11. Kapitel

Worin ein gewisser Herr einer gewissen Dame seine besondere Aufmerksamkeit zollt und mehr als ein zukünftiges Ereignis seine Schatten vorauswirft

In zwei oder drei Tagen sollte die Familie von Todgers‘ abreisen, und die Herren Handelsbeflissenen waren samt und sonders wegen der bevorstehenden Trennung untröstlich. Miss Charitas Pecksniff saß gerade mit ihrer Schwester im Bankettsaale und säumte für Mr. Jinkins sechs neue Taschentücher, als »Old Bailey« eintrat, zuvörderst den frommen Wunsch ausdrückte, er »wolle verdammt sein», und dann in seiner einschmeichelnden Weise der jungen Dame zu verstehen gab, es harre ihrer im Gesellschaftszimmer ein Besuch, der ihr seine Aufwartung zu machen wünsche. Vielleicht bewies diese Mitteilung schlagender als die längsten Reden die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit des jugendlichen Portiers, sintemalen er in der Tat den Besuch zuletzt an der Haustüre gesehen und nach dem Bedeuten, sich nur hinaufzubemühen, seinem eigenen Orts- und Spürsinn überlassen hatte. Ausgeschlossen war es daher keineswegs, daß der Gast in diesem Augenblick nach dem Dache des Hauses hinaufwanderte oder sich vergeblich aus einem Labyrinth von Schlafkammern herauszuwinden suchte, zumal Mrs. Todgers‘ Etablissement ganz das Haus danach war, in dem ein Fremder ohne ortskundigen Lotsen recht hübsch in die Lage kommen konnte, an einen Platz zu gelangen, den er am allermindesten erwartete oder wünschte.

»Ein Herr zu mir?« rief Charitas und hielt in ihrer Arbeit inne. »Was nicht gar, Bailey!«

»Oder vielleicht ja gar», sagte Old Bailey neckisch.

Diese Bemerkung wäre an sich etwas dunkel gewesen, wenn sie der Jüngling nicht mit einer Pantomime begleitet hätte, die ein Arm in Arm zum Altar schreitendes Liebespärchen darstellen und damit die zärtlichen Absichten des Besuches draußen andeuten sollte. Miss Charitas tat, als ob sie diese Kühnheit höchlich übelnehme, konnte sich aber trotzdem eines Lächelns nicht erwehren. Bailey war freilich ein wunderlicher Junge, aber so albern auch sein Benehmen zu sein pflegte, so lag ihm doch meistens irgend etwas Sinngemäßes zugrunde.

»Aber ich kenne hier gar keinen fremden Herrn, Bailey«, sagte Miss Pecksniff. »Du mußt dich wohl geirrt haben.«

Mr. Bailey lächelte bloß über die unerhörte Zumutung und betrachtete die jungen Damen mit unverminderter Heiterkeit.

»Meine liebe Gratia«, wendete sich Charitas an ihre Schwester, »wer kann das nur sein? Seltsam, nicht? Ich möchte mich am liebsten verleugnen lassen. Weißt du, es ist gar so sonderbar!«

Gratia witterte augenblicklich hinter diesen Worten eine versteckte Selbstüberhebung oder die Absicht – da sie selbst soviel Furore bei den Herren Handelsbeflissenen gemacht –, ihre Schwester wolle sich an ihr rächen, und versetzte daher liebreich und feinfühlig, es sei ohne Zweifel »sehr sonderbar« und durchaus unbegreiflich, was der lächerliche Unbekannte mit seinem Besuch wollen könne.

»Unbegreiflich! Natürlich!« schrillte Charitas. »Um so unbegreiflicher, daß du dich darüber so ärgerst, mein Herz!«

»Ich mich ärgern?« spöttelte Gratia und fing an, eine Arie zu trällern.

»Ich fürchte, sie haben dir den Kopf verdreht, du einfältiges Ding«, sagte Charitas.

»Weißt du, liebste Schwester«, gestand Gratia mit entzückender Offenherzigkeit, »daß ich das selbst schon lang gefürchtet habe? Soviel Hofmachen und Schmeichelei, soviel Weihrauch und Vergötterung könnte wahrhaftig einen stärkern Kopf als den meinigen verdrehen. Welch ein Trost muß es für dich sein, meine Liebe, es in dieser Hinsicht so gut zu haben und nicht von diesem abgeschmackten Männervolk gequält zu werden. Wie fängst du es nur an, Cherry?«

Diese arglose Frage würde zweifelsohne zu den stürmischsten Resultaten geführt haben, hätte nicht Mr. Bailey, außer sich vor Entzücken über die Wendung, die das Gespräch zu nehmen drohte, sich angeschickt, einen ekstatischen Freudentanz aufzuführen, um seinem Ergötzen Ausdruck zu verleihen, und die beiden Schwestern dadurch veranlaßt, getreu ihrer guten Erziehung den Schein zu wahren. Sie vertrugen sich daher schnell wieder und bedeuteten Mr. Bailey einmütig, sie würden, wenn er nicht sofort aufhöre, Mrs. Todgers von seinem Betragen in Kenntnis setzen und eine gebührende Züchtigung für ihn beantragen. Der Jüngling drückte daraufhin sofort die Bitterkeit seiner Zerknirschung dadurch aus, daß er tat, als wische er sich den heißen Tränenstrom mit der Schürze ab und winde sie dann angestrengt aus, öffnete aber gleich darauf, um sein Vergehen wiedergutzumachen, Miss Charitas die Türe, so daß sie prunkvoll abziehen und die Treppe hinaufgehen konnte, ihren geheimnisvollen Anbeter zu empfangen.

Infolge eines sonderbaren Zusammenwirkens günstiger Umstände hatte dieser inzwischen das Gesellschaftszimmer glücklich aufgefunden und war jetzt der einzige Insasse desselben.

»Ah, Cousine!« begann er. »Da bin ich, wie Sie sehen. Ich möchte wetten, Sie haben geglaubt, ich sei verlorengegangen. Na, wie ist’s Ihnen denn in der Zwischenzeit ergangen?«

Miss Charitas erwiderte, sie befände sich vollkommen wohl, und reichte Jonas Chuzzlewit die Hand.

»Das ist recht«, sagte Mr. Jonas, »und haben Sie sich von den Reisestrapazen gut erholt? – Na, und was macht denn ›die andere‹?«

»Ich glaube, meine Schwester ist ebenfalls ganz wohl, wenigstens hat sie sich nicht über Unwohlsein beklagt, Sir. Aber vielleicht wollen Sie sie sehen und selbst fragen?«

»Nein, nein, Cousine!« lehnte Mr. Jonas ab und ließ sich neben der jungen Dame am Fenstersitz nieder. »Es eilt gar nicht. Gar kein Grund jetzt. Was Sie doch für ein grausames Mädel sind!«

»Sie wissen auch viel, ob ich’s bin oder nicht«, erwiderte Cherry.

»Hm, wohl möglich«, gab Mr. Jonas zu. »Aber sagen Sie, haben Sie nicht geglaubt, ich sei verlorengegangen? Sie haben mir das noch gar nicht beantwortet.«

»Ich habe überhaupt gar nicht darüber nachgedacht«, antwortete Cherry. »Wirklich nicht? Hm, merkwürdig! Na, vielleicht hat’s die andere getan?«

»Ich kann wahrhaftig nicht sagen, was meine Schwester gedacht oder nicht gedacht hat«, erwiderte Cherry »Sie hat mit mir kein Wort darüber gesprochen.«

»Hat sie auch nicht darüber gelacht?«

»Nein, nicht einmal das.«

»Lachen kann sie fürchterlich – was?« fragte Jonas und dämpfte vertraulich seine Stimme.

»Sie ist sehr lebhaft«, gab Cherry zu.

»Lebhaftigkeit ist ganz hübsch, wenn sie nur nicht zum Geldausgeben führt. – Meinen Sie nicht auch?«

»Allerdings«, entgegnete Cherry mit einer Gesetztheit, die ihrer Antwort einen ungemein uneigennützigen Anstrich verlieh.

»So eine Lebhaftigkeit, meine ich, wie die Ihrige«, bemerkte Mr. Jonas und stieß seine Cousine mit dem Ellenbogen an. »Ich hätte Sie schon früher besucht, wußte aber nicht, wo Sie wohnen. – Wie schnell Sie sich an jenem Morgen auf und davon gemacht haben!«

»Ich befolgte nur die Weisungen meines Papas.«

»Ich wollte, er hätte mir seine Adresse gegeben«, brummte Jonas, »dann hätte ich Sie früher ausfindig gemacht. Es wär‘ mir sogar jetzt unmöglich gewesen, wenn ich ihn nicht diesen Morgen unterwegs getroffen hätte. – Was er für ein aalglatter, schlauer Kunde ist, ganz wie ein Kater – hab ich nicht recht?«

»Möchten Sie nicht gefälligst ein wenig achtungsvoller von meinem Vater sprechen, Mr. Jonas«, erwiderte Charitas. »Ich kann einen solchen Ton nicht dulden – nicht einmal im Scherz.«

»Ah bah! Sie können von meinem Vater ja auch sagen, was Sie wollen; ich gebe Ihnen volle Erlaubnis dazu«, entgegnete Jonas. »Ich glaube, es ist bloß der Wunsch, einem im Wege zu sein, der ihn am Leben erhält, und nicht der Blutkreislauf. – Für wie alt halten Sie übrigens meinen Vater, Cousine?«

»Er ist sicher hochbetagt«, schätzte Miss Charitas; »aber dabei ein schöner alter Gentleman.«

»Ein schöner alter Gentleman!« höhnte Jonas und schlug ärgerlich auf den Deckel seines Hutes. »Hm. Na! Ich dächte, es wäre schon höchste Zeit, daß er – – –. Achtzig Jahre ist er jetzt glücklich!«

»Wirklich?«

»Und Schockschwerenot, hat er’s schon so weit gebracht, ohne abzukratzen, möchte ich wissen, was ihn hindern sollte, neunzig oder gar hundert zu werden. Ein Mensch mit nur ein bißchen Gefühl im Leib sollte sich schämen, achtzig Jahre alt zu werden – von mehr gar nicht zu reden. Möchte gern wissen, wo da die Religion bleibt, wenn einer dermaßen die Bibel zuschanden macht. Siebzig Jahr, wenn’s hoch kommt, sagt die Bibel, dauert das Leben, und kein Mensch, der einigermaßen Gewissen und Gefühl für das besitzt, was von ihm erwartet wird, hat nach dieser Zeit noch etwas auf der Welt zu schaffen –.

Aber genug jetzt von dem Alten. Wozu sich da auch noch giften. – Ich bin gekommen, um Sie zu einem Spaziergang abzuholen, Cousine, damit Sie ein paar der Sehenswürdigkeiten in Augenschein nehmen können. Dann kommen Sie mit mir in unser Haus und nehmen einen kleinen Imbiß ein. Pecksniff wird, wie er sagt, gegen Abend wahrscheinlich auch vorsprechen und Sie nach Hause bringen. Wenn Sie mir übrigens nicht glauben wollen, kann ich’s Ihnen ja schriftlich beweisen; ich ließ mir dies da von ihm geben, weil er mir sagte, er habe noch ein paar Besorgungen zu machen. Gelt, es geht halt nichts über schwarz auf weiß. Ha, ha! – Übrigens, vergessen Sie nicht, auch ›die andere‹ mitzubringen!«

Miss Charitas warf einen Blick auf das Autogramm ihres Vaters, das bloß die Worte enthielt. »Geht mit eurem Vetter, Kinder. Laßt womöglich Einigkeit unter uns walten«, zierte sich noch eine Weile, um ihrer Einwilligung den gebührenden Wert zu verleihen, und entfernte sich dann, um sich mit ihrer Schwester für den Ausflug anzuziehen. Bald darauf kehrte sie wieder zurück, von Miss Gratia begleitet, der es durchaus nicht behagte, den Schauplatz ihrer Triumphe in Todgers‘ Etablissement der Gesellschaft Mr. Jonas‘ und seines achtbaren Vaters wegen zu verlassen.

»Aha!« rief Jonas. »Aha, da sind Sie ja – was?«

»Ja, Sie Ekel« versetzte Gratia, »da bin ich. – Ich kann Ihnen aber versichern, daß ich weit lieber anderswo wäre.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst?« rief Mr. Jonas. »Mir werden Sie nicht einreden, daß das wirklich Ihr Ernst ist.«

»Denken Sie sich, was Sie wollen, Sie Ekel«, erwiderte Gratia. »Ich bleibe bei meiner Ansicht, und die ist, daß Sie ein unangenehmer, abscheulicher, widerwärtiger Mensch sind.«

Dabei lachte sie herzlich und schien überhaupt äußerst vergnügt zu sein.

»Na, Sie sind mir die richtige!« sagte Mr. Jonas. »Nicht wahr, sie ist ein Lausmädel – was, Cousine?«

Miss Charitas erwiderte, sie sei wirklich außerstande, zu sagen, worin die Hauptmerkmale eines »Lausmädels« bestünden, und wenn sie auch in dieser Hinsicht informiert wäre, so könne sie doch unmöglich einräumen, daß ein Geschöpf mit so unzeremoniösem Namen in ihrer Familie existiere – am allerwenigsten in der Person einer geliebten Schwester, »welcher Art«, setzte sie mit einem giftigen Blick hinzu, »welcher Art deren wahrer Charakter auch sein möge.«

»Alles recht schön, mein Schatz«, sagte Gratia, »aber ich erkläre, wenn wir nicht bald ausgehen, nehme ich meinen Hut wieder ab und bleibe zu Hause.«

Diese Drohung erreichte den gewünschten Zweck, weitere Sticheleien zu verhindern; der Vorschlag Mr. Jonas‘, die Debatte zu vertagen, wurde angenommen, und alle drei verließen einmütig das Haus. An der Haustüre reichte Mr. Jonas jeder der jungen Damen einen Arm, und »Old Bailey«, der ihnen von dem Dachfenster aus zusah, begrüßte diesen Akt von Galanterie mit einem lauten und heftigen Hustenanfall, der erst ein Ende nahm, als sie um die Ecke bogen.

Mr. Jonas leitete die Unterhaltung mit der Frage ein, ob die Damen auch gute Fußgängerinnen seien, und als sie bejahten, stellte er ihre pedestrischen Fähigkeiten auf die denkbar härteste Probe; das heißt, er zeigte ihnen an einem einzigen Vormittag mehr Sehenswürdigkeiten in Gestalt von Brücken, Straßen, Theaterfronten und anderen wohlfeilen Merkwürdigkeiten, als ein Durchschnittsmensch in zwölf Monaten vertragen hätte. Geradezu auffallend war sein unüberwindlicher Widerwillen gegen das Innere von Gebäuden, deren Besichtigung mit Entree verbunden war und die er offenbar genau kannte; wenigstens erklärte er sie durchwegs für abscheulich und gräßlich langweilig. Seine Überzeugung in dieser Hinsicht wurzelte so tief, daß er sich vor Lachen gar nicht fassen konnte, und als Miss Charitas zufälligerweise erwähnte, sie seien zwei- oder dreimal mit Mr. Jinkins und der Gesellschaft von Todgers – natürlich auf deren Kosten – im Theater gewesen, die Herren für ganz unglaubliche Einfaltspinsel erklärte.

Nachdem sie etliche Stunden umhergeschlendert und völlig erschöpft waren – es begann bereits zu dämmern –, meinte Mr. Jonas, er wolle den Damen jetzt einen der besten Späße vormachen, die ihm bekannt seien. Dieser Witz war ungemein praktischer Art und bestand darin, daß er eine Droschke nach dem »entlegensten Punkte mietete, der sich für einen Schilling erreichen läßt.« Glücklicherweise erreichten sie so den Ort, wo Mr. Jonas wohnte, sonst wäre der Spaß daneben gelungen.

Die alte, seit Jahrzehnten existierende Firma Anthony Chuzzlewit & Sohn, Manchesterwaren und so weiter, hatte ihr Geschäftslokal in einer engen Straße hinter dem Postamt, wo jedes Gebäude selbst an den schönsten Sommermorgen in tiefstem Dunkel liegt, – wo in den Hundstagen die Hausmeister auf das Pflaster vor den Wohnungen ihrer Chefs phantastische Ornamente gießen und man bei warmem Wetter in den Torwegen geschniegelte Gentlemen müßig umherstehen sehen kann, die Hände in den Taschen ihrer symmetrischen Hosenbeine und in den Anblick ihrer Stiefel versunken – augenscheinlich ihr schwerstes Tagewerk –, vielleicht davon abgesehen, daß sie hin und wieder Federn hinter den Ohren tragen.

Es war ein düsteres, schmutziges, verrußtes, baufälliges, altes Haus, aber das hinderte weder Mr. Chuzzlewit noch seinen Sohn, hier nicht nur ihren Geschäften, sondern auch ihren Vergnügungen obzuliegen. Weder der junge noch der alte Herr hatten jemals anderswo gewohnt oder sich um etwas gekümmert, das über ihre engen Grenzen hinausging.

Das Geschäft war, wie man sich leicht denken kann, hier die Hauptsache, und zwar in solchem Maße, daß jeglicher Komfort in den Hintergrund trat und man sogar bei den häuslichen Einrichtungen auf Schritt und Tritt auf Bureaugegenstände stieß. So hingen zum Beispiel in den armseligen Schlafkammern Bündel verstaubter alter Briefe an den Wänden; unbrauchbar gewordene Stoffmuster und Überbleibsel von verdorbenen Waren lagen umher, und die schmalen Bettgestelle, die Waschtische und Teppichfetzen waren als Gegenstände untergeordneter Bedeutung und notwendige Übel des Privatlebens kunterbunt in den Ecken zusammengedrängt. Das einzige Wohnzimmer bildete, dem gleichen Grundsatze gemäß, ein Chaos von Kisten, Truhen und alten Papieren und war weit reichlicher mit Kontorböcken als mit Sesseln ausgestattet – gar nicht zu gedenken eines Ungeheuers von Schreibpult, das bis über die Mitte der Stube hinreichte, und einer über dem Kamin in die Wand eingelassenen eisernen Geldkasse. Der vereinsamte kleine Tisch, der zum Speisen und geselligen Beisammensein bestimmt war, verhielt sich hinsichtlich seines Ausmaßes zu den Pulten und anderen Geschäftsrequisiten ungefähr ebenso wie Anmut und Heiterkeit in der Lebensführung des alten Mannes und seines Sohnes zu dem Ringen und Jagen nach Reichtum, dem sie von jeher obgelegen.

Im gegenwärtigen Augenblick war er notdürftig für ein Dinner gedeckt, und in einem Stuhl vor dem Kaminfeuer saß Anthony selbst, stand aber auf, als der Damenbesuch eintrat, um seinen Sohn und die schönen Schwestern zu bewillkommnen.

»Nun, Gespenst«, begrüßte Mr. Jonas seinen Vater mit dem Kosenamen, den er ihm in solchen Fällen beizulegen pflegte; »ist das Essen bald fertig?«

»Ich dächte, ja«, versetzte der alte Mann.

»Was heißt das: ich dächte? – Wissen möcht ich’s«, knurrte Jonas ärgerlich.

»Na, gewiß weiß ich’s selber auch nicht«, entschuldigte sich der Patriarch.

»Das glaube ich dir aufs Wort«, brummte Jonas. »Du, und einmal etwas genau wissen! – Gib mir lieber die Kerze her; ich brauche sie für die Mädels.«

Anthony reichte ihm einen verbeulten alten Kontorleuchter, und Mr. Jonas geleitete die jungen Damen in die anstoßende Schlafkammer, wo sie ihre Schals und Hüte ablegen konnten. Dann beschäftigte er sich damit, eine Weinflasche zu entkorken und das Tranchiermesser zu wetzen, und machte seinem Vater halblaut Komplimente, bis die Schwestern zurückkamen und das Essen aufgetragen wurde. Das Dinner bestand aus einer gebratenen Hammelkeule mit Gemüse und Kartoffeln und wurde von einem alten Weib in Schlappschuhen serviert oder vielmehr ohne weitere Umstände auf den Tisch gestellt.

»Sie sehen, Cousine – Junggesellenwirtschaft!« bemerkte Mr. Jonas zu Charitas. »Da wird’s wieder was zu lachen geben für ›die andere‹, wenn sie nach Hause kommt – meinen Sie nicht? Da – Sie setzen sich rechts neben mich, und sie kann links neben mir Platz nehmen. Na, ›Andere‹, haben Sie keine Lust?«

»Sie sind eine so widerwärtige Vogelscheuche«, versetzte Gratia, »daß mir der Appetit vergehen wird, wenn ich neben Ihnen sitze. Aber, es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben.«

»Na, ist die vielleicht nicht lebhaft – was?« flüsterte Mr. Jonas mit seiner beliebten Ellenbogenemphase der älteren Schwester zu.

»Ich bitte, lassen Sie mich doch schon in Ruhe«, versetzte Miss Charitas gereizt. »Ich habe wirklich diese albernen Fragen nachgerade satt.«

»Hallo, was treibt denn mein wertgeschätzter greiser Vater schon wieder?« rief Mr. Jonas, als er bemerkte, daß der alte Herr, statt seinen Platz am Tisch einzunehmen, im Zimmer auf und nieder ging. »Was suchst du denn?«

»Ich habe meine Brille verlegt, Jonas«, antwortete der alte Anthony.

»Na, setz dich halt ohne Brille nieder. Ich glaube, zum Essen und Trinken wirst du sie wohl nicht nötig haben. – Wo bleibt übrigens die Schlafmütze, der alte Chuffey? – Na, Dummkopf! Können Sie sich vielleicht nicht mehr an Ihren Namen erinnern, – was?«

Fast hatte es den Anschein, als ob das wirklich der Fall sei; wenigstens kam Mr. Chuffey erst, als Mr. Chuzzlewit senior ihn wiederholt laut gerufen, aus dem kleinen Kontor, das von dem Speisezimmer durch einen Bretterverschlag getrennt war, hervor. Er war ein altes triefäugiges, schmalwangiges Männchen, altmodisch, in einen abgenutzten schwarzen Anzug, der an Verstaubtheit mit dem Hausgerät wetteiferte, gekleidet. Seine kurzen Kniehosen waren mit zerschlissenen Bänderbüscheln geschmückt und die Schuhe mit Armeleuteriemen zugeschnürt, während der untere Teil seiner Spindelbeine in schmutzigen, schwarzwollenen Strümpfen stak. Er sah aus, als hätte man ihn vor einem halben Jahrhundert in einer Rumpelkammer vergessen und soeben erst wieder aufgefunden.

Er kam jetzt langsam auf den Tisch zugeschlichen und ließ sich endlich unentschlossen auf einen Stuhl nieder. Als ihn seine trüben Sinne die Anwesenheit von Fremden und zumal von fremden Damen erkennen ließen, erhob er sich wieder, augenscheinlich in der Absicht, eine Verbeugung zu machen, setzte sich dann aber, ohne sie gemacht zu haben, hauchte in seine welken Hände und verblieb mit seiner armen blauen Nase unbeweglich über den Teller gebeugt, mit seinen blöden Augen ausdruckslos vor sich hinstarrend.

»Unser Buchhalter«, stellte ihn Mr. Jonas als Wirt und Zeremonienmeister vor, »der alte Chuffey.«

»Ist er taub?« fragte eine der jungen Damen.

»Nicht daß ich wüßte. – Vater, ist er eigentlich taub oder nicht?«

»Er hat mir nie gesagt, daß er’s sei«, versetzte der alte Mann.

»Oder blind?« fragten die Mädchen.

»Hm. Auch nicht. Wüßte nicht, daß er blind wäre. Was meinst du, Vater?«

»Gewiß nicht«, versicherte Anthony.

»Ich will Ihnen sagen, was er ist«, wendete sich Jonas vertraulich zu den jungen Damen, »erstens einmal ist er schauderhaft alt, und das mißfällt mir ganz besonders an ihm, denn ich glaube, mein Vater hat sich an seiner Langlebigkeit angesteckt. – Und zweitens ist er ein kurioser alter Kauz«, setzte er laut hinzu, »der keinen anderen Menschen versteht als ihn!«

Dabei deutete er mit der Tranchiergabel auf seinen ehrenwerten Erzeuger, um keinen Irrtum aufkommen zu lassen, wen er meinte.

»Oh, wie sonderbar!« riefen die Schwestern. »Na ja, wissen Sie«, erklärte Jonas, »er hat sein ganzes Leben lang sein altes Gehirn mit Ziffern und Buchhalterei unfruchtbar gemacht. Vor etlichen zwanzig Jahren bekam er’s Fieber und phantasierte drei Wochen lang. Dabei rechnete und rechnete er bis in die Millionen hinein. Ich glaube, er ist heute noch nicht damit zurechtgekommen. Doch unser Geschäft hat gegenwärtig keinen sonderlichen Umfang, und er ist kein übler Buchhalter.«

»Sogar ein sehr guter«, bemerkte Anthony

»Na, keinesfalls ein teurer. Er verdient sein Salz und Brot, und das genügt schließlich. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß er kaum jemand anderen versteht als meinen Vater; den versteht er aber auch immer, und dann spitzt er die Ohren. Er ist eben schon lange an ihn gewöhnt. Ich habe ihn sogar schon einmal mit meinem Vater Whist spielen und einen ganz guten Rubber machen sehen, obschon er damals so wenig wußte, gegen wen er spielte, wie Sie.«

»Hat er denn keinen Appetit?« fragte Gratia.

»Hm, ja. Wahrscheinlich«, antwortete Jonas und handhabte selbst Messer und Gabel sehr emsig. »Er ißt schon – nur muß man ihm zureden. Solang der Vater da ist, macht er sich nichts draus, eine Minute oder auch eine Stunde zu warten. Wenn ich mal scharf im Zuge bin, wie es heute der Fall ist, stupse ich ihn immer erst, bis ich selbst meinen eigenen Heißhunger ein bißchen gestillt habe. – Na, Chuffey Dussel, – was ist’s mit dem Essen?«

Chuffey blieb unbeweglich.

»Immer der verdrehte alte Spitzbube«, brummte Mr. Jonas und verhalf sich kaltblütig zu einem neuen Stück Braten. »Frag du ihn, Vater!«

»Ob Sie nicht essen wollen? – Sind Sie bereit, Chuffey?« fragte der alte Mann.

»Ja, ja«, antwortete Chuffey, beim ersten Klang dieser Stimme aus seinem Versunkensein erwachend. »Ja, ja. Ganz bereit, Mr. Chuzzlewit. Ganz bereit, Sir, ganz bereit.«

Dann hielt er lächelnd inne und harrte auf eine weitere Ansprache. Als diese nicht erfolgte, nahm sein Gesicht allmählich wieder den früheren nichtssagenden Ausdruck an. »Geben Sie acht, gleich wird er ungemein appetitlich werden«, bemerkte Jonas zu den jungen Damen und reichte die Portion des alten Mannes seinem Vater hinüber. »Er erstickt nämlich immer beinah, wenn’s nicht grad Fleischbrühe ist. Schauen Sie ihn nur an! Haben Sie je einen Droschkengaul mit so gläsernen Augen gesehen, wie ihn? War’s nicht so ein Mordsspaß mit ihm, hätte ich ihn heute nicht zu Tisch kommen lassen; aber ich hab mir gedacht, es wird Sie unterhalten.«

Glücklicherweise vernahm der bedauernswerte Greis von diesen menschenfreundlichen Reden ebensowenig wie überhaupt von all dem, was in seiner Gegenwart gesprochen wurde; da jedoch die Hammelkeule zäh und sein Zahnfleisch weich war, so bewahrheitete sich alsbald die Voraussage hinsichtlich seiner Neigung zum Ersticken, und sein junger Prinzipal hatte vollauf Gelegenheit, zu versichern, das sei das Ergötzlichste, was er in seinem Leben gesehen, und er werde vor Lachen noch platzen. Ja, er ging sogar so weit, den Schwestern zu versichern, Chuffey überböte in dieser Hinsicht sogar noch seinen Vater, was doch, wie er bedeutungsvoll hinzufügte, wirklich ein starkes Stück sei.

Sonderbar genug war es, daß ein so alter Mann wie Anthony Chuzzlewit Wohlgefallen an den Spottreden finden konnte, in denen sich sein vortrefflicher Sohn auf Unkosten des armen Schattens von einem Menschen erging, aber es war nichtsdestoweniger der Fall, wenn auch weniger aus Rücksichtslosigkeit für den greisen Buchhalter als vielmehr aus Freude über die Witzigkeit seines Sprößlings. Nur aus diesem Grunde rieb er sich auch immer entzückt die Hände bei den rohen Anspielungen des jungen Mannes auf ihn selbst und kicherte verstohlen, als wollte er sagen: ich bin doch sein Lehrer! Ich habe ihn herangebildet. Er ist mein Erbe – schlau, listig und habsüchtig. Er wird mein Geld sicherlich nicht verschleudern. Dafür habe ich mich geplagt. Das ist das große Ziel und der Zweck meines Lebens gewesen.

Chuffey trödelte so lange beim Essen, daß Mr. Jonas endlich die Geduld verlor, ihm den Teller wegriß und seinen Vater ersuchte, dem verehrungswürdigen Greis zu bedeuten, er möge gefälligst an »seinem Brot weitermümmeln« – was dieser auch unverzüglich ausrichtete. »Ja, ja!« rief der alte Buchhalter, und sein Gesicht hellte sich auf, als die bekannte Stimme sein Ohr traf; »schon recht – schon recht. Er ist Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit! – Ein gerissener junger Herr – aber Gottes Segen über ihn, Gottes Segen über ihn!«

Mr. Jonas kam dies – und vielleicht nicht mit Unrecht – so absonderlich kindisch vor, daß er sich vor Lachen nur so schüttelte und zu seiner Cousine sagte, er fürchte, Chuffey werde eines schönen Tages noch sein Tod sein. Dann wurde das Tischtuch entfernt und eine Flasche Wein gebracht. Mr. Jonas füllte den jungen Damen die Gläser und forderte sie auf, sich nur ordentlich dazuzuhalten; sie dürften versichert sein, im Keller befänden sich noch eine ganze Menge Flaschen. Natürlich, fügte er gleich darauf hastig hinzu, mache er nur Spaß.

»Also, auf Pecksniffs Gesundheit!« rief Anthony. »Ihr Vater soll leben, meine Lieben! Ein gescheiter Mann, der Pecksniff. Ein schlauer Mann! – Aber doch ein Heuchler, was? Ein Heuchler – sagt selber, Mädels! – Was? Ha, ha, ha! Ja, das ist er – unter Freunden gesprochen – das ist er. Ich denke deshalb nicht schlechter von ihm. Wenn er’s nur nicht so übertriebe. Man kann alles übertreiben, meine Lieben – sogar die Heuchelei. Fragt nur Jonas!«

»Nur die Sorge ums eigene Wohl kann man nicht übertreiben«, bemerkte der hoffnungsvolle junge Mann mit vollem Munde.

»Hört ihr’s, Kinder?« rief Anthony entzückt. »Das nenne ich Weisheit! Wirklich ein Vorbild, der Jonas! Ganz recht, darin kann man nicht leicht übertreiben.«

»Ausgenommen«, flüsterte Mr. Jonas Miss Charitas zu, »ausgenommen, wenn einer zu lange lebt. – Ha, ha! – Sagen Sie’s auch der ›andern‹!«

»Aber du lieber Himmel«, rief Cherry verdrießlich. »Warum sagen Sie’s ihr denn nicht selbst?«

»Sie macht sich immer so gern lustig über einen«, meinte Mr. Jonas.

»Also, warum kümmern Sie sich dann immer um sie! Sehen Sie denn nicht, daß Sie sich nichts aus Ihnen macht? Muß man Ihnen das wirklich erst sagen?« Mr. Jonas erwiderte weiter kein Wort, blickte aber Gratia mit einer so ausdrucksvollen Miene an, daß man deutlich darin lesen konnte: »Verlaß dich drauf, das Herz wird mir deshalb nicht brechen«; dann liebäugelte er mit Charitas noch zärtlicher als zuvor und bat sie in seiner ritterlichen Weise, doch ein wenig näher zu rücken.

»Es gibt übrigens noch etwas, das sich gleichfalls nicht so leicht übertreiben läßt, Vater«, bemerkte er nach einer kurzen Pause.

»Und das wäre?« fragte Anthony Chuzzlewit, schon im voraus grinsend.

»Das Profitmachen! – Ehrlich währt am längsten,– – bevor man’s zu was bringt. Das ist die erste Regel für den Geschäftsmann – alles andre ist dummes Zeug.«

Entzückt applaudierte der alte Herr, daß es nur so widerhallte, und war derart von der Sentenz seines Sohnes erbaut, daß er sich sogar der Mühe unterzog, sie Chuffey mitzuteilen, der sich darob in all den matten Freudenäußerungen erging, deren er fähig war, das heißt sich die Hände rieb, mit dem Kopfe wackelte, mit seinen wässerigen Augen blinzelte und in pfeifenden Tönen rief: »Gut! Gut! – Ganz Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit!« Es lag etwas Versöhnendes in dem Enthusiasmus des armen Greises; eine gewisse Sympathie mit dem einzigen Menschen, an den er durch das Band eines jahrelangen Verkehrs und seine jetzige Hilflosigkeit gefesselt war. Und hätte sich jemand die Mühe genommen, ihn zu beobachten, so würde er vielleicht darin die trübseligen Spuren einer einst gutgearteten Natur in diesem bis auf den Grund ausgelaugten Geschöpfe entdeckt haben.

Hier natürlich schenkte niemand diesem Umstand irgendwelche Aufmerksamkeit, und so zog sich Chuffey in einen dunklen Winkel neben dem Kamin zurück, wo er stets seine Abende zuzubringen pflegte, und ließ weiter nichts mehr von sich sehen oder hören – ein einziges Mal vielleicht ausgenommen, als man ihm eine Tasse Tee reichte, in die er dann mechanisch sein Brot eintunkte. Es war kein Grund zur Annahme vorhanden, daß er zu solchen Zeiten schlief, ebensowenig aber auch, daß er irgend etwas hörte, sah, fühlte oder dachte; er war sozusagen eingefroren – wenn sich überhaupt ein Ausdruck, der einen so ausgeprägt kräftigen Prozeß bezeichnet, auf seinen Zustand anwenden läßt –, bis er wieder für einen Augenblick infolge eines Wortes oder einer Berührung von Seiten Anthonys auftaute.

Miss Charitas bereitete auf Mr. Jonas‘ Bitte den Tee und kam sich dabei so ganz als junge Hausfrau vor, daß sie in die allerlieblichste Verwirrung geriet, um so mehr, als ihr Vetter dicht neben ihr saß und Ihr allerhand berauschende Worte ins Ohr flüsterte. Miss Gratia ihrerseits fühlte so deutlich, der Abend gehöre ausschließlich dem Pärchen an, daß sie über einer gestrigen Zeitung gähnte, in Gedanken ganz bei den Herren Handelsbeflissenen, die in diesem Augenblick ohne Zweifel nach ihrer Rückkehr schmachteten. Da überdies Anthony sich rücksichtslos dem Schlafe hingab, hatten Jonas und Cherry völlig freies Spiel, solange es ihnen beliebte.

Als das Teeservice abgeräumt worden war, brachte der liebenswürdige junge Mann ein schmutziges Kartenspiel zum Vorschein und unterhielt die beiden Schwestern mit allerhand kleinen Kunststücken, die immer darauf hinausliefen, eine von beiden zu einer Wette zu verlocken, daß das oder jenes unmöglich sei, dann mit Sicherheit zu gewinnen und das Geld einzustreichen. Dabei versicherte Mr. Jonas unablässig, diese Kunstfertigkeiten seien jetzt in den gebildetsten Zirkeln äußerst beliebt und große Summen flössen auf solche Art von einer Hand in die andere. Im Grunde seines Herzens glaubte er das auch, denn es gibt bekanntlich ebensogut eine Borniertheit der List wie eine Einfalt der Unschuld, und in allen Fällen, wo Spitzbüberei oder Niedertracht die Grundlage eines Glaubensbekenntnisses bildeten, war Jonas einer der Gläubigsten. Überdies kannte seine wirklich ungeheuerliche Unwissenheit keine Grenzen.

Zum Taugenichts vom reinsten Wasser fehlte ihm eigentlich nur eine Eigenschaft – nämlich die einzig gute: die Freigebigkeit. Aber da standen ihm immer seine Habsucht und sein Geiz im Wege, und wie ein Gift bisweilen das andere neutralisiert, wenn sonstige Gegenmittel nichts nützen, so wurde eine böse Leidenschaft für ihn der Hemmschuh, sich ganz und gar dem Laster hinzugeben, wo die Tugend in eigener Person vergeblich versucht haben würde, ihn zurückzuhalten.

Mittlerweile war es bereits ziemlich spät geworden, und da Mr. Pecksniff immer noch nicht erschien, äußerten die jungen Damen den Wunsch, nach Hause zu gehen. Allein das wollte Mr. Jonas in seiner Galanterie durchaus nicht zugeben, bis sie nicht noch etwas Brot, Käse und Porter genossen hätten, und selbst dann suchte er sie immer noch aufzuhalten, indem er Miss Charitas immer wieder aufforderte, doch »ein bißchen näher zu rücken« oder noch ein Weilchen zu bleiben, und allerhand andere schmeichelhafte Bitten in seiner gastfreundlichen und charmanten Art vorbrachte. Erst als alle seine Bemühungen fruchtlos blieben, nahm er seinen Hut und zog seinen Überrock an, um sie zu Todgers zu begleiten, mit dem Bemerken, er wisse wohl, daß sie lieber gingen als führen, und er sei in diesem Punkte auch ganz ihrer Meinung.

»Gute Nacht«, sagte Anthony. »Gute Nacht! Und meine Empfehlung – ha, ha, ha! – meine Empfehlung an Pecksniff. Nehmt euch vor eurem Vetter in acht, meine Lieben. Er ist ein gefährlicher Junge. Vor allen Dingen, fahrt euch seinetwegen nicht in die Haare!«

»Ach herrje. Wegen dieser Vogelscheuche!« rief Gratia. »Schon der Gedanke, sich seinetwillen zu zanken! Bitte, behalte ihn nur ruhig für dich, liebste Cherry. Ich schenke dir von Herzen gern meinen Anteil an ihm.«

»Aha, ich bin also eine saure Traube – was, Cousine?« entgegnete Jonas.

Miss Charitas war über diesen schlagfertigen Witz mehr ergötzt, als man bei seiner Abgedroschenheit hätte voraussetzen dürfen, aber aus reiner schwesterlicher Liebe nahm sie Mr. Jonas tüchtig dafür ins Gebet und erklärte ihm, er dürfe unter keinen Umständen mehr so grausam gegen die arme Gratia sein, sonst sähe sie sich tatsächlich genötigt, ihm ihr Wohlwollen zu entziehen. Gratia ließ sich jedoch nicht aus der Fassung bringen und lachte nur laut auf, und dann traten alle drei einmütig ihren Weg an. Jonas führte an jedem Arm eine Cousine und drückte von Zeit zu Zeit heimlich Gratia, und zwar so fest, daß sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Da er jedoch stets nur mit Charitas flüsterte und ihr gegenüber die größte Aufmerksamkeit an den Tag legte, war das offenbar nur eine Verwechslung seinerseits. Als sie endlich bei Todgers anlangten und die Türe geöffnet wurde, riß sich Gratia hastig los und eilte die Treppe hinauf. Charitas und Jonas aber blieben noch ein paar Minuten unten stehen und plauderten miteinander; kurz, es war klar, wie die Sachen standen – wie Mrs. Todgers am nächsten Morgen zu einer Freundin bemerkte, und sie freue sich darüber, setzte sie hinzu, denn es sei wahrhaftig höchste Zeit, daß Miss Pecksniff unter die Haube komme.

Und dann kam der Tag, an dem das glänzende Gestirn, das so plötzlich an Todgers‘ Himmel erschienen war und seinen milden Sonnenglanz in Jinkins‘ düster schattige Brust geworfen hatte, wieder verschwinden, nein, verstaut – wie ein Packpapierpaket, ein Fischkorb, ein Austernfäßchen, ein fetter Gentleman oder sonst ein Stück prosaische Wirklichkeit – in einer Postkutsche und aufs Land hinaus entführt werden sollte.

»Nie, meine teuern Misses Pecksniff«, sagte Mrs. Todgers, als die Damen sich in der letzten Nacht ihres Aufenthalts zur Ruhe begaben, »nie habe ich ein Logierhaus so gebrochenen Herzens gesehen wie das meinige in diesem Augenblick. Ich glaube nicht, daß meine Herren so bald wieder dieselben sein werden wie früher. – Auf Wochen hinaus nicht. – Sie haben viel zu verantworten, Sie beide!«

Bescheiden leugneten die jungen Damen, irgendeinen Einfluß auf diesen unseligen Stand der Dinge genommen zu haben, und drückten ihr tiefstes Bedauern aus.

»Und noch obendrein Ihr frommer Papa!« rief Mrs. Todgers. »Ist das ein Verlust! Meine lieben Misses Pecksniff, Ihr Papa ist ein wahrer Engelsbote des Friedens und der Liebe.«

Etwas ungewiß hinsichtlich der Beschaffenheit der »Liebe«, deren Verkünder ihr Vater gewesen sein sollte, nahmen die jungen Damen dieses Kompliment ziemlich kühl auf.

»Wenn ich nicht so hoch und teuer versprochen hätte, zu schweigen«, änderte Mrs. Todgers rasch das Thema, »so möchte ich Ihnen gar zu gern verraten, warum ich Sie bitten muß, heute nacht die kleine Türe zwischen Ihrem und meinem Zimmer offen zu lassen. Ich glaube, es würde Sie riesig interessieren. Aber ich kann leider nicht, denn ich hab‘ Mr. Jinkins feierlich versprechen müssen, so stumm zu sein wie das Grab.«

»Bitte, liebe Mrs. Todgers, bitte, sagen Sie’s doch«, flehten die beiden jungen Damen.

»Nun also gut, meine lieben süßen Misses Pecksniff«, begann Mrs. Todgers nach längerem innerem Kampfe; »meine lieben Kinder – wenn Sie mir erlauben wollen, Sie am Abend vor unserer Trennung so zu nennen –, Mr. Jinkins und die übrigen Herren haben eine kleine musikalische Überraschung für Sie vorbereitet und beabsichtigen, Ihnen in stiller Nacht auf der Treppe vor der Türe ein Ständchen zu bringen. Ich muß zwar gestehen, daß es mir lieber gewesen wäre«, meinte Mrs. Todgers mit ihrem gewohnten Scharfblick, »man hätte eine frühere Stunde dazu gewählt, denn, wenn Herren lang aufbleiben, trinken sie, und wenn sie trinken, sind sie vielleicht weniger musikalisch als sonst. Aber Sie haben’s nun mal nicht anders haben wollen, und ich weiß, meine teuern Misses Pecksniff, daß Sie sich über einen solchen Beweis von Aufmerksamkeit nur freuen werden.«

Die jungen Damen waren über diese Nachricht anfangs so aufgeregt, daß sie beteuerten, sie könnten nicht an ein Zubettgehen denken, ehe nicht die Serenade vorüber sei; eine halbe Stunde Wartens machte sie jedoch in ihrem Entschluß so wankend, daß sie nicht bloß zu Bett gingen, sondern sogar fest einschliefen. Auch waren sie durchaus nicht übertrieben entzückt, als eine Weile später gewisse süße Klänge die Stille der Nacht unterbrachen und sie aus ihrem Schlummer weckten.

Aber erschütternd war es – sogar sehr erschütternd. Selbst der verwöhnteste Geschmack hätte sich nichts Schauerlicheres wünschen können. Der sangesfreudige Gentleman war der Ober-Pompesfunebresmann, Jinkins der Baß, und die übrigen bedienten sich willkürlich der Töne, die ihnen gerade einfielen. Der »jüngste Gentleman der Gesellschaft« machte seiner Schwermut auf der Flöte Luft. Er blies zwar nicht viel, aber das wirkte nur um so vorteilhafter. Wenn die beiden Misses Pecksniff und Mrs. Todgers an Selbstverbrennung zugrunde gegangen wären und die Serenade hätte ihren Exequien gegolten, nichts würde so tief die Verzweiflung haben ausdrücken können, die in dem Chorgesang »Wir winden dir den Jungfernkranz« lag. Es war ein Requiem, eine Totenklage, ein Stöhnen, ein Geheul, ein Wehruf und ein Lamento – kurz, es umfaßte alles, was es an Tönen Jammervolles und Erschütterndes gibt. Die Flöte des »jüngsten Gentleman der Gesellschaft« blies wild und krampfhaft – die Töne kamen und gingen stoßweise wie der Wind. Für eine Weile verstummte er ganz und gar, aber als Mrs. Todgers und die jungen Damen schon darüber einig waren, er müsse, von seinen Gefühlen überwältigt, sich in Tränen zurückgezogen haben, fing er wieder plötzlich in den höchsten Flageolettönen an, daß es einem förmlich den Atem verschlug. Er war ein erbarmungsloser, unberechenbarer Virtuose. Kaum glaubte man ihn erwischt zu haben, brach er ab, und dachte man, er pausiere ganz und gar, tauchte er mit einer Leistung auf, die einen geradezu verblüffte.

Es kamen mehrere Lieder an die Reihe, vielleicht zwei oder drei zuviel, aber das war, wie Mrs. Todgers sagte, nur eine Übertreibung in gutem Sinne. Doch selbst jetzt – selbst in diesem feierlichen Augenblick, bei dem man hätte glauben sollen, die ergreifenden Töne drängten bis in die tiefsten Tiefen der Seele, konnte Mr. Jinkins den »jüngsten Gentleman der Gesellschaft« nicht ungeschoren lassen. Vor der zweiten Piece bat er ihn inständig – man denke nur, der Ruchlose – erbat er sich’s obendrein als eine besondere Gunst: er möge nicht blasen. Ja, so sagte er wörtlich – nicht blasen! Man konnte den erregten Atem des jüngsten Gentlemans durch das Schlüsselloch bis ins Zimmer hören. Aber er blies nicht. Wie hätte auch eine armselige Flöte die Leidenschaften wiedergeben können, die seine Brust durchtobten! Sogar eine Posaune hätte nicht ausgereicht.

Die Serenade näherte sich ihrem Ende. Um der Huldigung die Krone aufzusetzen, hatte der literarische Gentleman auf die Abreise der Damen ein Gedicht gemacht und es einer alten Melodie angepaßt. Alle wirkten dabei mit, nur der jüngste Gentleman nicht, der aus ebenerwähnten Gründen ein furchtbares Schweigen beobachtete. Das Gedicht rief, klassischen Vorbildern angepaßt, das Orakel des Apollo an, es solle verraten, was wohl aus Todgers werden würde, wenn Charitas und Gratia aus seinen Mauern gewichen seien. Das Orakel gab darauf keine Antwort, die der Rede wert gewesen wäre – ganz nach der Art aller Orakel seit den ältesten Zeiten bis herab auf die unsrige, und die Dichtung ging daher auf den Beweis über, daß England nur deshalb den Beinamen: die glückliche Insel trage, weil die Misses Pecksniff auf ihr wohnten. – Von da bis zur Verhymnung des Meeres war nur ein Schritt, und so schloß das Ganze mit den Versen:

»Heil Pecksniff, dem Edlen! Zu heimischen Zonen
Sanft gleite sein Fahrzeug – die Winde im Bann,
Dieweil ringsum bestaunen voll Stolz die Tritonen
Den Baumeister, Künstler und Mann!«

Nach glücklicher Vorführung dieses herrlichen Phantasiegebildes zogen sich die Herren allmählich in ihre Schlafgemächer zurück, um die Musik noch aus der Entfernung erklingen und endlich ersterben zu lassen. Dann lag wieder tiefe Stille über Todgers‘ Etablissement.

Mr. Bailey behielt sich seine musikalische Huldigung bis zum Morgen vor, und als die jungen Damen vor ihren Koffern knieten und mit Einpacken beschäftigt waren, steckte er den Kopf in die Stube und entzückte sie durch Nachahmung der Stimme eines jungen Hundes in bedrängten Umständen.

»Na, Fräuleins«, sagte er dann, »fahren S‘ jetzt heim? – Schad‘ eigentlich – was?«

»Ja, Bailey, wir fahren nach Hause«, entgegnete Gratia.

»Haben S‘ net Lust, einem von die Herren a Haarlocken zum Andenken dazulassen? – Oder tragen S‘ leicht falsche?«

Die Damen lachten herzlich und versicherten, daß das natürlich nicht der Fall sei.

»Na so ganz natürlich is dös net«, meinte Bailey. »Mrs. Todgers‘ Haar zum Beispiel san falsch – ich hab’s amal am Fensternagel hängen sehen. Und dann geh i auch um d‘ Essenszeit öfter hinter ihr her und zupf dran; aber sie merkt’s net. – Übrigens, Fräuln, i kündig jetzt auf. Ich lasse mir’s net länger mehr gfallen, daß sie mir alle möglichen Schimpfnamen gibt.«

Miss Gratia fragte, welche Pläne er sich denn hinsichtlich seiner Zukunft gemacht habe, und Mr. Bailey erwiderte, er wolle entweder Jockey werden oder in die Armee eintreten.

»In die Armee?« riefen die beiden jungen Damen lachend.

»No, warum denn nöt?« meinte Bailey. »Es gibt Trommler genug im Tower. Dös weiß a jeder. – Is das Vaterland leicht nöt stolz auf sie?«

»Du willst also mit aller Gewalt erschossen werden, wie ich sehe«, bemerkte Gratia.

»No, was wär da weiter?« rief Mr. Bailey. »A feins Leben is ’s halt doch, Fräuln, oder leicht net? Immer noch gscheiter, ’s fliegt oam a Kanonenkugel am Buckl ausi als a Nudelwalker jeden Tag. – Allaweil wirft s‘ mir oan nach, wann die Herren zviel essen. – Als ob i da was dafür kunnt«, setzte Bailey ergrimmt hinzu. »Was kann denn i dafür, wanns alles auffressen!«

»Aber dafür gibt dir gewiß niemand die Schuld«, entgegnete Gratia.

»So, meinen S‘?! – No ja, was verstengan denn Sö davon! Natürli kann mir neamd d‘ Schuld gebn, aber tun teans es doch. – Na; i laß mir dös net länger gfallen, daß i’s immer ausfressen muß, wann die Fleischpreis steigen. – I bleib net mehr länger. – Drum«, fügte Mr. Bailey, von einem Ohr bis zum andern grinsend, hinzu, – »wann S‘ mir leicht was geben wollen, so tun S‘ es lieber gleich jetzt. – Wann S‘ leicht amal wiederkommen, bin i nimmer da. Und, was mein Nachfolger sein wird, so weiß i jetzt schon, daß er’s net verdient.«

Die jungen Damen entsprachen, sowohl für Mr. Pecksniff als auch für sich, diesem weisen Rat und beschenkten aus Rücksicht für ihre Privatfreundschaft Mr. Bailey so freigebig, daß dieser kaum wußte, wie er seine Dankbarkeit zur Genüge an den Tag legen sollte, denn der Umstand, daß er während des Restes des Tages des öftern geheimnisvoll auf seine Tasche klopfte und sonstige geistreiche Anspielungen machte, konnte doch nur als ein unvollkommener Ausdruck dafür angesehen werden. Auch legte er den denkbar größten Diensteifer an den Tag, zerquetschte eine Hutschachtel, beschädigte das Gepäck Mr. Pecksniffs beim Herunterholen aus der Dachkammer so stark wie nur irgend möglich – kurz, bemühte sich nach Kräften, seine Erkenntlichkeit in jeder Hinsicht zu beweisen. Zur Mittagszeit kamen Mr. Pecksniff und Mr. Jinkins Arm in Arm zum Dinner nach Hause, denn letzterer hatte ausdrücklich wegen des feierlichen Anlasses einen halbtägigen Urlaub genommen und damit natürlich einen ungeheuern Vorsprung sowohl über den »jüngsten Gentleman der Gesellschaft« wie nicht minder über die andern Herren gewonnen, deren Zeit – ärgerlich genug – bis abends in Anspruch genommen war.

Mr. Pecksniff ließ eine Flasche Wein springen, und es war eigentlich recht gemütlich, trotz der vielen und langen Lamentationen über die Notwendigkeit der bevorstehenden Trennung. Mitten in ihrer Unterhaltung wurden der alte Anthony und sein Sohn gemeldet – sehr zu Mr. Pecksniffs Überraschung und zum größten Ärger für Mr. Jinkins.

»Komme, Ihnen Adieu zu sagen, wie Sie sehen«, sagte Anthony leise, setzte sich mit Mr. Pecksniff an einen Nebentisch und ließ die andern sich miteinander unterhalten. »Ich sehe nicht ein, weshalb wir Feinde sein sollten. Getrennt sind wir wie die zwei Hälften einer Schere, Pecksniff, aber vereinigt können wir was zuwege bringen. Was meinen Sie?«

»Einmütigkeit, mein werter Herr«, flötete Mr. Pecksniff, »ist immer etwas Herrliches!«

»Na, wie man’s nimmt«, meinte der alte Mann, »es gibt schon gewisse Leute, mit denen ich lieber in Feindschaft als in Eintracht leben würde. Doch Sie wissen ja, wie ich von Ihnen denke.«

Mr. Pecksniff, dem noch immer der »Heuchler« im Magen lag, antwortete nur mit einer krampfhaften Kopfbewegung, die zwischen einer bejahenden Verbeugung und einem verneinenden Schütteln die Mitte hielt.

»Nämlich sehr schmeichelhaft für Sie«, fuhr Anthony fort; »mein Wort, außerordentlich schmeichelhaft. Es war ein unwillkürlicher Tribut – damals –, den ich Ihren Fähigkeiten zollte, wenn auch die Zeit nicht sonderlich günstig für Komplimente war. Übrigens haben wir uns ja inzwischen in der Postkutsche gründlich ausgesprochen und sind jetzt vollkommen miteinander im klaren.«

»O ja, vollkommen!« pflichtete Mr. Pecksniff mit einer Miene bei, die deutlich verriet, wie heroisch er sein Schicksal, so grausam verkannt zu werden, zu tragen wußte. Dann schwiegen beide eine kleine Weile.

Anthony sah nach seinem Sohne hin, der seinen Platz neben Miss Charitas eingenommen hatte, dann auf Mr. Pecksniff, und so mehrere Male hin und her. Zufälligerweise nahmen Mr. Pecksniffs Blicke eine ähnliche Richtung, aber als er es gewahr wurde, schlug er rasch die Augen nieder, um den alten Mann nichts darin lesen zu lassen.

»Jonas ist ein geriebener Junge«, begann Anthony wieder.

»Ja, es scheint so«, gab Mr. Pecksniff offenherzig zu.

»Und vorsichtig.«

»Ich zweifle nicht daran, auch vorsichtig«, versetzte Mr. Pecksniff.

»Schauen Sie ihn nur an«, flüsterte ihm Anthony ins Ohr. »Ich glaube, er macht sich an Ihre Tochter heran.«

»Pst, mein werter Herr«, verwies Mr. Pecksniff, immer noch mit geschlossenen Augen; »junges Volk – junges Volk, ich bitte Sie – und noch obendrein Vetter und Cousine – was ist da weiter dabei!«

»Na, ich glaube, die Verwandtschaft spielt da unserer Erfahrung nach keine besonders große Rolle«, meinte Anthony.

»Glauben Sie nicht, daß da ein bißchen mehr dahinter sein könnte?«

»Kann man unmöglich mit Bestimmtheit sagen«, versetzte Mr. Pecksniff. »Ganz unmöglich! Sie setzen mich übrigens in Erstaunen.«

»Ja, kann ich mir denken«, sagte der alte Mann trocken. »Es kann Bestand haben – ich meine das Zärtlichtun, nicht das Erstaunen; möglich aber auch, daß es bald wieder ein Ende nimmt. Angenommen jedoch, es wäre von Dauer. – Na, Sie haben Ihr Nest hübsch mit Federchen ausgefüttert, und bei mir ist das gleiche der Fall; – die Sache könnte dann für uns beide recht interessant werden.«

Mr. Pecksniff lächelte mild und öffnete den Mund zu einer Antwort, aber Anthony fiel ihm ins Wort.

»Ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Sie haben natürlich noch keinen Augenblick an dergleichen gedacht. In einem Punkte, der das Glück ihres teuern Kindes so nahe angeht, können Sie als zärtlicher Vater keine Meinung abgeben und so weiter. Ja, ja, ganz recht, und sieht Ihnen auch ähnlich! – Mir aber, mein lieber Pecksniff«, setzte Anthony hinzu und legte seine Hand auf den Ärmel des würdigen Architekten, »kommt es vor, es könnte einen von uns benachteiligen, wenn wir so sorglos noch weiter so täten, als ob wir nichts sähen. Dies wäre mir für meinen Teil nun nicht besonders lieb, und Sie werden schon entschuldigen, wenn ich mir die Freiheit nehme, die Sache in Bälde ins reine gebracht sehen zu wollen. Meinen Dank übrigens, daß Sie mir so lange und aufmerksam zugehört haben. Wir wissen jetzt wenigstens beide Bescheid, und das kann nur angenehm sein.«

Mit diesen Worten stand der alte Mann auf, nickte Mr. Pecksniff verständnisinnig zu und ging zu den jungen Leuten. – Der vortreffliche Architekt hingegen blieb, etwas verdutzt über dieses unverblümte Verfahren seiner Verwandten, sitzen und konnte sich des unangenehmen Gefühls nicht erwehren, mit seinen eigenen Waffen geschlagen worden zu sein.

Postkutschen pflegen nicht zu warten, und es wurde langsam Zeit, sich nach dem Bureau zu begeben, das ganz in der Nähe lag. Das Gepäck war bereits besorgt, und so konnte man sich ohne weiteres zum Aufbruch anschicken. Die Misses Pecksniff und Mrs. Todgers setzten ihre Hüte auf, und bald war die ganze Gesellschaft unterwegs. Die Pferde waren bereits eingespannt, und auch der größte Teil der Herren Handelsbeflissenen hatte sich schon eingefunden – der »jüngste Gentleman« mit eingeschlossen, der, sichtlich aufgeregt, in einem Zustande tiefster geistiger Niedergeschlagenheit am Wagenschlag stand.

Nichts ließ sich mit dem Schmerz vergleichen, mit dem Mrs. Todgers von den jungen Damen Abschied nahm, ausgenommen höchstens die gewaltige Erregung, die sie ergriff, als sie Mr. Pecksniff Lebewohl sagte. Wohl noch nie wurde ein Taschentuch so oft aus einer flachen Retikule herausgezogen und wieder hineingesteckt als das Mrs. Todgers‘, als sie, auf beiden Seiten von je einem Herrn Handelsbeflissenen gestützt, neben dem Kutschenschlag auf dem Pflaster stand. Dabei suchte sie bei dem Lichte der Wagenlaternen so viele Blicke auf das Gesicht des vorbildlichen Mannes zu erhaschen, als es das beständige Dazwischentreten Mr. Jinkins‘ nur irgend gestatte. Mr. Jinkins nämlich, bis zum letzten Augenblick ein Stein des Anstoßes im Leben des »jüngsten Gentleman«, stand auf dem Kutschentritte und plauderte mit den Damen.

Den andern Kutschentritt hielt, kraft seines Vorrechts als Vetter, Mr. Jonas besetzt, und so sah sich der »jüngste Gentleman«, trotzdem er sich als erster an Ort und Stelle eingefunden, unter die schwarz und roten Plakate und die Porträts der Eilwagen in dem Einschreibebureau zurückgedrängt – mitten unter die schweren Gepäckstücke, und überdies der schmählichen Rücksichtslosigkeit der Lastträger aufs unwürdigste preisgegeben. Diese ungeschickte Position, verbunden mit großer nervöser Erregtheit, war schuld, daß das Pech des »jüngsten Gentleman« schließlich seinen Höhepunkt erreichte. Als er nämlich im Augenblick des Scheidens mit einer Blume – einer Treibhausblume, die viel Geld gekostet hatte – nach Gratias schöner Hand zielte, traf er damit den Kutscher auf den Bauch, und der Mann steckte sie freundlich lächelnd in sein Knopfloch.

Und dann waren sie fort und »Todgers« wieder allein.

Die beiden jungen Damen lehnten sich jede in eine Ecke zurück und überließen sich schmerzlichen Gedanken, und Mr. Pecksniff konzentrierte, die Erinnerungen an vergängliche, gesellige Vergnügungen aus seinem Herzen ausschaltend, die ganze Kraft seines Geistes auf den einen großen tugendhaften Entschluß, jenen Undankbaren zu verstoßen, der zur Zeit noch immer unter seinem Dache weilte und den Altar seiner Hausgötter durch seine Anwesenheit schändete.