19. Kapitel
Einige außergewöhnliche Mitglieder der medizinischen Fakultät treten auf. Der treffliche Mr. Jonas beweist abermals seine kindliche Liebe
Mr. Pecksniff saß in einem Mietkabriolett, denn Mr. Jonas hatte zu ihm gesagt: »Sparen Sie kein Geld.«
Das Menschengeschlecht ist in seinem ganzen Wesen und Denken bodenlos schlecht, und Jonas war daher fest entschlossen, auch nicht ein Jota Veranlassung zu müßigen Gerüchten zu geben. Man sollte ihm nie zum Vorwurf machen, daß er bei dem Begräbnis seines Vaters mit Geld gegeizt habe. Deshalb hatte er – gültig bis zum Schluß der Beerdigungsfeierlichkeiten – das Motto ausgegeben: man spare keine Kosten.
Mr. Pecksniff war bei dem Leichenbestatter gewesen und befand sich jetzt auf dem Wege zu einem andern ihm empfohlenen dienstbaren Geist, nämlich einer Weibsperson, die bei Verstorbenen zu wachen und alle die geheimnisvollen nötigen Vorrichtungen vorzunehmen pflegte. Sie hieß, wie Mr. Pecksniff aus einem Zettel in seiner Hand ersah, Mrs. Gamp und wohnte in Kingsgate Street, High Holburn. Mr. Pecksniff rasselte daher in seiner Droschke über das Pflaster von Holborn, um Mrs. Gamp aufzusuchen.
Die Dame wohnte bei einem Vogelhändler. Die zweitnächste Tür führte zu einem berühmten Hammelpastetenladen, der gerade gegenüber echtes Katzenfleisch verkaufte. Wie alle solchen Etablissements trug auch dieser Laden ein entsprechendes Reklameschild über der Türe. Es war ein kleines Haus und daher sehr geeignet für Mrs. Gamp, die in ihrer höchsten Kunststufe Wochenwärterin oder, wie ihr Aushängeschild kühn besagte, Hebamme war. Sie konnte, da sie auf die Gasse hinaus und zu ebener Erde wohnte, bei Nacht leicht durch an die Fenster geworfene Kieselsteine oder vermittelst Spazierstöcken und Tabakspfeifenrohren geweckt und herausgeklopft werden. Das alles war nämlich weit wirksamer als der Haustürklopfer, der klugerweise so konstruiert war, daß er wohl die ganze Straße wecken und sogar Feueralarm in Holborn hätte verbreiten können, im Hause selbst jedoch unter keinen Umständen auch nur den mindesten Eindruck machte.
Mrs. Gamp war die ganze verflossene Nacht über auf gewesen, um einer Zeremonie beizuwohnen, der das Frauengeschlecht einen zweisilbigen Namen für den über Adam verhängten Fluch gegeben hat. Sie war dabei nicht allein tätig gewesen, sondern man hatte sie in Anbetracht ihres großen Rufes geholt, um einer andern Dame vom Fach mit Rat und Tat an die Hand zu gehen. Nachdem sodann alle interessanten Phasen des Falles ihr Ende erreicht, hatte sie sich wieder nach dem Hause des Vogelhändlers zurückgezogen und unverzüglich zu Bett begeben. Aus diesem Grunde waren daher zur Zeit des Vorfahrens von Mr. Pecksniffs Droschke Mrs. Gamps Vorhänge dicht zugezogen, und die Dame selbst lag dahinter in tiefstem Schlaf.
Wäre der Vogelhändler zu Hause geblieben, wie es sich gehört hätte, so würde das nicht viel bedeutet haben, so aber befand er sich auswärts, und sein Laden war verschlossen. Allerdings waren die Jalousien nicht heruntergelassen, und hinter jeder Fensterscheibe stand je ein winziger Käfig, in dem ein kleines Vögelchen zwitscherte, sein kleines Verzweiflungsballett abhüpfte und sich an den Stäben abflatterte, während ein melancholischer Blaufink, der daneben eine große Villa mit seinem Namen an der Tür bewohnte und sein Trinkwasser mittels eines kleinen Pumpwerks selbst hinaufziehen mußte, die Passanten stumm anflehte, sie möchten ihm doch für einen Penny Gift hineinmischen. Die Haustüre war geschlossen. Mr. Pecksniff drückte auf die Klinke, rüttelte daran und setzte eine jämmerlich tönende Klingel in Bewegung. Aber niemand erschien. Der Vogeldresseur war gleichzeitig Barbier und auch fashionabler Haarkräusler, und daher war es anzunehmen, daß man ihn nach dem Westende der Stadt gerufen hatte, um einen Lord oder eine Lady zu frisieren. Wie dem nun auch sein mochte, keinesfalls befand er sich auf seinem eigenen Grund und Boden. Auch war nichts vorhanden, was der Einbildungskraft eines nach ihm Fragenden hätte nachhelfen können, als ein bei derlei Kunstgenossen übliches gedrucktes Plakat, das einen Friseur in eleganter Haltung darstellte, wie er eine Modedame vor einem großartigen, aufgeklappten Pianoforte bediente.
In der Unschuld seines Herzens griff Mr. Pecksniff nach dem Türklopfer, aber schon beim ersten Doppelschlage wimmelte es an allen Fenstern der Straße von Frauenköpfen, und noch ehe er seine Aufforderung wiederholen konnte, sammelten sich Scharen verheirateter Damen, von denen einige ganz das Aussehen hatten, als ob sie selbst in Bälde Mrs. Gamp würden bemühen müssen, um die Türschwelle und riefen wie aus einem Mund mit höchstem Interesse:
»Klopfen Sie an das Fenster – klopfen Sie an das Fenster! Um Gottes willen, verlieren Sie ja keine Zeit, klopfen Sie an das Fenster!«
Unverzüglich borgte sich Mr. Pecksniff von seinem Kutscher die Peitsche aus und richtete gleich darauf eine nicht geringe Verheerung unter den Blumentöpfen des Hochparterres an. Mrs. Gamp wurde dadurch glücklich geweckt, und zur großen Freude der umstehenden Menge hörte man gleich darauf den Ruf erschallen:
»Ich komme schon!«
»Er ist so bleich wie Semmelkrumen«, sagte eine Matrone mit einem Blick auf Mr. Pecksniffs Gesicht.
»Das muß er auch sein, wenn er überhaupt menschliches Gefühl im Leibe hat«, bemerkte eine andere.
Eine dritte Dame meinte mit verschränkten Armen, es wäre besser gewesen, er hätte eine andere Zeit gewählt, um Mrs. Gamp zu holen, aber so sei’s ja bekanntlich immer.
Mr. Pecksniff fühlte sich begreiflicherweise sehr geniert, aus diesen Bemerkungen entnehmen zu müssen, man glaube, er komme zu Mrs. Gamp aus Gründen, die nicht das Ende, sondern den Anfang eines Lebens beträfen. Mrs. Gamp schien dasselbe zu glauben, wenigstens stieß sie das Fenster auf und rief, sich dabei hastig ankleidend, hinter den Gardinen hervor: »Ist es Mrs. Perkins?«
»Nein«, entgegnete Mr. Pecksniff scharf. »Nichts dergleichen. Im Gegenteil.«
»Ah, Sie sind’s, Mr. Whilks«, rief Mrs. Gamp. »Ach Gott, und Mrs. Whilks hat noch nicht einmal ein Steckkissen vorbereitet. Oder sind Sie’s vielleicht nicht, Mr. Whilks?«
»Es ist nicht Mr. Whilks«, beteuerte Pecksniff. »Ich kenne den Mann nicht. Es betrifft überhaupt nichts dergleichen. Ein Herr ist gestorben. Da man eine Person im Hause braucht, bin ich von Mr. Mould, dem Leichenbestatter, an Sie gewiesen worden.«
Mrs. Gamp, die für jeden ihrer Geschäftszweige einen besonderen Gesichtsausdruck vorrätig hatte, war inzwischen so weit, sich zeigen zu können. Sie steckte rasch eine Trauerphysiognomie zum Fenster heraus und sagte, sie werde sogleich hinunterkommen. Die versammelten Matronen nahmen es natürlich sehr übel, daß Mr. Pecksniffs Sendung von so geringer Wichtigkeit war, und die Dame mit den unterschlagenen Armen sagte ihm tüchtig ihre Meinung und betonte, es sei gewissenlos, Damen in delikaten Umständen mit der Erwähnung von Leichen zu erschrecken. Auch ein so scheußlicher Kerl wie er habe gewissermaßen Rücksichten zu nehmen. Auch die andern Damen sparten mit ähnlichen Ausdrücken nicht, und die Kinder, die sich inzwischen in etlichen Dutzenden angesammelt hatten, verhöhnten Mr. Pecksniff und gebärdeten sich wie eine Rotte kleiner Teufel. Der Ärmste pries sich glücklich, als Mrs. Gamp endlich erschien, packte sie ohne viel Zeremonien in die Droschke und fuhr, von den Verwünschungen der Menge verfolgt, von hinnen.
Mrs. Gamp hatte ein großes Bündel, ein Paar Überschuhe und einen gewaltigen Regenschirm mitgenommen, letzteren von der Farbe eines welken Blattes, außer an der Spitze, um die ein kreisrunder Fleck von hellem Blau geschickt eingeflickt war. Sie sah sehr erhitzt aus, offenbar von der Eile, zu der sie genötigt gewesen, und litt unter den irrigsten Vorstellungen hinsichtlich des Wesens des Kabrioletts. Sie schien nämlich diese Gattung Fuhrwerk mit einem Post- oder Frachtwagen zu verwechseln und bemühte sich beständig, während der ersten halben Meile ihr Gepäck durch das kleine Fenster auf den Bock zu zwängen und dem Kutscher zuzurufen, er solle ihr Päckchen doch in den Korb stecken. Als diese Wahnidee endlich bei ihr nachließ, löste sich ihr ganzes Wesen in Angst und Sorge um ihre Überschuhe auf, mit denen sie in einem fort auf Mr. Pecksniffs Schienbeinen Wurfscheibe spielte. Erst als sie vor dem Trauerhause vorführen, faßte sie sich so weit, um bemerken zu können:
»Also der Gentleman is tot, Sir. Das is a Jammer. Aber diesem Los entgeht keiner von uns. Es kommt so sicher wie das Geborenwerden, nur kann man’s net so genau vorhersagen. Ach Gott, der liebe, arme Herr!«
Mrs. Gamp war eine fette, alte Dame mit einer heiseren Stimme und einem Triefauge, das sie auf eine so merkwürdige Weise gen Himmel kehren konnte, daß man nur das Weiße drin zu sehen vermochte. Da sie sich überdies eines sehr kurzen Halses erfreute, so kostete es sie stets einige Mühe, den Kopf nach denen zu drehen, mit denen sie gerade sprach. Sie trug ein rostfleckiges schwarzes Kleid, dessen Aussehen durch den Umstand, daß sie Tabak zu schnupfen pflegte, nicht sehr gewonnen hatte, und ein dementsprechendes Halstuch und eine Haube. In diesen kläglichen Anzug pflegte sie sich bei solchen Gelegenheiten stets zu hüllen, erstens einmal, um damit ihre achtungsvolle Verehrung vor Toten auszudrücken, und dann, um die nächsten leidtragenden Verwandten stumm aufzufordern, ihr neue Trauerkleider zu verehren; ein Appell, der so häufig von glücklichem Erfolge gekrönt war, daß man zu jeder Stunde des Tages in mindestens einem Dutzend der Trödelläden Holborns ihr leibhaftiges Gespenst heraushängen sehen konnte. Ihr Gesicht und besonders die Nase waren etwas rot und geschwollen; auch konnte man sich nicht gut ihrer Gesellschaft erfreuen, ohne sich nicht eines gewissen Branntweinduftes bewußt zu werden. Wie die meisten Personen, die in ihrem Fach einen besonderen Ruf erworben haben, war auch sie dem ihrigen eifrig zugetan und ging, vielleicht von ihren natürlichen weiblichen Liebhabereien abgesehen, ebenso gern und bereitwillig zu einem Wochen- wie zu einem Totenbett.
»O mein, o mein!« wiederholte Mrs. Gamp, denn dies war für alle Trauerfälle ein höchst passender Ausdruck. »O mein. Als Gamp zu seiner ewigen Heimat zurückberufen wurde – ich sehe ihn noch vor mir, wie er in Guys Hospital lag mit einem Penny auf jedem Auge und das hölzerne Bein unter dem linken Arm –, da hab i glaubt, i müßt ohnmächtig zsammfalln. Aber i hab mi grad noch derfangt.«
Wenn man einem gewissen Gerüchte, das in den Kingsgate-Street-Zirkeln kursierte, Glauben schenken darf, hatte sie es in einer ganz überraschenden Weise getragen und dabei eine so intensive Seelenstärke an den Tag gelegt, daß sie sogar über Mr. Gamps sterbliche Überreste im Interesse der Wissenschaft verfügte. Allerdings war das jetzt schon zwanzig Jahre her, und das liebenswürdige Ehepaar hatte sich zuvor schon lange getrennt, da ihre Ansichten, besonders wenn sie etwas hinter die Binde gegossen hatten, nicht besonders miteinander harmonierten. »Sie sind wohl seitdem ziemlich gleichgültig geworden, nicht wahr?« fragte Mr. Pecksniff. »Gewohnheit kann zur zweiten Natur werden, Mrs. Gamp.«
»Ja, ja, man kann’s schon a zweite Natur nennen«, versetzte die Dame. »Erschtens sin solchene Sachen a Ansturm aufs Gfüll, und nacher werdens einem zur Gewohnheit, aber freilich hätt i net alls durchmachen können, was i schon durchgmacht hab, wenn i net hie und da an Schluck Schnaps gnommen hätt, aber immer natürli nur einen Schluck, mehr bin i beim besten Willen net imstande. Mrs. Harris, hab i gesagt, in dem letzten Fall, wo i dabei gwesen bin und wo sich’s um a junge Person ghandelt hat –, Mrs. Harris hab i gsagt, lassens die Flaschn auf dem Kaminsims stehn, aber redens mir net zu, etwas davon zu trinken; i muß immer nur die Lippen dran setzen, wenn i grad Lust hab, und dann will i tun, was i tun muß, so gut i’s halt imstand bin. Mrs. Gamp, hat die Harris gsagt, wenns je a nüchterne Person geben hat, wo von arbeitende Leut achtzehn Pence täglich nimmt und von vornehme drei Schilling sechs Pence, die Nachtwachen natürlich net mit eingrechnet«, betonte Mrs. Gamp mit Nachdruck, »so sind Sie diese unschätzbare Person. – Mrs.Harris, hab i drauf gsagt, reden S‘ nix von Lohn, und wenn i’s derschwingen kunnt, so möcht i für alle meine Mitmenschen umasunst das Totenbett herrichten, und würd’s mit Freuden tun und mit lauter Liebe. Aber was jetzt die sin, wo dem Hauswesen vorstehen, Mrs. Harris, hab i gsagt«, dabei heftete Mrs. Gamp ausdrucksvoll ihr Triefauge auf Mr. Pecksniff, »ob’s jetzt Herren sin oder Damen, so soll man mich net fragen, ob i was zu mir nehmen will, es genügt, wenn man die Flaschen mit Schnaps auf dem Kaminsims stehen laßt, damit i hie und da mir die Lippen anfeuchten kann, wann i grad Lust dazu hab.«
In diesem Augenblick fuhr die Droschke vor dem Hause vor. In dem Flur kam ihnen Mr. Mould, der Leichenbestatter, entgegen, ein kleiner, ältlicher, glatzköpfiger Gentleman in schwarzem Anzug. Er trug ein Notizbuch in der Hand, und eine massive goldene Uhrkette baumelte aus seiner Westentasche herunter. In seinem Gesicht lag ein mißglückter Versuch, traurig auszusehen, und zugleich ein Schmunzeln von Zufriedenheit, so daß er wie ein Mensch aussah, der nach einem Schluck auserlesenen Weins zunächst sich die Lippen leckt und dann die Leute glauben machen will, es sei eine bittere Arzenei gewesen.
»Mrs. Gamp, wie geht’s Ihnen?« fragte Mr. Mould mit einer Stimme, die so leise war wie sein Tritt.
»Ach, recht gut, i dank der Nachfrage«, versetzte Mrs. Gamp mit einem Knicks.
»Sie müssen hier ganz besonders Obacht geben, Mrs. Gamp; es ist kein gewöhnlicher Fall, Mrs. Gamp! Und richten Sie nur alles recht nett und hübsch her, Mrs. Gamp«, sagte der Leichenbestatter und nickte mit feierlicher Miene.
»Es soll alles geschehen«, versetzte Mrs. Gamp und machte abermals einen Knicks. »Ich hoffe, wir kennen uns.«
»Das hoffe ich auch, Mrs. Gamp«, sagte der Leichenbesorger.
Mrs. Gamp machte ihren dritten Knicks.
»Dies ist einer der ergreifendsten Fälle, Sir«, fuhr Mr. Mould – zu Mr. Pecksniff gewendet – fort, »den ich in all den Jahren meiner Berufstätigkeit gesehen habe.«
»Wirklich, Mr. Mould?« rief Mr. Pecksniff erschüttert. »Eine so von Herzen kommende Trauer, Sir, habe ich noch nie gesehen. Sie hat keine Grenzen – wahrhaftig, keine Grenzen« – Mr. Mould riß die Augen weit auf und stellte sich auf die Zehenspitzen – – »in punkto Kosten. Ich habe den Auftrag, Sir, mein ganzes Personal von stummen Leidtragenden aufzubieten. Und das kommt sehr hoch, Mr. Pecksniff. Was sie trinken, gar nicht mit eingerechnet. Und dann die silberplattierten Handgriffe von bester Qualität, mit den teuersten Engelsköpfen verziert! Auch an Trauerfedern darf kein Mangel sein. Kurz, Sir, es soll etwas absolut Prachtvolles werden.«
»Mein Freund, Mr. Jonas, ist ein vortrefflicher Mann«, flötete Mr. Pecksniff.
»Ich hab mein Lebtag lang viel Kindesliebe zu sehen bekommen, Sir«, versetzte Mr. Mould, »aber auch Unkindlichkeit. Das ist so unser Los. Unser Beruf bringt es mit sich, daß wir viele solche Geheimnisse kennenlernen. Aber eine Kindesliebe wie diese ist so ehrenvoll für die menschliche Natur, so berechnet, uns mit der Welt, in der wir leben, zu versöhnen, daß ich sagen kann, es ist mir noch nichts Ähnliches bisher vorgekommen. Sie beweist übrigens nur, Sir, was der vielbeweinte Schauspieldichter, der zu Stratford begraben liegt, gesagt hat: – ›daß in allem etwas Gutes zu finden ist‹.«
»Freut mich ungemein, so etwas aus Ihrem Munde zu hören, Mr. Mould«, rief Pecksniff.
»Sie sind sehr gütig, Sir. Und was Mr. Chuzzlewit für ein Mann war – Oh, was das für ein Mann war! Da reden sie immer«, fuhr Mould fort und winkte mit der Hand der ganzen großen Menschheit ab, »von Lord-Mayor, von Sheriff, Ratsherren und dem ganzen übrigen Plunder, aber man zeige mir einen Mann in dieser Stadt, der wert wäre, in den Schuhen des verstorbenen Mr. Chuzzlewit zu wandeln! Nein, nein«, rief Mould bitter, »man hebe sie auf, man hebe sie auf, man gebe ihnen neue Sohlen und bewahre sie für seinen Sohn auf, bis er reif genug ist, sie zu tragen. Aber keiner versuche, sie selbst anzuziehen, sie würden ihm nicht passen. – Wir kennen ihn«, schloß Mould und steckte sein Notizbuch wieder in die Tasche, »Wir kennen ihn und lassen uns nicht mit Speck fangen wie die Mäuse. – Guten Morgen, Mr. Pecksniff, guten Morgen.«
Mr. Pecksniff erwiderte das Kompliment, und Mould, überzeugt, daß er sich höchlichst ausgezeichnet, wandte sich zum Gehen. Ein Lächeln der Freude über seine Geschäftstüchtigkeit zuckte in seinen Mienen auf, verschwand aber schnell wieder, um einem Ausdruck der Niedergeschlagenheit und einem Seufzer Platz zu machen. Dann blickte er in seinen Hut, als ob er hier Trost suche, setzte ihn aber, da er offenbar nichts dergleichen darin fand, auf und entfernte sich mit leisem Schritt.
Mrs. Gamp und Mr. Pecksniff stiegen die Treppen hinauf. Man wies die Dame in die Kammer, wo die zugedeckten sterblichen Überreste Anthony Chuzzlewits lagen, nur von einem einzigen treuen, liebenden Menschenherz betrauert, und Mr. Pecksniff begab sich in die dunkle Wohnstube, um Jonas aufzusuchen, den er schon beinah zwei Stunden nicht gesehen hatte.
»Pecksniff«, begann Jonas flüsternd, »vergessen Sie nicht, Sie haben die Oberleitung über alles und müssen jedermann, der davon spricht, sagen können, daß alles in Ordnung vorgegangen ist! Wissen Sie übrigens niemanden, den Sie zum Leichenbegängnis einladen könnten?«
»Nein, Mr. Jonas, ich kenne niemanden.«
»Denn wenn das wäre«, versetzte Jonas, »so müßte man es unbedingt tun. Wir haben nichts zu verbergen!«
»Nein«, wiederholte Pecksniff nach kurzem Nachdenken. »Leider weiß ich niemanden. – Ich bin Ihnen wirklich sehr für Ihre freigebige Gastlichkeit verbunden, Mr. Jonas, aber beim besten Willen, ich weiß niemanden.« »Auch recht«, brummte Jonas, »Sie, ich, Chuffey und der Doktor werden gerade eine Droschke ausfüllen. Wir müssen den Doktor dabei haben, weil er weiß, wie die Sache vor sich ging und daß ich nichts daran ändern konnte.«
»Wo steckt denn unser lieber Freund, Mr. Chuffey?« fragte Pecksniff, sah sich in der Stube um und blinzelte mit den Augen, denn er war natürlich sehr ergriffen.
Er wurde dabei durch das plötzliche Auftauchen Mrs. Gamps erschreckt, die plötzlich ohne Schal und Haube, den Kopf in den Nacken geworfen, mit stolzem Gang zornig ins Zimmer trat und in spitzigem Ton eine Privatunterredung – draußen vor der Tür – mit ihm verlangte.
»Wenn Sie irgend etwas zu sagen haben, so können Sie es doch gerade so gut hier tun«, seufzte Mr. Pecksniff und schüttelte melancholisch den Kopf.
»Ich hab net viel zu sagen, wo die Leute trauern um Tote und Hingeschiedene«, entgegnete Mrs. Gamp, »aber nix für ungut, was ich sag, gehört zur Sache. Ich bin meinerzeit an vielen Orten gwesen, meine Herren, und hoffe zu wissen, was meine Schuldigkeit ist und wie ich sie zu erfüllen hab. Es war natürlich sehr sonderbar, wenn’s net so war, und sehr unrecht von so an feinen Herrn, wie der Herr Mould, der doch die höchsten Familien in unserm Land zur größten Zufriedenheit bedient hat, mich so zu empfehlen, wie er’s getan hat. Ich hab selbst schon viel Jammer mitgmacht«, sie legte großen Nachdruck auf diese Worte, »und kann ganz gut mitfühlen, wie’s einem is bei solchen Heimsuchungen, aber i bin ka Russ und a ka Preuß und kann’s daher net leiden, wenn eins spioniert.«
Ehe es möglich war, Mrs. Gamp zu antworten, fuhr sie, immer röter im Gesicht werdend, fort:
»’s ist net so einfach, meine Herren, in der Welt als a Witwe zu leben, bsonders wenn der Tag mit an Verlust anfangt, der sich net so leicht wieder einbringen laßt, aber ein jeds, wo sein Brot verdienen muß, hat auch seine eigenen Regeln und Bestimmungen, wo net übertreten werden dürfen. Manche Leut«, fuhr sie erregt fort und verschanzte sich hinter ihrem stärksten Beweisbollwerk, das, wie sie zu glauben schien, kein menschlicher Scharfsinn zu erstürmen vermochte, »manche Leut mögen Russen und manche mögen Preußen sein, aber die sin halt scho so geboren und müssen sich’s so gfallen lassen. Aber die, wo von einer andren Natur sin, die denken anders.«
»Wenn ich die gute Frau verstehe«, wandte sich Mr. Pecksniff zu Jonas, »so scheint Mr. Chuffey etwas lästig zu sein. Soll ich ihn herunterholen?«
»Ja, tun Sie’s«, riet Jonas. »Ich wollte gerade sagen, daß er noch oben sei, als Sie hereinkamen. Ich würde ihn selbst holen gehen, – – aber es wäre mir doch lieber, wenn Sie es täten, wenn es Ihnen einerlei ist.« Mr. Pecksniff entfernte sich sogleich bereitwillig. Mrs. Gamp folgte ihm, und ihre Miene hellte sich auf, als sie sah, daß er eine Flasche und ein Glas vom Tische mitnahm.
»Wissen S’«, sagte sie, »wenn’s net zu seinem eigenen Besten war, so möcht mir so wenig dran liegen, ob er da is oder net, als wenn er a Mucken war. Aber wenn eins an dergleichen Sachen net gewöhnt is, geht’s ihm nachher net so leicht wieder aus dem Kopf und ’s is a Freundschaftsdienst, wenn man so jemand net sein eigenen Willen laßt. – Und selbst«, schloß Mrs. Gamp, wahrscheinlich auf einige Redeblumen anspielend, die sie auf das Haupt Mr. Chuffeys gestreut haben mochte, »selbst wenn man so jemand ausschimpft, so geschieht’s nur, um eahm zu zerstreuen.«
Was für Epitheta sie auch immer dem alten Buchhalter gegeben haben mochte, aufgeheitert oder aufgeweckt hatte sie ihn nicht. Er saß noch immer neben dem Bett in dem Lehnstuhl, den er die ganze Nacht vorher eingenommen hatte, die Hände gefaltet und den Kopf auf die Brust gesenkt, und sah weder auf, als sie eintraten, noch gab er ein Zeichen des Bewußtseins von sich, bis ihn Mr. Pecksniff endlich am Arme berührte.
»Dreimal zwanzig und zehn«, sagte er, »macht null und sieben. Manche Menschen sind so zäh, daß sie’s bis viermal zwanzig bringen. Viermal null ist null und viermal zwei ist acht, macht achtzig. O warum warum – warum – lebte er nicht bis viermal null macht null und viermal zwei macht acht, gleich achtzig?«
»O du irdisches Jammertal«, rief Mrs. Gamp und bemächtigte sich des Glases und der Flasche. »Warum ist er gestorben vor seinem armen, alten, gebrechlichen Diener«, jammerte Chuffey, schlug die Hände zusammen und blickte kummervoll auf. »Was bleibt mir jetzt, wo er fort ist!«
»Mr. Jonas«, rief Pecksniff feierlich. »Mr. Jonas, mein lieber Freund!«
»Ich habe ihn so gern gehabt«, ächzte der alte Mann weinend. »Er war immer so gut gegen mich. Wir haben zusammen die Tara und den Rabatt in der Schule gelernt. Ich habe ihn einmal, ihn und sechs andere, in der Arithmetik ausgestochen. Gott verzeih mir’s, daß ich das Herz hatte, ihn auszustechen.«
»Kommen Sie, Mr. Chuffey«, tröstete ihn Pecksniff. »Kommen Sie mit. Fassen Sie sich, Mr. Chuffey.«
»Ja, das will ich«, hauchte der alte Buchhalter; »ja, ich will mich zusammennehmen – – wievielmal zwanzig – o Chuzzlewit und Sohn – Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit – Ihr eigenes Fleisch und Blut!«
Dann versank er wieder in seinen alten Stumpfsinn und ließ sich geduldig wegführen. Mrs. Gamp setzte sich, die Flasche auf dem einen und das Glas auf dem andern Knie, nieder und schüttelte eine Zeitlang trübe den Kopf; schließlich schenkte sie sich geistesabwesend ein wenig von dem Branntwein ein und erhob das Glas an ihre Lippen. Sie ließ einen zweiten, einen dritten Schluck folgen, und entweder waren ihre Gedanken über Tod und Leben so traurig oder ihre Bewunderung des Getränkes so überschwenglich, – kurz, sie verdrehte die Augen dermaßen, daß nur mehr das Weiße sichtbar war, und schüttelte dabei rastlos den Kopf.
Der alte Chuffey wurde in seinen gewohnten Winkel geführt und blieb dort sitzen, still und stumm. Nur hie und da stand er auf und ging in der Stube auf und ab, rang die Hände oder stieß plötzlich einen seltsamen wilden Schrei aus.
Eine ganze Woche lang blieben die drei so Tag für Tag um den Kamin versammelt, ohne das Haus zu verlassen. Mr. Pecksniff wäre wohl ganz gerne in den Abendstunden ein wenig ausgegangen, aber Jonas wollte auch nicht eine Minute allein sein. In dieser Weise brüteten sie in dem dunklen Zimmer vom Morgen bis in die Nacht ohne Erholung oder Zerstreuung. Der Gedanke an den, der da oben in der Leichenkammer steif und starr ausgestreckt lag, lastete so schwer auf Jonas, daß er fast darunter zusammenbrach. Während der ganzen langen sieben Tage und Nächte umspukte ihn ununterbrochen das schreckliche Gefühl, daß der Tote noch im Hause sei. Wenn sich die Türe bewegte, sah er mit leichenfahlem Gesicht und entsetztem Auge hin, als glaube er, gespenstische Finger hielten die Klinke umkrallt. Flackerte das Feuer im Luftzug, so blickte er über die Achsel in der Furcht, eine in Leichentücher gehüllte Gestalt zu sehen, die es mit ihrem schrecklichen Kleide fächelte. Das leiseste Geräusch machte ihn zusammenschauern und zusammenfahren, und einmal in der Nacht rief er bei dem Klang von Schritten über seinem Haupte, der Tote wandle, trap, trap, trap, in Leichenkleidern herum. Nachts lag seine Schlafmatratze auf dem Boden des Besucherzimmers, gerade so wie die Mr. Pecksniffs, da sein eigenes Zimmer Mrs. Gamp angewiesen worden war. Das Heulen eines Hundes vor dem Hause erfüllte ihn mit Entsetzen – mit einem Entsetzen, das er nicht verbergen konnte. Dem Widerschein des Lichtes aus der Leichenkammer, der sich an den gegenüberliegenden Fenstern widerspiegelte, wich er aus wie einem zornigen Auge.
Nacht für Nacht fuhr er aus seinem unruhigen Schlummer auf, blickte stier umher und rief nach dem Morgen. Die Leitung sämtlicher Angelegenheiten, sogar die Bestellung der täglichen Mahlzeiten, hatte er Mr. Pecksniff überlassen, der infolgedessen in der festen Überzeugung, der Leidtragende bedürfe des Trostes in Form kräftiger Nahrung, die Gelegenheit benützte, während dieser trübseligen Zeit nur die leckersten Sachen auf die Tafel setzen zu lassen. Zuckerbackwerk, geschmorte Nieren, Austern und andere leichtverdauliche Speisen für jedes Nachtessen und dazu die entsprechende Menge heißen Punsches, wobei er dann so viele moralische Reflexionen und geistige Tröstungen entwickelte, daß ein Heide davon hätte bekehrt werden müssen. Namentlich, wenn er nicht Englisch verstanden hätte.
Mr. Pecksniff war überdies keineswegs der einzige Leidtragende, der sich in diesen Tagen der Trübsal kulinarischer Genüsse hingab, denn auch Mrs. Gamp zeigte einen sehr erlesenen Geschmack in punkto Essen. Gehacktes Hammelfleisch wies sie mit Verachtung zurück. Auch hinsichtlich Trinken war sie sehr pünktlich und wählerisch; so verlangte sie eine Pinte milden Porters zum Lunch, eine Pinte zum Dinner, eine halbe Pinte als eine Art Zwischenstation zwischen Dinner und dem Tee und eine Pinte von dem berühmten starken Ale oder echten alten »Brighton Tipper« zum Souper. Außerdem stand beständig die Flasche Brandy auf dem Kamin, und dann und wann appellierte sie an die gute Erziehung ihrer Auftraggeber, sie zu einem Tropfen Wein einzuladen. Ebenso fanden sich Mr. Moulds Leute genötigt, ihren Gram wie ein junges Kätzchen am ersten Morgen seines Daseins zu ertränken, und pünktlich, ehe sie an ihr Geschäft gingen, benebelten sie sich, um allzu großer Ergriffenheit vorzubeugen. Kurz, die ganz seltsame Woche verging in schauerlicher Fidelität und grimmig stillem Wohlleben, und außer dem armen Chuffey feierte jeder, der in den Schattenbereich von Anthony Chuzzlewits Leichenbegängnis gehörte, ein Festmahl wie die Ghoule aus Tausendundeiner Nacht.
Endlich kam der Tag der Beisetzung. Mr. Mould lehnte, in der einen Hand die goldene Uhr, mit der andern ein Glas edlen Portweins zwischen Auge und Licht haltend, an dem Schreibpult in dem kleinen Glastürbureau und besprach sich mit Mrs. Gamp. Zwei stumme Leidtragende standen an der Haustür und schnitten so klägliche Gesichter, wie sich nur von Leuten eines profitablen Geschäftes erwarten ließ. Mr. Moulds ganzes Etablissement war aufgeboten und versah innerhalb und außerhalb des Hauses den Dienst. Federn nickten, Rosse schnaubten, Seide und Samt flatterte, kurz alles war geschehen – wie Mr. Mould nachdrücklich bemerkte – was für Geld geschehen konnte.
»Und was will man weiter, Mrs. Gamp!« rief er, nachdem er sein Glas geleert, mit den Lippen schmatzend.
»Natürlich nichts, Sir.«
»Natürlich nichts«, wiederholte Mr. Mould, »Sie haben recht, Mrs. Gamp. Weshalb verwenden eigentlich die Leute –« er füllte sein Glas abermals, »mehr Geld auf einen Todesfall, Mrs. Gamp, als auf eine Geburt? Das müssen Sie doch am besten wissen, es schlägt in Ihr Fach. Wie erklären Sie sich das?« »Na ja, weil mer halt an Leichenbestatter lieber sieht als a Hebamm«, gluckste Mrs. Gamp verschmitzt und strich sich ihr neues schwarzes Kleid glatt.
»Hahaha«, lachte Mr. Mould, »man sieht, Sie haben heute morgen auf anderer Leute Kosten gefrühstückt, Mrs. Gamp.«
Als jedoch sein Blick bei diesen Worten einen kleinen an der Wand hängenden Rasierspiegel streifte und er darin sein Gesicht ungebührlich heiter lächeln sah, setzte er sofort seine Trauermiene wieder auf.
»Seit Sie mich so gütig empfohlen haben, hab i net oft auf eigne Kosten gfrühstückt, und hoffentlich wird’s auch in Zukunft net der Fall sein«, entgegnete Mrs. Gamp mit einem apologisierenden Knicks.
»Nun«, meinte Mr. Mould, »wie die Vorsehung will. Ich kann Ihnen übrigens selbst sagen, Mrs. Gamp, worin der Grund liegt. Es kommt daher, daß das Anlegen des Geldes bei einem geordneten Unternehmen, wo alles im allerfeinsten Stil ausgeführt wird, wie ein Verband auf das gebrochene Herz wirkt und Balsam in die verwundete Seele gießt. Wenn Leute sterben, bedürfen die Herzen eines Verbandes; der Geist will Linderung haben. Sehen Sie sich zum Beispiel nur den Gentleman heut an, wie er aussieht!«
»Ein freigebiger Gentleman«, rief Mrs. Gamp enthusiastisch.
»Nein, nein«, versicherte der Leichenbestatter, »er ist durchaus kein freigebiger Herr für gewöhnlich. Da kennen Sie ihn schlecht. Aber ein betrübter Herr ist er, ein gefühlvoller Herr. Er weiß, was für ihn dabei alles herauskommen kann, wenn er seine Liebe und Verehrung für den Hingeschiedenen so an den Tag legt. Er hat für sein Geld«, erklärte Mr. Mould und schwenkte seine Uhrkette im Kreise herum, »erstens vier Trauerpferde vor jedem Wagen, ebensoviele samtene Pferdedecken, Kutscher in Tuchmänteln und Stulpenstiefeln, schwarzgefärbte Straußenfedern und eine Menge Begleiter zu Fuß, alle nach der neuesten Trauermode gekleidet, mit messingbeschlagenen Stäben in der Hand, und ein Grab – ff. Wenn er entsprechend zahlt, kann er sich sogar in der Westminster-Abtei begraben lassen. Nein, nein, Mrs. Gamp, Geld ist keine Schimäre, wenn man solche Sachen dafür haben kann.«
»Und ein wahrer Segen Gottes ist es«, sagte Mrs. Gamp, »daß es noch solche Leute gibt wie Sie, Mr. Mould, wo solchene Sachen verkaufen oder verschaffen.«
»Ja, Mrs. Gamp, da haben Sie recht«, rief der Leichenbestatter, »wir sollten ein viel höher geehrter Stand sein. Wir tun das Gute insgeheim und erröten, wenn es in unsern kleinen Rechnungen erwähnt wird. Wieviel Trost hab ich – ja ich –« rief Mr. Mould, »schon unter meinen Mitmenschen verbreitet mit meinen vier langschweifigen Prachtpferden, die gar nicht angeschirrt werden unter zehn Pfund zehn Schilling.«
Mrs. Gamp öffnete den Mund zu einer passenden Antwort, wurde jedoch durch das Eintreten eines von Mr. Moulds Gehilfen, seinem Hauptleidtragenden, einem fetten runden Mann, dessen Weste fast bis zu den Knien reichte, und mit einer über und über mit Finnen besäten Nase, unterbrochen. In frühern Jahren war der Mann ein zartes Bürschchen gewesen, dann aber, infolge seines beständigen Aufenthalts in der fetten Leichenatmosphäre nach und nach so üppig ins Kraut geschossen.
»Nun, Tacker«, fragte Mr. Mould, »ist unten alles bereit?«
»Ein wundervolles Schauspiel, Sir«, versetzte Tacker. »Die Pferde sind stolzer und frischer, als ich sie jemals gesehen hab, und mit die Köpf stoßen s‘, als ob s‘ wüßten, was die Federn kosten. Eins, zwei, drei, vier«, zählte Mr. Tacker sodann auf und warf vier schwarze Mäntel über den linken Arm.
»Ist Tom da mit dem Kuchen und dem Wein?« fragte Mr. Mould.
»Er muß im Augenblick kommen, Sir.«
»Dann«, sagte Mr. Mould, steckte seine Uhr ein und betrachtete sich in dem kleinen Rasierspiegel, um sicher zu sein, daß sein Gesicht auch den gehörigen Trauerausdruck habe, »dann, denke ich, können wir an die Arbeit gehen. – Geben Sie mir das Papier mit den Handschuhen her, Tacker. – – Oh, was war das für ein vortrefflicher Herr, der Verstorbene. – Tacker, Tacker, was war das für ein Mann!«
Mr. Tacker, der infolge seiner bei Leichenbegängnissen gesammelten großen Erfahrungen einen trefflichen pantomimischen Schauspieler hätte abgeben können, blinzelte Mrs. Gamp zu, ohne daß dies dem Ernste seines Gesichts, abgesehen von einem Grinsen, Abbruch getan hätte, und folgte seinem Gebieter ins nächste Zimmer.
Es gehörte zu Mr. Moulds gewerbsmäßigen Gepflogenheiten, von denen er nie abging, daß er sich stets das Ansehen gab, als ob er den Doktor nicht kenne, obgleich sie in Wahrheit nahe beieinander wohnten und sich oft, wie zum Beispiel im gegebenen Falle, in die Hände arbeiteten. Er händigte ihm jetzt ein paar schwarze Glacéhandschuhen ein, wie wenn er ihn nie in seinem Leben gesehen hätte, während der Doktor seinerseits sich so gemessen benahm, als habe er wohl von Leichenbestattern gehört oder gelesen, sei auch schon an ihren Läden vorbeigekommen, könne sich aber durchaus nicht erinnern, je mit einem Herrn dieses Schlages in Berührung gekommen zu sein.
»Wie? Handschuhe?« fragte der Doktor. »Bitte, Mr. Pecksniff, nach Ihnen.«
»Oh, bitte sehr, durchaus nicht«, versetzte Mr. Pecksniff.
»Sie sind sehr gütig«, bedankte sich der Doktor und wählte sich ein Paar Handschuhe. »Nun, Sir, wie ich Ihnen bereits sagte, wurde ich ungefähr um halb zwei Uhr zu dem Patienten gerufen – Kuchen und Wein, he? Welches ist der Portwein?«
Auch Mr. Pecksniff nahm ein Glas.
»Ungefähr um halb zwei Uhr morgens, Sir«, fing der Doktor wieder an, »wurde ich zu dem Patienten gerufen. Beim ersten Läuten der Nachtglocke springe ich aus dem Bett, reiße das Fenster auf, stecke den Kopf hinaus – – Mantel, eh? Bitte, ziehen Sie ihn nicht zu fest zu. – Ja, so wird’s gut sein.«
Nachdem Mr. Pecksniff in ähnlicher Weise eingekleidet war, fuhr der Doktor fort:
»Und stecke meinen Kopf hinaus – Hut? Lieber Freund, nein, das ist nicht der meinige. Pardon, Mr. Pecksniff, aber ich glaube, wir haben unabsichtlich unsere Kopfbedeckungen vertauscht. – Ich danke Ihnen. Nun, Sir, was ich sagen wollte –«
»Wir sind fertig«, unterbrach ihn Mould mit leiser Stimme.
»Fertig, wie?« fragte der Doktor. »Sehr gut. Mr. Pecksniff, ich werde Ihnen gelegentlich, wenn wir in der Kutsche sitzen, das Weitere erzählen. Es ist etwas seltsam. Fertig? Wie? Hoffentlich regnet’s doch nicht!« »Nein, es ist sehr schön, Sir«, entgegnete Mould.
»Ich fürchtete schon, wir würden nasses Wetter kriegen, denn mein Barometer fiel gestern sehr stark. Wir können uns Glück wünschen, daß wir so gut weggekommen sind.« – In diesem Augenblick traten Mr. Jonas und Chuffey ein. Hastig zog der Arzt sein weißes Taschentuch heraus und drückte es an die Augen, offenbar um einen Schmerzensausbruch zu verbergen. Dann schritt er Seite an Seite mit Mr. Pecksniff zur Türe hinaus.
Mr. Mould und seine Leute hatten die Großartigkeit der getroffenen Anstalten durchaus nicht übertrieben. Es war in der Tat ein glänzendes Begräbnis. Die vier Leichenwagenpferde warfen die Köpfe in die Höhe und scharrten mit den Hufen, als wüßten sie, daß ein Mensch gestorben sei, und triumphierten darüber. »Sie spannen uns ins Joch, peitschen uns, malträtieren uns und verkrüppeln uns nur zu ihrem Vergnügen, aber sterben müssen sie doch; hurra! Sterben müssen sie doch.«
Und fort ging der Leichenzug Anthony Chuzzlewits durch die schmalen Straßen und gewundenen Gäßchen der City. Verstohlen lugte Mr. Jonas aus dem Kutschenfenster, um den Eindruck zu beobachten, den das Gepränge auf die Menge mache. Mr. Mould wanderte mit langsamen Schritten einher und lauschte voller Stolz den bewundernden Ausrufen der Umstehenden. Der Doktor flüsterte Mr. Pecksniff seine Geschichte zu, ohne jedoch, wie es schien, dem Ende näher zu kommen als anfangs. Der arme alte Chuffey saß unbeobachtet in seiner Ecke und schluchzte. Schon bei Beginn der Zeremonie hatte er Mr. Mould großes Ärgernis gegeben, weil er sein Taschentuch ganz wider alles Herkommen im Hute getragen und sich die Augen mit den Fingerknöcheln gewischt hatte. Kurz, sein Benehmen verstieß gegen jeden Anstand und war überhaupt eines solchen feierlichen Anlasses unwürdig. Von Rechts wegen hätte man ihn gar nicht zuziehen dürfen.
Aber er war nun einmal da. Auch auf dem Kirchhof benahm er sich nicht weniger anstößig, denn er stützte sich auf Mr. Tacker, der ihm offen heraus sagte, er tauge zu einem solchen Begräbnis nicht; höchstens zu einem dritter Klasse. Aber Chuffey hörte ihn nicht, denn das Echo einer für immer verstummten Stimme klang in seinem Herzen wider. »Ich habe ihn so gern gehabt«, rief er immer wieder und sank auf das Grab nieder, als alles vorbei war. »Er war immer so gut gegen mich. Oh, mein lieber alter Freund und Herr!«
»Kommen Sie, kommen Sie, Mr. Chuffey«, redete ihm der Doktor zu, »das taugt zu nichts. Der Boden ist lehmig, Mr. Chuffey Sie dürfen das nicht tun, so fassen Sie sich doch!«
»Wenn’s die ordinärste Sorte Begräbnis und Mr. Chuffey ein Träger gewesen wäre, meine Herren«, sagte Mould desperat und half ihnen den armen alten Buchhalter aufheben, »meiner Seel, er hätte es nicht ärger treiben können.«
»Seien Sie ein Mann, Mr. Chuffey!« sagte auch Mr. Pecksniff.
»Seien Sie ein Gentleman, Mr. Chuffey!« redete ihm Mr. Mould zu. – »Mein Ehrenwort, lieber Freund«, murmelte der Doktor in streng verweisendem Tone und trat zu dem alten Buchhalter heran, »das ist schlimmer als bloße Schwachheit; es ist schlecht, selbstsüchtig und unrecht, Mr. Chuffey! Sie sollten sich an uns ein Beispiel nehmen, mein werter Herr, und nicht vergessen, daß Sie durch keine Bande des Blutes mit unserm Freund verbunden waren. Zumal ein sehr naher und sehr teuerer Verwandter von ihm da ist.«
»Ach ja, sein leiblicher Sohn!« rief der alte Mann und faltete leidenschaftlich die Hände. »Sein eigenes Fleisch und Blut!«
»Er ist nicht richtig im Kopfe«, erklärte Jonas und wurde blaß. »Sie dürfen nicht darauf achten, was er sagt. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er plötzlich den gräßlichsten Unsinn behauptete. Bitte, achten Sie nicht auf ihn. Ich tue es auch nicht. Mein Vater hat ihn meiner Fürsorge anempfohlen und damit genug. Was er sagt oder tut, ist gleichgültig. Ich werde schon für ihn sorgen.«
Ein Murmeln der Bewunderung erhob sich unter dem Trauergefolge – Mr. Mould und seine Leute mit eingeschlossen – über diesen neuen Beweis von Hochherzigkeit und kindlichem Sinn, aber Chuffey ließ es nicht mehr weiter darauf ankommen, sprach kein Wort mehr und kehrte stumm in seine Kutsche zurück.
Wohl erblaßte Jonas, als das Benehmen des alten Schreibers die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, jedoch war seine Bestürzung nur ganz vorübergehend, und bald erholte er sich wieder. Und das war nicht der einzige Wechsel, der an diesem Tage in ihm vorging.
Mr. Pecksniffs neugieriges Auge hatte bald herausgefunden, daß er auffallend ruhiger zu werden begann, sobald der Leichenzug das Haus verlassen hatte. Im Verlauf der Bestattungszeremonien wurde er bald ganz wieder wie sonst. Sein früheres Aussehen, seine Haltung, seine gewohnten angenehmen Eigentümlichkeiten in Sprache und Benehmen kehrten zurück, und in jeder Hinsicht wurde er wieder der frühere bestrickende Jonas. Als sie nach Hause fuhren, und ganz besonders, als sie dort anlangten und die Entdeckung machten, daß Licht und Luft durch die offenen Fenster hereinströmten, da fühlte sich Mr. Pecksniff so vollkommen überzeugt, Jonas sei ganz wieder der alte wie vor einer Woche, daß er freiwillig seine inzwischen erworbene Machtstellung aufgab und ohne einen Versuch, sie noch weiter zu behaupten, seine Stellung als milder und ergebener Gast wieder annahm. Mrs. Gamp kehrte zu dem Vogelhändler zurück und wurde noch in derselben Nacht zu einer Zwillingsgeburt herausgeklopft. Mr. Mould speiste heiter im Schoße seiner Familie und verbrachte den Abend höchst vergnügt in seinem Klub. Der Leichenwagen kehrte, nachdem er einige Zeit an der Tür eines lärmenden Wirtshauses gestanden, samt den Federbüschen und den zwölf auf dem Dache sitzenden rotnasigen Leichenbestattungsgehilfen, die sich jetzt an den schmutzigen Stiften hielten, an denen zur Zeit des Prunkes Büsche zu wehen pflegten, nach seinem Schuppen zurück. Die diversen Leichendraperien wurden sorgfältig in Schränke gelegt, die feurigen Rosse verfügten sich nach der Tränke ruhig in ihren Stall, und der Doktor vergnügte sich bei einem Hochzeitsmahle mit Wein und vergaß darüber seine Geschichte, die er noch immer nicht zu Ende erzählt hatte, ganz und gar. – Kurz, alles, was von dem Gepränge übrigblieb, beschränkte sich auf die genauen Aufzeichnungen in den Büchern des Leichenbestatters.
Und auch auf dem Friedhof war alles so gut wie vergessen. Die Tore wurden geschlossen, die Nacht dunkelte, und ein leichter Regen fiel auf das wuchernde Unkraut hernieder. Nur ein neuer Grabhügel, der am Tage vorher noch nicht dagewesen, war zu den übrigen hinzugekommen. Wie ein Maulwurf, der unter dem Boden fortwühlt, hatte die Zeit ein Häuflein Erde aufgeworfen, und das war alles.