23. Kapitel

Martin und sein Kompagnon treten ihren Besitz an. Dieser erfreuliche Anlaß gibt Gelegenheit zu einem weiteren Bericht über Eden

Martin bemerkte an Bord des Dampfschiffs einige Passagiere ganz desselben Schlages wie sein New Yorker Freund, Mr. Bevan, und das machte ihn bald wieder heiter und zuversichtlich. Die Herren befreiten ihn, so gut es eben gehen wollte, aus den intellektuellen Schlingen Mrs. Hominys und bewiesen in ihrem ganzen Reden und Tun so viel gesunden Menschenverstand und Hochherzigkeit, daß er sie gar nicht genug schätzen zu können glaubte.

»Wäre Amerika wirklich eine Republik der Intelligenz und des wahren Menschenwertes«, sagte er, »während sie nur blauen Dunst und Prellerei hervorbringt, so würde es hier nicht an Hebeln fehlen, die Staatsmaschine in Bewegung zu erhalten.«

»Aber gute Werkzeuge haben und schlechte gebrauchen«, entgegnete Mr. Tapley, »heißt das nicht ein erbärmlicher Zimmermann sein?«

Martin nickte: »Es scheint, als ob die Last der Arbeit ihre Zwecke und Kräfte unendlich übersteigt, und deshalb pfuschen sie.«

»Das schönste bei der Sache ist«, meinte Mark, »daß, wenn sie wirklich einmal etwas Anständiges ausführen, so wie bessere Arbeiter, die weniger vom Glück begünstigt sind, es täglich tun, ohne es für etwas Besonderes anzusehen, sie immer ein riesiges Aufhebens davon machen. Denken Sie an meine Worte, Sir! Wenn jemals der bankerotte Teil dieses Landes seine Schulden zahlen sollte – wenn er schließlich merkt, daß das Nichtbezahlen nicht angeht und unangenehme Folgen hat –, so werden sie so das Maul vollnehmen, als ob seit Erschaffung der Welt noch nie ein geborgter Dollar zurückgezahlt worden wäre. So belügen sie einander, Sir. Ich durchschaue die Burschen. Denken Sie an meine Worte, Sir.«

»Wahrhaftig, Sie sind ja schrecklich scharfsinnig auf einmal«, lachte Martin.

»Vielleicht kommt es daher«, brummte Mark, »daß ich eine Tagesreise näher an Eden bin und die Erleuchtung über mich kommt, ehe ich sterbe. Wer weiß, vielleicht werde ich gar ein Prophet, ehe wir noch in Eden sind.«

Er sprach diese Gedanken zwar nicht aus, aber die außerordentliche Fröhlichkeit, die sie in ihm hervorriefen, sagte genug. Obwohl Martin zuweilen tat, als habe er kein Verständnis für den unerschöpflich heitern Sinn seines Kompagnons, und manchmal – wie in dem Falle bei Mr. Zephania Scadder – seine Kommentare zu allem und jedem etwas gar zu spaßhaft fand, so war er doch immer empfänglich für die belebende und aufmunternde Wirkung des Beispiels, das ihm Mark Tapley gab.

Anfangs wurden ziemlich viel Reisende ein- oder zweimal des Tages an Land gesetzt und andere kamen dafür an Bord, aber je weiter sie stromauf fuhren, desto dünner schienen die Städte gesät zu sein, und oft dauerte es viele Stunden, ohne daß sie andere Ansiedlungen zu Gesicht bekamen als die Hütten der Holzfäller, an denen der Dampfer Brennmaterial einnahm. – Himmel, Wald und Wasser den ganzen lieben Tag lang und eine Hitze, die Blasen zog, wohin die Strahlen der Sonne fielen.

So ging es fort durch große Einöden, wo Buschwerk dicht und eng das Ufer bedeckte, Bäume in der Strömung trieben, aus der Tiefe ihre verdorrten Arme in die Höhe reckend oder vom Lande aus in das Wasserbett niedertauchten, halb noch wachsend, halb im schlammigen Wasser modernd. Fort und fort in ewiger Eintönigkeit, den ganzen Tag und die traurige Nacht, in der sengenden Sonnenglut und im Dunst und Nebel des Abends – immer weiter und weiter, bis ein Umkehren unmöglich war und ein Wiedersehen der Heimat nur noch wie ein Traum erschien.

Es waren schließlich nur noch wenige Passagiere mehr an Bord und diese so stumpfsinnig und träge wie die Vegetation der Ufer mit ihrem qualvoll ermüdenden Anblick. Keine Äußerung des Frohsinns oder der Hoffnung wurde laut, und kein angenehmes Geplauder verkürzte den trägen Lauf der Stunden. Und nirgends bildeten sich die kleinen Gruppen, wie es sonst auf Reisen der Fall zu sein pflegt, um durch Gespräche gegen die Öde der Landschaft anzukämpfen. Hätte man nicht zu gewissen Stunden aus einem gemeinschaftlichen Troge seine Nahrung verschlungen, so hätte man denken müssen, das Dampfschiff sei die Fähre des alten Charon, der melancholische Schatten zum jüngsten Gerichte führt.

Endlich kamen sie in die Nähe von Neu-Thermopylae, wo noch am selben Abend Mrs. Hominy an Land gehen wollte. Ein Strahl des Trostes senkte sich in Martins Herz, als sie ihm dies eröffnete. Mark war weniger trostbedürftig, aber auch ihm mißfiel diese Veränderung nicht.

Es war fast Nacht, als sie an dem Landungsplatz anlegten – steiles Gestade und darauf ein »Hotel«, das wie eine Scheune aussah, ein oder zwei hölzerne Magazine und einige zerstreut umherstehende Schuppen.

»Sie wollen wohl hier übernachten und dann morgen weiterreisen, Madame?« fragte Martin.

»Wohin sollte ich denn weiterfahren?« rief die Mutter der modernen Gracchen.

»Ich denke, doch nach Neu-Thermopylae?«

»Aber, das ist doch hier!«

Martin sah sich neugierig um, konnte jedoch nichts entdecken, was den Namen Neu-Thermopylae auch nur halbwegs verdient hätte.

»Aber da liegt es doch!« rief Mrs. Hominy und deutete auf den eben erwähnten Schuppen.

»Da?«

»Jawohl. Und man kann sagen, was man will, Eden läßt sich nicht damit vergleichen«, sagte Mrs. Hominy und nickte ausdrucksvoll mit dem Kopfe. Inzwischen war die verheiratete Tochter Mrs. Hominys an Bord gekommen, und ihr Gatte bestätigte stolz die Behauptungen seiner Schwiegermutter. Dankend lehnte Martin die Einladung der Herrschaften ab, für die halbe Stunde, während der das Boot anhielt, an Land zu gehen und dort etwas zu genießen; und nachdem er Mrs. Hominy und das rote Taschentuch, das immer noch in Tätigkeit war, glücklich über die Fallreepstreppe begleitet hatte, kehrte er in höchst nachdenklicher Stimmung zurück, um den Auswandrern zuzusehen, wie sie ihre Habe ausschifften.

Mark stand neben ihm und trachtete zuweilen verstohlen in seinen Zügen zu lesen, welchen Eindruck wohl die Worte Mrs. Hominys auf ihn gemacht haben mochten. Es wäre ihm lieb gewesen, Martins Hoffnungen herabgestimmt zu sehen, bevor sie ihren Bestimmungsort erreichten, damit der Schlag, den er befürchtete, nicht zu vernichtend ausfiele, aber Martin blickte nur dann und wann nach den ärmlichen Bauten auf dem Hügel und verriet mit keiner Miene, was in seinem Innern vorging, bis sie wieder weiterfuhren.

»Mark«, sagte er dann, »ist wirklich niemand außer uns an Bord, der mit nach Eden fährt?« »Keine Seele, Sir. Sie wissen doch, daß die meisten zurückgeblieben sind; die wenigen, die noch da sind, gehen weiter als nach Eden. Was liegt übrigens daran. Um so mehr Platz werden wir dort haben.«

»Freilich«, sagte Martin, »aber ich dachte – –« dann verstummte er plötzlich.

»Nun, Sir?« fragte Mark.

»Ist es nicht merkwürdig, daß die Leute ihr Glück in einem so elenden Nest wie diesem hier zum Beispiel versuchen wollen, während doch ein so viel besserer und ganz anderer Ort wie Eden von hier aus so leicht zu erreichen ist?«

Der Ton, in dem er dies sagte, war so verschieden von seiner gewöhnlichen Zuversicht und verriet so auffallend seine Furcht vor Marks Antwort, daß dieser in seiner Gutmütigkeit das tiefste Mitleid mit ihm empfand.

»Nun, wissen Sie, Sir«, sagte Mark so sanft und schonungsvoll wie möglich; »wir müssen uns hüten, nicht allzu sanguinisch zu sein; weshalb sollten wir es denn auch, da wir doch entschlossen sind, zum bösesten Spiele die beste Miene zu machen. Nicht wahr, Sir?«

Martin blickte ihn an, ohne eine Silbe zu erwidern.

»Auch Eden, wie Sie wissen, ist ja noch nicht vollständig aufgebaut.«

»Um Himmels willen, Mensch«, rief Martin zornig, »so nennen Sie doch nicht immer Eden in ein und demselben Atem mit diesem Dorfe hier. Sind Sie toll?! Übrigens seien Sie mir nicht böse, daß ich so aufbrause, ich bin ein wenig nervös.«

Damit wandte er sich ab und ging volle zwei Stunden unruhig auf dem Deck auf und ab. Auch sprach er, ein einziges »Gute Nacht« ausgenommen, kein Wort weiter bis zum nächsten Morgen, vermied auch dann noch das Thema geflissentlich und redete von andern, gleichgültigen Dingen.

Als sie weiterkamen und sich mehr und mehr dem Ziele ihrer Reise näherten, steigerte sich die einförmige Öde der Landschaft, die jetzt geradezu trostlos wurde, in so hohem Grade, daß man hätte meinen können, man sähe leibhaftig die grausen Domänen des Riesen Verzweiflung vor sich. Ein flacher Morast, mit gefällten Bäumen bedeckt, ein Moorboden, auf dem gesundes Wachstum einem abscheulichen Moder Platz gemacht hatte und sogar die Bäume das Aussehen riesiger Kräuter zu haben schienen, durch die herniedersengende Sonne aus dem Schlamme hervorgelockt. Wo todbringende Krankheiten auf der Lauer lagen, die Lebewesen zu vergiften, nächtlicherweise in Nebelgestalten hervorkommend, auf dem Wasser weiterkriechend und gespenstisch ihr Opfer verfolgend bis zum Tagesanbruch – wo sogar der helle Sonnenstrahl zum Schrecken wurde, wie er auf die modernden Elemente der Verderbnis und des Siechtums niederbrannte: das war das Land der Hoffnung, durch das sie jetzt vordrangen.

Endlich machten sie halt, und zwar in Eden. Wahrscheinlich waren die Wasser der Sintflut eben erst vor einer Woche abgelaufen, so erstickt von Schlamm und Dschungel war der abscheuliche Sumpf, der diesen Namen trug.

Da das Ufer in eine Sandbank auslief, mußten sie vermittelst eines Bootes ihre Habe an Land bringen. Einige Blockhäuser wurden zwischen den dunklen Bäumen sichtbar. Die besten sahen aus wie ein schlechter Kuh- oder Pferdestall. Von öffentlichen Kais, Marktplätzen, Gebäuden und so weiter – keine Spur.

»Da kommt jemand aus Eden«, rief Mark, »er kann uns unsere Sachen fortschaffen helfen. – Kopf hoch, Sir! – Hallo, Sie da!«

Sofort wankte der Mann, auf einem Stock gestützt, durch die Dunkelheit auf sie zu. Als sie näher kamen, bemerkten sie, daß er blaß und abgezehrt aussah und daß seine kummervollen Augen tief in ihren Höhlen lagen. Sein Anzug aus blauer Hausleinwand hing in Fetzen, und sein Kopf und seine Füße waren nackt. Auf dem halben Wege setzte er sich auf einen Baumstumpf, winkte ihnen heranzukommen, die Hand an die Seite gelegt, wie vor Schmerzen, holte tief Atem und starrte sie verwundert an.

»Fremde?« rief er, sobald er wieder sprechen konnte.

»Ja«, antwortete Mark. »Sind Sie krank, Sir?«

»Ich habe am Fieber darniedergelegen«, antwortete der Mann mit schwacher Stimme. »Ich habe viele Wochen lang nicht auf den Beinen stehen können. – Das sind wohl Ihre Sachen hier?«

Dabei deutete er auf das Gepäck.

»Ja, Sir, so ist’s«, versetzte Mark; »könnten sie uns nicht vielleicht jemanden empfehlen, der uns ein bißchen hülfe, es nach der Stadt hinaufzuschaffen? Wie?«

»Mein ältester Sohn würde es gerne tun, wenn er könnte«, entgegnete der Mann; »aber er hat heute wieder seinen Fieberanfall und liegt in Decken eingehüllt in seinem Bett. – Mein Jüngster starb vor einer Woche.«

»Ich bedaure Sie von ganzem Herzen, Sie Ärmster«, sagte Mark und drückte ihm die Hand; »kümmern Sie sich nicht um uns. Kommen Sie mit mir und reichen Sie mir den Arm. Ich werde Sie zurückführen. Unser Gepäck liegt sicher genug«, fügte er zu Martin gewendet hinzu; »es gibt hier nicht viele Menschen, die sich damit aus dem Staube machen könnten; das ist wenigstens ein Trost.«

»Nein«, rief der Mann, »die Menschen müßt ihr hier« – dabei stieß er mit dem Stock auf den Boden – »und dort im Gebüsch weiter nördlich suchen. Wir haben die meisten von ihnen begraben; die übrigen sind fortgezogen, und die noch hier sind, kommen bei Nacht nicht aus ihren Hütten.«

»Die Nachtluft ist wohl nicht sehr gesund?« fragte Mark.

»Sie ist ein tödliches Gift«, lautete die Antwort des Ansiedlers.

Mark verriet nicht mehr Unruhe, wie wenn sie ihm als Ambrosia geschildert worden wäre, reichte dem Manne seinen Arm, teilte ihm unterwegs die Geschichte ihres Kaufes mit und befragte ihn, wo ihr Besitztum liege.

»Dicht neben meinem eigenen Blockhaus«, sagte der Mann, »so dicht, daß wir Ihre Wohnung bisher als Vorratshaus für Welschkorn benützt haben.« Dann bat er Mark, sich noch diese Nacht zu gedulden. Morgen werde er es sich angelegen sein lassen, die Vorräte herauszuschaffen. Als etwas ganz Nebensächliches bemerkte er dabei, daß er den letzten Eigentümer eigenhändig begraben habe; eine Kunde, die Mark ebenfalls ohne die mindeste Erschütterung seines Gleichmutes hinnahm.

Sodann führte er Mark und Martin nach einem erbärmlichen, aus rohen Holzstämmen zusammengefügten Hause oder vielmehr einer Hütte, deren Türe ausgehoben war – vermutlich, um die Aussicht auf die wilde Landschaft und in die dunkle Nacht hinein zu erweitern. Mit Ausnahme des erwähnten kleinen Maisvorrates befand sich nichts darin. Sie holten daher eine ihrer Kisten vom Landungsplatz, und der Ansiedler lieh ihnen dazu eine Holzfackel. Mark befestigte sie auf dem Herde, erklärte, das Haus sehe jetzt ungemein gemütlich aus, und eilte dann mit Martin fort, um das Gepäck herbeischaffen zu helfen. Auf dem ganzen Hin- und Herwege plauderte er unablässig, um zu verhindern, daß sein Kompagnon ganz und gar in seiner Verzweiflung den Kopf verliere.

Aber wohl auch ein Kräftigerer als Martin wäre bei der so grausamen Zerstörung seines Luftschlosses niedergebrochen, und als sie die Blockhütte zum zweitenmal erreichten, warf er sich auf die Erde nieder und weinte laut.

»Kopf hoch, Sir, um Gottes willen, Kopf hoch!« rief Mr. Tapley in großem Schrecken. »Sie dürfen nicht so entmutigt sein. Nur nicht gleich die Flinte ins Korn werfen! Damit hat sich noch nie ein Mann, ein Weib oder ein Kind auch nur über den niedrigsten Zaun geholfen, Sir, und wird es auch niemals imstande sein. Und abgesehen davon, daß Ihr Weinen Ihnen nichts hilft, so macht es die Sache nur schlimmer, denn ich kann so etwas nicht mitansehen. Es wirft mich zu Boden. Alles, alles, nur das nicht!«

Zweifellos sprach er die Wahrheit, und der außerordentliche Schrecken, mit dem er Martin ansah, dabei auf den Knien vor der Kiste liegend, um sie aufzubrechen, bewies es hinlänglich.

»Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, lieber Freund«, jammerte Martin, »aber ich kann nicht anders. Und wenn man mir den Kopf herunterschlüge.«

»Mich um Verzeihung bitten?« rief Mark mit seiner gewohnten Heiterkeit und fuhr dabei fort, die Kiste auszupacken; »der Hauptassocié der Firma bittet die Kompagnie um Vergebung! Wie? Da muß etwas faul sein in der Firma. Ich muß auf der Stelle die Bücher nachsehen und die Rechnungen prüfen lassen. – So, da wären wir«, damit packte er die mitgebrachten Vorräte aus, »und jetzt alles an seinen richtigen Platz: hier das eingesalzene Schweinefleisch, hier der Zwieback, hier der Whisky – wie fein der riecht! – Und hier die Zinnkanne. Die Zinnkanne allein ist schon ein kleines Vermögen wert. Und hier die Decken und hier die Axt! Da soll einer noch sagen, daß wir nicht fein ausgestattet sind. Mir kommt’s fast so vor, als sei ich als Seekadett nach Indien gereist und mein edler Vater Präsident des Direktoren-Kollegiums. Nun, wenn ich noch etwas Wasser aus dem Fluß vor der Türe geholt und den Grog gemischt habe«, rief er und eilte hinaus, »so haben wir ein Abendessen fertig, das alle Delikatessen der Jahreszeit umfaßt. – So, Sir, und jetzt wird aufgedeckt. Ein Zigeunerlager ist ein Quark dagegen.«

Es wäre unmöglich gewesen, in der Gesellschaft eines solchen Menschen nicht Mut zu fassen. Martin setzte sich neben den Koffer auf den Boden, zog sein Messer heraus und aß und trank, was das Zeug hielt.

»Nun, sehen Sie«, sagte Mark, nachdem Sie ihrem Mundvorrat kräftig zugesprochen hatten, »mit unsern beiden Messern stecke ich diese Decke hier vor der Türe fest oder vielmehr dort, wo zivilisierte Zimmerleute das Loch zu lassen pflegen. Wie nett das jetzt aussieht! Dann verstopfe ich die Öffnung unten, indem ich die Kiste davorstelle. Auch das macht sich nicht übel. – So. – Und hier ist Ihre Schlafdecke und hier die meinige. Was kann uns jetzt hindern, eine famose Nacht zu verbringen?«

Trotz aller dieser leichtherzigen Reden dauerte es doch ziemlich lange, bevor er einschlief. Er wickelte seine Decke um sich, legte sich die Axt zur Hand und suchte sein Lager quer vor der Schwelle der Türe, war aber zu ängstlich und zu wachsam, um ein Auge schließen zu können. Das Ungewohnte ihrer traurigen Lage, die Furcht vor Raubtieren oder menschlichen Feinden, die schreckliche Ungewißheit, wie sie weiterhin an einem solchen Orte ihre Leben würden fristen können – der Gedanke an die immense Entfernung bis zu zivilisierten Orten und die ungeheueren Hindernisse, die sich vor ihnen auftürmen mußten, wenn sie daran dachten, England je wieder zu erreichen, mußten ihn notwendigerweise aufs höchste beunruhigen. Zwar stellte sich Martin schlafend, aber Mark fühlte ganz genau, daß er gleichfalls wachte und eine Beute derselben quälenden Befürchtungen war. Und das war fast schlimmer für ihn als alles andere, denn wenn er selbst anfing, sich dem Brüten über das gemeinsame Elend zu überlassen, statt den Versuch zu machen, dagegen anzukämpfen, so unterlag es wohl kaum einem Zweifel, daß eine derartige Gemütsstimmung den Einfluß der verpestenden Miasmen mächtig unterstützen mußte. Nie war daher der Tagesanbruch einem menschlichen Auge auch nur halb so willkommen wie ihm beim Erwachen nach qualvollem Schlummer. Er merkte den Sonnenaufgang daran, daß die Ritzen im Dach und die Lücken, die die Decke an der Türe freiließ, zu schimmern begannen.

Leise – da Martin noch schlief – schlich er hinaus, erquickte sich durch ein Bad in dem Fluß, der an der Türe vorbeiströmte, und warf einen Blick auf die Ansiedlung, die im Ganzen aus nicht mehr als zwanzig Hütten bestand, die Hälfte davon augenscheinlich unbewohnt, alle aber morsch und dem Verfalle nahe. Die schlechteste und elendeste darunter hieß das »Bankbureau des National-Kredit-Vereins«; und nur noch einige schwache Stützen hinderten das Gebäude, gänzlich im Schlamm zu versinken. Hie und da war augenscheinlich der Versuch gemacht worden, das Land zu lichten; – auch hatte man eine Art Feld abgesteckt, auf dem unter den Stümpfen und der Asche verbrannter Bäume eine spärliche Ernte von Welschkorn wuchs. An anderen Stellen war eine schlangenförmige oder zickzackartige Verzäunung angefangen worden, nirgends aber bis zur völligen Ausführung gediehen; und die umgefallenen Holzpflöcke verfaulten jetzt halb im Boden steckend. Drei oder vier abgezehrte Hunde, einige langbeinige Schweine, in den Lichtungen nach Nahrung suchend, und ein paar fast nackte Kinder, die aus den Hütten blickten – das waren so ungefähr die einzigen lebenden Wesen, deren er ansichtig wurde. Ein häßlicher Dunst, heiß und erstickend wie die Luft eines Backofens, stieg aus der Erde empor und lagerte sich über die ganze Umgegend; und wo der Fuß im Moorboden einsank, da drang eine schwarze Jauche empor, um die Spur wieder auszutilgen.

Ihr gemeinsamer Besitz bestand nur aus Urwald. Die Bäume waren so dick und standen so nahe beieinander, daß sie sich gegenseitig fast von ihren Plätzen verdrängten und die schwächsten, in seltsam verdrehte Formen gezwängt, wie Krüppel dahinsiechten. Aber auch die besten unter ihnen waren durch den Druck und den Mangel an Raum krank und verkümmert. Hoch um die Stämme herum wuchsen langes, wucherndes Gras, Unkraut und muffiges vermodertes Unterholz wie eine einzige verfilzte Masse, weder in der Erde noch im Wasser wurzelnd, sondern in einer fauligen Masse, die sich aus dem breiigen Abfall dieser beiden Elemente und ihrem eigenen Moder gebildet hatte.

Mark eilte zum Landungsplatz hinunter, wo sie gestern abend ihre Habe hatten stehen lassen, und fand dort ein halbes Dutzend Leute versammelt; alle bleich und elend, aber doch gerne zur Hilfe bereit und erbötig, ihm das Gepäck nach dem Blockhause tragen zu helfen. Sie schüttelten die Köpfe, als er von einer »Ansiedlung« sprach, und konnten ihm auch nicht einen Schimmer von Hoffnung oder Trost geben. Wenn einer noch die Mittel besessen, um wegzufahren, so hatte er alles im Stiche gelassen. Den armen Zurückgebliebenen waren ihre Weiber, Kinder, Freunde oder Brüder gestorben, und sie selbst hatten viel gelitten. Die Mehrzahl von ihnen lag ununterbrochen krank, trotzdem sie früher kerngesund gewesen.

Freiwillig boten sie Mark ihren Rat und Beistand an und entfernten sich dann, um an ihre eigenen Geschäfte zu gehen.

Inzwischen war Martin aufgestanden. Schon eine einzige Nacht hatte eine große Veränderung in ihm hervorgebracht: er sah blaß und erschöpft aus, klagte über Schmerzen und Schwäche in den Gliedern und sagte, daß ihn schon das Sprechen angreife. Um so mehr nahm Mark seine ganze Munterkeit und Tatkraft zusammen, schleppte eine Türe von einer der verlassenen Hütten herbei und nagelte sie an ihr eigenes Blockhaus. Dann ging er fort, um eine grobgeschnitzte Bank zu holen, die ihm ins Auge gefallen war, und kehrte im Triumph mit ihr zurück. Und nachdem er dieses herrliche Möbel draußen neben den Eingang gestellt hatte, pflanzte er die unschätzbare Zinnkanne und anderes Gerät darauf, so daß sie eine Art Anrichtetisch repräsentierte. Höchst zufrieden mit dieser getroffenen Einrichtung, rollte er das mitgebrachte Mehlfaß ins Haus und stellte es in einem Winkel als Ecktisch auf. Als Speisetisch mußte eine Kiste dienen. Die Decken, die Kleider usw. hängte er an Pflöcke und Nägel, und schließlich brachte er ein großes Plakat zum Vorschein, das Martin im Jubel seines Herzens eigenhändig im National-Hotel angefertigt hatte und das die Inschrift trug: Chuzzlewit & Comp., Architekt und Landvermesser, und klebte es höchst ernsthaft an die Fassade des Blockhauses, als ob die blühende Stadt Eden bereits existiere und die Firma mit Geschäften überlaufen sei.

»Diese Instrumente«, sagte er, entnahm Martins Reißzeug einen Zirkel und steckte ihn mit den beiden Spitzen in die Türe, »sollen hier vor aller Augen prangen, damit die Leute sehen, wie wir ausgerüstet sind. So. – Und wenn jetzt ein Gentleman ein Haus zu bauen gedenkt, so möge er sich beeilen, bevor wir anderweitig vergeben sind.«

In Anbetracht der herrschenden intensiven Hitze war dies keine schlechte Morgenarbeit gewesen, aber, ohne sich auch nur einen Augenblick Ruhe zu gönnen, trotzdem ihm der Schweiß aus jeder Pore rann, verschwand Mark wieder im Hause und kam gleich darauf mit einem Beil heraus. »Da steht ein häßlicher alter Baum im Wege, Sir«, bemerkte er, »wie wär’s, wenn wir ihn beseitigten und dann nachmittags an das Ofenbauen gingen? Was den Lehm in Eden anbelangt, glaube ich, könnt es keinen bessern in der ganzen Welt geben. – Jedenfalls ein Vorteil.«

Martin gab keine Antwort. Die ganze Zeit über saß er, den Kopf auf die Hand gestützt, da und starrte auf den rasch vorüberströmenden Fluß, und selbst der Schall der kräftigen Streiche, die Mark gegen den Baum führte, vermochte ihn nicht aus seinem kummervollen Brüten zu wecken.

Als Mark sah, daß alle seine Bemühungen, seinen Freund aufzumuntern, nutzlos blieben, hielt er in seiner Arbeit inne und trat auf ihn zu.

»Verlieren Sie den Mut nicht, Sir!« ermahnte er.

»Ach, Mark«, jammerte Martin, »was habe ich nur verbrochen, daß dieses schwere Los mir jetzt zuteil wird?«

»Ach, Sir, was das betrifft«, bemerkte Mark, »so könnten ja alle, die hier sind, dasselbe sagen. Viele vielleicht noch mit größerem Recht als Sie oder ich. – Kopf hoch, Sir. Am besten, Sie legen mit Hand an. Was meinen Sie, würde es Ihnen nicht vielleicht eine gewisse Erleichterung verschaffen, wenn Sie an Scadder einen groben Brief schrieben? – Wie?«

»Nein, nein«, sagte Martin und schüttelte kläglich den Kopf, »über das bin ich hinaus.«

»Nun, wenn Sie über das bereits hinaus sind«, entgegnete Mark, »müssen Sie krank sein und bedürfen der Pflege.«

»Kümmern Sie sich nicht um mich«, ächzte Martin. »Sorgen Sie nur für sich; Sie werden sowieso sehr bald nur noch an sich selbst zu denken haben. – Und dann helfe Ihnen Gott nach Hause und verzeihe mir, daß ich Sie hierher gelockt habe. Mein Los wird sein, hier zu sterben. Ich habe es in dem Augenblick gefühlt, als ich meinen Fuß an dieses Ufer setzte. Im Schlafen und im Wachen, Mark, habe ich die ganze Nacht davon geträumt.«

»Ich vermutete gleich, Sie müßten krank sein«, versetzte Mark mit Wärme, »aber jetzt bin ich davon überzeugt. Wahrscheinlich ein kleiner Fieberanfall, wie ihn die Wasserausdünstungen hier zur Folge haben. Aber, Gott, was will das weiter heißen. Es ist so eine Art Akklimatationsprozeß. Wir alle müssen uns daran einmal gewöhnen; das hat weiter nichts zu sagen.«

Martin seufzte nur und schüttelte den Kopf.

»Warten Sie noch eine halbe Minute«, tröstete Mark, »bis ich zu einem unserer Nachbarn gelaufen bin und gefragt habe, was man am besten dagegen einnehmen kann. Ich lasse mir dann ein bißchen von der Arznei geben, und Sie nehmen sie ein, und morgen werden Sie wieder so kräftig sein wie je. Ich bleibe keine Minute aus. Nur den Mut nicht verloren, während ich weg bin! Es wird alles wieder gut werden.«

Damit warf er sein Beil hin und eilte davon. In einiger Entfernung blieb er wieder stehen und blickte zurück. Dann nahm er seinen Lauf wieder auf.

»Nun, Mr. Tapley«, sagte er und gab sich einen fürchterlichen Schlag auf die Brust, um seinen Mut wieder zu beleben; »jetzt höre, was ich dir zu sagen habe. Die Dinge stehen so schlimm wie nur möglich, junger Mann; und so bald wirst du in deinem Leben wohl keine so günstige Gelegenheit wieder finden, deinen Humor zu beweisen, mein Junge. Darum Mark Tapley, jetzt oder nie!«