16. Kapitel

Martin besucht New York, macht einige Bekanntschaften und speist in einem Kosthause. – Was dabei alles vorfiel

Schon am äußersten Saume des Landes der Freiheit herrschte keine geringe Aufregung, war doch tags vorher ein Alderman gewählt worden. Und da bei solchen Anlässen der Parteisinn sich besonders lebhaft zu äußern pflegt, so hatten die Anhänger des durchgefallenen Kandidaten es für nötig erachtet, die grandiosen Grundsätze der Meinungs- und Wahlfreiheit dadurch besonders zu betonen, daß sie ihren Mitmenschen, wo es irgend anging, Arme und Beine brachen und besonders mißbeliebte Gentlemen mit der menschenfreundlichen Absicht, ihnen die Nase abzuschneiden, durch alle Straßen verfolgten. Diese kleinen Ausbrüche der Volkslaune waren an und für sich weiter nicht merkwürdig und hätten – würden sie nur eine Nacht gedauert haben – kein besonderes Aufsehen erregt, aber sie erhielten immer frisches Leben und neue Bedeutung durch die Lungenbetätigung der Zeitungsjungen, die die neuesten Nachrichten nicht nur in allen Haupt- und Seitenstraßen der Stadt, sondern auch auf den Werften und Kais, besonders aber auf dem Verdeck und in den Kajüten des Dampfbootes mit schrillem Ruf verkündeten. Noch hatte die Barkasse das Ufer nicht erreicht, als sie bereits von einer ganzen Legion solcher kleiner Bürger der Republik geentert und überfüllt war.

»Hier die heutige New Yorker Kloake!« rief der eine. »Hier ist der heutige New Yorker Gurgelabschneider!«

»Hier der New Yorker Familienspion!«

»Hier haben Sie den New Yorker Horcher an der Wand!«

»Der New Yorker Spitzel – der Beutelschneider – der Schlüssellochgucker!«

»Hier der New Yorker Grobian!« Kurz, alle New Yorker Blätter wurden ausgerufen! Ausführliche Berichte über die gestrige Locofocobewegung, in der die Whigs eine Schlappe davontrugen, und die letzte Alabama-Boxertournee und das interessante Arkansasduell mit Bowiemessern sowie alle politischen, kommerziellen und Modeneuigkeiten füllten die Seiten! »Nur das Allerneueste! Extrablatt, Extrablatt!«

»Neueste Nummer der ›Kloake‹! Kaufen Sie die New Yorker Kloake!« schrie ein anderer. »Bereits das zwölfte Tausend heute gedruckt. Beste Marktnachrichten, alle Schiffsneuigkeiten, ausführliche Beschreibung des Balls bei Mrs. White, wo die ganze vornehme Welt von New York versammelt war. Besondere Nachrichten über das geheime Privatleben der dort anwesenden Damen. Kaufen Sie die Kloake! Bereits zwölftes Tausend der New Yorker Kloake. Enthüllungen über die ›schwarze Bande‹; in Wallstreet und die Washingtonclique! Ausführlicher Bericht der ›Kloake‹ über eine himmelschreiende Lumperei, begangen von dem Staatssekretär, als er bereits acht Jahre alt war: mit den größten Unkosten von seiner eigenen Amme eingeholt! Kaufen Sie die Kloake! Bereits zwölftes Tausend. Eine ganze Liste von New Yorker Namen der Gesellschaft, die demnächst an die Reihe kommen. – Alles schwarz auf weiß! Kaufen Sie die Kloake! Das erste Blatt der Vereinigten Staaten! Bereits das zwölfte Tausend aus dem Druck, und immer noch sind die Pressen in Gang. Kaufen Sie die New Yorker Kloake, Gentlemen!«

»Durch solche lichtvolle Mittel«, rief eine Stimme fast in Martins Ohr, »machen sich die übersprudelnden Leidenschaften meines Vaterlandes Luft.« Unwillkürlich wandte sich Martin nach dem Sprecher um und erblickte dicht an seiner Seite einen bleichen Gentleman mit eingefallenen Wangen, schwarzem Haar, unruhigem Blick und einem eigentümlichen Ausdruck um die tiefliegenden Augen, der weder als Scheelblick noch als Hohn gedeutet werden konnte und doch im ersten Moment ganz offenkundig eines von beiden zu sein schien. Auch bei einer näheren Bekanntschaft würde es schwer gewesen sein, den Zug anders denn als eine Mischung von Dünkel und niederträchtiger Schlauheit zu deuten. Um sich das Ansehen eines Weisen zu geben, trug der Gentleman einen breitkrempigen Hut und hatte, um seiner Haltung etwas Imponierendes zu geben, die Arme verschränkt. Er war ein wenig schäbig in einen blauen Mantel gekleidet, der ihm fast bis an die Knöchel reichte, seine kurzen weiten Hosen waren von derselben Farbe, und durch eine verschossene, gelbe Weste kämpfte sich ein verschossener Busenstreif, als wolle er mit den andern Anzugsbestandteilen gewissermaßen eine Art Gleichheit hinsichtlich bürgerlicher Rechte behaupten und auf eigene Faust eine besondere Art Unabhängigkeit proklamieren. Die ungewöhnlich großen Füße des Gentlemans waren nachlässig gekreuzt, während er selbst halb auf dem Seitengeländer des Dampfbootes saß, halb daran lehnte. Ein dicker Spazierstock, an dem einen Ende mit einer gewaltigen Zwinge und am andern mit einem großen Metallknopf verziert, von dem ein paar Quasten herunterbaumelten, vervollständigte seine Garderobe. Als der Gentleman bemerkte, daß es ihm gelungen, Martins Aufmerksamkeit zu erregen, zog er den rechten Mund- und Augenwinkel gleichzeitig in die Höhe und wiederholte:

»Durch solche lichtvolle Mittel machen sich die übersprudelnden Leidenschaften meines Vaterlandes Luft.«

Da er dabei Martin ansah und niemand anders in der Nähe war, der darunter gemeint sein konnte, neigte dieser den Kopf und erwiderte:

»Wie meinen Sie das?«

»Ich denke dabei an das Palladium rationeller Freiheit bei uns, Sir, und an die Scheußlichkeiten fremden Unterdrückertums im Ausland«, erklärte der Gentleman und deutete mit seinem Stock auf einen einäugigen und ganz besonders schmutzigen Zeitungsjungen, »an den Neid der großen Welt, Sir, und die Bahnbrecher der Zivilisation der Menschheit. Aber gestatten Sie die Frage, Sir«, setzte er mit der Miene eines Mannes hinzu, der sich nicht so leicht mit Phrasen abspeisen läßt, und stieß dabei seine Stockzwinge heftig auf das Verdeck; »wie gefällt Ihnen Amerika?«

»Ich bin außerstande, diese Frage jetzt schon beantworten zu können, da ich das Land ja noch gar nicht betreten habe«, sagte Martin.

»Ja ja, ich verstehe, Sie waren nicht darauf gefaßt, solche überwältigenden Anzeichen eines unerschöpflichen Nationalwohlstandes zu erblicken.«

Dabei deutete der Gentleman auf die vielen Schiffe, die an den Quais lagen, und schwenkte seinen Stock in der Runde, als wolle er Luft und Wasser mit in den erwähnten Reichtum einbezogen wissen.

»Nun, wie man’s nimmt«, sagte Martin. »Offen gestanden, glaube ich, war ich es.«

Der Gentleman sah ihn mit einem listigen Blicke an und meinte, diese Art Politik gefalle ihm nicht. Aber es mache weiter nichts; er als Philosoph finde ein gewisses Vergnügen darin, die Vorurteile der menschlichen Natur zu beobachten.

»Wie ich sehe, Sir«, fuhr er zu Martin gewendet fort und stützte sich mit dem Kinn auf den Knopf seines Stockes, »haben Sie hier wieder mal das übliche Quantum von Elend und Armut, Unwissenheit und Verbrechen mitgebracht, um es in den Schoß der großen Republik auszuschütten. Macht nichts, Sir! Lassen Sie sie nur in vollen Schiffsladungen vom alten Lande herüberkommen, die da. Ein sinkendes Schiff verlassen die Ratten, sagt man. Es liegt sehr viel Wahres in dieser Bemerkung. Meinen Sie nicht?«

»Nun, ich denke, unser altes Regierungsschiff in England wird sich schon noch ein paar Jahre über Wasser halten«, versetzte Martin und mußte sowohl über den Inhalt der Rede des Gentlemans wie auch über seine sonderbare Art zu sprechen – er legte nämlich einen starken Nachdruck auf die kleinen Flickworte und Silben, während er die größeren achtlos herunterschluckte – unwillkürlich lächeln. »Die Hoffnung, Sir, sagt schon der Dichter«, fing der Amerikaner wieder an, »ist des Wunsches Amme.«

Martin gab zu, gehört zu haben, daß diese Kardinaltugend gelegentlich solche häuslichen Dienste übernehme.

»Im gegenwärtigen Falle jedoch wird sie ihr Kind nicht großziehen. Sie werden sehen.«

»Na, die Zeit wird’s ja lehren«, meinte Martin.

Der Gentleman nickte ernst mit dem Kopf und fragte dann:

»Wie heißen Sie, Sir?«

Martin sagte es ihm.

»Wie alt sind Sie, Sir?«

Martin sagte ihm auch dies.

»Welchen Beruf haben Sie, Sir?«

»Architekt.«

»Und Ihre Pläne, Sir?«

»Wahrhaftig«, meinte Martin lachend, »über diesen Punkt kann ich Ihnen wirklich keine Auskunft geben. Ich weiß es nämlich selbst nicht.«

»So?« rief der Gentleman.

»Ja, so ist es.«

Der Gentleman nahm daraufhin seinen Stock unter den linken Arm und betrachtete Martin genauer und mit größerer Sorgfalt, als er es bisher getan. Nachdem er mit seiner Untersuchung fertig war, streckte er den rechten Arm aus, schüttelte Martin die Hand und sagte:

»Mein Name, Sir, ist Oberst Diver. Ich bin Herausgeber des New Yorker ›Grobian‹.«

Selbstverständlich nahm Martin diese Eröffnung mit der gebührenden Ehrfurcht entgegen.

»Das New Yorker Journal ›Grobian‹, Sir«, fing der Oberst wieder an, »ist, wie Sie wohl wissen werden, das Organ der Aristokratie in der Stadt.«

»So? Gibt es denn hier eine solche?« fragte Martin. »Aus was für Elementen setzt sie sich zusammen?«

»Aus den Elementen der Intelligenz, Sir! Aus Intelligenz und Moral und ihrer notwendigen Folgeerscheinung, nämlich aus den Dollars.« Martin war außerordentlich erfreut, das zu hören. Wenn Intelligenz und Moral in Amerika notwendigerweise zur Erwerbung von Dollars führen, sagte er sich, so könne es nicht fehlen, daß er sehr bald ein großer Kapitalist sein würde. Er wollte eben seine Freude über diese Mitteilung aussprechen, als er durch den Schiffskapitän unterbrochen wurde, der soeben heraufkam, um dem Oberst die Hand zu drücken, und bei dem Anblick eines fein gekleideten Fremden – Martin hatte nämlich seinen Mantel abgelegt – sich beeilte, auch diesen herzlich zu begrüßen. Martin empfand es als etwas sehr Angenehmes, denn trotz der unumschränkten Herrschaft von Moral und Intelligenz in Amerika hätte es ihn doch tief verletzt, sich vor Oberst Diver als armer Zwischendeckpassagier behandelt zu sehen.

»Nun, Kapitän?« fragte der Oberst.

»Nun, Oberst?« rief der Kapitän. »Übrigens, Sie sehen ja verdammt fein aus, Sir. Hätte Sie kaum erkannt, Sir. Tatsache.«

»Gute Fahrt gehabt, Kap’tän?« fragte der Oberst.

»Ja ja, lief ganz gut ab, Sir,« sagte oder vielmehr sang der Kapitän, der ein echter Neuengländer war. »Punkto Wetter nämlich.«

»So? Wirklich?«

»Ja ja, Tatsache. Habe übrigens eben die Passagierliste durch einen Jungen in Ihr Bureau geschickt.«

»Haben Sie vielleicht sonst noch einen Jungen übrig, Kap’tän?« fragte der Oberst in einem Ton, der fast an Strenge grenzte.

»Ich glaube, es sind noch ’n paar Dutzend hier, wenn Sie welche brauchen, Oberst.«

»Nur einen. Er braucht nicht sehr groß zu sein; nur muß er ein paar Dutzend Flaschen Champagner in mein Bureau tragen können«, bemerkte der Oberst bedeutsam. »Haben also ’ne gute Fahrt gehabt, was?«

»Ja, macht sich«, war die Antwort.

»Mein Bureau ist ganz in der Nähe, Sir«, fing der Oberst wieder an. »Freut mich, daß Sie ’ne gute Fahrt gehabt haben, Kap’tän. Hm – Macht übrigens nichts, wenn Sie keine ganzen Flaschen haben; der Junge kann ebensogut zweimal gehen und vierundzwanzig halbe Flaschen bringen. Also eine besonders hübsche Fahrt war’s, Kap’tän, was?«

»Ja, eine ganz vor-zügliche Fahrt«, sagte der Seemann.

»Sie haben eben immer Glück, Kap’tän. – Hm. – Sie könnten mir übrigens auch ’n Korkzieher und ’n paar Dutzend Gläser borgen. – Wie sehr sich auch die Elemente gegen meines Vaterlands edles Paketschiff, die ›Schraube‹, verschwören mögen«, wendete sich der Oberst jetzt wieder gegen Martin und machte mit seinem Spazierstock seine Lieblingsschwenkung, »so kann man doch immer darauf wetten, daß es eine feine Fahrt macht.«

Der Kapitän, in dessen Kajüte in diesem Augenblick die Redaktion der New Yorker »Kloake« ein ungeheures Gabelfrühstück verschlang, während in einer andern ein paar Journalisten eines zweiten vornehmen Blattes sich toll und voll soffen, benützte die günstige Gelegenheit, sich zu verabschieden, drückte seinem Freunde und Gönner, dem Obersten, herzlich die Hand und eilte fort, um den Champagner zu besorgen. Er wußte – wie sich später herausstellte – ganz genau, daß, wenn er den Redakteur des »Grobian« nicht für sich gewann, dieser Druckerschwärzepotentat ihn samt seinem Schiffe binnen vierundzwanzig Stunden mit großen Plakatbuchstaben an den Pranger stellen und vielleicht sogar das Andenken seiner Mutter, die erst zwanzig Jahre tot war, mit Kot bewerfen würde.

Der Oberst war nunmehr wieder mit Martin allein, hielt ihn, als er sich ebenfalls empfehlen wollte, am Arme zurück und machte sich erbötig, ihm als Engländer und Fremdem die Stadt und nachher, wenn er es wünsche, ein anständiges Kosthaus zu zeigen. Doch bevor sie aufbrächen, sagte er, bitte er um die Ehre seines Besuches auf dem Bureau des »Grobian«, um mit ihm eine Flasche Champagner auszustechen.

Das klang alles so außerordentlich freundlich und gastlich, daß Martin, obgleich es noch sehr früh am Morgen war, die Einladung dankend annahm. Er befahl daher Mark, der noch immer angelegentlich mit seiner Freundin und ihren drei Kindern beschäftigt war, wenn er damit fertig sei und das Gepäck an Land gebracht habe, im Bureau des »Grobian« weitere Weisungen einzuholen, und begab sich sodann mit seinem neuen Bekannten an Land.

Mühsam bahnten sie sich ihren Weg durch das traurige Gedränge der Auswanderer auf dem Kai – die Armen verstanden und wußten so wenig von dem Lande, unter dessen blauem Himmel und auf dessen kahlem Boden jetzt ihre Betten und Koffer lagen, als wären sie eben aus irgendeinem Planeten heruntergeschneit – und gingen dann eine kurze Strecke zusammen durch eine belebte Straße, auf deren einer Seite Kais und Schiffszimmerplätze lagen, während auf der andern eine lange Reihe aus roten Ziegeln gebauter Magazine und Bureaus sich hinzog, die mit mehr schwarzen Schildern mit weißen Buchstaben und weißen Schildern mit schwarzen Buchstaben behängt waren, als Martin je zuvor auf einem fünfzigmal größeren Räume gesehen hatte. Sodann bogen sie in eine schmale Straße und von da aus in andere enge Gassen ab, bis sie endlich vor einem Hause haltmachten, an dem mit großen Buchstaben die Inschrift: Redaktion des »Grobian« prangte.

Der Oberst, der den ganzen Weg über, eine Hand in der Westenbrust und den Hut schief auf dem Ohre, einhergeschritten war wie ein Mann, dem das Gefühl der eigenen Größe eine Qual bedeutet, ging über eine dunkle, schmutzige Treppe voraus in ein Zimmer von ähnlichem Aussehen, das mit Haufen von Papierschnitzeln und Fetzen von Manuskripten und Korrekturen bestreut war. Hinter einem alten, morschen und unappetitlichen Schreibtisch saß, einen Federstumpf im Mund und eine große Schere in der Hand, ein junger Mensch und schnitt an einem Stoß Journalen herum. Er sah so lächerlich aus, daß Martin sich die größte Mühe gab, seinen Ernst zu bewahren, zumal Oberst Diver ihn scharf beobachtete.

Der Herr, der wie erwähnt die Grobianzeitung mit der Schere redigierte, war ein kleiner Gentleman von sehr jugendlichem Aussehen und einer ungesunden Gesichtsfarbe, die wahrscheinlich zum Teil von seinen tiefen Gedanken, vielleicht aber auch von der Wirkung übermäßigen Tabakgenusses herrührte. Wenigstens hatte er im Augenblick den ganzen Mund voll Priemchen. Den Hemdkragen trug er zurückgeschlagen über ein schwarzes breites Band, und sein dünnes, langes und straffes Haar war nicht nur glatt gekämmt und aus der Stirne zurückgestrichen, damit nur ja kein Strahl der Poesie seines Gesichts verlorenginge, sondern auch stellenweise mit der Wurzel ausgerissen, wodurch sich einigermaßen die große Anzahl von Pickeln und entzündeten Flecken auf der Kopfhaut erklären ließ. Seine Nase gehörte zu jener Kategorie, die die Scheelsucht des Menschengeschlechtes mit dem Ausdruck: »Mopsnase« getauft hat. An der Spitze war sie aus Überfluß an Weltverachtung ein wenig umgestülpt. Auf der Oberlippe des Gentlemans prangten einige Anzeichen eines gelben Flaums, aber so weich und spärlich, wenn auch nach Kräften gepflegt, daß sie wie die Brösel eines Lebkuchens aussahen und durchaus nicht wie ein Schnurrbart. Doch das zarte Alter des Herrn entschuldigte diesen Mangel zur Genüge.

Der junge Mann war in seine Arbeit außerordentlich vertieft, und sooft er die große Schere zusammenschnappen ließ, machte er eine entsprechende Bewegung mit den Kinnladen, was ihm ein märchenhaft grimmiges Aussehen verlieh.

Martin schwante so etwas, als ob dies Oberst Divers Sohn sein müsse – sozusagen die Hoffnung seiner Familie und der künftige Haupthebel des »Grobians«. Schon hatte er einen Anlauf genommen, um zu sagen, es sei ungemein komisch, wie Mr. Divers Sprößling in aller Unschuld der Kindheit den Redakteur spiele, da unterbrach ihn der Oberst stolz mit den Worten:

»Mein Kriegskorrespondent, Sir, Mr. Jefferson Brick.«

Der Schrecken fuhr Martin in die Glieder bei dem Gedanken, welch fürchterlichen Mißgriff er beinahe begangen hätte. Mr. Brick bezog den Eindruck, der sich plötzlich auf Martins Gesicht spiegelte, auf sich, schien sich sehr darüber zu freuen und drückte ihm mit einer Gönnermiene, die Martin bedeuten sollte, er brauche sich durchaus nicht zu fürchten, die Hand.

»Wie ich merke, haben Sie schon von Mr. Jefferson Brick gehört, Sir«, sagte der Oberst lächelnd. »Ich will’s meinen, daß England den Namen Jefferson Brick zur Genüge kennt. Ganz Europa hat von Jefferson Brick gehört. Warten Sie mal – wann haben Sie England verlassen, Sir?« »Vor fünf Wochen.«

»Vor fünf Wochen«, wiederholte der Oberst gedankenvoll, setzte sich auf den Tisch und baumelte mit den Beinen. »Gestatten Sie mir die Frage, Sir, welcher von Mr. Bricks Artikeln hat damals bei dem britischen Parlament und dem Hofe in St. James am meisten Anstoß erregt?«

»Auf mein Wort«, stotterte Martin, »ich –«

»Ich weiß natürlich, Sir«, unterbrach ihn der Oberst, »daß die aristokratischen Kreise Ihrer Nation vor dem Namen Jefferson Brick zittern, aber ich möchte gern von Ihren eigenen Lippen hören, Sir, welcher von seinen Artikeln den tödlichen Streich geführt hat.«

»– die tausendköpfige Hydra der Verderbnis, die sich jetzt im Staub windet aus Furcht vor der Lanze der Vernunft und ihr schwarzes Herzblut gen Himmel spritzt«, deklamierte Mr. Brick, offenbar damit seinen letzten Artikel zitierend, und setzte des Eindrucks wegen eine kleine, blaue Tuchkappe mit einem Schild aus Glanzleder auf.

»Die Libation der Freiheit, Brick«, soufflierte der Oberst.

»– muß zuweilen aus Blut bestehen, Oberst«, ergänzte Brick.

Als er das Wort Blut aussprach, schnappte er dabei mit seiner großen Schere, als ob auch sie »Blut« sage und ganz seiner Ansicht sei.

Sodann sahen beide Herren Martin an, gespannt auf seine Antwort wartend.

»Wahrhaftig«, versicherte Martin, der inzwischen seine Fassung wiedergewonnen, »ich kann Ihnen keine genügende Auskunft darüber geben, denn tatsächlich habe ich –«

»Halt!« rief der Oberst, seinen Kriegskorrespondenten finster anblickend und bei jedem Wort nachdrücklich mit dem Kopf nickend, »wollen Sie vielleicht sagen, daß Sie niemals etwas von Jefferson Brick gehört haben oder von ihm lasen oder nie den ›Grobian‹ zu Gesicht bekamen – ja nicht einmal etwas von seinem kolossalen Einfluß auf die Kabinette Europas wußten – wie?«

»Allerdings wollte ich etwas derartiges bemerken«, gab Martin zu. »Bleiben Sie ruhig, Jefferson«, sagte der Oberst würdevoll, »regen Sie sich nicht auf. – Oh, ihr Europäer! – Na; – trinken wir lieber ein Glas Wein.«

Mit diesen Worten sprang er vom Tisch herab und holte aus einem Korb vor der Türe eine Flasche Champagner und drei Gläser.

»Mr. Jefferson Brick, Sir«, sagte er, füllte Martins Glas und reichte dann die Flasche dem Herrn mit der Schere hin, »wird einen Toast ausbringen.«

»Mit Vergnügen, Sir«, rief der Kriegskorrespondent, »wenn Sie es wünschen. – Also, der ›Grobian‹ soll leben und alle Blätter derselben Tendenz. Der Born der Wahrheit, dessen Wasser schwarz sind, da sie aus Druckerschwärze bestehen, ist dennoch klar genug, um der Spiegel zu sein, in dem mein Vaterland den Glanz seiner Bestimmung voraussehen kann.«

»Hört, hört!« rief der Oberst wohlgefällig. »Sagen Sie selbst, ist die blumenreiche Sprache meines Freundes nicht bewundernswert?«

»Allerdings«, gab Martin zu.

»Und hier ist der heutige ›Grobian‹, Sir«, bemerkte der Oberst und reichte ihm eine Nummer der Zeitung hin; »Sie werden daraus ersehen, daß Mr. Jefferson Brick auf seinem gewohnten Posten steht als Flügelmann des Fortschritts in der Avantgarde der menschlichen Zivilisation und sittlichen Ordnung.«

Er hatte sich inzwischen wieder auf den Tisch gesetzt, Mr. Brick nahm neben ihm Platz, und dann fingen beide an, tüchtig zu zechen. Dabei warfen sie des öfteren Martin, der gehorsam die bezeichneten Artikel las, und einander Blicke zu. Als dieser endlich die Zeitung niederlegte – die beiden Herren köpften inzwischen bereits die zweite Flasche –, fragte ihn der Oberst, was er davon halte.

»Aber das alles ist ja entsetzlich persönlich«, meinte Martin.

Der Oberst schien durch diese Bemerkung sehr geschmeichelt zu sein und sagte, er wolle das hoffen.

»Wir sind hierzulande nämlich freie unabhängige Männer, Sir«, erklärt Mr. Jefferson Brick, »und tun und lassen, was uns beliebt.« »Demnach müßte es logischerweise hierzulande auch viele tausend Leute geben, die gerade das Gegenteil von frei und unabhängig sind und die tun müssen, was ihnen nicht gefällt?« fragte Martin.

»In diesem Fall unterliegen sie eben dem gewaltigen Geist der volksbelehrenden Presse, Sir«, erklärte der Oberst; »allerdings lehnen sie sich von Zeit zu Zeit auf, aber im allgemeinen behaupten wir eine feste Herrschaft über unsere Bürger, sowohl im öffentlichen wie im Privatleben, und das ist ebensogut eine der veredelndsten Einrichtungen unseres Landes wie –«

»Wie die Negersklaverei eine ist«, ergänzte Mr. Brick.

»Sehr richtig«, bemerkte der Oberst.

»Darf ich«, sagte Martin stockend, »darf ich mir in betreff eines Falles, den ich hier gerade in Ihrem Blatte lese, eine Frage erlauben? – Geht nicht doch zuweilen die volksbelehrende Presse – ich bin wirklich in Verlegenheit, wie ich mich ausdrücken soll, ohne Sie zu beleidigen – auf Grund unrichtiger Informationen – auf Grund anonymer Briefe zum Beispiel«, setzte er hinzu, denn der Oberst blieb vollkommen ruhig und ließ sich nicht im mindesten aus der Fassung bringen, »oder auf Grund solcher Mitteilungen, die möglicherweise von Fälschern herrühren könnten, vor?«

»Gewiß, Sir«, gab der Oberst freimütig zu. »Hie und da kommt das gewiß vor.«

»Und das Volk – was sagt es dazu?«

»Es kauft die Zeitung«, antwortete der Oberst.

Mr. Jefferson Brick spuckte aus und lachte nur; ersteres reichlich, letzteres beifällig.

»Es kauft die Zeitung zu Hunderten und Tausenden Exemplaren. Ja, ja, wir sind eben ein famoses Volk hier und wissen Gerissenheit wohl zu schätzen.«

»Ist ›Gerissenheit‹ der amerikanische Ausdruck für Fälschung?« fragte Martin.

»Ach Gott«, meinte der Oberst, »es ist so der amerikanische Ausdruck für – so mancherlei, was ihr drüben mit andern Namen bezeichnet. Aber ihr in Europa seid ja überhaupt schwerfällig und unbeholfen. Aber was für einen Namen wir auch dafür wählen wollen« – der Oberst beugte sich nieder, um die dritte leere Flasche zu den beiden übrigen in eine Ecke zu rollen – »so vermute ich, daß die Kunst der Fälschung hierzulande gerade nicht erfunden wurde, Sir.«

»Das habe ich auch nicht behauptet«, versetzte Martin.

»Und ich denke, auch ebensowenig wie irgendeine andere Art von Gerissenheit.«

»Erfunden? Nein, das glaube ich nicht.«

»Nun«, sagte der Oberst lächelnd, »dann geben Sie ja selbst zu, daß wir alles von dem alten Lande drüben haben. Das alte Land trifft in diesem Falle der Vorwurf, nicht das neue. Übrigens damit basta. Also, wenn Sie jetzt gefälligst austrinken wollen, meine Herren, und vorausgehen, so werde ich das Bureau abschließen und Ihnen dann sofort nachkommen.«

Auf diesen nicht mißzuverstehenden Wink folgte Martin dem Kriegskorrespondenten, der mit majestätischen Schritten die Treppe voraus hinunterging. Der Oberst kam ihnen nach, und einen Augenblick später befanden sie sich wieder auf der Straße. Martin hätte am liebsten dem Obersten ein paar Fußtritte wegen seiner offenkundigen Unverschämtheit und Zudringlichkeit versetzt, und in seinen Mienen war auch etwas derartiges zu lesen, aber Mr. Diver kümmerte sich offenbar in seinem Selbstbewußtsein und seiner Machtstellung sehr wenig darum, was Martin oder sonst irgend jemand von ihm dachte. Seine gepfefferten Artikel waren lediglich auf Absatz berechnet und fanden auch die entsprechende Anzahl Abnehmer. Die Leser durften ihm daher bei ihrer ausgesprochenen Vorliebe für Klatsch und Unflat ebensowenig einen Vorwurf machen, wie ein Schlemmer für seine Ausschweifungen seinen Koch hätte verantwortlich machen dürfen, und nichts hätte überdies dem Oberst mehr Freude bereiten können, als wenn ihm jemand ins Gesicht gesagt hätte, daß ein Mann wie er sich in keinem andern Lande am hellichten Mittag auf der Straße blicken lassen dürfte. Er würde darin nur den Beweis gesehen haben, daß er seine Zeitung vortrefflich dem herrschenden Geschmack anzupassen wisse und er selbst eine echt nationale, amerikanische Erscheinung sei. So gingen sie eine Meile oder etwas darüber durch eine hübsche Straße, die, wie der Oberst sagte, Broadway hieß und, nach Mr. Jeffersons Erklärung, für das ganze übrige Universum einen Schlag ins Gesicht bedeutete. Schließlich bogen sie in eine der zahlreichen Gassen ein, die in diese Hauptstraße mündeten, und blieben zuletzt bei einem unscheinbaren Hause mit Jalousien vor den Fenstern stehen. Vor der grün angestrichenen Haustüre befand sich eine Treppe mit einem weißen Ornament an jeder Geländerseite, das wie ein versteinerter und polierter Tannenzapfen aussah. Über dem Klopfer war eine längliche Platte mit dem Namen »Pawkins« eingelassen, und vier Schweine blickten in der Gegend umher.

Mit der Miene eines Mannes, der zu Hause ist, klopfte der Oberst an die Türe, und gleich darauf steckte ein irisches Mädchen den Kopf aus einem der Dachfenster, um nachzusehen, wer unten sei. Während sie noch die Treppe herunterkam, hatten die Schweine mit zwei oder drei Kollegen aus der nächsten Straße Freundschaft geschlossen und wälzten sich friedlich zusammen in der Gosse.

»Ist der Major zu Hause?« fragte der Oberst eintretend.

»Meinen Sie den Master, Sir?« fragte das Mädchen schüchtern, da im Hause offenbar kein Mangel an Majoren war.

»Der Master!« rief Oberst Diver, blieb stehen und sah sich nach seinem Kriegskorrespondenten um.

»Da haben wir wieder die heillosen Mißbräuche aus dem alten England«, rief Mr. Jefferson Brick. »Master!«

»Warum ficht Sie dieses Wort so an?« fragte Martin.

»Der Ausdruck ist hierzulande verpönt«, erklärte Mr. Brick. »Man hört ihn höchstens noch aus dem Munde eines entarteten Dienstboten, dem die Segnungen unserer Regierung noch fremd und neu sind, wie dieser Magd hier. Bei uns gibt es keine ›Master‹.«

»Da gibt es also in Amerika nur ›Eigentümer‹?« fragte Martin.

Mr. Jefferson Brick folgte dem Herausgeber des »Grobian« und erwiderte kein Wort. Der Oberst ging voran in eine Stube im rückwärtigen Teil des Hauses zu ebener Erde, die hell und hübsch groß war, aber einen überaus ungemütlichen und ungastlichen Eindruck machte, da darin nichts zu sehen war als vier nackte, weiße Wände, die Zimmerdecke, ein ordinärer Teppich und ein entsetzlich langer Speisetisch, von einem Ende des Saales bis zum andern reichend, und eine ungeheure Menge von Rohrsesseln. Im Hintergrunde dieser Speisehalle stand ein Kamin – auf jeder Seite mit einem großen messingenen Spucknapf flankiert –, oder besser gesagt ein aus drei aufrecht stehenden eisernen Fäßchen zusammengestellter Ofen, die – hinter einer Art Umzäunung – sämtlich nach Art der siamesischen Zwillinge miteinander verbunden waren. Vor dem Feuer saß in einem Schaukelstuhl ein großer Gentleman, den Hut auf dem Kopf und eifrig damit beschäftigt, einmal links und einmal rechts in die Spucknäpfe zu spucken.

Ein Negerjunge, in eine schmutzige Jacke gekleidet, belegte gerade den Tisch mit zwei langen Reihen von Messern und Gabeln und stellte hie und da Krüge mit Wasser dazwischen. Als er die unterste Reihe der Tafel erreicht hatte, zog er mit seinen schmutzigen Pfoten das noch schmutzigere schiefgelegte Tischtuch zurecht, das seit dem Frühstück offenbar nicht entfernt worden war. Infolge der erstickenden Ofenhitze herrschte eine ungemein schwüle Atmosphäre im Zimmer, die überdies durch den penetranten Suppengeruch aus der Küche und den vorherrschenden Tabakgestank für die Sinne eines nicht daran Gewöhnten fast unerträglich war.

Der Gentleman in dem Schaukelstuhl kehrte den Eintretenden den Rücken und schien so sehr von seiner sinnigen Beschäftigung in Anspruch genommen, daß er ihrer gar nicht ansichtig wurde, bis der Oberst zu dem Ofen hinging und auch sein Scherflein in dem Spucknapf links deponierte. Major Pawkins blickte daraufhin mit der Miene stiller Mattigkeit auf, wie ein Mann, der die ganze Nacht über aufgewesen ist – ein Gesichtsausdruck, den übrigens Martin bereits am Obersten und an Mr. Jefferson Brick bemerkt hatte.

»Nun, Oberst?« fragte er faul.

»Ich habe Ihnen hier einen Gentleman aus England mitgebracht, Major«, versetzte der Oberst, »der sich bei Ihnen einmieten möchte, falls ihm der Preis zusagt.« »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir«, brummte der Major und streckte Martin, ohne einen Muskel seines Gesichtes zu verziehen, die Hand hin. »Wie geht es Ihnen?«

»Gut, ich danke«, antwortete Martin.

»In Amerika auch nicht gut anders möglich«, versetzte der Major, »hier bei uns scheint eben die Sonne.«

»Ich glaube mich erinnern zu können, daß ich sie bisweilen auch in meiner Heimat scheinen sah«, bemerkte Martin lächelnd.

»Das glaube ich nicht.«

Der Major sagte dies mit so stoischer Gleichgültigkeit, aber doch mit so entschiedenem Tone, daß die Sache damit abgetan zu sein schien; dann schob er seinen Hut ein wenig aufs Ohr, um sich bequemer den Kopf kratzen zu können, und begrüßte Mr. Jefferson Brick mit einem trägen Nicken.

Major Pawkins, der sich pennsylvanischer Abkunft rühmen konnte, zeichnete sich durch einen auffallend großen Schädel und eine breite gelbe Stirn aus, weswegen man ihn in Schenkstuben und andern öffentlichen Orten für einen Mann von ungeheurem Scharfsinn hielt. Höchst merkwürdig an ihm war auch sein schläfriger Blick und sein träges, schwerfälliges Wesen. Kurz, er war ein Mann, der, wie man sagt, viel Platz und Zeit braucht, um sich umzudrehen. Mit seinem Weisheitsschatze verfuhr er nach dem Grundsatze jener Krämer, die stets alle Waren, die sie besitzen, und noch mehr ins Schaufenster stellen, und das verfehlte bei seinem Anhang von Bewunderern nicht, einen großen Eindruck zu machen.

Wie Mr. Jefferson Brick Martin ins Ohr flüsterte, war Major Pawkins einer der hervorragendsten Köpfe des Landes. Und das beruhte auch auf Richtigkeit, denn er war ein großer Politiker, und sein einziger Glaubensartikel in bezug auf alle öffentlichen Verpflichtungen, bei denen Treu und Glauben und der gute Ruf seines Vaterlandes ins Spiel kamen, war: alle alten Geschichten mit einem Federstrich rasch abzumachen und dann wieder von neuem anzufangen. Das stempelte ihn zum Patrioten. Hinsichtlich Handel und Wandel war er ein kühner Spekulant, oder besser gesagt: ein Schwindelgenie. Er verstand es, aus dem Effeff Banken zu gründen, ein Anlehen zu placieren oder eine Landaktienkompagnie zusammenzutrommeln, die dann Verderben, Pest und Tod über Hunderte von Familien brachte. Das stempelte ihn zu einem bewunderungswürdigen Geschäftsmann. Überdies brachte er es zuwege, ganze Tage in Schenken zu verlungern und über Politik zu schwätzen und dabei mehr Zeit totzuschlagen, mehr Tabak zu kauen und zu rauchen, mehr Rumtoddy, Pfefferminzlikör und Cocktail zu konsumieren als irgendein Privatmann weit und breit. Das stempelte ihn zum Redner und Volksmann. Kurz, der Major war ein aufgehender Stern, ein populärer Charakter und auf dem schönsten Wege von der Volkspartei nach New York, wo nicht gar nach Washington selbst entsandt zu werden. Da jedoch der Wohlstand eines Mannes nicht immer gleichen Schritt hält mit seiner patriotischen Hingabe und betrügerische Unternehmungen ebensogut glücken wie nicht glücken können, so befand sich der Major zuweilen nicht gerade in den glänzendsten Verhältnissen. Das war auch der Grund, weshalb er augenblicklich, das heißt besser gesagt, seine Gattin, ein Kosthaus hielt, und er selbst seine Zeit mehr mit Herumlungern und Flanieren zubrachte als mit andern Dingen.

»Sie finden unser Land zur Zeit in einem Zustande kommerzieller Flauheit«, sagte der Major.

»Einer bedrohlichen Krisis«, setzte der Oberst hinzu.

»In einer Periode beispiellosen Stillstandes«, betonte Mr. Jefferson Brick.

»Sehr bedauerlich«, versetzte Martin, »hoffentlich wird es nicht lange dauern.«

Martin kannte Amerika noch nicht, sonst hätte er wissen müssen – wenn man den allgemeinen Versicherungen glauben darf –, daß es sich immerwährend in einer bedrohlichen Krisis befindet und auch nie anders befand, trotzdem öffentlich immer das Gegenteil behauptet und beschworen wird und es stets heißt, Amerika sei das glücklichste und gesegnetste Land auf Erden.

»Es wird hoffentlich nicht lange dauern«, wiederholte Martin.

»Nun, ich glaube«, meinte der Major, »auf irgendeine Weise werden wir schon wieder zurechtkommen.«

»Es ist ein elastisches Land«, rief der Herausgeber des »Grobian«. »Ein junger Löwe!« ergänzte Mr. Jefferson Brick.

»Was meinen Sie zu einem Bittern vor dem Essen, Oberst?« wechselte der Major das Thema. Da Mr. Diver mit großer Bereitwilligkeit auf diesen Vorschlag einging, beantragte Major Pawkins einen allgemeinen Aufbruch nach einer benachbarten Schenke, die, wie er bemerkte, sich gleich nebenan befände, und verwies Martin hinsichtlich Kost und Quartier an Mrs. Pawkins, die er beim Dinner, das sehr bald stattfinde, da man um zwei Uhr speise, also in einer Viertelstunde, kennenzulernen das Vergnügen haben werde. Dies erinnerte den Major daran, daß es höchste Zeit sei, noch schnell einen Bittern zu nehmen, und entschlossen erhob er sich daher, entfernte sich und überließ es seinen Gästen, ihm, wenn sie wollten, nachzukommen.

Als er von seinem Schaukelstuhle vor dem Kamin aufstand, wurde der Geruch nach kaltem Tabakrauch so lebhaft, daß kein Zweifel mehr herrschen konnte, er gehe hauptsächlich von seinen Kleidern aus; und als Martin hinter ihm her in die Schenke schritt, konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie sehr der große vierschrötige Major in seiner Trägheit einer großen Tabakpflanze glich oder einem Unkraut, das man am besten zum Wohle der übrigen Gewächse aus dem allgemeinen Mistbeet ausrotten müsse.

In der Schenkstube befanden sich noch andere Unkräuter dieser Art, alle so ziemlich von derselben Kategorie. Nachdem sie sodann den Bittern zu sich genommen, kehrten sie – Martin Arm in Arm mit Mr. Jefferson Brick und der Major und der Oberst Seite an Seite vorausgehend – nach Haus zurück. Als sie sich der Wohnung des Majors näherten, hörten sie plötzlich ungestüm eine Glocke läuten, und sofort stürzten der Oberst und der Major wie wahnsinnig fort, die Treppe hinauf und zu der offenstehenden Haustüre hinein, während Mr. Jefferson Brick sich von Martins Arm losmachte, nach derselben Richtung hineilte und verschwand.

»Gott im Himmel«, dachte Martin, »das Haus steht wahrscheinlich in Flammen. Es war eine Alarmglocke.«

Da aber weder Flammen noch Rauch oder sonstige Brandanzeichen zu bemerken waren, blieb er zögernd auf dem Pflaster stehen, während weitere drei Gentlemen mit allen Merkmalen des Schreckens und der Aufregung in den Gesichtern wild um die Straßenecke gestürmt kamen, die Treppe hinaufeilten, einen Augenblick um den Vortritt miteinander rangen und dann – ein wirrer Haufen von Armen und Beinen – in das Haus stürzten. Jetzt zögerte Martin nicht länger und folgte ihnen, aber trotz seiner Eile wurde er von zwei nachdrängenden Herren, die vor Aufregung fast wahnsinnig zu sein schienen, fast umgerannt und beiseite gestoßen.

»Wo ist es?« rief Martin atemlos einem Neger zu, dem er im Flur begegnete.

»Im Speisezimmer, Sar, Oberst sagen er Sitz reserviert neben ihm, Sar.«

»Einen Sitz?!« rief Martin.

»Beim Essen, Sar.«

Martin riß erstaunt die Augen auf und brach dann in ein lautes Gelächter aus, in das der Neger, wahrscheinlich aus Gutmütigkeit, oder um ihm als Fremdem einen Gefallen zu tun, so herzlich mit einstimmte, daß seine Zähne wie ein Lichtstreifen glänzten.

»Du bist der prächtigste Bursche, den ich noch hier gesehen habe, ha, ha, ha«, lachte Martin und klopfte dem Schwarzen auf den Rücken, »und machst mir mehr Appetit als alle Bittern der Welt zusammengenommen.«

Damit ging er in den Speisesaal und ließ sich auf einem Stuhl neben dem Obersten nieder, den dieser für ihn reserviert, das heißt an den Tisch gelehnt hatte. Es war eine zahlreiche Gesellschaft zugegen, achtzehn oder zwanzig Personen vielleicht, darunter fünf oder sechs Damen, die, zu einer kleinen Phalanx zusammengekeilt, gesondert saßen. Sämtliche Messer und Gabeln arbeiteten mit einer wahrhaft beunruhigenden Schnelligkeit. Man sprach nur wenig, und jeder tat hinsichtlich Essen sein Bestes; rein, als ob noch vor dem morgigen Frühstück eine Hungersnot zu erwarten sei. Das Geflügel, das offenbar den Glanzpunkt der Mahlzeit bildete – denn obenan standen ein Truthahn, unten ein paar Enten und in der Mitte ein paar Hühner – verschwand so schnell, als ob jeder der Vögel noch seine Schwingen besäße und wie im Schlaraffenland den Gästen in den Mund flöge. Die Austern, gedämpfte wie marinierte, hüpften schockweise von ihren Platten hinweg und zu Dutzenden in die Münder der Gesellschaft. Die schärfsten Mixed Pickles verschwanden im Handumdrehen und ganze saure Gurken auf einmal wie eingemachte Pflaumen; und keiner blinzelte auch nur mit den Wimpern. Berge unverdaulicher Stoffe schmolzen dahin wie Eis an der Sonne. Es war ein feierlicher und zugleich schauerlicher Anblick. Dyspepsiebehaftete Personen verschlangen große Teile ungekaut und fütterten damit nicht sich, sondern das Alpdrücken, das beständig in ihrem Nervensystem lauerte. Magere Burschen mit eingefallenen blassen Wangen zogen, trotzdem sie die schwersten Gerichte heruntergeschlungen, offenbar immer noch hungrig ab und warfen noch im Gehen sehnsüchtige Blicke auf das Backwerk. Was Mrs. Pawkins Tag für Tag zur Essensstunde leiden mußte, entzieht sich menschlichem Wissen, nur ein Trost blieb ihr: es ging rasch vorüber.

Als der Oberst mit dem Dinner fertig war, was ungefähr mit dem Zeitpunkte zusammentraf, wo Martin, der sich etwas von dem Truthahn hatte vorlegen lassen, zu essen begann, fragte er Martin, was er von den Kostgängern halte, die aus allen Teilen der Vereinigten Staaten zusammengeströmt seien, und ob er vielleicht Näheres über jeden einzelnen zu erfahren wünsche.

»Ja, sehr gern«, sagte Martin. »Bitte, wer ist zum Beispiel die krank aussehende Kleine vis-à-vis mit den kugelrunden, weit aufgerissenen Augen? Ich sehe hier niemanden, der ihre Mutter sein könnte oder die Aufsicht über sie zu haben schiene.«

»Meinen Sie die Matrone in Blau, Sir?« fragte der Oberst mit Nachdruck. »Das ist Mrs. Jefferson Brick, Sir.«

»Nein, nein. Ich meine das kleine Mädchen, das wie eine Puppe aussieht – gerade uns gegenüber –«

»Nun ja, Sir«, rief der Oberst, »das ist doch Mrs. Jefferson Brick!«

Martin sah dem Oberst ins Gesicht, ob er nicht vielleicht scherze.

»Was Sie sagen! Nun, da wird vermutlich nächstens ein junger Brick ankommen«, forschte er unsicher. »Es sind bereits zwei junge Bricks da«, versetzte der Oberst.

Die Dame sah nun aber so auffallend kindlich aus, daß Martin sich nicht enthalten konnte, es gegen den Oberst zu bemerken.

»Gewiß, Sir«, entgegnete dieser, »aber in manchen Ländern entwickelt sich eben die menschliche Natur sehr schnell und in andern bleibt sie zurück.«

»Jefferson Brick«, setzte er nach einer kurzen Pause zum Lobe seines Kriegskorrespondenten hinzu, »ist – einer der hervorragendsten Köpfe unseres Landes, Sir.«

Er sagte dies im Flüsterton, denn der vortreffliche Gentleman, auf den sich seine Worte bezogen, saß ganz in der Nähe.

»Bitte, Mr. Brick«, wendete sich Martin, mehr aus Höflichkeit als weil es ihn wirklich interessiert hätte, an diesen mit einer Frage: »Wer ist dieser – –« er wollte schon sagen »Junge«, hielt es aber für angebracht, schnell ein anderes Wort zu wählen – »jener auffallend kleine Gentleman dort mit der roten Nase?«

»Das ist Pro–fessor Mullit, Sir«, erwiderte Jefferson.

»Darf ich fragen, in welchem Fach er Professor ist?«

»Pädagogik, Sir.«

»Also wohl eine Art Lehrer?« wagte Martin zu bemerken.

»Er ist ein Mann von hoher moralischer Gesinnung, Sir, und ungewöhnlich begabt«, antwortete der Kriegskorrespondent. »Bei der letzten Präsidentenwahl sah er sich genötigt, seinen Vater an den Pranger zu stellen, weil dieser für eine der seinigen entgegengesetzte Partei stimmte. Er hat seitdem einige unerhört wirkungsvolle Flugschriften herausgegeben, und zwar unter dem Namen ›Suturb‹, umgekehrt: ›Brutus‹. Er ist einer – – der hervorragendsten Köpfe unseres Landes, Sir.«

Deren scheint es ja hier außerordentlich viele zu geben, dachte Martin.

Nach und nach erfuhr er, daß nicht weniger als vier Majore, zwei Oberste, ein General und ein Kapitän anwesend seien, so daß er sich schließlich des Gedankens nicht erwehren konnte, es müsse in der amerikanischen Armee nur Offiziere und gar keine Gemeinen geben. Jeder der Anwesenden schien einen Titel zu haben, und diejenigen, die keinen militärischen Rang bekleideten, waren entweder Doktoren, Professoren oder geistliche Würdenträger. Drei höchst unfreundlich aussehende Gentlemen mit ordinären Gesichtszügen befanden sich als Emissäre benachbarter Staaten hier, der eine zwecks Ordnung finanzieller Angelegenheiten, der andere in politischen Aufträgen und der dritte als Missionar irgendeiner Sekte. Der Kreis der Damen setzte sich aus Mrs. Pawkins, einer hagern, knochigen und schweigsamen Person, dann einer Greisin mit scharfen Gesichtszügen, die sich höchst lebhaft über Frauenrechte aussprach und bereits darüber allerlei Vorlesungen gehalten hatte, und noch einigen andern Damen zusammen, deren Seelen man ganz gut miteinander hätte vertauschen können, ohne daß es ihnen selbst oder jemand anderm aufgefallen wäre. Übrigens waren diese letztern die einzigen unter den Anwesenden, die nicht zu den »hervorragenden Köpfen des Landes« gehörten.

Als die Mahlzeit vorüber war, entfernten sich die Herren einer nach dem andern, sämtlich kauend, und machten in der Regel noch eine Sekunde am Kamine halt, um sich der Spucknäpfe zu bedienen. Nur einige gesetztere blieben noch eine volle Viertelstunde bei Tisch und erhoben sich erst, als die Damen aufstanden.

»Wohin gehen die Herrschaften?« fragte Martin Mr. Jefferson Brick.

»In ihre Zimmer, Sir.«

»Findet denn hier kein Dessert oder ein anderer Anlaß zu einer Unterhaltung statt?« fragte Martin, der sich gerne nach seiner langen Reise ein wenig ausgeruht hätte.

»Wir sind ein geschäftiges Volk, Sir, und haben keine Zeit dazu«, lautete die Antwort.

Und so defilierten denn die Damen, eine nach der andern, vorüber und hinaus, und Mr. Jefferson Brick und die übrigen verheirateten Herren verabschiedeten sich von ihren Ehehälften mit einem kurzen gleichgültigen Nicken. Martin kam dieser Brauch etwas seltsam vor, jedoch behielt er seine Meinung für sich, da er lieber zuhören und aus dem Gespräche der Herren etwas lernen wollte, die sich jetzt aufatmend um den Kamin versammelten, als sei ihnen durch den Abgang des schönen Geschlechts ein Stein vom Herzen gefallen, und von den Spucknäpfen und ihren Zahnstochern reichlich Gebrauch machten. Die Konversation bot eigentlich nur wenig Interessantes und drehte sich im allgemeinen lediglich um Geld. Alle Sorgen, Hoffnungen, Freuden, Neigungen, Tugenden und Verhältnisse schienen unzertrennlich vom Dollar zu sein. Was immer für Stoffe in den träge brodelnden Kessel des Gesprächs geworfen wurden, immer mußte der Brei mit Dollars dick und fett gemacht werden. Die Menschen wurden nach Dollars abgewogen, die Maße nach Dollars geeicht, und als Kunst galt nur die Fähigkeit, die Dollars zu vermehren. Je mehr einer von dem wertlosen Ballast »Ehrenhaftigkeit und Ehrlichkeit« aus dem guten Schiff seines Namens und Gewissens über Bord warf, desto mehr Packraum blieb ihm für Dollars. Das Wort Handel war nur eine Umschreibung für eine große Lüge und einen großartigen Diebstahl; die Nationalflagge, ein alberner Fetzen, befleckt Stern um Stern, und Streifen um Streifen riß man herab wie einem degradierten Soldaten die Ehrenzeichen; alles des Dollars wegen.

Derjenige war der größte Patriot, der am lautesten schrie und sich am wenigsten um Recht und Billigkeit kümmerte.

Ein eingefleischter Freund von Fuchsjagden wird bei fast allen Jagdritten Hals und Glieder an das Gelingen wagen, und ähnlich war es auch bei diesen Gentlemen. In ihren Augen galt derjenige als der größte Patriot, der am lautesten prahlte und vor keinem Mittel zurückscheute, und so erfuhr Martin in den ersten fünf Minuten des Gesprächs am Kamin, daß es als eine glänzende Tat galt, Pistolen, Stockdegen und andere friedliche Werkzeuge mit in öffentliche Versammlungen zu nehmen und seinem Gegner an die Gurgel zu fahren wie eine Ratte oder ein Hund. Und alles das galt nicht als Verletzung der Freiheit, sondern war Weihrauch auf ihren Altären, der den patriotischen Nasenlöchern lieblich duftete und sich in die Höhe kräuselte bis zum siebenten Himmel des Ruhmes.

Als Martin ahnungslos und unbefangen gewisse Fragen, wie sie ihm eben einfielen, über Nationaldichter, Theater, Literatur und schöne Künste stellte, da bedeutete ihm ein Kapitän, der aus den westlichen Distrikten stammte: »Wir sind ein geschäftstreibendes Volk, Sir, und haben keine Zeit, uns mit dem Lesen von Phantastereien abzugeben. Was geht das alles uns an, wo wir so gewaltigen Stoff anderer Art in den Zeitungen lesen können! Hol der Teufel eure Bücher!«

Ganz besonders dem General schien der bloße Gedanke, man könne etwas lesen, was nicht mit Handel oder Politik zu tun habe und nicht in einer Zeitung stehe, solche Übelkeit zu bereiten, daß er fragte, ob denn keiner von den Herren eines hinter die Binde gießen wolle. Der Vorschlag fand solchen Beifall, daß die Gesellschaft fast unverzüglich aufbrach und sich in die nächste Schenke begab und von da wahrscheinlich in ihre Kontors oder wieder in andere Schenkstuben, um aufs neue vom Dollar zu sprechen und ihren Geist durch Zeitungstratsch oder leeres Strohdreschen zu bilden, bis die Zeit des Gähnens im Familienkreis herannahte.

Vergebens mühte sich Martin ab, die Frage zu lösen, ob die Leute in Amerika wirklich so viel zu tun hätten, wie sie vorgaben, oder ob sie nur häusliche und gesellige Vergnügungen nicht recht zu würdigen verstanden. Grübelnd und sehr deprimiert setzte er sich an dem leeren Tisch nieder. Der Gedanke an alle die Schwierigkeiten, die ihm noch bevorstehen mochten, und die Ungewißheit seiner Lage machte ihn immer verzweifelter und erpreßte ihm manchen schweren Seufzer.

Nun hatte ein Mann in mittleren Jahren mit dunklen Augen und sonnenverbrannter Stirne, der schon vorher durch den ehrlichen Ausdruck seines Gesichtes Martins Aufmerksamkeit auf sich gezogen, an dem Dinner teilgenommen. Von den andern Herrn nicht weiter beachtet und auch nicht ins Gespräch gezogen, war er zurückgeblieben, und als er jetzt Martin so laut seufzen hörte, ließ er eine gleichgültige Bemerkung fallen, als wünsche er, ohne jedoch aufdringlich zu erscheinen, mit ihm bekannt zu werden. Diese Absicht war so ins Auge springend und dabei doch so taktvoll ausgedrückt, daß Martin es tief empfand und auch im Ton seiner Antwort zu verstehen gab.

»Ich will Sie nicht fragen«, sagte der Gentleman lächelnd, erhob sich und rückte etwas näher, »wie es Ihnen in meinem Vaterland gefällt, denn ich kann mir Ihre Meinung darüber schon selber vorstellen. Da ich jedoch Amerikaner bin und daher notgedrungen mit einer Frage beginnen muß, so bitte, sagen Sie mir doch, was halten Sie von dem Oberst?« »Sie kommen mir so herzlich entgegen«, erwiderte Martin, »daß auch ich mir kein Blatt vor den Mund nehmen will und Ihnen ruhig eingestehen kann: er gefällt mir ganz und gar nicht. Wenn ich auch hinzusetzen muß, daß ich ihm für seine Liebenswürdigkeit verbunden bin, denn er war es, der mich hierhergebracht hat und es mir durch seine Fürsprache ermöglichte, unter anständigen Bedingungen hier unterzukommen.«

»Nun, deswegen brauchen Sie ihm nicht zu Dank verpflichtet zu sein«, versetzte der Fremde trocken. »Ich weiß, hie und da entert der Oberst einmal ein Paketschiff, um die neuesten Nachrichten für seine Zeitung einzuholen, und dann bringt er bei solchen Gelegenheiten zuweilen auch Fremde hierher. Er bezieht dafür gewisse kleine Prozente, die ihm dann von seiner Wirtin von seiner Wochenrechnung in Abzug gebracht werden. Ich habe Sie doch nicht verletzt?« setzte er hinzu, als er bemerkte, daß Martin das Blut in die Wangen stieg.

»Aber, mein werter Herr«, versetzte Martin und schüttelte die ihm dargebotene Hand des Fremden, »ist so etwas denn wirklich möglich? Um die Wahrheit zu gestehen, ich – ich – bin –«

»Nun?« fragte der Gentleman und nahm neben ihm Platz.

»Also, um ganz offen zu sein«, sagte Martin, langsam seine Scheu überwindend, »ich begreife gar nicht, wie kann nur so jemand frei herumlaufen, ohne sich nicht jeden Tag eine Tracht Prügel zuzuziehen.«

»Nun, ein- oder zweimal ist es ihm auch schon passiert«, bemerkte der Gentleman ruhig. »Er gehört eben zu jener Klasse von Menschen, deren Gefährlichkeit für unser Land Benjamin Franklin schon am Schlusse des vorigen Jahrhunderts voraussagte. Sie wissen, in wie strengen Ausdrücken Franklin sich dahin äußerte, daß, wer von einem Schuft wie diesem Obersten zum Beispiel verleumdet würde und in der Handhabung der Gesetze oder in dem Rechtlichkeitsgefühl der öffentlichen Meinung kein genügendes Schutzmittel fände, unbedingt das Recht haben müsse, zum Stock zu greifen und sich selbst Recht zu verschaffen.«

»Ich wußte das nicht«, rief Martin, »aber es freut mich sehr, es zu erfahren, und ich glaube, es ist Franklins Andenken und seines Ruhmes würdig; besonders –« er zögerte abermals. »Fahren Sie nur fort«, munterte ihn der Gentleman lächelnd auf, als wüßte er genau, was Martin auf der Zunge habe.

»Besonders«, fuhr Martin fort, »da ich mir wohl denken kann, daß selbst zu seiner Zeit großer Mut dazu gehört haben muß, so offen seine Meinung zu äußern, ohne daß einem eine Partei den Rücken deckte.«

»Ohne Zweifel ein gewisser Mut«, gab der Amerikaner zu. »Sie glauben also auch, daß sogar jetzt noch Mut dazu gehören würde?«

»O gewiß, und noch dazu nicht wenig!«

»Sie haben recht – und zwar so recht, daß, wenn ein zweiter Juvenal oder Swift heute unter uns aufstände, man ihn in Stücke reißen würde. Wenn Sie in unserer Literatur bewandert sind und mir einen gebürtigen bei uns aufgewachsenen Amerikaner zu nennen imstande sind, der unsere Torheiten – und zwar die des Volkes, nicht die der einen oder andern Partei – aufgedeckt und gegeißelt hat, ohne nicht von der brutalsten und niederträchtigsten Verleumdung, dem verstocktesten Haß und der wütendsten Unduldsamkeit verfolgt worden zu sein, so müßte ich zugeben, daß mir der Name eines solchen Mannes ganz neu und fremd klingen würde; das können Sie mir glauben. Ich könnte Ihnen gewisse Fälle namhaft machen, in denen es einheimische Schriftsteller ganz harmloser- und gutmütigerweise versucht haben, unsere Mängel und Fehler aufzudecken; und was war die Folge? Sie sahen sich genötigt zu veröffentlichen, daß in einer zweiten Ausgabe die betreffende Stelle ausgelassen, abgeändert, umgedeutet oder in Lob verwandelt worden sei.«

»Und wieso ist es denn überhaupt soweit gekommen?« fragte Martin voller Ekel.

»Denken Sie über das nach, was Sie heute gesehen und gehört haben. Fangen Sie mit dem Obersten an und fragen Sie sich selbst«, erwiderte der Fremde. »Wo solche Elemente existieren, muß es schließlich soweit kommen. Wie die so weit gekommen sind, ist allerdings eine andere Frage. Gott verhüte, daß sie noch die Repräsentanten der maßgebenden Kreise in Amerika werden. Jedenfalls spielen sie heute bereits eine große Rolle, sind äußerst zahlreich und kommen leider nur zu oft in die Lage, das Volk zu vertreten. Wollen Sie übrigens nicht einen Spaziergang mit mir machen?«

Im ganzen Wesen des Mannes lag soviel herzliche Offenheit und zugleich das Vertrauen, daß man sie nicht mißbrauchen werde –, ein gewisses männliches Auftreten und ein schlichtes Überzeugtsein von der Ehrenhaftigkeit des Nächsten, daß Martin mit Vergnügen einwilligte.

Es sind jetzt ungefähr vierzig Jahre her, seit ein Reisender mit einem Namen vom besten Klang diese Küsten betrat und wie mancher andere seitdem erkannte, welche Schmach und Schande Amerikas Banner beflecken, wie er es sich vorher wohl nicht im entferntesten hatte träumen lassen.

Männer wie Martins neuen Bekannten mußte er wohl mit den Worten gemeint haben:

Für die erstirbt gar bald Columbias Glorienschein,
der, wie ein Wassertrieb in Kellerluft ersprossen,
faul bis ins tiefste inn’re Sein, erstirbt,
noch eh des Frühlings Tage sind verflossen.