12. Kapitel


12. Kapitel

Geht, wenn auch nicht gleich, so doch später Mr. Pinch und andere sehr nahe an. Mr. Pecksniff spielt die Rolle des gekränkten Tugendboldes, und der junge Martin Chuzzlewit faßt einen verzweifelten Entschluß

Mr. Pinch und Martin hatten es sich inzwischen, den Sturm nicht im entferntesten ahnend, der ihnen bevorstand, in Mr. Pecksniffs Hallen so bequem wie möglich gemacht und wurden mit jedem Tage innigere Freunde. Martins Erfindungsgabe und die Leichtigkeit, mit der er eine Aufgabe zu bewältigen wußte, waren so bemerkenswert, daß die Elementarschule rasche Fortschritte machte und Tom wiederholt erklärte, wenn es überhaupt in irdischen Dingen eine Gewißheit oder bei menschlichen Beurteilern Unparteilichkeit gäbe, so könne einem so neuen und wertvollen Entwurf der erste Preis, falls es zu einem Wettbewerb käme, unmöglich entgehen. Martin seinerseits dachte zwar nicht ganz so sanguinisch, trug sich aber doch auch mit genügend hoffnungsvollen Erwartungen, um in seinem Eifer nicht zu erlahmen.

»Wenn einmal ein berühmter Architekt aus mir werden sollte, Tom«, sagte er eines Tages und hielt dabei mit Wohlgefallen seine Zeichnung auf Armeslänge vor sich hin, »so will ich Ihnen sagen, woran ich zuerst bauen würde.«

»Nun, und das wäre?« fragte Tom.

»An nichts anderm als an Ihrem Glück.«

»Was, Sie wollten das wirklich?« rief Tom Pinch so entzückt, als ob alles schon fix und fertig vor ihm stünde. »Wie unendlich freundlich von Ihnen.«

»Ja, Tom, das wollte ich«, bekräftigte Martin. »Und es müßte mir auf einem so starken Unterbau ruhen, daß es Ihr ganzes Leben überdauern sollte – und sogar Ihre Kinder und Kindeskinder sich noch daran erfreuen müßten. Ich würde Ihr Protektor sein, Tom, und den Mann möchte ich sehen, der meinem Schützling ein Haar zu krümmen wagen würde, wenn ich einmal Oberwasser hätte, Tom!«

»Auf mein Wort«, rief Mr. Pinch, »ich glaube nicht, daß ich mich jemals im Leben über etwas so gefreut habe wie über das, was Sie da sagen.«

»Und wenn ich etwas sage, so ist es mir auch ernst«, versicherte Martin mit einer so gönnerhaften, nachlässigen, ja fast an Mitleid grenzenden Herablassung, als ob er bereits erster Hofbaumeister in England wäre. »Ich würde es tun – ich würde Sie versorgen.«

»Ich fürchte«, meinte Tom kopfschüttelnd, »daß ich Ihnen bei meiner Ungeschicklichkeit keine große Ehre machen dürfte.«

»Pah, lächerlich!« erwiderte Martin. »Seien Sie deswegen außer Sorge. Wenn ich mir’s einmal in den Kopf setze zu behaupten: ›Pinch ist ein gescheiter Kerl, ich stehe für ihn ein‹, so möchte ich gern den sehen, der es wagen wollte, mir zu widersprechen. Außerdem, Tom – hol’s der Teufel –, Sie könnten mir wirklich auf hunderterlei Weise nützlich werden.«

»Wenn ich mich nicht in einem oder dem andern Punkte nützlich erwiese, so geschähe es gewiß nicht aus Mangel an gutem Willen«, versicherte Tom.

»Sie wären zum Beispiel so ganz der Mann danach«, fuhr Martin fort, »darüber zu wachen, daß meine Ideen auch gehörig durchgeführt würden – die Arbeiten zu beaufsichtigen, bis sie weit genug fortgeschritten wären, um auch für mich interessant zu sein – kurz, die Vorbereitungen zu leiten. Und dann wären Sie auch ausgezeichnet dafür, die Leute, während ich in meinen Studien begriffen bin, herumzuführen und mit ihnen von der Kunst zu sprechen und so weiter, was mich alles fürchterlich langweilen würde. Es müßte ganz verteufelt mein Renommee heben, Tom – ich gebe Ihnen mein Wort, daß es mein voller Ernst ist –, einen Mann von ihrer Bildung und nicht einen gewöhnlichen Hohlkopf um mich zu haben. Oh, ich wollte Sie schon auf den richtigen Posten stellen. Verlassen Sie sich darauf, Sie würden mir schon von Nutzen sein.«

Natürlich fiel es Tom bei seiner Bescheidenheit nicht im entferntesten ein, jemals eine erste Violine spielen zu wollen, und um so mehr entzückten ihn daher die Luftschlösser seines Freundes.

»Natürlich wäre ich dann mit ihr verheiratet, Tom«, fuhr Martin fort.

Was war es, das jetzt auf einmal Tom Pinchs Freude so plötzlich dämpfte und ihm das Blut in seine ehrlichen Wangen trieb, als durchzuckte etwas wie das Gefühl, er sei solcher freundlichen Gesinnungen unwürdig, sein Herz?

»Ich würde dann mit ihr verheiratet sein«, wiederholte Martin und lächelte, »und hoffentlich auch Kinder haben. – Und sie hätten Sie alle lieb, Tom.«

Mr. Pinch brachte keine Silbe heraus. Die Worte erstarben ihm auf den Lippen und erkämpften sich in seinem Innern ein geistigeres Leben zu reinen selbstlosen Gedanken.

»Alle Kinder hier herum haben Sie gern, Tom, und die meinigen würden Sie natürlich erst recht lieben. Vielleicht würde ich eines davon nach Ihnen nennen. Tom, was meinen Sie? Tom ist kein übler Name. Thomas Pinch Chuzzlewit. T.P.C. auf seinem Lätzchen würde sich ganz nett machen, sollt ich meinen.«

Tom räusperte sich und lächelte.

»Ich weiß, auch ihr würden Sie gut gefallen, Tom«, fuhr Martin fort. »Ach!« rief Tom mit erstickter Stimme.

»Ich weiß aufs Haar genau, was sie von Ihnen denken wird.« – Martin stützte das Kinn auf die Hand und blickte unverwandt auf die Fensterscheibe, als lese er dort seine Worte ab. »Denn ich kenne sie von Grund aus. Sie würde anfangs lächeln, wenn Sie mit ihr sprächen oder sie Sie ansähe – und noch obendrein recht lustig lächeln. Sie würden es doch nicht übelnehmen? Sie haben noch nie ein sonnigeres Lächeln als das ihrige gesehen; ich versichere Ihnen.«

»Nein, nein«, beteuerte Tom, »ich würde es gewiß nicht übelnehmen.«

»Und sie würde Sie so zart behandeln, Tom, wie ein Kind. – Das sind Sie übrigens beinahe in manchen Dingen – oder nicht, Tom?«

Mr. Pinch nickte verständnisinnig.

»Sie würde immer heiter und gut gelaunt sein, wenn Sie kämen«, fuhr Martin fort; »sie fände sehr bald heraus, was Sie für ein Mensch sind, und würde dann tun, als hätte sie Ihnen kleine Aufträge zu geben, oder Sie um kleine Dienste bitten, deren Erfüllung Sie, wie sie wüßte, mit Freuden übernehmen würden. Kurz, sie hätte Sie wirklich von Herzen gern, Tom, und verstünde Sie auch weit besser, als dies je bei mir der Fall sein könnte. Wie oft würde sie nicht sagen, was für ein harmloser, sanfter, gefälliger, guter Mensch Sie sind.«

Stumm hörte Pinch zu.

»Und um alter Zeiten willen und weil sie dann wüßte, daß Sie es waren, der in der kleinen, dumpfen Kirche drunten einst die Orgel spielte – noch obendrein umsonst –, so würden wir eine solche in unser Haus schaffen. Ich werde nach eigenen Plänen einen Musiksaal bauen, und das Instrument wird sich in einer Nische in dem einen Ende famos ausnehmen. Da können Sie dann drauflosspielen, Tom, bis Sie es satt haben, und da Sie dabei Dunkelheit so gern haben, können wir auch dunkel machen. Mary und ich, wir werden so manchen Sommerabend dort sitzen und Ihnen zuhören, Tom; verlassen Sie sich darauf!«

Es kostete vielleicht Tom Pinch eine größere Anstrengung, mit heiterer und dankbarer Miene von seinem Sitze aufzustehen und seinem Freunde beide Hände zu schütteln – forderte vielleicht eine weit größere Selbstverleugnung als so manche Großtat, die schon Famas zweideutige Trompete gewaltig ausposaunt hat. Ich sage »zweideutig«, denn da sie gar so gern über Gewaltakte weint, haben der Rauch und die Ausdünstung des Todes das brave Instrument arg verstimmt, und seine Töne sind nicht immer rein und echt.

»Es ist doch ein Beweis, wieviel gute Menschen es auf der Welt gibt«, sagte Tom und ließ charakteristischerweise seine eigenen Gefühle wieder ganz außer acht, »daß jeder, der hierherkommt, wie zum Beispiel Sie, weit rücksichtsvoller und freundlicher gegen mich ist, als ich zu hoffen ein Recht hätte, selbst wenn ich das sanguinischste Geschöpf unter der Sonne wäre, oder als ich mit der größten Beredsamkeit auszudrücken vermochte. – Wahrhaftig, es überwältigt mich förmlich. Aber seien Sie dessen versichert«, setzte er hinzu, »daß ich nicht undankbar bin – daß ich es nie vergessen werde und Ihnen die Aufrichtigkeit meiner Worte zu beweisen gedenke, sobald ich nur irgend dazu in der Lage bin.«

»Schon recht«, bemerkte Martin, lehnte sich, die Hände in den Taschen, in seinem Stuhl zurück und gähnte laut hinaus. »Wir halten da wunderschöne Reden, Tom, aber vorläufig bin ich noch bei Pecksniff und daher momentan noch eine gute Meile oder so von der Hochstraße zum Glücke entfernt. – Sie sagten übrigens, Sie hätten diesen Morgen wieder von – na, wie heißt er doch – gehört?«

»Wen meinen Sie?« fragte Tom, besorgt, sein Freund werde über einen Abwesenden etwas Nachteiliges sagen wollen.

»Aber, Sie wissen doch – wie war doch nur der Name – Nordhaar?«

»Westlock«, verbesserte Tom etwas lauter als gewöhnlich.

»Richtig – Westlock. Ich wußte ja, es war etwas mit Haar und einer Himmelsrichtung. – Nun, und was hören Sie von Westlock?«

»Oh, er ist jetzt glücklich im Besitz seines Vermögens«, rief Tom und nickte lächelnd.

»Was das für ein glücklicher Bursche ist!« seufzte Martin. »Ich wollte, ich wäre an seiner Stelle. Aber ist das das ganze Geheimnis, das Sie mir mitteilen wollten?«

»Nein«, entgegnete Tom; »nicht das ganze.«

»Also was sonst noch?« fragte Martin.

»Nun, ein Geheimnis ist’s gerade nicht. Und für Sie hat es auch kein besonderes Interesse, obgleich ich selbst sehr erfreut darüber bin. Als John noch hier war, pflegte er immer zu sagen: ›Denk an mich, Pinch, wenn einmal meines Vaters Testamentsexekutoren mit dem Schotter herausrücken‹ – er bediente sich hin und wieder recht sonderbarer Ausdrücke, aber das war so seine Art.«

»Mit dem Schotter herausrücken ist ein sehr gutes Wort«, meinte Martin, »besonders wenn’s von Seiten anderer Leute geschieht und die eigene Person betrifft. – Und was weiter? – Sie sind ein gewaltig langsamer Erzähler, Pinch!«

»Ich weiß es. – Leider«, gab Tom zu; »aber Sie haben mich ganz aus dem Konzept gebracht. – Was wollte ich doch nur sagen!?«

»Wenn die Testamentsexekutoren von Johns Vater mit dem Schotter herausrücken –« rief Martin ungeduldig.

»Ach, ja richtig. ›Also, dann – sagte John – werde ich dir ein Dinner geben, Finch, und extra deshalb nach Salisbury herunterkommen.‹ Als nun John neulich schrieb – Sie wissen, es war am Morgen vor Pecksniffs Abfahrt –, teilte er mir mit, seine Angelegenheiten seien jetzt so weit geordnet, und da er sein Geld in Bälde erhalten werde, frage er bei mir an, wann ich mit ihm in Salisbury zusammentreffen könne. Ich antwortete ihm, daß mir jeder Tag in dieser Woche gut passe, und teilte ihm auch außerdem mit, daß ein neuer Schüler hier sei – namentlich auch, was Sie für ein hübscher Mensch seien und daß ein herzliches Einvernehmen zwischen uns bestehe. Darauf schrieb mir John diesen Brief« – Tom zog ein Kuvert hervor – »und bestimmte den morgigen Tag für die Zusammenkunft. – Er läßt Sie übrigens grüßen und sähe es gern, wenn wir drei mitsammen speisten, nicht in dem Hause, wo wir sonst abzusteigen pflegen, sondern im allerersten Gasthof der Stadt. – Lesen Sie selbst, was er sagt.«

»Sehr gut«, versetzte Martin, den Brief mit seiner gewohnten Kälte überfliegend. »Sehr verbunden. Freut mich.«

Tom hätte gewünscht, seinen Freund ob des großen Ereignisses ein bißchen mehr erstaunt oder erfreut oder überhaupt ein wenig interessierter dafür zu sehen, aber Martin blieb vollkommen gelassen und verfiel wieder in seine Lieblingsunterhaltung, das Pfeifen. Dann machte er sich an seine Elementarschule, als ob nicht das mindeste Bemerkenswerte vorgefallen wäre.

Da Mr. Pecksniffs Pferd gewissermaßen als geheiligtes Tier angesehen wurde, das nur von dem Hohenpriester dieser heiligen Hallen selbst oder von irgend jemand benützt werden durfte, der ausdrücklich zum Stellvertreter von Fall zu Fall geweiht worden, so kamen die beiden jungen Leute überein, zu Fuß nach Salisbury zu gehen. Als daher die Zeit herankam, machten sie sich auf die Beine, und das war im Grunde auch eine bessere Reisemethode, als wenn sie das Gig benützt hätten, da kaltes, aber trockenes Wetter herrschte.

Besser? Ein tüchtiger, gesunder Spaziergang – vier gute Meilen in der Stunde – ist natürlich besser als das Humpeln und Rumpeln, Schütteln und Rütteln, Stoßen und Knarren in einem schäbigen alten Gig! Zwischen diesen beiden Methoden ist doch kaum ein Vergleich möglich! Es wäre rein eine Herabsetzung einer Fußwanderung, wollte man beide auch nur in einem Atem nennen. Wann hat je eine Fahrt in einem solchen Gig das Blut eines Menschen anders in Wallung gebracht als dadurch, daß sie ihn fürchten machte, den Hals zu brechen, und ihm eine fieberige Hitze in den Adern, in den Ohren und längs des ganzen Rückenmarks erzeugte, die zwar eigentümlich, aber keineswegs angenehm zu nennen ist? Wann hat je ein Gig geistige Fähigkeiten geschärft, außer wenn vielleicht der Gaul durchging und wie toll einen steilen Hügel hinunter gegen eine Steinmauer raste und dadurch die Insassen des Wagens nötigte, auf völlig neue und unerhörte Weise das Gefährt rückwärts zu verlassen? Nein, nein, viel besser ein Marsch als das Gig!

Die Luft war kalt, das ließ sich nicht in Abrede stellen, aber wäre es in dem Gig wohl behaglicher gewesen? Die Esse des Hufschmieds loderte hell auf und sprühte nur so, als sehnte sie sich danach, Menschenleiber zu wärmen; aber wäre der Anblick von den klebrigen Polstern eines Gig aus anheimelnder gewesen? Der Wind blies scharf – er schnitt dem wackern Wanderer, der sich seinen Weg weiterkämpfte, ins Gesicht, blendete ihn mit den eigenen Haarlocken – vorausgesetzt, daß diese nicht zu spärlich gesät waren –, und andernfalls mit dem winterlichen Staub, verschlug ihm den Atem wie ein Eisbad, riß ihm die Rockschöße zurück und drang ihm bis ins Mark der Knochen, – aber wäre dies nicht hundertmal schlimmer in einem Gig gewesen? – Also hole der Henker die Gigs!

Besser ein Marsch als ein Gig? Hat man je zwei Reisende – zu Wagen oder zu Pferd – mit so heißroten Wangen, mit so heitern, fröhlichen Gesichtern gesehen? Schallte jemals ein Lachen so fröhlich wie das der beiden jungen Männer, die sich jetzt unter den stärker heranfegenden Windstößen umdrehten, wieder in die scharfe Luft hineinsteuerten, lustig vorwärtstrabend mit der Röte der Gesundheit auf den Wangen, als könnte nichts gleichen Schritt mit ihnen halten, der Frohsinn ausgenommen, der sie anspornte? Ja, besser ein Marsch als ein Gig! Kommt da nicht soeben ein Mann des Wegs, der in einem solchen Vehikel sitzt? Man sehe ihn nur an, wie er vorbeifährt, die Peitsche in der linken Hand, die tauben Finger der rechten auf seinem erstarrten Beine reibend und mit den zu Stein gewordenen Zehen gegen das Fußbrett trommelnd. Ha, ha, ha! Wer möchte das rasche Pulsieren des Blutes gegen jenes erfrorene Elend vertauschen, wenn es auch zwanzig Meilen in der Stunde zurücklegt? Besser ein Marsch als ein Gig! Niemand in einem Gig hätte ein solches Interesse an den Meilensteinen nehmen können. Kein Mann in einem Gig wäre imstande gewesen, zu sehen, zu fühlen oder zu denken wie unsere lustigen Wanderer. Wie der Wind über diese duftigen Niederungen dahinstrich, konnte man seinen Weg verfolgen in dem dunkleren Gekreisel des Grases und in den tiefern Schatten an den Berglehnen! Ringsum auf der kahlen eisigen Ebene lag die Winternatur in ihrer ganzen frostigen Schönheit. Auch die lieblichsten Dinge im Leben sind nichts als Schatten, sie kommen und gehen, wechseln und schwinden dahin, so schnell wie diese!

Wieder eine Meile, und dann begann es zu schneien, und alles lag so weiß da, daß sich die Krähe, die dicht über den Boden dahinstrich, um den Windstößen auszuweichen, wie ein Tintenklecks in der Landschaft ausnahm. Und wie sehr es auch gegen die beiden jungen Leute anwehte und blies, ihre Rockschöße aufblähte und ihnen die Flocken in die Lider jagte, so hätten sie doch keinen Augenblick gewünscht, das Schneetreiben möge nachlassen, selbst wenn noch zwanzig Meilen Weges vor ihnen gelegen wären. Und siehe da! Die Türme der alten Kathedrale tauchen vor ihnen auf! Allmählich kommen sie in die umzäunten Straßen, die so feierlich stumm daliegen mit ihrem weißen Teppich. Endlich erscheint der Gasthof, in den sie bestellt sind, und sie zeigen dem erfrorenen Kellner so brennrot glühende Gesichter und sind so voll Lebendigkeit, daß der Mann ihre Anwesenheit fast wie eine Beleidigung auffaßt – ist er doch selbst von dem ewigen Hocken im überhitzten Kaffeezimmer blaß und blutleer – und ganz bestürzt dreinsieht.

Ein Prachtgasthof das! Die Halle ist eine wahre Waldlichtung voll totem Wildbret und an Schnüren herabhängenden Hammelkeulen. In der Ecke steht ein prächtiger Speiseschrank mit Glastüren und birgt kaltes Geflügel, edle Schinken und Torten, in denen sich der Himbeerschaum hinter gebackenem Gitterwerk so scheu zurückzieht, wie es sich für ein so köstliches Wesen geziemt. Aber im ersten Stock, am Hofende des Hauses in einem Zimmer, wo alle Vorhänge herabgelassen sind, da füllt loderndes Holzfeuer den halben Kamin an und strahlt seine Wärme auf die angelehnten Teller. Wachskerzen brennen allenthalben, eine Tafel ist für drei Personen mit Silber gedeckt, und Gläser blitzen darauf, mindestens für dreißig. Vor allem aber war da John Westlock – nicht der alte John, der er bei Pecksniff gewesen, sondern ein vornehmer Gentleman, sich wohl bewußt, daß er jetzt sein eigener Herr ist und Geld auf der Bank liegen hat; aber dann doch wieder in gewisser Hinsicht der alte John, denn kaum trat Tom Pinch ein, da streckte er ihm sogleich beide Hände entgegen und hieß ihn mit einer warmen Umarmung herzlich willkommen.

»Und dies«, sagte John, »ist also Mr. Chuzzlewit? Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«

John hatte von jeher ein eigentümlich freimütiges Wesen an sich; sie schüttelten einander die Hände, und die Freundschaft war im Nu geschlossen.

»Warte mal, Tom«, wendete sich John wieder an Tom und faßte ihn mit beiden Händen an der Schulter und drängte ihn auf Armeslänge zurück. »Laß dich mal ansehen. Wahrhaftig ganz und gar der alte, und nicht ein bißchen verändert.«

»Nun ja, kein Wunder. Es ist ja auch noch nicht so lange her«, meinte Tom Pinch.

»Mir kommt’s wie ein Menschenalter vor«, rief John, »und so sollte es von Rechts wegen dir auch gehen, du Schlingel.« Damit drückte er Tom in den bequemsten Stuhl, klopfte ihm herzlich auf den Rücken und war ganz wieder der alte fröhliche Bursche wie früher in Mr. Pecksniffs Schlafkammer, so daß Tom Pinch nicht wußte, ob er lachen oder weinen solle. Schließlich lachte er jedoch, und die beiden andern stimmten herzlich mit ein.

»Ich habe alle die Speisen und Getränke zum Dinner bestellt, von denen wir uns damals immer ausgemalt haben, daß sie ganz besonders fein sein müßten«, bemerkte Westlock.

»Wirklich?« rief Tom Pinch.

»Alles! Aber ich bitte dich, lache nicht vor dem Kellner, wenn du’s vermeiden kannst; mir scheint, ich habe auch gegrinst, als ich sie bestellte. – Es ist rein wie ein Traum.«

In diesem Punkte hatte John nun doch unrecht, denn wem wäre auch nur im Traum eine solche Suppe eingefallen, wie sie unmittelbar nachher auf den Tisch gesetzt wurde. Und dann erst die Fische, die Zwischengerichte, die Masse Geflügel und Süßigkeiten – kurz, alles was ein Kuvert zu zehn Schillingen sechs Pence, den Wein nicht miteingerechnet, nur zu bieten vermochte. Und der famose Champagner mit Eis, der Claret, der Portwein, der Sherry! – Wer solche Herrlichkeiten zu träumen imstande ist, der sollte lieber gleich zu Bett gehen und nicht mehr aufstehen.

Das Allerschönste beim Bankett war aber doch, daß niemand sich auch nur halb so über alles freute wie John selbst, der in der Überfülle seines Entzückens alle Augenblicke in ein schallendes Gelächter ausbrach und sich dann Mühe gab, eine übernatürlich feierliche Miene aufzusetzen, um die Kellner nicht glauben zu machen, er sei an derartige Gelage nicht gewöhnt. Einige von den Gerichten jedoch, die man ihm zum Tranchieren auftrug, kamen ihm so ungeheuer spaßhaft vor, daß er nicht mehr an sich halten konnte, und als Tom Pinch schließlich trotz des schüchternen Abratens eines Kellners nicht nur darauf bestand, die Außenwand einer hohen Pastete mit dem Löffel einzureißen, sondern sie sogar zu essen versuchte, da verlor er gänzlich seine Fassung und schüttelte sich hinter dem prächtigen Aufsatz am oberen Ende der Tafel vor Lachen, daß man ihn wahrscheinlich bis hinaus in die Küche hörte. Auch schämte er sich gar nicht, über sich selbst zu lachen, und bewies das, als sie sich nachher um das Kaminfeuer setzten, das Dessert aufgetragen wurde und der Oberkellner fragen kam, ob der etwas leichte und helle Portwein seinem Geschmack auch zusage oder ob er lieber einen kräftigeren und schwereren zu trinken wünsche. Ernsthaft erwiderte er, er sei vollkommen zufrieden mit dem Wein und halte ihn für ein ganz schneidiges Gewächs, und der Kellner verbeugte sich und ging. Aber dann gestand John seinen Freunden leise ein, daß er sich nicht im entferntesten auf Wein verstehe, und brach in ein unbändiges Gelächter aus.

So waren sie alle drei die ganze Zeit über fröhlich und guter Dinge, aber die angenehmsten Augenblicke waren doch die, wo sie um das Feuer herumsaßen, Nüsse knackend, Wein trinkend und gemütlich miteinander plaudernd.

Da Tom Pinch mit seinem Freunde, dem Gehilfen des Organisten, gerne ein paar Worte gesprochen hätte, verließ er auf einige Minuten sein warmes Eckplätzchen, um ihn nicht zu verpassen, und die beiden andern jungen Herren unterhielten sich unterdessen miteinander. Natürlich stießen sie in seiner Abwesenheit auf seine Gesundheit an, und John Westlock benützte die Gelegenheit, Martin zu versichern, daß es während seines ganzen Aufenthalts in Mr. Pecksniffs Hause auch nicht ein einziges Mal zu einem unfreundlichen Worte zwischen ihm und Tom gekommen sei. Dies führte zu einer eingehenderen Beleuchtung von Mr. Pinchs Charakter, und es fielen die Worte, daß Mr. Pecksniff ihn recht geschickt auszunutzen verstehe. Es blieb jedoch bei dieser oberflächlichen Andeutung, denn John wußte, wie Tom über diesen Punkt dachte, und hielt es auch für zweckmäßig, den neuen Schüler seine eigenen Erfahrungen machen zu lassen.

»Ja, ja, so ist es«, sagte Martin, »niemand kann Pinch mehr lieben als ich oder seinen guten Eigenschaften mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen; er ist wahrhaftig der gutmütigste Bursche, den ich jemals im Leben getroffen habe.«

»Leider nur etwas zu gutmütig«, versetzte John, der sofort begriff, wieviel die Uhr geschlagen hatte. »Das ist eben der Fehler an ihm.«

»Natürlich«, sagte Martin. »Sehr richtig. Da war zum Beispiel erst vor ungefähr einer Woche ein Kerl bei uns – ich glaube, er heißt Tigg –, der ihm all sein Geld mit dem Versprechen abborgte, es in einigen Tagen wieder zurückzuzahlen. Es war zwar nur eine halbe Guinee, aber es ist gut, daß es nicht mehr war, denn Pinch wird es nie mehr im Leben wiedersehen.«

»Armer Teufel«, sagte John, der dieser Erzählung aufmerksam zugehorcht hatte. – – »Vermutlich haben Sie noch gar nicht Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, wie stolz Tom in Geldangelegenheiten ist.«

»Was Sie nicht sagen! Nein, ich habe allerdings in dieser Hinsicht noch nichts bemerkt. Was meinen Sie damit? Borgt er sich nie etwas aus?«

John Westlock schüttelte den Kopf.

»Höchst merkwürdig«, meinte Martin und setzte sein Glas nieder. »Er ist aus den seltsamsten Charaktereigenschaften zusammengesetzt.«

»Ich glaube, er würde lieber sterben als ein Geldgeschenk annehmen«, fuhr Westlock fort.

»Unglaubliche Einfalt!« brummte Martin. – – »Noch ein Glas gefällig?«

»Sie natürlich«, sagte John, füllte sein Glas und sah Martin gespannt an, »wo Sie soviel älter sind als die meisten von Mr. Pecksniffs Schülern und daher auch weit mehr Erfahrung haben müssen, verstehen ihn ohne Zweifel – und sehen, wie leicht er sich betrügen läßt.«

»Allerdings«, gab Martin zu, streckte die Beine aus und hielt sein Weinglas zwischen Auge und Licht. »Und Mr. Pecksniff scheint das auch zu wissen und seine Töchter desgleichen – wie?«

John Westlock lächelte, gab aber keine Antwort.

»Übrigens, das bringt mich auf etwas anderes. – Wie hat Pecksniff Sie behandelt, und wie beurteilen Sie ihn jetzt? Jetzt, wo alles vorüber ist und Sie ganz unbeeinflußt sind.«

»Fragen Sie Pinch«, erwiderte Westlock; »er weiß genau, was diesbezüglich früher meine Ansichten waren. Ich kann Ihnen versichern, daß sie inzwischen nicht anders geworden sind.«

»Nein, nein«, fiel ihm Martin ins Wort, »ich möchte es doch lieber von Ihnen selbst hören.«

»Aber Pinch meint, ich sei ungerecht«, sagte John lächelnd.

»So, so. – Nun, dann kann ich mir ja ungefähr denken, wie die Sachen stehen«, versetzte Martin. »Bitte, sagen Sie mir ganz unverhohlen Ihre Meinung. Meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu genieren, denn ich sage Ihnen frei heraus, daß ich ihn meinerseits nicht leiden kann. Ich bin nur bei ihm, weil mich besondere Umstände dazu veranlassen. Wie ich glaube, besitze ich einiges Talent für das Baufach, und wenn hinsichtlich meiner Stellung zu ihm überhaupt von Verbindlichkeiten die Rede sein kann, so liegen sie auf seiner und nicht auf meiner Seite. Höchstens stehen die beiden Waagschalen gleich. – Reden Sie daher frei von der Leber weg.«

»Nun, wenn Sie’s denn durchaus haben wollen, daß ich Ihnen meine Meinung sage –« begann John Westlock.

»Ja, darum möchte ich Sie bitten«, erwiderte Martin. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür.«

»So muß ich rundheraus erklären, daß Pecksniff der heilloseste Schurke ist, den die Erde trägt.«

»Oho«, meinte Martin kaltblütig, »das ist etwas stark.«

»Nicht stärker, als er es verdient«, versetzte John. »Und wenn er mich auffordern würde, ihm meine Meinung ins Gesicht zu sagen, so würde ich es ohne Bedenken in den gleichen Ausdrücken tun. Schon die Art und Weise, wie er Pinch behandelt, würde hinreichen, meine Behauptung zu rechtfertigen. Aber wenn ich auf die Jahre zurückblicke, die ich in seinem Hause zugebracht habe, und mir dabei die Heuchelei, Schuftigkeit, Gemeinheit, Falschheit, die Speichelleckerei und das scheinheilige Wesen dieses Ehrenmannes vergegenwärtige, wenn ich daran denke, wie oft ich Zeuge davon war, wie oft ich eine Rolle dabei spielte, bloß weil ich sein Schüler war, so möchte ich mich, bei Gott, fast selbst verachten.«

Martin trank die Neige seines Glases aus und blickte ins Feuer.

»Ich will damit nicht sagen, daß ich wirklich Grund dazu hätte«, fuhr John Westlock fort, »denn die Schuld lag ja nicht an mir, und ich kann recht wohl begreifen, wie zum Beispiel Sie, wenn Sie ihn auch vollständig durchschauen, doch durch Umstände genötigt sein können, bei ihm zu bleiben. Ich teile Ihnen daher einfach mit, wie es mir zumute ist, und zwar noch jetzt, trotzdem, wie Sie sehr richtig sagen, alles vorüber ist und ich noch obendrein die Beruhigung habe zu wissen, daß er mich immer gehaßt hat und wir uns miteinander nie vertrugen und ich meinerseits keinen Augenblick Anstand nahm, ihm meine Meinung rundheraus zu sagen. Ja, sogar jetzt noch tut es mir leid, daß ich nicht schon als kleiner Junge dem Antrieb, der sich so oft in mir regte, Folge geleistet habe und davongelaufen bin, um im Ausland mein Glück zu versuchen.«

»Sie wollten ins Ausland gehen?« fragte Martin sehr interessiert. »Jawohl, um mir meinen Lebensunterhalt zu erwerben«, antwortete John, die Achseln zuckend, »natürlich erst, nachdem ich mich in der Heimat deswegen vergeblich bemüht; und dann hätte etwas Mutiges darin gelegen. – Doch jetzt genug davon, sprechen wir nicht mehr von dem Kerl und füllen wir lieber unsere Gläser.«

»Ganz wie’s beliebt«, sagte Martin. »Was mich selbst und meine Stellung zu ihm betrifft, so kann ich nur meine Erklärung von vorhin wiederholen. Ich bin bisher meine eigenen Wege mit ihm gegangen und werde es in Zukunft auch immer so halten. Und, aufrichtig gesprochen, ich glaube, er erwartet von mir, daß ich so eine Art Lückenbüßer für ihn werden soll. Er scheint mich jetzt deshalb schwer entbehren zu können. Ich habe es gleich gemerkt, als ich hinkam – Prosit!«

»Prosit! Ihr Wohl!« entgegnete Westlock. »Und möge es auch dem neuen Zögling so gut ergehen, wie er sich nur wünschen kann.«

»Was für einem neuen Zögling?«

»Dem glücklichen jungen Mann, der unter so günstigen Sternen geboren ist«, erwiderte John Westlock, »daß seine Eltern und Vormünder vom Schicksal bestimmt sind, sich durch Pecksniffs Annonce ködern zu lassen. Sie wissen doch, daß er schon wieder eine Annonce losgelassen hat.«

»Nein.«

»Ja, ja. Ich las sie kurz vor dem Essen in der gestrigen Zeitung. Ich kann mich gar nicht irren, daß sie von ihm herrührt, denn ich kenne seinen Stil zur Genüge. Übrigens still, da kommt Tom Pinch. – – Ist es nicht seltsam, daß man nur um so mehr Grund hat, ihn gern zu haben, je mehr er Pecksniff liebt, wenn bei ihm überhaupt noch eine Steigerung möglich ist? Aber jetzt kein Wort mehr, oder wir verderben ihm den ganzen Abend.«

John hatte kaum ausgesprochen, als Tom freudestrahlend wieder eintrat. Er rieb sich die Hände – mehr aus Fröhlichkeit als weil es kalt war, denn er hatte sich durch einen raschen Lauf warm gemacht –, setzte sich wieder in seine behagliche Ecke und fühlte sich so glücklich wie – nun, wie sich eben nur ein Tom Pinch glücklich fühlen konnte.

»Und so« – begann er, nachdem er seinen Freund eine Weile lang in stummer Wonne angesehen – »so bist du also wirklich ein Gentleman geworden, John. Nun, das laß ich mir gefallen.«

»Es ist nur ein Versuch, Tom, es ist nur ein Versuch«, versetzte Westlock gutmütig, »jetzt läßt sich noch nicht bestimmt sagen, was mit der Zeit aus mir wird.«

»Nun, deinen Koffer würdest du jetzt wohl keinesfalls mehr selbst zur Postkutsche tragen«, meinte Tom Pinch lächelnd, »sogar auf die Gefahr hin, daß er dir abhanden käme.«

»So, glaubst du«, versetzte John. »Nun, du mußt es ja wissen, Tom. Aber ich sage dir, es müßte ein sehr schwerer Koffer sein, den ich nicht selbst auf den Rücken nehmen würde, wenn es gälte, von Pecksniff wegzukommen, Tom.«

»Da haben wir’s«, rief Tom zu Martin gewendet. »Der einzige Fehler an ihm ist seine Ungerechtigkeit gegenüber Mr. Pecksniff. Kehren Sie sich übrigens nicht an das, was er in dieser Hinsicht behauptet, denn es spricht nichts als ein leidiges Vorurteil aus ihm.«

»Sie müssen nämlich wissen«, fiel John Westlock herzlich lachend ein und legte seine Hand auf Tom Pinchs Schulter, »bei Tom ist die Freiheit von Vorurteilen wahrhaft wunderbar. Wenn je ein Mensch einen anderen vom Grunde aus kannte und ihn im wahren Lichte sah, so läßt sich dies von Tom in erster Linie behaupten.«

»Ja, ja, das will ich meinen«, rief Tom. »Ich selbst habe es dir schon hundertmal gesagt. Wenn du ihn nur so genau kennen würdest wie ich – – und ich ließe es mich all mein Geld kosten, John, wenn ich dich so weit bringen könnte –, so müßtest du ihn bewundern, achten und verehren. Aber du kannst eben nicht anders. Oh, wie du seine Gefühle verwundet hast, als du weggingst!«

»Wenn ich überhaupt gewußt hätte, wie seinen Gefühlen beizukommen wäre«, erwiderte der junge Westlock, »so – verlaß dich drauf, Tom – würde ich mein Bestes getan haben, sie ein wenig empfindlicher anzugreifen. Da es jedoch unmöglich ist, jemanden an einer Stelle zu verwunden, die er gar nicht hat und von der man gar nicht weiß, ob sie überhaupt existiert, so fürchte ich, daß ich deine Lobsprüche nicht auf mich beziehen kann.«

Um nicht eine Unterhaltung fortzusetzen, die möglicherweise auf Martin einen verderblichen Einfluß üben konnte, behielt Mr. Pinch seine Antwort für sich. Aber John Westlock, den nicht einmal ein eiserner Knebel hätte zum Schweigen bringen können, wenn sich’s um Mr. Pecksniffs Verdienste handelte, fuhr fort:

»Seine Gefühle! O Gott, was er für ein zartfühlender Mensch ist. Seine Gefühle! Er ist ein wohlüberlegter, bewußter, moralischer Halunke. Seine Gefühle! Ach Gott! Ach Gott! – – Was hast du denn eigentlich, Tom?«

Mr. Pinch war nämlich inzwischen auf den Teppich vor den Herd getreten und knöpfte mit großer Hast seinen Rock zu.

»Ich kann das nicht länger mehr aushalten«, sagte Tom und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, wahrhaftig nicht, du mußt mich entschuldigen, John. Ich achte dich hoch, und wir sind miteinander befreundet; ich habe dich wirklich sehr gern und war heute außerordentlich erfreut, in dir den alten John wiederzufinden, aber solche Worte kann ich nicht mit anhören.«

»Nun, nun, ich bin eben einmal nicht anders, Tom, und du sagtest es ja selbst, du freuest dich, daß ich mich nicht geändert habe.«

»In dieser Hinsicht nicht«, entgegnete Tom Pinch. »Du mußt mich entschuldigen, John. Wahrhaftig, ich kann und will so etwas nicht länger mehr mit anhören. Es ist ungerecht von dir, und du solltest bedächtiger in deinen Äußerungen sein. Es hat mir immer schon wehe getan, wenn wir allein beisammen waren, aber unter Umständen wie den gegenwärtigen kann ich’s wahrhaftig nicht aushalten. Nein, es ist rein unmöglich.«

»Ja, ja, ich sehe ein, du hast recht«, rief John und wechselte mit Martin einen Blick, »und ich bin im Unrecht, Tom. Aber zum Kuckuck, wie sind wir schon wieder auf dieses unglückselige Thema gekommen. Also, ich bitte dich aus dem Grunde meines Herzens um Verzeihung.« »Wo du doch sonst einen so freien und männlichen Charakter hast«, sagte Finch, »kränkt mich dein Benehmen in diesem einzigen Punkte nur um so mehr. Mich brauchst du übrigens nicht um Verzeihung zu bitten, John, denn gegen mich bist du immer freundlich gewesen.«

»Nun, dann soll meine Abbitte Pecksniff gelten«, erwiderte der junge Westlock. »Ich tue ja alles, was du willst, Tom. Bist du jetzt zufrieden? Komm, wir wollen auf Mr. Pecksniffs Gesundheit trinken.«

»Ich danke dir«, rief Tom, drückte ihm freudig die Hand und füllte sein Glas. »Ich danke dir, John. Da mache ich von ganzem Herzen mit. Also Mr. Pecksniffs Gesundheit! Und möge das Glück ihm hold sein.« John Westlock trank auf diesen Toast, jedoch nur teilweise, denn er wünschte Pecksniff dabei etwas – was, klang nicht recht verständlich. Da die Eintracht jetzt völlig wiederhergestellt war, rückten die drei jungen Leute ihre Stühle dichter um das Kaminfeuer und plauderten vergnügt miteinander bis zur Schlafenszeit.

Kein Umstand hätte übrigens die Charakterverschiedenheit zwischen John Westlock und Martin Chuzzlewit besser beleuchten können als die Art, wie sie Tom Pinch nach dem eben geschilderten kleinen Zwiste betrachteten. Ihre Blicke zeigten allerdings eine gewisse Heiterkeit, aber damit hörte alle Ähnlichkeit zwischen ihnen auf. Der alte Schüler wußte gar nicht, was er alles tun solle, um Tom zu beweisen, wie herzlich er ihm zugetan sei, und seine Achtung vor ihm schien sogar an Ernst und Nachdruck noch gewonnen zu haben. Der neue dagegen wußte nichts anderes, als über Toms außerordentliche Abgeschmacktheit zu lachen, und in seine Heiterkeit mischten sich eine gewisse Geringschätzung und Verachtung, die anzudeuten schienen, daß Mr. Pinch doch gar zu einfältig sei, um unter Verhältnissen wie den gegebenen von einem vernünftigen Menschen als Freund behandelt werden zu können.

John Westlock, der niemals etwas halb tat, hatte für seine zwei Gäste Betten im Gasthof bestellt, und nachdem sie den Abend so glücklich verbracht, begaben sie sich zur Ruhe.

Mr. Pinch saß noch mit abgelegter Halsbinde und ausgezogenen Schuhen auf seinem Bettrand, um über die vielen guten Eigenschaften seines alten Freundes nachzudenken, als er durch ein Klopfen an die Türe seines Zimmers und durch Johns Stimme in seinen Grübeleien unterbrochen wurde.

»Du schläfst noch nicht, Tom?«

»Gott behüte, nein! Ich habe eben an dich gedacht«, versetzte Tom und öffnete die Türe, »komm nur herein!«

»Ich will dich nicht lange stören«, entschuldigte sich John. »Ich habe nur vergessen, diesen Abend einen kleinen Auftrag an dich zu bestellen, und ich fürchte, ich könnte ihn ganz vergessen, wenn ich mich jetzt seiner nicht entledige. – – Du bist, glaube ich, mit einem gewissen Mr. Tigg bekannt.«

»Tigg?« rief Tom. »Ja, ja, der Gentleman, der sich von mir Geld ausgeborgt hat.«

»Ja, ja, derselbe. Er hat mich also gebeten, dich zu grüßen und dir das Darlehen mit Dank zurückzuerstatten. Hier ist es. Ich denke, das Goldstück ist zwar echt, er selbst gehört aber leider zu einer sehr zweideutigen Art von Menschen, Tom.« Mr. Pinch nahm die halbe Guinee mit einem Gesicht in Empfang, dessen Glanz sogar den des Metalls hätte beschämen können, und sagte, er habe dessentwegen keine Sorge gehabt; es freue ihn übrigens, fügte er hinzu, daß Mr. Tigg so prompt und ehrenhaft in seinen Verbindlichkeiten sei.

»Nur eins muß ich dir noch sagen, Tom«, warf John hin, »daß der das nicht immer ist. Wenn ich dir einen Rat geben darf, so weiche ihm aus, so gut du irgend kannst, falls du ihm wieder begegnen solltest; namentlich aber merke dir – es ist mein voller Ernst –, leihe ihm unter keinen Umständen je wieder Geld.«

»Wieso?« fragte Tom und sperrte die Augen weit auf.

»Er gehört durchaus nicht zu den Bekanntschaften, auf die man stolz sein könnte«, fuhr der junge Westlock fort, »und es ist nur um so besser für dich, wenn du ihm zu verstehen gibst, daß du diese Meinung von ihm hast.«

»O weh, John«, sagte Mr. Pinch mit langem Gesicht und schüttelte kleinmütig den Kopf, »ich will doch nicht hoffen, daß du in schlechte Gesellschaft geraten bist?« »Nein«, versicherte John lachend, »hinsichtlich dieses Punktes brauchst du keine Sorge zu haben.«

»Aber es beunruhigt mich doch«, meinte Tom Pinch. »Ich kann mich eines unangenehmen Gefühles nicht erwehren, wenn ich dich so sprechen höre. Wenn Mr. Tigg so ist, wie du ihn schilderst, so solltest du ihn überhaupt nicht kennen. Lache, soviel du willst, aber ich versichere dir, mir kommt die Sache keineswegs lächerlich vor.«

»Nein, nein«, versetzte John und legte sein Gesicht in ernste Falten, »du hast ganz recht; die Sache ist nicht zum Lachen.«

»Weißt du, John«, fuhr Mr. Pinch eindringlich fort, »dein guter Charakter und deine Herzensgüte machen dich oft gedankenlos, und in einer solchen Hinsicht kann man nicht vorsichtig genug sein. Wirklich, es würde mich höchst unglücklich machen, wenn ich denken müßte, daß du in schlechte Gesellschaft geraten seist, denn ich weiß, wie schwer es dir werden würde, sie wieder abzuschütteln. Es würde mir weit lieber sein, ich hätte das Geld verloren, John, als es unter solchen Bedingungen wieder zurückzuerhalten.«

»Und ich versichere dir, mein lieber, guter, alter Freund«, rief John und faßte Toms beide Hände und lächelte ihm mit einem so heiteren und offenen Gesichte zu, daß sogar ein argwöhnischeres Herz als das seines Freundes hätte überzeugt werden müssen, »ich versichere dir, es ist nicht die geringste Gefahr vorhanden.«

»Gut«, rief Tom, »das freut mich – freut mich über die Maßen. Ich weiß, daß es zuverlässig wahr ist, was du mir da sagst. Du nimmst es mir doch nicht übel, John, daß ich so offenherzig zu dir war?«

»Ich es übelnehmen!« rief John mit einem herzlichen Händedruck. »Aus welchem Holze, glaubst du eigentlich, bin ich geschnitzt? Mr. Tigg und ich stehen überhaupt auf keinem so vertrauten Fuße miteinander, als daß du überhaupt nötig hättest, dich zu beunruhigen – darauf gebe ich dir mein feierliches Ehrenwort. Bist du jetzt ganz zufrieden?«

»Vollkommen«, antwortete Tom.

»Dann noch einmal: Gute Nacht!«

»Gute Nacht«, rief Tom. »Und angenehme Träume.« Und dann trennten sie sich für die Nacht – John leichtherzig und guter Laune und auch der arme Tom Pinch ganz zufriedengestellt, obgleich er noch, als er sich in seinem Bett zur Wand drehte, vor sich hin murmelte:

»Trotz alledem wäre es mir doch lieber, wenn er nicht mit Mr. Tigg bekannt wäre.«

Am andern Morgen frühstückten sie sehr zeitig miteinander, denn die beiden jungen Architekten wünschten, beizeiten wieder zu Hause zu sein, und auch John Westlock gedachte noch am selben Tage mit der Landkutsche nach London zurückzukehren. Da der Wagen erst einige Stunden später fuhr, leistete er seinen Freunden drei oder vier Meilen auf ihrem Heimwege Gesellschaft und trennte sich erst von ihnen, als es unbedingt nötig wurde. Der Abschied war ungewöhnlich herzlich, nicht nur zwischen ihm und Tom Pinch, sondern auch von Seiten Martins, der in ihm jemand ganz andern gefunden, als er den Schilderungen seines arglosen Begleiters zufolge zu treffen erwartet hatte.

Der junge Mr. Westlock war noch nicht weit gekommen, als er auf einer kleinen Anhöhe haltmachte und zurückblickte. Die beiden andern schritten rasch vorwärts, und Tom schien in eifrigem Gespräche begriffen zu sein. Martin hatte seinen Überrock ausgezogen, da sie jetzt den Wind im Rücken hatten, und trug ihn auf dem Arme. Plötzlich bemerkte John, daß ihm Tom nach kurzem Widerstreben seinen Mantel abnahm und jetzt doppelt zu schleppen hatte. Dieser unbedeutende Umstand machte einen tiefen Eindruck auf ihn, und er blieb stehen und sah den beiden nach, bis sie seinen Blicken entschwunden waren. Dann schüttelte er den Kopf, wie von unruhigen Gedanken gequält, und schritt gedankenvoll auf dem Wege nach Salisbury weiter.

Inzwischen trabten Martin und Tom wacker fort, bis sie wohlbehalten in Mr. Pecksniffs Behausung anlangten und dort einen kurzen Brief an Mr. Pinch vorfanden, der die Rückkehr der Familie mit derselben Abendpost meldete. Da der Wagen morgens gegen sechs Uhr an der Straßenecke anlangen mußte, so wünschte Mr. Pecksniff, daß das Gig sowie ein Karren für das Gepäck ihn um die genannte Zeit bei dem Wegweiser erwarten sollten. Um daher den Herrn des Hauses mit entsprechenden Ehren empfangen zu können, sahen sich die beiden jungen Leute genötigt, sehr früh aufzustehen und sich selbst an Ort und Stelle zu bemühen.

Es war der letzte heitere Tag, den sie miteinander verbringen sollten. Martin war mißlaunig und ersah jede Gelegenheit, seine eigenen Verhältnisse und Aussichten mit denen des jungen Mr. Westlock zu vergleichen, wobei er stets zu demselben verdrießlichen Schlusse kam. Diese Stimmung wirkte auch auf Tom niederdrückend, und weder der Gedanke an den Abschied am Morgen noch an das gestrige Bankett vermochten die Sache wesentlich zu bessern. Träge genug schwanden die Stunden dahin, und die beiden jungen Leute waren schließlich froh, sich zu Bett begeben zu können.

Weniger behaglich fanden sie es, als sie am nächsten Morgen um halb drei Uhr in der ganzen Kälte eines dunkeln Wintertages aufstehen mußten. Sie machten sich jedoch pünktlich auf die Beine und trafen eine volle halbe Stunde vor der festgesetzten Zeit am Wegweiser ein. Der Morgen war nichts weniger als lieblich, denn am Himmel hingen schwarze Wolken, und der Regen goß nur so hernieder, dennoch meinte Martin, es läge wenigstens ein gewisser Trost darin, denn das Biest von einem Gaul – damit meinte er Mr. Pecksniffs arabische Stute – werde auch bis auf die Knochen naß und es freue ihn daher in gewissem Sinne, daß es so unerhört schütte. Aus dieser Bemerkung zu schließen, hatte sich Martins Stimmung durchaus nicht gebessert, und wie er so neben Mr. Pinch wartend unter einer Hecke stand und auf den Regen, das Gig, den Karren und das dampfende Pferd hinblickte, brummte er unablässig. Vielleicht würde es sogar zu einem Streit mit Pinch gekommen sein, wären eben nicht zu einem Zwiste mindestens zwei Parteien unerläßlich notwendig.

Endlich ließ sich aus der Ferne das dumpfe Gerassel von Rädern vernehmen, und bald nachher fuhr der Postwagen, durch Schmutz und Schlamm platschend, heran. Nur ein einziger Außenpassagier kauerte sich unter einem triefenden Regenschirm in das Stroh, und der Kutscher, der Schaffner und die Pferde waren sämtlich elend durchnäßt. Sobald der Wagen haltmachte, ließ Mr. Pecksniff das Fenster herunter und rief Tom Pinch an. »Was sehe ich, Mr. Pinch! – Ist es denn möglich, daß Sie an einem solch unfreundlichen Morgen selbst herausgekommen sind?«

»Gewiß, Sir«, rief Tom und trat eilig an den Kutschenschlag heran, »Mr. Chuzzlewit und ich, Sir –«

»Oh«, sagte Mr. Pecksniff und sah über Martin hinweg in die Luft. »Oh, wahrhaftig! – – Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, nach den Koffern zu sehen, Mr. Pinch?«

Dann stieg er aus und half auch seinen Töchtern aus dem Wagen. Doch weder er noch die jungen Damen nahmen dabei die geringste Notiz von Martin, der herangetreten war, um seinen Beistand anzubieten. Mr. Pecksniff kehrte ihm sogar brüsk den Rücken. In gleicher Weise und unter tiefem Schweigen hob er seine Töchter in das Gig, folgte ihnen nach, ergriff die Zügel und fuhr nach Hause. Sprachlos vor Staunen starrte Martin erst die Kutsche und, als diese abgefahren war, Mr. Pinch und das Gepäck an. Als der Lastkarren sich gleichfalls entfernt hatte, wendete er sich zu Tom und fragte:

»Würden Sie vielleicht so freundlich sein, mir zu sagen, was das alles zu bedeuten hat?«

»Was?« fragte Tom.

»Das Benehmen dieses Kerls – des Monsieur Pecksniff. – Sie haben es doch gesehen.«

»Wahrhaftig, nein!« versicherte Tom. »Ich war mit den Koffern beschäftigt.«

»Macht weiter nichts«, brummte Martin. »Kommen Sie! Eilen wir uns, daß wir nach Hause kommen.«

Und ohne weiter ein Wort zu sprechen, brach er so hastig auf, daß Tom seine liebe Not hatte, gleichen Schritt mit ihm zu halten.

Achtlos ging er dabei mitten durch die Pfützen, die sich auf der Straße angesammelt hatten, stets geradeaus blickend und bisweilen höchst seltsam auflachend. Tom fühlte, daß alles, was er hätte sagen können, Martin nur noch störrischer machen mußte, und hoffte daher, wenn sie zu Hause angelangt sein würden, daß Mr. Pecksniff das Mißverständnis bald aufklären und den neuen Zögling, der doch im Hause so beliebt war, freundlich begrüßen werde. Wie erstaunt war er aber, als sie das Zimmer betraten und Pecksniff allein vor dem Feuer sitzen und heißen Tee trinken sahen, ohne daß er sich um seinen Verwandten im geringsten gekümmert oder Notiz von ihm genommen hätte.

»Schenken Sie sich eine Tasse Tee ein, Mr. Pinch – schenken Sie sich eine Tasse Tee ein«, sagte Mr. Pecksniff vielmehr, sich auffallenderweise nur an Tom wendend. »Sie müssen sehr durchfroren und naß geworden sein. Bitte, nehmen Sie etwas Tee und wärmen Sie sich hier am Kamin, Mr. Pinch.«

Tom sah bestürzt Martin an und bemerkte, daß dieser Mr. Pecksniff mit Blicken musterte, die etwas Drohendes an sich hatten.

»Nehmen Sie Platz, Mr. Pinch«, fuhr Mr. Pecksniff krampfhaft fort; »nehmen Sie Platz, wenn ich bitten darf. – – Also, was hat sich in unserer Abwesenheit alles ereignet, Mr. Pinch?«

»Sie – Sie werden sich sehr über die Pläne der Elementarschule freuen, Sir«, antwortete Tom; »sie sind beinahe fertig.«

»Würden Sie vielleicht die Güte haben, Mr. Pinch«, unterbrach ihn Pecksniff lächelnd und winkte mit der Hand ab, »alles, was auf diese Frage Bezug hat, vorderhand auf sich beruhen zu lassen. – Also, wie ist es Ihnen ergangen, Thomas – hum?«

Mr. Pinch blickte von seinem Herrn und Gebieter auf den neuen Zögling und von diesem wieder auf Mr. Pecksniff, war aber dabei so verwirrt und verlegen, daß er die nötige Geistesgegenwart nicht aufbringen konnte, um die Frage zu beantworten. Während dieser peinlichen Pause rührte Mr. Pecksniff beständig, sich wohl bewußt, daß ihn Martin immer noch mit drohenden Augen betrachte – trotzdem er nicht ein einziges Mal aufgesehen hatte –, eifrig in den Kohlen herum. Als das schließlich nicht mehr recht anging, beschäftigte er sich emsig mit Teetrinken.

»Nun, Mr. Pecksniff?« sagte Martin endlich mit schneidender Stimme. »Wenn Sie sich genügend erfrischt und erholt haben, so würde es mir lieb sein, wenn sie mir endlich sagen wollten, wie ich mir Ihr Benehmen zu deuten habe.«

»Und was –« nahm Mr. Pecksniff seine alte Frage wieder auf, »– und was, lieber Tom Pinch, haben Sie die ganze Zeit über getrieben? Nun?« Nachdem er diese Frage noch ein paarmal wiederholt hatte, schaute er sich im Zimmer um, um seine Verlegenheit zu verbergen.

Tom stand der Verstand beinah still, denn er wußte nicht, was er zu alledem sagen solle, und er wollte gerade durch eine bittende Gebärde Mr. Pecksniffs Aufmerksamkeit auf dessen Verwandten zu lenken versuchen, als Martin ihm jede weitere Mühe ersparte und selbst aufs neue das Wort ergriff.

»Mr. Pecksniff«, sagte Martin, trommelte leicht mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte und trat dann ein paar Schritte näher, so daß er den Herrn des Hauses beinahe mit der Hand hätte berühren können, »Sie haben gehört, was ich Sie soeben fragte. Würden Sie also die Gefälligkeit haben, mir zu antworten. Ich wiederhole meine Frage« – er erhob jetzt seine Stimme ein wenig – »was habe ich mir bei all dem zu denken?«

»Ich werde demnächst mit Ihnen darüber sprechen, Sir«, versetzte Mr. Pecksniff in strengem Tone und erhob jetzt zum erstenmal seine Blicke.

»Höchst liebenswürdig von Ihnen«, höhnte Martin, »aber mit einem ›Demnächst‹ gebe ich mich nicht zufrieden. Sie werden sich schon bemühen müssen, mit der Wahrheit herauszurücken.«

Mr. Pecksniff tat, als beschäftige er sich eifrig mit seinem Taschentuch, aber man konnte deutlich sehen, wie seine Hand zitterte.

»Und zwar gleich!« fuhr Martin fort und trommelte wieder auf dem Tische. »Und zwar jetzt! Ich lasse mich mit keinem ›Demnächst‹ abspeisen.«

»Wie? – Sie drohen mir, Sir?!« rief Mr. Pecksniff.

Martin sah ihn fest an, gab aber keine Antwort, obwohl ein aufmerksamer Beobachter ein ominöses Zucken um seine Mundwinkel und vielleicht eine unwillkürliche Bewegung seiner rechten Hand in der Richtung nach Mr. Pecksniffs Halsbinde hätte entdecken können.

»Es tut mir sehr leid, sagen zu müssen, Sir«, begann Mr. Pecksniff nach einer Pause, »daß es Ihnen sehr ähnlich sieht, wenn Sie mir drohen wollen. Sie haben mich hintergangen. Sie haben mich getäuscht, trotzdem Sie mich als vertrauensvoll und arglos kannten. Ja«, setzte er hinzu und erhob sich von seinem Stuhl, »und zwar durch falsche Angaben und trügerische Vorspiegelungen haben Sie sich in dieses Haus eingeschlichen, Sir.«

»Nur weiter, Sir«, sagte Martin mit geringschätzigem Lächeln; »ich verstehe. Was weiter?«

»Was weiter, Sir!« rief Pecksniff, am ganzen Leibe zitternd, und rieb sich krampfhaft die Hände. »Was weiter? Sie zwingen mich, Ihre Schande vor einer fremden Person zu veröffentlichen, was ich eigentlich nicht im Sinne gehabt habe. Ich kann nicht länger zugeben, daß mein Haus durch die Gegenwart eines Menschen geschändet wird, der zu einem Betrüger – zu einem schändlichen Betrüger geworden ist an einem ehrenhaften, allgemein geliebten, verehrten und verehrungswürdigen Gentleman – durch einen Menschen, der sich mir mit Arglist im Herzen näherte, wohl wissend, daß ich, so unbedeutend ich auch sein mag, doch ein ehrlicher Mensch bin, der in dieser irdischen Welt seine Pflicht zu tun sucht und ein Feind ist von aller Bosheit und Hinterlist. Ich beklage aufs tiefste Ihre Verderbtheit, Sir, und sehe mit Leid, daß Sie von dem Blumenpfade der Reinheit und des Friedens abgewichen sind« – dabei schlug der Treffliche an seine Brust oder vielmehr an seinen moralischen Garten – »aber ich kann nicht länger einem Aussätzigen – einer Schlange – Obdach geben. Weichen Sie von hinnen!« rief Mr. Pecksniff und streckte seine Hand aus. – »Weichen Sie von hinnen, junger Mann. Gleich allen, die Sie durchschaut haben, sage ich mich los von Ihnen!«

In welcher Absicht Martin bei diesen Worten einen Schritt vorwärts tat, läßt sich unmöglich sagen. Genug, daß Tom Pinch seine Arme um ihn schlang und ihn zurückhielt und daß im selben Augenblick Mr. Pecksniff hastig zurücktrat, ausglitt, über einen Sessel stolperte und in sitzender Stellung auf den Fußboden fiel, wo er, ohne einen Versuch zu machen aufzustehen, mit dem Kopf in die Ecke gelehnt, sitzen blieb. – Wahrscheinlich, weil er dies für die sicherste Stellung hielt.

»Lassen Sie mich, Pinch«, rief Martin und schüttelte Tom von sich ab. »Wofür halten Sie mich? Glauben Sie, daß ein Fußtritt ihn zu einer noch gemeineren Kreatur machen könnte? Glauben Sie, wenn ich ihm ins Gesicht spiee, daß ich ihn noch mehr erniedrigen könnte, als er sich selbst schon erniedrigt hat?! Sehen Sie ihn doch nur an! Ich bitte, sehen Sie ihn doch nur an, Pinch!«

Mr. Pinch sah unwillkürlich Mr. Pecksniff an, wie er, auf dem Teppich sitzend, den Kopf in einen Winkel der Wand gedrückt und mit allen Spuren einer unbequemen, langen Reise an Leib und Kleidern, nichts weniger als den Eindruck eines einnehmenden und würdevollen Menschen bot. Aber doch blieb er der treffliche Mr. Pecksniff, und es war unmöglich, ihn dieser einzigen Empfehlung bei Tom zu berauben. Sein Blick schien zu sagen: »Ach, Mr. Pinch, sehen Sie nur, hier sitze ich; Sie wissen, was der Dichter von einem Ehrenmanne singt. Und ein Ehrenmann ist eine von den wenigen großen Naturmerkwürdigkeiten, die man umsonst zu sehen kriegt. Bitte, sehen Sie mich nur an.«

»Und ich sage Ihnen«, rief Martin, »wie er da liegt, schmachvoll, ein erkauftes Werkzeug, ein Fußabkratzer für schmutzige Stiefel, ein lügnerischer, kriecherischer, gemeiner Hund, ist er das letzte und schlechteste von allem Gewürm auf Erden. Denken Sie an mich, Pinch, der Tag wird kommen – ich weiß es, denn während ich spreche, können Sie es in seinem Gesichte lesen –, an dem auch Sie erfahren werden, was für eine Sorte Mensch er ist. Sie werden ihn kennenlernen, wie ich ihn kenne, und er weiß ganz gut, in welchem Lichte er mir erscheint. Er sich von mir lossagen! Schauen Sie ihn nur an, diesen Tugendbold, Pinch, und lassen Sie sich seinen Anblick zur Warnung dienen.«

Dabei deutete er mit unaussprechlicher Verachtung auf Mr. Pecksniff, drückte sich dann schnell den Hut auf den Kopf und verließ das Haus. Er ging so rasch, daß er bereits das Dorf im Rücken hatte, als er Tom Pinch in einiger Entfernung hinter sich atemlos seinen Namen rufen hörte:

»Nun, was gibt’s?« fragte er, als Tom ihn eingeholt hatte.

»Ach, du lieber Gott«, rief Tom, »Sie wollen fort?«

»Fort?« wiederholte Martin. »Natürlich fort.«

»Aber doch nicht jetzt – in diesem Unwetter – zu Fuß – ohne Kleider – ohne Geld!«

»Ja«, antwortete Martin finster.

»Und wohin?« fragte Tom. »Wohin wollen Sie Ihre Schritte lenken?« »Ich weiß es nicht. – Doch ja! Ich will nach Amerika.«

»Ach, tun Sie das nicht«, rief Tom schmerzlich betrübt. »Sie dürfen das nicht! Besinnen Sie sich eines Bessern! Seien Sie doch nicht so furchtbar rücksichtslos gegen sich selbst. Bitte, gehen Sie nicht nach Amerika!«

»Mein Entschluß steht fest«, erwiderte Martin. »Ihr Freund hatte recht. Ich gehe nach Amerika. Gott behüte Sie, Pinch!«

»So nehmen Sie wenigstens dies!« rief Tom und drückte Martin in großer Erregung ein Buch in die Hand. »Ich muß jetzt zurück und kann nicht alles sagen, was ich möchte. Gottes Segen sei mit Ihnen. Sehen Sie sich das Blatt an, das ich im Buch eingebogen habe. Und jetzt Gott befohlen! Gott befohlen!«

Dann drückte er ihm die Hand, und Tränen liefen ihm über die Wangen.

In der nächsten Sekunde eilte jeder der beiden jungen Leute in einer andern Richtung fort.

13. Kapitel


13. Kapitel

Was aus Martin wurde, nachdem er Mr. Pecksniffs Haus verlassen, welchen Personen er begegnete, was er alles auszustehen hatte und was er für Neuigkeiten erfuhr

Achtlos, bloß Tom Pinchs Buch unter dem Arm und nicht einmal zum Schutz gegen den heftigen Regen seinen Rock zuknöpfend, schritt Martin schnellen Schrittes finster vorwärts, bis er an dem Wegweiser vorbeikam und auf die nach London führende Landstraße gelangte. Aber auch jetzt mäßigte er seine Hast nur wenig, wenn er auch begann, ernster zu überlegen und umherzuschauen und sich aus dem Banne der ungestümen Leidenschaften loszumachen, die ihn bisher gefangen gehalten.

Weder physisch noch geistig hatte er Grund, sich besonders behaglich zu fühlen. Der Morgen graute; ein Streifen wässerigen Lichtes dämmerte am östlichen Himmel, und unfreundliche Wolken trieben einher und sandten einen dicken nassen Nebel herab.

Von jedem Zweig und Strauch in den Hecken träufelte der Regen, und kleine Gießbäche bildeten sich neben dem Weg. Hundert kleine Kanäle liefen auf der Straße nach abwärts, und auf der Oberfläche jedes Teiches und jeder Gosse bewegten sich zahllose Ringe. Schlammig klatschte es unter dem Gras, und jede Furche in den gepflügten Feldern verwandelte sich in ein schmutziges Bächlein. Nirgends war ein lebendes Wesen zu sehen. Wenn sich die ganze beseelte Natur in Wasser aufgelöst haben würde, hätte der Anblick kaum öder und trostloser sein können.

Ebenso unerfreulich wie die Landschaft waren auch die Betrachtungen und Gedanken des jungen einsamen Wanderers. Ohne Geld und ohne Freunde, aufs höchste gereizt und in seinem Stolz und seiner Eigenliebe aufs tiefste verletzt, voll von Entwürfen, Plänen und doch aller Mittel zu ihrer Verwirklichung bar, hätte ihm auch der rachsüchtigste Feind, in Anbetracht der Summe von Seelenleiden, die ihn jetzt erfüllten, verzeihen müssen. Dabei fühlte er sich noch bis auf die Haut durchnäßt und bis ins Mark erkältet. In diesem kläglichen Zustande erinnerte er sich an Mr. Pinchs Buch – mehr, weil ihm das Tragen etwas lästig fiel als weil er hoffte, aus dieser Abschiedsgabe sich Trostes erholen zu können. Er warf einen Blick auf den abgerissenen Titel auf dem Rücken des Buches, und als er fand, daß es ein Band von der französischen Ausgabe des Baccalaureus von Salamanka war, so verwünschte er Toms Torheit aufs heftigste und war schon im Begriff, in seinem Ärger und seiner üblen Laune das Geschenk wegzuwerfen, als ihm eben noch zu rechter Zeit einfiel, daß Pinch ihn auf ein eingebogenes Blatt aufmerksam gemacht hatte. Er schlug daher das Buch auf, darauf gefaßt, weitern Anlaß zum Grimm gegen den armen Mr. Pinch zu finden, der glauben konnte, irgendeine Phrase von der Weisheit des Baccalaureus könne ihm unter solchen Umständen Hilfe bringen – fand aber –

Allerdings war es nicht viel, was er fand, aber doch war es Toms ganze Habe: ein halber Sovereign. Tom hatte das Goldstück hastig in ein Stück Papier gewickelt und mit einer Stecknadel auf das Blatt geheftet. Auf der Innenseite der Umhüllung stand mit Bleistift geschrieben: Ich brauche es nicht und wüßte nicht, was damit anfangen. Toms hochherzige Handlungsweise machte auf Martin einen tiefen Eindruck. Die Folge davon war, daß er sich nach kurzer Frist wieder ein wenig von seiner Mutlosigkeit erholte und sich erinnerte, daß er denn doch nicht so ganz ohne Mittel sei, besaß er doch noch einen Vorrat von Kleidern, den er in Mr. Pecksniffs Hause zurückgelassen, und außerdem noch eine goldene Uhr. Nicht wenig schmeichelte ihm auch der Gedanke, was er für ein bestrickender Mensch sein müsse, da er einen so tiefen Eindruck auf Tom gemacht habe, und wieviel er diesem überlegen sei und wie leicht er seinen Weg in der Welt werde machen können. Von diesem Gedanken beseelt und durch den Plan, jetzt in einem fremden Lande sein Glück zu versuchen, ermutigt, entschloß er sich, sein Äußerstes daran zu setzen, um ohne Zeitverlust auf die bestmögliche Weise nach London zu gelangen, wo er, nach Sammlung seiner Hilfsquellen, weiter mit sich zu Rate gehen könne.

Er war jetzt zehn gute Meilen vorn Dorfe entfernt und kehrte daher in einem kleinen Bierhause am Wege ein, um ein Frühstück zu sich zu nehmen, sich am Feuer zu wärmen und seinen Rock zu trocknen. Freilich war es ein ganz anderer Ort als der Gasthof, in dem John Westlock ihn bewirtet hatte, und es war nicht mehr Bequemlichkeit darin zu finden als in einer gewöhnlichen Garküche. Aber die Not bricht Eisen. Und was er gestern noch verschmäht haben würde, wurde jetzt für ihn zu einem auserlesenen Dinner. Eier, Schinken, ein Krug Bier waren keineswegs eine so rauhe Kost, wie er gemeint hatte, sondern entsprachen vollkommen der Inschrift auf dem Fensterladen, die verkündete, daß gute Bewirtung für Reisende hier zu haben sei. Als er sich gestärkt, schob er seinen leeren Teller zurück, setzte einen zweiten Krug vor sich auf den Kamin und blickte gedankenvoll in die Kohlenglut, bis ihn die Augen schmerzten. Dann betrachtete er die buntfarbigen Bibelbilder an den Wänden, die in kleine schwarze Rasierspiegelrahmen eingerahmt waren, und erbaute sich daran, wie die Weisen aus dem Morgenland, die übrigens eine starke Familienähnlichkeit miteinander aufwiesen, vor einer rosenroten Krippe beteten und der verlorene Sohn in fleckenfarbigen Lumpen zu seinem purpurgewandigen Vater zurückkehrte, sich in Gedanken bereits an dem seegrünen Kalbe im Hintergrunde labend. Dann blickte er durch das Fenster auf den prasselnden Regen, der schräge über das Wirtshausschild gegen das Haus schlug und den Pferdetrog fast zum Überlaufen brachte. Dann blickte er wieder in das Feuer und träumte. Er hatte diesen Prozeß bereits zum soundsovielten Male wiederholt, als das Geräusch von Rädern seine Aufmerksamkeit von ihrer Richtung ab- und dem Fenster zulenkte. Er bemerkte jetzt draußen einen von vier Pferden gezogenen, gedeckten Korbwagen, der, soviel er unterscheiden konnte, mit Korn und Stroh beladen war. Der Fuhrmann, der einzige menschliche Begleiter des Gespannes, machte vor dem Hause halt, um seine Tiere zu tränken, und kam dann, stampfend und aus Rock und Hut die Nässe schüttelnd, in das Zimmer.

Es war ein rotbäckiger, stämmiger junger Bursche mit einem gutmütigen Gesicht, der auch in seiner Kleidung eine gewisse Schmuckheit bekundete. Als er an das Kaminfeuer trat, berührte er grüßend seine triefende Stirn mit dem Zeigefinger seines steifledernen Handschuhs und bemerkte etwas unnötigerweise, daß draußen ein ungemein nasser Tag sei.

»Sehr naß«, bestätigte Martin.

»Ein solches Wetter ist mir überhaupt noch nicht vorgekommen.«

»Und mir auch nicht«, sagte Martin.

Der Fuhrmann warf einen Blick auf Martins beschmutzten Anzug, seine feuchten Hemdärmel und seinen Rock, der zum Trocknen vor dem Kamin hing, und fragte nach einer Pause, sich die Hände wärmend:

»Hat Sie der Regen erwischt, Sir?«

»Ja«, war die kurze Antwort.

»Ausgeritten vielleicht?«

»Ich wäre ausgeritten, wenn ich ein Pferd hätte, aber ich habe keins«, erwiderte Martin.

»Das ist schlimm«, meinte der Kutscher.

»Es könnte noch schlimmer sein«, sagte Martin. – Dann steckte er die Hände in die Taschen und fing, um dadurch anzudeuten, daß er sich keinen Pfifferling um Fortunas Launen kümmere, an zu pfeifen. Ungefähr eine Minute lang sah der Kutscher ihn verstohlen an und pfiff ebenfalls, die Hände sich am Kaminfeuer wärmend. Dann fragte er und deutete mit dem Daumen auf die Straße hinaus:

»Geht’s hinauf oder hinunter?«

»Was ist hinauf?«

»Nach London, natürlich.«

»Also hinauf«, sagte Martin und warf gleichgültig den Kopf zurück, als wollte er sagen: Jetzt wissen Sie’s endlich, steckte die Hände noch tiefer in die Taschen, änderte die Melodie und pfiff etwas lauter.

»Ich fahre auch hinauf, Sir«, begann der Kutscher wieder. »Nach Hounslow zehn Meilen von hier nach London zu.«

»So?« rief Martin, hielt inne und sah den Mann an.

Der Kutscher spritzte ein paar Tropfen mit der nassen Hand ins Feuer, daß es zischte, und antwortete: »Ja, allerdings, ich fahre hinauf.«

»Hören Sie mal«, sagte Martin, »ich möchte gerne offen mit Ihnen reden. Sie schließen vielleicht nach meinen Kleidern, daß ich ziemlich viel Geld übrig habe. Das ist nun aber nicht so. Alles, was ich für eine Wagenfahrt bezahlen könnte, wäre eine Krone, da ich nicht mehr als zwei besitze. Wenn Sie mich für diesen Betrag und für meine Weste oder mein seidenes Halstuch da mitnehmen wollen, so ist’s mir recht. Wollen Sie nicht, so können Sie’s ja bleiben lassen.«

»Kurz und bündig«, bemerkte der Kutscher.

»Verlangen Sie mehr?« fragte Martin. »Ich habe nicht mehr und kann nicht mehr geben. Also hat der Handel ein Ende.« Dann fing er wieder an zu pfeifen.

»Habe ich denn gesagt, daß ich mehr will, was?« fragte der Kutscher ein wenig entrüstet.

»Sie haben aber auch nicht gesagt, daß Ihnen mein Anerbieten paßt«, erwiderte Martin.

»Ich könnt‘ es doch nicht. Sie ließen mich ja nicht zu Worte kommen. Was die Weste übrigens anbelangt, so würde ich nicht um alles in der Welt einen Gentleman seiner Weste berauben. Aber mit dem seidenen Tuch, das ist etwas anderes. Wenn Sie zufrieden sind, daß wir bis Hounslow fahren, nehme ich es als Geschenk an.«

»Also gut, dann wäre das Geschäft in Ordnung«, sagte Martin.

»Ja«, sagte auch der andere.

»Nun, dann trinken Sie dieses Bier hier aus.« – Martin reichte ihm den Krug und zog seinen Rock geschwind an. »Und dann können wir aufbrechen, wenn es Ihnen paßt.«

In weiteren zwei Minuten hatte er seine Rechnung, die einen Schilling betrug, bezahlt und sich der vollen Länge nach auf einem trockenen Strohbündel in dem Korbwagen ausgestreckt, dessen Plane vorn ein wenig geöffnet wurde, damit er sich auch mit seinem neuen Freunde unterhalten konnte. Dann ging es in herzhaftem Tempo vorwärts.

Der Fuhrmann hieß, wie Martin bald erfuhr, William Simmons, allgemein unter dem Namen »Bill« bekannt, und sein flottes Äußeres erklärte sich hinlänglich durch seine Verbindung mit einem großen Stellwagenetablissement in Hounslow, wohin er jetzt seine Ladung von einer Meierei in Wiltshire fuhr, die zu seinen Kundschaften gehörte. Er fuhr sehr häufig, wie er sagte, mit solchen Aufträgen die Landstraße auf und nieder und hatte dabei auch nach maroden oder kranken Pferden zu sehen, von denen er übrigens ein langes und breites zu erzählen wußte. Augenblicklich strebte er nach der Würde eines festangestellten Kutschers und sah in Bälde der ersehnten Beförderung entgegen. Außerdem war er musikalisch und trug ein kleines Klapphorn in der Tasche, auf dem er, sooft das Gespräch ins Stocken kam, die ersten paar Takte von einer Menge von Liedern spielte und dann ruckweise abbrach.

»Ach ja«, seufzte Bill, fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen und steckte sein Instrument in die Tasche, nachdem er zuvor das Mundstück abgeschraubt hatte, um die Röhre abtropfen zu lassen. »Da lobe ich mir Lummy Ned von den leichten Salisburywagen. – Ja, der war ein musikalisches Talent. Er war als Kondukteur bei der Post angestellt und versah seinen Dienst, daß die Leute nur so –«

»Ist er tot?« fragte Martin.

»Tot?« versetzte Bill mit verächtlichem Achselzucken. »Nein! Ned läßt sich nicht so leicht beim Sterben erwischen. Der hat was Besseres zu tun.«

»Sie haben aber von ihm in der Vergangenheit gesprochen«, meinte Martin, »und daher glaubte ich, daß er nicht mehr am Leben sei.«

»Ach so, deshalb!« rief Bill. »Nun, ich meinte, daß er nicht mehr in England sei. Er ist nach den Vereinigten Staaten ausgewandert.«

»So?« sagte Martin mit plötzlicher Teilnahme. »Wann?« »Vor fünf Jahren ungefähr. Er hatte in der Gegend hierherum eine Wirtschaft angefangen und konnte seinen Verbindlichkeiten nicht nachkommen. Deshalb brach er eines Tages, ohne ein Wörtchen davon verlauten zu lassen, nach Liverpool auf und schiffte sich nach den Vereinigten Staaten ein.«

»Nun, und?« fragte Martin.

»Nun, als er dort landete, ohne einen Penny für einen Schluck Bier, da war man natürlich gewaltig froh, ihn auf amerikanischem Grund und Boden begrüßen zu können.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Martin etwas verächtlich.

»Was ich damit sagen will? Nun, weiter nichts als das: in den Vereinigten Staaten sind alle Menschen gleich. Oder etwa nicht? Dort macht sich keiner den Teufel was daraus, ob einer tausend Pfund hat oder gar nichts. Besonders in New York soll’s so sein, wo Ned an Land ging.«

»In New York also«, brummte Martin gedankenvoll.

»Ja, in New York. Ich weiß das, weil er nach Hause schrieb, es habe ihn lebhaft an das alte York erinnert, weil es diesem in jeder Hinsicht – gänzlich unähnlich sei. Ich weiß nicht, auf was für besondere Geschäfte sich Ned verlegt hat, aber er schrieb nach Hause, daß er und seine Freunde immer Lieder von Columbia und dem Präsidenten, den sie demnächst aufzuhängen gedächten, sängen, und so glaube ich, es muß eine Staatswirtschaft oder sonst etwas Flottes gewesen sein. Aber sei es, wie’s will, jedenfalls hat er sein Glück gemacht.«

»Wirklich?«

»Jawohl, ich weiß es. Denn er verlor sein ganzes Vermögen wieder den Tag darauf in sechsundzwanzig Banken, die umgeschmissen haben. Sobald er sich darüber klar war, schickte er ein ganzes Pack Banknoten an seinen Vater und einen sehr kindlichen Brief dazu. Ich weiß das, weil man sie in unserm Hof drunten gegen ein kleines Eintrittsgeld zum Besten des alten Gentlemans zeigte, damit er sich im Armenhaus ein wenig Tabak kaufen könne.«

»Das war doch wirklich ein einfältiger Kerl, daß er nicht besser auf sein Geld achtgab, nachdem er sich einmal etwas erworben hatte«, sagte Martin unwillig.

»Da haben Sie ganz recht«, versetzte Bill, »besonders weil’s lauter Papier war und er sehr leicht darauf hätte achtgeben können, wenn er’s in ein kleines Päckchen zusammengebunden hätte.«

Martin sagte nichts, sondern schlief bald darauf ein und schlummerte ein paar Stunden. Als er erwachte, hatte der Regen aufgehört, weshalb er seinen Sitz neben Bill wieder einnahm und ihn ausfragte, wie lange der glückliche Kondukteur von den leichten Salisburywagen zur Überfahrt gebraucht, welche Jahreszeit er zur Reise gewählt, wie das Schiff, das er benützt, geheißen, wieviel Reisegeld er bezahlt und ob er viel unter der Seekrankheit gelitten habe und so weiter. Über alle diese Einzelheiten wußte jedoch Bill nur wenig oder gar keine Auskunft zu geben, denn er antwortete entweder augenscheinlich aufs Geratewohl, oder er gab zu, nie etwas davon gehört oder alles Nähere vergessen zu haben. Kurz, Martin konnte nichts Wesentliches erfahren, so angelegentlich er sich auch erkundigte.

Den ganzen Tag über holperten sie weiter und machten so oft halt – das eine Mal, um Erfrischungen einzunehmen, das andere Mal, um die Pferde oder das Geschirr zu wechseln, jetzt wegen dieser, dann wegen jener Geschäftsangelegenheit, die mit dem Postkutschenverkehr in Verbindung stand und so weiter –, daß es schließlich Mitternacht wurde, als sie Hounslow erreichten. In einiger Entfernung von den Ställen, die das Standquartier des Korbwagens waren, stieg Martin ab, zahlte seine Krone und drängte seinem wackern Freund das seidene Tuch auf, ungeachtet der vielen Beteuerungen desselben, daß er ihn nicht berauben wolle, wobei jedoch seine gierigen Blicke seine Worte Lügen straften. Als das abgetan war, trennten sie sich. Der Wagen fuhr in seinen Hof, und die Tore wurden zugemacht. Während Martin in der dunkeln Straße stehen blieb und sich vorkam wie einer, der ausgestoßen und verlassen ist von der ganzen Welt, ohne einen Schlüssel zu haben, das Tor zum Reiche des Glücks zu öffnen.

Aber auch in diesem Augenblicke der Zaghaftigkeit, und noch oft später, wirkte die Erinnerung an Mr. Pecksniff wie eine Labung auf ihn, und der in seiner Seele erwachende Unwille war gerade das beste Mittel, ihn zu hartnäckiger Ausdauer anzuspornen. Unter dem Einflüsse dieses feurigen Belebungsmittels brach er ohne weiteres nach London auf, und als er dort in tiefster Nacht anlangte und daher keine Herberge mehr offen fand, trieb er sich bis zum Morgen in den Straßen und auf den freien Plätzen umher.

Etwa eine Stunde vor Tagesgrauen gelangte er in die bescheideneren Regionen von Adelphi, redete dort einen Mann in einer Pelzmütze an, der eben die Läden einer armseligen Wirtsstube öffnete, und fragte ihn, da er fremd sei, ob er nicht ein Bett haben könne. Zum Glück antwortete der Mann bejahend. Martin fühlte sich überglücklich und dankte dem Himmel, als er in das freilich nichts weniger als prächtige, aber doch leidlich reine Lager kroch, um Wärme, Ruhe und Vergessenheit zu suchen.

Er erwachte erst gegen Abend, und als er sich gewaschen, angekleidet und etwas zu sich genommen hatte, war es bereits wieder dunkel geworden. Dies paßte ihm jedoch nur um so besser, als er sich jetzt in die unbedingte Notwendigkeit versetzt sah, seine Uhr zu irgendeinem Pfandleiher zu tragen, und zu einem solchen Zwecke sogar am längsten Tage des Jahres bis zum Einbruch der Nacht gewartet haben würde, und wenn er die Stunden auch ohne einen Bissen zu genießen hätte verbringen müssen. Er kam an mehr goldenen Bällen – den Aushängeschildern der Pfandleiher – vorüber, als wohl sämtliche Jongleure Europas seit dem Anbeginn ihrer technischen Tätigkeit zu ihren Gaukeleien verwendet hatten, ehe er sich zugunsten irgendeines besonderen Ladens, wo wiederum derartige Symbole ausgehängt waren, entschied. Dann kehrte er zu einem der ersten, die er gesehen, zurück, trat durch eine Nebentüre des Hofes ein, wo die drei Kugeln mit der Inschrift »Geld auszuleihen« in gespenstigem Transparent sich wiederholten, und traf auf eine Reihe kleinerer Verschläge oder Privatlogen, die zur Bedienung der verschämteren und weniger abgebrühten Kunden bestimmt waren. Nachdem er sich in einen derselben hineingeschlichen, zog er seine Uhr heraus und legte sie auf den Ladentisch.

»Auf Ehr und Seligkeit«, hörte er eine Stimme in der nächsten Abteilung offenbar zu dem Ladenbesitzer sagen, »Sie müssen mehr geben. Sie müssen eine Kleinigkeit mehr geben, wahrhaftig. Sie müssen eine halbe Viertelunze Zuwaage geben, wenn Sie mit Ihrem Pfund Fleisch herausrücken, bester Freund, und zwei Schillinge sechs Pence daraus machen.« Martin fuhr unwillkürlich zusammen, denn die Stimme kam ihm bekannt vor.

»Sie haben immer das Maul voll Unsinn«, schimpfte der Pfandleiher, rollte das Paket, es schien ein Hemd zu sein, auf und probierte seine Feder auf dem Rechentisch.

»Soll ich’s vielleicht voll Gold haben, wenn ich zu Ihnen komme«, lachte Mr. Tigg. »Ha, ha; auch eine Idee. Machen Sie’s rund; zwei und sechs, lieber Freund, nur dieses eine Mal noch. Eine halbe Krone ist ein recht hübsches Geldstück – zwei und sechs! Wer gibt mehr? Zwei und sechs. Zum ersten, zum zweiten und zum –«

»Bevor ich sage ›zum dritten‹«, brummte der Pfandleiher, »können Sie lange warten. Das Ding ist schon ganz grau vom Tragen.«

»Sein Herr ist grau geworden im Dienst eines undankbaren Vaterlandes! Also, Sie machen zwei und sechs daraus, denke ich.«

»Ich gebe nicht mehr darauf«, entgegnete der Ladeninhaber, »als ich immer gebe, nämlich zwei Schilling. – Derselbe Name wie gewöhnlich, nicht wahr?«

»Derselbe Name«, sagte Mr. Tigg. »Mein Anrecht auf den erloschenen Pairstitel ist vom Oberhaus noch immer nicht bestätigt.«

»Die alte Adresse?« »Nein, nein. Ich habe mein Hotel von der City von Nummer achtunddreißig, Mayfair, auf Nummer eintausendfünfhundertzweiundvierzig, Park Lane, verlegt.«

»Sie werden doch nicht verlangen, daß ich das aufschreiben soll, was?« sagte der Mann lachend.

»Schreiben Sie auf, was Sie wollen, mein Freund«, entgegnete Mr. Tigg. »Die Tatsache steht nun doch einmal fest. Die Gelasse für den Unterkellermeister und den fünften Lakaien waren in Nummer achtunddreißig in Mayfair von ganz verwünscht schlechter Beschaffenheit, und ich sah mich deshalb genötigt, mit Rücksicht auf meine verwöhnte Dienerschaft das elegante und bequeme Gebäude Nummer eintausendfünfhundertzweiundvierzig, Park Lane, zu mieten. Also geben Sie drei Schillinge und sechs Pence her und besuchen sie mich mal gelegentlich.«

Der Pfandleiher fühlte sich durch diese humorvollen Ergüsse so erbaut, daß sogar Mr. Tigg selbst einen Ausbruch schnurrigen Behagens nicht unterdrücken konnte. Seine fröhliche Stimmung erweckte in ihm schließlich sogar den Wunsch nachzusehen, ob der Kunde im nächsten Verschlag seinen Witz auch wirklich gehört habe, und um sich davon zu überzeugen, guckte er um die Scheidewand herum und erkannte im nächsten Augenblick bei der Beleuchtung der Gaslampe Martin.

»Hol mich der Teufel«, rief er aus und reckte den Kopf vor. »Das ist doch das erstaunlichste Zusammentreffen, das jemals in der alten oder neuen Geschichte passiert ist. Wie geht’s Ihnen? Was bringen Sie für Neuigkeiten aus den ackerbauenden Distrikten? Was machen unsere Freunde, die Pecksniffs? Ha, ha, ha. David, schenken Sie doch auf der Stelle diesem Gentleman, der ein guter Freund von mir ist, ihre ganz besondere Aufmerksamkeit.«

»Da! Wollen Sie vielleicht die Güte haben, mir auf dieses Pfand hier so viel wie möglich zu borgen?« sagte Martin und händigte dem Pfandverleiher seine Uhr aus. »Ich brauche dringend Geld.«

»Er braucht dringend Geld!« rief Mr. Tigg voll Mitgefühl. »Haben Sie die Güte, Ihr Alleräußerstes für meinen Freund zu tun. Sie hören, er braucht dringend Geld. Bedienen Sie meinen Freund, als ob ich’s selbst wäre. Eine goldene Uhr, David! Zylinderwerk, geht auf vier Rubinen, englische Aufhängung, horizontale Balanciere, und für richtigen Gang garantiere ich mit meinem Ehrenwort, da ich Gelegenheit hatte, das Werk jahrelang und unter den heikelsten Umständen zu beobachten.« Dabei blinzelte er Martin zu, um ihm bemerklich zu machen, daß diese Empfehlung einen bedeutenden Einfluß auf den Pfandleiher ausüben werde. »Nun, was haben Sie meinem Freunde zu sagen, David? Geben Sie sich alle erdenkliche Mühe, sich bei dieser neuen Kundschaft gut einzuführen.«

»Wenn’s Ihnen recht ist, so kann ich Ihnen auf die Uhr drei Pfund borgen«, wendete sich der Pfandleiher in familiärem Ton zu Martin. »Sie ist sehr altmodisch, und ich kann deshalb nicht mehr geben.«

»Nun, das lasse ich mir gefallen«, rief Mr. Tigg. »Zwei Pfund zwölf Schillinge sechs Pence für die Uhr, und sieben Schillinge sechs Pence aus persönlichen Rücksichten. – Wirklich, ich freue mich sehr darüber. Es mag eine Schwäche von mir sein, aber ich kann nicht anders – drei Pfund sind gut – wir nehmen sie. Der Name meines Freundes ist Smivey: Chicken Smivey in Holborn, Nummer sechsundzwanzigeinhalb B, Aftermieter.« Dabei blinzelte er Martin zu, um ihm zu bedeuten, daß jetzt alle vom Gesetz vorgeschriebenen Zeremonien beendigt seien und er weiter nichts zu tun habe, als das Geld einzustecken.

Es stellte sich heraus, daß er nicht falsch prophezeit hatte, denn Martin, dem keine andere Wahl blieb, als zu nehmen, was ihm geboten wurde, drückte seine Zustimmung durch ein Nicken mit dem Kopfe aus, worauf sofort das Geld auf den Tisch hingezählt wurde. An der Türe schloß sich ihm Mr. Tigg an, faßte ihn am Arme, begleitete ihn auf die Straße hinaus und gratulierte ihm zu dem erfolgreichen Ausgang des Geschäftes.

»Danken Sie mir nicht lange wegen meiner Verwendung«, sagte er, »Sie wissen, ich kann dergleichen nicht leiden.«

»Glauben Sie vielleicht, es wäre mir so etwas auch nur im entferntesten in den Sinn gekommen?« sagte Martin, blieb stehen und machte sich los.

»Sie sind sehr gütig«, lachte Mr. Tigg, »ich danke Ihnen.« »Ich dächte, Sir«, sagte Martin und biß sich auf die Lippen, »die Stadt ist ziemlich groß, und wir könnten ganz gut verschiedene Wege einschlagen. Wenn Sie mir angeben wollen, wohin sie der Ihrige führt, so kann ich ja den entgegengesetzten einschlagen.«

Mr. Tigg öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Martin kam ihm zuvor.

»Nach dem, was sie soeben gesehen haben, brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen, daß ich nicht in der Lage bin, etwas für Ihren Freund, Mr. Slyme, tun zu können. Auch halte ich es für ebenso unnötig, Ihnen zu versichern, daß ich die Ehre Ihrer Gesellschaft gerne entbehre.«

»Halt!« rief Mr. Tigg und streckte die Hand aus. »Halt! Es gibt ein sehr merkwürdiges, altersgraues, sehr wahres Sprichwort, das behauptet, es sei die Pflicht des Menschen, zuerst gerecht und dann erst großmütig zu sein. Seien Sie jetzt das erstere – zu dem anderen werden Sie gleich Gelegenheit haben. Bitte, bringen Sie mich nicht in Verbindung mit dem Subjekt Slyme, beehren Sie das Subjekt Slyme nicht mit der Auszeichnung, es wäre mein Freund; denn das ist durchaus nicht der Fall. Ich habe mich genötigt gesehen, Sir, den Menschen fallenzulassen, den Sie Slyme nennen. Ich weiß durchaus nichts von der Person, die Sie Slyme nennen. Ich bin, Sir«, setzte Mr. Tigg hinzu und schlug sich auf die Brust, »ich bin eine preisgekrönte Orchidee von einer ganz anderen Kultur und ganz verschiedener Abstammung und habe nichts gemein mit dem Kohlstrunk Slyme, Sir.«

»Das alles ist mir sehr gleichgültig«, versetzte Martin kalt. »Es ist mir auch völlig egal, ob Sie jetzt auf eigene Rechnung vagabundieren oder das Geschäft noch in Kompanie mit Mr. Slyme führen. Kurz und gut, ich wünsche keinen Verkehr mit Ihnen. – In Teufelsnamen, Mensch«, setzte er hinzu, konnte aber trotz seines Ärgers ein Lächeln nicht unterdrücken, als er Mr. Tigg mit dem Rücken gegen den Fensterladen lehnen und sich mit Seelenruhe seinen Scheitel frisieren sah. »Wollen Sie dorthin gehen oder diesen Weg hier einschlagen?«

»Erlauben Sie mir gefälligst, Sie daran zu erinnern, Sir«, sagte Mr. Tigg mit großer Würde, »daß Sie – nicht ich – daß Sie –, ich wiederhole es noch einmal: daß Sie – meine Vermittlung in Ihren Angelegenheiten zu einer kalten und entfremdenden Geschäftssache machen, während ich geneigt war, sie im Lichte einer freundschaftlichen Bemühung zu betrachten. Wie übrigens jetzt die Sachen stehen, Sir, erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich wegen der geringen Dienste, die ich Ihnen bei dem Geldgeschäft heute abend geleistet, eine Kleinigkeit erwarte, um sie einem wohltätigen Zwecke zuzuwenden. Nach der Art und Weise, wie Sie mit mir gesprochen haben«, schloß Mr. Tigg, »würde ich es nicht als Beleidigung betrachten, wenn Sie mir gefälligst eine Krone anbieten wollten.«

Martin zog ein solches Geldstück aus der Tasche und warf es dem Gentleman zu. Mr. Tigg fing es auf, betrachtete es genau, um sich von seiner Echtheit zu überzeugen, ließ es auf seiner Hand wie einen Kreisel tanzen und begrub es dann in seiner Tasche. Schließlich lüftete er mit militärischem Anstand seinen Hut um ein paar Zoll, sann gravitätisch nach, für welche Richtung er sich entscheiden und welchen Grafen oder Marquis von seinen Freunden er zunächst mit seinem Besuche beehren solle, steckte die Hände in seine Rocktaschen und stolzierte davon. Martin schlug die entgegengesetzte Richtung ein.

Der ganze stattgefundene Vorgang hatte etwas Demütigendes für ihn, und er verwünschte immer wieder und wieder das Mißgeschick, mit diesem Menschen in dem Laden des Pfandleihers zusammengetroffen zu sein. Immerhin gereichte es ihm zum Tröste, daß Mr. Tigg selbst zugestanden hatte, die Verbindung zwischen ihm und Slyme habe aufgehört. Dadurch wurde wenigstens, wie Martin folgerte, verhindert, daß seine drückende Lage irgendeinem Mitgliede seiner Familie bekannt wurde. Schon der Gedanke an diese Möglichkeit einer solchen Bloßstellung verletzte seinen Stolz und erfüllte ihn mit Scham. Allerdings war genügend Grund vorhanden, in was immer für Erklärungen Mr. Tiggs das größte Mißtrauen zu setzen und ihnen auch nicht den mindesten Glauben zu schenken. Wenn sich aber Martin daran erinnerte, auf welchem Fuße dieser Gentleman mit seinem Freunde gestanden hatte und wie wahrscheinlich es war, daß er ein von Mr. Slyme unabhängiges Geschäft eröffnet habe, kam ihm die Aussage des Ehrenmannes immerhin plausibel vor; wenigstens hoffte er, es möchte der Fall sein, und das war vorderhand genügend.

Sobald er sich mit dem nötigen Geld, wie bereits erzählt, für seine augenblicklichen Bedürfnisse versehen hatte, war sein erster Schritt, seine Schlafstelle in dem Wirtshaus bis auf weitere Kündigung zu mieten und ein förmliches Schreiben an Tom Pinch abzusenden – er wußte genau, daß es Mr. Pecksniff lesen würde –, worin er ihn ersuchte, ihm mit der nächsten Londoner Post seine Kleider zu schicken, zugleich aber der Adresse die Weisung beifügte, daß sie auf dem Postbureau liegen bleiben sollten, bis sie abgeholt würden. Nachdem er diese Maßregeln getroffen, verbrachte er die Zeit bis zur Ankunft seines Gepäckes – nämlich drei Tage – mit Nachfragen wegen der Überfahrtsbedingungen nach Amerika. Er hoffte, es könne sich ihm bei dieser Gelegenheit die Möglichkeit irgendeiner kleinen Stelle an Bord bieten. Als er jedoch fand, daß sich etwas dieser Art nicht von selbst präsentierte, und die Folgen weiteren Zeitverlustes fürchtete, so brachte er sein Anliegen in Form einer kurzen Annonce zu Papier, die er in ein paar der gelesensten Zeitungen einrücken ließ. Bis die zwanzig oder dreißig Anfragen, die, wie er meinte, nicht ausbleiben könnten, einlaufen würden, traf er unter seiner Garderobe eine engere Wahl und trug das übrige in den Laden des Pfandverleihers, um es in klingende Münze umzusetzen.

Dabei fiel ihm auf, wie rasch und doch fast unmerklich er Feingefühl und Selbstachtung verlor. Was ihn noch vor ein paar Tagen bis ins tiefste Innere mit Scham erfüllt hätte, betrieb er bald mit so wenig Bedenken, als wenn es sich ganz von selbst verstünde. Als er das erstemal den Pfandleiher besucht hatte, war es ihm auf seinem Wege vorgekommen, als sähen ihm alle Vorübergehenden forschend in die Augen, wohin er ginge. Auf dem Rückwege schien es, als mache der ganze Menschenstrom vor ihm halt und wiche ihm aus, genau wissend, woher er komme. Und jetzt? Das Urteil der Leute war ihm mit einem Male vollständig gleichgültig geworden! Bei seinen ersten Wanderungen durch die langweiligen Straßen hatte er sich gestellt, als verfolge er einen ganz bestimmten Zweck, jetzt aber verfiel er bald in den bummligen Gang eines gedankenlosen Pflastertreters, der, an einem Strohhalm kauend, um die Straßenecken schlendert und wohl fünfzigmal des Tages an demselben Ort hin und her geht, teilnahmslos und geistesabwesend immer in dieselben Fensterläden guckend. Anfangs verließ er seine Wohnung mit einem unruhigen Gefühl, weil er sich scheute, auch nur von den zufällig Vorübergehenden, die er nie zuvor gesehen hatte und auch wohl nie wieder zu sehen bekommen würde, bemerkt zu werden. – Es berührte ihn peinlich, am Morgen aus einem Wirtshaus zu kommen, aber jetzt machte er sich nichts mehr daraus, sogar vor der Türe herumzulungern oder sich nachlässig neben dem Gestell zu sonnen, das von oben bis unten mit hölzernen Nägeln besteckt war, an denen die Bierkannen wie Früchte eines Zinnbaumes hingen. Und doch hatte es kaum fünf Wochen gebraucht, bis er die unterste Sprosse dieser langen Leiter erreicht hatte.

Fünf Wochen! Von all den zwanzig oder dreißig Anfragen, die er erhofft, war auch nicht eine einzige eingelaufen. Sein Geld – und selbst der Zuschuß, den er sich durch Veräußerung seiner entbehrlichen Kleidungsstücke verschafft hatte, freilich war es nicht viel, denn Kleider sind bekanntlich teuer zu kaufen, aber fast wertlos im Leihamt – schwand rasch dahin. Was sollte er beginnen? Manchmal überkam ihn eine Art Verzweiflung, und dann stürzte er wieder fort, obgleich er eben erst nach Hause gekommen war, um nach demselben Platz, den er schon zwanzigmal besucht, zurückzukehren, um einen neuen Versuch zu machen; aber alles war vergebens. Er war um vieles zu alt für einen Kajütenjungen und viel zu unerfahren, um auch nur als gewöhnlicher Matrose angenommen zu werden. Auch sein Anzug und sein ganzes übriges Äußeres stand seinen Anerbietungen, sich den niedrigsten Diensten zu unterziehen, hinderlich im Wege. Und doch durfte er nichts unversucht lassen, langte doch alles, was er besaß, nicht hin, um auch nur im Zwischendeck Amerika erreichen zu können.

Es ist bezeichnend für den menschlichen Geist, daß Martin die ganze Zeit über keinen Augenblick zweifelte und sogar felsenfest davon überzeugt war, er würde in der neuen Welt die großartigsten Dinge zur Ausführung bringen können, wenn er nur einmal drüben wäre. In demselben Maße, in dem er von Tag zu Tag kleinmütiger in England wurde, und die Möglichkeiten, sich Mittel zu verschaffen, um nach Amerika zu kommen, immer mehr und mehr schwanden, desto tiefer lebte er sich in die Überzeugung hinein, drüben sei der einzige Ort, wo er sein hohes Ziel erreichen könne. Ununterbrochen quälte er sich mit dem Gedanken ab, es könnten in der Zwischenzeit Leute hinübergehen, die ihm in der Ausführung aller seiner Pläne, die seinem Herzen so teuer waren, zuvorkämen. Oft dachte er an John Westlock und sah sich nach ihm bei allen Gelegenheiten um, durchwanderte sogar London drei Tage lang ausdrücklich in der Absicht, ihm zu begegnen. Wenn ihm dies auch nicht glückte, so wäre er doch nicht im geringsten davor zurückgeschreckt, sich von ihm Geld auszuborgen, was ihm Westlock ohne Zweifel auch sofort geliehen haben würde. Aber andererseits konnte er es doch nicht über sich gewinnen, an Pinch zu schreiben und ihn zu fragen, wo sein Freund zu finden sei. Allerdings hatte er Tom ziemlich gern, aber das Bewußtsein seiner eigenen Überlegenheit erlaubte es ihm nicht, einen Menschen, dem er nichts weiter als ein Gönner sein wollte, zum Ausgangspunkt seines Glückes zu machen. Schon der Gedanke daran verletzte seinen Stolz aufs tiefste.

Wahrscheinlich würde er schließlich doch nachgegeben haben und hätte es ohne Zweifel auch bald müssen, wenn nicht ein sehr sonderbares und unvorhergesehenes Ereignis eingetreten wäre.

Nach Ablauf der genannten fünf Wochen befand er sich in einer wahrhaft verzweifelten Lage. Als er eines Abends nach seiner Wohnung zurückkehrte, sich betrübt nach seiner Schlafkammer hinaufschlich und eine Kerze an der Gasflamme im Schenkstübchen anzünden wollte, hörte er den Wirt seinen Namen nennen. Da er ihn stets verschwiegen hatte, so stutzte er daher nicht wenig, und seine Verwirrung war so augenfällig, daß der Wirt ihn mit der Bemerkung zu beruhigen für nötig hielt: es sei nur von einem Briefe die Rede.

»Von einem Briefe!« rief Martin.

»An Mr. Martin Chuzzlewit«, erklärte der Wirt und las die Adresse eines Schreibens, das er in der Hand hielt, ab. »Abgestempelt nachmittags, Hauptpostamt, franko.«

Martin nahm das Kuvert entgegen, bedankte sich und ging die Treppe hinauf. Der Umschlag war nur mit einer Oblate zugeklebt und die Handschrift ihm gänzlich unbekannt. Er öffnete das Schreiben und fand darin – ohne Namen, Adresse oder sonstigen Aufschluß – eine Note der englischen Bank im Betrag von zwanzig Pfund.

Vor Erstaunen und Entzücken fast versteinert, eilte er sogleich in die Wirtsstube hinunter, um sich zu überzeugen, ob die Note auch echt sei, und dann wieder mit größter Hast hinaufzustürmen, um sich wohl zum fünfzigsten Male zu überzeugen, ob nicht doch irgendwo eine kleine Notiz angebracht sei oder eine Zeile sich vorfinde. Vor lauter Mutmaßungen wurde er schließlich fast närrisch, konnte aber am Ende doch weiter nichts herausbringen, als daß die Note wirklich da und er plötzlich ein reicher Mann geworden war. Dann kam er zu dem Schlusse, es sich vorderhand wieder einmal bei einem guten, aber frugalen Mahle auf seinem Zimmer wohl sein zu lassen, befahl zu diesem Zwecke ein Kaminfeuer anzuzünden und begab sich auf den Weg, um etwas einzukaufen.

Er suchte sich ein paar Schnitten kaltes Ochsenfleisch, Schinken, französisches Brot und Butter aus und kehrte gleich darauf mit ziemlich schwer beladenen Taschen wieder heim. Wenig erfreulich für ihn war, daß er sein Zimmer voll Rauch fand, was davon herrührte, daß die Abzugsröhren fehlerhaft konstruiert waren und man überdies beim Einheizen vergessen hatte, ein paar Säcke und andere Kleinigkeiten wegzunehmen, die in der Röhre gelegen hatten. Doch war das Versehen bereits wiedergutgemacht und das Fenster durch ein vorgelegtes Holzscheit zum Offenbleiben gezwungen worden, so daß es in Bälde in der Stube ziemlich behaglich war, von ein bißchen Augenbeißen und Husten vielleicht abgesehen.

Martin war nicht in der Stimmung, sich über diese Mißhelligkeiten zu beklagen, selbst wenn sie noch unerträglicher gewesen wären, besonders da eine glänzende Flasche Porter auf dem Tische stand. Als sich das Dienstmädchen entfernen wollte, erteilte er ihr noch die besondere Weisung, etwas Heißes herzurichten, damit er es haben könne, sobald er klingle. Da der kalte Braten in einen Theaterzettel eingewickelt war, bediente er sich dieses Papiers als Tafeltuch, legte es mit der bedruckten Seite nach unten auf den kleinen runden Tisch und ordnete sein Mahl darauf. Der untere Teil der Bettstatt vertrat, da sie dicht an den Kamin stieß, die Stelle eines Serviertisches, und als diese Vorbereitungen beendigt waren, schob Martin einen alten Lehnsessel in die wärmste Kaminecke, um sodann behaglich darauf Platz zu nehmen.

Er hatte soeben mit großem Appetit zu essen angefangen und sah sich dabei mit der triumphierenden Vorahnung in dem Stübchen um, daß er es am nächsten Tage wohl für immer verlassen werde, als seine Aufmerksamkeit durch einen leisen Schritt auf der Treppe draußen erregt wurde. Gleich darauf ertönte ein Klopfen an der Türe, und zwar so leise, daß das Holzscheit im Fenster aufs lebhafteste darüber erschrak und auf die Straße hinunterfiel.

»Aha, Kohlen kommen«, murmelte Martin. »Herein!«

»Ich bin so frei, Sir«, versetzte eine Mannesstimme. »Ihr Diener, Sir!«

Martin starrte das Gesicht an, das sich jetzt auf der Schwelle verbeugte. Er erinnerte sich der Züge und des Ausdrucks vollkommen, hatte aber ganz und gar vergessen, wem sie angehörten.

»Ich heiße Tapley, Sir«, sagte der Besucher, »ich bin derselbe, der früher im Drachen bedienstet war und fort mußte, weil es ihm an Anlaß zur nötigen Fröhlichkeit fehlte.«

»Aha! Richtig!« rief Martin. »Ich bitte Sie, wie kommen Sie hierher?«

»Durch den Vorplatz und die Treppe herauf, Sir«, entgegnete Mark.

»Nein, ich meine, wie Sie mich aufgefunden haben?«

»Nun, Sir«, antwortete Mark, »es kam mir so vor, als ob ich Sie ein paarmal auf der Straße gesehen hätte. Und als ich vorhin mit so hungrigem Magen, daß man ganz gut heiter dabei sein kann, in die Bude des Garkochs drüben hineinschaute, bemerkte ich, daß Sie drin Einkäufe machten.«

Martin errötete, als Mr. Tapley auf den Tisch deutete, und fragte etwas hastig:

»Und was weiter?« »Nun, Sir, und da nahm ich mir die Freiheit, Ihnen nachzugehen. Und da ich drunten sagte, Sie erwarteten mich, so ließ man mich herauf.«

»Haben Sie mir etwas auszurichten, weil Sie angaben, daß Sie von mir erwartet würden?« fragte Martin.

»Nein, Sir, das gerade nicht, ich sagte es nur so. Es war ein frommer Betrug, weiter nichts.«

Martin warf Mark einen ärgerlichen Blick zu. Es lag jedoch eine solche Heiterkeit in dem ganzen Auftreten des jungen Mannes, die nicht die Spur von Aufdringlichkeit oder Familiarität an sich hatte, daß es ihn vollkommen entwaffnete. Außerdem hatte er viele Wochen lang ein sehr einsames Leben geführt, und die bekannte Stimme klang angenehm in seinem Ohr.

»Tapley«, sagte er, »ich will offen gegen Sie sein. Nach alledem, was ich sehe und von Pinch über Sie gehört habe, sind Sie offenbar kein Mensch, den bloße unverschämte Neugierde oder ein ähnlicher Beweggrund hierherführt. Setzen Sie sich, es freut mich, Sie zu sehen.«

»Danke, Sir«, versetzte Mark, »ich möchte aber doch lieber stehen.«

»Wenn Sie nicht Platz nehmen wollen, so spreche ich überhaupt nicht mit Ihnen«, entgegnete Martin.

»Also gut, Sir, Ihr Wunsch ist mir Befehl. Also hier bin ich.«

Mit diesen Worten setzte sich Mark auf die Bettstelle.

»Greifen Sie zu«, lud ihn Martin ein und reichte ihm sein einziges Messer hin.

»Danke, Sir«, lehnte Mr. Tapley ab, »bis Sie fertig sind.«

»Wenn Sie jetzt nicht wollen, so kriegen Sie gar nichts.«

»Also gut, Sir«, versetzte Mark, »wenn Sie’s denn durchaus haben wollen.«

Damit langte er herzhaft zu und ließ sich’s gut schmecken. Nachdem Martin während eines kurzen Schweigens das gleiche getan, fragte er plötzlich:

»Was treiben Sie in London?«

»Nichts, Sir.«

»Wieso nichts?«

»Ich bin stellenlos.« »Das tut mir Ihretwegen leid«, sagte Martin.

»Ich möchte gern eine Dienerstelle bei einem ledigen Herrn annehmen«, nahm Mark seine Rede wieder auf. »Geht er ins Ausland, um so besser, denn ich möchte mir gern die Welt ein bißchen ansehen. Auf Lohn lege ich kein besonderes Gewicht.«

Er sagte dies in so bedeutungsvollem Tone, daß Martin im Essen innehielt und sagte:

»Wenn Sie mich meinen –«

»Ja, Sie meine ich, Sir.«

»– so können Sie schon aus der Art und Weise, wie ich hier lebe, schließen, daß ich nicht die Mittel besitze, mir einen Bedienten zu halten. Außerdem reise ich demnächst nach Amerika.«

»Ei, Sir«, erwiderte Mark, ohne sich dadurch abschrecken zu lassen, »nach allem, was ich hörte, möchte ich wohl glauben, daß Amerika ganz der Ort danach wäre, wo ein Mensch wie ich fidel sein kann.«

Abermals blickte ihn Martin ärgerlich an, aber wieder machte sein Verdruß unwillkürlich einem Lächeln Platz.

»Gott behüte, Sir«, rief Mark, »was hilft’s da, Verstecken zu spielen und um die Sache herumzugehen wie die Katze um den heißen Brei, wenn man mit ein paar Worten ins reine kommen kann. Ich habe Sie seit vierzehn Tagen nicht aus dem Gesicht verloren und wohl gemerkt, daß in Ihren Angelegenheiten irgendeine Schraube los sein muß. Auch dachte ich mir schon, als ich Sie das erstemal im Drachen drunten sah, daß es früher oder später so kommen müsse. Nun, Sir, hier bin ich, und zwar ohne Stelle. Fürs nächste Jahr brauche ich auch keinen Lohn, denn ich habe mir im Drachen etwas erspart – ich wollte es zwar nicht, aber es ging eben nicht anders –, und wenn’s wo ein bißchen drunter und drüber geht, so freut mich das nur um so mehr. Sie gefallen mir, und ich möchte gern meinen Mann stellen unter Umständen, wo andere Leute niedergeschlagen sein würden. Wollen Sie mich also nehmen oder fortschicken?«

»Aber wie kann ich Sie denn nehmen?«

»Wenn ich sage ›nehmen‹«, versetzte Mark, »so verstehe ich darunter, mich gehen zu lassen, und unter ›gehen lassen‹ verstehe ich, Sie sollen mich mit Ihnen gehen lassen – denn gehen will ich, wohin es auch sei. Da Sie gerade von Amerika sprechen, so sehe ich mit einemmal klar, daß dies ganz der Ort ist, wo man wirklich fidel sein kann, und wenn ich meine Fahrt in dem Schiff, in dem Sie fahren, nicht zahlen darf, Sir, so zahle ich sie eben in einem andern. Denken Sie an meine Worte: wenn ich allein fahre, so wird es meinem Grundsatze getreu in dem morschesten, gebrechlichsten und elendesten Kasten geschehen, in dem man für Geld oder gute Worte einen Platz kriegen kann. Wenn ich dann auf meiner Reise zugrunde gehe, so haben Sie mich auf dem Gewissen; und verlassen Sie sich darauf, ich werde dann als Gespenst Nacht für Nacht mit Doppelschlägen an Ihre Türe klopfen.«

»Das ist doch Narrheit«, sagte Martin unwirsch.

»Also gut, Sir«, entgegnete Mark. »Freut mich, das zu hören, und wenn Sie mich nicht mitgehen lassen, so wird es vielleicht um so tröstlicher für Sie sein, daß Sie diese Meinung von der Sache gehabt haben. Ich widerspreche nicht gern einem Gentleman, aber das eine sag ich Ihnen, wenn ich dann nicht in der miserabelsten Nußschale, wie nur je eine aus dem Hafen schwamm, nach Amerika auswandere, so will ich – –«

»Das kann Ihnen aber doch unmöglich ernst sein«, versetzte Martin. – »Mein vollkommener Ernst«, versicherte Mark.

»Nein, nein, ich kenne Sie besser«, lachte Martin.

»Also gut, Sir«, sagte Mark wieder mit sehr entschiedener Miene. »Lassen wir’s, wie’s ist, und geben Sie acht, wie’s ausfallen wird. Meiner Seel, das einzige Bedenken, das ich dabei habe, besteht darin, ob’s nicht am Ende selbstsüchtig von mir ist, mich Ihnen aufzudrängen; denn einem Gentleman wie Ihnen muß es natürlich drüben so leichtfallen, seinen Weg zu machen, wie einem Bohrer, wenn er auf Tannenholz stößt.«

Damit berührte er Martins schwache Seite, der denn auch sofort nachgab und sich des Gefühls nicht erwehren konnte, was dieser Mark doch für ein munterer Bursche sei und wie wohl ihm in dieser schwermütigen Atmosphäre seine Fröhlichkeit bereits getan habe.

»Nun allerdings, Mark«, gab er zu, »ich würde die Reise nicht unternehmen, wenn ich nicht die Hoffnung hätte, daß es mir drüben gutgehen wird. Ich habe vielleicht Eigenschaften, die mir bei meinem Fortkommen gut zustatten kommen werden.«

»Natürlich haben Sie die«, entgegnete Mr. Tapley. »jeder Mensch weiß das.«

»Sie sehen«, fuhr Martin fort, stützte sein Kinn auf die Hand und blickte in die Kohlenglut, »gute Baumeister für Wohnungen müssen in jedem Lande sehr gesucht sein. Gar erst in Amerika, wo die Leute ohne Unterlaß ihren Aufenthalt ändern und sozusagen nomadisieren. Es ist klar, daß sie dann doch Häuser haben müssen, um darin zu wohnen.«

»Das glaube ich auch, Sir«, bemerkte Mark, »und gerade, wo die Sachen so stehen, muß sich einem Baumeister die allergünstigste Gelegenheit bieten, von der ich nur je habe reden hören.«

Martin blickte ihn forschend an und konnte sich des Argwohns nicht erwehren, daß diese Bemerkung einen Zweifel an dem glücklichen Erfolge seiner Pläne verbergen solle. Indessen beruhigte er sich wieder, als er sah, daß Mr. Tapley mit dem gutmütigsten Gesicht von der Welt an dem Fleisch und Brot fortarbeitete. Bald stieg ihm jedoch noch ein Bedenken auf. Er zog das Kuvert hervor, in dem die Geldnote eingeschlossen gewesen, hielt es Mark hin und faßte ihn dabei fest ins Auge.

»Sagen Sie mir die Wahrheit! Wissen Sie etwas davon?«

Mark drehte den Brief um und um, betrachtete ihn von allen Seiten, hielt die Aufschrift bald gerade, bald verkehrt und schüttelte schließlich mit einem so unbefangenen Ausdruck des Erstaunens über diese Frage den Kopf, daß Martin das Kuvert wieder zurücknahm und sagte:

»Gut, ich sehe schon, Sie wissen nichts davon. Übrigens, wie sollten Sie auch? Immerhin merkwürdig, wieso der Brief an mich kam. – – Nun gut, Tapley«, fügte er nach einem kurzen Besinnen hinzu, »ich will Ihnen meine Geschichte erzählen, und dann werden Sie klarer sehen, an was für ein Geschick Sie sich ketten, wenn Sie mit mir reisen.«

»Ich bitte einen Augenblick um Verzeihung, Sir«, unterbrach ihn Mark, »aber ehe Sie weiter sprechen, möchte ich Sie fragen: nehmen Sie mich also mit, oder wollen Sie mich abweisen – mich, den Mark Tapley, vormals im Blauen Drachen, der sich auf das gute Zeugnis Mr. Pinchs berufen kann und einen Gentleman von Ihren hohen Fähigkeiten sucht, um von ihm lernen zu können? Oder soll ich Ihnen in achtungsvoller Entfernung folgen, während Sie, was gar nicht fehlen kann, die höchste Stufe der Glücksleiter erklimmen? – – Nun, Sir«, setzte er hinzu, »für Sie kann’s von sehr geringer Bedeutung sein – und da liegt der Haken –, aber für mich ist’s von großer Wichtigkeit. Wollen Sie so gut sein und dies ins Auge fassen?«

Diese zweite Attacke auf Martins schwachen Punkt ließ erkennen, daß Mr. Tapley ein sehr gewandter und schlauer Beobachter war. Mochte jedoch der Schuß absichtlich oder zufällig sein, jedenfalls traf er ins Schwarze, denn Martin ließ sich immer mehr und mehr erweichen und sagte schließlich mit einer Herablassung, die ihm nach den vielen Wochen Demütigung unendlich wohl tat:

»Nun, wir wollen’s überlegen, Tapley. Sie können mir ja morgen sagen, ob Sie noch derselben Ansicht sind.«

»Dann, Sir«, versetzte Mark und rieb sich die Hände, »ist die Sache so gut wie abgemacht. Bitte, fahren Sie jetzt fort, Sir, wenn’s gefällig ist. Ich bin ganz Ohr.«

Martin sah ins Feuer und warf hin und wieder einen Blick auf Mark, der bei solchen Gelegenheiten stets mit dem Kopfe nickte, um sein großes Interesse und seine gespannteste Aufmerksamkeit zu bekunden. Dabei erzählte er die Hauptpunkte seiner Geschichte in ähnlicher Weise, wie er sie vor einiger Zeit Mr. Pinch mitgeteilt hatte. Allerdings paßte er sie, wie es ihm in diesem Falle richtiger vorkam, Mr. Tapleys Begriffsvermögen an und berührte deshalb seine Liebesangelegenheit nur ganz kurz und mit wenigen Worten. Doch machte er in diesem Falle die Rechnung ohne den Wirt, denn Mark interessierte sich ganz besonders und aufs lebhafteste für diesen Teil der Geschichte und stellte allerhand darauf bezügliche Fragen, wobei er sich damit entschuldigte, er glaube sich um so mehr berechtigt dazu, als er die junge Dame im Blauen Drachen gesehen habe.

»Eine junge Dame, in die verliebt zu sein sich jeder Gentleman zur Ehre anrechnen müßte«, bemerkte Mark mit Nachdruck. »Gewiß und wahrhaftig.« »Leider haben Sie sie gesehen, als sie sich nicht sehr glücklich fühlte«, entgegnete Martin, wieder wie vorher in die Kohlenglut blickend. »Ja, wenn Sie sie in ihren frühern Zeiten gesehen hätten!«

»Allerdings war sie ein bißchen niedergeschlagen, Sir, und etwas blasser im Gesicht, als man gerade hätte wünschen können«, gab Mark zu, »aber nichtsdestoweniger sah sie doch recht gut aus. – In London hat sie übrigens schon wieder besser ausgesehen.«

Martin wandte seinen Blick vom Feuer ab und starrte Mark an, als fürchte er, einen Wahnsinnigen vor sich zu haben. Dann fragte er ihn, was er damit sagen wolle.

»Nichts für ungut«, entschuldigte sich Mark, »ich habe nur gemeint, daß sie vielleicht glücklicher sei, trotzdem Sie ihr jetzt fehlten. Aber es kam mir wirklich so vor, als ob sie besser aussähe, Sir.«

»Wie? Wollen Sie damit sagen, sie sei in London gewesen?« fragte Martin, stand auf und stieß seinen Stuhl zurück.

»Natürlich«, sagte Mark und erhob sich gleichfalls voll Staunen von der Bettstelle.

»Und habe ich das so zu verstehen, als ob sie noch jetzt in London wäre?«

»Höchstwahrscheinlich, Sir, ist sie hier. Wenigstens war sie’s noch vor einer Woche.«

»Und wissen Sie, wo sie wohnt?«

»Sie vielleicht nicht?«

»Ach, mein lieber Freund!« rief Martin und faßte Mark bei beiden Armen. »Seit ich das Haus meines Großvaters verließ, habe ich sie doch nicht wiedergesehen!«

»Na, da höre einer!« rief Mark, schlug mit der geballten Faust dermaßen auf den kleinen Tisch, daß die Fleischschnitten darauf tanzten, und sein ganzes Gesicht bis hinauf zur Stirne leuchtete vor Entzücken. »Jetzt sagen Sie selbst, bin ich nicht Ihr natürlicher, geborener, vom Schicksal ausdrücklich für Sie bestimmter Diener? Und wenn’s nicht so ist, so gibt’s kein solches Ding mehr in der ganzen Welt wie den Blauen Drachen. Zum Kuckuck noch einmal! Als ich da neulich zufällig auf einem alten Kirchhof in der City auf und ab spazierte, um mich in eine fröhliche Stimmung zu versetzen, da sah ich Ihren Großvater wohl eine geschlagene Stunde lang hin und her wackeln. Ich bin ihm dann in Todgers‘ Logierhaus für Handelsbeflissene nachgegangen und habe gesehen, wie er wieder herauskam und sich in sein Hotel begab. Und dann suchte ich ihn auf und sagte ihm, ich möchte in seine Dienste treten; ich sei ihm auf eigene Kosten nachgereist, denn ich hätte schon damals im Sinne gehabt, mich ihm anzubieten, ehe ich den Drachen verließ. Und wer saß bei ihm in der Stube? Nun, die junge Dame. Sie lachte übers ganze Gesicht, und das war wirklich reizend anzusehen. Ihr Großvater sagte: ›Kommen Sie nächste Woche wieder‹, und als ich das tat, sagte er, er könne von seinem Grundsatz, niemandem mehr zu trauen, nicht abgehen. Deshalb wolle er mich nicht anstellen. Aber zu gleicher Zeit stand etwas zu trinken da, und das schmeckte wirklich prächtig. Nun«, rief Mr. Tapley mit einem drolligen Gemisch von Vergnügen und Ärger, »was hat man für Ehre davon, unter solchen Umständen fidel zu sein? Kann man da überhaupt anders, wenn die Sachen so stehen?«

Martin stand eine Weile da und blickte Mr. Tapley an, als ob er seinen Ohren nicht traue und nicht glauben könne, daß der Mann wahrhaftig vor ihm stehe. Endlich fragte er ihn, ob er meine, der jungen Dame insgeheim einen Brief zustellen zu können, wenn sie sich noch in London aufhalte.

»Ob ich meine?!« rief Mark. »Freilich meine ich! – Setzen Sie sich jetzt nieder, Sir, und schreiben Sie, Sir.«

Damit räumte er den Tisch mit ein paar energischen Griffen auf, das heißt, er streifte alles, was darauf lag, in den Ofen, holte das Schreibzeug vom Kaminsims herunter, setzte für Martin einen Stuhl hin, drückte ihn hinein, tauchte die Feder ins Tintenfaß und gab sie ihm in die Hand.

»Also frisch drauflos, Sir!« rief er. »Machen Sie’s ordentlich, Sir. – Ob ich glaube, ihr einen Brief zustellen zu können?! Natürlich glaube ich das. Aber jetzt ans Geschäft, Sir!«

Martin ließ sich nicht lange zureden, sondern ging mit großer Behendigkeit ans Werk, während sich Mr. Tapley ohne weitere Umstände die Funktionen eines Kammerdieners und Faktotums anmaßte, d. h. seinen Rock auszog, den Kamin abräumte, das Zimmer ordnete und dabei stets mit halblauter Stimme vor sich hin murmelte.

»Eine nette Art von Logis«, brummte er, rieb sich die Nase mit der Handhabe der Kohlenschaufel und sah sich in der ärmlichen Stube um, »das nenne ich mir Komfort. Sogar der Regen kommt durchs Dach herunter. Auch nicht übel. Und die belebte olle Bettstätte hier mit ner Armee von braunen Vampiren darin; – na, da kann man wenigstens fidel sein! Und diese zerlumpte Nachtmütze! – – – Heda! Jane!« rief er die Treppe hinunter. »Bringen Sie doch mal ’n Glas Heißes für meinen Herrn herauf, wie ich Sie vorhin habe eins mischen sehen! – So ist’s recht, Sir«, fügte er zu Martin gewendet hinzu, »tun Sie nur, als ob’s Ihnen höllisch schlimm zumute sei, und lassen Sie’s auch an Zärtlichkeit nicht fehlen. – Sie können nicht zu dick auftragen!«

14. Kapitel


14. Kapitel

Martin sagt seiner Geliebten Lebewohl und erweist dem unbedeutenden Individuum, dessen Glück er zu machen gedenkt, die Ehre, sie seinem Schutz zu empfehlen

Als der Brief, wie es sich gehört, unterzeichnet und versiegelt war, wurde er Mark Tapley zu möglichst schleuniger Beförderung ausgehändigt. Auch die Zustellung ging glücklich vonstatten, und Mark konnte noch am selben Abend unmittelbar vor Torschluß mit der angenehmen Nachricht zurückkehren, er habe das Schreiben der jungen Dame hinauf geschickt und einen kleinen eigenhändig geschriebenen Zettel beigelegt, damit es den Anschein habe, als handle es sich nur um einen Versuch von ihm, in Mr. Chuzzlewits Dienste einzutreten. Sie sei dann selber heruntergekommen und habe in großer Hast und Aufregung gesagt, sie wolle seinen Herrn im St.-James-Park treffen.

Martin und sein neuer Diener kamen daraufhin sofort überein, Mark solle zur festgesetzten Stunde in der Nähe des Hotels auf die junge Dame warten und sie nach dem Orte des Rendezvous begleiten. Nach dieser Vereinbarung trennten sie sich für die Nacht, aber Martin nahm, bevor er zu Bett ging, wieder die Feder zur Hand und schrieb einen zweiten Brief, dessen Inhalt wir bald kennenlernen werden.

Noch vor Tagesgrauen stand er auf und begab sich gegen Morgen in den Park, der das alleruneinladendste Kleid seiner gesamten dreihundertfünfundsechzig Jahrestage angelegt zu haben schien, denn es war ein selten rauhes, feuchtes und dunkles Wetter, die Wolken sahen so schmutzig aus wie der Boden, und die dunstige Perspektive jeder Allee oder Straße verschwand im Nebel wie hinter einem grauen Vorhang.

»Wahrhaftig ein prächtiges Wetter«, schimpfte Martin ärgerlich vor sich hin, »um wie ein Dieb hier auf und ab zu laufen. Schönes Wetter für eine Zusammenkunft zweier Liebender im Freien und auf einem öffentlichen Spazierweg. Es ist höchste Zeit, daß ich mich in ein anderes Land begebe, ehe es noch weiter mit mir bergab geht.«

Wäre er ein wenig konsequenter in seinen Betrachtungen gewesen, so hätte er einsehen müssen, daß ein solcher Tag für eine Dame doch nur noch ungeeigneter zu einem Rendezvous sei als für einen Herrn, aber seine Gedanken nahmen bald eine andere Richtung, da er seiner Geliebten in kurzer Entfernung ansichtig wurde und sich daher beeilte, ihr entgegenzugehen.

Ihr Begleiter, Mr. Tapley, hielt sich taktvoll im Hintergrunde und betrachtete den Nebel anscheinend mit gespanntestem Interesse.

»Mein geliebter Martin«, rief Mary.

»Meine liebe Mary«, sagte Martin. Liebende sind ein so sonderbarer Schlag Menschenkinder, daß diese paar Worte alles waren, was die beiden einander vorläufig zu sagen hatten, obgleich Martin Marys Arm und auch ihre Hand nahm und sie dann auf dem verborgensten Wege ungefähr ein halbes Dutzendmal auf und ab gingen.

»Wenn du dich seit unserer Trennung überhaupt geändert hast«, fing Martin endlich an und betrachtete Mary mit stolzem Entzücken, »so kann ich dir nur sagen, daß du noch viel schöner geworden bist.« Wäre Mary aus dem gewöhnlichen Holze liebeskranker junger Damen geschnitzt gewesen, so hätte sie diese Behauptung unbedingt in Abrede gestellt und erwidert, sie sei eine wahre Vogelscheuche geworden und Kummer und Tränen hätten sie ganz entstellt; langsam welke sie dem frühen Grabe entgegen, die Leiden ihrer Seele seien unaussprechlich – kurz, sie würde mit Worten oder Tränen, vielleicht auch mit einer Mischung von beidem etwas derartiges gesagt und ihn so elend wie möglich gemacht haben. So aber war sie in einer ernsteren Lebensschule aufgewachsen, als die ist, der die meisten jungen Mädchen ihre Sinnesart verdanken, und ihr ganzes Wesen war gekräftigt durch rauhen Zwang und Not. In allen Stunden der Prüfung hatte sie sich selbstlos und aufopfernd gezeigt und trotz ihrer Jugend etwas von jenen höhern Eigenschaften edler Herzen gewonnen, die sich so oft in den Leiden und Kämpfen der spätem Jahre entwickeln. Unverdorben und unverwöhnt in ihren Freuden und mit offener und inniger Zuneigung dem Gegenstande ihrer ersten Liebe zugetan, sah sie in Martin nur den Mann, der um ihretwillen aus einer glücklichen Heimat vertrieben worden, und es fiel ihr ebensowenig ein, diese ihre Liebe zu ihm in andern als freudig und erhebenden Worten voll froher Hoffnung und dankbaren Vertrauens kundzugeben, als daß sie daran gedacht hätte, sich in Phrasen irgendwelcher Art zu ergehen.

»Aber was ist denn mit dir vorgegangen, Martin?« fragte sie. »Das geht mich am allernächsten an. Du siehst ernster und kummervoller aus, als du sonst zu sein pflegtest?«

»Was das betrifft, meine Liebe«, sagte Martin und legte den Arm um Marys Taille, nachdem er sich zuvor umgesehen, ob kein Beobachter in der Nähe sei, und nur Mr. Tapley erblickt hatte, den der Nebel womöglich noch mehr als vorher zu interessieren schien. »Es würde mich auch wundern, wenn es sich anders verhielte, denn mein Leben ist – namentlich in der letzten Zeit – sehr hart gewesen.«

»Das glaube ich gern«, seufzte Mary. »Aber wann habe ich je vergessen, an dich und deine Leiden zu denken?«

»Hoffentlich nicht oft«, sagte Martin. »Und ich bin auch überzeugt, daß es nicht oft geschah, und habe auch ein gewisses Recht, es zu erwarten. Denn wahrhaftig, viel Verdruß und Entbehrung haben mich heimgesucht.«

»Und wie wenig kann ich dir dein Opfer vergelten«, rief Mary traurigem Lächeln. »Du hast einen hohen Preis für ein armseliges Herz bezahlt; aber es ist wenigstens dein und hängt mit Treue an dir.«

»Ich bin überzeugt davon«, sagte Martin, »sonst würde ich mich nicht in meine gegenwärtige Lage begeben haben. Aber sprich nicht von einem armseligen Herzen: Es ist ein reiches Herz. – – Aber jetzt will ich dir einen Plan mitteilen, Geliebte, über den du anfänglich erschrecken wirst, aber ich will ihn um deinetwillen zur Ausführung bringen. – – Ich gehe« – fügte er langsam hinzu und blickte tief in ihre erstaunten, leuchtenden dunkeln Augen – – »ich gehe ins Ausland.«

»Ins Ausland, Martin?«

»Nur nach Amerika. Erschüttert dich das so, daß du so zusammenzuckst?«

»Wenn es mich einen Augenblick erschüttert hat«, erwiderte Mary nach einer Pause, erhob ihr Haupt und sah ihm voll ins Gesicht, »war’s der kummervolle Gedanke, was du um meinetwillen alles zu ertragen dich entschließest. Ich getraue mich nicht, dir abzuraten, Martin – – aber Amerika ist so weit weg. Und die lange gefährliche Reise! Not und Krankheit ist überall schrecklich, aber in einem fremden Lande nur um so schrecklicher. Hast du dies alles überlegt?«

»Überlegt!« rief Martin ungestüm, fast heftig, trotzdem er Mary aufs zärtlichste liebte. »Warum fragst du mich nicht lieber, ob ich daran gedacht habe, in der Heimat Hungers zu sterben, oder ob mir nicht der Gedanke gekommen sei, mein Lebtag als Lastträger zu arbeiten oder auf den Straßen die Pferde zu halten, um Tag für Tag mein Stückchen Brot zu verdienen. – Aber beruhige dich«, setzte er in milderem Tone hinzu. »Du darfst das Köpfchen nicht hängen lassen, denn ich brauche Ermutigung, und die allein kann mir dein süßes Antlitz geben. Ja, so ist’s recht, jetzt bist du wieder lieb.«

»Ich will mir Mühe geben«, antwortete Mary durch Tränen lächelnd. »Wollen und Handeln ist bei dir immer dasselbe, ich weiß das doch von alters her«, rief Martin heiter. »So ist’s recht; jetzt kann ich dir alle meine Pläne mit so frohem Herzen mitteilen, als ob du bereits mein kleines Frauchen wärst, Mary.«

Sie schmiegte sich inniger an ihn, blickte ihm ins Gesicht und bat ihn fortzufahren.

»Du siehst«, sagte Martin und spielte mit der kleinen Hand, die auf seinem Arme ruhte, »daß alle meine Versuche, hier in meinem Vaterland in die Höhe zu kommen, vereitelt wurden und, sozusagen, in der Wiege starben. Ich will nicht sagen, wer daran schuld ist, denn das würde uns beiden Schmerz bereiten – genug, daß es so ist. – – Hast du übrigens nicht in der letzten Zeit von einem Verwandten von mir namens Pecksniff reden hören? Beantworte mir nur, was ich frage, bitte, und weiter nichts.«

»Ich habe zu meinem Erstaunen deinen Großvater sagen hören, Pecksniff sei ein besserer Mensch, als er geglaubt habe.«

»Dachte ich’s doch«, fiel ihr Martin ins Wort.

»Auch würden wir ihn, hieß es, wahrscheinlich näher kennenlernen, wenn wir ihn nicht sogar besuchen und bei ihm und, ich glaube, seinen Töchtern wohnen sollen. – – Er hat doch Töchter, nicht wahr?«

»Ja, ja, zwei«, antwortete Martin. »Ein famoses Pärchen; Edelsteine vom reinsten Wasser.«

»Du scherzt wohl?«

»Ja, ja, in gewissem Sinne, aber es ist mir sehr ernst. Es ist auch gleichzeitig sehr ärgerlich«, sagte Martin. »Ich kenne diesen Pecksniff, denn ich habe eine Zeitlang als Schüler bei ihm gewohnt und Kränkung und Unbill genug von ihm erfahren müssen. Was ich übrigens auch im Scherz gesagt haben mag, wenn du mit der Zeit in Verkehr mit seiner Familie treten solltest, so vergiß nie – auch nicht einen Augenblick, wenn der Schein auch noch so gegen mich sprechen sollte –, daß dieser Pecksniff ein Schurke durch und durch ist.«

»Wirklich?«

»In Gedanken, Worten und Taten – kurz, in allem ein Schurke vom Scheitel bis zur Sohle. Von seinen Töchtern kann ich nur soviel sagen, daß sie gehorsame junge Mädchen und ihres Vaters würdig sind. Es ist zwar eine Abschweifung vom Hauptthema, es führt mich aber doch auf das, was ich sagen wollte.« Dann hielt er inne, um Mary wieder in die Augen zu blicken, warf hastig einen Blick zurück, und da er bemerkte, daß niemand in der Nähe war und auch Mark sich noch immer gewaltig für den Nebel interessierte, so sah er jetzt nicht nur auf ihre Lippen, sondern küßte sie auch.

»Ich reise also in Bälde nach Amerika und habe die feste Aussicht, dort mein Glück zu machen und dann sofort wieder zurückzukehren. Ich hole dich vielleicht erst in ein paar Jahren ab, aber dann mache ich rücksichtslos meine Ansprüche auf dich geltend. Nach solchen langen Prüfungen darf ich es tun, ohne fürchten zu müssen, du hieltest es immer noch für deine Pflicht, dich an den anzuklammern, der mich – denn er ist es und niemand sonst – im Vaterland nicht in die Höhe kommen lassen will und es mit allen Mitteln zu verhindern sucht. Wie lange ich abwesend sein werde, ist natürlich noch ungewiß, aber jedenfalls kannst du dich darauf verlassen, daß es nicht allzulange dauern wird.«

»Und inzwischen – –?«

»Das ist es ja eben, auf das ich jetzt kommen will. Inzwischen sollst du immer ausführlich erfahren, wie es mir geht.«

Er hielt inne, nahm den Brief, den er abends zuvor geschrieben, aus der Tasche und fuhr fort:

»Im Dienste und im Hause dieses Kerls – – unter ›Kerl‹ verstehe ich natürlich Mr. Pecksniff – lebt ein gewisser Pinch; merke wohl auf: Er ist ein armer wunderlicher einfacher Mensch, aber durchaus ehrlich, aufrichtig, voll Diensteifer und mir herzlich zugetan – was ich ihm auch in Zukunft dadurch vergelten will, daß ich ihm irgendwie im Leben forthelfe.«

»Daraus erkenne ich wieder deine alte Hochherzigkeit, Martin.«

»Ach Gott«, versetzte Martin, »es ist nicht der Rede wert. Er ist sehr dankbar und wünscht mir zu dienen, und damit ist die Sache abgetan. – – Ich habe also diesem Pinch eines Abends meine ganze Geschichte kurz, alles von mir und dir – erzählt. Ich kann dir versichern, daß er sich nicht wenig dafür interessierte. Er kennt dich nämlich. Ja, ja, du brauchst nicht überrascht zu sein – du hast ihn nämlich einmal in der Kirche jenes Dorfes dort unten die Orgel spielen gehört, und er hat gesehen, wie du zugehört hast. Daher auch seine Begeisterung für dich.«

»Was! Er war der Orgelspieler!« rief Mary. »Da muß ich ihm ja von Herzen dankbar sein.«

»Ja, er war es. Und er treibt das Geschäft noch immer, obschon es ihm nichts einträgt. Es hat, ich versichere dir, noch nie einen so einfachen, schlichten Burschen gegeben; er ist fast ein Kind an Gutmütigkeit, sei versichert.«

»Ich bin überzeugt davon«, erwiderte Mary mit Wärme. »Er muß es sein.«

»Ja, daran ist kein Zweifel«, versetzte Martin in seiner gewöhnlichen leichtfertigen Weise, »er ist es. – Also, da ist mir eingefallen – aber halt! Wenn ich dir den Brief vorlese, den ich ihm heute abend per Post zusenden will, so wirst du alles daraus am besten ersehen. Also: ›Mein lieber Tom Pinch!‹ – das klingt vielleicht etwas kollegial«, setzte er schnell hinzu, da er sich plötzlich erinnerte, sich bei der letzten Begegnung Tom gegenüber ziemlich stolz benommen zu haben, »aber ich nenne ihn meinen lieben Tom Pinch, weil er es gern hat.«

»Das ist lieb von dir«, sagte Mary.

»Na ja, es schadet ja weiter nichts, freundlich zu sein, wo man kann. Wie ich bereits sagte, ist er wirklich ein vortrefflicher Mensch. Also. ›Mein lieber Tom Pinch – Sie erhalten gegenwärtiges Schreiben als Beilage zu einem Brief an Mrs. Lupin im Blauen Drachen, die ich in ein paar Zeilen gebeten habe, Ihnen mein Schreiben einzuhändigen, ohne gegen irgend jemanden davon Erwähnung zu tun. So wird sie es auch mit allen zukünftigen Briefen, die sie von mir empfangen dürfte, halten. Der Grund, weshalb ich so handle, wird Ihnen leicht begreiflich sein‹ – zwar weiß ich nicht, ob er’s wirklich begreifen wird –« setzte Martin, von dem Schreiben aufblickend, hinzu – »denn der arme Bursche ist von etwas langsamer Fassungskraft, aber mit der Zeit wird er’s schon herausfinden. – ›Mein Grund besteht einzig und allein darin, daß ich nicht wünsche, meine Briefe von andern Leuten gelesen zu wissen; namentlich nicht von jenem Schurken, den Sie für einen Engel halten.‹«

»Damit ist Mr. Pecksniff gemeint?« fragte Mary. »Jawohl«, antwortete Martin. – »›Sie werden das einsehen, lieber Mr. Pinch. Ich habe mittlerweile Anstalten getroffen, nach Amerika zu reisen, und Sie werden sich wahrscheinlich wundern, wenn Sie hören, daß Mark Tapley mich begleiten will. Seltsamerweise bin ich in London mit ihm zusammengetroffen, und er besteht drauf, sich unter meinen Schutz zu stellen‹ – Mark Tapley ist natürlich«, schaltete er ein, »unser Freund dort im Hintergrund.«

Mary freute sich sehr über diese Mitteilung und warf Mark einen freundlichen Blick zu, den dieser, für einen Moment sein Nebelstudium unterbrechend, voll Entzücken quittierte. Sie sagte auch so laut, daß er es hören mußte, er sei eine brave Seele und ein lustiger Bursche und werde, davon sei sie überzeugt, treu zu seinem Herrn halten – Lobsprüche, die Mr. Tapley auch wirklich verdienen zu wollen sich innerlich fest gelobte, und wenn er dafür in den Tod gehen müßte.

»›Und jetzt, mein lieber Pinch‹«, las Martin in seinem Brief weiter, »›will ich mein ganzes Vertrauen auf Sie setzen, da ich weiß, daß ich mich auf Ihre Ehre und Verschwiegenheit verlassen kann und überdies momentan auch niemanden habe, auf den ich bauen könnte.‹«

»Möchtest du nicht lieber diese Stelle weglassen, Martin?« fragte Mary schüchtern.

»Meinst du? Gut, dann will ich sie wegstreichen. – Aber es ist doch die buchstäbliche Wahrheit!«

»Es klingt aber doch vielleicht ein wenig unfreundlich.«

»Ach Gott, mir liegt schließlich nicht viel an Pinch«, sagte Martin. »Ich wüßte auch nicht, warum ich mit ihm gar so zeremoniell verfahren sollte. Da du es übrigens wünschest, so kann ich’s ja auslassen und die Stelle wegstreichen. – – Also weiter – ›ich werde nicht nur meine Briefe an die junge Dame, von der ich Ihnen erzählt habe, an Sie senden, damit Sie sie ihr zustellen können, sondern ich empfehle auch die Dame selbst Ihrem Schutze, im Falle Sie in meiner Abwesenheit mit ihr zusammentreffen sollten. Ich habe Grund anzunehmen, daß ihr einander bald und oft sehen werdet, und wenn Sie in Ihrer Lage auch nur wenig tun können, um die ihrige zu erleichtern, so baue ich doch nichtsdestoweniger auf Sie und setze voraus, daß Sie alles aufbieten werden, um das Vertrauen zu rechtfertigen, das ich in Sie gesetzt habe.‹« – – –

»Du siehst, meine liebe Mary«, schloß Martin, »du wirst da jemanden haben – gleichgültig, wie schlicht und einfach er auch sein mag –, mit dem du von mir sprechen kannst; und schon beim ersten Gespräch mit ihm wirst du fühlen, daß du ebensowenig verlegen ihm gegenüber zu sein brauchst, als wenn er ein altes Weib wäre.«

»Nun, wie man das auch auffassen mag«, meinte Mary lächelnd, »jedenfalls ist er dein Freund, und das genügt.«

»Ja, ja, er ist mein Freund«, sagte Martin, »gewiß. Ich habe ihm übrigens bereits mit nicht mißzuverstehenden Worten angedeutet, daß wir ihn immer im Auge behalten und unter unseren Schutz nehmen werden. Es ist ein guter Charakterzug von ihm, daß er dankbar, ja, sogar sehr dankbar ist, und ich weiß, mein Schatz, du wirst einen besonderen Gefallen an ihm finden. Allerdings hat er viel Komisches und Altfränkisches an sich, aber du kannst das ja gnädig übersehen. Und wenn du über ihn lachen mußt, macht es schließlich auch nichts; er freut sich sogar darüber.«

»Ich denke nicht, daß ich ihn auf diese Probe stellen werde, Martin.«

»Ich glaube es auch nicht. Ich meinte nur, wenn du das Lachen wirklich nicht mehr verbeißen könntest. Es wird dir immerhin ein bißchen schwer werden, deinen Ernst zu bewahren. – Kehren wir übrigens zu dem Briefe zurück. Er schließt also folgendermaßen: ›Ich weiß, daß ich nicht nötig habe, mich weiter über die Art und die Wichtigkeit dieses auf Sie gesetzten Vertrauens zu verbreiten, und ich will Ihnen daher jetzt Lebewohl sagen in der Hoffnung, bei unserem nächsten Wiedersehen, wenn es mir gut ergangen sein wird, für Ihr Glück und Fortkommen sorgen zu können, als ob es mein eigenes wäre. Darauf können Sie sich verlassen. Inzwischen verbleibe ich, lieber Tom Pinch, Ihr aufrichtiger Martin Chuzzlewit.

Nachschrift. – Ich schließe hier den Betrag bei, den Sie so freundlich waren, mir – – –‹« »Hm«, unterbrach sich Martin und faltete den Brief hastig zusammen, »das gehört nicht hierher.«

In diesem Augenblick trat Mark Tapley mit der Meldung heran, daß die Glocke auf der Horse-Guards-Kaserne soeben geschlagen habe.

»Ich würde mich nicht getrauen, die Sache zu erwähnen«, entschuldigte er sich, »wenn mich nicht das gnädige Fräulein ausdrücklich dazu aufgefordert hätte.«

»Ja«, sagte Mary, »so ist es, und ich danke Ihnen. Sie haben ganz recht. – Nur noch eine Minute; ich werde gleich bereit sein. – – Wir haben jetzt nur mehr für ein paar eilige Worte des Lebewohls Zeit, mein geliebter Martin, und obwohl mir noch gar viel auf dem Herzen läge, so muß ich es doch bis zu der glücklichen Zeit unserer nächsten Zusammenkunft ungesagt sein lassen. Gebe der Himmel, daß es bald sein wird und alles gut ausfällt. Doch davor ist mir nicht bange.«

»Bange!« rief Martin. »Warum auch? Was bedeuten ein paar Monate und was schließlich ein ganzes Jahr? Wenn ich glücklich wieder zurück bin und meinen Weg im Leben gemacht habe, dann mag der Rückblick auf diese Trennung vielleicht schmerzlich sein; aber jetzt?! Ich schwöre dir’s, ich möchte mir keine günstigeren Auspizien wünschen, selbst wenn ich könnte. Jetzt bin ich gezwungen, zu handeln; was ich sonst vielleicht nicht getan hätte.«

»Ja, ja, ich fühle auch, daß es gut so ist. – Also, wann gedenkst du abzureisen?«

»Wir brechen heute abend nach Liverpool auf. – Wie ich höre, geht alle drei Tage ein Schiff ab, und nach vier Wochen – oder vielleicht nicht einmal das – kommen wir drüben an. Was bedeutet übrigens auch ein Monat! Wie viele sind ihrer nicht schon verstrichen, seit wir uns zum letztenmal gesehen haben!«

»Ja, ja, es ist eine lange Zeit her«, entgegnete Mary, in seinen heiteren Ton einstimmend, »wenn es uns auch jetzt kaum wie Tage erscheint.«

»Kaum wie Tage«, bestätigte Martin. »Und dann werde ich andere Gegenden und andere Leute mit anderen Sitten und Gebräuchen sehen, andere Sorgen und andere Hoffnungen haben. Wie im Fluge wird mir die Zeit vergehen. Ich kann alles ertragen, nur Eintönigkeit nicht, Mary.«

»Ein Viertel!« mahnte Mr. Tapley.

»Gleich komme ich«, rief Mary. – »Nur noch eins, lieber Martin, laß mich dir sagen. Du hast mich vorhin gebeten, ich solle dir in betreff nur eines einzigen Punktes deine Frage beantworten, aber du mußt noch etwas wissen, sonst könnte ich nicht ruhig sein. Seit jener Trennung nämlich, an der ich unglücklicherweise die Schuld trage, hat dein Großvater auch nicht ein einziges Mal deinen Namen fallen lassen – weder in Liebe noch in Haß –, und nach wie vor ist er gleich freundlich zu mir.«

»Für letzteres bin ich ihm dankbar, für weiter aber auch nichts«, versetzte Martin. »Daß er meinen Namen je wieder erwähnt, erwarte ich weder, noch wünsche ich es. Vielleicht wird er meiner noch einmal mit Vorwürfen gedenken – in seinem Testamente vielleicht. Sei es darum, wenn es ihm Freude macht. Erhalte ich Kunde davon, wird er bereits längst in seinem Grabe liegen – eine Satire auf seinen eigenen Groll.«

»Ach, Martin«, rief Mary, »wenn du dich einmal in einer nachdenklichen Stunde, an einem einsamen Winterabend, oder wenn die Sommerlüfte wehen, oder bei einer einschmeichelnden Musik, bei Gedanken an Tod, Heimat oder Kindheit seiner oder irgendeines Menschen erinnerst, der dir je unrecht getan hat, so weiß ich, daß du ihm vergeben wirst.«

»Wenn ich das glauben sollte«, entgegnete Martin unmutig, »so müßte ich mir vornehmen, ihn zu solchen Zeiten ganz aus meinem Gedächtnis zu streichen, um mir die Schande einer derartigen Schwäche zu ersparen. Es liegt mir nicht, das Spielzeug oder die Puppe irgendeines Menschen, am wenigsten die seinige, zu sein. Habe ich nicht für das bißchen Annehmlichkeit, das ich bei ihm genossen, seiner Launenhaftigkeit beinahe meine ganze Jugend opfern müssen? Wir beiden sind jetzt quitt, oder zum mindesten überwiegen seine Verdienste die meinigen nicht so bedeutend, daß ich zum Ausgleich abgeschmackterweise auch noch vergeben und vergessen müßte. Ich weiß ganz gut, daß er dir verboten hat, meinen Namen zu erwähnen«, fügte er erregt hinzu, »sag, ist es nicht so?« »Das ist schon lange her«, entgegnete Mary, »und zwar gleich nach eurem Zwiste und bevor du noch sein Haus verlassen hattest. Seitdem hat er es nicht wieder getan.«

»Und zwar deswegen nicht, weil er keinen Anlaß dazu hatte«, sagte Martin; »doch das ist übrigens jetzt nicht weiter von Belang. Ich glaube, es wird jedenfalls das beste sein, Geliebte« – er drückte Mary hastig an sich, denn die Zeit des Abschieds war gekommen – »wir tun so, wenn wir einander schreiben, als ob er gestorben wäre. – Und jetzt behüt dich Gott! Es ist ein seltsamer Ort für ein solches Zusammentreffen und einen solchen Abschied, aber unser nächstes Wiedersehen soll an einem besseren und unser nächstes und letztes Scheiden an einem schlechteren stattfinden.«

»Noch eine Frage muß ich an dich richten, Martin«, rief Mary. »Bist du für deine Reise auch gehörig mit Geld versehen?«

»Ob ich damit versehen bin?« rief Martin, entweder aus Stolz oder wirklich in der Absicht, sie zu beruhigen, bemüht, ihr die Wahrheit zu verhehlen. »Ob ich mit Geld versehen bin? Nun, das wäre vielleicht eine Frage für die Frau eines Auswanderers. Wie könnte ich denn ohne Mittel zu Wasser oder zu Lande weiterkommen, Schatz?«

»Ich meine, ob du genug hast?«

»Genug? Mehr als genug. Die ganze Tasche voll. Mark und ich sind bei Licht betrachtet so reich, als ob wir Fortunats Säckel in unserem Gepäck hätten.«

»Es hat halb geschlagen«, mahnte Mr. Tapley.

»So leb wohl, Martin, viel tausendmal!« rief Mary mit bebender Stimme.

Ein »Lebewohl« ist ein bitterer Trost. Mark Tapley wußte das vollkommen; vielleicht war’s ihm vom Lesen her bekannt, vielleicht aus Erfahrung, vielleicht sagte es ihm sein eigenes Herz. Wie er zu diesem Wissen kam, kann man unmöglich erklären, aber instinktiv tat er das Klügste, was man in einem solchem Umstande tun konnte, er gab sich nämlich den Anschein, als sei er von einem heftigen Niesen befallen, und wandte das Gesicht ab, so daß die beiden Liebenden gewissermaßen unbeachtet und allein waren. Eine kurze Pause, dann eilte Mary hastig mit heruntergelassenem Schleier an Mark vorbei und winkte ihm, ihr zu folgen. Ehe sie um die Ecke bog, machte sie noch einmal halt, blickte zurück und winkte Martin mit der Hand. Er wollte zu ihr eilen und ihr noch ein paar Abschiedsworte sagen, aber sie wandte sich um und eilte schnellen Schrittes davon.

Als Mark in Martins Behausung zurückkehrte, fand er seinen Herrn verdrießlich vor dem verstaubten Kamin sitzen, beide Füße an die Gitterstange angestammt, die Ellenbogen auf den Knien und das Kinn auf die Handflächen aufgestützt.

»Nun, Mark?«

»Nun, Sir?« sagte Mark und atmete tief auf. »Das gnädige Fräulein ist jetzt wohlbehalten wieder zu Hause, und ich bin froh darüber. Sie läßt Ihnen noch alles mögliche Gute und Schöne ausrichten, Sir, und sendet Ihnen dies hier«, damit händigte er Martin einen Ring ein, »als Andenken.«

»Diamanten!« rief Martin, bedeckte den Ring mit Küssen, nicht etwa seines Wertes wegen, zu seiner Ehre sei es gesagt, sondern, weil er von Mary kam, und steckte ihn an seinen kleinen Finger. »Prachtvolle Diamanten. Mein Großvater ist wahrhaftig ein wunderlicher Kauz, Mark; er muß ihr den Ring offenbar geschenkt haben.«

Mark Tapley war sofort davon überzeugt, daß sie ihn gekauft hatte, um ihrem nichtsahnenden Geliebten für den Fall der Not einen Wertgegenstand an die Hand zu geben, so fest, wie er wußte, daß es Tag und nicht Nacht war, aber er sagte kein Wort. Allerdings hatte er weiter keine Kenntnis hinsichtlich der Herkunft des Geschmeides, das jetzt an Martins ausgestrecktem Finger glänzte, aber dennoch war er so durchdrungen davon, daß sie dafür ihre sämtlichen Ersparnisse ausgegeben hatte, als wäre er dabeigewesen, wie das Geld Guinee für Guinee auf den Tisch des Juweliers hingezählt worden! Martins befremdende Kurzsichtigkeit in dieser Beziehung ließ ihm plötzlich einen tiefen Blick in das Innerste seines Charakters tun, und der Grundzug seines Wesens war ihm mit einem Male kein Geheimnis mehr.

»Sie ist des Opfers wert, das ich für sie gebracht habe«, sagte Martin, verschränkte die Arme und blickte nachdenklich in die glimmende Asche im Kamin. »Ja, sie ist dessen wert! Keine Schätze der Welt« – dabei streichelte er sich gedankenverloren das Kinn – »hätten mich für den Verlust eines solchen Herzens schadlos halten können; – ganz abgesehen davon, daß ich, als ich um ihre Liebe warb, nur dem Drange meines eigenen Herzens folgte und allerdings zugleich die selbstsüchtigen Absichten anderer durchkreuzte, die kein Anrecht auf sie hatten. – – Ja, ja, sie verdient das ihr gebrachte Opfer vollständig, daran ist kein Zweifel.«

Diese leise gemurmelten Worte schienen Mr. Tapleys Ohr erreicht zu haben, wenigstens blieb er mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck unbeweglich stehen, bis Martin aus seinem Grübeln erwachte und sich nach ihm umsah. Da wandte er sich ab, als fiele ihm plötzlich die Notwendigkeit gewisser Reisevorbereitungen ein, lächelte gezwungen und schien sich, nach den Bewegungen seiner Lippen zu schließen, zu denken:

»Na, das kommt ja recht nett.«

15. Kapitel


15. Kapitel

Sei mir gegrüßt, Columbia!

Eine dunkle und traurige Nacht! Die Menschen schmiegten sich in ihre Betten oder sammelten sich um das späte Kaminfeuer. Die Not fröstelte an den Straßenecken, und die Kirchentürme summten noch unter den schwachen Vibrationen ihrer eigenen Zungen, die soeben erst mit gespenstischem Ruf die erste Stunde nach Mitternacht verkündet hatten. Die Erde lag unter einem schwarzen Leichentuch, als sei sie das Grab des gestrigen Tages. Gruppen dunkler Bäume nickten trauervoll mit ihren riesigen Leichenfederbüschen. Alles war still und lautlos oder lag in tiefem Schlummer, ausgenommen die unruhigen Wolken, die über den Mond dahinhuschten, und der unstete Wind, der bald auf dem Boden dahinkroch, wie um zu horchen, und dann rauschend weiterzog, bald wieder haltmachte, um gleich darauf seine Fährte wieder aufzunehmen wie der Wilde auf der Spur eines Feindes. Wie schuldbeladene Gespenster schienen Wind und Wolken nach einem gemeinsamen finsteren Versammlungsort zu ziehen; befreit aus der drückenden Fessel, die da Erde heißt, jagten sie über die endlose Fläche der Gewässer. Dort heulten sie, tobten und brüllten und wüteten die ganze Nacht hindurch. Tönende Stimmen hallten aus den Höhlen an der Küste jener sagenhaften Insel wider, die Tausende von Meilen inmitten zürnender Wellen schläft. Dort begegneten einander die brausenden Stürme, in unbekannten Einöden der Welt erzeugt, und rangen und stritten mit der ganzen Wut ungezügelter Freiheit miteinander, bis die See, bis zur Raserei aufgepeitscht, in ein noch weit gewaltigeres Toben ausbrach und der ganze Schauplatz sich in wirbelnden Wahnsinn verwandelte.

Weiter, weiter und immer weiter, bis ins Unabsehbare rollten die hoch sich aufbäumenden Wogen. Berge und Höhlen entstanden, doch schon im nächsten Augenblick wurde der Berg wieder zum Tal und das Tal zum Berg – und das Meer schien ein einziger kochender Strudel. Verfolgung, wilde Flucht, tolle Rückkehr, Welle auf Welle und ein wütender Kampf ringsum und dann aufsprudelnder Schaum, der als weißer Schein durch die schwarze Nacht leuchtete; ein unablässiger Wechsel von Ort, Gestalt und Farbe; in nichts Beständigkeit als im ewigen Kampfe. Fort, fort und fort rollten die Wogen dahin, dunkler wurde die Nacht und lauter heulten die Winde und ungestümer wurden die Millionen Stimmen des Meeres, wie der Sturm den wilden Ruf weitertrug: »Ein Schiff!«

Vorwärts arbeitet sich ein Schiff, mutvoll mit den Elementen ringend; die hohen Masten zittern, die Spieren knarren unter dem gewaltigen Druck. Dahin geht es, jetzt hoch auf den sich bäumenden Wogen, jetzt tief unten in den dunklen Wasserschluchten, wie um sich zu verbergen, und lauter und lauter scheinen die Stimmen der Stürme zu rufen: »Ein Schiff!«

Doch weiter kämpft sich das wackere Fahrzeug und, über seine Kühnheit und die vorauseilende Kunde seines Nahens erstaunt, erheben sich die zornigen Wellen, wie um sich einander über die weißen Häupter hinweg sehen zu können, drängen sich um seinen Bord und rauschen heran von ferne in schrecklicher Neugier. Hoch über ihm brechen sie sich, rund umher brausend in wildem Getümmel, um dann stöhnend zurückzuweichen, jede die Schwester in grimmigem Zorne zertrümmernd. Furchtlos bahnt sich das Schiff seinen Weg vorwärts, mit düsterbrennenden Lichtern und schlafenden Menschen an Bord. Trotz der unaufhörlich über Deck rauschenden Sturzwellen, deren Treiben auch der Tag noch kein Ende machen zu wollen scheint. Durch jede Spalte und Ritze späht das todbringende Element, voll Haß bemüht, die dünne Planke zu zerbersten, die den Seemann von seinem Grab in der bodenlosen Tiefe trennt.

Unter den schlafenden Reisenden an Bord befanden sich auch Martin und Mark Tapley, beide durch die ungewohnte schlingernde Bewegung des Schiffes in ohnmachtsähnlichen Schlummer versetzt und sich der dumpfigen Luft der Kojen so wenig bewußt wie des Aufruhrs draußen.

Das Tageslicht schien bereits hell durch die Luken, als Mark mit dem unbestimmten Gefühl erwachte, er habe sich in eine Bettstelle niedergelegt, in der im Laufe der Nacht das Unterste zuoberst gekehrt worden sei. Das erste, dessen er ansichtig wurde, und zwar senkrecht über seinem Kopf, waren seine eigenen Fersen.

»Ha«, sagte er, nachdem er es nach langem Kampfe mit dem Auf- und Niederrollen des Schiffes endlich zu einer sitzenden Stellung gebracht, »na, das ist, dächte ich, das erstemal in meinem Leben, daß ich die ganze Nacht über auf dem Kopf gestanden habe.«

»Dann müssen Sie sich eben nicht mit dem Kopf leewärts legen«, brummte ein Mann in einer der Schlafstellen.

»Wohin soll ich mich mit meinem Kopf nicht legen?« fragte Mark.

Der Mann wiederholte seinen guten Rat.

»Na, dann werd ich’s das nächstemal bleiben lassen«, sagte Mark, »wenn ich nur erst mal weiß, in welcher Gegend das Land, das Sie soeben genannt haben, liegt. – Übrigens kann ich Ihnen auch einen Rat geben: gehen Sie lieber auf festem Lande als auf einem Schiff schlafen.«

Der Mann knurrte mißvergnügt etwas durch die Zähne, drehte sich auf die andere Seite und zog sich das Bettuch über die Ohren.

»Denn«, sagte Mark Tapley und verfolgte den Gedanken im Selbstgespräch leise weiter, »die See ist das Unvernünftigste überhaupt. Nie weiß sie, was sie eigentlich will. Sie hat eben keine geistige Beschäftigung; daher ihre Zerfahrenheit. Wie die Polarbären in der Menagerie wackelt sie auch immer mit dem Kopf von einer Seite zur anderen. Nicht einen Augenblick kann sie ruhig sein. Das kommt natürlich von ihrer entsetzlichen Borniertheit.«

»Sind Sie’s, Mark?« fragte eine müde Stimme aus einer Koje nebenan. »Jawohl, Sir. Oder besser gesagt: der schäbige Rest, der noch von mir übrig ist nach dieser vierzehntägigen greulichen Mißhandlung«, versetzte Mark Tapley. »Wenn ich bedenke, was ich seit unserer Ankunft an Bord für ’ne Art Lauseleben geführt habe, kann nicht gut mehr viel von mir übrig sein; darauf möchte ich schwören, Sir. Ganz besonders, wenn ich mich erinnere, was ich an genossenen Leckerbissen wieder von mir gegeben habe. – Wie geht es Ihnen übrigens heut morgen, Sir?«

»Hundsmiserabel«, stöhnte Martin. »Das ist ja furchtbar!«

»Da kann man wenigstens noch Ehre einlegen«, murmelte Mark, drückte die Hand auf seine schmerzende Stirn und blickte mit kläglichem Grinsen umher. »Und das ist ein großer Trost. Man kann sich’s wahrhaftig hoch anrechnen, wenn man hier nicht den Mut verliert. Ja ja, das Gute belohnt sich selbst. Daher auch die Fröhlichkeit.«

Mark hatte insofern recht, als tatsächlich jeder, der als Zwischendeckpassagier des schönen und schnellsegelnden Paketschiffes »Die Schraube« sich seine gute Laune bewahren wollte, auf seine eigenen Hilfsquellen angewiesen war und sich seinen guten Humor ebensogut wie seinen Mundvorrat, da zu beiden der Herr des Schiffes nichts beisteuerte, selbst mitgebracht haben mußte.

Ein dunkler, niedriger, erstickender Kajütenraum, bis zum Platzen mit Männern, Weibern und Kindern in den verschiedensten Stadien der Seekrankheit und des Elends angefüllt, ist niemals ein besonders angenehmer Unterhaltungsort. Wenn er aber so vollgestopft ist wie in diesem Falle, wo Matratzen und Betten auf dem Boden aufgehäuft lagen und auch nicht das kleinste Fleckchen mehr rein und sauber war, – dann wird nicht nur jede heitere Stimmung im Keime erstickt, sondern es entsteht geradezu Mißmut in seiner schlimmsten Form. Mark bemerkte das, sooft er sich umsah, und demgemäß stieg auch seine gute Laune. An Bord befanden sich Engländer, Irländer, Welshmen und Schotten, sämtlich mit ihrem kleinen Vorrat an halbverdorbenen Speisen und in schäbigen Kleidern. Fast alle hatten ihre Familien bei sich; ihre Weiber und Sprößlinge. Kinder jeglichen Alters, vom Säugling angefangen bis zur schlampigen halbwüchsigen Dirne, waren in dem engen Raum zusammengepfercht und litten gemeinsam an all den Qualen, die in Armut, Krankheit, Heimatlosigkeit, Sorgen und langer Seereise bei rauhem Wetter ihren Grund haben, und doch gab es in dieser ungesunden Arche Noah vielleicht weniger Bemänglung oder Zank als anderswo unter sogenannten geordneten Verhältnissen oder Hauswesen.

Mit pfiffiger Miene blickte Mark umher, und seine Mienen heiterten sich auf. Hier beugte sich eine alte Großmutter über ein krankes Kind, wiegte es in ihren Armen, die fast ebenso schwach waren wie die jungen Gliedmaßen des Kleinen; dort flickte ein armes Weib, ein Kind im Schoße, die Kleider eines andern kleinen Geschöpfes und beschwichtigte ein drittes, das von der dürftigen Bettstelle zu ihr hinkroch. Alte Männer verrichteten unbehilflich ihre kleinen Hausarbeiten, und gebräunte Gesellen – Riesen an Gestalt – erwiesen ihrer Umgebung allerlei zarte kleine Liebesdienste, wie man sie nur von den weichherzigsten, sanftesten Zwergen hätte erwarten können. Selbst der Blödsinnige drüben in der Ecke, der sonst den ganzen Tag über brütend dasaß, fühlte sich davon angesteckt und schnappte mit den Fingern, um ein weinendes Kindchen zu trösten.

»Na«, sagte Mark, nickte einer Frau zu, die ihre drei Kinder dicht neben ihm ankleidete, und lachte dabei von einem Ohr bis zum andern, »geben Sie mir mal eins von den Kleinen herüber.«

»Ich dächte, es wäre besser, Sie besorgten das Frühstück, Mark, statt daß Sie sich mit Leuten abgeben, die Sie nichts angehen«, bemerkte Martin ärgerlich. »Ganz recht«, meinte Mark, »das könnte aber vielleicht sie besorgen. Das wäre dann eine famose Arbeitsteilung, Sir. Ich wasche ihr die Buben, und sie macht uns den Tee. – Ich habe mich nie aufs Teekochen verstanden, aber ein Kind kann jeder Mensch waschen.«

Die Frau, die sehr zart und krank war, empfand seine Freundlichkeit um so tiefer, als er ihr überdies Nacht für Nacht seinen Mantel lieh und sich selbst auf den nackten Brettern mit einem Teppich begnügte – nur Martin, der selten aufstand oder für sonst etwas Augen hatte, war bitterböse über Marks Torheit und gab sein Mißvergnügen durch ein unwilliges Gebrumm zu erkennen.

»Ja, ja, es ist wahrhaftig so«, sagte Mark und bürstete das Haar des Kindes so geschickt wie ein ausgelernter Friseurgehilfe.

»Wovon sprechen Sie jetzt schon wieder?« fragte Martin.

»Von dem, was Sie gesagt haben«, versetzte Mark, »oder vielmehr, was Sie sagen wollten, als Sie vorhin Ihren Gefühlen in so trübseliger Weise Luft machten. – Ich bin ganz Ihrer Ansicht; es ist gewiß sehr hart für sie.«

»Was ist hart?«

»Die Reise allein machen zu müssen mit diesen kleinen Bälgern da. Zu dieser Jahreszeit sich einer solchen Reise zu unterziehen, um zu ihrem Gatten zu gelangen. – – – Wenn Sie nicht wollen, daß Ihnen die Seife ins Auge kommt, junger Herr«, sagte er zu dem zweiten Knirps, den er sich eben am Waschbecken vornahm, »werden Sie guttun, Ihre Gucklöcher zuzumachen.«

»Wo hofft sie denn ihren Mann zu treffen?« fragte Martin gähnend.

»Ich fürchte sehr«, meinte Mr. Tapley mit leiser Stimme, »daß sie es selbst nicht recht weiß. Hoffentlich werden sie sich nicht verfehlen. Sie schickte ihm ihren letzten Brief durch irgendeinen Auswanderer; aber auch sonst scheint keine sonderlich klare Verständigung zwischen ihnen stattgefunden zu haben. Wenn er daher nicht am Ufer steht und sein Schnupftuch schwenkt, wie es auf den Bildern im Gesangbuch abgebildet ist, so bin ich der Meinung, daß die Sache verdammt faul ausgehen wird.« »Aber in Teufels Namen, wie kommt das Weib dazu, sich an Bord eines Schiffes zu begeben, wenn das Ganze nur so ein Wagnis aufs Geratewohl ist?« rief Martin.

Mark sah einen Augenblick auf und erwiderte dann sehr ruhig:

»Hm. Das läßt sich leicht fragen. Ich kann mir’s auch nicht recht zusammenreimen. Vor zwei Jahren ist er ausgewandert. Sie war sehr arm und nicht sonderlich angesehen in ihrer Heimat. Natürlich wollte sie da zu ihm. Sehr sonderbar, daß sie hier ist; höchst erstaunlich, und ein bißchen verrückt vielleicht. Anders läßt sich’s nicht erklären.«

Martin fühlte sich zu seekrank, um auf diese Worte irgendeine Antwort zu geben oder auch nur auf sie zu achten. Inzwischen war der Gegenstand ihrer Unterhaltung mit etwas heißem Tee zurückgekommen und unterbrach auf diese Weise wirksam eine Wiederaufnahme des Themas von seiten Mr. Tapleys, der, sobald er sein Frühstück eingenommen und Martins Bett zurechtgemacht hatte, sich aufs Oberdeck verfügte, um das Service, das aus zwei zinnernen Näpfen und einer Rasierbüchse aus demselben Metalle bestand, auszuspülen.

Auch ihn hatte die Seekrankheit bei dem Schlingern des Schiffes sehr mitgenommen. Da er sich jedoch fest vorgenommen, auch unter den widrigsten Verhältnissen »Ehre einzulegen«, wie er es nannte, so bildete er sozusagen die Seele des Zwischendecks. Er machte sich auch nicht viel daraus, sogar mitten in einem launigen Gespräch aus Übligkeit beiseite gehen zu müssen; und jedesmal kehrte er nachher in der allerbesten und heitersten Laune zurück, um es wieder fortzusetzen, als ob ein bißchen Erbrechen die allergewöhnlichste Sache von der Welt wäre.

Auch als bei Besserung seines Befindens sich seine natürliche gute Laune von selbst wieder hob, merkte man das kaum, so fröhlich hatte er schon vorher geschienen. Nur sein Pflichteifer steigerte sich womöglich, und unverdrossen ließ er sich’s gefallen, daß man zu allen Tagesstunden seine Dienste in Anspruch nahm.

Wenn sich ein Sonnenstrahl an dem dunkeln Himmel zeigte, eilte er sofort in die Kajüte hinunter und kam gleich darauf mit irgendeinem Frauenzimmer am Arm, einem halben Dutzend Kindern, einem kranken Mann, einem Bett, einer Pfanne, einem Korb oder sonst irgendeinem Objekt, gleichviel ob belebt oder unbelebt, wieder zum Vorschein. Wenn gegen Mittag für ein paar Stunden schönes Wetter einsetzte und die armen Teufel, die zu andern Zeiten selten oder nie auf Deck kamen, heraufkrochen, sich auf die Deckplanken niederlegten und zu essen versuchten, so konnte man wetten, daß Mr. Tapley mitten unter dem Häuflein stand, Pökelfleisch und Zwieback verteilend, Grog einschenkend, den Kindern mit seinem Taschenmesser Brot abschneidend oder zur allgemeinen Zerstreuung aus einer uralten Zeitung vorlesend. Zuweilen sang er auch irgendein Lied, schrieb für Leute, die es selbst nicht verstanden, Briefe an ihre Freunde in der Heimat, machte Witze mit den Matrosen, wurde auch gelegentlich in die Nässe geschleudert und tauchte dann triefend aus einem Schauer von Sprühe auf, oder ging da und dort hilfreich an die Hand. Kurz, immer zeigte er sich tätig und fleißig. Wenn abends auf dem Verdeck Feuer angezündet wurde und die unter dem Takel- oder Segelwerk umherfliegenden Funken das Schiff mit sicherer Vernichtung durch Brand zu bedrohen schienen, im Falle es den wäßrigen und luftigen Elementen nicht gelingen sollte, die Zerstörung zu bewerkstelligen, so war es wieder Mr. Tapley, der, den Rock abgelegt und die Hemdsärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, bei allen Küchenverrichtungen mithalf, den Koch machte und die seltsamsten Gerichte auf den Tisch trug oder bereiten half, bis ihn schließlich jeder als eine Art Autorität anerkannte; mit einem Wort, niemals gab es wohl eine beliebtere Person an Bord des edeln und schnell segelnden Paketschiffes »Die Schraube« als Mark Tapley; und schließlich erntete er eine so allgemeine Bewunderung, daß er innerlich schon wieder ernstlich zu zweifeln begann, ob es noch eine Kunst genannt werden könne, unter so günstigen Bedingungen fidel zu sein.

»Wenn das so weitergeht«, sagte er vor sich hin, »so sehe ich keinen großen Unterschied zwischen der Schraube und dem Drachen. Ich glaube, es ist mir wirklich beschieden, nie und nirgends Ehre einzulegen, und ich fange wahrhaftig an zu fürchten, daß das Schicksal sich verschworen hat, mir die Welt leicht zu machen.« »Was glauben Sie, Mark«, rief Martin aus seiner Koje, in deren Nähe Mr. Tapley diese Worte vor sich hingesprochen hatte; »wann wird das alles endlich einmal ein Ende nehmen?«

»Wie ich höre«, berichtete Mark, »werden wir in einer Woche oder so irgendeinen Hafen anlaufen. Das Schiff beeilt sich jetzt, wie sich ein Schiff überhaupt nur beeilen kann. Aber das ist weiter nichts Anerkennenswertes; es ist seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.«

»Dieser Meinung bin ich auch«, brummte Martin.

»Sie würden sich, glaube ich, wohler befinden, wenn Sie mal aus ihrer Koje rauskröchen«, bemerkte Mark.

»Ja, natürlich; damit die Damen und Herren vom Hinterdeck sehen«, grollte Martin verdrossen, »wie ich mich unter dem elenden Bettlervolk herumtreiben muß, mit dem dieses elende Loch vollgepfropft ist. Und da sollte ich mich dann besser fühlen!«

»Gott sei Dank, daß ich nicht aus eigener Erfahrung weiß, wie ein Gentleman innerlich fühlt«, sagte Mark. »Aber ich sollte meinen, daß es auch einem Gentleman hier unten viel unbehaglicher zumute sein müßte als oben in der frischen Luft; besonders, wo die Damen und Herren von der Hinterkajüte gerade so wenig von ihm wissen wie er von ihnen.«

»Davon verstehen Sie offenbar nichts«, brummte Martin verdrossen.

»Sehr leicht möglich, Sir; das kommt bei mir öfters vor«, versetzte Mark in seiner unerschütterlichen Heiterkeit.

»Glauben Sie vielleicht, daß es mir Vergnügen macht, hier zu liegen?« fragte Martin, richtete sich auf den Ellbogen auf und warf einen ärgerlichen Blick auf ihn.

»Sämtliche Narrenhäuser der Welt zusammengenommen haben nicht einen einzigen Verrückten aufzuweisen, der so etwas glauben würde.«

»Warum reden Sie mir also dann zu, daß ich aufstehen soll?« fragte Martin. »Ich bleibe hier liegen, um nicht später einmal, wenn ich in bessern Verhältnissen sein werde, von irgendeinem Geldprotzen als der Mensch erkannt zu werden, der zugleich mit ihm als Zwischendeckpassagier nach Amerika gefahren ist. Ich bleibe hier liegen, um mich versteckt zu halten und weil ich nicht in der Neuen Welt mit dem Stempel tiefster Armut gebrandmarkt ankommen will. Hätte ich einen Platz auf dem Hinterdeck bezahlen können, so würde ich mich öffentlich zeigen wie die andern. Da das leider nicht der Fall ist, muß ich mich eben verbergen.«

»Das tut mir sehr leid, Sir«, bedauerte Mark. »Ich habe nicht wissen können, daß Sie sich’s so zu Herzen nehmen.«

»Natürlich, wie können Sie’s denn auch wissen, wenn ich’s Ihnen nicht sage. – – Sie machen sich selbstverständlich nichts daraus, sich unter die Leute hier zu mischen. Sie sind’s wahrscheinlich gewöhnt. Bei mir ist aber das Gegenteil der Fall. Glauben Sie mir, es ist kein Mann an Bord, der so viel leidet wie ich. Wie?« Er richtete sich auf und sah Mark mit einer Mischung von Ernsthaftigkeit und Neugierde an.

Mark schnitt ein Gesicht und schien es offenbar für sehr schwer zu halten, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Schließlich erlöste ihn Martin selbst aus seiner Verlegenheit, indem er sich wieder zurücklehnte, nach seinem Buche griff, in dem er vorhin gelesen, und sagte:

»Aber was stelle ich Ihnen auch solche Fragen, wo Sie doch die wahre Bedeutung meiner Worte gar nicht verstehen können. Machen Sie mir, bitte, ein wenig Branntwein mit Wasser zurecht; kalt und sehr schwach; – und dann geben Sie mir einen Zwieback und sagen Sie Ihrer wertgeschätzten Freundin, sie solle darauf achten, daß ihre Kinder heute nacht sich ein wenig ruhiger verhalten. Vergessen Sie aber nicht, ihr es auszurichten; wir könnten sonst leicht aneinandergeraten.«

Mit großer Bereitwilligkeit kam Mr. Tapley diesem Befehl nach, und dabei schien seine gute Laune wieder aufzuleben; wenigstens brummte er vor sich hin, daß die »Schraube«, was die Möglichkeit beträfe, aus dem Fidelsein eine Kunst zu machen, doch so mancherlei vor dem »Drachen« voraus habe.

Kurze Zeit darauf entstand eine große Aufregung an Bord, und allerhand Prophezeiungen kursierten hinsichtlich des Tages, ja sogar der Stunde, in der man New York bestimmt erreichen werde. So viel Gedränge und Neugierige, die alle nach Land ausspähten, hatte es bis jetzt noch nicht auf dem Verdeck gegeben. Wie eine Krankheit überfiel alle die Sucht, morgens einzupacken, was abends wieder ausgepackt werden mußte, und wer Briefe zu besorgen, Freunde zu treffen oder irgendeinen bestimmten Lebensplan für Amerika hatte, besprach wohl hundertmal am Tag, was ihm am meisten am Herzen lag. Und da die Zahl solcher Passagiere sehr klein, die der andern aber sehr groß war, so gab es wenig Sprecher und sehr viel Zuhörer. Leute, die auf der ganzen Fahrt unwohl gewesen waren, wurden jetzt plötzlich gesund, und den stets Gesunden wurde noch wohler. Ein amerikanischer Gentleman vom Hinterdeck, der auf der ganzen Fahrt im Pelz und Wachsleinwandanzug eingemummt dagesessen, tauchte jetzt mit einem Male mit einem sehr glänzenden, sehr hohen und sehr schwarzen Hute auf und hantierte beständig mit einem kleinen Felleisen aus Naturleder herum, das seine sämtlichen Kleider nebst Wäsche, Bürsten, Rasierzeug, Büchern, Juwelen und andern unentbehrlichen Dingen enthielt. Die Hände tief in die Taschen vergraben, wanderte er auf dem Verdeck auf und ab mit aufgeblasenen Nüstern, als atme er schon die Luft der Freiheit ein, die bekanntlich allen Tyrannen den Tod bringt und niemals – vereinzelte Fälle vielleicht ausgenommen – von Sklavennaturen eingeatmet werden kann. Ein englischer Gentleman, der stark im Verdachte stand, ein flüchtiger Bankkassierer zu sein und mancherlei mitgenommen zu haben, was von Rechts wegen in die Kassen gehörte, wurde sehr beredt hinsichtlich des Themas »Menschenrechte« und summte ohne Unterlaß die Marseillaise. Kurz, überall herrschte die größte Aufregung an Bord. Immer mehr näherte sich das Schiff der Küste, und endlich, in einer sternenhellen Nacht, wurde ein Lotse an Bord genommen, ein paar Stunden später bis zum Morgen beigelegt und die Ankunft des Dampfers erwartet, in dem die Passagiere an Land gebracht werden sollten.

Die Barkasse langte bald nach Tagesgrauen an und blieb eine Stunde oder so Bord an Bord neben der »Schraube« liegen, ein Ereignis, das sogar die stummen Heizer sichtlich mit Interesse erfüllte. Dann wurde die gesamte lebende Fracht auf die Barkasse geschafft, darunter Mark, der noch immer seine arme Freundin und ihre drei Kinder bemutterte, und Martin, der wieder in seinen gewöhnlichen Anzug gekleidet war, darüber aber einen schmutzigen alten Mantel trug, um nicht aufzufallen.

Der Dampfer, der mit seiner Überdeckmaschine wie ein ungeheures Insekt oder antediluvianisches Ungeheuer aussah, schoß rasch eine schöne Bucht hinauf, und gleich darauf wurden einige Anhöhen, Inseln und eine große weitläufig angelegte Stadt sichtbar.

»Also dies«, sagte Mr. Tapley und ließ seinen Blick über das Panorama hinschweifen, »also das ist das Land der Freiheit. Gut. Freut mich. Mir ist jedes Land recht – nach so viel Wasser. Sei mir gegrüßt, Columbia!«

1. Kapitel


1. Kapitel

Einleitung. Der Stammbaum der Familie Chuzzlewit

Da sich begreiflicherweise niemand, weder Herr noch Dame, der einigermaßen auf guten Ruf hält, für die Familie Chuzzlewit interessieren kann, ohne nicht zuvor über deren Alter und Stammbaum Erkundigungen eingezogen zu haben, so sei hier versichert, daß die Chuzzlewits zweifellos in gerader Linie von Adam und Eva abstammten und schon in den frühesten Zeiten zur Klasse der Grundbesitzer gehörten. Sollten daher Neidlinge einwenden, ein oder der andere Chuzzlewit habe jemals gar zu viel Familienstolz an den Tag gelegt, so wird man gewiß eine solche Schwäche nicht nur verzeihlich, sondern sogar löblich finden, wenn man bedenkt, wie hoch dieses Haus in Anbetracht seiner langen Ahnenreihe über allen andern steht.

Es ist höchst bemerkenswert, daß sogar schon die älteste Familie, von der wir wissen, einen Mörder und Landstreicher aufzuweisen hatte; und ebenso stoßen wir auch stets in den Annalen jeder alten Familie auf unzählige Wiederholungsfälle desselben Charakterzuges. Man kann es vielleicht als Grundsatz aufstellen, daß, je länger die Ahnenreihe, um so größer auch die Summe von Gewalttat und unstetem Lebenswandel ist. Waren doch in alten Zeiten diese beiden nobeln Passionen als Mittel zur Wiederherstellung zerrütteter Vermögensverhältnisse sowohl wie als gesunde Leibesübung bei den Vornehmen gleich beliebt.

Welche Quelle inniger Herzensfreude muß es daher sein, wenn man erfährt, daß die Chuzzlewits zu den verschiedensten Zeitepochen bei Verschwörungen, Mord und Totschlag mit beteiligt waren. Man sagt ihnen sogar nach, daß sie des öfteren, vom Scheitel bis zur Zehe in schuß- und hiebfesten Stahl gehüllt, ihre in Lederwämser gekleideten Söldner mit nimmerwankendem Mut in den Tod geführt hätten und sodann wohlbehalten zu den Ihrigen zurückgekehrt seien.

Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß wenigstens ein Chuzzlewit mit Wilhelm dem Eroberer nach England herüberkam und von Britannien Besitz ergriff. Es hat allerdings nicht den Anschein, als ob dieser erlauchte Ahne sich beim Besitzergreifen besonders ausgezeichnet hätte; – wenigstens fiel die Familie zu keiner Zeit besonders durch großen Grundbesitz auf. Und daß der große Normanne bei derartigen Eigentumsverleihungen an seine Günstlinge die Tugend der Freigebigkeit und Dankbarkeit ebenso frei entfaltete, wenn es galt, fremdes Gut zu verschenken, wie andere Große, ist doch allgemein bekannt.

Es unterliegt ferner keinem Zweifel, daß ein Chuzzlewit bei der Pulververschwörung beteiligt war, wenn nicht gar der Erzverräter Fawkes selbst zu diesem merkwürdigen Geschlechte gehörte, was recht wohl möglich wäre, da der Sage nach einst ein gewisser Chuzzlewit nach Hispanien auswanderte und daselbst eine Spanierin ehelichte, mit der er einen olivenfarbigen Sprößling zeugte. Diese Annahme gewinnt noch an Wahrscheinlichkeit, wenn man erfährt, daß in späteren Zeiten viele Chuzzlewits, nachdem sie bei anderen Unternehmungen gescheitert, sich – offenbar erblich belastet – ohne die mindeste vernünftige Hoffnung, dadurch reich zu werden, oder aus sonst einem erdenklichen Grund als Kohlenhändler etabliert und Monat um Monat ohne Unterlaß düster bei einem kleinen Brennvorrat Wache gehalten haben, ohne daß sie auch nur ein einziges Mal mit einem Käufer ein Geschäft gemacht hätten. Die auffallende Ähnlichkeit zwischen diesem Verfahren und dem, das ihr großer Ahnherr in den unterirdischen Gewölben des Parlamentshauses von Westminster beobachtete, ist zu augenscheinlich und interessant, als daß es noch eines Kommentars bedürfte.

Nicht minder klar ist durch mündliche Tradition erwiesen, daß zu irgendeiner nicht bestimmt angegebenen Epoche eine würdige Matrone lebte, die so vertraut mit dem Anschüren von Feuer aller Art – besonders von Liebesflammen – war, daß man sie nur die »Amorsfackel« nannte, unter welchem Spitznamen sie bis auf den heutigen Tag in der Familienchronik weiterlebt. Wer könnte da noch zweifeln, daß sie die Spanierin war – die Mutter von Chuzzlewit Fawkes!

Es gibt indes auch noch einen anderen Beleg für die unmittelbare Beziehung dieser Familie zu jenem denkwürdigen Ereignis – der Pulververschwörung –, der jeden Zweifler, wenn es überhaupt nach den vorausgeschickten schlagenden Beweisen einen solchen noch geben kann, vollständig überzeugen muß.

Noch vor wenigen Jahren befand sich nämlich im Besitz eines wohlhabenden und dabei höchst achtbaren und in jeder Hinsicht glaubwürdigen und makellosen Mitgliedes der Chuzzlewits eine Blendlaterne von unzweifelhaftem Alter. Und, was noch interessanter ist, sie sah genau so aus wie die, die noch heutzutage allgemein in Gebrauch sind. Der genannte Gentleman ist zwar jetzt tot, war aber jeden Augenblick bereit, einen Eid darauf abzulegen, und beteuerte wiederholt aufs feierlichste, er habe zu verschiedenen Malen seine Großmutter, wenn diese die ehrwürdige Reliquie betrachtet, sagen hören: »Ei ja! Diese Laterne hat mein vierter Sohn am fünften November als Guy Fawkes getragen.« Diese merkwürdigen Worte mußten natürlich einen tiefen Eindruck auf ihn machen, weshalb er es auch liebte, den Ausspruch häufig zum besten zu geben. Die richtige Auslegung liegt auf der Hand. Die alte Dame, zwar von Natur aus sehr stark an Geist, war immerhin gebrechlich und hinfällig und litt auch bekanntermaßen an jener Verwirrung der Ideen oder doch wenigstens der Sprache, die so oft eine Folge des Greisentums und der Geschwätzigkeit ist. Offenbar wollte sie sagen: »Ei ja! Diese Laterne wurde getragen von meinem Ahnherrn« – nicht vierten Sohn, was ein Anachronismus wäre – »am fünften November. Und dieser war Guy Fawkes.« Hier haben wir mit einem Mal eine bestimmte, klare und natürliche Erklärung, die im vollkommensten Einklange mit dem Charakter der Sprecherin steht. So offenkundig läßt die Anekdote nur diese und keine andere Deutung zu, daß es kaum verlohnt hätte, sie in ihrer ursprünglichen Fassung vorzutragen, wenn sie nicht einen Beweis abgäbe, was sich alles nicht nur in historischer Prosa, sondern auch in Versen bei nur ein bißchen Aufwand von Fleiß von seiten eines Kommentators bewerkstelligen läßt.

Wohl verlautet, daß in neuerer Zeit kein Chuzzlewit auf vertrautem Fuß mit der feinen Gesellschaft gestanden hätte, aber auch hier müssen die schmähsüchtigen Verleumder, deren boshaftes Gehirn solche armseligen Erdichtungen schmiedete, vor den Tatsachen verstummen. Mehrere Mitglieder der Familie sind im Besitz von Dokumenten, aus denen aufs bestimmteste und in klaren Worten hervorgeht, daß ein gewisser Diggory Chuzzlewit sehr häufig beim Herzog Schmalhans zu Gaste war. Er war ein so stereotyper Gast an der Tafel dieses allgemein bekannten Edelmannes, und die Gastfreundschaft und Gesellschaft Seiner Gnaden wurde ihm so unablässig gewissermaßen aufgezwungen, daß er dieser Ehre nur mit Widerstreben entsprach und gelegentlich an seine Freunde schrieb: wenn sie sich nicht soundso dem Überbringer gegenüber verhielten, so bliebe ihm keine andere Wahl, als wieder bei dem Herzog Schmalhans zu Mittag zu essen.

Das nur als Beispiel!

Es wäre nutzlos, die hohe und stolze Stellung wie auch die ungemeine Bedeutsamkeit der Chuzzlewits zu verschiedenen Zeitepochen weiterhin zu erörtern. Sollte es in den Bereich vernünftiger Wahrscheinlichkeitsberechnung fallen, daß weitere Belege gefordert würden, so könnten sie zu wahren Bergen aufgeschichtet werden, deren Gewicht auch den verwegensten Skeptizismus zermalmen müßte. Wir haben über der Familiengruft bereits einen stattlichen Tumulus angehäuft und wollen es für dies Kapitel damit bewenden lassen. Nur als letzten Spaten Erde wollen wir hinzufügen, daß viele Chuzzlewits, sowohl männliche wie weibliche, nach dem höchst glaubwürdigen brieflichen Zeugnis ihrer Mütter fein geschnittene Nasen, ausgeprägte Kinne, Formen, die einem Bildhauer als Modell hätten dienen können, wunderschöne Gliedmaßen und so transparente glatte Stirnen hatten, daß die blauen verzweigten Adern darauf wie die Wege auf einer Himmelskarte durchschimmerten. Schon diese Tatsache allein würde jede Streitfrage hinsichtlich Herkunft mit einem Male erledigen, da bekanntlich alle diese Kennzeichen charakteristische Merkmale vornehmer Persönlichkeiten sind.

Da nun ausreichend bewiesen ist, daß es den Chuzzlewits durchaus nicht an Herkunft fehlt und sie zu der einen oder andern Zeit sich einer Bedeutsamkeit erfreuten, die nicht ermangeln kann, sie für alle Wohlgesinnten zu einer sehr schätzenswerten Bekanntschaft zu machen, so mag ihre Geschichte jetzt ihren Verlauf nehmen. Da ferner aus dem Alter der Familie zu folgern ist, daß sie zur Begründung und Vermehrung des Menschengeschlechts einen hübschen Beitrag geliefert hat, so wird es eines Tages Zeit sein, darzulegen, daß diejenigen Familienglieder, die in diesem Buche aufgeführt werden, noch viele Ur- und Gegenbilder in der uns umgebenden großen Welt haben. Vorderhand mag es genügen, im allgemeinen zu bemerken, erstens: daß man recht wohl behaupten darf – ohne gerade die Theorie zu Hilfe zu nehmen, die den wahrscheinlichen Ursprung unseres Geschlechts auf die Affen zurückleitet –, daß so manche Menschen recht kuriose Stücklein spielen; und zweitens: daß es – unbeschadet der Blumenbachschen Lehre, die den Adamsabkömmlingen weit mehr charakteristische Ähnlichkeiten mit den Schweinen als irgend andern lebenden Wesen in der Schöpfung zumutet – wieder andere gibt, die auf eine ganz merkwürdig geschickte Weise für ihre eigne Haut zu sorgen wissen.

10. Kapitel


10. Kapitel

Seltsame Dinge, von deren gutem oder schlimmem Einfluß viele Ereignisse dieser Geschichte abhängen

Aber Mr. Pecksniff kam ja geschäftehalber nach London! Hatte er denn das ganz vergessen? Konnte er auf die Dauer an Todgers‘ frischfröhlicher Gesellschaft Vergnügen finden, ohne der ernsten Obliegenheiten zu gedenken, die seine ruhige Überlegung in Anspruch nahmen? Keineswegs.

Zeit und Flut warten auf niemanden, sagt das Sprichwort. Der Mensch hat auf Zeit und Flut zu warten. Die Flut, die Mr. Pecksniff zum Glück führen sollte, stand in den Sternen geschrieben und hatte bereits eingesetzt. Pecksniff war kein Müßiggänger, der untätig auf trockenem Lande dem Wechsel der Strömung zusah; – nein, er stand bis über die Schuhe im Wasser, bereit, im tiefsten Schlamme fortzuwaten, wenn dieser Weg ihn seinem erhofften Ziele zuzuführen versprechen sollte. Das Vertrauen, das ihm seine beiden Töchter in jeder Hinsicht entgegenbrachten, hatte etwas Erhebendes. Sie hegten jene feste Zuversicht auf den Charakter ihres Erzeugers, die ihnen die Überzeugung verlieh, daß er in allem, was er tue, sein Ziel voll und unverrückbar im Auge behalten werde und daß das edle Ziel seines Strebens nichts anderes sein könne als seine eigene Wohlfahrt und demnach auch – die ihrige.

Ihr kindliches Vertrauen mußte um so rührender erscheinen, als sie im gegenwärtigen Falle durchaus keine Kenntnis von den wirklichen Absichten ihres Vaters hatten. Sie wußten von seinem Tun nicht mehr, als daß er jeden Morgen nach dem zeitig eingenommenen Frühstück auf das Postbureau eilte und nach eingelaufenen Briefen fragte. Nach Beendigung dieses Geschäftes war sein Tagewerk vorüber, und er konnte sich der Ruhe hingeben, bis die aufgehende Sonne des nächsten Morgens abermals die Ankunft einer neuen Post verkündete.

So entschwanden vier oder fünf Tage. Endlich kehrte eines Morgens Mr. Pecksniff atemlos und in einer Hast zurück, die von seiner gewohnten Ruhe seltsam genug abstach, und schloß sich unverzüglich auf ein paar Stunden mit seinen Töchtern zu geheimer Beratung ein. Von allem, was dabei vorging, sind uns nur folgende Äußerungen Mr. Pecksniffs zu Ohren gekommen:

»Wir brauchen uns nicht mit Grübeleien darüber aufzuhalten, wieso es kam, daß eine so gewaltige Wandlung mit ihm vorging, vorausgesetzt, daß eine solche, wie ich hoffe, wirklich stattgefunden hat, meine Lieben. Ich habe zwar so meine besondern Gedanken darüber, meine Kinder, will sie aber vorderhand noch für mich behalten. Uns genügt das Bewußtsein, daß wir weder stolz noch nachtragend oder unversöhnlich sind. Bedarf er unserer Freundschaft, so sei sie ihm gewährt. Wir kennen unsere Pflicht.«

Noch am selben Nachmittag stieg ein alter Herr aus einer Droschke vor der Post ab und fragte, nachdem er seinen Namen genannt, nach für ihn etwa eingelaufenen »Restante«-Briefen. Tatsächlich fand sich auch ein solcher, das Kuvert von Mr. Pecksniffs Hand geschrieben und mit seinem Petschaft gesiegelt.

Der Inhalt war sehr kurz und enthielt nichts weiter als eine Adresse »mit Mr. Pecksniffs respektvoller und – trotz allem Vorgefallenen – aufrichtiger Hochachtungsbezeugung.« Der alte Herr riß die Angabe von Stadtteil und Hausnummer ab und händigte sie, nachdem er das übrige in Fetzen dem Winde preisgegeben, dem Kutscher mit der Weisung ein, auf dem kürzesten Wege nach dem auf dem Streifen verzeichneten Orte zu fahren. Diesem Auftrag gemäß machte der Wagen bald darauf bei dem Monumente halt, der alte Herr stieg aus, entließ die Droschke und ging auf Todgers‘ Etablissement zu.

Obgleich dem Gesicht, der Gestalt und dem Gang nach ein Greis, verriet doch die Art, wie er den starken Stock, auf den er sich stützte, umfaßte, eine nicht leicht zu erschütternde Entschlossenheit und Festigkeit. Trotzdem schien der alte Herr noch zu zaudern; – wenigstens vermied er das Haus, das er suchte, noch eine Weile und benutzte einen kurzen Sonnenblick, der auf den kleinen Kirchhof in der Nähe herniederglänzte, um ein wenig auf und ab zu schlendern. In dem Anblick der alten Gräber mitten im geschäftigsten Gewühle des Lebens mochte für ihn etwas liegen, das seine Unschlüssigkeit eher steigerte, denn er wandelte, mit jedem Schritt das Echo weckend, auf und nieder, bis der Glockenton der Kirchturmuhr, die seit seiner Anwesenheit bereits zweimal je eine Viertelstunde geschlagen, ihn aus seinen Grübeleien aufrüttelte. – Da wich mit einem Male seine Unentschlossenheit, und hastig ging er auf das Haus zu und klopfte an die Türe.

Mr. Pecksniff saß in dem kleinen Stübchen der Mrs. Todgers und wurde von dem Besuche – rein zufällig natürlich – in der Lektüre eines vortrefflichen theologischen Werkes überrascht. Auf einem kleinen Tischchen neben ihm stand Kuchen und Wein – gleichfalls nur ganz zufällig, wie er ausdrücklich zu bemerken für nötig erachtete –, da er die Hoffnung, seinen erwarteten Gast bei sich zu sehen, bereits gänzlich aufgegeben und deshalb diese einfache Erfrischung für sich und seine Kinder bestellt hätte.

»Sind Ihre Töchter wohl?« fragte der alte Martin und legte Hut und Stock ab.

Mr. Pecksniff bejahte schlicht und bemühte sich nach Kräften, die Innigkeit seiner väterlichen Gefühle zu verbergen. Sie seien gute Mädchen, sagte er – sehr, sehr gute Mädchen. Er wage nicht, Mr. Chuzzlewit zu bitten, sich im Lehnstuhl niederzulassen, um der Zugluft der Türe auszuweichen, aus Furcht, seine Bitte als berechnende Höflichkeit mißdeutet zu sehen; – er wolle sich daher nur mit dem Hinweis begnügen, daß ein bequemer Stuhl im Zimmer stehe und die Türe nichts weniger als luftdicht sei – letzteres eine Unvollkommenheit, die, wie er vielleicht beizufügen so frei sein dürfe, in alten Häusern keineswegs selten vorkomme.

Der alte Mann setzte sich in den Lehnstuhl und begann nach einer kurzen Pause:

»Zuvörderst muß ich Ihnen danken, daß Sie auf meine fast gar nicht motivierte Bitte so bereitwillig nach London kamen – ich brauche wohl kaum zu bemerken: natürlich auf meine Kosten.«

»Auf Ihre Kosten, mein werter Herr?!« rief Mr. Pecksniff im Tone größter Überraschung.

»Ich bin nicht gewohnt,« versetzte Martin, ungeduldig mit der Hand abwinkend, »meine – nun ja, meine Verwandten – in Unkosten zu stürzen, wenn es sich um Befriedigung meiner Grillen handelt.«

»Grillen, mein werter Herr?!« rief Mr. Pecksniff.

»Im gegenwärtigen Falle habe ich allerdings kaum das passende Wort gewählt«, gab der alte Herr zu. »Nein, Sie haben recht.«

Mr. Pecksniff fühlte sich durch diese Worte, ohne eigentlich zu wissen, warum, innerlich sehr beruhigt.

»Sie haben recht«, wiederholte Martin. »Es ist keine Grille. Ich habe mir vorher alles reichlich und kaltblütig überlegt, und daher kann man es nicht ›Grille‹ nennen. Und außerdem neige ich überhaupt ganz und gar nicht zu Grillen.«

»Gewiß nicht«, versicherte Mr. Pecksniff.

»Wie können Sie das wissen?!« fuhr der alte Herr auf. »Sie werden es erst in Zukunft erfahren und mir künftighin bezeugen können. Sie und die Ihrigen sollen erst sehen, daß ich beharrlich sein kann und mir mein Ziel nicht verrücken lasse. – Verstehen Sie?«

»Vollkommen«, antwortete Mr. Pecksniff.

»Ich bedaure lebhaft«, nahm Martin in langsamem und gemessenem Tone seine Rede wieder auf und faßte dabei Mr. Pecksniff fest ins Auge, »ich bedaure lebhaft, daß bei unserm letzten Beisammensein eine so wenig erfreuliche Besprechung zwischen uns stattfand, das heißt, daß ich Ihnen so unverhohlen enthüllte, was ich damals von Ihnen dachte. Meine jetzige Gesinnung ist wesentlich anders, und ich nehme zu Ihnen meine Zuflucht, nachdem ich von allen, denen ich jemals über den Weg getraut, verlassen, und von denen, die mir Hilfe und Beistand leisten sollten, getäuscht und ausgebeutet wurde. Ich zähle auf Sie als auf einen Verbündeten, den ich durch die Bande seines eigenen Vorteils an mich zu knüpfen wünsche.« – Er legte einen großen Nachdruck auf diese Worte, obgleich ihn Mr. Pecksniff aufs angelegentlichste bat, dessen doch ja nicht zu erwähnen. – »Sie sollen mir helfen, die verdienten Strafen für Gemeinheit, Verstellung und Spitzbüberei, die man in schlimmster Weise an mir übte, über die Schuldigen zu verhängen.«

»Sie edler, hochherziger Mensch!« rief Mr. Pecksniff und ergriff voll Wärme die dargebotene Hand Mr. Chuzzlewits. »Und Sie bedauern, ungerechte Gedanken gegen mich gehegt zu haben – Sie mit Ihren grauen Haaren!?«

»Reue ist das natürliche Los grauer Haare«, entgegnete Martin, »und, wie wohl allen Menschen, ist der gebührende Anteil an dieser Erbschaft auch mir beschieden. – Doch genug davon. Es tut mir leid, so lange von Ihnen getrennt gewesen zu sein. Hätte ich Sie früher gekannt und so behandelt, wie Sie es verdienen, so wäre ich vielleicht ein glücklicher Mensch.«

Mr. Pecksniff sah zur Decke empor und faltete in stummer Begeisterung die Hände.

»Ich kenne Ihre Töchter noch nicht«, fing Martin nach einem kurzen Schweigen wieder an. »Gleichen sie Ihnen?«

»Die älteste hinsichtlich der Nase und die jüngere, was das Kinn betrifft, Mr. Chuzzlewit«, entgegnete der Witwer. »Ihre selige Mutter lebt in ihnen wieder auf.«

»Ich meine nicht äußerlich«, sagte der alte Mann, »moralisch – moralisch!«

»Darüber darf ich mir wohl kein Urteil anmaßen«, säuselte Mr. Pecksniff mit bescheidenem Lächeln, »ich kann nur sagen, ich habe mein Bestes getan, Sir.« »Ich möchte sie gerne sehen«, sagte Martin. »Sind sie in der Nähe?«

Allerdings waren sie in der Nähe, und zwar sehr in der Nähe; nämlich hinter dem Schlüsselloch! Nachdem Mr. Pecksniff sich die Zeichen seiner Ergriffenheit aus den Wimpern gewischt und den jungen Damen soviel Zeit gelassen hatte, um die Treppe hinauf zu huschen, öffnete er die Türe und rief mit sanfter Stimme in den Flur hinaus:

»Meine Herzblättchen, wo steckt ihr?«

»Hier, lieber Papa!« ließ sich aus der Ferne die Stimme von Miss Charitas vernehmen. »Komm doch mal ins Hinterzimmer herunter, meine Liebe«, flötete Mr. Pecksniff, »und bring auch deine Schwester mit!«

»Ja, lieber Papa«, antwortete Gratia und kam gleich darauf gehorsam und trällernd mit Charitas heruntergehüpft.

War das eine Bestürzung, als sie bei ihrem teuern Papa einen Fremden sitzen fanden! Und erst die stumme Überraschung, als er ihnen Mr. Chuzzlewit vorstellte und erklärte, er und Mr. Chuzzlewit seien jetzt Freunde und Mr. Chuzzlewit habe ihm soviel Liebes und Freundliches gesagt, daß es ihn im innersten Herzen ergriffen hätte. »Dem Himmel sei Dank dafür!« riefen sie wie aus einem Munde und fielen dem alten Herrn um den Hals. Mit unbeschreiblicher Glut und Zärtlichkeit hingen sie an seinem Nacken, gruppierten sich dann um seinen Stuhl und beugten sich über ihn, als gebe es fürderhin keine größere Erdenfreude mehr für sie, als ihm alle seine Wünsche an den Augen abzulesen und für den Rest seines Daseins alle die Liebe auf sein Haupt zu häufen, die er so lange – der liebe Trotzkopf! – von sich gewiesen.

Der alte Mann sah einigemal von der einen zur andern.

»Wie heißen sie?« fragte er, als Mr. Pecksniffs Auge – der bisher fromm zum Himmel aufgesehen wie ein verendender Schwan – dem seinen begegnete, »wie heißen sie?«

Mr. Pecksniff vertraute es ihm an und setzte – seine Verleumder würden natürlich wieder behauptet haben: mit Rücksicht auf testamentarische Gedanken, die dem alten Martin durch den Kopf gehen mochten – etwas hastig hinzu:

»Vielleicht, meine Kinder, würdet ihr gut tun, eure Namen auf ein Blatt Papier aufzuschreiben. Eure bescheidenen Autogramme sind zwar an sich bedeutungslos, aber die Liebe sieht nicht auf äußern Wert.«

»Die Liebe«, fiel der alte Mann ein, »wird sich an die lebenden Originale halten. Bemüht euch nicht, meine Kinder. Ich werde euch nicht so leicht vergessen, Charitas und Gratia, als daß es solcher Erinnerungszeichen bei mir bedürfte, Vetter!«

»Sir?« rief Mr. Pecksniff dienstfertig.

»Setzen Sie sich denn nie?«

»O ja – hin und wieder wohl, Sir«, antwortete Mr. Pecksniff, der die ganze Zeit über gestanden hatte.

»Haben Sie jetzt keine Lust dazu?«

»Wie mögen Sie nur fragen?« antwortete Mr. Pecksniff und ließ sich rasch auf einen Stuhl nieder. »Wo ich doch sehe, daß Sie es wünschen.«

»So sprechen Sie jetzt und meinen es auch gut«, sagte Martin; »aber ich fürchte, Sie wissen nicht, was es bedeutet, den Launen eines alten Mannes Rechnung zu tragen, seinen Liebhabereien oder Abneigungen Verständnis entgegenzubringen, sich seinen Vorurteilen zu fügen, allen seinen Wünschen zu willfahren, an seinem Argwohn und seiner Eifersucht Nachsicht zu üben und doch in seinem Dienste nicht zu erlahmen! Wenn ich bedenke, welche zahllosen Fehler ich besitze und wie hart ich noch vor kurzem über Sie geurteilt habe, so wage ich es kaum, auf Ihre Freundschaft Anspruch zu machen.«

»Mein lieber, wertgeschätzter Herr«, rief Mr. Pecksniff, »wie können Sie sich nur in einer für uns so schmerzlichen Weise äußern? – Was ist natürlicher, als daß Sie einen so verzeihlichen kleinen Mißgriff begehen mußten, wo Sie in jeder Hinsicht leider so triftigen Grund hatten, von Ihrer ganzen Umgebung stets das Schlechteste zu denken!?«

»Wahr«, seufzte Martin. »Sie verfahren sehr gelinde mit mir.«

»Wir haben immer gesagt – nämlich meine Mädchen und ich«, beteuerte Mr. Pecksniff mit steigender Zutraulichkeit, »daß wir uns nicht wundern dürften, mit feilen Seelen in einen Topf geworfen zu werden, wie beklagenswert es auch sei. Ihr erinnert euch doch, meine Lieben?« Oh, versteht sich, und wie genau! Wohl tausendmal war davon die Rede gewesen.

»Jedoch kein Wort der Klage kam über unsere Lippen. Nur hin und wieder sagten wir uns, daß am Ende doch die Wahrheit ans Licht kommt und die Tugend den Sieg davonträgt – wenn auch nicht immer. Ihr entsinnt euch doch noch, meine Kinder?«

Entsinnen? Wie konnte er nur zweifeln? »Liebster Papa, welch seltsame, unnötige Frage!«

»Und als ich«, hob Mr. Pecksniff mit noch größerer Anschmiegsamkeit wieder an, »als ich Sie in dem kleinen, anspruchslosen Dörfchen sah, wo wir so frei sind zu wohnen, sagte ich Ihnen bloß, mein teurer Herr, Sie seien hinsichtlich meiner Person im Irrtum; das war, glaube ich, alles.«

»Nein – nicht alles«, versetzte Martin, der eine lange Zeit dagesessen, die Stirn auf die Hand gestützt, und erst jetzt wieder aufsah. »Sie sagten noch viel mehr. Und das hat mir nebst andern Umständen, die mir zu Ohren kamen, die Augen geöffnet. Sie sprachen in sehr uneigennütziger Weise über – doch wozu seinen Namen nennen; Sie wissen schon, wen ich meine.«

Unruhe malte sich in Mr. Pecksniffs Zügen, während er seine fiebernden Hände zusammenpreßte und voll Unterwürfigkeit beteuerte:

»Ganz ohne selbstsüchtiges Motiv, Sir, ich kann Ihnen versichern.«

»Ich weiß es«, fiel ihm der alte Martin in seiner ruhigen Weise ins Wort, »ich bin überzeugt davon. Und ebenso uneigennützig war es von Ihnen, jene Schar von Harpyien von mir abzulenken und sich ihnen selbst zum Opfer hinzuwerfen. Die meisten anderen Menschen hätten ihnen sogar Vorschub geleistet, um sie sich in ihrer ganzen Raubgier entfalten zu lassen und mir den Kontrast mit dem eigenen Benehmen so recht vor Augen zu führen. Aber Sie fühlten für mich und zogen die Rotte von mir ab. Ich danke Ihnen dafür. Sie sehen, obgleich ich den Ort verlassen habe, so weiß ich doch, was hinter meinem Rücken vorging.«

»Sie setzen mich in Erstaunen, Sir!« rief Mr. Pecksniff – diesmal echt verblüfft. »Das, was mir von Ihrem Tun und Lassen zu Ohren kam, beschränkt sich jedoch nicht auf diese Punkte allein. Sie haben einen neuen Gast in Ihrem Hause –«

»Allerdings, Sir«, gab der Architekt zu; »es ist so.«

»Er muß es verlassen.«

»Um – um wieder zu Ihnen zu ziehen?« fragte Mr. Pecksniff mild mit tremolierendem Ton.

»Er soll sich ein Obdach suchen, wo er mag«, entgegnete der alte Mann. »Er hat Sie hintergangen.«

»Ich will nicht hoffen«, sagte Mr. Pecksniff hastig. »Nein, nein, ich kann das nicht glauben. Ich bin dem jungen Manne außerordentlich zugetan gewesen, und unmöglich kann sich’s jetzt herausstellen, daß er allen Anspruch auf meinen Schutz verwirkt hat. Hintergangen?! – Freilich, wenn er mich hintergangen hätte, mein teurer Mr. Chuzzlewit, so – so würde das allerdings entscheidend sein. Ich müßte es dann für meine Pflicht halten, mich auf der Stelle von ihm loszusagen.«

Der alte Mann blickte auf seine beiden schönen Karyatiden, namentlich aber auf Miss Gratia, der er sogar voll ins Gesicht sah, und mit weit größerem Interesse, als sich bisher in seinen Zügen ausgedrückt hatte. Dann begegnete er wieder Mr. Pecksniffs Auge und bemerkte ruhig:

»Sie wissen natürlich, daß er sich bereits seine künftige Gattin gewählt hat?«

»Gott im Himmel!« rief Mr. Pecksniff und strich sich mit einem entsetzten Blick auf seine Töchter das Haar möglichst steif in die Höhe.

»Das fängt ja furchtbar an!«

»Sie wissen also gar nichts davon?« forschte Martin.

»Aber er tat es doch hoffentlich nicht ohne Zustimmung seines Großvaters, mein teurer Herr? Ich beschwöre Sie bei der Ehre der menschlichen Natur, sagen Sie nein!«

»Dachte ich’s doch, daß er’s verschwiegen hat!« murmelte der alte Mann.

Der edle Unwille, der Mr. Pecksniff bei dieser schrecklichen Enthüllung ergriff, war nur mit dem auflodernden Zorne seiner Töchter zu vergleichen. Wie! So hatten sie also eine verkappte Schlange am heimischen Herde geborgen – ein Krokodil, das hinterlistigerweise bereits über seine Hand verfügt – einen Betrüger der menschlichen Gesellschaft – einen bankerotten Junggesellen, der unter falschen Vorspiegelungen mit der jungfräulichen Welt sein Spiel trieb? Und ach! Denken zu müssen, daß er in störrischem Ungehorsam den lieben, den ehrwürdigen alten Herrn gekränkt hatte, dessen Namen er trug – diesen freundlichen und zärtlichen Vormund, der ihm – von Mutter gar nicht zu sprechen – mehr als ein Vater gewesen war! Schrecklich, schrecklich! – Ihn mit Schmach und Schande aus dem Hause zu jagen, wäre noch eine viel zu sanfte Behandlung für ihn! Ließ sich ihm denn nicht noch etwas anderes antun? Hatte er nicht noch etwas verbrochen, das irgend Anlaß geben könnte, ihn den Gerichten zu überliefern? Wär‘ es denn möglich, daß die Gesetze des Landes an so wesentlichen Mängeln litten, um nicht einmal für solche Vergehungen eine Strafe bereit zu haben? Das Ungeheuer! Wie schändlich hatte es sie getäuscht!

»Es freut mich zu sehen, daß Sie so warm mit mir fühlen«, sagte der alte Mann und hob die Hand empor, um dem Strom ihres Grimmes Einhalt zu gebieten. »Ich will zwar nicht in Abrede stellen, daß mir Ihr Eifer Freude macht, aber betrachten wir die Sache jetzt für abgetan.«

»Nein, mein teurer Herr«, rief Mr. Pecksniff, »nicht für abgetan, bis ich nicht mein Haus von diesem Schandfleck gesäubert habe.«

»Das wird schon von selbst kommen«, beruhigte ihn der alte Mann. »Ich nehme an, es sei bereits geschehen.«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, bedankte sich Mr. Pecksniff und schüttelte seinem Vetter die Hand. »Ihr Vertrauen ehrt mich. Wirklich, ich versichere Ihnen, Sie können die Sache als erledigt ansehen.«

»Ich muß jetzt noch einen anderen Punkt zur Sprache bringen«, nahm Martin seinen Faden wieder auf, »in dem Sie mir hoffentlich auch Ihre Unterstützung nicht versagen werden. Erinnern Sie sich an Mary, Vetter?«

»Die junge Dame, meine Kinder, von der ich euch sagte, sie interessiere mich so außerordentlich«, erklärte Mr. Pecksniff. »Entschuldigen Sie, daß ich unterbrochen habe, Sir.« »Ich habe Ihnen, wie Sie sich erinnern werden, ihre Geschichte erzählt.«

»Ihr entsinnt euch, meine Lieben, daß ich zu euch gleichfalls davon gesprochen habe«, rief Mr. Pecksniff. »Törichte Mädchen, Mr. Chuzzlewit, ganz gerührt waren sie davon.«

»Ei, da sehe einer«, sagte Martin, augenscheinlich sehr vergnügt. »Und ich fürchtete schon, mit ihr lästig zu fallen und Sie bitten zu müssen, ihr um meinetwillen gewogen zu sein. Nun finde ich, daß Sie durchaus nichts gegen sie haben! Gut! Ihr braucht auch nicht eifersüchtig auf sie zu sein. Sie weiß, meine Lieben, daß sie von mir nichts zu erwarten hat.«

Die beiden Misses Pecksniff bezeugten murmelnd ihren Beifall über diese weise Maßregel und gaben ihrer herzlichen Teilnahme für den interessanten Gegenstand derselben Ausdruck.

»Wenn ich hätte voraussehen können, wie wir vier noch einmal miteinander stehen würden –« klagte der alte Mann gedankenvoll. »Doch das ist zu spät jetzt. Ihr würdet sie also liebreich aufnehmen und freundlich behandeln, ihr lieben Mädchen?«

Wo war die Waise, die die beiden Misses Pecksniff nicht zärtlich an ihren schwesterlichen Busen gedrückt hätten? Wenn aber nun gar diese Waise von einem Manne ihrer Obhut empfohlen wurde, über den sich jetzt ihre seit vielen Jahren aufgespeicherte Zärtlichkeit in Strömen ergoß, welch unerschöpflichen Vorrat reiner Zuneigung hatte sie da nicht von solchen freundschaftschmachtenden Herzen zu erwarten.

Es folgte eine längere Pause, während der Mr. Chuzzlewit stumm und in seltsamer Geistesabwesenheit den Boden anstarrte. Da er augenscheinlich in seinen Betrachtungen nicht unterbrochen zu werden wünschte, so verhielten sich Mr. Pecksniff und seine Töchter gleichfalls mäuschenstill. Im Laufe des ganzen vorhergegangenen Dialogs hatte er mit kalter, leidenschaftsloser Geläufigkeit gesprochen, als sage er eine schon hundertmal und sorgfältig einstudierte Rolle herunter; selbst wenn er die wärmsten Worte gebraucht hatte. Jetzt aber leuchtete sein Auge heller auf, und seine Stimme wurde ausdrucksvoller, als er, aus seinem gedankenvollen Brüten erwachend, fortfuhr: »Sie wissen aber doch, was man davon halten wird? Haben Sie sich das auch überlegt?«

»Von was halten wird, mein teurer Herr?« fragte Mr. Pecksniff.

»Von diesem plötzlichen Einvernehmen zwischen uns.«

Mr. Pecksniff nahm eine wohlwollend scharfsinnige Miene an, in der sich zu gleicher Zeit die Erhabenheit über alle irdische Mißdeutung aussprach, und gab nickend zu, daß ohne Zweifel unsäglich viel darüber gesprochen werden würde.

»Allerdings unsäglich viel«, wiederholte der alte Mann. »Man wird sagen, daß ich in meinem hohen Alter zu faseln anfange, daß mich meine Krankheit mürbe gemacht habe, daß alle Kraft des Geistes von mir gewichen und ich kindisch geworden sei. Werden Sie das ertragen können?«

Mr. Pecksniff gestand, es sei freilich eine schrecklich schwere Aufgabe, aber doch glaube er dazu fähig zu sein, wenn er seine ganze Kraft zusammennähme.

»Wieder andere werden sagen – ich spreche natürlich nur von dem Heer der Enttäuschten –, Sie hätten durch Lügen, Schmeicheleien und sonstige nichtswürdige Mittel sich meine Gunst erschlichen, hätten die heillosesten Zugeständnisse gemacht und ließen sich eine so herabwürdigende und entehrende Behandlung gefallen, daß nicht einmal die Schätze unseres halben Erdballes eine genügende Entschädigung dafür bieten könnten. Fällt Ihnen auch das nicht zu schwer?«

Mr. Pecksniff erwiderte, daß solche Nachreden freilich gleichfalls sehr hart zu ertragen wären, da sie gewissermaßen Mr. Chuzzlewits gesundes Urteil in Abrede stellten; er habe jedoch die bescheidene Selbstzuversicht, sich angesichts seines guten Gewissens und der Freundschaft des alten Herrn sogar über derartige Schmähungen hinwegsetzen zu können.

»Der große Haufe der Lästerzungen und Verleumder«, fuhr der alte Martin fort und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, »wird, wie ich klar voraussehe, die Sache so auffassen: ich hätte, um dem erbärmlichen Gesindel meine Verachtung recht augenfällig kund zu tun, aus seiner Mitte den Allerelendesten ausersehen, ihn zu meinem willfährigen Sklaven gemacht und ihn auf Kosten aller übrigen Verwandten bereichert. Nachdem ich mich lange nach Züchtigungsmitteln umgesehen, die die Herzen dieser Aasgeier am tiefsten verwundeten, hätte ich diesen Plan in einem Zeitpunkt entworfen, als das letzte Kettenglied, das mich noch an mein Geschlecht gefesselt, mit roher Hand zerrissen wurde, mit roher Hand, sage ich – denn ich hing an Martin –, mit roher Hand, denn ich hatte immer auf seine Anhänglichkeit gebaut, mit roher Hand, da er das Band zerriß, als ich – so wahr mir Gott helfe – am zärtlichsten für ihn sorgen wollte, und mich gefühllos von sich stieß, während ich noch mit ganzer Seele an ihm hing! Nun«, setzte der alte Mann hinzu, den leidenschaftlichen Ausbruch seiner Gefühle ebenso schnell unterdrückend, als er sich ihm hingegeben, »sind Sie entschlossen, auch dies über sich ergehen zu lassen? Machen Sie sich darauf gefaßt, daß Sie es zu ertragen haben werden, und bauen Sie nicht darauf, daß ich mich Ihrer annehme.«

»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, rief Mr. Pecksniff, von Begeisterung überwältigt, »für einen Mann, wie Sie sich heute gezeigt haben – für einen Mann, der so tief gekränkt und doch so voll Menschenliebe ist – für einen, ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll – für einen zu gleicher Zeit so außerordentlichen Mann – ja, ich hoffe, es ist keine Anmaßung, wenn ich sage – und ich bin überzeugt, meine Kinder sind ganz meiner Ansicht (nicht wahr, meine Lieben, wir stimmen hierin vollkommen überein?) – für – für einen Mann, wie er mir immer als Ideal vorgeschwebt, könnte ich alles ertragen!«

»Gut«, sagte Martin. »Mir dürfen Sie also wegen der Folgen keine Vorwürfe machen! – – Wann kehren Sie nach Hause zurück?«

»Sobald es Ihnen beliebt, mein wertgeschätzter Herr. Heute abend noch, wenn Sie es verlangen.«

»Ich verlange nichts«, erwiderte der Alte. »Eine solche Forderung wäre unbillig. Paßt es Ihnen Ende dieser Woche?«

– Zu dieser Zeit gerade am allerbesten, würde Mr. Pecksniff versichert haben, wenn ihm nicht seine Töchter mit dem Ausruf zuvorgekommen wären: »Wir wollen also Samstag aufbrechen, liebster Papa.« – »Und Ihre Auslagen, Vetter«, sagte Martin und zog einen zusammengelegten Papierstreifen aus seiner Brieftasche, »übersteigen vielleicht diese Summe. Wenn dem so ist, so lassen Sie mich, was ich Ihnen noch schulde, bei unserer nächsten Zusammenkunft wissen. Es wäre zwecklos, wenn ich Ihnen meinen gegenwärtigen Aufenthalt angeben wollte, da ich mich nirgends lange aufhalte. Sollte es doch nächstens einmal der Fall sein, so werde ich es Sie wissen lassen. Sie und Ihre Töchter werden mich in Bälde zu sehen bekommen; auch brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen, daß hinsichtlich des Vorgefallenen strengste Verschwiegenheit herrschen muß. Was Sie zu tun haben, wenn Sie nach Hause kommen, ist bereits zwischen uns abgemacht. Sie brauchen mir darüber nicht zu berichten, auch später die Sache unter keinen Umständen weiter zu erwähnen. Ich muß mir diese Gunst von Ihnen erbitten. Ich bin kein Freund von vielen Worten, Vetter, und alles Nötige ist, glaube ich, bereits besprochen.«

»Nehmen Sie doch ein Glas Wein – einen Bissen von diesem hausgebackenen Kuchen!« rief Mr. Pecksniff, bemüht, den alten Herrn nach Kräften zurückzuhalten. »Meine Lieben – –«

– Die Schwestern flogen nur so, um ihn zu bedienen. –

»Die armen Mädchen!« klagte Mr. Pecksniff. »Sie müssen ihre Aufregung entschuldigen, mein werter Herr, denn sie sind durch und durch Empfindung. Eine schlimme Mitgift, um damit durch die Welt zu kommen, Mr. Chuzzlewit! Meine jüngste Tochter ist fast schon so sehr Weib wie die ältere – finden Sie nicht auch, Sir?«

»Welche ist die jüngere?« fragte der alte Mann.

»Gratia – um fünf Jahre. Wir wagen bisweilen, sie ziemlich hübsch gewachsen zu finden, Sir. Als Künstler zu sprechen, ist mir vielleicht zu bemerken erlaubt, daß ihre Umrisse anmutig und korrekt sind. Natürlich«, setzte Mr. Pecksniff hinzu, trocknete sich den Angstschweiß mit seinem Taschentuch von den Händen und sah fast bei jedem Worte seinem Vetter aufmerksam besorgt ins Gesicht – »natürlich bin ich stolz darauf – wenn ich mich dieses Ausdruckes bedienen darf –, eine Tochter zu besitzen, die nach den besten Modellen konstruiert ist.«

»Sie scheint ein lebhaftes Temperament zu haben«, warf Martin hin. »Bei Gott!« rief Mr. Pecksniff, »Wie außerordentlich merkwürdig! Sie haben ihren Charakter getroffen, mein werter Herr, als ob Sie sie von ihrer Geburt an gekannt hätten. – Freilich hat sie ein lebhaftes Temperament. Ich versichere Ihnen, mein werter Herr, in unserer anspruchslosen Heimat ist ihr Frohsinn fast sprichwörtlich.«

»Ich zweifle nicht im mindesten daran«, entgegnete der alte Mann.

»Andererseits zeichnet sich Charitas durch hellen Verstand und Gemütstiefe aus, wenn eine solche Beurteilung aus dem Munde eines Vaters nicht parteiisch klingt. Es herrscht eine wunderbare Harmonie unter ihnen, mein teurer Herr! Erlauben Sie mir, auf Ihre Gesundheit zu trinken. Gottes Segen über Sie!«

»Ich hätte mir’s vor einem Monat nicht träumen lassen«, murmelte Martin, »daß ich noch einmal mit Ihnen Brot und Wein genießen würde. – Auf Ihr Wohl!«

Nicht weiter durch die ungewöhnliche Schroffheit, mit der die letzten Worte gesprochen wurden, betroffen, drückte Mr. Pecksniff Martin seinen tiefstgefühlten Dank aus.

»Jetzt lassen Sie mich aber gehen«, sagte der Alte und stellte das Weinglas wieder nieder, das er kaum mit den Lippen berührt hatte. »Meine Lieben, guten Morgen!«

Dieses kühle Lebewohl war nicht zärtlich genug für die sehnsuchtsvollen Herzen der jungen Damen, und immer wieder und wieder umarmten sie den alten Herrn mit großer Innigkeit. Weit gutmütiger, als man von ihm hätte erwarten können, fügte dieser sich in ihre Liebkosungen, trotzdem er kaum einen Augenblick früher ihren Vater so wenig gefühlvoll abgefertigt hatte.

Nach glücklicher Beendigung der Zeremonie nahm Mr. Chuzzlewit hastig Abschied und entfernte sich, während ihn Vater und Töchter zur Haustüre begleiteten, dort stehen blieben und ihm, von Liebe überströmend, Kußhändchen nachwarfen, bis er außer Sicht war, trotzdem er sich befremdlicherweise kein einziges Mal umdrehte.

Als sie alle wieder in Mrs. Todgers‘ Zimmer versammelt waren, entwickelten die beiden jungen Damen eine ungewöhnliche Heiterkeit, klatschten in die Hände und lachten mit schelmischen Mienen und neckischen Gebärden ihren teuern Papa an. Dieses Benehmen war so unerklärlich, daß Mr. Pecksniff, der stets sehr ernster Natur war, nicht umhin konnte, ihnen wegen ihres leichtfertigen Sichgehenlassens in seiner milden Weise die entsprechenden Vorwürfe zu machen.

»Wenn ich mir nur den entferntesten Grund für solche Lustigkeit denken könnte«, sagte er, »so würde ich euch nicht tadeln. So aber, wo nicht der geringste Anlaß dazu ist – – nein, wahrhaftig – wahrhaftig – –!«

Diese Ermahnung machte leider so wenig Eindruck auf Gratia, daß sie sich in ihrem Sessel zurückwerfen und das Taschentuch vor ihre rosigen Lippen halten mußte, um nicht vor Lachen loszubrechen. Ein solcher Mangel an kindlicher Achtung mußte Mr. Pecksniff naturgemäß kränken, und eben wollte er eine angemessene Standrede halten und den väterlichen Rat hinzufügen, sie möge sich durch Selbstbetrachtung in der Einsamkeit zu bessern suchen, als ihn der Lärm streitender Stimmen aus dem Nebenzimmer unterbrach.

»Mir ganz wurst, Mrs. Todgers«, hörte man den jungen Herrn sagen, der am Tage des Banketts der jüngste unter den Gentlemen gewesen war. »Kümmert mich auch nicht so viel« – er schnappte dabei mit den Fingern – »der – der Jinkins, Madam! Glauben Sie mir das!«

»Ich bin vollkommen davon überzeugt, Sir«, versetzte Mrs. Todgers. »Ich weiß, Sie haben einen zu unabhängigen Charakter, um irgend jemandem nachzugeben. Und zwar mit Recht. Es ist kein Grund vorhanden, warum Sie irgendeinem Gentleman nachstehen sollten – das muß jedermann einsehen.«

»Ich würde mir so wenig daraus machen, das Tageslicht dem Kerl durch den Leib scheinen zu lassen«, rief der »jüngste Gentleman« außer sich vor Empörung, »wie einem Bullenbeißer.«

Mrs. Todgers hielt sich nicht lange mit der Erörterung der Frage auf, warum gerade ein Bullenbeißer den Gipfel der Wurstigkeit bei einem solchen Prozeß darstelle, sondern rang nur stöhnend die Hände.

»Er soll sich in acht nehmen«, zischte der jüngste Gentleman. »Ich warne ihn. Niemand soll es wagen, sich zwischen mich und den Strom meiner Rache zu werfen! Ich kenne einen – ›Kerl‹ –« versprach er sich in seiner Aufregung, verbesserte sich aber rasch, »einen vermögenden Gentleman, will ich sagen, der ein paar Pistolen besitzt. Wenn man mich so weit treibt, mir sie von ihm auszuborgen und Jinkins einen ›unangenehmen Herrn‹ zu schicken, so kriegen die Zeitungen ein Trauerspiel zu berichten. Weiter sage ich nichts.«

Mrs. Todgers stöhnte abermals.

»Ich hab‘ lange genug zugesehen«, fuhr der jüngste Gentleman fort, »aber jetzt empört sich alles in mir dagegen, und ich halte es nicht länger aus. Ich habe meinem Vaterhaus den Rücken gekehrt, weil sich etwas in mir dagegen auflehnte, mich von meiner Schwester herumkommandieren zu lassen, und glauben Sie vielleicht, ich werde mir hier von diesem Kerl auf den Kopf spucken lassen? O nein.«

»Es ist sehr unrecht von Mr. Jinkins – ich gebe zu, es ist geradezu unentschuldbar von Mr. Jinkins, wenn er wirklich so etwas beabsichtigt – –« wollte Mrs. Todgers zu besänftigen anfangen.

»Wenn er so etwas beabsichtigt?« rief der jüngste Gentleman. »Unterbricht er mich und widerspricht er mir vielleicht nicht bei jeder Gelegenheit? Versäumt er je, zwischen mich und die Gegenstände oder Personen zu treten, von denen er sieht, daß ich mein Auge auf sie geworfen habe? Tut er nicht immer, als habe er mich nur vergessen, wenn er das Bier verteilt? Renommiert er vielleicht nicht immer mit seinem Rasiermesser und läßt er nicht kränkende Bemerkungen über Leute fallen, bei denen es angeblich ein Radiergummi täte? Er soll nur zusehen, daß er sich nicht eines schönen Tages glatter rasiert findet, als ihm lieb ist. Das sage ich ihm ins Gesicht!«

Hinsichtlich des Schlußsatzes war nun allerdings der junge Gentleman ein wenig im Irrtum, sintemalen er nie etwas zu Mr. Jinkins persönlich sagte, sondern es immer nur hintenherum durch Mrs. Todgers sagen ließ.

»Indes«, fuhr er fort, »sind das keine geeigneten Themen für Frauenohren. Ich habe Ihnen jetzt weiter nichts mehr zu sagen, Mrs. Todgers, als daß ich für Samstag über acht Tage Kost und Quartier gekündigt sehen will. Ich kann nicht länger dieselbe Luft mit diesem Elenden atmen. Wenn’s in der Zwischenzeit ohne Blutvergießen abläuft, so können Sie sich glücklich schätzen; ich glaube es aber kaum.«

»Ach Gott, ach Gott«, jammerte Mrs. Todgers, »was gäb ich drum, wenn ich’s hätte verhindern können! In Ihnen verliert das Haus seine rechte Hand. Sie sind so beliebt bei den Herren! Alles hat Sie gern und richtet sich nach Ihnen! Ich hoffe, Sie besinnen sich noch eines Besseren, und wenn’s schon nicht der andern wegen ist, so tun Sie’s doch um meinetwillen!«

»Sie haben ja den Jinkins«, schmollte der jüngste Gentleman. »Ihren Liebling. Er wird Sie und die Herren für den Verlust von zwanzig solchen Kostgängern, wie ich bin, zu trösten wissen. – Man versteht mich in diesem Hause nicht – hat mich nie verstanden.«

»Scheiden Sie nicht in dieser Meinung von mir, Sir«, rief Mrs. Todgers mit edlem Unwillen. »Sie dürfen meiner Anstalt so etwas nicht nachsagen! So schlimm ist’s noch nicht, Sir. Gegen die Herren oder mich können Sie äußern, was Sie wollen, nur sagen Sie nicht, daß man Sie in diesem Hause nicht verstanden hat!«

»Wenigstens hat man mich nicht danach behandelt«, lenkte der jüngste Gentleman ein.

»Da sind Sie gewaltig im Irrtum«, protestierte Mrs. Todgers eifrig. »Ich und viele von den Herren haben oft gesagt, Sie sind zu sensüdiv; da sitzt der Haken. Sie haben eine zu empfindsame Natur, sind zu seelenvoll.«

Der »jüngste Gentleman« hustete.

»Und was – was Mr. Jinkins betrifft, wenn es denn wirklich bei der Aufkündigung bleiben soll, so mögen Sie wissen, daß ich ihm durchaus keine Brücke nicht trete. Keine Spur von einer Idee! Es wär mir sogar recht lieb, wenn Mr. Jinkins in diesem Edablissemang einen weniger hohen Ton annehmen möchte und nicht immer Anlaß zu Mißhelligkeiten zwischen mir und den Herren geben, die ich weit lieber an meinem Tisch hab als ihn. – Mr. Jinkins ist kein Kostgänger nicht danach, Sir«, fügte sie hinzu, »daß man alle Rücksichten des Gefühls und der Achtung seinetwegen beiseite lassen könnt – ganz im Gegenteil, das sag ich Ihnen.«

Der junge Gentleman wurde durch diese und ähnliche Vorstellungen schließlich so butterweich, daß am Ende Mrs. Todgers die Gekränkte war und er der Schuldige; – letzteres allerdings nicht im bösen Sinne, denn die wackere Frau hielt seine Grausamkeit seinem exaltierten Naturell zugute. Er nahm daher zuletzt seine Aufkündigung wieder zurück, versicherte Mrs. Todgers seiner unwandelbaren Hochachtung und ging wieder an seine Geschäfte.

»Ach, du mein Gott, Misses Pecksniff!« sagte Mrs. Todgers, als sie in das Hinterstübchen trat, sich erschöpft niedersetzte und dabei ihren Korb auf die Knie stellte und die Hände darüber faltete, »was für eine Geduld dazu gehört, solch ein Haus zu halten! Sie müssen doch gehört haben, was sich da wieder getan hat. – Ist so was schon dagewesen?!«

»Nie!« versicherten die beiden Misses Pecksniff.

»Von all den lächerlichen jungen Leuten, mit denen ich schon zu tun gehabt hab, ist das der allerlächerlichste und unvernünftigste. Mr. Jinkins ist manchmal ein bißchen von oben herunter mit ihm, aber noch lang nicht so von oben herunter, wie er es verdient. Einen Gentleman wie Mr. Jinkins nur in einem Atem mit ihm zu nennen – wissen Sie, das ist zuviel! Und doch ist er immer so eifersüchtig auf ihn, als ob er seinesgleichen wär – Gott im Himmel!«

Die jungen Damen waren von Mrs. Todgers‘ Bericht höchlichst ergötzt und nicht minder von gewissen Anekdoten, mit denen sie den Charakter des »jüngsten Gentlemans« näher zu beleuchten fortfuhr. Nur Mr. Pecksniff machte eine sehr ernste und indignierte Miene, und als sie fertig war, sagte er mit feierlicher Stimme:

»Bitte, Mrs. Todgers, wenn ich fragen darf – wieviel steuert dieser junge Gentleman zur Unterhaltung der Anstalt bei?«

»Je nun, Sir, für das, was er braucht, zahlt er ungefähr achtzehn Schilling wöchentlich.«

»Achtzehn Schillinge wöchentlich?« wiederholte Mr. Pecksniff. – »Eins zum andern gerechnet, wird’s so ziemlich auf das hinauslaufen«, meinte Mrs. Todgers.

Mr. Pecksniff stand von seinem Stuhle auf, verschränkte die Arme, sah die Pensionsinhaberin vorwurfsvoll an und schüttelte das Haupt.

»Und ist das wirklich Ihr Ernst, Madam – ist’s möglich, Mrs. Todgers, daß eine Frau von ihrem Verstand sich wegen der erbärmlichen Rücksicht auf wöchentlich achtzehn Schillinge auch nur einen Augenblick so weit erniedrigen kann, sich der Achselträgerei hinzugeben?«

»Ich muß halt mein Zeug nach Kräften in Ordnung halten, Sir«, stotterte Mrs. Todgers. »Ich muß für den Frieden Sorge tragen und es mir womöglich mit meinen Konnexionen nicht verschütten, Mr. Pecksniff. Der Profit ist sehr gering.«

»Der Profit?« rief der Treffliche, einen großen Nachdruck auf dieses Wort legend. »Der Profit, Mrs. Todgers? Sie setzen mich in Erstaunen!« Er machte dabei ein so strenges Gesicht, daß Mrs. Todgers die Tränen in die Augen traten.

»Der Profit!« wiederholte Mr. Pecksniff. »Ein Profit durch Heuchelei erkauft! Das goldene Kalb des Baal anzubeten um achtzehn Schillinge wöchentlich!«

»Beurteilen Sie mich im Bewußtsein Ihrer eignen Tugendhaftigkeit nicht zu hart, Mr. Pecksniff«, rief Mrs. Todgers und zog ihr Taschentuch heraus.

»O Kalb, Kalb!« seufzte Mr. Pecksniff wehmütig. »O Baal, Baal! O meine Freundin Todgers! Die Selbstachtung, dieses köstliche Juwel, wegzuwerfen und vor einem sterblichen Wesen im Staube zu kriechen für achtzehn Schillinge wöchentlich!«

Diese Reflexion wirkte so niederschmetternd auf ihn, daß er unverzüglich im Flur draußen seinen Hut vom Haken herunternahm und einen Spaziergang machte, um sein Gemüt zu beruhigen. Und wer ihm auf der Straße begegnete, mußte auf den ersten Blick den Gerechten in ihm erkennen, so sehr hob sich seine Brust im Bewußtsein der Sittenpredigt, die er soeben Mrs. Todgers gehalten.

Achtzehn Schillinge wöchentlich! Gerecht, höchst gerecht, edler Pecksniff, war dein Tadel! Hätte es sich allenfalls um einen Orden gehandelt, um das anerkennende Lächeln eines großen Mannes, um einen Sitz im Parlament, um den Schlag eines adelnden Schwertes auf die Schulter, um eine hohe Stelle, eine gute Partie, allenfalls um achtzehntausend oder auch nur um achtzehnhundert Pfund; – ja dann! – Aber das goldene Kalb für achtzehn Schillinge wöchentlich anzubeten! O Jammer, Jammer!

Läden und deren Inhaber


Läden und deren Inhaber

Welch unerschöpflichen Stoff für Betrachtungen bieten die Straßen der Hauptstadt! Mit Recht bemitleidete Sterne den Mann, der von Dan nach Berseba reisen und sprechen konnte, es sei alles wüst; noch zehnmal bemitleidenswerter aber ist der, der Hut und Stock nehmen, von Covent-Garden nach dem St.-Pauls-Kirchhof und wieder zurückwandern kann, ohne seiner Wanderung Unterhaltung – wir hätten fast gesagt: Belehrung – zu verdanken. Und doch gibt es so Stumpfsinnige; wir begegnen ihnen tagtäglich. Hohe schwarze Halsbinden und helle Westen, zierliche Spazierstöcke und mißvergnügte Mienen sind die besonderen Merkzeichen ihres Geschlechts. Andere eilen rasch an uns vorüber, sei es, daß sie heute wie gestern und alle Tage ihre Geschäfte verfolgen oder frohsinnig dem Vergnügen nachjagen. Jene aber schlendern achtlos dahin und sehen so heiter und belebt aus wie Polizisten im Dienst. Nichts scheint einen Eindruck bei ihnen hervorzubringen; nichts Geringeres stört ihren Gleichmut, als wenn sie von einem Lastträger niedergerannt oder, von einer Droschke überfahren werden.

Du wirst ihnen an einem schönen Tag in jeder Hauptstraße begegnen; erblickst sie bei ihrem einzigen Lebensgenuß, wenn du abends durch das Fenster in einen Zigarrenladen im Westend hineinschaust, sofern es dir gelingt, einen Blick zwischen den blauen Vorhängen hindurch zu gewinnen, die dem Hineingaffen des Pöbels zu wehren bestimmt sind. Da sind sie zu schauen in der Würde gewaltiger Knebelbärte und ebenso mächtiger Uhrgehänge. Sie ruhen in den nachlässigsten Stellungen oder stolzieren gravitätisch auf und ab oder flüstern süßen Unsinn der jungen geputzten Dame mit den großen Ohrringen in das Ohr, die, in einem Meer von Anbetung und Gaslicht hinter dem Ladentische sitzend, die Bewunderung aller Mägde der Nachbarschaft ist und von allen jungen Putzmacherei-Aspirantinnen innerhalb eines Umkreises von zwei Meilen glühend beneidet wird.

Eine unserer Hauptergötzlichkeiten besteht darin, die Schicksale – Erhebung oder Fall – von Läden zu beobachten. Wir haben uns eine genaue Bekanntschaft mit mehreren in verschiedenen Stadtteilen erworben und besitzen eine gründliche Kenntnis ihrer ganzen Geschichte. Wir könnten sogleich wenigstens zwanzig hersagen, bei denen wir vollkommen gewiß sind, daß sie seit den letzten sechs Jahren keine Steuer bezahlt haben. Sie wechseln spätestens nach je zwei Monaten die Besitzer und haben, wir sind davon überzeugt, in ihrem Umfange sämtliche Zweige des Kleinhandels gesehen.

Unter ihnen ist einer, dessen Geschichte auch die der anderen veranschaulicht und bei dessen Schicksalen wir eine ganz besondere Teilnahme empfanden, da wir das Vergnügen hatten, ihn seit seiner Entstehung gekannt zu haben. Er befindet sich im jenseitigen, dem Surrey-Stadtteile, ein wenig über Marshgate hinaus, und war ursprünglich ein recht artiges, gut aussehendes Privathaus. Der Besitzer geriet in Verlegenheit und das Haus in die Hände der Gläubiger; der Besitzer entlief und das Haus verfiel. Zu dieser Zeit begann unsere Bekanntschaft mit ihm. Der ganze Verputz war heruntergefallen, kein Fenster ohne zerbrochene Scheiben, der Vorplatz teils mit Gras bewachsen und teils eine Lache vom Überlaufen der Wassertonne und diese ohne Deckel, und die Haustür ein wahrhaftes Bild des Elends. Der Hauptzeitvertreib der Kinder der Nachbarschaft hatte darin bestanden, sich in Haufen auf den Türschwellen zu versammeln und, zum großen Behagen der Nächstwohnenden überhaupt und der nervenschwachen Dame gegenüber insbesondere, unaufhörliche Klopfübungen aller Art anzustellen. Es hatte nicht an zahlreichen Beschwerden gefehlt; Becken mit Wasser waren über die Köpfe der kleinen Übeltäter geleert worden – doch ohne Erfolg. Diese Lage der Dinge bewog den Trödler an der Straßenecke, auf die verbindlichste Weise den Klopfer herunterzunehmen und zu verkaufen; und das unglückliche Haus sah trübseliger aus als jemals.

Wir verloren es während einiger Wochen aus den Augen. Wer schildert unser Erstaunen, als wir nach Ablauf dieser Zeit keine Spur seines Daseins mehr fanden? Wir erblickten an seiner Stelle einen stattlichen, der Vollendung sich nähernden Laden, und an den Fenstern riesenhafte Anschläge, die dem Publikum verkündigten, daß jener baldigst eröffnet werden würde mit einer »umfassenden Auswahl von Ellenwaren«. Er wurde eröffnet; der Name des Eigentümers »und Co.« glänzte in goldenen Lettern fast zu blendend, um ihn anschauen zu können. Welche Bänder und Schals! Und zwei so elegante junge Leute hinter dem Ladentische, mit schneeigen Hemdkragen und Halstüchern, wie die Liebhaber in einer Posse! Was den Prinzipal betrifft, so tat er gar nichts, als daß er im Laden umherspazierte, den Damen Stühle reichte und wichtige Gespräche mit dem schönsten der jungen Herren führte, in dem die scharfsinnigsten Nachbarn den »und Co.« vermuteten. Wir sahen dieses alles mit Kummer an; denn eine böse Ahnung erfüllte uns, daß der Laden zugrunde gehen würde – und sie traf ein. Sein Verfall war langsam, aber sicher. Zuerst zeigten sich die »herabgesetzten« und dann die »bedeutend herabgesetzten Preise« in den Fenstern; sodann wurden Flanellstücke mit Ausverkaufspreiszetteln draußen vor die Tür gestellt; hierauf las man auf einem Anschlage, daß das erste Stockwerk ohne Möbel zu vermieten sei. Einer der jungen Herren verschwand gänzlich, der andere vertauschte die weiße mit einer schwarzen Halsbinde, und der Prinzipal vertauschte den Laden mit dem Weinhause. Der Laden wurde unsauber, zerbrochene Fensterscheiben wurden nicht durch neue ersetzt, und die »umfassende Auswahl von Ellenwaren« verschwand ein Stück nach dem andern. Endlich erschien der Wassersteuererheber, um die Leitung abzusperren, und nunmehr verschwand auch der Prinzipal und ließ dem Hauswirte seine Empfehlung und den Hausschlüssel zurück.

Der zweite Inhaber war ein Papier- und Kunsthändler. Der Laden war bescheidener eingerichtet, aber doch noch immer nett; allein, wenn wir vorübergingen, konnten wir uns niemals des Gedankens erwehren, daß es mit dem Geschäfte schlecht und bedenklich stehe. Wir wünschten ihm guten Fortgang, fürchteten aber für den Ausgang. Der Geschäftsinhaber mußte ein Witwer und anderwärts irgendwie angestellt sein, denn er begegnete uns alle Morgen auf dem Wege in die City. Das Geschäft wurde von seiner ältesten Tochter besorgt. Die Arme! Sie bedurfte keines Beistandes. Wir sahen bisweilen im Vorübergehen zwei oder drei Kinder, in Trauer wie sie selbst, in dem kleinen Zimmer hinter dem Laden sitzen; und gingen wir abends vorüber, so war sie stets mit Nähereien für die Geschwister oder mit kleinen eleganten Arbeiten zum Verkauf beschäftigt. Ihr blasses Antlitz sah dann bei der matten Erleuchtung noch trauriger und nachdenklicher aus, und wir dachten oft, wenn jene vornehmen gedankenlosen Frauen, die armen Mädchen wie dieser Kunsthändlerstochter den Markt verderben, das Elend, die bitteren Entbehrungen nur zur Hälfte kennten, denen diese bei ihren ehrenwerten Bemühungen um einen dürftigen Lebensunterhalt unterworfen sind: sie würden vielleicht sogar lieber die Gelegenheiten vorübergehen lassen, ihre Eitelkeit zu befriedigen, und die unweibliche Sucht, sich zur Schau zu stellen, bezähmen,15 als jene Unglücklichen zu einem letzten schrecklichen Rettungsmittel zu drängen, das nur nennen zu hören das Zartgefühl dieser mitleidigen und wohltätigen Frauen auf das äußerste verletzen würde.

Doch wir vergessen den Laden, den wir fortfuhren zu beobachten und der mit jedem Tage die zunehmende Dürftigkeit des Inhabers deutlicher enthüllte. Es ist wahr, die Kinder sahen reinlich aus, allein ihre Kleidung war höchst ärmlich. Für das obere Stockwerk hatte sich, worauf der Kunsthändler doch sicherlich sehr gerechnet hatte, kein Mieter gefunden, und eine langsam zehrende Krankheit machte es der ältesten Tochter unmöglich, ihre Anstrengungen fortzusetzen. Das Vierteljahr ging zu Ende. Der Hausbesitzer hatte durch den Leichtsinn oder die Prunksucht des vorigen Ladeninhabers gelitten und kein Mitleid mit dessen so redlich als mühsam fortstrebendem Nachfolger. Er erwirkte einen Pfändungsbefehl. Als wir eines Morgens vorübergingen, wurde eben das wenige Hab und Gut des unglücklichen Mieters fortgetragen und ein neuer Anschlag verkündete, daß das Haus abermals zu vermieten sei. Wir haben nicht in Erfahrung bringen können, was aus dem Kunsthändler geworden, glauben aber, daß die Tochter allem Erdenleid entronnen ist. Gott sei mit ihr! Wir hoffen, daß wir nicht irren.

Wir waren neugierig, auf welche Stufe der Laden nunmehr hinuntersinken würde – denn daß er sich nicht wieder heben würde, war offenbar genug. Der Anschlag verschwand, und im Innern wurden Veränderungen vorgenommen. Er wurde eröffnet, und wir wunderten uns, daß wir nicht sogleich auf das Rechte geraten hatten. Der – in seinen besten Zeiten nicht eben große – Laden war in zwei, nur durch eine dünne, mit buntem Papier beklebte Bretterwand getrennte Läden verwandelt worden, einen für eine Hutformmacherin, und einen andern für einen Tabakshändler, der zugleich Spazierstöcke führte und Sonntagsblätter verkaufte.

Der Tabakshändler blieb länger im Besitze des Ladens als seine beiden Vorgänger. Er war ein rotgesichtiger, kecker, unverschämter Gesell, gewohnt, die Dinge zu nehmen, wie sie eben lagen, und die beste Miene zum bösesten Spiele zu machen. Er verkaufte so viele Zigarren, als er konnte, und rauchte die übrigen selbst. Er hielt sich in seinem Laden, solange er den Hauswirt beschwichtigen konnte, und als ihm der endlich keine Ruhe mehr ließ, verschloß er kaltblütig die Tür und ging ganz ruhig davon. Von dem Tage an haben die beiden kleinen Ladenhöhlen unzählige Wechsel erfahren. Dem Tabakshändler folgte ein Theaterfriseur, der sein Fenster mit einer großen Auswahl von »Charakteren« und »schrecklichen Kämpfen« verzierte.16 Die Hutformbildnerin machte einem Gewürzkrämer Platz, und der Theaterfriseur einem Schneider. Der besagten Wechsel sind so viele gewesen, daß wir in der letzten Zeit fast nur die eigentümlichen, aber sicheren Anzeichen eines von dürftigen Leuten bewohnten Hauses bemerkt und beachtet haben. Die Ladeninhaber gaben ein Zimmer nach dem andern auf, bis sie sich zuletzt einzig auf das kleine Hinterzimmer beschränkten. An der Haustür war erst eine und dann eine zweite Messingplatte mit der Inschrift: »Mädchenschule« zu sehen, und endlich wurde eine und dann noch eine Glockenschnur angebracht.

Als wir diese nicht zu verkennenden Armutszeichen gewahrten, meinten wir, daß das Haus nunmehr auf der untersten Stufe der Erniedrigung angelangt sei. Wir irrten. Als wir vor einigen Tagen vorübergingen, war im Souterrain ein Milchhandel eingerichtet, und eine jammervoll aussehende Hühnerschar vertrieb sich die Zeit damit, in die Vordertür hinein- und aus der Hintertür wieder hinauszulaufen.

***

Scotland-Yard


Scotland-Yard

Scotland-Yard ist ein kleiner – sehr kleiner Strich Landes, an der einen Seite vom Themsestrome und an der andern von den Gärten des Northumberlandhauses begrenzt; er stößt am einen Ende an die Northumberlandstraße und am anderen an die Rückseite des Whitehallplatzes. Als dieses Territorium vor einigen Jahren zuerst von einem Gentleman vom Lande, der am Strande den Weg verlor, zufällig entdeckt wurde, waren die Ur-Ansiedler ein Schneider, ein Gastwirt, zwei Besitzer von Speisehäusern, ein Obstpastetenbäcker und ein Schlag starker, breitschultriger Männer, die sich regelmäßig jeden Morgen um fünf oder sechs Uhr nach den Werften in Scotland-Yard begaben, um schwerfällige Wagen, die sie jahraus, jahrein im Lande umherfuhren, mit Kohlen zu beladen.

Da die Ansiedler ihren Unterhalt von diesen Kohlenhändlern bezogen, so zeigten ihre Verkaufsartikel und Häuser, daß sie ausdrücklich dem Geschmacke und den Wünschen jener angepaßt waren. Der Schneider präsentierte in seinem Fenster ein Paar lederne Liliputgamaschen und einen Diminutivkittel, während beide Türpfosten sehr angemessen mit Modellen von Kohlensäcken garniert waren. Die beiden Garköche stellten Keulen von einem Umfang und Puddings von einer Solidität, die nur von Kohlenträgern gewürdigt werden konnte, zur Schau; und der Obstpastetenbäcker ließ in seinem reingescheuerten Fensterkasten weiße, mit roten Tüpfeln verzierte Mehl- und Bratenfettkompositionen sehen, die den großen Mund eines jeden vorübergehenden Kohlenmannes wäßrig machten.

Doch alles in ganz Scotland-Yard wurde von dem alten Gasthause im Winkel übertroffen. Hier in einem finsteren, getäfelten, die Spuren großen Altertums tragenden, durch ein gewaltiges Feuer gemütlich gemachten Zimmer, das mit einer ungeheuren Uhr verziert war, deren Zifferblatt weiß und deren Zahlen schwarz aussahen, saßen die wackeren und munteren Kohlenträger, tranken Bier in großen Zügen und verbreiteten solche Wolken von Rauch um sich her, daß es fast Nacht davon wurde. An Winterabenden konnte man sie weithin bis an das Stromufer ihre Lieder brüllen hören, wobei sie auf den Schlußworten des Chors so lange und nachdrücklich auszuhalten pflegten, daß das Dach über ihnen erbebte.

Auch erzählten sie hier einander von den Vätern ererbte Sagen von dem, was die Themse in alten Zeiten gewesen sei, wo noch niemand an die Patent-Ankertau-Manufaktorei und die Waterloobrücke gedacht hatte; und sie schüttelten dann die Köpfe mit vielsagend-wichtigen Mienen zur Erbauung des aufwachsenden Trägergeschlechts, das umhersaß und dachte, wie das alles wohl enden würde. Und der Schneider nahm dann feierlich die Pfeife aus dem Munde und sprach seine Hoffnung aus, daß es gut enden würde, zugleich aber auch seine starken Zweifel, worauf er mit der Erklärung schloß, nicht so recht eigentlich sagen zu können, was er daraus machen solle – eine mysteriöse Meinungsäußerung, vorgetragen mit einer halb-prophetischen Miene, die niemals die vollkommenste Beistimmung der Versammelten hervorzurufen verfehlte. Dies alles setzten sie fort, bis die zehnte Stunde kam und mit ihr des Schneiders Frau, um ihn nach Hause zu holen, und dann brachen sie auf, um sich am folgenden Abend zur selben Stunde im selben Zimmer wieder zu versammeln und genau dasselbe zu sagen und zu tun.

Um diese Zeit fingen die stromaufwärts kommenden Kohlenschiffe an, unbestimmte Gerüchte nach Scotland-Yard zu tragen, wie man jemand in der City habe sagen hören, daß der Bürgermeister mit klaren Worten gedroht habe, die alte Londonbrücke niederreißen und eine neue bauen zu wollen. Anfangs blieben diese Gerüchte als bloßes, eitles Geschwätz unbeachtet, denn niemand in Scotland-Yard zweifelte, daß der Bürgermeister, wenn er wirklich mit so schwarzen Anschlägen umginge, auf einige Wochen in den Tower eingesperrt und sodann wegen Hochverrats um einen Kopf kürzer gemacht werden würde.

Allein, die Gerüchte wurden allmählich bestimmter und häufiger, und endlich brachte ein Kohlenschiff die unzweifelhafte Kunde, daß bereits mehrere Bogen der alten Brücke gesperrt und Vorbereitungen zum Bau der neuen im Werke seien. Welch eine Aufregung an jenem denkwürdigen Abende in der alten Schenkstube bemerkbar war! Einer schaute dem andern in das vor Schrecken und Staunen bleiche Gesicht und las darin den Widerhall der die eigene Brust erfüllenden Empfindungen. Der älteste anwesende Kohlenhändler bewies anschaulich, daß in dem Augenblicke, in dem man die Brückenpfeiler entfernte, das Wasser der Themse sich samt und sonders verlaufen und nur einen trockenen Schlund zurücklassen würde. Was sollte dann aber aus den Kohlenschiffen – dem Handel von Scotland-Yard – und aus Scotland-Yards Bevölkerung selbst werden? Der Schneider schüttelte den Kopf noch weiser als gewöhnlich, wies mit schrecklicher Gebärde nach einem Messer auf dem Tisch hin und forderte die Versammelten auf, zu warten und zu sehen, was geschehen würde. Er – was ihn betreffe – wolle nichts sagen; aber wenn der Bürgermeister nicht das Opfer eines Volksaufstandes würde – nun: so sollte es ihn nicht wenig wundernehmen.

Sie warteten; ein Kohlenschiff nach dem andern langte an, aber immer und immer noch keine Nachricht von der Abschlachtung des Bürgermeisters. Der Grundstein wurde gelegt – von einem Herzog, einem Bruder des Königs. Jahre vergingen, und die Brücke ward von dem Könige selbst eingeweiht. Im Laufe der Zeit wurden die verhängnisvollen Pfeiler entfernt, und als die guten Leute von Scotland-Yard am anderen Morgen in der Erwartung aufstanden, nach Pedlars Acre hinübergehen zu können, ohne die Sohlen ihrer Schuhe naß zu machen, ersahen sie zu ihrer unaussprechlichen Verwunderung, daß geradesoviel Wasser da war wie immer.

Ein ihrer Weisheit so gänzlich zuwiderlaufendes Ergebnis brachte seine volle Wirkung bei den Bewohnern von Scotland-Yard hervor. Einer der Speisewirte fing an, sich um die Gunst der öffentlichen Meinung zu bewerben und sich um Kunden aus einer neuen Klasse von Leuten zu bemühen. Er legte weiße Tischtücher auf und ließ durch einen Malerlehrling eine der kleinen Scheiben seines Ladenfensters mit etwas bemalen, das soviel heißen sollte wie: »Warme Bratenportionen von zwölf bis zwei.« Die Kultur rückte mit Riesenschritten bis an die Schwelle von Scotland-Yard vor. In Hungerford entstand ein neuer Markt, und die Polizei richtete ihr Büro auf dem Whitehallplatze ein. Handel und Wandel in Scotland-Yard vermehrte sich, dem Hause der Gemeinden wurden neue Mitglieder hinzugefügt, die hauptstädtischen Vertreter fanden den Weg über Scotland-Yard näher, und andere Fußgänger folgten ihrem Beispiele.

Wir beobachteten das Vorschreiten der Zivilisation und seufzten. Der Speisewirt, der der Tischtuchneuerung mannhaft widerstanden hatte, verlor mit jedem Tage Terrain, und sein Nebenbuhler gewann es, woraus sich eine tödliche Fehde zwischen ihnen entspann. Der feine Mann trank seinen Abendschoppen nicht mehr in Scotland-Yard, sondern Gin mit Wasser in einer »Restauration« der Parlamentsstraße. Der Pastetenbäcker fuhr noch fort, das alte Gastzimmer zu besuchen, fing aber an, Zigarren zu rauchen, sich einen Konditor zu nennen und die Zeitungen zu lesen. Die alten Kohlenträger versammelten sich noch immer an dem alten Kamin, allein ihre Gespräche waren wehmütig, und man hörte sie nicht mehr laut und fröhlich ihre Lieder singen.

Und was ist Scotland-Yard jetzt? Wie haben sich seine alten Bräuche geändert und wie gänzlich ist die ehemalige Einfachheit seiner Bevölkerung entschwunden! Die altväterische, wacklige Schenke ist in ein weitläufiges hohes »Weinhaus« verwandelt worden, das mit vergoldeten Lettern prunkt; und die Kunst des Dichters ist in Anspruch genommen worden, um zu verkünden, daß man sich am Geländer festhalten müsse, wenn man ein gewisses Ale trinke. Der Schneider hat in seinem Fenster das Muster eines ausländisch aussehenden braunen Oberrocks mit seidenen Knöpfen, einem Pelzkragen und Pelzaufschlägen. Er trägt Beinkleider mit Streifen, und wir haben seine Gehilfen (denn er hält gegenwärtig Gehilfen) ebenso stolz angetan die Nadel führen sehen.

Am anderen Ende der kleinen Häuserreihe hat sich ein Schuhmacher in einer Backsteinhütte mit der Neuerung einer belétage etabliert und stellt hohe Stiefel zum Verkauf aus – wirklich hohe, doppelnähtige Stiefel, von dergleichen die ursprünglichen Bewohner vor wenigen Jahren weder etwas gesehen noch gehört hatten. Vor ein paar Tagen öffnete eine Putzmacherin einen kleinen Laden mitten in der Reihe, und als wir meinten, daß der Geist der Veränderung nicht weitergehen könne, erschien ein Juwelier und trat, nicht zufrieden damit, vergoldete Ringe und kupferne Armbänder ohne Zahl auszustellen, mit einer noch jetzt in seinem Fenster zu schauenden Ankündigung hervor, daß man drinnen Damenohren durchbohre. Die Putzmacherin beschäftigt eine junge Dame, die Taschen an der Schürze trägt, und der Schneider tut dem Publikum kund, daß Gentlemen ihre eigenen Zutaten bei ihm verarbeiten lassen können.

Inmitten aller dieser Wandlungen, Unruhe und Neuerungen ist nur noch ein alter Mann übrig, der den Verfall von Scotland-Yard zu beklagen scheint. Er verkehrt nicht mit dem menschlichen Geschlecht, sitzt auf einer hölzernen Bank an der Ecke der Mauer, dem Whitehallplatze gegenüber, und sieht schweigend den lustigen Sprüngen seines runden, wohlgenährten Hundes zu. Er ist Scotland-Yards schützender Genius. Viele Jahre sind über seinem Haupte dahingegangen, er aber ist stets an derselben Stelle zu finden bei schlechtem wie bei gutem Wetter, bei Hitze wie bei Kälte, Nässe oder Trockenheit, Hagel, Regen oder Schnee. In seinem Antlitze malen sich Elend und Armut; sein Rücken ist vom Alter gebeugt, und sein Kopf von der Länge seiner Prüfungen grau; aber er sitzt da, einen Tag wie den anderen, der Vergangenheit gedenkend, und wird fortfahren, seine schwachen Glieder dahinzuschleppen, bis sich seine Augen für Scotland-Yard und die Welt geschlossen haben.

Wenn nach einer Reihe von Jahren ein Altertumsforscher liest, was wir hier niedergeschrieben haben, so werden seine ganze Kenntnis der Geschichte und sein ganzer gelehrter Apparat nicht genügen, ihn zu belehren, an welcher Stelle Scotland-Yard zu suchen ist.

Gedanken in Monmouth-Street


Gedanken in Monmouth-Street

Wir haben stets eine besondere Vorliebe für Monmouth-Street gehegt, als den einzig wahren und echten Stapelplatz für alte Kleider. Die Monmouth-Street ist ehrwürdig wegen ihres Altertums und achtbar wegen ihrer Nützlichkeit. Holywell-Street verachten wir; die Juden mit roten Köpfen und Knebelbärten, die jeden Vorübergehenden gewaltsam in ihre schmutzigen Häuser hereinzerren und ihn in Rock und Weste stecken, er mag wollen oder nicht, verabscheuen wir.

Die Bewohner der Monmouth-Street bilden eine eigentümliche Klasse friedlicher und zurückgezogen lebender Leute, die die meiste Zeit in tiefen Kellerlöchern oder engen Hinterstübchen versteckt sind und nur selten zum Vorscheine kommen, nämlich in der Dunkelheit und Kühle des Abends, wo sie auf Stühlen vor den Häusern sitzen, ihre Pfeifen rauchen und dem Umhertummeln ihrer hoffnungsvollen Sprößlinge zuschauen, die sich der Straßenrinnen freuen und ein vergnügtes Trüppchen jugendlicher Gassenkehrer bilden. Ihre Gesichter sind gedankenvoll und ungewaschen – sichere Anzeichen ihrer Liebe zum Handel und Wandel; und ihre Wohnungen zeichnen sich durch jene Nichtachtung des äußeren Scheins und die Vernachlässigung häuslicher Gemütlichkeit aus, die bei Leuten, die fortwährend in wichtige Spekulationen vertieft sind und eine meist sitzende Lebensart führen, ganz allgemein ist.

Wir deuteten auf das Altertum unserer Lieblingsstraße hin. Die »Röcke mit Monmouth-Street-Schnüren« waren vor Jahrzehnten berühmt, und die Monmouth-Street ist noch immer dieselbe. Lotsenwämser mit hölzernen Knöpfen haben den Platz der schweren Röcke mit Borden und breiten-Schößen eingenommen; gestickte Westen mit großen Klapptaschen sind den weit ausgeschnittenen schottischen mit Schalkragen, unterlegen, und wunderliche dreieckige Hüte haben den runden mit niedrigen Deckeln und breiten Rändern aus der Kutscherschule Platz gemacht; doch nur die Zeiten haben sich geändert, nicht die Monmouth-Street, die bei allen Veränderungen und Wechseln der Begräbnisplatz der Moden geblieben ist und allem Anscheine nach zu urteilen so lange bleiben wird, bis keine Moden mehr zu begraben sind.

Wir durchwandern gern diese weiten Hallen erlauchter Toten und geben uns den Betrachtungen hin, die durch sie hervorgerufen werden; passen jetzt einen verblichenen Rock, dann ein verstorbenes Beinkleid und dann wieder die sterblichen Reste einer eleganten Weste einem Geschöpfe unserer Einbildungskraft an und versuchen, uns nach der Art und Beschaffenheit der Kleidungsstücke die ehemaligen Eigentümer vorzustellen. Wir haben uns auf diese Weise unsern Phantasiespielen überlassen, bis ganze Reihen von Röcken von den Nägeln, an denen sie hingen, heruntersprangen und sich den eingebildeten Leuten selbst anlegten; nicht minder beflissen eilten die Beinkleider herbei; Westen öffneten sich fast von selbst vor Begier, sich anzuschmiegen; und eine Fläche von einem halben Morgen voll Schuhe fand urplötzlich hineinpassende Füße, und die Schuhe mit den Füßen trappelten die Straße mit einem Lärm hinunter, der uns aus unserer angenehmen Träumerei erweckte und uns vertrieb, so daß wir uns mit einem verstörten Umherstarren langsam entfernten – den guten Leuten von Monmouth-Street ein Gegenstand der Verwunderung und ein Gegenstand nicht geringen Argwohns für den Polizeidiener an der Straßenecke gegenüber.

Also waren wir vor einigen Tagen beschäftigt und paßten soeben ein Paar Schnürstiefel einer ideellen Person an, für die sie, um die Wahrheit zu sagen, volle zwei Nummern zu klein waren, als unsere Blicke auf einige Anzüge außen an einem Ladenfenster fielen, die, was uns sogleich klar war, zu verschiedenen Zeiten demselben Individuum angehört haben mußten und jetzt zufolge eines jener sonderbaren, bisweilen vorkommenden Zufälle in einem und demselben Laden zum Verkaufe ausgestellt waren. Die Meinung erschien uns jedoch phantastisch, und wir sahen die Anzüge noch genauer und mit dem festen Entschlusse an, uns nicht so leicht täuschen zu lassen. Allein wir hatten recht gehabt; je länger wir hinsahen, desto fester überzeugten wir uns von der Richtigkeit unseres ersten Gedankens. Des ehemaligen Eigentümers ganzes Leben war so deutlich auf diesen Anzügen zu lesen, als ob wir seine Selbstbiographie auf Pergament vor uns hätten.

Der erste Anzug bestand aus geflickten und stark beschmutzten Jäckchen und Höschen – einem jener engen blauen Tuchfutterale, in die man kleine Knaben hineinzustecken pflegte, bevor Gürtel und Blusen auf- und alte Moden abgekommen waren: eine scharfsinnige Erfindung, das ganze Ebenmaß der Gestalt eines Knaben dadurch zur Schau zu stellen, daß man letzterem ein sehr knapp anliegendes Jäckchen mit Zierreihen von Knöpfen über den Schultern anzog und sodann die Höschen darüber knöpfte, wie um den Beinen das Aussehen zu geben, als ob sie gerade unter den Armgruben angehakt seien. Dies war der Anzug des Knaben – offenbar eines Stadtkindes, denn die Ärmel und Beinlinge hatten die Kürze und die Knie die Leinenflicken, die der in den Londoner Straßen aufwachsenden Jugend eigentümlich sind. Ebenso offenbar war es, daß der Knabe nur eine Winkelschule besucht hatte. Wenn er Schüler in einer ordentlichen Pensionsanstalt gewesen wäre, so würde man ihm nicht erlaubt haben, soviel auf der Erde zu spielen und sich die Knie so weiß zu rutschen. Auch hatte er eine nachsichtige Mutter und viel Kupfergeld gehabt, was man aus den zahlreichen Streifen einer klebrigen Substanz in der Gegend der Taschen und gerade unter dem Kinne ersah, Streifen, die selbst des Trödlers Geschick zu verstecken nicht imstande gewesen war. Seine Eltern waren anständige, aber mit Reichtümern nicht überbürdete Leute gewesen, denn er würde dem Anzug sonst nicht schon so lange entwachsen gewesen sein, als er die Corduroybeinkleider nebst der kurzen Jacke bekommen, worin er jedoch die Schule besucht und schreiben gelernt hatte – und noch dazu mit recht schwarzer Tinte, sofern die Stelle, an der er seine Feder abzuwischen pflegte, zum Beweise dienen konnte.

Ein schwarzer Anzug und die kurze Jacke in einen Diminutivfrack verwandelt. Des Knaben Vater war gestorben, und die Mutter hatte ihn irgendwo als Laufburschen untergebracht. Der Anzug war lange getragen, verschossen und fadenscheinig, ehe er abgelegt wurde, blieb aber reinlich und von Flecken frei bis zu Ende. Die arme Frau! Wir konnten uns ihre erkünstelte Heiterkeit bei dem dürftigen Mahle vorstellen und wie sie den eigenen kleinen Anteil unberührt ließ, damit ihr hungriger Knabe genug hätte. Ihr fortwährendes Sorgen für ihn, ihr Stolz auf sein Heranwachsen, bisweilen mit dem bitteren, fast zu bitteren Gedanken, um ihn ertragen zu können, vermischt, daß er als Mann gegen sie erkalten, ihrer Liebe und seiner Zusagen vergessen möchte – der stechende Schmerz, den ihr schon auch in seiner Knabenzeit ein unbedachtes Wort, ein gleichgültiger Blick verursachte –, das alles schwebte uns so lebhaft vor, als ob wir es selbst gesehen hätten.

Dergleichen trägt sich jede Stunde zu, und wir wußten es wohl; aber demungeachtet tat es uns, als wir die bald eintretende Veränderung gewahrten – oder gleichviel, zu gewahren uns einbildeten – so weh, als wäre uns so etwas zum ersten Male als möglich erschienen. Der nächstfolgende Anzug sah wie ein sonntägiger aus, war aber liederlich, sollte modisch sein und war doch nicht halb so anständig als der fadenscheinige: verriet den müßiggängerischen Umherlungerer in schlechter Gesellschaft und verkündete uns so, wie uns vorkam, daß Freude und Hoffnung der Witwe rasch verschwunden waren. Wir konnten uns den Rock, vorstellen – mehr, konnten ihn sehen – hatten ihn hundertmal mit drei oder vier anderen Röcken derselben Art in der Nähe von Orten nächtlicher Ausschweifungen umherstreifen gesehen.

Wir bekleideten in einem Augenblick ein halbes Dutzend Knaben und junger Leute von fünfzehn bis zwanzig Jahren aus demselben Ladenfenster, steckten ihnen Zigarren in den Mund, ließen sie die Hände in die Taschen senken und sahen ihnen nach, als sie die Straße hinunterrenommierten und mit den zweideutigen Witzen und den oft ausgestoßenen Beteuerungen und Flüchen zögernd an der Ecke stehenblieben. Wir verloren sie erst aus dem Gesicht, als sie die Hüte noch etwas mehr auf das eine Ohr gedrückt hatten und in das Gasthaus hineinbramarbasiert waren, und kehrten darauf nach der verlassenen Wohnung zurück, wo die Mutter bis spät in die Nacht allein saß. Sie ging in fieberischer Beängstigung auf und ab, öffnete von Zeit zu Zeit die Tür, blickte forschend in die finstere und verödete Straße hinaus und kehrte wieder zurück, um sich aber- und abermals getäuscht zu sehen. Wir schauten weiter die geduldige Miene, womit sie die rohen Worte und die Schläge des Trunkenen ertrug; hörten sie still weinen, als ob sie in Schmerzen vergehen wollte, während sie in ihrer einsamen Kammer auf den Knien lag.

Eine lange Zeit war vergangen und eine noch größere Veränderung eingetreten, als der oberwärts hängende Anzug abgelegt worden war. Er hatte einem kräftigen, starken, breitschultrigen Manne angehört, und wir wußten sogleich, was jedermann gewußt haben würde, der nur einen Blick auf den grünen Rock mit breiten Schößen und großen Messingknöpfen geworfen hätte, daß sein ehemaliger Besitzer selten ohne die Begleitung eines Hundes und eines landstreicherischen Taugenichtses, seines eigenen Ebenbildes, ausgegangen war. Die Lasterhaftigkeit des Knaben war mit dem Manne gewachsen, und wir versetzten uns in seine Wohnung – wenn sie diesen Namen verdiente.

Das nackte, erbärmliche Zimmer war ohne Hausgerät, und er hatte mit seinem Weibe und seinen bleichen, hungrigen und abgemagerten Kindern kaum den notdürftigsten Raum darin. Er stieß Verwünschungen über ihre Klagen aus, wankte nach der Trinkstube zurück, aus der er soeben erst heimgekehrt war, die nach Brot schreiende Frau mit einem kranken Kinde ging ihm nach, und die Straße hallte von dem Lärmen wider, als er sie schalt und schlug. Dann zeigte sich unserm inneren Blicke ein Londoner Arbeitshaus, in einer engen, dumpfigen Straße gelegen, angefüllt mit ungesunden Dünsten, widerhallend von tobendem Geschrei; und in einem engen, finstern Gemache lag eine alte sterbende Frau, flehte um Gnade für ihren Sohn, und kein Kind stand ihr zur Seite, ihr Trost zuzusprechen, keine reine Himmelsluft fächelte ihre Stirn. Ein Fremder drückte ihr die nur noch leer und gläsern blickenden Augen zu, und fremde Ohren vernahmen noch die von den weißen, halbgeschlossenen Lippen gemurmelten Worte.

Ein grober Kittel nebst einem abgenutzten baumwollenen Halstuche und anderen Kleidungsstücken der ärmlichsten Art machten den Beschluß. Ein Gefängnis und der Urteilsspruch – Deportation oder der Galgen. Was würde der Mann zu der Zeit darum gegeben haben, der geplagte und anspruchslose, aber zufriedene Laufbursche wieder werden zu können – nur noch eine Woche, einen Tag, eine Stunde, eine Minute leben zu dürfen –, nur so lange, um imstande zu sein, der kalten und bleichen, im Armengrabe verwesenden Gestalt ein Wort der Liebe und Reue zu sagen, ein Wort der Verzeihung von ihr zu hören? Die Kinder verwildert in den Straßen, die Mutter eine verlassene Witwe; jene wie diese von der auf des Vaters und des Gatten Namen ruhenden Schmach schwer betroffen und durch schrecklichste Not den Abgrund hinuntergedrängt, der ihn zu einem langsamen, vielleicht viele Jahre dauernden Tode viele Hundert Meilen vom Heimatlande entfernt geführt hatte. Wir hatten den Faden zum Ende der Geschichte nicht, allein es war leicht zu erraten.

Wir gingen ein paar Schritte weiter, wünschten unseren Gedanken ihre natürlich heitere Färbung wiederzugeben und fingen daher an, mit einer Raschheit und Gewandtheit, die den erfahrensten der in Leder arbeitenden Künstler mit Erstaunen erfüllt haben würde, eingebildeten Füßen lange Reihen von Stiefeln und Schuhen anzuziehen. Besonders ein Paar Stiefel – ein gutmütig-biederes, herzhaftes Stulpenstiefelpaar – erregte unsere teilnehmendste Beachtung, und ehe wir noch ihre Bekanntschaft eine halbe Minute gemacht hatten, hatten wir auch schon einen prächtigen, jovialen, rotwangigen Marktgärtner für sie geschaffen. Nichts hätte besser zusammenpassen können als sie und er. Seine fleischigen Waden quollen über ihren Stulpenrand hinaus, und sie saßen zu eng, als daß er die Strippen hätte hineinstecken können, mit deren Hilfe er sie angezogen hatte; zwischen ihnen und den Kniehosen war eine Handbreit von den Strümpfen zu sehen; die blaue Schürze hatte er um den Leib herum zusammengerollt. Er trug dazu ein rotes Halstuch und einen blauen Rock, und einen weißen, auf die eine Seite des Kopfes gedrückten Hut – und so stand er da mit seinem seligen roten Antlitze und lächelnd breitgezogenen Munde, und pfiff abwechselnd so vergnügt, als ob er gar keine Vorstellung davon habe, daß ein Mensch unglücklich oder mißvergnügt sein könnte.

Er war ein Mann so recht nach unserm Herzen – wir kannten ihn auf das genaueste – hatten ihn viele hundert Male in seinem grünen Einspänner mit dem wohlgenährten kleinen Pferde nach Covent-Garden auf den Markt fahren sehen; und während wir noch zärtlich nach seinen Stiefeln hinblickten, hüpften plötzlich die Füße eines gefallsüchtigen Dienstmädchens in ein Paar wollseidene Schuhe hinein, die dicht neben ihnen standen, und wir erkannten in dem Mädchen sogleich die junge Schöne, die, als wir uns am vorigen Dienstagmorgen von Richmond zur Stadt begaben, diesseits der Hammersmith-Hängebrücke sein Erbieten annahm, sie ein wenig mitfahren zu lassen.

Ein sehr geputztes Frauenzimmer mit einem prachtvollen Hut schlüpfte in ein Paar graue Tuchstiefel mit schwarzen Fransen und Schnüren hinein und zeigte große Begier, die Aufmerksamkeit der Stulpenstiefel zu erregen; allein unser Freund, der Marktgärtner, zeigte sich allen ihren kleinen Koketterien unzugänglich, denn zuerst blinzelte er nur listig, als ob er sagen wollte, daß er ihre Zwecke und Absichten sehr wohl durchschaue, und bald beachtete er sie gar nicht mehr. Seine Gleichgültigkeit wurde indes durch die ausnehmende Galanterie eines, einen silberknaufigen Handstock tragenden, sehr alten Herrn aufgewogen, der in ein Paar große, in einer Ecke stehenden Leistenschuhe trat und durch vielfache Gebärden der Dame in den Zeugstiefeln seine Bewunderung ausdrückte, und zwar zur maßlosen Belustigung eines jungen Menschen, den wir in Gedanken in ein Paar hochfersige Tanzschuhe gesteckt hatten.

Wir hatten dieser kleinen Pantomime eine Zeitlang mit lebhaftem Vergnügen zugeschaut, als wir zu unserm unaussprechlichen Erstaunen gewahrten, daß sämtliche von uns beschuhten Individuen – ein zahlreiches Ballettkorps von Stiefeln und Schuhen im Hintergrund, die wir eiligst mit Füßen versehen hatten, mit eingeschlossen – zum Tanz antraten und auch ohne Verzug den Anfang machten, da in demselben Augenblick eine Musikbande zu spielen begann. Wahrhaft zum Entzücken war die Behendigkeit des Marktgärtners anzusehen. Die Stulpenstiefel machten alle Touren und Pas auf das kunstgerechteste und unermüdlichste durch und schienen trotzdem nicht im mindesten an Ermüdung zu leiden.

Die Wollseidenen blieben ihrerseits keineswegs zurück. Sie hüpften und sprangen nach allen Richtungen umher; und obwohl sie weder so kunstgerecht noch taktmäßig tanzten als die Zeugstiefel, so schien es ihnen dafür desto mehr vom Herzen zu gehen und eine ungemischtere Lust zu gewähren; und wir bekennen daher aufrichtig, daß wir ihnen als Tänzern den Vorzug gaben. Der Unterhaltendste von allen war aber der sehr alte Herr in den Leistenschuhen; denn abgesehen von seinem grotesken Bestreben, jung und verliebt zu erscheinen, das an sich selbst schon belustigend genug war, wußte es der junge Mensch in den Tanzschuhen geschickt immer so einzurichten, daß er, sooft der alte Herr vortrat, um sich vor den Zeugstiefeln zu verbeugen, mit seinem ganzen Gewichte dem alten Knaben auf die Zehen trat, worauf denn der letztere jedesmal vor Schmerz laut aufschrie und alle übrigen sich vor Lachen ausschütten wollten.

Mitten in unserm seligen Genusse drang eine kreischende, nichts weniger als musikalische Stimme an unser Ohr. »Hoffe, daß Er mich ein ander Mal wiedererkennen wird, Er unverschämtes Rhinozeros!« Als wir scharf vor uns hinblickten, um zu sehen, wer diese Worte gesprochen hätte, wurden wir inne, daß es nicht von Seiten der jungen Dame in den Zeugstiefeln geschehen war, wie wir zuerst anzunehmen geneigt gewesen, sondern von einer sehr großen, ältlichen Frau, die auf einem Stuhle an der Kellertreppe offenbar zu dem Zwecke saß, den Verkauf der neben ihr ausgestellten Handelsartikel zu leiten.

Eine Drehorgel, die dicht hinter uns musiziert hatte, verstummte, und flugs verschwanden die sämtlichen Leute, deren Füße wir in die Stiefel und Schuhe hineingezaubert hatten: Wir erkannten, daß wir in unsern tiefen Gedanken, vielleicht ohne es zu wissen, die alte Dame eine halbe Stunde lang ungewöhnlich angestarrt haben könnten, machten uns daher gleichfalls auf und davon und waren bald im tiefsten Dunkel der anstoßenden »Dials« verschwunden.

Die Mietskutschenstände


Die Mietskutschenstände

Wir behaupten, daß die Mietskutschen – im eigentlichen Sinne – der Hauptstadt allein eigentümlich sind. Man wird uns einwenden, es gebe auch in Edinburgh, Liverpool, Manchester und anderen großen Städten Mietskutschenstände. Wir gestehen den genannten Städten gern den Besitz gewisser Fuhrwerke zu, die fast ebenso unsauber aussehen und sich fast ebenso langsam von der Stelle bewegen mögen als die Londoner Mietskutschen: stellen aber mit Unwillen in Abrede, daß sie auch nur den mindesten Anspruch erheben können, sich mit den Londonern in Beziehung auf Stände, Kutschen oder Pferde zu vergleichen.

Betrachten wir eine gewöhnliche, rumpelkastige und baufällige Londoner Mietskutsche von der alten Art: Wer möchte dann wohl so kühn sein wollen, zu behaupten, daß er jemals auf der ganzen Erde ein Ding gesehen habe, das ihr irgendwie geglichen hätte – es müßte denn sein, eine andere Mietskutsche vom selben Datum. Wir haben seit neuestem auf gewissen Ständen – und sagen es mit tiefem Kummer – Halbchaisen und Kutschen, grün- oder gelblackiert, und zwar nicht übel – mit vier Rädern von derselben Farbe wie die Kästen gesehen, da es doch jedermann, der dem Gegenstande seine Aufmerksamkeit geschenkt hat, zur Genüge bekannt ist, daß jedes Rad von verschiedener Farbe und Größe sein sollte. Dies sind Neuerungen und, gleich anderen, die man mißbräuchlich Verbesserung nennt, bedenkliche Zeichen der gegenwärtigen Unruhe in den Meinungen und Gesinnungen der Nation und der geringen Achtung, die derzeit unsern, durch ihr Alter geheiligten öffentlichen Einrichtungen gezollt wird. Warum sollen Mietskutschen reinlich sein? Unsere Vorfahren fanden und ließen sie schmutzig. Warum sollen wir, von dem fiebrischen Wunsche fortwährender »Bewegung« getrieben, mit einer Schnelligkeit von sechs Meilen die Stunde durch die Straßen rollen, während sie zufrieden waren, wenn sie sich vier Meilen die Stunde über das Pflaster rumpeln ließen? Dies sind ernstliche Erwägungen. Die Mietskutschen sind ein Teil und Zubehör der Landesgesetze – sie wurden durch die Gesetzgebung eingeführt und durch die Weisheit des Parlaments beschildert und numeriert.

Warum sind sie denn aber von Kabrioletts und Omnibussen in den Hintergrund gedrängt worden? Oder aber, warum gestattet man den Leuten, rasch zu fahren für achtzehn Pence die Meile, nachdem das Parlament feierlich beschlossen hatte, daß sie langsam fahren und einen Schilling dafür bezahlen sollten? Wir halten inne und warten auf eine Antwort – und fangen einen neuen Abschnitt an, da wir keine Hoffnung haben, eine Antwort darauf zu bekommen.

Unsere Bekanntschaft mit den Mietskutschenständen rührt aus alter Zeit her. Wir sind ein umherwandelndes Kursbuch und fühlen uns gleichsam eingebunden und aufgeschnitten, um stets bereit zu sein, Auskunft über strittige Punkte zu geben. Wir kennen alle Aufwärter der Mietskutschenstände innerhalb drei Meilen von Covent-Garden von Person und würden versucht sein zu glauben, daß sämtliche Mietskutschenpferde dieses Bezirks uns gleichfalls von Person kennten, wenn die Hälfte von ihnen nicht blind wäre. Wir nehmen ein großes Interesse an den Mietskutschen, fahren aber selten in einer, da wir sonderbarerweise, wenn wir es tun, fast immer umwerfen. Wir sind ebenso große Freunde von Mietskutschen- wie anderen Pferden, als Mr. Martin von der Äpfelhändlerberühmtheit,18 und reiten desungeachtet nie. Wir halten uns kein anderes als nur ein Steckenpferd – vertrauen uns nicht gern dem Rücken eines Rosses an, sondern halten uns dafür lieber an einen Rehrücken – und folgen lieber unsern eigenen Neigungen – als einem gehetzten Fuchse. Wir überlassen diese Mittel, geschwinder über die Erde fortzukommen oder auch auf sie niedergeworfen zu werden, denen, die Gefallen daran finden, und nehmen unsern Stand bei den Mietskutschenständen – oder sitzen ihnen vielmehr lieber in behaglicher Ruhe gegenüber. Ein solcher Kutschenstand befindet sich gerade unter dem Fenster, an dem wir schreiben, und sämtliche Mietskutschen sind gerade fort, eine einzige ausgenommen, die aber für ein wahres Muster aller übrigen gelten kann. Sie ist ein großer viereckiger Kasten, schmutziggelb (wie eine gallsüchtige Brünette), mit sehr kleinen Glasscheiben, aber sehr großen Fensterrahmen. Die Schläge sind mit einem verblichenen Wappenschilde verziert, das ziemlich wie eine sezierte Fledermaus aussieht; die Achse ist rot und die meisten Räder sind grün. Der Bock ist teilweise von einem alten Reiserock, einer Sammlung von Mantelkragen – und einem wunderbar aussehenden Behang verhüllt; und das Stroh, womit das Kanevaskissen ausgestopft ist, guckt an mehreren Stellen hervor, gleichsam als wenn es mit dem Heu rivalisieren wollte, das aus den Ritzen des Kutscherkastens hervordringt. Die Pferde stehen mit niederhängenden Köpfen und mit den dünnen und zottigen Mähnen und Schweifen eines Schaukelpferdes geduldig auf ein wenig feuchtem Stroh, fahren zuckend zusammen und schütteln das Geschirr; und von Zeit zu Zeit hebt eins die Schnauze zum Ohre des andern empor, als wenn es ihm zuflüstern wollte, es möchte den Kutscher wohl meucheln. Der Kutscher selbst sitzt bei einem Gläschen, und der Kutschstandwärter exerziert ein sehr kunstvolles Manöver, indem er vor dem Brunnen, die Hände in den Taschen, so tief sie haben hineingehen wollen, unermüdlich den rechten und linken Fuß (um sie sich warm zu erhalten) abwechselnd und mit Energie hebt und senkt, als ob er immer fortzueilen dächte, doch stets auf derselben Stelle bleibt.

Auf einmal öffnet das Hausmädchen mit den rosa Bändern in Nr. 5 gegenüber die Haustür, und vier kleine Kinder stürzen heraus und schreien was sie können: »Kutsche, Kutsche!« Der Wärter schießt nach den Pferden hin, faßt die Zäume und zieht daran sie und auch die Mietskutsche, dabei fortwährend nach dem Kutscher rufend, vor das Haus. Der Kutscher antwortet aus dem Schenkstübchen, die Straße hallt nach einiger Zeit vom Geklapper der Holzsohlen des Herbeilaufenden wider, und er und der Wärter vereinigen ihre umständlichen Anstrengungen, um endlich zu erreichen, daß die Kutsche gerade vor und in gehöriger Entfernung von der Haustür zu stehen kommt, so daß die Kinder ganz außer sich vor Vergnügen sind. Welch ein Getümmel! Die alte Dame, die das Haus während der letzten vier Wochen bewohnt hat, kehrt auf das Land zurück. Eine Schachtel nach der andern wird herausgebracht, und die eine Hälfte der Kutsche ist im Nu mit Gepäck angefüllt: die Kinder sind jedermann im Wege, und das jüngste, das bei dem Versuch, einen Regenschirm zu tragen, auf die Nase gefallen ist, wird blutend und widerstrebend hineingetragen. Die Kinder verschwinden, und es erfolgt eine kurze Pause. Die alte Dame küßt sie ohne Zweifel der Reihe nach ab. Endlich erscheint sie, begleitet von ihrer verheirateten Tochter, sämtlichen Kindern und beiden Hausmägden, denen es unter dem Beistand des Kutschers und Standwärters gelingt, sie glücklich in die Arche hineinzuheben. Man reicht ihr einen Mantel und einen kleinen Korb hinein, der (wir getrauen uns fast darauf zu schwören) ein Fläschchen mit Spirituosen und Butterschnitten mit Fleisch enthält. Der Kutschentritt wird befestigt, der Schlag zugeworfen. »Tom, Golden Cross, Charing Cross«, sagte der Standwärter, die Kinder rufen der Großmutter noch zwanzig Lebewohls zu, die Kutsche rasselt in einer Schnelligkeit von drei Meilen die Stunde über das Pflaster fort, und die Mutter und die Kinder gehen wieder hinein – mit Ausnahme eines kleinen Bösewichts, der von einer der Mägde verfolgt, so schnell ihn seine Füße tragen wollen, die Straße hinunterrennt. Die Magd ist nicht übel damit zufrieden, eine Gelegenheit zu erhalten, ihre Reize sehen zu lassen. Sie bringt den Flüchtling endlich zurück, wirft einige holdselige Blicke herüber nach uns oder dem Bierjungen (wir sind unserer Sache nicht ganz gewiß), verschließt die Tür, und der Kutschenstand ist gänzlich verlassen.

Nicht selten hat uns das innige Behagen höchlich ergötzt, womit eine nach einer Mietskutsche entsendete Ausläuferin im Inneren Platz nahm oder das unsägliche Vergnügen, womit die zum gleichen Zwecke ausgeschickten Knaben den Bock zu erklimmen pflegen. Nie aber hat uns eine Mietskutschengesellschaft mehr belustigt als die, die wir vor einigen Tagen in Tottenham-Court-Road sahen. Es war eine Hochzeitsgesellschaft, und sie kam aus einer der schlechteren Straßen unweit Fitzroy- Square; die Braut in einem dünnen weißen Kleid und mit einem großen, roten Gesicht, die Brautjungfer, ein kleines, kurzes und dickes, munteres, junges Frauenzimmer, natürlich in demselben angemessenen Kostüm, und der Bräutigam und der Bräutigamsführer in blauen Röcken, gelben Westen und weißen Beinkleidern und Handschuhen. An der Ecke der Straße standen sie still und riefen mit unbeschreiblich wichtigen Gebärden nach einer Kutsche. Sobald sie eingestiegen waren, warf die Brautjungfer einen roten Schal, den sie ohne Zweifel absichtlich dazu mitgebracht hatte, nachlässig über die Nummer des Kutschschlags, offenbar um die Vorübergehenden glauben zu machen, daß die Mietskutsche eine Privatequipage sei; und so fuhren sie ab, vollkommen überzeugt, daß die Täuschung gelänge, und ganz ohne Ahnung, daß ein Schild mit einer Nummer, so groß wie die Schiefertafel eines Schulknaben, hinten angebracht war. Einen Schilling die Meile! Die Fahrt war fünf und mehr wert, für sie zum wenigsten.

Welch ein interessantes Buch eine Mietskutsche müßte liefern können, wenn sie einen Kopf hätte und darin so viel bergen könnte als in ihrem Innern! Die Selbstbiographie einer Invalidin ihres Geschlechtes würde sicher nicht weniger unterhaltend sein als die Autobiographie eines invaliden Mietsschriftstellers oder Theaterdichters und dürfte ebensoviel von ihren Reisen um den Pol des Kutschenstands, als die der anderen von ihren Expeditionen nach dem Pole zu berichten haben. Wie viele Geschichten würde sie von den Leuten erzählen können, die sie von einem Orte zum anderen geführt haben und die sich bald in Geschäften, bald des Vergnügens halber in ihr umherkutschieren ließen! Und wie zahllose und verschiedene Leute benutzten sie: das Landmädchen, die Putznärrin, die trunkene Dirne, der unerfahrene Lehrling, der abgefeimte Betrüger, der ehrliche Mann und der durchtriebenste Schurke!

Sprecht mir nur nicht von Kabrioletts! Ja, sie sind schön und gut in eiligen Fällen, wo Hals und Kragen, Leben und Tod daran hängen, wo es gilt, in einer gegebenen Zeit nach Hause oder in die ewigen Hütten befördert zu werden. Doch abgesehen davon, daß ein Kabriolettführer jener würdigen Haltung ermangelt, die den Mietskutscher auszeichnet und ihm ganz eigentümlich ist, so wolle man nicht vergessen, daß ein Kabriolett ein Ding von gestern her und nie etwas Besseres gewesen ist. Ein Mietskabriolett war immer ein Mietskabriolett, vom Anbeginn seiner öffentlichen Laufbahn an; wogegen eine Mietskutsche ein Überrest vormaliger Hochadligkeit – ein Opfer der Mode – ein Mobilarstück einer alt-englischen Familie ist, deren Wappenschild trägt, einst von Dienern in deren Livree eskortiert und vor längerer oder kürzerer Zeit, ihres Schmucks und Glanzes entkleidet, gleich einem geschniegelten, funkelnden, zu seinem Posten nicht mehr jung genug erfundenen Bedienten in die Welt hinausgestoßen wurde – auf tiefere und immer tiefere Stufen der vierrädrigen Erniedrigung hinabsank, und endlich zu einem Still- und Kutschenstande gelangte!