25. Kapitel

Handelt zum Teil von Berufsangelegenheiten und gibt dem Publikum manchen wertvollen Wink, wie man Kranke pflegt

Umringt von seinen Penaten, genoß Mr. Mould in stiller Wonne das beseeligende Glück häuslicher Ruhe. Da der Tag schwül und das Fenster offen war, hatte Mr. Mould seine Beine auf das Fensterbrett gelegt und lehnte sich mit dem Rücken an den offenen Laden; über seine schimmernde Glatze hatte er der Fliegen wegen ein Schnupftuch gebreitet. Im Zimmer duftete es würzig nach Punsch, und ein großes, mit diesem lieblichen Getränk gefülltes Gefäß stand im Handbereich auf einem runden Tischchen. So trefflich war der Trank gemischt, daß, wenn Mr. Moulds Auge in das kühle, durchscheinende Naß blickte, ein zweites Auge hinter der Zitronenschale hervor ihm hell wie ein Stern entgegenfunkelte.

Mr. Moulds Etablissement lag weit drin in der City im Cheapviertel. Sein Harem, oder besser gesagt, das Wohnzimmer von Mrs. Mould und Familie lag nach rückwärts hinaus über dem kleinen Comptoir hinter dem Laden mit der Aussicht auf einen kleinen schattigen Friedhof. In diesem traulichen Stäbchen nun saß Mr. Mould und blickte als zufriedener und friedlicher Mann auf seinen Punsch und sein häusliches Besitztum. Wenn sein Auge für eine Sekunde nach weiterer Aussicht umherspähte, um dann mit erneutem Eifer zu den Ergötzlichkeiten des Gemaches zurückzukehren, wanderte sein feuchter Blick wie ein Sonnenstrahl durch ländlich schlichtes Gitterwerk von Feuerkresse, die an gespannten Bindfäden vor dem Fenster in die Höhe rankte, hinaus, und mit der Miene eines Künstlers schaute er auf die Gräber nieder.

In seiner Gesellschaft befanden sich sein Ehegespons und seine beiden Zwillingstöchter. Jede der Misses Mould war fett wie ein Rebhuhn, und Mrs. Mould fetter als beide zusammengenommen. Ihre stattlichen Proportionen waren so voll und rund wie die Leiber zu den Engelsgesichtern unten im Laden. Nur ausgewachsener. Selbst ihre Pfirsichwangen waren aufgeblasen, als seien sie von Rechts wegen bestimmt, in himmlische Posaunen zu stoßen.

Zärtlich blickte jetzt Mr. Mould auf seine dicht neben ihm sitzende Gattin, die ihm bei seinem Punsch wie in allen andern irdischen Dingen treu zur Seite stand. Die seraphinischen Töchter erfreuten sich gleichfalls ihres Anteils seiner Zuneigung und lächelten ihm von Zeit zu Zeit freundlich zu. So gesegnet war Mr. Moulds Besitzstand, so groß die Menge der zu seinem Beruf gehörigen Handelsartikel, daß selbst hier, mitten im Allerheiligsten seiner Häuslichkeit, ein Wandschrank aus Mahagoni stand, der mit Leichentüchern, Totenhemden und anderer Grabwäsche bis zum Rande angefüllt war. Trotzdem die Misses Mould gleichsam unter den Augen dieses bedeutungsvollen Möbels aufgewachsen waren, so hatte es doch keinen Schatten auf ihre Kinderjahre oder die fröhliche Zeit ihrer blühenden Mädchenschaft zu werfen vermocht. Von der Wiege auf gewöhnt, Einsegnungs- und Begräbnisszenen zu spielen, waren die Misses Mould gegen dergleichen abgehärtet. Trauerflore bedeuteten für sie nur soundso viele Ellen Seide oder Krepp und die Totenhemden nur ein Stück Leinwand. Von dem Schauspielerrock, dem Kleide einer Hofdame oder einer Parlamentarierrobe konnten sich die Misses Mould allenfalls noch romantische Ideen machen, aber Bahrtücher waren für sie etwas ganz Banales; fertigten sie sie doch zuweilen selber. Mr. Moulds Wohnung war gegen das Getöse in den Hauptstraßen fast ganz und gar abgeschlossen. Sie lag in einem stillen Winkel, wo der Lärm der City zu einem schläfrigen Summen herabsank, das dann und wann anstieg, dann wieder leise wurde und manchmal ganz verstummte, so daß man glauben konnte, in dem geräuschvollen Verkehr von Cheapside sei plötzlich eine Stockung eingetreten. Funkelnd und blinzelnd fiel das Tageslicht durch das Spalier von Feuerkresse herein, als ob der Friedhof draußen Mr. Mould vertraulich zuwinkte und sagte: »Wir verstehen einander, was?« Und aus einem entfernt liegenden Gewölbe tönte das liebliche Klopfen des Sargtischlergehilfen mit seinen melodischen Hammerschlägen, rat, tat, tat, tat, und wirkte ebenso förderlich auf den Schlummer wie auf die Verdauung.

»Ganz wie das Gesumme sommerlicher Insekten«, murmelte Mr. Mould und schloß wollüstig die Augen. »Es gemahnt einen an die Laute der belebten Natur draußen in den ackerbautreibenden Distrikten; es ist wie das Klopfen des Baumspechts.«

»Am Ulmenbaum klopfet der Specht«, trällerte Mrs. Mould, den Text des Volksliedes durch das Wort Ulme bereichernd, aus welchem Holz bekanntlich die Särge angefertigt werden.

»Ha ha ha«, lachte Mr. Mould, »famoser Witz, meine Liebe. Wirklich sehr gut, ich habe schon viel schlechtere in den Sonntagsblättern gelesen.«

Höchst aufgeräumt ob dieses Lobspruchs nahm Mrs. Mould einen herzhaften Schluck Punsch und reichte dann das Glas ihren Töchtern hin, die ehrerbietig ihrem Beispiel folgten.

»Ulmenbaum«, wiederholte Mr. Mould und zappelte aus Freude über den hübschen Spaß ein wenig mit den Beinen. »Im Liede ist’s, glaube ich, eine Buche, was? Ja ja, natürlich, ha ha ha, wirklich einer der besten Witze, die ich je gehört habe.«

Die Variante mit der Ulme schien ihm so ungemein zu gefallen, daß er sie gar nicht vergessen konnte und vielleicht zwanzigmal hintereinander vor sich hin murmelte: »Ulme, ha ha, natürlich, haha! Meiner Seel, das sollte man einem Witzblatt einschicken! Der beste Scherz, den ich je gehört habe. Ulme! Ja ja, natürlich, ha ha ha!«

Da klopfte es plötzlich an die Stubentüre.

»Das ist Tacker«, rief Mrs. Mould, »ich erkenne ihn an seinem Schnaufen. Wenn man ihn so hört, sollte man glauben, daß er immer genug Wind hat, um allein die Trauerfederbüsche zum Wehen zu bringen – kommen Sie nur herein, Tacker!«

»Bitt um Entschuldigung«, murmelte Tacker und spähte zur Tür herein. »Ich hab gemeint, der Herr wäre hier.«

»Na ja, ich bin ja auch hier«, meldete sich Mr. Mould.

»Meiner Seel, ich hab Sie gar nicht gesehen«, sagte Tacker und steckte den Kopf ein wenig weiter zur Türe herein. »Ich denk, es wird Ihnen wahrscheinlich nicht passen, einen Auftrag für ein ordinäres Begräbnis anzunehmen. Gemeines Fichtenholz und eine Blechplatte.«

»Nein, nein«, entgegnete Mr. Mould, »viel zu ordinär. Ausgeschlossen.« »Ich hab auch gleich gesagt, es sei zu schofel«, bemerkte Mr. Tacker.

»Sagen Sie nur den Leuten, sie sollten sich zu jemand anderem bemühen. Ich nehme keine solchen Aufträge an«, grollte Mr. Mould, »eine Unverschämtheit, mir mit so was zu kommen. Wer ist’s denn übrigens?«

»Hm«, meinte Tacker stockend, »sehen Sie, das ist’s ja eben; es ist der Schwiegersohn vom Kirchspieldiener.«

»Ach so, der Schwiegersohn vom Kirchspieldiener«, sagte Mould, »na gut, dann will ich’s ausnahmsweise übernehmen, vorausgesetzt, daß der Kirchspieldiener selbst in seinem dreieckigen Hut mitgeht, sonst aber nicht. Dann hat’s wenigstens einen dienstlichen Anstrich, und man kann die Sache vor sich selber rechtfertigen; aber wohlverstanden: der dreieckige Hut muß mit.«

»Ich werd’s ausrichten, Sir«, erwiderte Tacker. »Ja, und dann ist auch noch Mrs. Gamp unten und wünscht mit Ihnen zu sprechen.«

»Sie soll heraufkommen«, sagte Mould. »Ah, da sind Sie ja, Mrs. Gamp! Nun, Mrs. Gamp, was bringen Sie uns Neues?«

Die würdige Dame war inzwischen eingetreten und machte Mrs. Mould ihren Knicks. Im Augenblick erfüllte ein eigentümlich würziger Duft das Zimmer, als sei eine Fee, die lang in einem Weinkeller eingesperrt gewesen, vorbeigeflogen und habe das Aufstoßen gekriegt.

Mrs. Gamp antwortete nicht auf Mr. Moulds Frage, sondern machte abermals einen Knicks, hob die Hände in die Höhe und blickte gen Himmel, wie in einem Dankgebet, daß sie Mrs. Mould so wohl aussehend finde. Sie war sauber, wenn auch nicht festtäglich gekleidet und trug den Trauerrock, in dem schon Mr. Pecksniff das Vergnügen gehabt hatte, sie kennenzulernen.

»Es gibt halt scho so glückliche Leut«, bemerkte Mrs. Gamp, »wo mit der Zeit immer jünger werden, und da ghörn Sie auch dazu, Mrs. Mould. So jemandem kann halt die Zeit nix anhaben. Solche Leut bleiben halt immer jung. Noch vor kurzem hab i zu der Harris gsagt«, fuhr Mrs. Gamp fort, »grad am letzten Montagabend vor vierzehn Täg hab i zu der Harris gsagt, grad als sie zu mir gsagt hat, die Jahre und unsre Leiden, Frau Gamp, hat s‘ gsagt, gehen niemals nicht spurlos an uns vorüber. Reden S‘ net so, liebe Harris, hab i gsagt, wann mir gute Freund bleiben solln, denn dös kann net a jeds von sich behaupten. Schauen S‘, die Frau von Mould, hab i gsagt, und i bin so frei, den Namen zu wiederholen« – wieder machte sie einen Knicks – »is eine von denen, wo schnurstracks ein Beweis für das Gegenteil sin, und niemals, liebe Harris, hab i gsagt, so lang i noch an Atemzug machen kann, kann i Ihna deswegen recht geben. – ›Na ja, dös is was anders‹, hat die Harris gesagt, ›da geb i Oma gern nach, und übrigens, wenn je a Frauensperson glebt hat, wo sich für ihre Mitmenschen die Füß ablaufen möcht, so heißt diese Frauensperson Sarah Gamp.‹«

Hier mußte die würdige Dame einen Augenblick innehalten, um Atem zu holen, und wir wollen diese Pause benützen, um zu bemerken, daß ein undurchdringliches Geheimnis die sagenhafte Mrs. Harris umgab. Niemand aus den Kreisen von Mrs. Gamps Bekanntschaft hatte sie jemals gesehen, noch wußte ein menschliches Wesen, wo sie wohnte, obgleich Mrs. Gamp beständig mit ihr in Verbindung zu stehen schien. Die widerstreitendsten Gerüchte waren diesbezüglich im Umlauf, doch herrschte die Ansicht vor, Mrs. Harris sei ein Phantom und Mrs. Gamps Gehirn entsprungen, ähnlich wie das Daimonion des Sokrates, und ausdrücklich zu dem Zwecke geschaffen, mit Mrs. Gamp visionäre Zwiegespräche zu halten und jedesmal mit einem Kompliment auf ihre Vortrefflichkeit zu schließen.

»Und jetzt gar die Freud«, fing Mrs. Gamp wieder an und wandte ihren tränenumflorten Blick den beiden Misses Mould zu, »die zwei jungen Damen zu sehen, wo i scho kennt hab, wo s‘ noch kan Zahn net im Mund ghabt ham. I weiß noch wie heut, wie s‘ in der Werkstatt drunten Begrabn gspielt haben und das lange Bestellbuch in der eisernen Kisten zur ewigen Ruh bestattet ham. O mein, wo sin die Zeiten, Mr. Mould! Net wahr, Mr. Mould?«

»Veränderung ist der Lauf der Zeit, Mrs. Gamp«, versetzte der Leichenbestatter.

»Es werden noch viel mehr Veränderungen kommen, eh’s mit der Veränderung a End hat«, scherzte Mrs. Gamp mit schalkhaftem Nicken. »So junge Damen mit so hübsche Gesichter denken auch an was anders als ans Begrabn, meinen S‘ net auch, Mr. Mould?«

»Da kann ich Ihnen wirklich keine Auskunft geben, Mrs. Gamp«, kicherte Mould, »nicht schlecht von Mrs. Gamp, was meine Liebe?«

»Ach ja, Sie wissen’s ja ganz gut«, sagte Mrs. Gamp, »und Mrs. Mould, Ihre hübsche Ehehälfte, weiß es auch, und i selbst weiß es ebenfalls, wann mir auch der Segen, a Töchterl zu haben, versagt geblieben is. Na ja, i bitt Ihna, und wann mir auch a Töchterl kriegt hätten, der Gamp hätt ihm gewiß die klanen Schuh von die Füß weg versoffen, wie er’s nachher mit unserm lieben Buam tan hat. I denk’s noch wie heut. Da hat er den Buam fortgeschickt, er soll eam seinen Stelzfuß verkaufen und Schnaps dafür holen. Und der Bub hat’s tan, und merkwürdig gscheit für seine Jahre hat er’s gmacht, aber nachher hat er’s beim Anmäuerln verlurn und is nach Haus kemman und hat gflennt und hat gsagt, er wollt ins Wasser gehen, wann wir nur wieder gut wären – o mein; Sie wissen ja, Mr. Mould.«

Mrs. Gamp wischte sich mit ihrem Schal eine Träne aus dem Auge. »Es steht noch so manchs andre in die Zeitungen, wie Geburten und Begräbnisse. Net wahr, Mr. Mould?«

Mr. Mould blinzelte seiner Gattin, die sich ihm inzwischen auf den Schoß gesetzt, zu und sagte: »Ohne Zweifel. Noch viele andere Dinge, Mrs. Gamp. – Wie spaßhaft Mrs. Gamp heute aufgelegt ist, was, meine Liebe?«

»Heiraten, zum Beispiel«, scherzte Mrs. Gamp und zwinkerte den beiden Töchtern zu. »Gott gebe ihnen Glück und Segen. Sie wissen’s ganz gut – Sie haben auch verstanden, was dös heißt, und Mrs. Mould auch, wie Sie beide noch in dem Alter waren. Aber o mein, Sie sin halt beide noch jung, und was Sie und Mrs. Mould betrifft – wenn Sie amal a paar Enkerln –«

»Aber, aber, Mrs. Gamp, Unsinn!« wehrte der Leichenbestatter ab. »Wie spaßhaft sie heute ist!« rief er leise – »meine Liebe –« setzte er laut hinzu, »Mrs. Gamp möchte vielleicht ein Gläschen Rum! Nehmen Sie doch Platz, Mrs. Gamp.«

Mrs. Gamp setzte sich auf den Stuhl dicht neben der Türe, blickte zur Decke empor und tat äußerst zerstreut, bis ihr eine der jungen Damen ein Gläschen Rum überreichte. Dann schien sie aufs äußerste überrascht.

»Na, wirklich«, sagte sie zu Mrs. Mould, »so was kommt selten bei mir vor. Außer, wann i net wol bin und mi meine Quart Bier im Magen druckt. Die Harris sagt immer – ›Gamp‹, hat’s neulich gsagt, ›na wirklich, i verstehe Ihna nöt.‹ Liebe Harris, sag i nacher immer, wieso denn nöt? Nur raus mit der Sprach. ›Offen gestanden, liebe Gamp‹, sagt nacher die Harris, ›auf Ehr und Seligkeit, i kann net verstehn, wie a Frau, wie Sie, als Kranken- und Kindbettwärterin mit so wenig Trinken auskommen kann.‹ Ja mein, liebe Harris, sag ich nacher, keins von uns weiß, was es aushalten kann, bevor’s es net ausprobiert hat. Wie mein Mann selig noch glebt hat, hab i a immer so daher gredt, aber jetzt komm i mit am Quart Bier ganz gut aus. Nur frisch vom Faß muß kemman. Aber ob i jetzt Kranke pfleg oder Wöchnerinnen, liebe Harris, i tu immer mei Pflicht. I bin a arms Weib und muß mei Brot schwer verdiena und drum muß i drauf bestehn, daß mein Quart Bier immer regelmäßig vom Faß kemmt. Dös gesteh i zu.«

Der logische Zusammenhang zwischen diesen Bemerkungen und dem Glase Rum war nicht sehr einleuchtend. Mrs. Gamp ließ sich auch nicht weiter darüber aus, sondern beschränkte sich nur auf die Worte: »Auf Ihner Wol, meine Herrschaften«, und stürzte dann den Tropfen kunstgerecht hinunter.

»Und was bringen Sie uns für Neuigkeiten?« fragte Mr. Mould, während Mrs. Gamp sich die Lippen mit dem Halstuch abwischte und ein Stückchen Zwieback benagte, das sie als Gegengift gegen aufgedrungene Schnäpse in der Tasche zu führen schien, »wie geht’s zum Beispiel Mr. Chuffey?«

»Dem Chuffey«, erklärte Mrs. Gamp, »geht’s wie immer; net schlechter und net besser. Aber schön is doch von dem jungen Herrn, daß er Ihna gschrieben hat: ›Lassen S‘ ’n pflegn von der Gamp, bis i wieder komm.‹ Er is halt immer gut und hat a weichs Herz, ’s gibt net viel solchene. Na ja, sonst wären ja auch die Kirchen überflüssig.«

»Und worüber wollten Sie eigentlich mit mir sprechen, Mrs. Gamp?« fragte Mr. Mould, zur Sache kommend. »Von nix anders als von dem«, entgegnete Mrs. Gamp. »I dank der Nachfrag. Es is a Herr im Ochsen zu Holborn krank wordn und liegt jetzt fest im Bett. Ma hat a Tagwärterin holen lassen vom Bartholomäspital. I bin mit ihr bekannt, Mr. Mould, und sie heißt Prig und is a kreuzbrave Haut. Aber für die Nacht ist sie anderswo vergeben jetzt, und drum brauchen s‘ jetzt drüben jemand anders zum Nachtwachen. Mir sin jetzt scho zwanzg Jahr gute Freundinnen, und deshalb hat s‘ gsagt: die nüchternste Person weit und breit, gradezu a Segen für a Krankenzimmer, is die Gamp. Schicken S‘ an Laufbubn nach Kingsgate, hat s‘ gsagt, und schaun S‘ zu, daß Sie die Gamp um jeden Preis kriegen. Die is net mit Gold aufzuwiegn. Na, und der Wirt hat mir’s gsagt und hat gmeint, es wär a angenehmer Platz, und da ziemlich was dabei rausschaugt, sollet i’s annehmen. Net um alles in der Welt, hab i gsagt, net ohne daß der Mr. Mould was davon weiß. Früher is net dran zu denken. Aber i will zu eahm gehn, hab i gsagt, und eahm fragen, was er meint« – dabei warf sie einen Blick nach dem Leichenbestatter und hielt lauschend inne.

»Nachtwachen, so?« brummte Mould und rieb sich das Kinn.

»Von acht Uhr abends bis acht Uhr früh, net damit Sie glauben, i sag Ihna die Unwahrheit«, erklärte Mrs. Gamp.

»Und dann wären Sie frei?« fragte Mould.

»Ganz frei, und i kann dann ruhig wieder zu Mr. Chuffey gehn. Er is a ganz ruhiger Mensch – geht zeitig zu Bett und schlaft fast die ganze Nacht durch. I will’s net leugnen«, setzte Mrs. Gamp mit weicher Stimme hinzu, »ich bin nur a arms Weib, und das bisserl Geld fallt bei mir ins Gewicht, aber darauf dürfen S‘ ka Rücksicht net nehmen, Mr. Mould. Die Reichen reiten gern auf Kamelen, aber so leicht is net, durch a Nadelöhr durchschlupfen, sag i immer, und dös is mei Trost.«

»Nun, Mrs. Gamp«, meinte Mould, »ich sehe nicht ein, warum Sie nicht unter solchen Umständen auf ehrliche Weise ein paar Groschen verdienen sollten. Mich gehts ja schließlich weiter nichts an, Mrs. Gamp; ich würde es vor Mr. Chuzzlewit auch nicht weiter erwähnen, außer er würde mich direkt danach fragen.«

»Sehen S‘, dös mein i a«, versetzte Mrs. Gamp, »und nehmen mir amal an, der Herr möcht sterben, so hoff i, darf i mir doch die Freiheit nehmen zu sagen, es sei mir ein gwisser Leichenbestatter bekannt – net wahr, Sie nehmen dös doch net für übel, Mr. Mould?«

»Durchaus nicht, Mrs. Gamp«, versicherte Mr. Mould herablassend, »Sie können in solchen Fällen immer bemerken, daß wir dergleichen in jedem beliebigen Stile ausführen, und zwar auf eine für die Überlebenden so tröstliche Weise wie nur möglich. Aber ja nicht zu aufdringlich, verstehen Sie? Ja nicht zu aufdringlich. Nur so nebenhin. – Meine Liebe, du bist vielleicht so gut, Mrs. Gamp ein paar von unsern Geschäftskarten mitzugeben.«

Mrs. Gamp nahm die Karten und stand auf, um sich zu verabschieden, da die Rumflasche bereits eingeschlossen war und demnach nichts mehr für sie herausschaute.

»Also nochmals, Glück und Segen der ganzen Familie!« sagte sie. »Schönen guten Nachmittag, Mrs. Mould. Sehen S‘, wann i der Herr Mould wär, i wär eifersüchtig auf Ihna, und wann i an Ihrer Stell war, würd i wiederum auf den Herrn Gemahl eifersüchtig sein.«

»Aber Mrs. Gamp, reden Sie nicht so!« rief der Leichenbestatter vergnügt.

»Und was die jungen Damen betrifft«, fuhr Mrs. Gamp mit einem Knicks fort, »Gott bewahre ihna ihre Schönheit. – Wann i nur wüßt, wie sie’s mit ihrem Gewissen verantworten können, bei so jungen Eltern schon so erwachsen zu sein. – Na, mi geht’s a nix weiter an.«

»Dummes Zeug! Unsinn! So hören Sie doch auf, Mrs. Gamp!« rief Mr. Mould, konnte es sich aber nicht versagen, vor Freude seine Gattin heimlich in den Arm zu kneifen.

»Ich will dir was sagen, meine Liebe«, bemerkte er, nachdem Mrs. Gamp sich entfernt und die Türe hinter sich zugemacht hatte; »diese Frau ist eine durch und durch gescheite Person und hat einen Verstand, der weit über ihren Beruf hinausgeht. Sie hat eine ganz ungewöhnliche Beobachtungsgabe und einen so gesunden Menschenverstand. – Wahrhaftig, es ist eine Person«, fügte er hinzu, zog sich sein seidenes Schnupftuch wieder über die Glatze und schickte sich zu einem Schläfchen an, »bei der man fast geneigt wäre, sie umsonst zu begraben und noch obendrein erster Klasse.«

Mrs. Mould nebst Töchtern schien damit vollständig einverstanden zu sein.

Mrs. Gamp hatte inzwischen die Straße erreicht, aber die frische Luft schien sie so anzugreifen, daß sie noch eine Weile unter dem Torbogen stehenbleiben mußte, um sich zu erholen. Aber selbst nach dieser Vorsichtsmaßregel war ihr Gang noch so schwankend, daß sie die mitleidigen Blicke einiger gutmütiger Straßenjungen auf sich zog, die für ihren Zustand das lebhafteste Interesse an den Tag legten und ihr in ihrer ungekünstelten Ausdrucksweise zuriefen, sie solle sich nichts draus machen, das ginge vorüber; sie habe nur ein bißchen viel »geladen«.

Wie dem übrigens auch sei oder welchen Namen das medizinische Wörterbuch Mrs. Gamps bresthaftem Zustande beigelegt haben würde, so fand sie sich doch bald und ohne weitere Fährlichkeiten nach ihrem Bestimmungsorte zurecht, langte glücklich in dem Hause »Anthony Chuzzlewits Sohn« an, begab sich zur Ruhe und schlief bis sieben Uhr abends. Dann überredete sie den armen alten Chuffey, zu Bett zu gehen, und machte sich auf, ihren neuen Dienst anzutreten. Zuerst verfügte sie sich in ihre eigene Wohnung in Kingsgate Street, um sich ein Bündel Kleider und Umschlagtüchter für die Nacht zu holen, und dann nach dem »Ochsen« in Holborn. Als sie dort ankam, schlug es gerade acht.

Im Hofe blieb Mrs. Gamp neugierig stehen, denn der Wirt, die Wirtin und das erste Stubenmädchen unterhielten sich auf der Zimmerschwelle angelegentlich mit einem jungen Herrn, der soeben erst angekommen zu sein schien und augenscheinlich die Absicht hatte, sich wieder zu entfernen. Die ersten Worte, die ihr Ohr trafen, bezogen sich fraglos auf den Patienten, und da es für sie als Wärterin nur förderlich sein konnte, soviel wie möglich von dem Falle zu wissen, dessentwegen man sie hatte holen lassen, so hielt sie es geradezu für ihre Pflicht, zu lauschen.

»Nicht besser also?« bemerkte der junge Mann.

»Schlimmer«, versetzte der Wirt.

»Viel schlimmer«, fügte die Wirtin hinzu. »Oh, viel, viel schlimmer!« rief das Stubenmädchen aus dem Hintergrunde, riß die Augen auf und schüttelte das Haupt.

»Der arme Mensch!« seufzte der junge Mann. »Es tut mir sehr leid, das zu hören; und das Schlimmste dabei ist, daß ich mir durchaus nicht denken kann, wer wohl seine Freunde und Verwandten sein mögen oder wo sie wohnen. Sicher ist nur eins, daß man sie nicht in London zu suchen hat.«

Der Wirt sah die Wirtin an, die Wirtin den Wirt, und das Stubenmädchen bemerkte, von allen vagen Vermutungen, und deren gäbe es in einem Gasthaus nicht wenige, sei dies die allervageste.

»Wie ich Ihnen gestern schon sagte«, fuhr der junge Mann fort, »als Sie zu mir schickten, weiß ich so viel wie gar nichts von ihm. Wir waren früher Schulkameraden, aber seitdem habe ich ihn nur zweimal wiedergesehen. Beide Male kam ich auf Ferien nach London aus Wiltshire – auf eine Woche ungefähr –, und dann verlor ich ihn wieder aus den Augen. Der Brief mit meinem Namen und meiner Adresse, den Sie auf seinem Tische fanden und der Sie veranlaßte, zu mir zu schicken, ist eine Antwort – wie Sie bemerken werden – auf einen Brief, den er mir an demselben Tage, wo er krank wurde, von hier aus schrieb und worin er mir ein Rendezvous vorschlug. – Hier ist sein Brief, wenn Sie ihn einsehen wollen.«

Der Wirt las das Schreiben, und die Wirtin guckte ihm über die Schulter. Das Stubenmädchen im Hintergrunde fing gleichfalls so viel davon ab, als ihr irgend möglich war, ergänzte den Rest für sich und betrachtete das Ganze fortan als ein positives Beweisstück.

»Er hat sehr wenig Gepäck, sagen Sie«, bemerkte der junge Mann, der niemand anders war als John Westlock.

»Nichts als ein Felleisen«, versetzte der Wirt, »und wenig genug ist drin.«

»Aber Sie sprachen doch von einigen Guineen in seiner Börse?«

»Ja; ich habe das Geld eingesiegelt und in meine Kasse gelegt. Die Summe hab ich aufgeschrieben, wenn Sie’s sehen wollen.« »Gut«, sagte John. »Der Arzt ist der Ansicht, bevor das Fieber nicht nachließe, könne man nichts anderes tun, als ihm regelmäßig seine Medizin zu reichen und ihm die sorgfältigste Pflege angedeihen zu lassen. Auch ich kann weiter nichts hinzufügen, bis er in der Lage ist, selbe Auskunft erteilen zu können. – Hätten Sie sonst noch etwas zu sagen?«

»N-nein«, versetzte der Wirt, »ausgenommen –«

»Wer für ihn bezahlen soll, nicht wahr?« fragte John.

»Freilich«, meinte der Wirt stockend, »möchte ich das gerne wissen.«

»Ja, ja, natürlich«, sagte die Wirtin.

»Auch wegen des Trinkgelds wär’s gut«, brummte das Stubenmädchen.

»Das ist nur recht und billig«, entgegnete John Westlock, »aber jedenfalls haben Sie für den Augenblick sein Geld als Sicherheit, und was den Doktor und die Krankenpflege betrifft, erkläre ich mich gern bereit, dafür aufzukommen.«

»Oh«, rief Mrs. Gamp, »das nenne ich mir an feinen Herrn!«

Sie hatte diesen Stoßseufzer so hörbar vorgebracht, daß sich alle nach ihr umdrehten. Sie fühlte daher die Notwendigkeit, mit ihrem Bündel in der Hand näher zu treten, um sich vorzustellen.

»I bin die Wärterin aus Kingsgate«, sagte sie, »und die Mrs. Prig, die Wärterin für den Tag, is meine beste Freundin. Sie is wirklich a kreuzbrave Haut. Na, und wie geht’s denn dem armen lieben Herrn heut abend? Wenn’s noch net besser is, muß mer halt abwarten. Es is net das erstemal, Madame« – dabei machte sie der Wirtin einen Knicks – »daß die Prig und i zusamm als Krankenwärterinnen die Tag- und Nachtwach versehn habn. Mir kennen uns und helfen oft noch, wo nix mehr zu helfen is. Mir machen’s billig« – sie wandte sich zu John – »wenn ma die Natur unsrer schmerzlichen Pflichten ins Aug faßt. O mein, wenn’s nur nach uns ging, möchten wir am liebsten gar nix verlangen.«

Als sie sich dieser Einführungsrede glücklich entledigt, knickste sie noch einmal in die Runde und gab den Wunsch zu erkennen, jetzt nach dem Schauplatz ihrer amtlichen Tätigkeit geführt zu werden. Das Stubenmädchen geleitete sie daraufhin durch ein Labyrinth von Gängen nach dem Obergeschoß des Hauses und zeigte dort auf eine einsame Türe am Ende einer Galerie, bedeutete ihr, daß dahinter der Patient liege, und eilte mit größter Geschwindigkeit wieder von dannen.

Mrs. Gamp ging, von der Last ihres umfangreichen Bündels erhitzt, bis zu der Türe und klopfte an. Sofort öffnete Mrs. Prig, die bereits Hut und Schal umgenommen hatte und sichtlich darauf brannte, fortzukommen. Mrs. Prig war so ziemlich von Mrs. Gamps Statur, nur nicht so fett; ihre Stimme klang tiefer und fast männlich. Auch zierte sie ein stattlicher Bart.

»Hab scho gmeint, Sie kommen gar nimmer«, bemerkte sie etwas mißvergnügt. »Morgen abend hol mer’s scho wieder nach«, tröstete Mrs. Gamp, »i hab zuvor noch nach Haus müssen und meine Sachen holen.« Sie ging sodann zur Zeichensprache über, um sich über den Zustand des Patienten zu unterrichten und zu fragen, ob er sie vielleicht hören könne – es stand nämlich eine spanische Wand vor der Tür –, aber Mrs. Prig zerstreute rasch ihr Bedenken.

»Er is ganz ruhig«, sagte sie laut, »aber net bei Besinnung, Sie brauche Ihna net schenieren.« »Sonst hätten S‘ mir nix zu sagen, bevor S‘ gehen, liebe Prig?« fragte Mrs. Gamp, zerrte ihr Bündel in die Stube und sah ihre Kollegin zärtlich an.

»Der marinierte Lachs«, erwiderte Mrs. Prig, »is ausgezeichnet, i kann ihn Ihna bsonders empfehlen. Des kalte Fleisch schmeckt nach Stall, aber die Getränke sin alle gut.«

Mrs. Gamp erklärte sich höchlichst zufriedengestellt.

»Was die Medizinen und die andern Gschichten sin, so stehen s‘ aufm Kamin und aufm Kasten«, warf Mrs. Prig hin, »das letztemal hat er um sieben Uhr eingnommen. Der Lehnstuhl is damisch hart, i rat Ihna, nehmen S‘ sein Kopfpolster.« Mrs. Gamp dankte ihr für diese Winke, wünschte ihr freundlich gute Nacht und hielt die Türe offen, bis sie am anderen Ende der Galerie verschwunden war. Nachdem sie so die Pflicht der Gastfreundschaft erfüllt und ihre Kollegin glücklich verabschiedet hatte, riegelte sie von innen zu, nahm ihr Bündel und ging um die spanische Wand herum, um ihr Geschäft als Wärterin zu beginnen.

»Sakrisch fad, aber es könnt ja a noch schlimmer sein«, brummte sie vor sich hin. »Wann a Feuer auskimmt, so bin i froh, daß a Glander da is und viele Dächer mit Rauchfäng, da kann ma wenigstens gut aussakrallen.«

Aus diesen Bemerkungen ist leicht zu ersehen, daß Mrs. Gamp zum Fenster hinausschaute. Nachdem sie die Aussicht genügend genossen, versuchte sie den Lehnstuhl und erklärte unwillig, er sei härter als ein Ziegelstein. Dann dehnte sie ihre Untersuchung auf die Arzneiflaschen, Gläser, Töpfe und Teetassen aus. Nachdem sie auch hier ihre Neugierde vollständig befriedigt, knöpfte sie ihre Haubenbänder los und trat ans Bett, um sich den Patienten zu betrachten.

Er war ein junger Mann von dunkler Gesichtsfarbe und recht angenehmen Zügen. Seine langen schwarzen Haare nahmen sich auf der weißen Leinwand noch viel dunkler aus, als sie vielleicht in Wirklichkeit waren. Seine Augen hatte er halb geschlossen, und trotzdem sein Körper still dalag, wälzte er ohne Unterlaß den Kopf von einer Seite des Kissens zur andern. Er sprach nicht, ließ aber zuweilen einen Ausruf der Ungeduld oder Überraschung laut werden, dabei beständig den Kopf, wie schon seit Stunden, hin und her bewegend.

Mrs. Gamp labte sich mit einer Prise Schnupftabak und sah ihn eine Weile mit seitwärts geneigtem Haupte an, wie etwa ein Kenner ein etwas zweifelhaftes Kunstwerk betrachten würde. Allmählich bemächtigte sich ihrer eine schreckliche Erinnerung an einen andern Zweig ihres Berufs. Sie beugte sich nieder und drückte ihm die unsteten Arme an die Seite, um zu sehen, wie er sich – als Leiche ausnehmen würde. So gräßlich es auch klingen mag, tatsächlich juckten ihr die Finger vor Verlangen, ihn in die letzte Stellung der Todesstarre zurechtzulegen.

»Herrschaft«, knurrte sie dabei und trat ein paar Schritte zurück, »dös wär a wunderschöne Leich!«

Dann fuhr sie fort, ihr Bündel auszupacken, zündete mit Hilfe eines auf der Kommode stehenden Feuerzeugs ein Licht an, füllte einen kleinen Kessel als Vorbereitung für ein Täßchen Tee für die Nacht, machte zu demselben philanthropischen Zweck »a bisserl a Feuer« an, wie sie es nannte, und zog einen Teetisch herbei, um den traulichen Eindruck zu erhöhen. Diese Vorbereitungen nahmen so lange Zeit in Anspruch, daß es nach ihrer Beendigung höchste Zeit war, ans Abendbrot zu denken. Mrs. Gamp klingelte daher, um es zu bestellen.

»I glaub, Jungfer«, sagte sie in einem Tone, der ihre Angegriffenheit entsprechend illustrieren sollte, zu dem zweiten Stubenmädchen, »a bisserl a geräucherten Lachs mit etwas Fenchel und aner Prisen weißen Pfeffer dabei möcht mir gut tun, ebenso a krachets Weißbrot mit frischer Butter und a Stückerl Käs. Wann S‘ so was wie a Gurken im Haus hätten, so sin S‘ leicht so gut und bringen S‘ mir’s auffi. Es is mei Leibspeis und tut in aner Krankenstubn oft Wunder. Und wann S‘ grad a Doppelbier anzapfen, bringen S‘ mir leicht a a Maß. Die Doktoren sagen immer, es halt wach. Und nachher, Jungfer, vergessen S‘ net für an Schilling Wacholderschnaps und warms Wasser, damit i’s hab, wann i nochamal läut. Des is mei Ration, und i trink kein Tropfen drüber.«

Nachdem sie diese außerordentlich maßvollen Anforderungen gestellt hatte, bemerkte sie, sie wolle an der Türe stehen bleiben und warten, damit der Patient nicht durch wiederholtes Öffnen gestört würde. Sie werde sich aus demselben Grunde dem Stubenmädchen sehr zu Dank verpflichtet fühlen, wenn es sich beeile.

Das Teebrett kam, und alles, sogar die Gurke, befand sich darauf. Mrs. Gamp setzte sich sogleich hin und aß und trank nach Herzenslust. Der Hochgenuß und die Unersättlichkeit, mit der sie dem Gurkenessig zusprach und dann sogar noch die Klinge des Messers ableckte, läßt sich kaum beschreiben.

»O mein«, seufzte sie, als sie bei ihrer Schillingsdosis warmen Grogs hielt, »was für a Glück is es doch, wann der Mensch in dem irdischen Jammertal hienieden sich seine Zufriedenheit bewahrt. Was für a Segen, kranke Leut in ihre Betten glücklich zu machen und sich selbst dabei zu vergessen, solang ma noch Dienste leisten kann. I glaub, in mein ganzen Leben hab i noch kei schönere Gurken gsehn.« In der gleichen seligen Stimmung fortmoralisierend, bis ihr Glas leer war, erinnerte sie sich schließlich, daß sie dem Patienten seine Arzenei zu reichen habe. Sie drückte ihm die Kehle zusammen, um ihn zu veranlassen, den Mund zu öffnen, und schüttete ihm dann den Trank in die Gurgel.

»Meiner Seel, jetzt hätt i fast des Kopfkissen vergessen«, murmelte sie und holte sofort das Versäumte nach. »Jetzt hat er’s so bequem, wie’s der Mensch nur haben kann; jetzt muß i schaun, daß i mir’s auch bequem mach.«

In dieser Absicht zog sie sich einen zweiten Lehnstuhl für die Füße herbei und improvisierte sich eine Lagerstätte. Sodann entnahm sie ihrem Bündel eine gigantische, hinsichtlich Aussehen von einem Kohlkopf nur schwer zu unterscheidende gelbe Schlafmütze und band sie sich auf, nachdem sie vorher eine Reihe alter Locken abgelegt hatte, die den Ausdruck »falsch« eigentlich nicht verdienten, denn von einer Vortäuschung körperlicher Reize konnte hier nicht die Rede sein. Dann zog sie sich eine Nachtjacke an und endlich eine Art Nachtwächterrock, dessen Ärmel sie sich um den Hals band, so daß sie von rückwärts aussah wie eine Vogelscheuche, die von einem Flurwächter umarmt wird.

Nachdem sie alle diese Anstalten sorgfältig erledigt, zündete sie ein Nachtlicht an, krümmte sich auf ihrem Lager zusammen und schickte sich zu einem Schlummer an.

Die Stube war jetzt schaurig dunkel und voll düsterer lauernder Schatten. Nach und nach verstummten die fernen Töne in den Straßen, und das Haus wurde so ruhig wie ein Grab.

Oh, die öden, öden Stunden! Durch das Dunkel der Vergangenheit unfähig, sich vom Elend der Gegenwart loszumachen, schleppte die arme Seele des Kranken ihre schwere Sorgenkette durch eingebildete Festesfreuden, durch Träume voll schauerlicher Pracht, irrte suchend dahin über die längst vergessenen Spielplätze der Kindheit und fand in den Zufluchtsorten von gestern und heute nur Angst und Grausen. Ach, die öden, bleiernen Stunden! Was waren die Irrfahrten Kains gegen diese Wanderungen!

Immer noch wälzte der Kranke, ohne einen Augenblick Ruhe zu finden, sein brennendes Haupt hin und her. Von Zeit zu Zeit wurden seine Mattigkeit, seine Ungeduld und Pein auf diesem Folterbette durch laute Ausrufe kund, wenn seine Lippen auch keine Worte bilden konnten. Endlich gegen Mitternacht fing er an zu reden, wartete zuweilen angstvoll auf Antwort, als ob unsichtbare Gestalten sein Bett umgäben und er ihnen Rede und Antwort stünde.

Mrs. Gamp erwachte und setzte sich in ihrem Bett auf. Ihr Schatten an der Wand sah aus wie die Silhouette eines gespenstischen Nachtwächters, gegen den sich ein Gefangener wehren will.

»Na, werdn S‘ net endlich ’s Maul halten«, rief sie in verweisendem Tone. »Hier wird ka Lärm gemacht, verstanden?«

Nicht die geringste Veränderung im Gesichte des Patienten verriet, daß er sie verstand. Irr phantasierte er weiter.

»Na ja, natürlich«, schimpfte Mrs. Camp und stand räuspernd und unwillig auf, »i hab halt zu gut geschlafen, als daß einem so was lang vergunnt wär. Mir scheint, der Teufel is los, daß ’s heut nacht so kalt is.«

»Trink nicht so viel«, phantasierte der Kranke. »Du wirst uns noch alle zugrunde richten. Siehst du denn nicht, wie die Quelle versiegt und wie es jetzt dunkel wird, wo eben noch das Wasser funkelte?«

»Jawohl, Wasser funkeln«, knurrte Mrs. Garnp, »i will lieber a funkelnde Tassn Tee zu mir nehmen. Wann er nur scho endlich mit dem blöden Gred aufhörn möcht.«

Der Patient brach jetzt in ein Gelächter aus, das gar nicht enden zu wollen schien und schließlich in ein unheimliches Gewinsel überging. Dann hielt er inne und begann rasch hintereinander zu zählen:

»Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs.«

»Eins, zwei, koch mir den Brei«, murmelte Mrs. Gamp, auf den Knien liegend und bemüht, das Ofenfeuer anzuzünden. »Drei, vier, halt zu die Tür – gscheiter wär’s, du hieltest den Mund – fünf, sechs, bucklete Hex! – Ja, wann i hexen könnt, nacher sollt mir der Kessel scho bälder sieden.«

Damit setzte sie sich so dicht an die Kaminstange, daß ihre Nase darauf zu ruhen kam, und unterhielt sich eine Weile damit, diesen Vorsprung ihres Gesichts an dem Metall hin und her zu reiben, soweit dies ohne wesentliche Änderung ihrer Stellung anging. Dabei kommentierte sie fortwährend die irren Reden des Mannes im Bett.

»Zusammen fünfhundertundeinundzwanzig Leute, alle gleich gekleidet und alle gleich das Gesicht verzerrt, so sind sie zum Fenster herein- und zur Tür herausgegangen«, rief er angstvoll. »Schau da, fünfhundertzweiundzwanzig – dreiundzwanzig – vierundzwanzig, siehst du sie?«

»Na ja, natürlich seh ich sie«, brummte Mrs. Gamp. »Die ganze Bande numeriert wie die Droschken. – Oder leicht net?«

»Rühr mich nicht an, ich muß mich überzeugen.«

»I werd dir scho die Arznei einschütten, wann der Kessel siedet«, entgegnete Mrs. Gamp ruhevoll. »Und nacher wirst scho angrührt werden. Und fest a no.«

»Fünfhundertachtundzwanzig – fünfhundertneunundzwanzig – fünfhundertdreißig – schau da!«

»Was gibt’s denn scho wieder?« fragte Mrs. Gamp.

»Jetzt kommen sie zu viert nebeneinander, jeder hat seinen Arm in den des andern eingehängt und die Hand auf dessen Schulter. Was haben sie auf ihren Armen und auf dem Banner?«

»Wahrscheinlich Spinnaweben«, brummte Mrs. Gamp.

»Flor, schwarzer Flor! Gott im Himmel, warum tragen sie ihn außen?«

»Na ja, innawendig könnens ’n doch net tragen», höhnte Mrs. Gamp. »Aber still jetzt, dös Maul ghalten.«

Mittlerweile hatte das Feuer angefangen, eine angenehme Wärme zu verbreiten, und Mrs. Gamp wurde stumm. Langsamer und immer langsamer rieb sie ihre Nase an der Kaminstange, und endlich verfiel sie in einen schweren Schlaf. Sie erwachte plötzlich, denn durch das Zimmer, deuchte ihr, hallte ein Name, den sie gut kannte.

»Chuzzlewit!«

Der Ton war so bestimmt, so wirklich und glich so ganz einem flehentlichen Ruf, daß Mrs. Gamp erschrocken aufsprang und zur Türe eilte. Sie erwartete halb und halb, den Gang mit Leuten angefüllt zu finden, die gekommen wären, ihr zu sagen, das Haus in der City stünde in Flammen. Aber die Galerie war leer. Keine Seele da! Sie öffnete das Fenster und blickte hinaus. Nichts als dunkle, rauchige, öde Dachgiebel. Als sie in die Stube zurückkehrte, warf sie einen Blick auf den Kranken. Ganz wie früher lag er auf seinem Bett, nur seine Lippen schwiegen jetzt. Mrs. Gamp war es so warm geworden, daß sie ihren Nachtwächtermantel abwarf und sich Kühlung zufächelte.

»So laut war’s, daß fast die Flaschen gscheppert habn«, brummte sie. »Von was i nur träumt hab? Wahrscheinlich von dem zwidern Chuffey.«

Diese Vermutung hatte viel für sich. Für alle Fälle kräftigte sich Mrs. Gamp mit einer Prise Schnupftabak, und das Singen des dampfenden Teekessels beruhigte gar bald ihre ohnehin nicht besonders schwachen Nerven. Dann schenkte sie sich ihren Tee ein, röstete sich eine Butterschnitte und nahm, das Gesicht dem Feuer zugekehrt, vor dem Tischchen Platz.

Da klangen mit einem Mal in noch gräßlicherem Tone als vorher die Worte in ihr Ohr:

»Chuzzlewit! Jonas! Nein!«

Erschreckt setzte sie die Tasse, die sie eben an ihre Lippen hatte führen wollen, nieder und wandte sich so rasch um, daß das kleine Tischchen beinah umgefallen wäre. Der Schrei war offenbar von dem Bette hergekommen.

Als sie das nächste Mal wieder zum Fenster hinausschaute, war es bereits heller Morgen, und die Sonne ging heiter auf. Der Himmel wurde Lichter und Lichter, der Lärm auf den Straßen wuchs immer mehr an, und hoch in die Sommerluft empor stieg der Rauch frisch angezündeter Feuer, bis es völlig Tag war.

Pünktlich, wie es sich gehört, kam Mrs. Prig, die bei ihrem Patienten ebenfalls eine gute Nacht verbracht hatte, zur Ablösung. Mr. Westlock fand sich um die gleiche Zeit ein, wurde aber nicht vorgelassen, da die Krankheit möglicherweise ansteckend sein könnte. Auch der Doktor erschien und schüttelte den Kopf – alles, was ein Arzt in solchen Umständen tun kann –, und zwar recht gründlich. »Was hat er für eine Nacht gehabt, Wärterin?«

»A schlechte«, antwortete Mrs. Gamp.

»Viel phantasiert?«

»Na, macht sich«, sagte Mrs. Gamp. »Konnte man nichts aus seinen Reden entnehmen?«

»I Gott bewahr, lauter ungereimtes Zeug war’s.«

»Nun«, meinte der Doktor, »da müssen wir ihn vorläufig noch in Ruhe lassen. Halten Sie das Zimmer kühl, reichen Sie ihm regelmäßig seine Arznei und geben Sie überhaupt sorgfältig auf ihn acht. Weiter läßt sich nichts tun.«

»Habens ka Sorg net; solang die Prig und i bei eahm san, is ka Gfahr net«, versicherte Mrs. Gamp.

»Was? Gibt’s wirklich nix Neues, Mrs. Gamp?« fragte Mrs. Prig, als sie beide den Arzt hinauskomplimentiert hatten.

»Na, wirkli nix«, sagte Mrs. Gamp. »Er red lauter dumms Zeug daher und nennt a Masse Namen. Mer braucht si net dran kehren.«

»Na ja, des a no! Fallet mir grad ein«, entgegnete Mrs. Prig, »i hab an gscheitere Sachen zu denken.«

»Heut abend bring i meine Schuld von gestern wieder ein und komm etwas zeitlicher, liebe Prig«, versprach Mrs. Gamp, »aber eins möcht i Ihna noch raten«, fügte sie enthusiastisch hinzu, »probiern S‘ amal die Gurken. – Bhüat Ihna Gott.«