, ohne jedoch aufdringlich zu erscheinen, mit ihm bekannt zu werden. Diese Absicht war so ins Auge springend und dabei doch so taktvoll ausgedrückt, daß Martin es tief empfand und auch im Ton seiner Antwort zu verstehen gab.

»Ich will Sie nicht fragen«, sagte der Gentleman lächelnd, erhob sich und rückte etwas näher, »wie es Ihnen in meinem Vaterland gefällt, denn ich kann mir Ihre Meinung darüber schon selber vorstellen. Da ich jedoch Amerikaner bin und daher notgedrungen mit einer Frage beginnen muß, so bitte, sagen Sie mir doch, was halten Sie von dem Oberst?« »Sie kommen mir so herzlich entgegen«, erwiderte Martin, »daß auch ich mir kein Blatt vor den Mund nehmen will und Ihnen ruhig eingestehen kann: er gefällt mir ganz und gar nicht. Wenn ich auch hinzusetzen muß, daß ich ihm für seine Liebenswürdigkeit verbunden bin, denn er war es, der mich hierhergebracht hat und es mir durch seine Fürsprache ermöglichte, unter anständigen Bedingungen hier unterzukommen.«

»Nun, deswegen brauchen Sie ihm nicht zu Dank verpflichtet zu sein«, versetzte der Fremde trocken. »Ich weiß, hie und da entert der Oberst einmal ein Paketschiff, um die neuesten Nachrichten für seine Zeitung einzuholen, und dann bringt er bei solchen Gelegenheiten zuweilen auch Fremde hierher. Er bezieht dafür gewisse kleine Prozente, die ihm dann von seiner Wirtin von seiner Wochenrechnung in Abzug gebracht werden. Ich habe Sie doch nicht verletzt?« setzte er hinzu, als er bemerkte, daß Martin das Blut in die Wangen stieg.

»Aber, mein werter Herr«, versetzte Martin und schüttelte die ihm dargebotene Hand des Fremden, »ist so etwas denn wirklich möglich? Um die Wahrheit zu gestehen, ich – ich – bin –«

»Nun?« fragte der Gentleman und nahm neben ihm Platz.

»Also, um ganz offen zu sein«, sagte Martin, langsam seine Scheu überwindend, »ich begreife gar nicht, wie kann nur so jemand frei herumlaufen, ohne sich nicht jeden Tag eine Tracht Prügel zuzuziehen.«

»Nun, ein- oder zweimal ist es ihm auch schon passiert«, bemerkte der Gentleman ruhig. »Er gehört eben zu jener Klasse von Menschen, deren Gefährlichkeit für unser Land Benjamin Franklin schon am Schlusse des vorigen Jahrhunderts voraussagte. Sie wissen, in wie strengen Ausdrücken Franklin sich dahin äußerte, daß, wer von einem Schuft wie diesem Obersten zum Beispiel verleumdet würde und in der Handhabung der Gesetze oder in dem Rechtlichkeitsgefühl der öffentlichen Meinung kein genügendes Schutzmittel fände, unbedingt das Recht haben müsse, zum Stock zu greifen und sich selbst Recht zu verschaffen.«

»Ich wußte das nicht«, rief Martin, »aber es freut mich sehr, es zu erfahren, und ich glaube, es ist Franklins Andenken und seines Ruhmes würdig; besonders –« er zögerte abermals. »Fahren Sie nur fort«, munterte ihn der Gentleman lächelnd auf, als wüßte er genau, was Martin auf der Zunge habe.

»Besonders«, fuhr Martin fort, »da ich mir wohl denken kann, daß selbst zu seiner Zeit großer Mut dazu gehört haben muß, so offen seine Meinung zu äußern, ohne daß einem eine Partei den Rücken deckte.«

»Ohne Zweifel ein gewisser Mut«, gab der Amerikaner zu. »Sie glauben also auch, daß sogar jetzt noch Mut dazu gehören würde?«

»O gewiß, und noch dazu nicht wenig!«

»Sie haben recht – und zwar so recht, daß, wenn ein zweiter Juvenal oder Swift heute unter uns aufstände, man ihn in Stücke reißen würde. Wenn Sie in unserer Literatur bewandert sind und mir einen gebürtigen bei uns aufgewachsenen Amerikaner zu nennen imstande sind, der unsere Torheiten – und zwar die des Volkes, nicht die der einen oder andern Partei – aufgedeckt und gegeißelt hat, ohne nicht von der brutalsten und niederträchtigsten Verleumdung, dem verstocktesten Haß und der wütendsten Unduldsamkeit verfolgt worden zu sein, so müßte ich zugeben, daß mir der Name eines solchen Mannes ganz neu und fremd klingen würde; das können Sie mir glauben. Ich könnte Ihnen gewisse Fälle namhaft machen, in denen es einheimische Schriftsteller ganz harmloser- und gutmütigerweise versucht haben, unsere Mängel und Fehler aufzudecken; und was war die Folge? Sie sahen sich genötigt zu veröffentlichen, daß in einer zweiten Ausgabe die betreffende Stelle ausgelassen, abgeändert, umgedeutet oder in Lob verwandelt worden sei.«

»Und wieso ist es denn überhaupt soweit gekommen?« fragte Martin voller Ekel.

»Denken Sie über das nach, was Sie heute gesehen und gehört haben. Fangen Sie mit dem Obersten an und fragen Sie sich selbst«, erwiderte der Fremde. »Wo solche Elemente existieren, muß es schließlich soweit kommen. Wie die so weit gekommen sind, ist allerdings eine andere Frage. Gott verhüte, daß sie noch die Repräsentanten der maßgebenden Kreise in Amerika werden. Jedenfalls spielen sie heute bereits eine große Rolle, sind äußerst zahlreich und kommen leider nur zu oft in die Lage, das Volk zu vertreten. Wollen Sie übrigens nicht einen Spaziergang mit mir machen?«

Im ganzen Wesen des Mannes lag soviel herzliche Offenheit und zugleich das Vertrauen, daß man sie nicht mißbrauchen werde –, ein gewisses männliches Auftreten und ein schlichtes Überzeugtsein von der Ehrenhaftigkeit des Nächsten, daß Martin mit Vergnügen einwilligte.

Es sind jetzt ungefähr vierzig Jahre her, seit ein Reisender mit einem Namen vom besten Klang diese Küsten betrat und wie mancher andere seitdem erkannte, welche Schmach und Schande Amerikas Banner beflecken, wie er es sich vorher wohl nicht im entferntesten hatte träumen lassen.

Männer wie Martins neuen Bekannten mußte er wohl mit den Worten gemeint haben:

Für die erstirbt gar bald Columbias Glorienschein,
der, wie ein Wassertrieb in Kellerluft ersprossen,
faul bis ins tiefste inn’re Sein, erstirbt,
noch eh des Frühlings Tage sind verflossen.

17. Kapitel


17. Kapitel

Martin erweitert den Kreis seiner Bekanntschaften, erstarkt in der Weisheit und findet vortreffliche Gelegenheit, seine eigenen Erfahrungen mit denen Lummy Neds von den leichten Salisburywagen zu vergleichen

Sehr charakteristisch für Martin war, daß er die ganze Zeit über Mark Tapley so vollkommen vergessen hatte, als ob ein Mensch dieses Namens überhaupt gar nicht existierte; und wenn die Gestalt dieses Gentlemans wirklich einmal vor seinem innern Auge auftauchte, so entließ er sie jedesmal wie etwas ganz Nebensächliches. Erst als er wieder auf der Straße war, fiel ihm ein, es sei am Ende doch nicht so ganz unmöglich, daß Mr. Tapley mit der Zeit müde werden könnte, an der Schwelle des Bureaus der Grobian-Zeitung zu stehen und zu warten, und sagte daher seinem neuen Freunde, dem Fremden, wenn es ihm passe, mit nach jener Gegend zu gehen, so möchte er gern das kleine Geschäft jetzt abmachen.

»Wenn ich schon einmal von Geschäften rede«, sagte Martin, »darf ich, um hinter der amerikanischen Sitte nicht zurückzustehen, vielleicht fragen, was Sie denn an diese Stadt hier fesselt oder ob Sie vielleicht nur zu Besuch hier sind.«

»Jawohl, zu Besuch«, versetzte der Fremde. »Ich bin im Staate Massachusetts aufgewachsen und lebe jetzt dort. Meine Heimat ist eine ruhige kleine Landstadt. Ich komme nicht oft an solch belebte Orte wie diesen und kann Ihnen versichern, je mehr ich sie kennenlerne, desto mehr vergeht mir die Lust zu weitern Besuchen.«

»Sind Sie im Ausland gewesen?« fragte Martin.

»Allerdings, Sir.«

»Und wie die meisten Menschen, die viel auf Reisen waren, haben Sie dann wohl Ihre Heimat um so lieber gewonnen?« forschte Martin und betrachtete seinen Begleiter neugierig.

»Meine Heimat? Ja«, entgegnete der Amerikaner. »Mein Geburtsland, sofern es meine Heimat ist? Ja, auch dies.«

»Sie scheinen mit einem gewissen Vorbehalt zu sprechen«, sagte Martin.

»Hm«, meinte der Fremde. »Wenn Sie mich fragen, ob ich heimgekehrt bin, sozusagen versöhnt mit den Fehlern meines Vaterlandes oder mit einer höhern und bessern Meinung über diejenigen, die sich in Anbetracht der täglichen Zunahme ihrer Dollars für seine Freunde ausgeben, oder mit mehr Gleichgültigkeit gegenüber dem Umsichgreifen von gewissen Grundsätzen in betreff Auffassung der öffentlichen Angelegenheiten und des Privatverkehrs – denen außerhalb der Atmosphäre eines Kriminalgerichtshofes das Wort zu reden sogar für Ihre Old-Bailey-Advokaten schimpflich sein würde –, wenn Sie eine solche Frage an mich stellen, müßte ich allerdings unverhohlen verneinen. Wenn Sie mich ferner fragen, ob ich mich mit einer Sachlage abgefunden habe, die eine weite Kluft zwischen zwei Gesellschaftsklassen setzt – Klassen, von denen die eine, und die überwiegend größere, eine falsche Unabhängigkeit behauptet und doch ihr erbärmliches Dasein auf eine jammervolle Mißachtung aller gebildeten, veredelnden Konventionen stützt, wie es nur den rohesten Charakteren zusagen kann, während die andere in ihrem Abscheu vor so niedrigen Grundsätzen ihre Zuflucht zu den Annehmlichkeiten und Geistesverfeinerungen nimmt, die sie dem Privatleben abgewinnen kann, und die öffentliche Wohlfahrt dem Geschick überläßt, das möglicherweise aus den Konsequenzen eines allgemeinen Kampfes hervorgehen kann –, so antworte ich abermals: nein.«

»Oh«, erwiderte Martin bange und beklommen, denn er sah die Aussicht auf seine Zukunft als Architekt mit einem Male schnell verblassen.

»Mit einem Wort«, fing der andere wieder an, »ich kann nicht finden, ich kann es nicht glauben und gebe es deshalb auch nicht zu, daß wir ein Musterbild von Weisheit, ein Beispiel für die übrige Welt und der Urtypus der menschlichen Vernunft sind. Sie können zwar viel Selbstlob zu jeder Stunde des Tages hier hören, aber das hat seinen Grund lediglich darin, daß wir unser politisches Leben mit zwei unschätzbaren Vorteilen begannen.«

»Und worin bestehen diese?« fragte Martin.

»Erstens einmal darin, daß unsere Geschichte in einer verhältnismäßig so späten Periode ihren Anfang nahm, daß wir nicht die lange Kette von Erinnerungen an Blutvergießen und Grausamkeiten wie andere Nationen mit uns schleppen mußten. Wir erfreuen uns daher aller Lichtseiten gemachter Erfahrungen, ohne ihren Druck zu empfinden. Der andere Vorteil ist, daß wir ein ungeheueres Ländergebiet bewohnen und – bis jetzt wenigstens – keine allzu große Bevölkerung haben. Zieht man diese Tatsachen in Betracht, so haben wir immerhin wenig genug geleistet, denke ich.«

»Und wie steht’s mit dem Fortschritt?« fragte Martin schüchtern.

»Im Grunde genommen nicht so übel«, meinte der Fremde und zuckte die Achseln, »aber besonders viel brauchen wir uns auch darauf nicht einzubilden, denn die alten Länder haben sogar unter despotischen Regierungen ebensoviel, wenn nicht mehr, geleistet, ohne soviel Aufhebens davon zu machen. Mit Bezug auf England fällt der Vergleich allerdings günstig für uns aus, aber England bildet auch ein Extrem. Übrigens nichts für ungut, Sir; doch Sie haben mir ja bereits wegen meiner Offenherzigkeit Komplimente gemacht«, setzte er lachend hinzu.

»Oh, ich mache mir gar nichts daraus, daß Sie sich so offen über mein Vaterland aussprechen«, entgegnete Martin. »Aber Ihre entschiedene Sprache in betreff des Ihrigen überrascht mich.«

»Ich versichere Ihnen, solche Eigenschaften werden Sie hier nicht selten finden, allerdings nicht unter Leuten wie Oberst Diver, Jefferson Brick und Major Pawkins, obgleich sogar die Besten von uns etwas von dem Bedienten in Goldsmiths Komödie haben, der bekanntlich niemandem als sich selbst erlaubte, über seinen Gebieter zu schimpfen. Doch sprechen wir von etwas anderem«, setzte er hinzu. »Wie ich vermute, sind Sie wahrscheinlich in der Absicht hierher gekommen, Ihr Glück zu machen. Es sollte mir sehr leid tun, wenn ich Ihnen Ihre Hoffnungen raube. Ich bin nun aber ein paar Jahre älter als Sie und kann Ihnen vielleicht in einem oder dem andern Punkt immerhin Rat erteilen.«

Dieses Anerbieten war offenherzig und gut gemeint und hatte auch nichts von Neugierde oder Anmaßung an sich. Martin konnte sich einem so freundlichen Entgegenkommen unmöglich verschließen und setzte daher in Kürze auseinander, was ihn nach Amerika geführt habe. Sogar, daß er arm sei, verschwieg er nicht. Allerdings brachte er es mit einer Miene vor, aus der man entnehmen konnte, er habe noch Geld für sechs Monate und nicht bloß für sechs Wochen, wie es wirklich der Fall war. Immerhin jedoch gestand er seine Mittellosigkeit ein und versicherte, er werde für jeden Rat außerordentlich dankbar sein.

Es wäre für niemanden, am wenigsten aber für Martin, dessen Beobachtungsgabe bereits durch die Umstände geschärft war, schwer gewesen, zu bemerken, daß der Fremde ein langes Gesicht machte, als er schließlich mit seinen Projekten herausrückte. Zwar gab sich der Amerikaner alle Mühe, eine möglichst zuversichtliche Miene zu machen, konnte sich aber doch eines unwillkürlichen Kopfschüttelns nicht erwehren, das ungefähr soviel sagte: lieber Freund, das geht sicher schief.

Im allgemeinen sprach er Martin Mut zu und sagte, wenn auch in New York keine Aussichten wären, so wolle er doch die Sache genau überlegen und sich erkundigen, wo ein Baumeister noch am ehesten reüssieren könne. Dann sagte er Martin, sein Name sei Bevan, er selbst sei Arzt, aber er praktiziere selten oder fast nie, und dann erzählte er ihm noch allerlei sowohl über sich wie über seine Familie; und damit verging die Zeit, bis sie endlich das Bureau der Grobian-Zeitung erreichten.

Mr. Tapley schien es sich auf dem Treppenabsatz des ersten Stockes bequem gemacht zu haben, wenigstens drangen Töne, wie wenn jemand mit Aufgebot seiner ganzen Lungenkraft das »Rule Britannia« pfiffe, aus jener Gegend an ihr Ohr, ehe sie noch das Haus betreten hatten. Als sie die Stufen emporklommen, von denen herab diese Musik erscholl, fanden sie Mark mitten in einer Art Festung aus Gepäck verschanzt und seine Nationalhymne einem grauhaarigen Schwarzen zum besten gebend, der auf einem der Außenwerke der Verschanzung, nämlich auf einem Mantelsack, saß und Mark mit großen Augen anstarrte, während dieser, den Kopf auf die Hand gestützt, munter drauflos pfiff.

Mr. Tapley schien soeben erst diniert zu haben, denn ein Messer, eine leere Flasche und einige Fleischschnitten lagen auf seinem Schnupftuch vor ihm. Einen Teil seiner Zeit hatte er zur Verzierung der Zeitungsbureautüre benützt, auf der jetzt sein Name in fußgroßen Buchstaben – nebst dem Datum in kleinerer Schrift darüber – prangte. Das Ganze war mit einem zierlichen Rand eingefaßt und sah ungemein malerisch aus.

»Ich fürchtete schon, Sie seien verlorengegangen, Sir«, rief Mark, stand auf und brach sein Lied ab. »Hoffentlich nichts Unangenehmes vorgefallen, Sir?«

»Nein, Mark, wo ist Ihre Freundin?«

»Die verrückte Person, Sir? Oh, alles ganz gut abgelaufen.«

»Hat sie ihren Mann gefunden?«

»Ja, Sir. – Wenigstens seine Überbleibsel«, sagte Mark, sich verbessernd.

»Wieso? – Ist er denn tot?« »Das gerade nicht, Sir. Aber es steckt mehr Fieber in ihm, als sich mit Wohlbefinden verträgt. Wenn sie ihn nicht gefunden hätte, wahrhaftig, ich glaube, er wäre gestorben.«

»Er erwartete sie also?«

»Ja. Oder besser gesagt, ein Teil von ihm. Es kam nämlich schließlich ein dürrer alter Schatten herangekrochen, der seiner Gestalt von damals, als sie ihn das letztemal gesehen, so ähnlich war wie ihr Schatten ihrem eigenen Selbst, wenn ihn die Sonne besonders in die Länge zieht. Aber immerhin war es doch wenigstens ein Überrest von ihm, daran ist kein Zweifel. Und sie freute sich von Herzen, die arme Person, daß sie ihn endlich wiederhatte.«

»Hat er vielleicht Land gekauft?« fragte Mr. Bevan.

»Natürlich hat er Land gekauft«, sagte Mark und nickte mit dem Kopf. »Und sogar das Geld dafür bezahlt. Es seien große Vorteile damit verbunden, behaupteten die Agenten; jedenfalls war ein ganz unendlicher Vorteil dabei, nämlich Wasser ohne Ende.«

»Nun, ohne Wasser, glaube ich, hätte er doch auch gar nicht bestehen können«, bemerkte Martin mürrisch.

»Natürlich nicht, Sir. Und er hatte genug davon und brauchte keine Wassersteuer zu zahlen. Ganz abgesehen von drei oder vier schlammigen Flüssen in der Nähe wechselte der Wasserstand während der trockenen Jahreszeit auf dem Gute von vier bis zu sechs Fuß Tiefe. Wieviel er zur Regenzeit betrug, das wußte er nicht, denn er hatte keine Zeit gehabt, um lange herumzusondieren.«

»Ist das wahr?« fragte Martin.

»Höchst wahrscheinlich. Es wird so ein Mississippi- oder Missourigrundstück sein. – Er kam«, fuhr Mark fort, »von Dingsda herunter nach New York, um Weib und Kinder zu treffen, und heute nachmittag sind sie wieder mit dem Dampfboot fortgefahren. Und so glücklich waren sie, als wenn’s schnurstracks in den Himmel ginge. – Wenigstens nach dem Aussehen des armen Burschen zu urteilen.«

»Und darf ich fragen«, fragte Martin und sah den Neger an, »wer dieser Gentleman ist? Auch ein Freund von Ihnen?« »Nun Sir«, flüsterte ihm Mark vertraulich ins Ohr, »es ist ein Farbiger, Sir.«

»Halten Sie mich vielleicht für blind?« fragte Martin etwas ungeduldig. »Ich sehe das doch selbst. Ein schwärzeres Gesicht ist mir überhaupt noch nicht vorgekommen.«

»Gewiß, nicht, Sir!« rief Mark. »Wenn ich sage ›ein Farbiger‹, so meine ich damit: einer von denen, wo immer in den Fensterläden abgebildet hängen. – Einen ›Mensch und Bruder‹, Sie verstehen, Sir«, setzte er hinzu und schilderte seinem Herrn mit einer pantomimischen Handbewegung eine der Figuren, die man so oft in den Traktätchen und wohlfeilen Volksschriften zu sehen bekommt.

»Aha, ein Sklave«, rief Martin.

»Ja, ja, gewiß; nicht mehr und nicht weniger als ein Sklave. Als er noch jung war – schauen Sie nicht hin auf ihn, Sir, während ich von ihm spreche –, wurde er ins Bein geschossen, in den Arm gehauen, bei lebendigem Leibe gezeichnet wie eine Speckseite, geprügelt bis zur Unkenntlichkeit; – ein eisernes Halsband rieb ihm den Hals wund, und an Knöcheln und Handgelenken trug er Eisenringe. Die Spuren davon kann man heute noch sehen. Als ich gerade mein Dinner verzehrte, zog er sich den Rock aus und verdarb mir den ganzen Appetit damit.«

»Ist das wahr?« fragte Martin den Fremden, der neben ihm stand.

»Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln«, antwortete dieser mit gesenktem Blick und schüttelte den Kopf. »Es ist leider sehr oft zu wahr.«

»Gewiß ist es wahr«, versicherte Mark, »das weiß ich; denn er erzählte mir seine ganze Lebensgeschichte. Sein erster Herr starb. Der zweite ebenfalls; ein Sklave schlug ihm den Schädel mit einer Axt ein und ging nachher ins Wasser. Dann bekam der Nigger einen bessern Herrn. Jahre und Jahre hindurch sparte und sparte er, bis er genug Geld beisammen hatte, um sich damit die Freiheit erkaufen zu können. Er bekam sie ziemlich billig, weil es mit seinen Kräften fast vorbei und er selbst schwer krank war. – Dann kam er hierher, und jetzt spart er wieder, um sich vor seinem Tod noch eine kleine Freude zu gönnen, nämlich seine – nicht der Rede wert übrigens – seine Tochter loszukaufen«, rief Mr. Tapley mit verhaltener Erregung, »Freiheit für immer, hoch, hurra!«

»Still«, warnte Martin und legte die Hand auf Marks Mund, »bedenken Sie, wo Sie sind. – Was will der Neger hier?«

»Er wartet, um auf einem Schubkarren unser Gepäck fortzuführen. Er hätte es auf die Schultern genommen, aber ich mietete ihn für länger für einen sehr anständigen Preis – auf meine eigenen Kosten –, damit er mir ein wenig Gesellschaft leiste und mich aufheitere. Und jetzt bin ich auch wirklich wieder mordsfidel, und wenn ich reich genug wäre, einen langen Kontrakt mit ihm abschließen zu können, daß er mir täglich einmal vor die Augen käme, würde ich überhaupt nie mehr anders sein.« Dabei lag jedoch etwas in Mr. Tapleys Mienen, das unbedingt darauf schließen ließ, daß er seine Versicherung durchaus nicht wörtlich meine.

»Meiner Seel, Sir«, fügte er hinzu, »man ist in diesem Erdteil so in die Freiheit vernarrt, daß man mit ihr schachert wie mit einer Ware. Man hat eine solche Leidenschaft für Freiheit, daß man sich nicht versagen kann, sie sich sogar gegen andere herauszunehmen. Da ist dann natürlich schließlich die Folge davon – –«

»Schon gut«, unterbrach Martin ungeduldig; »nachdem Sie zu diesem Schluß gekommen sind, Mark, schenken Sie mir vielleicht ein wenig Gehör. – – Der Ort, wohin dieses Gepäck kommen soll, ist auf der Karte hier angegeben: Mrs. Pawkins‘ Logierhaus.«

»Mrs. Pawkins‘ Logierhaus«, wiederholte Mark. »Nun, Cicero!«

»Ist dies sein Name?« fragte Martin.

»Ja, so heißt er, Sir.«

Der Neger grinste freundlich auf seinem ledernen Mantelsack, der bei weitem nicht so schwarz war wie sein Gesicht, nickte bejahend und humpelte mit seinem Anteil an den weltlichen Gütern der Reisenden die Treppe hinunter, während Mark Tapley bereits mit dem seinigen abgezogen war.

Martin und der Fremde folgten ihnen zum Tor hinunter und wollten eben ihren Spaziergang wieder aufnehmen, als der Amerikaner plötzlich haltmachte und hastig fragte, ob dem jungen Mann auch zu trauen sei. »Mark? Oh, gewiß. In jeder Hinsicht.«

»Mißverstehen Sie mich nicht. Ich denke nur, es wäre besser, er ginge mit uns. Er ist ein ehrlicher Bursche und spricht so offen heraus, wie es ihm ums Herz ist.«

»Ja, sehen Sie«, sagte Martin lächelnd, »er ist eben noch nicht an das Leben in einer freien Republik gewöhnt. Das ist die Sache.«

»Ich glaube, gerade aus diesem Grund wäre es besser, er ginge mit uns«, versetzte der Fremde; »er könnte sonst in allerhand Unannehmlichkeiten geraten. Wir sind zwar kein Sklavenstaat, aber ich muß mit Beschämung gestehen, daß der Geist der Duldsamkeit nicht so allgemein hier ist, wie es den Anschein hat. Unser Benehmen zueinander ist nicht besonders maßvoll, wenn wir verschiedener Ansicht sind – und gar erst gegen Fremde. Daher glaube ich wirklich, es wäre besser, er ginge mit uns.«

Martin rief daraufhin Mark sogleich zu, er solle sich dicht hinter ihnen halten, und so ging Cicero mit seinem Gepäck den einen Weg und die drei einen andern.

Ein paar Stunden schlenderten Martin, Mr. Tapley und der Amerikaner zusammen in der Stadt herum, betrachteten sich die besten Aussichtspunkte und verweilten in den Hauptstraßen oder vor den öffentlichen Gebäuden, auf die Mr. Bevan seinen jungen Freund besonders aufmerksam machte. Da es bald Nacht wurde, schlug Martin vor, nach Mrs. Pawkins‘ Etablissement zu gehen, um dort einen Kaffee zu trinken. Er wurde jedoch hierin von seinem Freund überstimmt, der es sich durchaus nicht nehmen lassen wollte, ihn, sei es auch nur für eine Stunde, nach dem nahegelegenen Hause eines seiner Freunde zu führen. Martin war müde und hatte deshalb zu einem Besuch keine besondere Lust, fühlte jedoch, daß es wenig Takt verrate, die Bitte abzuschlagen, wenn Mr. Bevan schon so liebenswürdig sei, ihn bei Bekannten einführen zu wollen. Deshalb opferte er – also wenigstens einmal in seinem Leben – seinen eignen Willen den Wünschen eines andern auf und ließ sich den Vorschlag gnädigst gefallen. Einen Vorteil also hatte das Reisen bisher bereits für ihn gehabt.

Mr. Bevan klopfte an die Türe eines hübschen, mäßig großen Hauses, aus dessen Wohnzimmerfenster die Lichter hell auf die dunkle Straße herunterschienen. Sie wurde fast augenblicklich von einem Mann von so ausgesprochen irischem Typus geöffnet, daß man ordentlich erstaunt war, den Menschen nicht zerlumpt, sondern in einem ganzen Anzug vor sich zu sehen.

Mark der Obhut dieses Phänomens anempfehlend – denn als ein solches mußte der Mann in den Augen eines Engländers erscheinen –, ging Mr. Bevan nach dem Zimmer voran, das seinen gemütlichen Schein auf die Straße geworfen und dessen Bewohnern er Mr. Chuzzlewit als einen Gentleman aus England vorstellte, den er kürzlich kennenzulernen das Vergnügen gehabt habe. Man hieß die beiden Gäste freundlich und höflich willkommen, und in weniger als fünf Minuten saßen sie ganz behaglich am Kaminfeuer und unterhielten sich ungeniert mit der Familie.

Es waren zwei junge Damen zugegen, die eine achtzehn, die andere zwanzig Jahre alt; beide sehr schmächtig, aber sehr hübsch, – dann ihre Mutter, die nach Martins Ansicht viel älter und verwelkter aussah, als man von ihr hätte voraussetzen sollen, und ihre Großmutter, eine kleine, muntere Frau mit scharfen Augen, die über das Stadium des Alterns hinausgekommen und wieder ganz jung geworden zu sein schien. Außerdem waren anwesend: der Vater der beiden Damen und der Bruder derselben; der erstere ein Geschäftsmann, der andere ein Student; beide sehr herzlich zu Mr. Bevan und ihm hinsichtlich Gesichtsschnitt sehr ähnlich, was übrigens kein Wunder war, da er, wie es sich bald darauf herausstellte, ein naher Verwandter von ihnen war. Martin interessierten vor allem die beiden jungen Damen, nicht nur, weil sie, wie gesagt, sehr hübsch waren, sondern auch wegen ihrer wunderbar kleinen Schuhe und der außerordentlich dünnen seidenen Strümpfe, die jetzt auf den Schaukelstühlen in geradezu sinnverwirrendem Ausmaß sichtbar wurden.

Es war auch ohne Zweifel höchst angenehm, in einem traulichen, gut möblierten und von heiterem Kaminfeuer durchwärmten Zimmer zu sitzen, das eine Menge der anziehendsten Dinge und vor allem vier kleine zierliche Schuhe und ebensoviel seidene Strümpfe und – warum es nicht aussprechen – die dazugehörigen Beine umschloß. Und ohne Zweifel betrachtete Martin seine Lage durchaus in diesem Licht, um so mehr, wenn er der Erfahrungen, die er jüngst auf der »Schraube« und in Mrs. Pawkins‘ Kosthaus gemacht, gedachte. Die Folge davon war, daß er sich bemühte, möglichst angenehm zu erscheinen, und bereits, als der Tee und Kaffee aufgetragen wurde, von der ganzen Familie außerordentlich geschätzt war.

Ein zweiter entzückender Umstand ergab sich, ehe noch die erste Tasse Tee getrunken worden. Die ganze Familie war nämlich früher einmal in England gewesen, und das traf sich gut. Ein wenig irritierte es Martin zwar, als er erfuhr, daß alle die großen Herzoge, Lords, Marquisen, Herzoginnen, Ritter und Baronets Englands der Familie sämtlich genau bekannt waren, daß man aber trotzdem alles mögliche von ihm über sie wissen wollte. Doch zog er sich mit Antworten, wie: ja, o ja, er befand sich ganz wohl, oder: es ging ihm nie besser und so weiter noch so ziemlich gut aus der Schlinge. Ebenso, als ihn die jungen Damen nach den Goldfischchen in der griechischen Fontäne im Garten dieses oder jenes Edelmannes fragten, und ob noch so viele wie sonst darin seien. Ernst und nach reiflicher Überlegung antwortete er, es müßten ihrer jetzt mindestens zweimal so viele sein. Und die exotischen Gewächse? Oh, darüber ließe sich gar nichts sagen, man müsse das sehen, um es zu glauben. Dann kam die Reihe an die Erinnerungen und was Mr. Norris, der Vater, zu dem Marquis, was Mrs. Norris, die Mutter, zu der Marquise gesagt, und was dann wieder der Marquis und die Marquise geantwortet und wie sie auf ihr Ehrenwort versichert hätten, sie wünschten, Mr. Norris, der Vater, und Mrs. Norris, die Mutter, und die Misses Norris, die Töchter, und Mr. Norris junior, der Sohn, möchten doch ihren dauernden Aufenthalt in England nehmen und ihnen das Vergnügen ihres dauernden Verkehres schenken.

Darüber verfloß eine beträchtliche Zeit.

Etwas sonderbar und gewissermaßen inkonsequent kam es Martin vor, daß während dieser Erzählungen und auf dem Kulminationspunkt der Familienfreude darüber Mr. Norris, der Vater, und Mr. Norris junior, der Sohn, die, wie sie sagten, an jedem Posttage mit vier Mitgliedern des englischen Hochadels korrespondierten, sich so weit und breit über den unschätzbaren Vorteil ausließen, daß es in ihrem erleuchteten Vaterlande Amerika keine derartigen Auszeichnungen gebe und auch keinen andern Adel als den Adel der Natur, und die ganze amerikanische Gesellschaft sei auf die große Grundlage brüderlicher Liebe und natürlicher Gleichheit aufgebaut. Offen gestanden wurde Mr. Norris, der Vater, in seiner Rede über dieses unerschöpfliche Thema recht langweilig, bis schließlich Mr. Bevan seinen Gedanken dadurch eine andere Richtung gab, daß er nach den Bewohnern des nächsten Hauses fragte, worauf Mr. Norris, der Vater, bemerkte, daß der Herr Nachbar zu religiösen Ansichten hinneige, die er nicht billigen könne, weshalb er sich auch die Ehre versagen müsse, mit dem Gentleman näher bekannt zu werden. Mrs. Norris, die Mutter, fügte aus einem anderen Grunde hinzu, der übrigens zu demselben Resultat führte, sie glaube, die Leute wären gut genug in ihrer Art, aber durchaus nicht – gentil.

Dann kam die Rede auf ein Thema, das auf Martin einen tiefen Eindruck machte. Mr. Bevan erzählte nämlich die Geschichte von Mark und dem Neger, und dabei zeigte sich, daß sämtliche Norris Abolitionisten waren. Dieser erfreuliche Umstand veranlaßte Martin natürlich, sein Mitgefühl mit den unterdrückten und unglücklichen Schwarzen an den Tag zu legen. Den Ernst, mit dem er sich darüber ausließ, fand die eine der jungen Damen – und zwar die hübschere der beiden – ungemein belustigend, und als er sie nach der Ursache ihrer Heiterkeit fragte, konnte sie eine Weile vor lauter Lachen gar keine Antwort geben. – Als sie endlich wieder Worte fand, sagte sie, die Schwarzen seien so kuriose Menschen und so possierlich in ihrem Äußeren, daß es für Personen, die sie kennten, rein unmöglich sei, mit so ungereimten Teilen der Schöpfung irgendwelche ernstliche Gedanken in Verbindung zu bringen. Mr. Norris, der Vater, und Mrs. Norris senior, die Großmutter, waren ganz derselben Meinung, rein als ob die Leiden der Sklaverei nicht an und für sich schon schrecklich genug wären, um sogar in menschlichen Tieren etwas Ernstes sehen zu lassen, wären sie auch physisch noch so lächerlich und lächerlicher als die groteskesten Affen.

»Kurz«, sagte Mr. Norris, der Vater, und erledigte damit die Frage ein für allemal, »es herrscht eine natürliche Antipathie zwischen den beiden Rassen.« »Die«, fügte Martins Freund mit leiser Stimme hinzu, »so weit, geht, daß man sogar vor den grausamsten Martern und dem Schacher mit noch ungeborenen Generationen nicht zurückschreckt.«

Mr. Norris, der Sohn, sagte zwar nichts, zog aber ein sehr schiefes Gesicht und stäubte sich die Finger ab, wie es wohl Hamlet getan haben mochte, nachdem er Yoricks Schädel weggeworfen, und als habe er sich in dem Augenblick an einem Neger schwarz gemacht und es wäre etwas von dessen Farbe an ihm haften geblieben.

Um dem Gespräch wieder die frühere angenehme Richtung zu geben, ließ Martin das Thema lieber ganz fallen. Er sah ein, daß es bedenklich sei in Amerika, selbst unter den günstigsten Verhältnissen etwas derartiges zu berühren. Er wandte sich daher aufs neue den jungen Damen zu, die äußerst gewählt und in helle Farben gekleidet waren. Alles an ihnen stand zu den kleinen Schuhen und den dünnen Seidenstrümpfen in bestem Einklang. Er schloß daraus, daß sie sehr versiert sein mußten in den französischen Moden, und das stellte sich auch schließlich als Tatsache heraus. Namentlich die ältere Schwester, die sehr philosophisch angelegt schien und die Gesetze der Hydraulik und Menschheitsrechte im kleinen Finger hatte, verstand es auf geradezu verblüffende Weise, diese Kenntnisse auf alle möglichen Gegenstände – von Kunst und Staatswesen angefangen bis zur Kirche und Glauben – anzuwenden. Sie konnte darin so tiefsinnig und merkwürdig werden, daß sie damit einen Fremden in fünf Minuten in einen Zustand intermittierenden Irreseins zu versetzen imstande war.

Auch Martin fühlte, daß sich ihm bereits der Kopf zu drehen anfing, und um sich zu retten, ersuchte er die andere Schwester, zumal er ein Piano im Zimmer bemerkte, etwas zu singen. Sie erklärte sich gern dazu bereit, und sofort setzte ein Bravourkonzert ein, ausschließlich von den Misses Norris bestritten. Sie sangen in allen Sprachen, nur in ihrer Muttersprache nicht. Deutsch, französisch, italienisch, spanisch, portugiesisch, nur nichts Amerikanisches; nichts so Gemeines, wie ihre Muttersprache war. In dieser Hinsicht sind die Sprachen wie die Menschen selbst; alltäglich und ordinär zu Hause, aber ungemein nobel im Ausland. Fraglos wären die Misses Norris im Laufe der Zeit bis zum Hebräischen gekommen, wenn nicht eine Anmeldung des Irländers sie unterbrochen hätte, der plötzlich die Türe aufriß und mit lauter Stimme rief: »Schineräl Fladdock.«

»Oh«, riefen die Schwestern und hörten sofort auf zu spielen, »der General ist zurück!«

Fast im selben Augenblick stürzte der »General« in voller Balluniform so Hals über Kopf in die Stube, daß er sich mit den Füßen in den Teppich verwickelte, den Degen zwischen die Beine bekam, der Länge nach hinfiel und den Blicken der erstaunten Gesellschaft eine auffallende kleine Glatze auf seinem Scheitel präsentierte. Und das war das Ärgste noch nicht, denn da der Herr etwas beleibt und in etwas sehr knappe Kleider gezwängt war, so konnte er, einmal auf dem Boden, sich nicht so leicht wieder aufrichten, sondern lag da und krümmte sich und führte mit seinen Stiefeln Manöver aus, wie sie in der Kriegsgeschichte ihresgleichen suchen.

Natürlich stürzte sogleich alles zu seinem Beistand herbei und half ihm auf die Beine, aber seine Uniform war so tief durchdacht und wunderbar gearbeitet, daß er ganz steif und kerzengerade in die Höhe kam und wie ein toter Harlekin sich weder rühren noch regen konnte, bis er genau perpendikulär auf die Sohlen gestellt war. Dann aber kam plötzlich, wie durch ein Wunder, wieder Leben in ihn. Seitlich gehend wie ein Seekrebs bewegte er sich einher, um die Goldschnüre an seinen Epauletten durch Anstoßen nicht in Unordnung zu bringen, lächelte und begab sich grüßend zu der Frau vom Hause.

Die Freude und das Entzücken der Familie bei dieser unerwarteten Erscheinung des Generals Fladdock kannte keine Grenzen. Er wurde so warm aufgenommen, als ob New York im Belagerungszustand und kein anderer Feldherr für Geld oder gute Worte zu bekommen gewesen wäre. Allen Norris‘ schüttelte er der Reihe nach dreimal die Hand und musterte sie dann nach Art eines tapferen Kommandanten in einer Entfernung von ein paar Schritten, den Mantel über die rechte Schulter geworfen und auf der linken zurückgeschlagen, um seine männliche Heldenbrust in vollem Glanz zur Geltung kommen zu lassen. »Und so sehe ich denn wieder«, rief der General, »die auserlesensten Geister meines Vaterlandes von Angesicht zu Angesicht.«

»Ja«, sagte Mr. Norris, der Vater, »hier sind wir, General.«

Und nun drängten sich alle Norris um den General, fragten ihn, wie und wo er sich seit seinem letzten Besuch befunden, wie es ihm im Ausland gefallen, und namentlich, wie weit seine Bekanntschaft mit den großen Herzögen, Lords, Viscounts, Marquisen, Herzoginnen, Rittern und Baronets gediehen, an denen die Völker jener umnachteten Länder solche Freude hätten.

»Fragen Sie nicht«, sagte der General und erhob abwehrend die Hand, »ich habe mich die ganze Zeit immer unter ihnen herumgetrieben und Zeitungen mitgebracht, in denen mein Name gedruckt zu lesen steht und voll Lob erwähnt ist, und zwar« – er erhob seine Stimme zu größter Eindringlichkeit – »als eine der neuesten fashionablen Erscheinungen. – Ach Gott, wenn nur die schrecklichen Konventionalitäten in diesem Europa nicht wären.«

»Oh«, seufzte Mr. Norris, der Vater, schüttelte melancholisch den Kopf und warf Martin einen Blick zu, als wolle er sagen: »Ich kann es nicht in Abrede stellen, Sir; wollte Gott, ich könnte es.«

»– und diese unglaubliche Beschränkung moralischen Gefühls in jenem Lande!« rief der General. »Und der Mangel an sittlicher Würde im Menschen!«

»Ach!« seufzten sämtliche Norris‘, ganz überwältigt von Trostlosigkeit.

»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wenn ich nicht selbst an Ort und Stelle gewesen wäre. – Lieber Norris, Ihre Einbildungskraft ist sicherlich die eines starken Mannes, aber hätten Sie sich eine Vorstellung davon machen können, wenn Sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätten?«

»Nein«, antwortete Mr. Norris.

»Diese Exklusivität, dieser Stolz, diese Förmlichkeit, diese Zeremonien!« rief der General mit wachsendem Nachdruck. »Diese künstlichen Schranken zwischen Mensch und Mensch, die Einteilung der Gesellschaft nach Kasten! Nach allem, nur nicht nach dem Herzen.«

»Ach!« rief die ganze Familie. »Leider nur zu wahr, General!« »Aber halt, Sir«, rief Mr. Norris, der Vater, und faßte seinen Gast beim Arm, »Sie sind doch mit der ›Schraube‹ herübergekommen, General?«

»Jawohl, mit der ›Schraube‹«, war die Antwort.

»Ist’s denn möglich«, riefen die jungen Damen, »man denke!«

Der General schien gar nicht begreifen zu können, wieso seine Rückkehr mit der »Schraube« zu solcher Sensation Anlaß geben könne, und wurde auch nicht klüger daraus, als Mr. Norris ihm Martin mit den Worten vorstellte:

»Ein Reisegefährte von Ihnen, wie ich glaube.«

»Von mir?« rief der General. »Ausgeschlossen!«

Er hatte Martin natürlich nie gesehen, wohl aber dieser ihn, und jetzt stand der unglückliche junge Mann ihm Angesicht zu Angesicht gegenüber und erkannte in ihm den Gentleman, der sich gegen Ende der Reise mit in die Taschen gesteckten Händen und weit aufgeblähten Nüstern auf Deck dem Volke gezeigt hatte. Jeder von den Anwesenden faßte ihn ins Auge. Da war jetzt guter Rat teuer; die Wahrheit mußte an den Tag.

»Ich machte allerdings in demselben Schiff die Überfahrt mit wie der General, aber nicht in derselben Kajüte«, erklärte Martin mit leiser Stimme. »Ich war genötigt, mich in jeder Hinsicht einzuschränken und reiste daher im Zwischendeck.«

Wenn man den General vor eine geladene Kanone gestellt und aufgefordert hätte, sie in diesem Augenblick mit eigener Hand abzufeuern, so hätte er nicht in größere Bestürzung geraten können, als jetzt, wo er diese Worte vernahm.

Er, Fladdock, in voller militärischer Uniform, Fladdock, der General, Fladdock, der gefeierte Mann des ausländischen Adels, sollte einen Kerl kennen, der für vier Pfund zehn Schillinge in dem Zwischendeck eines Paketschiffes herübergekommen war! Und einen solchen Menschen mußte er in dem Heiligtum der New Yorker vornehmen Welt, im Herzen der New Yorker Aristokratie nisten finden! Es fehlte wenig, daß er die Hand an seinen Degengriff gelegt hätte.

Totenstille herrschte unter den Norris‘. Wenn die Geschichte ruchbar wurde, so hatte ihnen ihr Vetter vom Lande ein unauslöschliches Brandmal aufgedrückt. Sie waren die Leuchten, die Stars einer hohen New Yorker Sphäre. Es gab wohl noch andere fashionable Kreise über ihnen und unter ihnen, aber keiner von den Stars in einer dieser Sphären hatte mit denen der andern irgendwelche Berührungspunkte. Was nun, wenn dennoch ruchbar wurde, daß die Norris‘, durch das scheinbar anständige Äußere eines Menschen getäuscht, von ihrer Höhe herabgestiegen waren und einem dollarlosen und unbekannten Subjekt den Zutritt in ihre Familie gestattet hatten?! Oh, Schutzengel der reinen Republik, daß du so etwas hattest zugeben können!

»Gestatten Sie mir«, fing Martin nach einem schrecklichen Schweigen wieder an, »daß ich mich jetzt verabschiede; ich fühle, daß ich hier der Anlaß zu einer wenigstens ebenso großen Verlegenheit geworden bin, wie die ist, in der ich mich selbst befinde. Ehe ich mich jedoch entferne, halte ich es für meine Pflicht, diesen Gentleman hier von aller Schuld freizusprechen, denn ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß er meine soziale Unwürdigkeit nicht kannte, als er mich in die Gesellschaft hier einführte.«

Mit diesen Worten machte er den Norris‘ seine Verbeugung und entfernte sich, äußerlich so kalt wie ein Schneemann, aber innerlich förmlich fiebernd.

»Nun«, meinte Mr. Norris, der Vater, nachdem Martin die Türe hinter sich zugezogen, und sah sich blaß bis in die Lippen im Kreise der Anwesenden um. »Der junge Mann hat heute abend einen gesellschaftlichen Schliff und eine ungekünstelte Hochkultur gesehen, die er in seinem Vaterland nicht zu finden vermag. Hoffen wir, daß es den Sinn für Moral in ihm wecke.«

– Wenn dieser eigentümliche, transatlantische Artikel, das moralische Gefühl – denn wenn man den eingeborenen Staatsmännern, Rednern und Journalisten glauben darf, so hat Amerika ein Monopol darauf –, wenn dieser eigentümliche transatlantische Artikel ein liebevolles Wohlwollen für alle Menschen in sich faßt, so hätte es Martins moralischer Sinn in diesem Augenblick allerdings sehr stark nötig gehabt, ein wenig geweckt zu werden, denn wie er, Mark hinter sich, so die Straße entlang schritt, war sein unmoralischer Sinn in voller Tätigkeit begriffen und stachelte ihn an, gewisse blutdürstige Bemerkungen laut werden zu lassen, die aber zum Glück für ihn von niemandem gehört wurden. Er hatte sich jedoch bald wieder so weit gefaßt, daß er bei der Erinnerung an den kleinen Vorfall ein Lächeln aufbringen konnte, da hörte er plötzlich Schritte hinter sich, und als er sich umdrehte, sah er seinen Freund Mr. Bevan ihm atemlos nachkommen.

Einen Augenblick später schob der Amerikaner den Arm durch den seinen, ersuchte ihn, langsamer zu gehen, schwieg dann einige Minuten und sagte schließlich:

»Ich hoffe, Sie sprechen mich auch noch in persönlichem Sinne frei!«

»Wie meinen Sie das?« fragte Martin.

»Ich hoffe, Sie glauben doch nicht, daß ich den Ausgang unseres Besuches auch nur im entferntesten hätte voraussehen können. Aber diese Frage ist wohl kaum nötig.«

»Natürlich nicht«, sagte Martin. »Ich bin Ihnen im Gegenteil um so mehr für Ihre Güte verbunden, als ich jetzt klar sehe, aus welchem Stoff die guten Bürger hier gemacht sind.«

»Ich denke«, entgegnete der Amerikaner, »daß sie so ziemlich aus demselben Stoffe bestehen wie andere Menschen, wenn diese es nur immer eingestehen wollten.«

»Sie haben da nicht so unrecht«, gab Martin zu.

»Vermutlich«, fuhr Mr. Bevan fort, »kommen ähnliche Szenen wohl auch in englischen Komödien vor, und Sie dürfen keine besondern Ausnahmen darin entdecken. Freilich mag ein solcher Vorfall hierzulande lächerlicher erscheinen als anderswo, da wir immer soviel von ›Gleichheit‹ predigen. Was mich betrifft, kann ich wohl hinzusetzen, daß ich von Anfang genau wußte, daß Sie Ihre Fahrt im Zwischendeck machten, denn ich habe die Liste der Kajütenreisenden gelesen und Ihren Namen darunter nicht gefunden.«

»Um so mehr bin ich Ihnen dann verpflichtet«, sagte Martin.

»Norris ist in seiner Art ein sehr guter Mensch«, erklärte Mr. Bevan.

»So«, versetzte Martin trocken.

»O ja. Er hat viele vortreffliche Eigenschaften. Wenn Sie oder jemand anders sich als nicht gerade gleichberechtigtes Wesen an ihn gewendet und ihn um Rat oder Hilfe angegangen hätten, so wäre er die Freundlichkeit und Rücksicht selbst gewesen.«

»Ich hätte aber dazu nicht nötig gehabt, dreitausend Meilen von der Heimat wegzureisen, um einen solchen Charakter kennenzulernen!«

Weder Martin noch sein neuer Freund sprachen weiter auf dem Heimwege ein Wort und schritten stumm nebeneinander her, augenscheinlich hinreichend mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

Als sie in der Wohnung des Majors anlangten, war der Tee, das Souper, oder wie man sonst das Abendessen nennen wollte, vorüber, und nur das Tuch lag noch auf dem Tische, mit einigen Schmutzflecken dekoriert. An dem einen Ende der Tafel saßen Mrs. Jefferson Brick und zwei andere Damen bei ihren Tassen. Es mußte augenscheinlich eine außergewöhnliche Zusammenkunft sein, denn sie hatten ihre Hüte und Schals an, als ob sie eben erst nach Hause gekommen wären. Bei dem Lichte dreier Kerzen von ungleicher Länge, die in ebenso vielen verschieden geformten Leuchtern staken, nahm sich das Gemach fast noch unvorteilhafter aus als am Tage.

Die drei Damen hatten bei dem Eintritt Martins und seines Freundes in sehr lautem Tone miteinander gesprochen, hielten aber sofort inne, als sie die Herren erblickten, und wurden ungemein steif, wo nicht frostig. Sie fuhren jetzt fort, ihre Bemerkungen im Flüstertone miteinander auszutauschen, und allmählich griff eine Stimmung Platz, als ob plötzlich das Wasser in der Teekanne um zwanzig Grade gefallen sei.

»Sind Sie in der Versammlung gewesen, Mrs. Brick?« fragte Martins Freund mit einer Art eingeweihten Blinzelns.

»In der Vorlesung, Sir!«

»Bitte um Verzeihung. Ich weiß, Sie gehen selbstverständlich nie in eine Versammlung

Die Dame, die rechts von Mrs. Brick saß, hüstelte daraufhin, als wolle sie sagen: »Aber ich gehe hin.« Wie es übrigens auch wirklich der Fall war, und zwar jeden Abend in der Woche.

»Eine gute Predigt, Madame?« fragte Mr. Bevan und wandte sich zu dieser Dame. Die Gnädige schlug die Augen fromm gen Himmel auf und erwiderte. »Ja.« – Sie hatten sich nämlich sehr erbaut an einigen guten, kräftigen und gepfefferten Lehren, die allen ihren Freundinnen gehörig die Meinung gesagt und ihnen enthüllt hatten, wes Geistes Kinder sie seien. Auch war ihr Hut bei weitem der schönste in der ganzen Versammlung gewesen, und sie konnte daher nur mit Freude daran zurückdenken.

»Welchen Vorlesungskurs besuchen Sie gegenwärtig, Madame?« fragte Mr. Bevan weiter und wendete sich abermals an Mrs. Brick.

»Am Mittwoch: Philosophie der Seelen.«

»Und montags?«

»Philosophie des Verbrechens. Am Freitag: Philosophie der Pflanzen.«

»Wir haben den Donnerstag vergessen, meine Liebe«, mahnte eine der Damen.

»Philosophie der Staatswissenschaften«, bemerkte die dritte Dame.

»Nein«, verbesserte Mrs. Brick, »das ist am Dienstag.«

»Sie haben recht, am Donnerstag ist ja Philosophie der Materie.«

»Sie sehen, Mr. Chuzzlewit, unsere Damen sind vollauf beschäftigt«, erklärte Mr. Bevan.

»Das scheint mir allerdings so«, antwortete Martin. »In Anbetracht dieser ernsten Studien außer Hause und der Familienobliegenheiten im Hause kann den Damen unmöglich noch viel freie Zeit übrig bleiben.«

Er hielt hier inne, denn er bemerkte plötzlich, daß man ihn nicht mit sehr gnädigen Blicken betrachtete, wenn er sich auch nicht erklären konnte, warum. Aber als die Damen die Treppe hinauf in ihre Schlafzimmer gegangen waren, was bald darauf geschah, setzte ihm Mr. Bevan auseinander, die häusliche Plackerei stehe so tief unter der Würde dieser Philosophinnen, daß man hundert gegen eins wetten könne, keine von allen dreien sei imstande, auch nur die leichteste Frauenarbeit für sich zu verrichten oder das einfachste Kleidungsstück für eines ihrer Kinder herzustellen. »Und doch, glaube ich, wäre es vielleicht besser für sie, wenn sie sich mit stumpferen Werkzeugen beschäftigen wollten – zum Beispiel mit Stricknadeln«, sagte er. »Aber für eins kann ich gutstehen: sie tun sich nicht weh bei ihrer jetzigen Beschäftigung. – Andachtsstunden und Vorlesungen vertreten bei uns die Stelle der Bälle. Sie gehen hin, um sich von der Eintönigkeit des täglichen Lebens zu erholen, beneiden einander um ihre neuesten Kleider und gehen dann wieder nach Hause.«

»Meinen Sie mit dem ›nach Hause‹ gehen ein Haus wie dieses?«

»Oft ist es so. Aber ich sehe, Sie sind jetzt todmüde. Lassen Sie mich Ihnen gute Nacht sagen. Ihre Pläne wollen wir morgen früh genauer besprechen. Sie müssen übrigens inzwischen eingesehen haben, daß es Ihnen nicht viel nützen würde, hier zu bleiben und bessere Verhältnisse abzuwarten. Sie werden andere Orte aufsuchen müssen.«

»Das heißt für mich, noch tiefer ins Unglück zu geraten«, sagte Martin.

»Das will ich nicht hoffen. – Aber genug für heute. Gute Nacht.« Damit drückten die beiden Herren einander herzlich die Hand und trennten sich. Als Martin allein war, ließ die Erregung, in die ihn die große Veränderung und die Neuheit alles dessen, was er gesehen, versetzt und die ihn den Tag über bei allen Strapazen aufrecht erhalten hatte, plötzlich nach, und er fühlte sich mit einem Male so niedergeschlagen und abgehetzt, daß er nicht die Energie aufbringen konnte, sich die Treppe hinauf in seine Schlafkammer zu schleppen.

Zwölf oder fünfzehn Stunden, und was hatte sich da nicht alles in seinen Hoffnungen und sanguinischen Plänen geändert! Als Fremder hier in einem Lande, das so ganz anders war als seine Heimat, mußte er immer mehr und mehr zu der bangen Überzeugung kommen, daß sein Unternehmen als gescheitert zu betrachten sei. An Bord des Schiffes hatte es ihm oft keck und unüberlegt geschienen, nicht so aber, als er gelandet war. Jetzt zeigte es sich ihm in einem traurigen und abschreckenden Lichte. Was er sich auch ausmalen wollte, immer entmutigendere Bilder traten vor seine Seele, und selbst die Diamanten an seinem Finger hatten etwas von dem Glanze von Tränen, und ihr Funkeln schickte ihm keinen Hoffnungsstrahl.

So blieb er in düsterem Brüten bei dem Kaminfeuer sitzen, ohne auf die Schritte der Kostgänger zu achten, die – einer nach dem andern – von ihren Magazinen, Kontoren oder den benachbarten Bars zurückkehrten, um noch einen tüchtigen Schluck aus einem großen weißen Wasserkrug auf dem Seitentische zu tun, dann gleichsam von einer Art häßlichem Zauber bestrickt in der Nähe der Spucknäpfe verweilten und sich endlich schwerfällig zu Bett begaben. Zuletzt kam Mark Tapley, trat ein und schüttelte ihn am Ärmel, da er dachte, er sei eingeschlafen.

»Mark!?«

»All right, Sir«, sagte Mark und schneuzte das Licht, das er in der Hand trug. »Ihr Bett scheint mir nicht sonderlich groß, Sir, und auch ein durchaus nicht durstiger Mann könnte vor dem Frühstück all das Wasser ruhig austrinken, das Sie zum Waschen hier haben, und hinterdrein meinetwegen auch noch das Handtuch verspeisen. Aber Sie werden heute nacht wenigstens auf festem Lande schlafen, Sir.«

»Mir ist, als ob dieses Haus auf der See schwämme«, sagte Martin und stolperte beim Aufstehen; »ich fühle mich höchst elend.«

»Und mir ist so fidel zumute wie einem Kegeljungen, Sir«, versetzte Mark. »Meiner Seel, ich habe aber auch Grund dazu. Ich bin der Ansicht, daß ich von Rechts wegen hier hätte geboren werden sollen. Nehmen Sie sich in acht«, warnte er, »fallen Sie nicht! Übrigens, Sie erinnern sich doch noch des Gentlemans an Bord der ›Schraube‹, der so einen kleinen Koffer mithatte, Sir?«

»Das Felleisen. – ja.«

»Nun, Sir, heute abend ist sein Weißzeug aus der Wäsche gekommen und hängt jetzt vor der Türe des Schlafzimmers zum Trocknen. Wenn Sie hinaufgehen, schauen Sie sich’s mal an. Sie können dann leicht aus der Anzahl seiner Hemden ersehen, worin das Geheimnis seiner Art zu packen bestand.«

Martin war jedoch viel zu müde und niedergeschlagen, um auf irgend etwas zu achten, und deshalb interessierte ihn diese Entdeckung auch nicht weiter. Mr. Tapley, der sich durch seine Teilnahmslosigkeit nicht entmutigen ließ, führte ihn sodann unter das Dach des Hauses und in das für ihn bestimmte Schlafgemach, nämlich eine sehr kleine Kammer mit einem halben Fenster, einer Bettstätte wie ein Koffer ohne Deckel, zwei Stühlen und einem Stück Teppich – wie er in England zum Abreiben der Schuhe vor neuen Treppen liegt – und einem kleinen an die Wand genagelten Spiegel, außerdem einem Waschtisch und einem Krug samt Waschschüssel, die man ganz leicht für einen Milchtopf und einen Spülnapf hätte halten können.

»Ich denke, hierzulande poliert man sich mit einem trockenen Tuch«, erklärte Martin, »wahrhaftig, die Amerikaner müssen so etwas wie die Wasserscheu haben, Sir.«

»Es wäre mir lieb, wenn Sie mir die Stiefel ausziehen hälfen«, brummte Martin und warf sich in einen der Sessel; »ich kann mich kaum mehr rühren, ich bin halbtot vor Müdigkeit, Mark.«

»Morgen früh werden Sie das nicht mehr sagen, Sir«, tröstete Mr. Tapley. »Nicht einmal heute würden Sie’s sagen, wenn Sie dies hier probiert hätten.«

Damit brachte er einen sehr großen Becher zum Vorschein, der bis an den Rand mit kleinen Stückchen klaren durchscheinenden Eises gefüllt war, durch die ein paar dünne Zitronenscheiben und eine köstlich goldglänzende Flüssigkeit dem sehnsüchtigen Auge des Beschauers entgegenleuchteten.

»Was ist das?« fragte Martin.

Doch Mr. Tapley gab keine Antwort, er tauchte bloß ein Rohr in die Mischung, rührte damit die Eisstückchen um und gab Martin mit ausdrucksvoller Gebärde zu verstehen, daß der entzückte Trinker die Flüssigkeit mittels dieses Instrumentes aussaugen müsse.

Martin nahm das Glas mit erstauntem Blick, brachte die Lippen an den Strohhalm und schlug dann mit einem Male wie in Verzücken die Augen auf. Er hielt auch nicht mehr inne, bis das Glas bis auf den letzten Tropfen geleert war.

»So, Sir«, rief Mark und nahm ihm den Becher mit triumphierender Miene aus der Hand. »Wenn Sie zufälligerweise wieder mal halbtot sein sollten und ich nicht bei der Hand wäre, so haben Sie nichts weiter zu tun, als den nächsten besten Kellner zu bitten, er solle Ihnen einen ›Cobbler‹ holen.«

»Einen Cobbler?«

»Diese wundervolle Erfindung, Sir«, erklärte Mark und streichelte zärtlich das Glas, »heißt Cobbler. Sherry Cobbler. Wenn Sie aber den langen Namen nicht behalten können, so sagen Sie nur ›Cobbler‹. Sehen Sie, jetzt sind Sie selbst imstande, sich die Stiefel auszuziehen. Und das will doch was heißen. Kurz, Sie sind wieder ein ganz anderer Mensch.« Nachdem er sich dieser feierlichen Vorrede entledigt hatte, brachte er den Stiefelknecht.

»Fürchten Sie nicht, daß ich wieder kleinmütig werde, Mark«, begann Martin nach einer Weile, »aber Gott im Himmel, was wäre aber, wenn wir in eine wilde Gegend dieses Landes verschlagen würden – ohne einen Penny in der Tasche?«

»Nun, Sir«, versetzte der unverwüstliche Mr. Tapley, »nach dem, was wir bis jetzt gesehen haben, weiß ich nicht, ob wir in wilden Gegenden viel schlechter fahren würden als in zahmen.«

»O Tom Pinch, Tom Pinch!« jammerte Martin. »Was gäbe ich drum, wenn ich wieder bei dir sein und deine Stimme hören könnte; wär’s auch nur in der schäbigen Schlafkammer bei Pecksniff.«

»O Drache! Drache!« echote Mark lustig. »Läge nicht so viel Wasser zwischen dir und mir und wäre es nicht so feige, zurückzukehren, so weiß ich nicht, ob ich nicht dasselbe sagen möchte. Aber hier bin ich, lieber Drache, im amerikanischen New York, und du bist im europäischen Wiltshire. Und hier kann man sich ein Vermögen machen, lieber Drache, und noch obendrein für eine schöne junge Frau. – Und wenn du ’ne Leiter hinaufsteigen willst, darfst du nicht gleich bei der ersten Sprosse umkehren, sonst kommst du niemals nicht hinauf.«

»Sehr wahr, Mark!« rief Martin. »Wir müssen mutig in die Zukunft blicken.«

»In all den Märchenbüchern, Sir, wo ich je gelesen habe, wurden die Ritter, wenn sie sich umsahen, jedesmal in Stein verwandelt«, versetzte Mark, »und meine Meinung war immer, daß sie selbst daran schuld waren, und daß ihnen ganz recht geschehen ist. – Aber jetzt wünsche ich Ihnen gute Nacht, Sir, und angenehme Träume.«

»Dann müssen’s Träume aus der Heimat sein«, sagte Martin und kroch in sein Bett.

»Mein ich auch«, flüsterte Mark Tapley, als er außer Hörweite und in seinem eigenen Zimmer war, »denn wenn nicht – ehe wir aus dieser Patsche heraus sind – ’ne Zeit kommt, wo’s ’ne ziemliche Kunst sein wird, fidel zu bleiben, so will ich ein Vereinigter-Staaten-Mann sein.«

Lassen wir sie jetzt träumen und eingehen in das Reich, wo die phantastischen Schemen einer andern Welt sich miteinander mengen, und kehren wir zu dem Schauplatz unserer Geschichte zurück, weit übers Meer an die englische Küste.

18. Kapitel


18. Kapitel

Handelt wiederum von der Firma Anthony Chuzzlewit & Sohn. – Einer der Teilhaber tritt unerwarteterweise aus dem Geschäfte aus

Eine Veränderung kommt selten allein. Wenn jemand, der an einen engen Kreis von Freuden und Leiden gewöhnt ist, aus dem er sich selten entfernt, nur einen Schritt darüber hinaus tut, gleich gibt sein Abgang von dem eintönigen Schauplatz, auf dem er vordem eine so wichtige Rolle spielte, das Signal zu einem großen Durcheinander. Als ob in die Lücke, die er gerissen, augenblicklich der Keil der Veränderung eindränge, um, was vorher feste Masse gewesen, zu zersplittern! Dinge, die durch jahrelange Gewohnheit aneinander gekittet und gebunden waren, brechen in ebenso vielen Wochen zusammen. Im Nu explodiert die Mine, mit der die Zeit langsam die Verhältnisse einer Familie untergraben hat, und was zuvor Fels gewesen, ist plötzlich eitel Sand und Staub. Die meisten Menschen haben wohl schon in ihrem Leben derartige Erfahrungen gemacht. Bis zu welchem Grade die Gesetze der Veränderung ihre Herrschaft in dem beschränkten Wirkungskreis geltend machten, den Martin verlassen hatte, das soll jetzt getreulich auf diesen Seiten berichtet werden.

»Was das nur wieder für ein kaltes Frühjahr ist«, klagte der alte Anthony und rückte näher an das abendliche Kaminfeuer. »Es war doch wärmer um die Zeit, als ich jung war.«

»Lächerlich. So oder so, jedenfalls hast du nicht nötig, dir Löcher in den Rock zu brennen«, bemerkte Jonas liebevoll, seine Blicke von der gestrigen Zeitung erhebend. »Das Tuch ist nicht so billig, als daß man es nur so verschleudern könnte.«

»Ein tüchtiger Junge!« rief der Alte, hauchte in seine erfrorenen Hände und rieb sie zitterig aneinander, um sich zu erwärmen. »Ein gescheiter Junge! Niemals hat er sich der Kleiderfexerei hingegeben. Nein, nein, das muß man sagen. Alles, was recht ist.«

»Es kommt nur zu teuer, sonst hätt ich’s schon getan«, sagte Jonas und griff wieder nach dem Zeitungsblatt.

»Ja, ja«, kicherte der alte Mann, »wenn’s nicht so teuer wäre! Wenn’s umsonst wäre. – Aber es ist sehr kalt hier.«

»Laß das Feuer in Ruhe!« rief Mr. Jonas, seinen würdigen Vater im Gebrauch des Schürhakens unterbrechend. »Willst du vielleicht in deinen alten Tagen noch zum armen Manne werden, daß du so zu wüsten anfängst?«

»Dazu ist keine Zeit mehr, Jonas«, sagte der Greis.

»Keine Zeit zu was?«

»Um ein armer Mann zu werden.– Ich wollte, ich wäre jünger.«

»Ja, ja, du warst von jeher ein egoistischer Filz«, murmelte Jonas mit einem zornigen Blick. »Das war dir wieder einmal aus der Seele gesprochen. Möchtest dir nichts draus machen, in Not zu kommen, wenn du nur jünger wärst; was? Aber das eigene Fleisch und Blut dürfte in Not geraten, und du würdest dir den Teufel was daraus machen, alter Halunke!«

Nach diesem kindlichen Selbstgespräch nahm er seine Teetasse zur Hand, denn sie saßen gerade bei einem derartigen Mahle, und Vater, Sohn und Chuffey nahmen teil daran. Dann sah er seinen Erzeuger fest an und fuhr laut, seinen Tee dabei auslöffelnd, fort:

»Ja, ja! Not! Das wäre mir das Rechte. Du bist mir ein feiner Hecht, jetzt noch von Armut und Not zu sprechen. Du sagst, es ist keine Zeit mehr dazu. Das ist richtig. Gott sei Dank! Am liebsten würdest du wahrscheinlich noch ein paar Jahrhunderte leben, wenn du könntest, und noch immer nicht damit zufrieden sein. – Ja, ja, ich kenne dich.«

Der alte Mann seufzte und saß noch immer kauernd vor dem Kaminfeuer. Mr. Jonas schüttelte wütend seinen Teelöffel aus Britanniametall nach ihm und fuhr dann fort, auch noch von höherem Gesichtspunkt aus seine moralischen Gründe zu erörtern.

»Wenn du schon so denkst«, brummte er, »warum trittst du mir dann bei Lebzeiten nicht deinen Besitz ab und begnügst dich mit einer kleinen Jahresrente? Aber das wäre ja liebevoll gegen mich gehandelt, und das paßt dir natürlich nicht. Ich an deiner Stelle würde mich vor mir selbst schämen. Ich würde mich vor Scham wahrscheinlich unter die Erde verkriechen.«

Damit meinte er vermutlich ein Grab, eine Gruft, ein Mausoleum oder einen Friedhof oder sonst etwas, was er sich in seiner kindlichen Liebe beim wahren Namen zu nennen scheute. Er verfolgte das Thema indessen nicht weiter, denn Chuffey, der aus seiner Kaminecke heraus entdeckt haben mochte, daß Anthony zu horchen und Jonas zu sprechen scheine, rief plötzlich begeistert:

»Er ist wirklich Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit, ganz Ihr leiblicher Sohn, Sir.«

Er ließ sich dabei wohl kaum träumen, welch tiefer Sinn in seinen Worten lag oder wie sie bei der bitteren Satire, die sie enthielten, dem alten Mann ins Herz hätten schneiden müssen, hätte er geahnt, was dessen Sohn soeben vor sich hingemurmelt. Die lauten Worte Chuffeys weckten den Greis auf.

»Ja, ja, Chuffey, Jonas ist ein echtes Reis vom alten Stamm. – Es ist ein recht alter Stamm jetzt, Chuffey«, sagte Anthony mit seltsamer Unruhe in der Stimme.

»Ja, ja, verdammt alt«, höhnte Jonas beiseite.

»Nein, nein, nein«, rief Chuffey »nein, Mr. Chuzzlewit, gar nicht alt, Sir.«

»Es ist rein nicht mehr auszuhalten mit dem Kerl«, rief Jonas unwillig. »Meiner Seel, Vater, er wird schon wirklich ekelhaft. – Warum hält er nicht das Maul.« »Er sagt, Sie hätten unrecht«, rief Anthony dem alten Buchhalter zu.

»Pst, pst«, flüsterte Chuffey. »Ich weiß das besser, ich sage, er hat unrecht. Ja, ich sage: er hat unrecht. Er ist ein Knabe. Ja, ja, das ist er. Und auch Sie, Mr. Chuzzlewit, sind so ein Art Knabe! Ha, ha, ha! Gegen viele, die ich gekannt habe, sind Sie wirklich noch ein Knabe. Gegen mich und viele Hunderte von uns sind Sie ein Knabe. Kehren Sie sich nicht daran, was er sagt.«

Nach dieser außerordentlichen Rede – denn für Chuffey war dies ein geradezu beispielloser Ausbruch von Beredsamkeit – zog der arme alte Schemen von einem Buchhalter die Hand seines Prinzipals durch seinen gelähmten Arm, hielt sie dort fest und faltete seine eigene darauf, als wolle er ihn liebevoll verteidigen.

»Ich werde täglich tauber, Chuffey«, sagte Anthony mit so viel Weichheit oder, besser gesagt, mit so wenig Rauheit, als ihm überhaupt möglich war.

»Nein, nein«, rief Chuffey, »nein, das werden Sie nicht. Übrigens wenn auch, ich bin doch seit zwanzig Jahren taub.«

»Ich werde auch immer blinder«, klagte der alte Mann, traurig den Kopf schüttelnd.

»Das ist ein gutes Zeichen«, rief Chuffey, »ha, ha, das beste Zeichen, das man sich nur wünschen kann. Sie haben früher viel zu gut gesehen.«

Dabei tätschelte er Anthony sachte auf die Hand, wie man etwa ein Kind liebkost, zog sie noch weiter durch einen Arm und drohte mit zitterigem Finger nach der Stelle hin, wo Jonas saß. Da jedoch Anthony still und stumm blieb und kein Wort sprach, ließ er sie allmählich los und versank in seine gewohnte Stumpfheit. Nur von Zeit zu Zeit streichelte er den Rock seines alten Prinzipals, wie um sich zu überzeugen, daß er noch immer neben ihm sitze.

Mr. Jonas war so außer sich vor Erstaunen über dieses Vorgehen des stumpfsinnigen Buchhalters, daß er fortwährend die beiden Greise anstarrte, bis der eine wieder in seinen gewöhnlichen Geisteszustand und der andere in Schlummer versunken war; dann machte er seinem Gefühl ein wenig Luft, indem er zu Chuffey hinging und mit der geballten Faust eine Pantomime vor seiner Nase aufführte, als wolle er ihm das Lebenslicht ausblasen.

»So treiben sie es jetzt schon zwei oder drei Wochen«, murmelte er dabei nachdenklich, »ich habe mein Lebtag nicht gesehen, daß mein Vater je soviel Notiz von ihm nahm wie jetzt. – Willst du vielleicht erbschleichen, alter Chuff, was?«

Aber der alte Buchhalter ahnte so wenig von diesen Gedanken wie von der körperlichen Nähe von Mr. Jonas‘ geballter Faust, die zärtlich über seinem Haupte schwebte. Nachdem Jonas ihn sattsam angegrinst, nahm er die Kerzen vom Tisch, ging in die kleine Schreibstube mit der Glastür und zog einen Bund Schlüssel aus der Tasche. Dann öffnete er ein geheimes Schubfach, spähte jedoch dabei verstohlen ins andere Zimmer, um sich zu überzeugen, ob die beiden Alten auch noch immer vor dem Feuer säßen.

»Alles in Ordnung, wie immer«, brummte er, lehnte den aufgeschlagenen Pultdeckel an seinen Kopf und faltete ein Papier auseinander. »Da ist das Testament, Mister Chuff. Dreißig Pfund jährlich zu deinem Unterhalt, alter Junge, alles übrige dem Haupterben Jonas Chuzzlewit. Brauchst dich nicht zu bemühen und zärtlich zu sein, kriegst darum keinen Penny mehr. – – Was war das?«

Überrascht war er zusammengefahren. Und zwar mit Recht, denn ein Gesicht auf der anderen Seite der Glasscheibe blickte neugierig in die Schreibstube herein, jedoch nicht auf ihn, sondern auf das Papier in seiner Hand. Eine Sekunde später blickten die Augen auf und sahen ganz so aus wie die Mr. Pecksniffs.

Jonas ließ den Pultdeckel mit lautem Geräusch niederfallen, vergaß aber selbst in dieser Überraschung nicht, zuzuschließen, und blickte blaß und atemlos das Phantom an, das gleich drauf die Tür öffnete und eintrat.

»Was gibt’s?« rief Jonas zurückfahrend. »Wer ist da? Wo kommen Sie her? Was wollen Sie?«

»Was es gibt?« rief Mr. Pecksniffs Stimme.

Einen Augenblick später stand der würdige Architekt in der Stube.

»Ich komme Sie besuchen, Mr. Jonas.« »Was spionieren Sie hier herum?« fauchte Jonas zornig. »Was soll das heißen, so mir nichts, dir nichts nach London zu kommen und einen so unversehens zu überfallen? – Es ist doch wirklich zu arg, daß man nicht einmal die – die Zeitung in seinem eigenen Bureau lesen kann, ohne nicht von Leuten erschreckt zu werden. – Warum haben Sie nicht angeklopft?«

»Ich habe es doch getan, Jonas«, entschuldigte sich Pecksniff freundlich, »aber Sie haben mich nicht gehört. Ich war neugierig«, fügte er milde hinzu und legte die Hand auf die Schulter des jungen Mannes, »was Sie da eigentlich läsen, aber das Glas war zu trübe und schmutzig.«

Jonas blickte hastig nach den Fensterscheiben, die allerdings nicht sehr sauber waren; soweit schien also alles in Ordnung zu sein.

»War’s vielleicht Poesie?« fuhr Mr. Pecksniff fort und drohte dem jungen Mann scherzhaft mit dem Finger. »Oder Politik oder vielleicht der Kurszettel der Staatspapiere, oder haben Sie Lose nachgesehen? Haben Sie vielleicht gar das große Los gewonnen, wie?«

»Na, weit haben Sie nicht danebengeschossen«, antwortete Jonas sich fassend und schneuzte die Kerze. »Was zum Henker kommen Sie übrigens so unangemeldet nach London? – Schockschwerenot, da soll der Mensch nicht erschrecken, wenn er sich plötzlich von jemandem angestiert sieht, den er sechzig oder siebzig Meilen weit weg wähnt.«

»Glaub’s gerne«, lachte Mr. Pecksniff, »zweifle keinen Augenblick daran, mein lieber Jonas. – Der menschliche Geist – – –«

»Was geht mich der menschliche Geist an«, fuhr Jonas ungeduldig auf. »Was führt Sie hierher?«

»Eine kleine Geschäftssache«, antwortete Mr. Pecksniff, »die mir ganz unerwartet in den Wurf kam.«

»So? Weiter nichts? Gut. – Der Vater ist im Nebenzimmer. Heda, Alter, Pecksniff ist hier!« rief Jonas ärgerlich und schüttelte seinen würdigen Erzeuger hin und her. »Hörst du denn nicht? Pecksniff ist hier! Dummkopf!«

Die vereinigte Wirkung des Rüttelns und der liebevollen Anrede weckte endlich den alten Mann. Kichernd hieß er Mr. Pecksniff willkommen, einesteils erfreut, ihn hier zu sehen, andererseits erheitert durch die Erinnerung, ihn einen Heuchler genannt zu haben. Wie sich herausstellte, war Mr. Pecksniff erst eine Stunde in London und hatte noch keinen Tee getrunken. Er wurde daher gastfreundlich aufgefordert, sich an den Überresten des Mahles und mit einer Schinkenpastete zu erquicken. Jonas gab vor, in der nächsten Straße ein Geschäft zu haben, und entfernte sich mit dem Versprechen, wieder zurückzukommen, ehe noch der Gast mit seinem Imbiß fertig sei.

»Und jetzt, mein werter Herr«, wendete sich Mr. Pecksniff an Anthony, »jetzt, wo wir allein sind, bitte ich Sie, mir zu sagen, was Sie von mir wünschen. Ich sage ›allein‹, weil ich annehme, daß unser werter Freund, Mr. Chuffey hier, metaphorisch gesprochen – wie soll ich sagen – äh, –, ein Strohmann ist«, setzte er mit seinem süßesten Lächeln, den Kopf auf die Seite geneigt, hinzu.

»Er sieht uns weder, noch hört er uns«, erwiderte Anthony.

»Also gut. Dann bin ich so frei zu wiederholen, natürlich mit der lebhaftesten Sympathie für seine Leiden und der größten Bewunderung für seine ausgezeichneten Eigenschaften, die seinem Herzen wie seinem Kopf gleiche Ehre machen, daß er also wirklich ein sogenannter Strohmann ist. – – Sie wollten also eben bemerken, mein lieber Herr –«

»Ich wollte gar nichts bemerken«, knurrte der alte Mann.

»Aber ich«, sagte Pecksniff aufgeräumt.

»Also schießen Sie los! Was war es?«

»Daß ich niemals im Leben«, begann Mr. Pecksniff, stand aber vorher auf, um sich zu versichern, ob die Türe auch wirklich verschlossen sei, und stellte dann seinen Stuhl so, daß sie auch nicht einen Zoll weit geöffnet werden konnte, ohne daß man es sofort gemerkt hätte – »also, daß ich noch nie in meinem Leben durch etwas so überrascht wurde wie gestern durch Ihren Brief. Daß Sie mir die Ehre erwiesen, eine Beratung mit mir zu wünschen, setzt mich in Erstaunen. Daß Sie aber diese Beratung selbst mit Ausschluß Mr. Jonas‘ wünschten, das beweist einen Grad von Vertrauen gerade zu mir, dem Sie einstmals eine Beleidigung, und zwar eine schwere, angetan – eine Beleidigung allerdings bloß in Worten, und Sie haben sich beeilt, sie gutzumachen –, einen Grad von Vertrauen, wiederhole ich, der mich erfreut, der mich rührt, der mich tief erschüttert hat.«

Pecksniff war immer ein aalglatter Sprecher gewesen, aber diese kurze schwungvolle Anrede gab er besonders ölig und fließend von sich. Er hatte sich aber auch die größte Mühe gegeben, sie auf der Herfahrt nach London gehörig zu memorieren.

Vergeblich wartete er jetzt auf eine Antwort, denn der alte Anthony blieb in tiefstem Schweigen und mit vollkommen ausdrucksloser Miene sitzen. Auch schien er nicht den mindesten Wunsch zu fühlen, die Unterhaltung fortzusetzen, trotzdem Mr. Pecksniff mehrere Male nach der Türe blickte, seine Uhr herauszog und durch andere Gesten zu verstehen gab, daß seine Zeit bemessen sei und Jonas, wenn er Wort halte, bald zurückkehren müsse. Aber das Sonderbarste in diesem kuriosen Benehmen war, daß plötzlich und ohne ersichtlichen Grund die Züge Anthonys ihren alten Ausdruck annahmen. Leidenschaftlich schlug er mit der Hand auf den Tisch und rief, als ob gar keine Pause stattgefunden hätte:

»Wollen Sie nicht endlich den Mund halten, Sir, und mich ausreden lassen?«

Mr. Pecksniff erwiderte die Grobheit mit einem geschmeidigen Bückling und murmelte:

»Aha, also doch! Schon gestern fiel mir auf, wie zitterig seine Schriftzüge waren. Es ist eine Veränderung in ihm vorgegangen.«

»Jonas ist verliebt in Ihre Tochter, Pecksniff«, stieß der alte Mann in seinem gewöhnlichen barschen Ton hervor.

»Wenn ich nicht irre, so sprachen wir schon bei Mrs. Todgers darüber«, versetzte höflich Mr. Pecksniff.

»Sie brauchen nicht so laut zu sprechen«, schrie Anthony, »ich bin nicht taub.«

Allerdings hatte Mr. Pecksniff ziemlich laut gesprochen, aber nicht deswegen, weil er glaubte, Anthony sei taub, sondern weil er annahm, sein Begriffsvermögen fange an nachzulassen. Der rasche Tadel seines doch so wohl überlegten Vorgehens verblüffte ihn jetzt so sehr, daß er gar nicht wußte, was sagen, und daher nur mit einer zweiten geschmeidigen Verbeugung antwortete.

»Ich habe gesagt«, wiederholte der alte Mann, »daß Jonas in Ihre Tochter verliebt ist.«

»Ein entzückendes Mädchen, Sir«, murmelte Pecksniff, als er bemerkte, daß Anthony auf Antwort wartete; »ein entzückendes Mädchen, Mr. Chuzzlewit, obwohl ich als Vater es eigentlich nicht sagen sollte.«

»Sie bilden sich’s aber doch ein«, fuhr der alte Mann auf und streckte sein eingefallenes, schmalwangiges Gesicht wenigstens um eine Elle vor.

»Wozu die Komödie? Warum heucheln Sie denn schon wieder?«

»Aber mein werter Herr«, remonstrierte Mr. Pecksniff.

»Nennen Sie mich nicht immer ›werter Herr‹«, grollte Anthony. »Tun Sie nicht, als ob Sie ein Ehrenmann wären. Wenn Ihre Tochter wirklich so wäre, wie Sie mir einreden wollen, würde sie zu Jonas gar nicht passen. So wie sie ist, denke ich, paßt sie noch am besten für ihn. Was wäre, wenn er ein Frauenzimmer heiratete, das dann schließlich liederlich wird, Schulden macht und sein Vermögen durchbringt? Wenn ich einmal nicht mehr sein werde –«

Sein Gesicht veränderte sich so schauerlich, als er diese Worte aussprach, daß Mr. Pecksniff seinen Blick rasch von ihm abwandte.

»– und den Gedanken hätte mit hinübernehmen müssen, daß es so ist, so wäre das schlimmer, als wenn ich noch lebte und müßte es mitansehen. Eine unerträgliche Qual, wissen zu müssen, daß zum Fenster hinausgeworfen wird, was ich unter so viel Mühe und Entbehrungen zusammengerafft habe. – Nein«, fuhr er mit erstickter Stimme fort, »das wenigstens soll mir erspart bleiben. Wenn ich schon gehen muß, so soll wenigstens etwas gerettet und gewonnen sein.«

»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, flötete Mr. Pecksniff, »das sind krankhafte und ganz unnötige Grillen, ich versichere Ihnen. Ich fürchte, Sie sind krank, mein werter Herr.«

»Jedenfalls liege ich nicht im Sterben«, knurrte Anthony wütend. »Nein, noch nicht. Ich fühle, ich habe noch viele Jahre zu leben. Schauen Sie sich einmal den da an«, dabei deutete er auf den gebrechlichen Buchhalter. »Der Tod hat kein Recht, mich niederzumähen und ihn zurückzulassen.«

Mr. Pecksniff fühlte sich durch die Erregung des alten Mannes so eingeschüchtert, daß er nicht einmal Geistesgegenwart genug besaß, einen Brocken Moral aus dem großen Magazin in seiner Brust herauszufischen, und stotterte deshalb, ohne Zweifel sei es recht und billig, daß Mr. Chuffey zuerst in die Grube fahre und gewiß selbst – – nach allem, was er von ihm gehört und nach dem wenigen, was er von ihm wisse, zu schließen – – einsehen werde, wie schicklich es sei, es so bald wie möglich zu tun.

»Kommen Sie«, unterbrach Anthony und winkte ihn näher heran. »Jonas ist mein Erbe. Er wird einmal sehr reich sein und wäre ein guter Schwiegersohn für Sie, das wissen Sie so gut wie ich. – – Jonas ist verliebt in Ihre Tochter.«

»Ich weiß, ich weiß«, dachte Mr. Pecksniff. »Er hat mir’s doch oft genug gesagt.«

»Er könnte eine Reichere heiraten als sie, aber Ihre Tochter wäre die Frau danach, das zusammenzuhalten und zu behüten, was sie beide besitzen werden. Sie ist nicht mehr jung und auch nicht leichtsinnig und aus einem guten, harten, geizigen Stamm entsprossen. Aber spielen Sie kein zu feines Spiel! Sie hält ihn nur an einem Faden, und wenn man ihn zu fest anzieht – – ich kenne Jonas – –, so reißt er. Binden Sie ihn fest, wenn er in der richtigen Stimmung ist, Pecksniff, binden Sie ihn fest! Ihr Spiel ist zu fein; und wenn Sie so fortmachen, entwischt er Ihnen im letzten Augenblick. – – Ich bitte Sie, machen Sie kein solches Gesicht, Sie Aal, ich habe doch Augen, um zu sehen. Glauben Sie wirklich, ich hätte von Anfang an nicht bemerkt, wie Sie nach ihm geangelt haben?«

»Ich möchte doch wissen«, brummte Pecksniff mit einem pfiffigen Blick auf den Alten, »ob das alles ist, was er mir zu sagen hat.«

Aber der alte Anthony murmelte nur, sich die Hände reibend, stumpfsinnig vor sich hin, daß es kalt sei usw., zog seinen Sessel vor das Kaminfeuer, kehrte ihm den Rücken, ließ sein Kinn auf die Brust sinken und hatte augenscheinlich in der nächsten Minute die Anwesenheit seines Gastes ganz vergessen. So abgerissen und ungenügend auch diese kurze Besprechung gewesen war, so enthielt sie doch für Mr. Pecksniff eine Andeutung, die ihn, wenn er auch weiter nichts erfahren sollte, für seine Hin- und Herfahrt völlig schadlos hielt. Aus Mangel an Gelegenheit hatte er nie die Tiefen von Mr. Jonas‘ Wesen erforschen können, und jedes Rezept, wie er ihn zu behandeln habe, mußte für ihn von großem Werte sein. Das Einnicken Anthonys benutzend, machte er sich jetzt über die Erfrischungen her und trachtete durch allerlei scharfsinnige und auf Erregung von Aufmerksamkeit berechnete Mittel, wie zum Beispiel Husten, Schneuzen, Klappern mit den Tassen, Wetzen der Messer, geräuschvolles Niederlegen des Brotlaibes usw. den Alten wieder aufzuwecken. Aber alles war vergeblich, und Mr. Jonas kehrte zurück, ohne daß sein Vater wieder ein Wort gesprochen hätte.

»Was? Der Alte schläft schon wieder?« sagte Jonas und hängte seinen Hut auf. »Und wie er schnarcht, es ist unglaublich!«

»Ja, ja, er schnarcht sehr kräftig«, bestätigte Mr. Pecksniff.

»Kräftig?« wiederholte Jonas. »Ja, das muß man ihm lassen; er schnarcht für sechse.«

»Wissen Sie auch, Mr. Jonas«, säuselte Pecksniff, »daß es mir vorkommt, als ob Ihr Vater – erschrecken Sie nicht – marastisch wird?«

»So, glauben Sie?« höhnte Jonas. »Sie haben keine Idee, wie zäh der ist. Oh, der ist noch weit vom Abkratzen.«

»Es fiel mir auf, daß er sich stark verändert hat, sowohl in seinem Aussehen wie in seinem Benehmen«, bemerkte Mr. Pecksniff.

»So? Weiter nichts?« entgegnete Jonas und setzte sich mit verdrießlichem Blick nieder. »Und ich kann Ihnen sagen, er hat sich niemals besser befunden als gerade jetzt. Wie geht es übrigens zu Hause? Was macht Charitas?«

»Blüht und gedeiht, Mr. Jonas.«

»Und die ›andere‹? Wie geht’s der?«

»Oh, der kleine Schmetterling!« rief Mr. Pecksniff in zärtliches Sinnen verloren. »Sie ist wohl – sie befindet sich wohl. Schwärmt vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer wie eine Biene, flattert vom Bett zum Spiegel wie der Schmetterling, taucht ihr Schnäbelchen in unsern Johannisbeerwein wie der Kolibri. Ach! Wäre sie nur etwas weniger leichtsinnig und hätte sie nur die gediegenen Eigenschaften von Cherry, mein Freund.«

»Ist sie denn so leichtsinnig?« fragte Jonas.

»Nun – nun«, begütigte Mr. Pecksniff gefühlvoll, »ich will nicht ungerecht sein gegen mein Kind. Aber neben ihrer Schwester Cherry allerdings erscheint sie so. Was ist das übrigens für ein merkwürdiges Geräusch, Mr. Jonas?«

»Es wird was in dem Werk nicht in Ordnung sein, glaube ich«, sagte Jonas mit einem Blick auf die Wanduhr. »Die ›andre‹ ist also nicht ihr Liebling, was?«

Mr. Pecksniff wollte eben etwas Zärtliches sagen und hatte bereits sein Gesicht in innige Falten gelegt, als sich derselbe seltsame Ton plötzlich wieder hören ließ.

»Wahrhaftig, Mr. Jonas, das ist aber eine höchst merkwürdige Uhr«, rief er.

Er hätte allerdings recht gehabt, wenn das wunderliche Geräusch von ihr ausgegangen wäre, es war aber ein anderer Zeitmesser, der sich hier vernehmen ließ und rasch ablief.

Ein Schrei, der noch hundertmal schrecklicher klang, weil er aus dem Munde des sonst so schweigsamen Mr. Chuffey kam, lief durch das Haus. Und als sich beide erschreckt umsahen, bemerkten sie, wie Anthony Chuzzlewit ausgestreckt auf dem Boden lag und der alte Buchhalter neben ihm kniete.

Der Greis war von seinem Stuhle heruntergesunken und lag jetzt da, nach Atem ringend, und jede Sehne und jede Ader trat deutlich auf seinem hagern Gesicht hervor. Es war fürchterlich mitanzusehen, wie das Lebensprinzip, in diese welke Form eingeschlossen, gleich einem kraftvollen Dämon nach Erlösung rang und mit äußerster Gewalt sein altes Gefängnis zu zerreißen bemüht war.

Schon bei einem jungen Mann in der Fülle der Kräfte hätte ein solcher Verzweiflungskampf etwas Entsetzliches an sich gehabt, aber bei einem Greise, dessen welker, elender Körper jede der ungestümen Bewegungen seiner Glieder Lügen strafte, hatte das Schauspiel etwas geradezu Grauenhaftes. Man richtete den Kranken auf, und der in aller Eile geholte Wundarzt ließ ihn zur Ader und verordnete ihm einige Arzneimittel. Aber der Anfall währte so lange, daß es bereits Mitternacht vorbei war, als man Anthony – jetzt zwar ruhig, aber ganz bewußtlos und erschöpft – zu Bett brachte.

»Gehen Sie nicht«, flüsterte Jonas mit aschfahlen Lippen über das Bett hinüber Mr. Pecksniff ins Ohr. »Es war ein Glück, daß Sie zugegen waren, als der Anfall über ihn kam, man hätte es sonst vielleicht für mein Werk gehalten.«

»Für Ihr Werk?« rief Mr. Pecksniff.

»Was weiß man denn, was die Leute alles reden werden«, keuchte Jonas und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. »Wie sieht er jetzt aus?«

Mr. Pecksniff schüttelte den Kopf.

»Ich mache nicht gern Spaß, wissen Sie, Pecksniff, aber ich – ich habe nie seinen Tod herbeigewünscht. Glauben Sie, daß es sehr gefährlich ist?«

»Der Doktor behauptet es, Sie haben’s doch selbst gehört«, war Mr. Pecksniffs Antwort.

»Ach, das sagt er ja nur, um uns eine höhere Rechnung schreiben zu können, falls er ihn durchbringt«, meinte Jonas. »Sie dürfen jetzt nicht fortgehen, Pecksniff. Da es so weit mit ihm gekommen ist, möchte ich nicht ohne Zeugen sein. Nicht für tausend Pfund.«

Chuffey hörte und sprach kein Wort. Er hatte sich neben dem Bett in einen Stuhl gesetzt und blieb dort regungslos sitzen, nur hin und wieder beugte er den Kopf über das Kissen und schien zu lauschen. So trieb er es ohne Unterlaß fort. Einmal erwachte Pecksniff in der Nacht nach einem kurzen Schlummer mit dem wirren Eindruck, er habe ihn beten hören, aber es kam ihm so vor, als ob sich in die Gebete seltsamerweise Ziffern und Zahlen gemischt hätten.

Jonas saß gleichfalls die ganze Nacht über da, aber nicht an einer Stelle, wo ihn sein Vater, falls ihm das Bewußtsein zurückgekehrt wäre, hätte sehen können, sondern sozusagen versteckt und den Stand der Dinge nur aus Pecksniffs Augen ablesend. Er, der rohe Bursche, der das ganze Haus so lange tyrannisiert hatte, war jetzt ein feiger Köter geworden, der sich nicht zu rühren wagte und dermaßen am ganzen Leibe zitterte, daß sogar sein Schatten an der Wand ruhelos herumzuckte.

Es war bereits hellichter Tag, als sie, den alten Buchhalter bei dem Kranken zurücklassend, zum Frühstück hinuntergingen. Die Leute eilten auf der Straße hin und her, Fenster und Türen wurden geöffnet, Taschendiebe und Bettler nahmen ihren gewohnten Standort ein, die Arbeiter gingen an ihr Werk, die Handelsleute schlossen ihre Läden auf, Detektive und Konstabler lagen auf der Lauer, alle Arten von menschlichen Wesen mühten sich, jedes auf seine Weise, um ihren mühseligen Lebenserwerb ab, und der alte Mann auf seinem Sterbebett kämpfte so wütend um jedes Sandkorn in seinem schnell ablaufenden Stundenglase, als gälte es ein Königreich.

»Wenn etwas passiert, Pecksniff«, sagte Jonas, »so müssen Sie mir versprechen, hierzubleiben, bis alles vorüber ist. Sie sollen sehen und Zeuge sein, daß ich nichts tue, was man irgendwie mißdeuten könnte.«

»Ich weiß das, Mr. Jonas«, beruhigte ihn Mr. Pecksniff.

»Ja ja, aber ich will nicht, daß jemand daran zweifelt; niemand darf auch nur eine Silbe gegen mich sagen. Ich sehe es kommen, wie die Leute schwatzen werden, gerade, als wenn er nicht ein alter Mann wäre oder als ob ich das Geheimnis besäße, ihn für ewige Zeiten am Leben zu erhalten.«

Mr. Pecksniff versprach zu bleiben, und sie beendigten gerade schweigend ihr Frühstück, als plötzlich eine so geisterhafte Erscheinung vor ihnen auftauchte, daß Jonas laut aufschrie und beide vor Grausen zurückfuhren.

Der alte Anthony selbst war es, der jetzt in seinen gewöhnlichen Kleidern in der Stube stand – gerade vor dem Tisch. Er stützte sich auf seinen alten Buchhalter, und auf seinem bläulichen Gesicht, auf seinen blassen erstarrten Händen, in seinen gläsernen Augen und auf seiner Stirn stand von dem Finger der Ewigkeit das eine Wort geschrieben: Tod.

Er sprach, und seine Stimme klang scharf und hohl. Fast geisterhaft. Was er sagen wollte, weiß nur Gott. Es schienen Worte zu sein, was er hervorbrachte, aber keines Menschen Ohr hatte je dergleichen vernommen. Es war etwas Furchtbares, ihn so dastehen zu sehen und in einer Sprache lallen zu hören, die nicht mehr von dieser Welt war.

»Es geht ihm jetzt wieder besser«, erklärte Chuffey, »weit besser. Wenn man ihn in seinen alten Stuhl setzt, wird es ihm wieder wohler werden. Ich sagte ihm, es wäre nichts. Ich habe es ihm schon gestern gesagt.«

Dann setzten sie den Sterbenden in einen Armstuhl und rollten ihn ans Fenster. Sie machten die Türe auf und das Fenster, um ihn die frische Morgenluft genießen zu lassen, aber nicht alle Luft zwischen Himmel und Erde, und nicht alle Winde, die je über Erde und Meer gerauscht sind, hätten ihm neues frisches Leben einhauchen können. Würde man ihn bis über die Ohren in Goldstücke gesteckt haben, seine schwer gewordenen Finger hätten auch nichts mehr greifen können.

11. Kapitel


11. Kapitel

Worin ein gewisser Herr einer gewissen Dame seine besondere Aufmerksamkeit zollt und mehr als ein zukünftiges Ereignis seine Schatten vorauswirft

In zwei oder drei Tagen sollte die Familie von Todgers‘ abreisen, und die Herren Handelsbeflissenen waren samt und sonders wegen der bevorstehenden Trennung untröstlich. Miss Charitas Pecksniff saß gerade mit ihrer Schwester im Bankettsaale und säumte für Mr. Jinkins sechs neue Taschentücher, als »Old Bailey« eintrat, zuvörderst den frommen Wunsch ausdrückte, er »wolle verdammt sein», und dann in seiner einschmeichelnden Weise der jungen Dame zu verstehen gab, es harre ihrer im Gesellschaftszimmer ein Besuch, der ihr seine Aufwartung zu machen wünsche. Vielleicht bewies diese Mitteilung schlagender als die längsten Reden die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit des jugendlichen Portiers, sintemalen er in der Tat den Besuch zuletzt an der Haustüre gesehen und nach dem Bedeuten, sich nur hinaufzubemühen, seinem eigenen Orts- und Spürsinn überlassen hatte. Ausgeschlossen war es daher keineswegs, daß der Gast in diesem Augenblick nach dem Dache des Hauses hinaufwanderte oder sich vergeblich aus einem Labyrinth von Schlafkammern herauszuwinden suchte, zumal Mrs. Todgers‘ Etablissement ganz das Haus danach war, in dem ein Fremder ohne ortskundigen Lotsen recht hübsch in die Lage kommen konnte, an einen Platz zu gelangen, den er am allermindesten erwartete oder wünschte.

»Ein Herr zu mir?« rief Charitas und hielt in ihrer Arbeit inne. »Was nicht gar, Bailey!«

»Oder vielleicht ja gar», sagte Old Bailey neckisch.

Diese Bemerkung wäre an sich etwas dunkel gewesen, wenn sie der Jüngling nicht mit einer Pantomime begleitet hätte, die ein Arm in Arm zum Altar schreitendes Liebespärchen darstellen und damit die zärtlichen Absichten des Besuches draußen andeuten sollte. Miss Charitas tat, als ob sie diese Kühnheit höchlich übelnehme, konnte sich aber trotzdem eines Lächelns nicht erwehren. Bailey war freilich ein wunderlicher Junge, aber so albern auch sein Benehmen zu sein pflegte, so lag ihm doch meistens irgend etwas Sinngemäßes zugrunde.

»Aber ich kenne hier gar keinen fremden Herrn, Bailey«, sagte Miss Pecksniff. »Du mußt dich wohl geirrt haben.«

Mr. Bailey lächelte bloß über die unerhörte Zumutung und betrachtete die jungen Damen mit unverminderter Heiterkeit.

»Meine liebe Gratia«, wendete sich Charitas an ihre Schwester, »wer kann das nur sein? Seltsam, nicht? Ich möchte mich am liebsten verleugnen lassen. Weißt du, es ist gar so sonderbar!«

Gratia witterte augenblicklich hinter diesen Worten eine versteckte Selbstüberhebung oder die Absicht – da sie selbst soviel Furore bei den Herren Handelsbeflissenen gemacht –, ihre Schwester wolle sich an ihr rächen, und versetzte daher liebreich und feinfühlig, es sei ohne Zweifel »sehr sonderbar« und durchaus unbegreiflich, was der lächerliche Unbekannte mit seinem Besuch wollen könne.

»Unbegreiflich! Natürlich!« schrillte Charitas. »Um so unbegreiflicher, daß du dich darüber so ärgerst, mein Herz!«

»Ich mich ärgern?« spöttelte Gratia und fing an, eine Arie zu trällern.

»Ich fürchte, sie haben dir den Kopf verdreht, du einfältiges Ding«, sagte Charitas.

»Weißt du, liebste Schwester«, gestand Gratia mit entzückender Offenherzigkeit, »daß ich das selbst schon lang gefürchtet habe? Soviel Hofmachen und Schmeichelei, soviel Weihrauch und Vergötterung könnte wahrhaftig einen stärkern Kopf als den meinigen verdrehen. Welch ein Trost muß es für dich sein, meine Liebe, es in dieser Hinsicht so gut zu haben und nicht von diesem abgeschmackten Männervolk gequält zu werden. Wie fängst du es nur an, Cherry?«

Diese arglose Frage würde zweifelsohne zu den stürmischsten Resultaten geführt haben, hätte nicht Mr. Bailey, außer sich vor Entzücken über die Wendung, die das Gespräch zu nehmen drohte, sich angeschickt, einen ekstatischen Freudentanz aufzuführen, um seinem Ergötzen Ausdruck zu verleihen, und die beiden Schwestern dadurch veranlaßt, getreu ihrer guten Erziehung den Schein zu wahren. Sie vertrugen sich daher schnell wieder und bedeuteten Mr. Bailey einmütig, sie würden, wenn er nicht sofort aufhöre, Mrs. Todgers von seinem Betragen in Kenntnis setzen und eine gebührende Züchtigung für ihn beantragen. Der Jüngling drückte daraufhin sofort die Bitterkeit seiner Zerknirschung dadurch aus, daß er tat, als wische er sich den heißen Tränenstrom mit der Schürze ab und winde sie dann angestrengt aus, öffnete aber gleich darauf, um sein Vergehen wiedergutzumachen, Miss Charitas die Türe, so daß sie prunkvoll abziehen und die Treppe hinaufgehen konnte, ihren geheimnisvollen Anbeter zu empfangen.

Infolge eines sonderbaren Zusammenwirkens günstiger Umstände hatte dieser inzwischen das Gesellschaftszimmer glücklich aufgefunden und war jetzt der einzige Insasse desselben.

»Ah, Cousine!« begann er. »Da bin ich, wie Sie sehen. Ich möchte wetten, Sie haben geglaubt, ich sei verlorengegangen. Na, wie ist’s Ihnen denn in der Zwischenzeit ergangen?«

Miss Charitas erwiderte, sie befände sich vollkommen wohl, und reichte Jonas Chuzzlewit die Hand.

»Das ist recht«, sagte Mr. Jonas, »und haben Sie sich von den Reisestrapazen gut erholt? – Na, und was macht denn ›die andere‹?«

»Ich glaube, meine Schwester ist ebenfalls ganz wohl, wenigstens hat sie sich nicht über Unwohlsein beklagt, Sir. Aber vielleicht wollen Sie sie sehen und selbst fragen?«

»Nein, nein, Cousine!« lehnte Mr. Jonas ab und ließ sich neben der jungen Dame am Fenstersitz nieder. »Es eilt gar nicht. Gar kein Grund jetzt. Was Sie doch für ein grausames Mädel sind!«

»Sie wissen auch viel, ob ich’s bin oder nicht«, erwiderte Cherry.

»Hm, wohl möglich«, gab Mr. Jonas zu. »Aber sagen Sie, haben Sie nicht geglaubt, ich sei verlorengegangen? Sie haben mir das noch gar nicht beantwortet.«

»Ich habe überhaupt gar nicht darüber nachgedacht«, antwortete Cherry. »Wirklich nicht? Hm, merkwürdig! Na, vielleicht hat’s die andere getan?«

»Ich kann wahrhaftig nicht sagen, was meine Schwester gedacht oder nicht gedacht hat«, erwiderte Cherry »Sie hat mit mir kein Wort darüber gesprochen.«

»Hat sie auch nicht darüber gelacht?«

»Nein, nicht einmal das.«

»Lachen kann sie fürchterlich – was?« fragte Jonas und dämpfte vertraulich seine Stimme.

»Sie ist sehr lebhaft«, gab Cherry zu.

»Lebhaftigkeit ist ganz hübsch, wenn sie nur nicht zum Geldausgeben führt. – Meinen Sie nicht auch?«

»Allerdings«, entgegnete Cherry mit einer Gesetztheit, die ihrer Antwort einen ungemein uneigennützigen Anstrich verlieh.

»So eine Lebhaftigkeit, meine ich, wie die Ihrige«, bemerkte Mr. Jonas und stieß seine Cousine mit dem Ellenbogen an. »Ich hätte Sie schon früher besucht, wußte aber nicht, wo Sie wohnen. – Wie schnell Sie sich an jenem Morgen auf und davon gemacht haben!«

»Ich befolgte nur die Weisungen meines Papas.«

»Ich wollte, er hätte mir seine Adresse gegeben«, brummte Jonas, »dann hätte ich Sie früher ausfindig gemacht. Es wär‘ mir sogar jetzt unmöglich gewesen, wenn ich ihn nicht diesen Morgen unterwegs getroffen hätte. – Was er für ein aalglatter, schlauer Kunde ist, ganz wie ein Kater – hab ich nicht recht?«

»Möchten Sie nicht gefälligst ein wenig achtungsvoller von meinem Vater sprechen, Mr. Jonas«, erwiderte Charitas. »Ich kann einen solchen Ton nicht dulden – nicht einmal im Scherz.«

»Ah bah! Sie können von meinem Vater ja auch sagen, was Sie wollen; ich gebe Ihnen volle Erlaubnis dazu«, entgegnete Jonas. »Ich glaube, es ist bloß der Wunsch, einem im Wege zu sein, der ihn am Leben erhält, und nicht der Blutkreislauf. – Für wie alt halten Sie übrigens meinen Vater, Cousine?«

»Er ist sicher hochbetagt«, schätzte Miss Charitas; »aber dabei ein schöner alter Gentleman.«

»Ein schöner alter Gentleman!« höhnte Jonas und schlug ärgerlich auf den Deckel seines Hutes. »Hm. Na! Ich dächte, es wäre schon höchste Zeit, daß er – – –. Achtzig Jahre ist er jetzt glücklich!«

»Wirklich?«

»Und Schockschwerenot, hat er’s schon so weit gebracht, ohne abzukratzen, möchte ich wissen, was ihn hindern sollte, neunzig oder gar hundert zu werden. Ein Mensch mit nur ein bißchen Gefühl im Leib sollte sich schämen, achtzig Jahre alt zu werden – von mehr gar nicht zu reden. Möchte gern wissen, wo da die Religion bleibt, wenn einer dermaßen die Bibel zuschanden macht. Siebzig Jahr, wenn’s hoch kommt, sagt die Bibel, dauert das Leben, und kein Mensch, der einigermaßen Gewissen und Gefühl für das besitzt, was von ihm erwartet wird, hat nach dieser Zeit noch etwas auf der Welt zu schaffen –.

Aber genug jetzt von dem Alten. Wozu sich da auch noch giften. – Ich bin gekommen, um Sie zu einem Spaziergang abzuholen, Cousine, damit Sie ein paar der Sehenswürdigkeiten in Augenschein nehmen können. Dann kommen Sie mit mir in unser Haus und nehmen einen kleinen Imbiß ein. Pecksniff wird, wie er sagt, gegen Abend wahrscheinlich auch vorsprechen und Sie nach Hause bringen. Wenn Sie mir übrigens nicht glauben wollen, kann ich’s Ihnen ja schriftlich beweisen; ich ließ mir dies da von ihm geben, weil er mir sagte, er habe noch ein paar Besorgungen zu machen. Gelt, es geht halt nichts über schwarz auf weiß. Ha, ha! – Übrigens, vergessen Sie nicht, auch ›die andere‹ mitzubringen!«

Miss Charitas warf einen Blick auf das Autogramm ihres Vaters, das bloß die Worte enthielt. »Geht mit eurem Vetter, Kinder. Laßt womöglich Einigkeit unter uns walten«, zierte sich noch eine Weile, um ihrer Einwilligung den gebührenden Wert zu verleihen, und entfernte sich dann, um sich mit ihrer Schwester für den Ausflug anzuziehen. Bald darauf kehrte sie wieder zurück, von Miss Gratia begleitet, der es durchaus nicht behagte, den Schauplatz ihrer Triumphe in Todgers‘ Etablissement der Gesellschaft Mr. Jonas‘ und seines achtbaren Vaters wegen zu verlassen.

»Aha!« rief Jonas. »Aha, da sind Sie ja – was?«

»Ja, Sie Ekel« versetzte Gratia, »da bin ich. – Ich kann Ihnen aber versichern, daß ich weit lieber anderswo wäre.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst?« rief Mr. Jonas. »Mir werden Sie nicht einreden, daß das wirklich Ihr Ernst ist.«

»Denken Sie sich, was Sie wollen, Sie Ekel«, erwiderte Gratia. »Ich bleibe bei meiner Ansicht, und die ist, daß Sie ein unangenehmer, abscheulicher, widerwärtiger Mensch sind.«

Dabei lachte sie herzlich und schien überhaupt äußerst vergnügt zu sein.

»Na, Sie sind mir die richtige!« sagte Mr. Jonas. »Nicht wahr, sie ist ein Lausmädel – was, Cousine?«

Miss Charitas erwiderte, sie sei wirklich außerstande, zu sagen, worin die Hauptmerkmale eines »Lausmädels« bestünden, und wenn sie auch in dieser Hinsicht informiert wäre, so könne sie doch unmöglich einräumen, daß ein Geschöpf mit so unzeremoniösem Namen in ihrer Familie existiere – am allerwenigsten in der Person einer geliebten Schwester, »welcher Art«, setzte sie mit einem giftigen Blick hinzu, »welcher Art deren wahrer Charakter auch sein möge.«

»Alles recht schön, mein Schatz«, sagte Gratia, »aber ich erkläre, wenn wir nicht bald ausgehen, nehme ich meinen Hut wieder ab und bleibe zu Hause.«

Diese Drohung erreichte den gewünschten Zweck, weitere Sticheleien zu verhindern; der Vorschlag Mr. Jonas‘, die Debatte zu vertagen, wurde angenommen, und alle drei verließen einmütig das Haus. An der Haustüre reichte Mr. Jonas jeder der jungen Damen einen Arm, und »Old Bailey«, der ihnen von dem Dachfenster aus zusah, begrüßte diesen Akt von Galanterie mit einem lauten und heftigen Hustenanfall, der erst ein Ende nahm, als sie um die Ecke bogen.

Mr. Jonas leitete die Unterhaltung mit der Frage ein, ob die Damen auch gute Fußgängerinnen seien, und als sie bejahten, stellte er ihre pedestrischen Fähigkeiten auf die denkbar härteste Probe; das heißt, er zeigte ihnen an einem einzigen Vormittag mehr Sehenswürdigkeiten in Gestalt von Brücken, Straßen, Theaterfronten und anderen wohlfeilen Merkwürdigkeiten, als ein Durchschnittsmensch in zwölf Monaten vertragen hätte. Geradezu auffallend war sein unüberwindlicher Widerwillen gegen das Innere von Gebäuden, deren Besichtigung mit Entree verbunden war und die er offenbar genau kannte; wenigstens erklärte er sie durchwegs für abscheulich und gräßlich langweilig. Seine Überzeugung in dieser Hinsicht wurzelte so tief, daß er sich vor Lachen gar nicht fassen konnte, und als Miss Charitas zufälligerweise erwähnte, sie seien zwei- oder dreimal mit Mr. Jinkins und der Gesellschaft von Todgers – natürlich auf deren Kosten – im Theater gewesen, die Herren für ganz unglaubliche Einfaltspinsel erklärte.

Nachdem sie etliche Stunden umhergeschlendert und völlig erschöpft waren – es begann bereits zu dämmern –, meinte Mr. Jonas, er wolle den Damen jetzt einen der besten Späße vormachen, die ihm bekannt seien. Dieser Witz war ungemein praktischer Art und bestand darin, daß er eine Droschke nach dem »entlegensten Punkte mietete, der sich für einen Schilling erreichen läßt.« Glücklicherweise erreichten sie so den Ort, wo Mr. Jonas wohnte, sonst wäre der Spaß daneben gelungen.

Die alte, seit Jahrzehnten existierende Firma Anthony Chuzzlewit & Sohn, Manchesterwaren und so weiter, hatte ihr Geschäftslokal in einer engen Straße hinter dem Postamt, wo jedes Gebäude selbst an den schönsten Sommermorgen in tiefstem Dunkel liegt, – wo in den Hundstagen die Hausmeister auf das Pflaster vor den Wohnungen ihrer Chefs phantastische Ornamente gießen und man bei warmem Wetter in den Torwegen geschniegelte Gentlemen müßig umherstehen sehen kann, die Hände in den Taschen ihrer symmetrischen Hosenbeine und in den Anblick ihrer Stiefel versunken – augenscheinlich ihr schwerstes Tagewerk –, vielleicht davon abgesehen, daß sie hin und wieder Federn hinter den Ohren tragen.

Es war ein düsteres, schmutziges, verrußtes, baufälliges, altes Haus, aber das hinderte weder Mr. Chuzzlewit noch seinen Sohn, hier nicht nur ihren Geschäften, sondern auch ihren Vergnügungen obzuliegen. Weder der junge noch der alte Herr hatten jemals anderswo gewohnt oder sich um etwas gekümmert, das über ihre engen Grenzen hinausging.

Das Geschäft war, wie man sich leicht denken kann, hier die Hauptsache, und zwar in solchem Maße, daß jeglicher Komfort in den Hintergrund trat und man sogar bei den häuslichen Einrichtungen auf Schritt und Tritt auf Bureaugegenstände stieß. So hingen zum Beispiel in den armseligen Schlafkammern Bündel verstaubter alter Briefe an den Wänden; unbrauchbar gewordene Stoffmuster und Überbleibsel von verdorbenen Waren lagen umher, und die schmalen Bettgestelle, die Waschtische und Teppichfetzen waren als Gegenstände untergeordneter Bedeutung und notwendige Übel des Privatlebens kunterbunt in den Ecken zusammengedrängt. Das einzige Wohnzimmer bildete, dem gleichen Grundsatze gemäß, ein Chaos von Kisten, Truhen und alten Papieren und war weit reichlicher mit Kontorböcken als mit Sesseln ausgestattet – gar nicht zu gedenken eines Ungeheuers von Schreibpult, das bis über die Mitte der Stube hinreichte, und einer über dem Kamin in die Wand eingelassenen eisernen Geldkasse. Der vereinsamte kleine Tisch, der zum Speisen und geselligen Beisammensein bestimmt war, verhielt sich hinsichtlich seines Ausmaßes zu den Pulten und anderen Geschäftsrequisiten ungefähr ebenso wie Anmut und Heiterkeit in der Lebensführung des alten Mannes und seines Sohnes zu dem Ringen und Jagen nach Reichtum, dem sie von jeher obgelegen.

Im gegenwärtigen Augenblick war er notdürftig für ein Dinner gedeckt, und in einem Stuhl vor dem Kaminfeuer saß Anthony selbst, stand aber auf, als der Damenbesuch eintrat, um seinen Sohn und die schönen Schwestern zu bewillkommnen.

»Nun, Gespenst«, begrüßte Mr. Jonas seinen Vater mit dem Kosenamen, den er ihm in solchen Fällen beizulegen pflegte; »ist das Essen bald fertig?«

»Ich dächte, ja«, versetzte der alte Mann.

»Was heißt das: ich dächte? – Wissen möcht ich’s«, knurrte Jonas ärgerlich.

»Na, gewiß weiß ich’s selber auch nicht«, entschuldigte sich der Patriarch.

»Das glaube ich dir aufs Wort«, brummte Jonas. »Du, und einmal etwas genau wissen! – Gib mir lieber die Kerze her; ich brauche sie für die Mädels.«

Anthony reichte ihm einen verbeulten alten Kontorleuchter, und Mr. Jonas geleitete die jungen Damen in die anstoßende Schlafkammer, wo sie ihre Schals und Hüte ablegen konnten. Dann beschäftigte er sich damit, eine Weinflasche zu entkorken und das Tranchiermesser zu wetzen, und machte seinem Vater halblaut Komplimente, bis die Schwestern zurückkamen und das Essen aufgetragen wurde. Das Dinner bestand aus einer gebratenen Hammelkeule mit Gemüse und Kartoffeln und wurde von einem alten Weib in Schlappschuhen serviert oder vielmehr ohne weitere Umstände auf den Tisch gestellt.

»Sie sehen, Cousine – Junggesellenwirtschaft!« bemerkte Mr. Jonas zu Charitas. »Da wird’s wieder was zu lachen geben für ›die andere‹, wenn sie nach Hause kommt – meinen Sie nicht? Da – Sie setzen sich rechts neben mich, und sie kann links neben mir Platz nehmen. Na, ›Andere‹, haben Sie keine Lust?«

»Sie sind eine so widerwärtige Vogelscheuche«, versetzte Gratia, »daß mir der Appetit vergehen wird, wenn ich neben Ihnen sitze. Aber, es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben.«

»Na, ist die vielleicht nicht lebhaft – was?« flüsterte Mr. Jonas mit seiner beliebten Ellenbogenemphase der älteren Schwester zu.

»Ich bitte, lassen Sie mich doch schon in Ruhe«, versetzte Miss Charitas gereizt. »Ich habe wirklich diese albernen Fragen nachgerade satt.«

»Hallo, was treibt denn mein wertgeschätzter greiser Vater schon wieder?« rief Mr. Jonas, als er bemerkte, daß der alte Herr, statt seinen Platz am Tisch einzunehmen, im Zimmer auf und nieder ging. »Was suchst du denn?«

»Ich habe meine Brille verlegt, Jonas«, antwortete der alte Anthony.

»Na, setz dich halt ohne Brille nieder. Ich glaube, zum Essen und Trinken wirst du sie wohl nicht nötig haben. – Wo bleibt übrigens die Schlafmütze, der alte Chuffey? – Na, Dummkopf! Können Sie sich vielleicht nicht mehr an Ihren Namen erinnern, – was?«

Fast hatte es den Anschein, als ob das wirklich der Fall sei; wenigstens kam Mr. Chuffey erst, als Mr. Chuzzlewit senior ihn wiederholt laut gerufen, aus dem kleinen Kontor, das von dem Speisezimmer durch einen Bretterverschlag getrennt war, hervor. Er war ein altes triefäugiges, schmalwangiges Männchen, altmodisch, in einen abgenutzten schwarzen Anzug, der an Verstaubtheit mit dem Hausgerät wetteiferte, gekleidet. Seine kurzen Kniehosen waren mit zerschlissenen Bänderbüscheln geschmückt und die Schuhe mit Armeleuteriemen zugeschnürt, während der untere Teil seiner Spindelbeine in schmutzigen, schwarzwollenen Strümpfen stak. Er sah aus, als hätte man ihn vor einem halben Jahrhundert in einer Rumpelkammer vergessen und soeben erst wieder aufgefunden.

Er kam jetzt langsam auf den Tisch zugeschlichen und ließ sich endlich unentschlossen auf einen Stuhl nieder. Als ihn seine trüben Sinne die Anwesenheit von Fremden und zumal von fremden Damen erkennen ließen, erhob er sich wieder, augenscheinlich in der Absicht, eine Verbeugung zu machen, setzte sich dann aber, ohne sie gemacht zu haben, hauchte in seine welken Hände und verblieb mit seiner armen blauen Nase unbeweglich über den Teller gebeugt, mit seinen blöden Augen ausdruckslos vor sich hinstarrend.

»Unser Buchhalter«, stellte ihn Mr. Jonas als Wirt und Zeremonienmeister vor, »der alte Chuffey.«

»Ist er taub?« fragte eine der jungen Damen.

»Nicht daß ich wüßte. – Vater, ist er eigentlich taub oder nicht?«

»Er hat mir nie gesagt, daß er’s sei«, versetzte der alte Mann.

»Oder blind?« fragten die Mädchen.

»Hm. Auch nicht. Wüßte nicht, daß er blind wäre. Was meinst du, Vater?«

»Gewiß nicht«, versicherte Anthony.

»Ich will Ihnen sagen, was er ist«, wendete sich Jonas vertraulich zu den jungen Damen, »erstens einmal ist er schauderhaft alt, und das mißfällt mir ganz besonders an ihm, denn ich glaube, mein Vater hat sich an seiner Langlebigkeit angesteckt. – Und zweitens ist er ein kurioser alter Kauz«, setzte er laut hinzu, »der keinen anderen Menschen versteht als ihn!«

Dabei deutete er mit der Tranchiergabel auf seinen ehrenwerten Erzeuger, um keinen Irrtum aufkommen zu lassen, wen er meinte.

»Oh, wie sonderbar!« riefen die Schwestern. »Na ja, wissen Sie«, erklärte Jonas, »er hat sein ganzes Leben lang sein altes Gehirn mit Ziffern und Buchhalterei unfruchtbar gemacht. Vor etlichen zwanzig Jahren bekam er’s Fieber und phantasierte drei Wochen lang. Dabei rechnete und rechnete er bis in die Millionen hinein. Ich glaube, er ist heute noch nicht damit zurechtgekommen. Doch unser Geschäft hat gegenwärtig keinen sonderlichen Umfang, und er ist kein übler Buchhalter.«

»Sogar ein sehr guter«, bemerkte Anthony

»Na, keinesfalls ein teurer. Er verdient sein Salz und Brot, und das genügt schließlich. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß er kaum jemand anderen versteht als meinen Vater; den versteht er aber auch immer, und dann spitzt er die Ohren. Er ist eben schon lange an ihn gewöhnt. Ich habe ihn sogar schon einmal mit meinem Vater Whist spielen und einen ganz guten Rubber machen sehen, obschon er damals so wenig wußte, gegen wen er spielte, wie Sie.«

»Hat er denn keinen Appetit?« fragte Gratia.

»Hm, ja. Wahrscheinlich«, antwortete Jonas und handhabte selbst Messer und Gabel sehr emsig. »Er ißt schon – nur muß man ihm zureden. Solang der Vater da ist, macht er sich nichts draus, eine Minute oder auch eine Stunde zu warten. Wenn ich mal scharf im Zuge bin, wie es heute der Fall ist, stupse ich ihn immer erst, bis ich selbst meinen eigenen Heißhunger ein bißchen gestillt habe. – Na, Chuffey Dussel, – was ist’s mit dem Essen?«

Chuffey blieb unbeweglich.

»Immer der verdrehte alte Spitzbube«, brummte Mr. Jonas und verhalf sich kaltblütig zu einem neuen Stück Braten. »Frag du ihn, Vater!«

»Ob Sie nicht essen wollen? – Sind Sie bereit, Chuffey?« fragte der alte Mann.

»Ja, ja«, antwortete Chuffey, beim ersten Klang dieser Stimme aus seinem Versunkensein erwachend. »Ja, ja. Ganz bereit, Mr. Chuzzlewit. Ganz bereit, Sir, ganz bereit.«

Dann hielt er lächelnd inne und harrte auf eine weitere Ansprache. Als diese nicht erfolgte, nahm sein Gesicht allmählich wieder den früheren nichtssagenden Ausdruck an. »Geben Sie acht, gleich wird er ungemein appetitlich werden«, bemerkte Jonas zu den jungen Damen und reichte die Portion des alten Mannes seinem Vater hinüber. »Er erstickt nämlich immer beinah, wenn’s nicht grad Fleischbrühe ist. Schauen Sie ihn nur an! Haben Sie je einen Droschkengaul mit so gläsernen Augen gesehen, wie ihn? War’s nicht so ein Mordsspaß mit ihm, hätte ich ihn heute nicht zu Tisch kommen lassen; aber ich hab mir gedacht, es wird Sie unterhalten.«

Glücklicherweise vernahm der bedauernswerte Greis von diesen menschenfreundlichen Reden ebensowenig wie überhaupt von all dem, was in seiner Gegenwart gesprochen wurde; da jedoch die Hammelkeule zäh und sein Zahnfleisch weich war, so bewahrheitete sich alsbald die Voraussage hinsichtlich seiner Neigung zum Ersticken, und sein junger Prinzipal hatte vollauf Gelegenheit, zu versichern, das sei das Ergötzlichste, was er in seinem Leben gesehen, und er werde vor Lachen noch platzen. Ja, er ging sogar so weit, den Schwestern zu versichern, Chuffey überböte in dieser Hinsicht sogar noch seinen Vater, was doch, wie er bedeutungsvoll hinzufügte, wirklich ein starkes Stück sei.

Sonderbar genug war es, daß ein so alter Mann wie Anthony Chuzzlewit Wohlgefallen an den Spottreden finden konnte, in denen sich sein vortrefflicher Sohn auf Unkosten des armen Schattens von einem Menschen erging, aber es war nichtsdestoweniger der Fall, wenn auch weniger aus Rücksichtslosigkeit für den greisen Buchhalter als vielmehr aus Freude über die Witzigkeit seines Sprößlings. Nur aus diesem Grunde rieb er sich auch immer entzückt die Hände bei den rohen Anspielungen des jungen Mannes auf ihn selbst und kicherte verstohlen, als wollte er sagen: ich bin doch sein Lehrer! Ich habe ihn herangebildet. Er ist mein Erbe – schlau, listig und habsüchtig. Er wird mein Geld sicherlich nicht verschleudern. Dafür habe ich mich geplagt. Das ist das große Ziel und der Zweck meines Lebens gewesen.

Chuffey trödelte so lange beim Essen, daß Mr. Jonas endlich die Geduld verlor, ihm den Teller wegriß und seinen Vater ersuchte, dem verehrungswürdigen Greis zu bedeuten, er möge gefälligst an »seinem Brot weitermümmeln« – was dieser auch unverzüglich ausrichtete. »Ja, ja!« rief der alte Buchhalter, und sein Gesicht hellte sich auf, als die bekannte Stimme sein Ohr traf; »schon recht – schon recht. Er ist Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit! – Ein gerissener junger Herr – aber Gottes Segen über ihn, Gottes Segen über ihn!«

Mr. Jonas kam dies – und vielleicht nicht mit Unrecht – so absonderlich kindisch vor, daß er sich vor Lachen nur so schüttelte und zu seiner Cousine sagte, er fürchte, Chuffey werde eines schönen Tages noch sein Tod sein. Dann wurde das Tischtuch entfernt und eine Flasche Wein gebracht. Mr. Jonas füllte den jungen Damen die Gläser und forderte sie auf, sich nur ordentlich dazuzuhalten; sie dürften versichert sein, im Keller befänden sich noch eine ganze Menge Flaschen. Natürlich, fügte er gleich darauf hastig hinzu, mache er nur Spaß.

»Also, auf Pecksniffs Gesundheit!« rief Anthony. »Ihr Vater soll leben, meine Lieben! Ein gescheiter Mann, der Pecksniff. Ein schlauer Mann! – Aber doch ein Heuchler, was? Ein Heuchler – sagt selber, Mädels! – Was? Ha, ha, ha! Ja, das ist er – unter Freunden gesprochen – das ist er. Ich denke deshalb nicht schlechter von ihm. Wenn er’s nur nicht so übertriebe. Man kann alles übertreiben, meine Lieben – sogar die Heuchelei. Fragt nur Jonas!«

»Nur die Sorge ums eigene Wohl kann man nicht übertreiben«, bemerkte der hoffnungsvolle junge Mann mit vollem Munde.

»Hört ihr’s, Kinder?« rief Anthony entzückt. »Das nenne ich Weisheit! Wirklich ein Vorbild, der Jonas! Ganz recht, darin kann man nicht leicht übertreiben.«

»Ausgenommen«, flüsterte Mr. Jonas Miss Charitas zu, »ausgenommen, wenn einer zu lange lebt. – Ha, ha! – Sagen Sie’s auch der ›andern‹!«

»Aber du lieber Himmel«, rief Cherry verdrießlich. »Warum sagen Sie’s ihr denn nicht selbst?«

»Sie macht sich immer so gern lustig über einen«, meinte Mr. Jonas.

»Also, warum kümmern Sie sich dann immer um sie! Sehen Sie denn nicht, daß Sie sich nichts aus Ihnen macht? Muß man Ihnen das wirklich erst sagen?« Mr. Jonas erwiderte weiter kein Wort, blickte aber Gratia mit einer so ausdrucksvollen Miene an, daß man deutlich darin lesen konnte: »Verlaß dich drauf, das Herz wird mir deshalb nicht brechen«; dann liebäugelte er mit Charitas noch zärtlicher als zuvor und bat sie in seiner ritterlichen Weise, doch ein wenig näher zu rücken.

»Es gibt übrigens noch etwas, das sich gleichfalls nicht so leicht übertreiben läßt, Vater«, bemerkte er nach einer kurzen Pause.

»Und das wäre?« fragte Anthony Chuzzlewit, schon im voraus grinsend.

»Das Profitmachen! – Ehrlich währt am längsten,– – bevor man’s zu was bringt. Das ist die erste Regel für den Geschäftsmann – alles andre ist dummes Zeug.«

Entzückt applaudierte der alte Herr, daß es nur so widerhallte, und war derart von der Sentenz seines Sohnes erbaut, daß er sich sogar der Mühe unterzog, sie Chuffey mitzuteilen, der sich darob in all den matten Freudenäußerungen erging, deren er fähig war, das heißt sich die Hände rieb, mit dem Kopfe wackelte, mit seinen wässerigen Augen blinzelte und in pfeifenden Tönen rief: »Gut! Gut! – Ganz Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit!« Es lag etwas Versöhnendes in dem Enthusiasmus des armen Greises; eine gewisse Sympathie mit dem einzigen Menschen, an den er durch das Band eines jahrelangen Verkehrs und seine jetzige Hilflosigkeit gefesselt war. Und hätte sich jemand die Mühe genommen, ihn zu beobachten, so würde er vielleicht darin die trübseligen Spuren einer einst gutgearteten Natur in diesem bis auf den Grund ausgelaugten Geschöpfe entdeckt haben.

Hier natürlich schenkte niemand diesem Umstand irgendwelche Aufmerksamkeit, und so zog sich Chuffey in einen dunklen Winkel neben dem Kamin zurück, wo er stets seine Abende zuzubringen pflegte, und ließ weiter nichts mehr von sich sehen oder hören – ein einziges Mal vielleicht ausgenommen, als man ihm eine Tasse Tee reichte, in die er dann mechanisch sein Brot eintunkte. Es war kein Grund zur Annahme vorhanden, daß er zu solchen Zeiten schlief, ebensowenig aber auch, daß er irgend etwas hörte, sah, fühlte oder dachte; er war sozusagen eingefroren – wenn sich überhaupt ein Ausdruck, der einen so ausgeprägt kräftigen Prozeß bezeichnet, auf seinen Zustand anwenden läßt –, bis er wieder für einen Augenblick infolge eines Wortes oder einer Berührung von Seiten Anthonys auftaute.

Miss Charitas bereitete auf Mr. Jonas‘ Bitte den Tee und kam sich dabei so ganz als junge Hausfrau vor, daß sie in die allerlieblichste Verwirrung geriet, um so mehr, als ihr Vetter dicht neben ihr saß und Ihr allerhand berauschende Worte ins Ohr flüsterte. Miss Gratia ihrerseits fühlte so deutlich, der Abend gehöre ausschließlich dem Pärchen an, daß sie über einer gestrigen Zeitung gähnte, in Gedanken ganz bei den Herren Handelsbeflissenen, die in diesem Augenblick ohne Zweifel nach ihrer Rückkehr schmachteten. Da überdies Anthony sich rücksichtslos dem Schlafe hingab, hatten Jonas und Cherry völlig freies Spiel, solange es ihnen beliebte.

Als das Teeservice abgeräumt worden war, brachte der liebenswürdige junge Mann ein schmutziges Kartenspiel zum Vorschein und unterhielt die beiden Schwestern mit allerhand kleinen Kunststücken, die immer darauf hinausliefen, eine von beiden zu einer Wette zu verlocken, daß das oder jenes unmöglich sei, dann mit Sicherheit zu gewinnen und das Geld einzustreichen. Dabei versicherte Mr. Jonas unablässig, diese Kunstfertigkeiten seien jetzt in den gebildetsten Zirkeln äußerst beliebt und große Summen flössen auf solche Art von einer Hand in die andere. Im Grunde seines Herzens glaubte er das auch, denn es gibt bekanntlich ebensogut eine Borniertheit der List wie eine Einfalt der Unschuld, und in allen Fällen, wo Spitzbüberei oder Niedertracht die Grundlage eines Glaubensbekenntnisses bildeten, war Jonas einer der Gläubigsten. Überdies kannte seine wirklich ungeheuerliche Unwissenheit keine Grenzen.

Zum Taugenichts vom reinsten Wasser fehlte ihm eigentlich nur eine Eigenschaft – nämlich die einzig gute: die Freigebigkeit. Aber da standen ihm immer seine Habsucht und sein Geiz im Wege, und wie ein Gift bisweilen das andere neutralisiert, wenn sonstige Gegenmittel nichts nützen, so wurde eine böse Leidenschaft für ihn der Hemmschuh, sich ganz und gar dem Laster hinzugeben, wo die Tugend in eigener Person vergeblich versucht haben würde, ihn zurückzuhalten.

Mittlerweile war es bereits ziemlich spät geworden, und da Mr. Pecksniff immer noch nicht erschien, äußerten die jungen Damen den Wunsch, nach Hause zu gehen. Allein das wollte Mr. Jonas in seiner Galanterie durchaus nicht zugeben, bis sie nicht noch etwas Brot, Käse und Porter genossen hätten, und selbst dann suchte er sie immer noch aufzuhalten, indem er Miss Charitas immer wieder aufforderte, doch »ein bißchen näher zu rücken« oder noch ein Weilchen zu bleiben, und allerhand andere schmeichelhafte Bitten in seiner gastfreundlichen und charmanten Art vorbrachte. Erst als alle seine Bemühungen fruchtlos blieben, nahm er seinen Hut und zog seinen Überrock an, um sie zu Todgers zu begleiten, mit dem Bemerken, er wisse wohl, daß sie lieber gingen als führen, und er sei in diesem Punkte auch ganz ihrer Meinung.

»Gute Nacht«, sagte Anthony. »Gute Nacht! Und meine Empfehlung – ha, ha, ha! – meine Empfehlung an Pecksniff. Nehmt euch vor eurem Vetter in acht, meine Lieben. Er ist ein gefährlicher Junge. Vor allen Dingen, fahrt euch seinetwegen nicht in die Haare!«

»Ach herrje. Wegen dieser Vogelscheuche!« rief Gratia. »Schon der Gedanke, sich seinetwillen zu zanken! Bitte, behalte ihn nur ruhig für dich, liebste Cherry. Ich schenke dir von Herzen gern meinen Anteil an ihm.«

»Aha, ich bin also eine saure Traube – was, Cousine?« entgegnete Jonas.

Miss Charitas war über diesen schlagfertigen Witz mehr ergötzt, als man bei seiner Abgedroschenheit hätte voraussetzen dürfen, aber aus reiner schwesterlicher Liebe nahm sie Mr. Jonas tüchtig dafür ins Gebet und erklärte ihm, er dürfe unter keinen Umständen mehr so grausam gegen die arme Gratia sein, sonst sähe sie sich tatsächlich genötigt, ihm ihr Wohlwollen zu entziehen. Gratia ließ sich jedoch nicht aus der Fassung bringen und lachte nur laut auf, und dann traten alle drei einmütig ihren Weg an. Jonas führte an jedem Arm eine Cousine und drückte von Zeit zu Zeit heimlich Gratia, und zwar so fest, daß sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Da er jedoch stets nur mit Charitas flüsterte und ihr gegenüber die größte Aufmerksamkeit an den Tag legte, war das offenbar nur eine Verwechslung seinerseits. Als sie endlich bei Todgers anlangten und die Türe geöffnet wurde, riß sich Gratia hastig los und eilte die Treppe hinauf. Charitas und Jonas aber blieben noch ein paar Minuten unten stehen und plauderten miteinander; kurz, es war klar, wie die Sachen standen – wie Mrs. Todgers am nächsten Morgen zu einer Freundin bemerkte, und sie freue sich darüber, setzte sie hinzu, denn es sei wahrhaftig höchste Zeit, daß Miss Pecksniff unter die Haube komme.

Und dann kam der Tag, an dem das glänzende Gestirn, das so plötzlich an Todgers‘ Himmel erschienen war und seinen milden Sonnenglanz in Jinkins‘ düster schattige Brust geworfen hatte, wieder verschwinden, nein, verstaut – wie ein Packpapierpaket, ein Fischkorb, ein Austernfäßchen, ein fetter Gentleman oder sonst ein Stück prosaische Wirklichkeit – in einer Postkutsche und aufs Land hinaus entführt werden sollte.

»Nie, meine teuern Misses Pecksniff«, sagte Mrs. Todgers, als die Damen sich in der letzten Nacht ihres Aufenthalts zur Ruhe begaben, »nie habe ich ein Logierhaus so gebrochenen Herzens gesehen wie das meinige in diesem Augenblick. Ich glaube nicht, daß meine Herren so bald wieder dieselben sein werden wie früher. – Auf Wochen hinaus nicht. – Sie haben viel zu verantworten, Sie beide!«

Bescheiden leugneten die jungen Damen, irgendeinen Einfluß auf diesen unseligen Stand der Dinge genommen zu haben, und drückten ihr tiefstes Bedauern aus.

»Und noch obendrein Ihr frommer Papa!« rief Mrs. Todgers. »Ist das ein Verlust! Meine lieben Misses Pecksniff, Ihr Papa ist ein wahrer Engelsbote des Friedens und der Liebe.«

Etwas ungewiß hinsichtlich der Beschaffenheit der »Liebe«, deren Verkünder ihr Vater gewesen sein sollte, nahmen die jungen Damen dieses Kompliment ziemlich kühl auf.

»Wenn ich nicht so hoch und teuer versprochen hätte, zu schweigen«, änderte Mrs. Todgers rasch das Thema, »so möchte ich Ihnen gar zu gern verraten, warum ich Sie bitten muß, heute nacht die kleine Türe zwischen Ihrem und meinem Zimmer offen zu lassen. Ich glaube, es würde Sie riesig interessieren. Aber ich kann leider nicht, denn ich hab‘ Mr. Jinkins feierlich versprechen müssen, so stumm zu sein wie das Grab.«

»Bitte, liebe Mrs. Todgers, bitte, sagen Sie’s doch«, flehten die beiden jungen Damen.

»Nun also gut, meine lieben süßen Misses Pecksniff«, begann Mrs. Todgers nach längerem innerem Kampfe; »meine lieben Kinder – wenn Sie mir erlauben wollen, Sie am Abend vor unserer Trennung so zu nennen –, Mr. Jinkins und die übrigen Herren haben eine kleine musikalische Überraschung für Sie vorbereitet und beabsichtigen, Ihnen in stiller Nacht auf der Treppe vor der Türe ein Ständchen zu bringen. Ich muß zwar gestehen, daß es mir lieber gewesen wäre«, meinte Mrs. Todgers mit ihrem gewohnten Scharfblick, »man hätte eine frühere Stunde dazu gewählt, denn, wenn Herren lang aufbleiben, trinken sie, und wenn sie trinken, sind sie vielleicht weniger musikalisch als sonst. Aber Sie haben’s nun mal nicht anders haben wollen, und ich weiß, meine teuern Misses Pecksniff, daß Sie sich über einen solchen Beweis von Aufmerksamkeit nur freuen werden.«

Die jungen Damen waren über diese Nachricht anfangs so aufgeregt, daß sie beteuerten, sie könnten nicht an ein Zubettgehen denken, ehe nicht die Serenade vorüber sei; eine halbe Stunde Wartens machte sie jedoch in ihrem Entschluß so wankend, daß sie nicht bloß zu Bett gingen, sondern sogar fest einschliefen. Auch waren sie durchaus nicht übertrieben entzückt, als eine Weile später gewisse süße Klänge die Stille der Nacht unterbrachen und sie aus ihrem Schlummer weckten.

Aber erschütternd war es – sogar sehr erschütternd. Selbst der verwöhnteste Geschmack hätte sich nichts Schauerlicheres wünschen können. Der sangesfreudige Gentleman war der Ober-Pompesfunebresmann, Jinkins der Baß, und die übrigen bedienten sich willkürlich der Töne, die ihnen gerade einfielen. Der »jüngste Gentleman der Gesellschaft« machte seiner Schwermut auf der Flöte Luft. Er blies zwar nicht viel, aber das wirkte nur um so vorteilhafter. Wenn die beiden Misses Pecksniff und Mrs. Todgers an Selbstverbrennung zugrunde gegangen wären und die Serenade hätte ihren Exequien gegolten, nichts würde so tief die Verzweiflung haben ausdrücken können, die in dem Chorgesang »Wir winden dir den Jungfernkranz« lag. Es war ein Requiem, eine Totenklage, ein Stöhnen, ein Geheul, ein Wehruf und ein Lamento – kurz, es umfaßte alles, was es an Tönen Jammervolles und Erschütterndes gibt. Die Flöte des »jüngsten Gentleman der Gesellschaft« blies wild und krampfhaft – die Töne kamen und gingen stoßweise wie der Wind. Für eine Weile verstummte er ganz und gar, aber als Mrs. Todgers und die jungen Damen schon darüber einig waren, er müsse, von seinen Gefühlen überwältigt, sich in Tränen zurückgezogen haben, fing er wieder plötzlich in den höchsten Flageolettönen an, daß es einem förmlich den Atem verschlug. Er war ein erbarmungsloser, unberechenbarer Virtuose. Kaum glaubte man ihn erwischt zu haben, brach er ab, und dachte man, er pausiere ganz und gar, tauchte er mit einer Leistung auf, die einen geradezu verblüffte.

Es kamen mehrere Lieder an die Reihe, vielleicht zwei oder drei zuviel, aber das war, wie Mrs. Todgers sagte, nur eine Übertreibung in gutem Sinne. Doch selbst jetzt – selbst in diesem feierlichen Augenblick, bei dem man hätte glauben sollen, die ergreifenden Töne drängten bis in die tiefsten Tiefen der Seele, konnte Mr. Jinkins den »jüngsten Gentleman der Gesellschaft« nicht ungeschoren lassen. Vor der zweiten Piece bat er ihn inständig – man denke nur, der Ruchlose – erbat er sich’s obendrein als eine besondere Gunst: er möge nicht blasen. Ja, so sagte er wörtlich – nicht blasen! Man konnte den erregten Atem des jüngsten Gentlemans durch das Schlüsselloch bis ins Zimmer hören. Aber er blies nicht. Wie hätte auch eine armselige Flöte die Leidenschaften wiedergeben können, die seine Brust durchtobten! Sogar eine Posaune hätte nicht ausgereicht.

Die Serenade näherte sich ihrem Ende. Um der Huldigung die Krone aufzusetzen, hatte der literarische Gentleman auf die Abreise der Damen ein Gedicht gemacht und es einer alten Melodie angepaßt. Alle wirkten dabei mit, nur der jüngste Gentleman nicht, der aus ebenerwähnten Gründen ein furchtbares Schweigen beobachtete. Das Gedicht rief, klassischen Vorbildern angepaßt, das Orakel des Apollo an, es solle verraten, was wohl aus Todgers werden würde, wenn Charitas und Gratia aus seinen Mauern gewichen seien. Das Orakel gab darauf keine Antwort, die der Rede wert gewesen wäre – ganz nach der Art aller Orakel seit den ältesten Zeiten bis herab auf die unsrige, und die Dichtung ging daher auf den Beweis über, daß England nur deshalb den Beinamen: die glückliche Insel trage, weil die Misses Pecksniff auf ihr wohnten. – Von da bis zur Verhymnung des Meeres war nur ein Schritt, und so schloß das Ganze mit den Versen:

»Heil Pecksniff, dem Edlen! Zu heimischen Zonen
Sanft gleite sein Fahrzeug – die Winde im Bann,
Dieweil ringsum bestaunen voll Stolz die Tritonen
Den Baumeister, Künstler und Mann!«

Nach glücklicher Vorführung dieses herrlichen Phantasiegebildes zogen sich die Herren allmählich in ihre Schlafgemächer zurück, um die Musik noch aus der Entfernung erklingen und endlich ersterben zu lassen. Dann lag wieder tiefe Stille über Todgers‘ Etablissement.

Mr. Bailey behielt sich seine musikalische Huldigung bis zum Morgen vor, und als die jungen Damen vor ihren Koffern knieten und mit Einpacken beschäftigt waren, steckte er den Kopf in die Stube und entzückte sie durch Nachahmung der Stimme eines jungen Hundes in bedrängten Umständen.

»Na, Fräuleins«, sagte er dann, »fahren S‘ jetzt heim? – Schad‘ eigentlich – was?«

»Ja, Bailey, wir fahren nach Hause«, entgegnete Gratia.

»Haben S‘ net Lust, einem von die Herren a Haarlocken zum Andenken dazulassen? – Oder tragen S‘ leicht falsche?«

Die Damen lachten herzlich und versicherten, daß das natürlich nicht der Fall sei.

»Na so ganz natürlich is dös net«, meinte Bailey. »Mrs. Todgers‘ Haar zum Beispiel san falsch – ich hab’s amal am Fensternagel hängen sehen. Und dann geh i auch um d‘ Essenszeit öfter hinter ihr her und zupf dran; aber sie merkt’s net. – Übrigens, Fräuln, i kündig jetzt auf. Ich lasse mir’s net länger mehr gfallen, daß sie mir alle möglichen Schimpfnamen gibt.«

Miss Gratia fragte, welche Pläne er sich denn hinsichtlich seiner Zukunft gemacht habe, und Mr. Bailey erwiderte, er wolle entweder Jockey werden oder in die Armee eintreten.

»In die Armee?« riefen die beiden jungen Damen lachend.

»No, warum denn nöt?« meinte Bailey. »Es gibt Trommler genug im Tower. Dös weiß a jeder. – Is das Vaterland leicht nöt stolz auf sie?«

»Du willst also mit aller Gewalt erschossen werden, wie ich sehe«, bemerkte Gratia.

»No, was wär da weiter?« rief Mr. Bailey. »A feins Leben is ’s halt doch, Fräuln, oder leicht net? Immer noch gscheiter, ’s fliegt oam a Kanonenkugel am Buckl ausi als a Nudelwalker jeden Tag. – Allaweil wirft s‘ mir oan nach, wann die Herren zviel essen. – Als ob i da was dafür kunnt«, setzte Bailey ergrimmt hinzu. »Was kann denn i dafür, wanns alles auffressen!«

»Aber dafür gibt dir gewiß niemand die Schuld«, entgegnete Gratia.

»So, meinen S‘?! – No ja, was verstengan denn Sö davon! Natürli kann mir neamd d‘ Schuld gebn, aber tun teans es doch. – Na; i laß mir dös net länger gfallen, daß i’s immer ausfressen muß, wann die Fleischpreis steigen. – I bleib net mehr länger. – Drum«, fügte Mr. Bailey, von einem Ohr bis zum andern grinsend, hinzu, – »wann S‘ mir leicht was geben wollen, so tun S‘ es lieber gleich jetzt. – Wann S‘ leicht amal wiederkommen, bin i nimmer da. Und, was mein Nachfolger sein wird, so weiß i jetzt schon, daß er’s net verdient.«

Die jungen Damen entsprachen, sowohl für Mr. Pecksniff als auch für sich, diesem weisen Rat und beschenkten aus Rücksicht für ihre Privatfreundschaft Mr. Bailey so freigebig, daß dieser kaum wußte, wie er seine Dankbarkeit zur Genüge an den Tag legen sollte, denn der Umstand, daß er während des Restes des Tages des öftern geheimnisvoll auf seine Tasche klopfte und sonstige geistreiche Anspielungen machte, konnte doch nur als ein unvollkommener Ausdruck dafür angesehen werden. Auch legte er den denkbar größten Diensteifer an den Tag, zerquetschte eine Hutschachtel, beschädigte das Gepäck Mr. Pecksniffs beim Herunterholen aus der Dachkammer so stark wie nur irgend möglich – kurz, bemühte sich nach Kräften, seine Erkenntlichkeit in jeder Hinsicht zu beweisen. Zur Mittagszeit kamen Mr. Pecksniff und Mr. Jinkins Arm in Arm zum Dinner nach Hause, denn letzterer hatte ausdrücklich wegen des feierlichen Anlasses einen halbtägigen Urlaub genommen und damit natürlich einen ungeheuern Vorsprung sowohl über den »jüngsten Gentleman der Gesellschaft« wie nicht minder über die andern Herren gewonnen, deren Zeit – ärgerlich genug – bis abends in Anspruch genommen war.

Mr. Pecksniff ließ eine Flasche Wein springen, und es war eigentlich recht gemütlich, trotz der vielen und langen Lamentationen über die Notwendigkeit der bevorstehenden Trennung. Mitten in ihrer Unterhaltung wurden der alte Anthony und sein Sohn gemeldet – sehr zu Mr. Pecksniffs Überraschung und zum größten Ärger für Mr. Jinkins.

»Komme, Ihnen Adieu zu sagen, wie Sie sehen«, sagte Anthony leise, setzte sich mit Mr. Pecksniff an einen Nebentisch und ließ die andern sich miteinander unterhalten. »Ich sehe nicht ein, weshalb wir Feinde sein sollten. Getrennt sind wir wie die zwei Hälften einer Schere, Pecksniff, aber vereinigt können wir was zuwege bringen. Was meinen Sie?«

»Einmütigkeit, mein werter Herr«, flötete Mr. Pecksniff, »ist immer etwas Herrliches!«

»Na, wie man’s nimmt«, meinte der alte Mann, »es gibt schon gewisse Leute, mit denen ich lieber in Feindschaft als in Eintracht leben würde. Doch Sie wissen ja, wie ich von Ihnen denke.«

Mr. Pecksniff, dem noch immer der »Heuchler« im Magen lag, antwortete nur mit einer krampfhaften Kopfbewegung, die zwischen einer bejahenden Verbeugung und einem verneinenden Schütteln die Mitte hielt.

»Nämlich sehr schmeichelhaft für Sie«, fuhr Anthony fort; »mein Wort, außerordentlich schmeichelhaft. Es war ein unwillkürlicher Tribut – damals –, den ich Ihren Fähigkeiten zollte, wenn auch die Zeit nicht sonderlich günstig für Komplimente war. Übrigens haben wir uns ja inzwischen in der Postkutsche gründlich ausgesprochen und sind jetzt vollkommen miteinander im klaren.«

»O ja, vollkommen!« pflichtete Mr. Pecksniff mit einer Miene bei, die deutlich verriet, wie heroisch er sein Schicksal, so grausam verkannt zu werden, zu tragen wußte. Dann schwiegen beide eine kleine Weile.

Anthony sah nach seinem Sohne hin, der seinen Platz neben Miss Charitas eingenommen hatte, dann auf Mr. Pecksniff, und so mehrere Male hin und her. Zufälligerweise nahmen Mr. Pecksniffs Blicke eine ähnliche Richtung, aber als er es gewahr wurde, schlug er rasch die Augen nieder, um den alten Mann nichts darin lesen zu lassen.

»Jonas ist ein geriebener Junge«, begann Anthony wieder.

»Ja, es scheint so«, gab Mr. Pecksniff offenherzig zu.

»Und vorsichtig.«

»Ich zweifle nicht daran, auch vorsichtig«, versetzte Mr. Pecksniff.

»Schauen Sie ihn nur an«, flüsterte ihm Anthony ins Ohr. »Ich glaube, er macht sich an Ihre Tochter heran.«

»Pst, mein werter Herr«, verwies Mr. Pecksniff, immer noch mit geschlossenen Augen; »junges Volk – junges Volk, ich bitte Sie – und noch obendrein Vetter und Cousine – was ist da weiter dabei!«

»Na, ich glaube, die Verwandtschaft spielt da unserer Erfahrung nach keine besonders große Rolle«, meinte Anthony.

»Glauben Sie nicht, daß da ein bißchen mehr dahinter sein könnte?«

»Kann man unmöglich mit Bestimmtheit sagen«, versetzte Mr. Pecksniff. »Ganz unmöglich! Sie setzen mich übrigens in Erstaunen.«

»Ja, kann ich mir denken«, sagte der alte Mann trocken. »Es kann Bestand haben – ich meine das Zärtlichtun, nicht das Erstaunen; möglich aber auch, daß es bald wieder ein Ende nimmt. Angenommen jedoch, es wäre von Dauer. – Na, Sie haben Ihr Nest hübsch mit Federchen ausgefüttert, und bei mir ist das gleiche der Fall; – die Sache könnte dann für uns beide recht interessant werden.«

Mr. Pecksniff lächelte mild und öffnete den Mund zu einer Antwort, aber Anthony fiel ihm ins Wort.

»Ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Sie haben natürlich noch keinen Augenblick an dergleichen gedacht. In einem Punkte, der das Glück ihres teuern Kindes so nahe angeht, können Sie als zärtlicher Vater keine Meinung abgeben und so weiter. Ja, ja, ganz recht, und sieht Ihnen auch ähnlich! – Mir aber, mein lieber Pecksniff«, setzte Anthony hinzu und legte seine Hand auf den Ärmel des würdigen Architekten, »kommt es vor, es könnte einen von uns benachteiligen, wenn wir so sorglos noch weiter so täten, als ob wir nichts sähen. Dies wäre mir für meinen Teil nun nicht besonders lieb, und Sie werden schon entschuldigen, wenn ich mir die Freiheit nehme, die Sache in Bälde ins reine gebracht sehen zu wollen. Meinen Dank übrigens, daß Sie mir so lange und aufmerksam zugehört haben. Wir wissen jetzt wenigstens beide Bescheid, und das kann nur angenehm sein.«

Mit diesen Worten stand der alte Mann auf, nickte Mr. Pecksniff verständnisinnig zu und ging zu den jungen Leuten. – Der vortreffliche Architekt hingegen blieb, etwas verdutzt über dieses unverblümte Verfahren seiner Verwandten, sitzen und konnte sich des unangenehmen Gefühls nicht erwehren, mit seinen eigenen Waffen geschlagen worden zu sein.

Postkutschen pflegen nicht zu warten, und es wurde langsam Zeit, sich nach dem Bureau zu begeben, das ganz in der Nähe lag. Das Gepäck war bereits besorgt, und so konnte man sich ohne weiteres zum Aufbruch anschicken. Die Misses Pecksniff und Mrs. Todgers setzten ihre Hüte auf, und bald war die ganze Gesellschaft unterwegs. Die Pferde waren bereits eingespannt, und auch der größte Teil der Herren Handelsbeflissenen hatte sich schon eingefunden – der »jüngste Gentleman« mit eingeschlossen, der, sichtlich aufgeregt, in einem Zustande tiefster geistiger Niedergeschlagenheit am Wagenschlag stand.

Nichts ließ sich mit dem Schmerz vergleichen, mit dem Mrs. Todgers von den jungen Damen Abschied nahm, ausgenommen höchstens die gewaltige Erregung, die sie ergriff, als sie Mr. Pecksniff Lebewohl sagte. Wohl noch nie wurde ein Taschentuch so oft aus einer flachen Retikule herausgezogen und wieder hineingesteckt als das Mrs. Todgers‘, als sie, auf beiden Seiten von je einem Herrn Handelsbeflissenen gestützt, neben dem Kutschenschlag auf dem Pflaster stand. Dabei suchte sie bei dem Lichte der Wagenlaternen so viele Blicke auf das Gesicht des vorbildlichen Mannes zu erhaschen, als es das beständige Dazwischentreten Mr. Jinkins‘ nur irgend gestatte. Mr. Jinkins nämlich, bis zum letzten Augenblick ein Stein des Anstoßes im Leben des »jüngsten Gentleman«, stand auf dem Kutschentritte und plauderte mit den Damen.

Den andern Kutschentritt hielt, kraft seines Vorrechts als Vetter, Mr. Jonas besetzt, und so sah sich der »jüngste Gentleman«, trotzdem er sich als erster an Ort und Stelle eingefunden, unter die schwarz und roten Plakate und die Porträts der Eilwagen in dem Einschreibebureau zurückgedrängt – mitten unter die schweren Gepäckstücke, und überdies der schmählichen Rücksichtslosigkeit der Lastträger aufs unwürdigste preisgegeben. Diese ungeschickte Position, verbunden mit großer nervöser Erregtheit, war schuld, daß das Pech des »jüngsten Gentleman« schließlich seinen Höhepunkt erreichte. Als er nämlich im Augenblick des Scheidens mit einer Blume – einer Treibhausblume, die viel Geld gekostet hatte – nach Gratias schöner Hand zielte, traf er damit den Kutscher auf den Bauch, und der Mann steckte sie freundlich lächelnd in sein Knopfloch.

Und dann waren sie fort und »Todgers« wieder allein.

Die beiden jungen Damen lehnten sich jede in eine Ecke zurück und überließen sich schmerzlichen Gedanken, und Mr. Pecksniff konzentrierte, die Erinnerungen an vergängliche, gesellige Vergnügungen aus seinem Herzen ausschaltend, die ganze Kraft seines Geistes auf den einen großen tugendhaften Entschluß, jenen Undankbaren zu verstoßen, der zur Zeit noch immer unter seinem Dache weilte und den Altar seiner Hausgötter durch seine Anwesenheit schändete.