7. Kapitel

Mr. Chevy Slyme legt große Unabhängigkeit an den Tag, und dem blauen Drachen wird ein Glied ausgerissen

Martin machte sich am andern Morgen mit so viel Eifer und Beflissenheit an seine »Elementarschule«, daß Mr. Pinch wiederum Grund hatte, die natürlichen Talente dieses jungen Gentlemans anzustaunen und dessen unendliche Überlegenheit anzuerkennen.– Martin nahm seine Komplimente sehr gnädig auf, und da er Pinch – in seiner Art – wirklich recht lieb gewonnen hatte, so prophezeite er, sie würden stets die allerbesten Freunde bleiben und er sei überzeugt, daß keiner von ihnen je Grund haben werde, sich nicht mit Freude des Tages zu erinnern, an dem sie miteinander bekannt geworden. Mr. Pinch, dem dies aus der Seele gesprochen war, freute sich natürlich unendlich darüber und fühlte sich so geschmeichelt durch die wohlwollenden Versicherungen von Freundesgefühl und Gönnerschaft, daß er gänzlich unfähig war, sein Entzücken in Worte zu kleiden. – Und wirklich ließ sich auch von diesem Bündnis, so wie die Sachen lagen, sagen, daß es längere Dauer versprach als so manche beschworene und verheißungsvolle Freundschaft. Solange der eine Teil sich darin gefiel, den Gönner zu spielen, und der andere sich darüber herzlich freute, wie hier der Fall lag, so lange war es so gut wie ausgeschlossen, daß sich je zwischen ihnen die Zwillingsdämonen Neid und Stolz erheben konnten.

Am Nachmittag nach der Abreise der Familie waren beide emsig beschäftigt – Martin mit seiner Elementarschule und Tom mit der Berechnung gewisser Pachtzinsbezüge, von denen er Mr. Pecksniffs Provisionen in Abrechnung brachte. Während sie so dasaßen – Martin durch seine liebenswürdige Gewohnheit, beim Zeichnen laut zu pfeifen, den armen Mr. Pinch bei seiner kniffligen Arbeit fast zur Verzweiflung bringend –, wurden sie nicht wenig durch den Umstand erschreckt, daß sich plötzlich ein menschlicher Kopf zur Türe hereinsteckte und ihnen, obgleich äußerst zottig und auch sonst wenig beruhigend, höchst leutselig und in einer Weise zulächelte, die zugleich schelmisch, gewinnend und gönnerhaft war.

»Ich selbst bin nicht fleißig, meine Herren«, begann der Kopf, »weiß aber diese Eigenschaft an andern zu schätzen. Ich will grau und häßlich werden, wenn ich nächst dem Genie den Fleiß nicht für eine der charmantesten Eigenschaften des menschlichen Geistes halte. Meiner Seel, ich bin meinem Freunde Pecksniff zu größtem Dank verpflichtet, daß er mir zu dem Anblick einer so köstlichen Szene verholfen hat. Sie erinnern mich an Whittington, der später dreimal Lord-Mayor von London wurde. Ich gebe Ihnen mein großes Ehrenwort, daß Sie mir diesen historischen Charakter lebhaft ins Gedächtnis rufen. Sie sind ein paar Whittingtons, meine Herrn, nur ohne die Katze. Und das ist für mich sehr angenehm, da ich der Katzenspezies nicht sonderlich zugetan bin. Mein Name ist Tigg. Wie geht es Ihnen, meine Herren?«

Martin blickte Mr. Pinch fragend an, und Tom, der in seinem Leben noch nie etwas von einem Mr. Tigg gesehen hatte, faßte die seltsame Erscheinung näher ins Auge.

»Chevy Slyme?« fuhr Mr. Tigg fragend fort und küßte zum Zeichen der Freundschaft seine linke Hand. »Sie werden mich verstehen, wenn ich sage, daß ich der Bevollmächtigte Mr. Chevy Slymes bin – Ambassadeur am Hofe Chivs. – – Ha, ha!« »Hallo!« rief Martin und stutzte bei Nennung dieses Namens. »Bitte, was will er von mir?«

»Wenn Sie Pinch heißen –« begann Mr. Tigg.

»Nein«, erklärte Martin reserviert. »Dies hier ist Mr. Pinch.«

»Wenn dies Mr. Pinch ist«, rief Tigg, küßte abermals seine Hand und ließ seinen Leib seinem Kopfe in das Zimmer nachfolgen, »so wird er mir die Versicherung gestatten, daß ich ihn höchlichst schätze und respektiere, da ihn mein Freund Pecksniff mir gegenüber außerordentlich lobte – auch, daß ich seine Begabung hinsichtlich Orgelspieles sehr bewundere, wenn ich auch dieses Instrument – darf ich mich des Ausdrucks bedienen – nicht selbst – – ›quetsche‹. Wenn dies also Mr. Pinch ist, so möchte ich die Hoffnung auszudrücken wagen, daß er sich wohlbefinde und ihm der Ostwind keine Gesundheitsbeeinträchtigung zugefügt hat.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Tom. »Ich befinde mich sehr wohl.«

»Das ist ein großer Trost«, rief Mr. Tigg. »Übrigens«, er hielt geheimnisvoll die Hand vor den Mund, »komme ich wegen des Briefes.«

»Wegen des Briefes?« fragte Tom laut. »Was für einen Brief meinen Sie?«

»Den Brief«, flüsterte Tom vorsichtig, »den Ihnen mein Freund Pecksniff unter der Adresse ›Chevy Slyme, Esquire‹ zurückgelassen hat.«

»Er hat mir keinen Brief gegeben.«

»Pst!« flüsterte Mr. Tigg. »Das macht nichts aus – obgleich ich wünschte, daß mein Freund Pecksniff die Sache zartfühlender arrangiert hätte – also – das Geld.«

»Das Geld?« rief Tom erschreckt.

»Sehr richtig. – – – Das Geld«, wiederholte Mr. Tigg, tippte Tom ein paarmal auf die Brust und nickte verständnisinnig, als wolle er sagen, man brauche den Umstand nicht unnötigerweise vor einer dritten Person ausführlich zu erwähnen und er würde es für eine besondere Gunst halten, wenn ihm Tom den Betrag so unauffällig wie möglich in die Hand gleiten ließe.

Mr. Pinch war jedoch über dieses ihm gänzlich unerklärliche Benehmen dermaßen erstaunt, daß er unumwunden erklärte, es müsse hier offenbar ein Irrtum obwalten, da er durchaus keinen Auftrag erhalten habe, der sich irgendwie auf den Herrn oder dessen Freund bezöge. Mr. Tigg nahm diese Erklärung mit der ernsten Bitte entgegen, Mr. Pinch möge die Güte haben, sie noch einmal zu wiederholen, und als ihm Tom in einer noch nachdrücklicheren Weise willfahrte, rekapitulierte er sie Satz für Satz und nickte bei jedem Wort feierlich mit dem Kopf. Als Tom zum zweitenmal fertig geworden war, ließ sich Mr. Tigg in einen Stuhl nieder und hielt an die beiden jungen Leute folgende Ansprache:

»Dann will ich Ihnen also sagen, um was es sich handelt, meine Herren. Im gegenwärtigen Augenblicke befindet sich hier in diesem Orte eine vollendete Legierung von Talent und Genie, die durch das, was ich nur als tadelnswerte Nachlässigkeit meines Freundes Pecksniff bezeichnen kann, in eine so furchtbare Situation versetzt wurde, wie sie eben nur bei der sozialen Lage im neunzehnten Jahrhundert möglich ist. In diesem Augenblicke befindet sich im ›Blauen Drachen‹ dieses Dorfes – einer ordinären, armseligen, bäurischen, nach Tabak stinkenden Bierkneipe – ein Individuum, von dem man – um mit dem Dichter zu sprechen – behaupten kann, daß es eigentlich mit nichts verglichen werden kann als mit sich selber. Und dieses Individuum wird nun seiner Zeche wegen dort zurückgehalten. Ha! ha! – Seiner Zeche wegen! Ich wiederhole es: – seiner Zeche wegen. Wir alle«, fuhr Mr. Tigg fort, »haben wohl schon von Fox‘ Märtyrerbuch gehört, desgleichen auch von dem Schuldturm und der Sternkammer; aber ich fürchte keinen Widerspruch, weder von Lebenden, noch von Toten, wenn ich kühnlich behaupte: meinen Freund Chevy Slyme einer Zeche wegen als Geisel zurückzuhalten, das spricht allem Hohn!«

Martin und Mr. Pinch sahen zuerst einander an und dann Mr. Tigg, der, die Arme auf der Brust gekreuzt, ihren Blick halb trostlos, halb bitter erwiderte.

»Mißverstehen Sie mich nicht, meine Herren«, sagte er und streckte seine rechte Hand aus. »Wäre es wegen etwas anderem als einer Zeche wegen geschehen, so hätte ich es ertragen und das menschliche Geschlecht immerhin noch mit einem gewissen Gefühl von Achtung betrachten können. Wenn aber ein Mann wie mein Freund Slyme einer Wirtshausrechnung wegen festgehalten wird – wegen eines an sich selbst schon so gemeinen nichtigen Dinges, so fühle ich: es ist da irgendwo eine Schraube von so ungeheurer Wichtigkeit losgeworden, daß das ganze Gebäude der Gesellschaft in seinen Grundfesten schwankt und man sich nicht einmal mehr auf Hauptprinzipien der Welt verlassen kann. – Kurz – meine Herren –, wenn ein Mann wie Slyme wegen einer armseligen Zeche zurückgehalten wird, so weise ich alles, was die Jahrhunderte gezeitigt, als Wahn zurück und glaube an nichts mehr. Ja, Fluch über mich, wenn ich sogar glaube, daß ich nicht glaube!«

»Es tut mir wahrhaftig herzlich leid«, begann Tom nach einer Pause, »aber Mr. Pecksniff hat mir nichts davon gesagt, und ohne seine Weisung darf ich nichts tun. Würde es nicht am besten sein, Sir, wenn Sie – ich weiß nicht, woher Sie kommen – aber ich meine, würde es nicht am besten sein, wenn Sie nach Hause führen und Ihrem Freunde von dort das Geld schickten?«

»Wie ist das möglich, da ich gleichfalls hier festgehalten werde!« rief Mr. Tigg. »Und noch obendrein, wo ich – dank der unerhörten und, ich muß sagen, unverantwortlichen Nachlässigkeit meines Freundes Pecksniff – kein Geld habe, um einen Platz im Postwagen zu bezahlen?«

Tom wollte schon den Gentleman darauf aufmerksam machen, daß es auch eine Briefpost im Lande gebe – was dieser ohne Zweifel in seiner Aufregung vergessen hatte – und er ja nur an irgendeinen Freund oder Bevollmächtigten zu schreiben brauche, um sich das Geld kommen zu lassen – seine Gutmütigkeit ließ ihn jedoch erraten, daß es Gründe geben könne, diesen guten Rat für sich zu behalten. Er schwieg daher eine Weile und fragte dann:

»Sagten Sie nicht, Sir, daß man Sie ebenfalls zurückhält?«

»Kommen Sie einmal her«, rief Mr. Tigg und stand auf. – »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich einen Augenblick dieses Fenster öffne?«

»Durchaus nicht.«

»Sehr gut«, sagte Mr. Tigg und schob das Fenster in die Höhe. »Sehen Sie dort unten den Kerl mit dem roten Halstuch und ohne Weste?« »Natürlich!« rief Tom. »Das ist doch Mark Tapley.«

»So, Mark Tapley ist es!« entgegnete der Gentleman. »Also, Mark Tapley war so ungemein liebenswürdig, mich hierher zu begleiten und jetzt zu warten, ob ich auch wieder zurückkomme! – Und um dieser Aufmerksamkeit willen,« fügte Mr. Tigg hinzu und strich sich den Schnurrbart,« möchte ich sagen, es wäre besser für ihn gewesen, seine Frau Mutter hätte ihn in der Wiege erdrosselt, anstatt ihn zu solchen Schandtaten heranwachsen zu lassen!«

Mr. Pinch war ob dieser schrecklichen Drohung nicht so entsetzt, als daß ihm nicht noch Atem genug geblieben wäre, Mark heraufzurufen – eine Aufforderung, der dieser so schleunig Folge leistete, daß Tom und Mr. Tigg kaum ihre Köpfe zurückgezogen und das Fenster wieder geschlossen hatten, als er bereits im Zimmer stand.

»Hören Sie, Mark!« sagte Mr. Pinch. »Um Gottes willen, was geht denn zwischen Mrs. Lupin und diesem Gentleman vor?«

»Und welchem Gentleman?« fragte Mark. »Ich sehe hier keinen Gentleman, Sir, als Sie und den neuen Herrn da« – er machte Martin eine linkische Verbeugung – »und zwischen Ihnen und Mrs. Lupin ist durchaus nichts vorgefallen.«

»Possen, Mark!« rief Tom. »Sie sehen da Mr. –«

»Tigg,« ergänzte der Gentleman. »Ein bißchen Geduld; ich werde ihn gleich zermalmen. – Alles zu seiner Zeit!«

»Ach, den!« brummte Mark geringschätzig. »Ja, densehe ich allerdings. Ich könnte ihn zwar noch ein bißchen besser sehen, wenn er sich rasieren und das Haar schneiden lassen wollte –«

– Mr. Tigg schüttelte wütend den Kopf und schlug sich an die Brust. – »Hilft alles nichts«, sagte Mark. »An diese Tür können Sie klopfen, soviel Sie wollen. Da werden Sie keine Antwort kriegen, ich weiß das besser. Es steckt nichts dahinter als Watte, und zwar eine ziemlich schmierige.«

«Lassen Sie das, Mark«, bat Mr. Pinch und legte sich ins Mittel, um Feindseligkeiten zu verhüten, »beantworten Sie mir lieber, was ich Sie fragen werde. Sie sind doch hoffentlich nicht übler Laune?«

»Übler Laune, Sir?« rief Mark, übers ganze Gesicht lachend. »Nein, wahrhaftig nicht, Sir. Es macht einem ein bißchen Ehre – nicht viel zwar, aber doch ein bißchen –, wenn man fidel ist, trotzdem Kerle wie diese da wie brüllende Löwen mit Mähne herumziehen. – – Was es zwischen Mrs. Lupin und ihm gegeben hat? Je nun, eine unbezahlte Zeche hat es gegeben. – Ich glaube, es ist billig genug von Mrs. Lupin, daß sie ihm und seinem Freund nicht doppelte Preise anrechnete; sie sind doch geradezu ein Schandfleck für den ›Drachen‹. Das ist meine Meinung. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, ich litte keine solchen Waldteufel in meinem Hause, und wenn man mir Wettrennpreise zahlte. – Das bloße Aussehen dieses Burschen könnte schon das Bier im Faß sauer werden lassen. – Und das Bier würde auch bestimmt sauer werden, wenn es Verstand hätte.«

»Sie haben mir noch immer meine Frage nicht beantwortet, Mark«, bemerkte Mr. Pinch.

»Nun, Sir«, entgegnete Mr. Tapley, »ich wüßte nicht, was es da lange zu beantworten gibt. Erst gehen die beiden in den ›Halbmond und die sieben Sterne‹, bis sie genügend in der Kreide stehen, dann kommen sie zu uns und treiben’s ebenso. Das gewöhnliche Zechprellen ist nichts gerade Neues für uns, Mr. Pinch; das hätte uns nicht so aufgeregt, wenn nicht das unverschämte Benehmen dieses Kerls gewesen wäre. – Nichts ist ihm gut genug; alle Weiber, meint er, seien sterblich in ihn verliebt und überglücklich, wenn er ihnen nur zublinzelt. Und die Männer, glaubt er, seien nur dazu da, um sich von ihm herumkommandieren zu lassen. Diesen Morgen noch sagte er zu mir in seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Weise: ›Heute abend rücken wir aus, mein Bester.‹ – ›Wirklich, Sir?‹ sagte ich. ›Da soll ich Ihnen wohl die Rechnung vorbereiten, Sir?‹ – ›Ist nicht nötig, mein Bester‹, sagte er; ›Sie brauchen sich nicht damit zu bemühen. Ich werde Pecksniff schon anweisen, daß er die Kleinigkeit begleicht.‹ Darauf erwiderte der Drache: ›Besten Dank, Sir, daß Sie uns beehrt haben; aber da wir Sie nicht näher kennen und Sie ohne Gepäck reisen und Mr. Pecksniff nicht zu Hause ist – was Sie selbstverständlich nicht wissen –, so möchten wir gerne etwas Greifbares von Ihnen sehen.‹ So stehen die Sachen. Und jetzt frage ich Sie«, sagte Mr. Tapley und deutete mit der Hutkrempe auf Mr. Tigg, »welcher Herr oder welche Dame von gesundem Menschenverstand kann behaupten, daß der Bursche nicht ein ganz verdammter Lump ist!?«

»Sagen Sie, bitte«, mischte sich Martin ein und erstickte damit ein vernichtendes Anathema von seiten Mr. Tiggs im Keime, »wie hoch beläuft sich die Schuld?«

»Ach Gott, nicht besonders viel. – Höchstens drei Pfund, Sir«, meinte Mark. »Das würde auch weiter nichts ausmachen, – wenn nicht – wie gesagt – –«

»Ja, ja, das haben wir schon gehört«, unterbrach Martin Chuzzlewit kurz. »Pinch, auf ein Wort.«

»Was ist’s?« fragte Tom und zog sich mit seinem Kollegen in eine Ecke des Zimmers zurück.

»Offen gestanden – ich schäme mich fast, es auszusprechen – aber dieser Slyme ist ein Verwandter von mir, von dem ich nie viel Gutes gehört habe. Es paßt mir nicht, daß er sich hier herumtreibt, und ich möchte ihn für drei oder vier Pfund gerne loswerden. Sie haben wohl nicht so viel Geld, um diese Zeche zu begleichen?«

Tom schüttelte so nachdrücklich den Kopf, daß an seiner Aufrichtigkeit unmöglich zu zweifeln war.

»Das ist fatal, denn ich bin gleichfalls auf dem Trockenen. Falls Sie es gehabt hätten, würde ich Sie darum angegangen haben. – – Hm. – – Was, wenn wir aber der Wirtin sagen, wir wollten dafür gutstehen? Glauben Sie, daß sie darauf einginge?«

»Oh, sicher!« rief Tom. »Sie kennt mich. – Gottlob!«

»Dann wollen wir gleich zu ihr gehen und ihr den Vorschlag machen. Je eher wir diese Gesellschaft loswerden, desto besser. Da Sie bisher das Wort geführt haben, machen Sie dem Herrn vielleicht klar, was wir zu tun gedenken – wollen Sie?«

Mr. Pinch tat es mit Freuden und teilte Mr. Tigg das Nötige mit, der ihm dafür warm die Hand drückte und versicherte, sein Glaube an die Menschheit sei jetzt wieder gänzlich hergestellt. Nicht so sehr wegen des gütigen Beistandes als wegen des gelieferten Beweises, daß edle Naturen immer noch ein Verständnis für ihresgleichen auf Erden empfänden. Und er danke den Herren im Namen seines genialen Freundes ebenso warm und herzlich, als ob es sich um seine eigne Angelegenheit handle. In seiner schwungvollen Rede durch den allgemeinen Aufbruch gestört, bemächtigte er sich an der Haustüre des Rockärmels Mr. Pinchs, um weiteren Unterbrechungen vorzubeugen, und unterhielt seinen gutmütigen Zuhörer mit allerhand erbaulichen Gesprächen, bis sie vor dem »Drachen« anlangten.

Es bedurfte bei der blühenden Wirtin kaum Mr. Pinchs Fürsprache, da sie ihre beiden Gäste sowieso möglichst rasch los sein wollte. In Wirklichkeit hatten diese ihre kurze Haft lediglich Mr. Tapley zu verdanken, der eine prinzipielle Abneigung gegen großsprecherische Gentlemen mit durchlöcherten Ellenbogen hegte und ganz speziell gegen Prachtexemplare von der Sorte wie Mr. Tigg und sein Freund. Nachdem die Angelegenheit so in Kürze abgemacht war, wollten sich Mr. Pinch und Martin sogleich wieder entfernen, aber Mr. Tigg bat sie so inständig, ihm die Ehre zu erweisen, sie seinem Freunde vorstellen zu dürfen, daß sie teils aus Gutmütigkeit, teils aus Neugierde nachgaben und sich diesem ausgezeichneten Gentleman vorführen ließen.

Mr. Chevy Slyme brütete gerade über der Neige einer Brandyflasche vom gestrigen Abend und war mit der tiefsinnigen Aufgabe beschäftigt, mit dem nassen Boden seines Trinkglases eine Kette von Ringen auf den Tisch zu zeichnen. So elend und herabgekommen er auch jetzt aussah, so war er doch einst in seiner Art gewissermaßen tonangebend gewesen und hatte seine Ansprüche als Mann von unendlichem Geschmack und vielversprechenden Gaben allenthalben geltend gemacht. Die nötigen Requisiten zu diesem Beruf sind leicht beschafft: ein Naserümpfen, ein spöttisches Aufwerfen der Lippe, ein geringschätziges Lächeln – – was will man mehr! Aber dieses Pfropfreis des Stammes Chuzzlewit hatte es sich – nachdem seine Mittel aufgebraucht waren und er zu faul war für irgendwelche Tätigkeit – in einer schlimmen Stunde sogar beifallen lassen, eine Art Professor des guten Geschmacks werden zu wollen. Zu spät fand er, daß dazu etwas mehr erforderlich war als seine ursprünglichen Qualifikationen, um sich in diesem Berufe halten zu können, und schnell war er daher bis zu seiner gegenwärtigen Stufe herabgesunken. Nichts war ihm von seinem frühern Ich übriggeblieben als sein prahlerisches Wesen und seine Gallsucht, und ohne seinen Freund schien er gar nicht existieren zu können. Im gegenwärtigen Augenblick bot er in seinem trunkenweinerlichen Zustand, seiner Unverschämtheit und seinem Bettlerstolz eine so jämmerliche Figur, daß sogar sein Freund und Schmarotzer daneben einen ritterlichen Eindruck machte.

»Chiv«, begann Mr. Tigg und klopfte ihm auf den Rücken, »mein Freund Pecksniff war nicht zu Hause, und ich habe daher die Sache mit Mr. Pinch und seinem Freund in Ordnung gebracht. – – Mr. Pinch nebst Freund – Mr. Chevy Slyme.«

»Eine recht angenehme Lage, um sich Fremden vorstellen zu lassen«, versetzte Chevy Slyme und richtete seine blutunterlaufenen Augen auf Tom Pinch. »Ich glaube, ich bin der unglücklichste Mensch auf Erden!«

Tom bat ihn, nicht davon zu sprechen, und wollte sich nach einer Pause mit Martin entfernen, aber Mr. Tigg beschwor sie durch Räuspern und Nicken so dringend, sie möchten doch an der Tür stehen bleiben, daß sie unwillkürlich haltmachten.

»Ich schwöre«, rief Mr. Slyme, ließ seine Faust kraftlos auf den Tisch fallen und stützte dann den Kopf auf die Hand, während ein paar Tränen besoffenen Jammers aus seinen Augen niedertropften, »daß ich das elendeste Geschöpf weit und breit bin. Die Menschheit hat sich gegen mich verschworen. Ich bin der gebildetste Mensch, der je gelebt. Ich weiß alles und jedes, bin voll Geist, voller Kenntnisse, voll neuer Ansichten – und doch in der schmachvollen Lage, in diesem Augenblick einer elenden Zeche wegen zwei Fremden verpflichtet sein zu müssen!«

Mr. Tigg schenkte seinem Freund das Glas wieder voll, drückte es ihm in die Hand und gab den beiden durch Zeichen zu verstehen, daß sie Chevy Slyme sogleich in einem bessern Lichte zu sehen bekommen würden.

»Zwei Fremden verpflichtet für eine Wirtshausrechnung! Was?!« wiederholte Mr. Slyme, nachdem er dem Glase verdrießlich zugesprochen. »Nette Sachen das! Und Scharen von Betrügern werden indessen berühmt – Kerle, die ebenso unwürdig sind, mir die Schuhriemen zu lösen, wie – wie – – Tigg, ich rufe dich zum Zeugen an, daß ich der verfolgteste Hund bin, der über die Erde hinstreicht.« Mit einem Gewinsel, das wirklich etwas Hündisches hatte, setzte er wieder das Glas an den Mund. Er mußte einigen Mut oder Stärkung daraus geschöpft haben, denn, als er es niedersetzte, lachte er laut und verächtlich auf. – Abermals machte Mr. Tigg Martin und Tom sehr nachdrückliche Gebärden, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, wo »Chiv« in seiner vollen Größe sich entpuppen werde.

»Ha, ha, ha!« lachte Mr. Slyme. »Zwei Fremden verpflichtet für eine Wirtshausrechnung! Ich! Verpflichtet zwei Architektenlehrlingen – Kerlen, die die Erde mit eisernen Ketten abmessen und Häuser bauen wie die Maurer. – Man nenne mir die Namen dieser beiden Lehrlinge! Wie können sie sich unterstehen, mir Verpflichtungen aufzuerlegen?«

Mr. Tigg war ganz außer sich vor Bewunderung über diesen edlen Charakterzug seines Freundes, wie er Mr. Pinch durch lebhaftes Gebärdenspiel deutlich zu erkennen gab.

»Sie sollen wissen, und alle Welt soll es wissen«, schrie Chevy Slyme, »daß ich keiner von den gemeinen, kriecherischen, zahmen Charakteren bin, die man im gewöhnlichen Leben antrifft. Ich bin unabhängig und frei. Mein Herz ist stolz. Ich habe eine Seele, die sich hoch erhebt über niedrige Rücksichten.«

»O Chiv, Chiv, Chiv!« murmelte Mr. Tigg. »Du hast eine edle unabhängige Natur, Chiv!«

»Geh hin und tue deine Pflicht«, herrschte ihn Mr. Slyme unwillig an. »Borg dir Geld aus für die Reise, und wer’s immer sei, der’s herborgt, sag ihm, daß ich einen hohen und stolzen Geist besitze und daß in meiner Seele höllisch tiefe Saiten erklingen, die eine Gönnerschaft nicht ertragen können. Hörst du? Sag ihnen, daß ich sie hasse und auf diese Art mir die Achtung vor mir selbst bewahre. Sag ihnen, daß noch nie ein Mensch sich selbst so geachtet hat wie ich mich!«

Er wollte noch hinzufügen, daß er zwei Arten von Menschen besonders hasse, nämlich alle, die ihm Wohltaten erwiesen, und alle, denen es besser ging als ihm selbst, da in beiden Fällen ihre Lage eine Kränkung für einen Mann von seinen unerhörten Verdiensten bedeute. – Er sprach es jedoch nicht aus, denn gleich darauf sank er mit dem Kopf auf den Tisch und verfiel in einen trunkenen Schlaf. – Zu hochmütig, um zu arbeiten, zu betteln, zu borgen oder zu stehlen, war er doch gemein genug, sich von einem andern die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen; zu patzig, um die Hand zu lecken, die ihn in seiner Not fütterte, war er doch Köter genug, hinterrücks zu beißen und sie zu zerfleischen!

»Hat es je«, rief Mr. Tigg und begleitete die jungen Leute hinaus und schloß sorgsam die Türe hinter sich, »hat es je einen so freien unabhängigen Geist gegeben wie diesen außerordentlichen Menschen? Je einen solchen Römer im Altertum wie unsern Freund Chiv! Je einen Mann von so streng klassischem Gedankenflug, von einer so togaartigen Einfachheit des Wesens? Gab es je einen Mann von so fließender Beredsamkeit? Ich frage Sie, meine Herrn, hätte er sich nicht im Altertum auf einen Dreifuß setzen und uns bis ins Grenzenlose prophezeien können, vorausgesetzt, man hätte ihn auf Staatskosten mit Grog versorgt?!«

Mr. Pinch war eben im Begriffe, diese kühne Behauptung mit seiner gewohnten Milde zu bezweifeln, als er bemerkte, daß sein Begleiter bereits die Treppe hinuntergegangen war. Er schickte sich daher an, ihm zu folgen.

»Sie wollen doch nicht schon gehen, Mr. Pinch?« fragte Tigg.

»Ja. – Ich danke«, antwortete Tom, »bitte, bemühen Sie sich nicht, bleiben Sie nur hier.«

»Wissen Sie, ich möchte noch gern ein Wörtchen im Vertrauen mit Ihnen reden«, versetzte Tigg. »Es würde mein Herz sehr erleichtern, wenn ich mich auf der Kegelbahn noch einige Minuten Ihrer Gesellschaft erfreuen könnte. Darf ich Sie um diese Gunst ersuchen?«

»O gewiß, wenn Ihnen soviel daran liegt«, erwiderte Tom. Er begleitete also Tigg, und als sie bei der Kegelbahn angekommen waren, zog dieser etwas, was wie die fossilen Überreste eines antediluvianischen Schnupftuchs aussah, aus seinem Hute und wischte sich die Augen damit.

»Sie haben mich heute in einem ungünstigen Lichte gesehen«, schluchzte Mr. Tigg.

»Bitte, reden wir nicht davon«, bat Tom.

»Es ist aber doch so«, rief Tigg. »Ich muß auf dieser Ansicht beharren. Hätten Sie mich an der Küste Afrikas an der Spitze meines Regiments sehen können, Mr. Pinch, wie ich ein Karree formierte – in der Mitte die Weiber, die Kinder und die Regimentskasse – und zum Angriff schritt, so würden Sie nicht glauben, daß jetzt derselbe Mann vor Ihnen steht. Sie würden den größten Respekt vor mir gehabt haben, Sir.«

– Tom schien diesbezüglich seine eigenen Ansichten zu haben und war daher von dieser Schilderung nicht ganz so hingerissen, wie Mr. Tigg wohl wünschen mochte. –

»Doch gleichviel! – Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich schwach zeigte. – – – Sie haben meinen Freund Slyme gesehen?«

»Kein Zweifel.«

»Und welchen Eindruck hat mein Freund Slyme auf Sie gemacht, Sir?«

»Keinen sehr angenehmen, muß ich sagen«, antwortete Tom stockend.

»Das tut mir leid, aber es überrascht mich nicht«, rief Mr. Tigg und hielt Tom an beiden Rockaufschlägen fest, »es ist auch meine Meinung. Aber, Mr. Pinch, wenn ich auch nur ein schlichter und gedankenloser Mensch bin, so weiß ich doch den Geist zu ehren. Ich ehre das Talent in meinem Freunde. Ich habe das Recht, Mr. Pinch, vor allen Menschen gerade an Sie um seines hohen Geistes willen zu appellieren, wenn ihm schon die Fähigkeit mangelt, in der Welt sein Glück zu machen. Und daher, Sir, – nicht um meinetwillen, der ich durchaus keine Ansprüche an Ihre Teilnahme habe, sondern um meines niedergedrückten, meines geistig so unendlich hochstehenden, stolzen Freundes willen, der zu wirklichen Ansprüchen berechtigt ist wie keiner sonst – bitte ich Sie um ein Darlehen von drei halben Kronen. Ich bitte Sie darum offen und ohne Erröten. Ich bitte darum, gewissermaßen wie um ein Recht. Und wenn ich hinzufüge, daß sie noch in dieser Woche zurückerstattet werden sollen, so fühle ich, daß Sie mich wegen dieser kleinlichen Worte innerlich nicht tadeln werden.«

Mr. Pinch zog einen altmodischen rotledernen Geldbeutel mit einem Stahlschloß, der wahrscheinlich seiner seligen Großmutter gehört hatte, hervor. Er enthielt eine einzige halbe Guinee – Toms ganzes Gehalt für dieses Quartal. »Halt!« rief Mr. Tigg, der ihn dabei scharf beobachtet hatte. »Ich wollte eben sagen, besser wäre noch eine halbe Guinee – – der Post wegen – Gold läßt sich bequemer zurückschicken. – – Ich danke Ihnen. Als Adresse genügt vermutlich: ›Mr. Pinch bei Mr. Pecksniff‹?«

»Ja, ganz richtig. Nur schreiben Sie, bitte, hinter Mr. Pecksniffs Namen: ›Hochwohlgeboren‹. Also an mich bei Mr. Seth Pecksniff, Hochwohlgeboren.«

»Bei Seth Pecksniff, Hochwohlgeboren«, buchstabierte Mr. Tigg und schrieb sich die Adresse mit einem Bleistiftstümpfchen sorgfältig auf. »Wir sagten, glaube ich, diese Woche?«

»Ja; oder meinetwegen auch Montag«, bemerkte Tom.

»Nein, nein, pardon! Montag, das geht nicht«, protestierte Mr. Tigg. »Wenn wir diese Woche ausgemacht haben, so ist Samstag der späteste Termin. Wurde diese Woche festgesetzt?«

»Wenn Sie’s schon so genau nehmen – ja«, entgegnete Tom. Mr. Tigg merkte sich auch dies genau an, überlas noch einmal die Notiz mit ernstem Stirnrunzeln und setzte dann, um das Geschäft noch korrekter und buchungsmäßiger zu machen, dem ganzen die Anfangsbuchstaben seines eigenen Namens bei. Sodann versicherte er Mr. Pinch, es sei jetzt alles vollkommen in Ordnung, drückte ihm mit großer Wärme die Hand und entfernte sich.

Da Mr. Pinch fürchtete – und wohl mit Recht –, Martin könne dieses Interview ins Lächerliche ziehen, wollte er nicht sogleich nachkommen und ging daher in der Kegelbahn auf und ab, bis Mr. Tigg und sein Freund den »Drachen« verlassen hatten. – Gerade als sie abzogen, begegnete er Mark vor dem Wirtshaus.

»Ich wollte eben sagen«, bemerkte Mark und deutete den beiden nach, »daß das so eine Art Dienst für mich wäre, wenn man davon leben könnte. Solchen Individuen aufzuwarten wäre doch noch besser, als Totengräber zu sein, Sir.«

»Hierzubleiben wäre besser als beides, Mark«, entgegnete Tom. »Lassen Sie sich raten und bleiben Sie, wo’s Ihnen gutgeht.«

»Dazu ist es jetzt zu spät, Sir«, sagte Mark. »Ich habe ihr bereits gekündigt, und morgen früh geht’s fort.«

»Wirklich fort? Und wohin denn?« »Nach London, Sir.«

»Und was dort?« fragte Mr. Pinch.

»Das weiß ich selbst noch nicht, Sir. Seit ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet habe, hat sich noch nichts Geeignetes gefunden. All die Berufe, an die ich dachte, waren viel zu heiter, und man hätte keine besondere Ehre dabei einlegen können. Ich werde mich wohl um einen Privatdienst umsehen müssen, Sir. Ich möchte meine Kraft allenfalls an einer frommen Familie versuchen, Mr. Pinch.«

»Ob das aber die fromme Familie aushielte?« meinte Tom.

»Da könnten Sie recht haben, Sir. – Wäre ich imstande, bei einer gottlosen Familie unterzukommen, wäre das meinen Kräften vielleicht angemessener. Aber da ist wieder die Schwierigkeit: Wo finde ich das Richtige? Ein junger Mensch kann doch nicht gut in die Zeitung einrücken lassen: ›Stelle wird gesucht. Es wird mehr auf Gottlosigkeit als auf hohen Lohn gesehen.‹ Oder meinen Sie doch, Sir?«

»Nein, nein«, gab Tom zu. »Das geht keinesfalls.«

»Eine neidische Familie«, fuhr Mark mit gedankenvoller Miene fort, »eine streitsüchtige Familie, eine boshafte Familie, oder sogar eine so ganz durch und durch niederträchtige Familie würde mir einen Wirkungskreis öffnen, in dem ich etwas leisten könnte. Am besten von allen Leuten hätte mir der alte Herr gepaßt, der hier krank lag. Der war so der richtige Plagegeist. – Nun, ich muß eben warten und zusehen, was kommt, Sir. Hoffen wir das Schlimmste.«

»Sie sind also fest entschlossen zu gehen?« fragte Mr. Pinch.

»Mein Koffer ist bereits beim Fuhrmann, Sir, und ich gehe morgen zu Fuß fort. Wenn mich die Kutsche einholt, so sitze ich auf. Aber jetzt Gott befohlen, Mr. Pinch, leben Sie wohl – und auch Sie, mein Herr. Leben Sie wohl alle beide – und viel Glück und Wohlergehen!«

Lachend erwiderten die beiden Kollegen diesen Abschiedsgruß und gingen Arm in Arm nach Hause. Unterwegs teilte Mr. Pinch Martin zur näheren Erklärung die Einzelheiten von Mr. Mark Tapleys wunderlichem Ehrgeiz mit, die der Leser bereits kennt. Hartnäckig wich Mark den ganzen Nachmittag bis zum Abend seiner Gebieterin aus, denn er hatte gemerkt, daß sie sehr niedergeschlagen war, und glaubte seinerseits nicht so ganz für die Folgen eines verlängerten Tête-à-tête hinter dem Schankverschlag stehen zu können. Bei dieser Taktik wurde er durch den großen Andrang in der Bierstube unterstützt. Die Kunde von seinem Vorhaben war nämlich ruchbar geworden, und es gab deshalb den ganzen Abend ein förmliches Gedränge, da jeder noch auf seine Gesundheit trinken wollte, was natürlich in der Folge ein gewaltiges Krügegeklapper veranlaßte. Endlich wurde das Haus für die Nacht geschlossen. Mark mußte jetzt – da war nicht mehr zu helfen – die beste Miene zum bösen Spiel machen und begab sich daher anscheinend sehr verdrießlich zur Büfettüre.

»Wenn ich ihr in die Augen schaue«, sagte er sich, »so ist’s um mich geschehen. Ich fühle schon jetzt, wie’s mich reißt.«

»Endlich kriegt man Sie zu sehen«, begann Mrs. Lupin.

»Ja«, brummte Mark. »Da bin ich.«

»Und Sie sind also wirklich fest entschlossen, uns zu verlassen, Mark?«

»Nun freilich«, sagte Mark, ohne die Augen aufzuschlagen.

»Ich dachte«, fuhr die Wirtin mit ermutigendem Stocken fort, »Sie hätten den ›Drachen‹ gern?«

»Ich habe ihn auch gern«, antwortete Mark.

»Nun also«, fragte die Wirtin – und es war gewiß eine sehr natürliche Frage – »warum wollen Sie ihn denn dann verlassen?«

Da Mark auf diese Frage keine Antwort gab, nicht einmal, als sie wiederholt wurde, zählte ihm Mrs. Lupin daher sein Geld auf die Hand und fragte ihn – nicht ungütig, ganz im Gegenteil –, was er sonst noch etwa möchte.

Das Sprichwort sagt schon, es gebe gewisse Dinge, denen Fleisch und Blut nicht widerstehen können. Eine Frage wie diese, und noch dazu in solcher Art, zu einer solchen Zeit und von einer solchen Person gestellt, war – soweit es wenigstens Marks Fleisch und Blut betraf – gewiß eines dieser Dinge. Mark sah wider Willen auf und blickte, nachdem dies einmal geschehen war, nicht mehr zu Boden – stand doch die Blüte aller rundlichen, drallen, hübschen, glutäugigen, mit Wangengrübchen geschmückten Wirtinnen, die je auf Erden gewandelt, leibhaftig vor ihm.

»Nun, ich will Ihnen was sagen«, rief Mark, wurde plötzlich ganz Feuer und Flamme und schlang den Arm um Mrs. Lupins Taille – was diese ganz und gar nicht beunruhigte, wußte sie doch, was Mark für ein wackerer junger Mensch war – »wenn ich mir nehmen dürfte, was mir am meisten gefiele, so wären Sie es. Jawohl, Sie und nur Sie«, rief Mr. Tapley, nickte nachdrücklich und blieb mit seinen Blicken, ohne daran zu denken, was er sich so fest vorgenommen, an den Kirschenlippen der hübschen Witwe hängen. »Und kein Mensch würde sich wundern, wenn ich’s täte!«

Mrs. Lupin sagte, sie sei geradezu aus den Wolken gefallen. Wie er nur solches Zeug reden könne. Sie hätte das nie von ihm gedacht.

»Wahrhaftig, ich hätte es früher auch nie von mir gedacht!« entgegnete Mark und zog seine Augenbrauen in komischem Erstaunen in die Höhe. »Ich dachte immer, wir würden ganz mir nichts, dir nichts voneinander scheiden, und hatte mir eben vorhin noch, ehe ich eintrat, vorgenommen, es so zu halten. Aber Sie haben etwas an sich, das einem das Herz aufgehen macht. – Doch reden wir mal gescheit miteinander« – fügte er im ernsten Tone hinzu, um jedem Irrtum vorzubeugen – »Sie wissen, daß ich Ihnen keine Liebeserklärung nicht machen will.«

Eine Sekunde lang überflog ein Schatten – wenn auch kein gerade finsterer – das offene Gesicht der Wirtin, verschwand jedoch gleich wieder und machte einem herzlichen Lachen Platz.

»Meinen Sie nicht«, sagte sie, »wenn Sie an so was nicht denken, daß es besser wär, wenn Sie Ihren Arm wegtäten?«

»Warum sollt ich denn das?« rief Mark. »Es ist doch nichts Unrechtes dabei!«

»Natürlich ist nichts Unrechtes dabei«, entgegnete Mrs. Lupin, »sonst würde ich es auch nicht erlauben.«

»Na gut«, meinte Mark, »dann lassen wir’s halt dabei.«

Das war so vernünftig gesprochen, daß die Wirtin ihn lachend gewähren ließ, ihn aber zugleich aufforderte, mit dem, was er zu sagen habe – und zwar schnell – herauszurücken. – Übrigens sei er ein unverschämter Bursche, setzte sie hinzu. »Ha, ha! Mir kommt’s beinahe auch so vor«, lachte Mark, »ich hätt’s früher wahrscheinlich selbst nicht geglaubt. Aber macht nix, heut abend getrau ich mir schon was zu sagen.«

»Also, raus damit – endlich schon!« rief Mrs. Lupin. »Ich möcht zu Bett gehen.«

»Na, so hören S’«, sagte Mark, »und ich möcht den Mann sehen, der sagt, daß er je eine freundlichere Frau als Sie gesehen hat – was möcht eigentlich sein, wann wir zwei mitsamm –« »Aber Unsinn!« rief Mrs. Lupin. »Reden Sie nicht so dummes Zeug daher!«

»Gar kein dummes Zeug«, protestierte Mark, »und ich möcht Sie bitten, daß Sie mich bis zu End hören. Also, was möcht sein, wenn wir zwei zusamm ein Paar wären? Wenn mir jetzt schon nicht recht wohl in dem schönen ›Drachen‹ ist, wie könnt ich dann erst zufrieden sein?! Schon gar nicht. Das ist doch gar keine Frag nicht. Wenn Sie noch so gut aufgelegt wären, möchten Sie sich doch immer damit abquälen, ob Sie nicht zu alt für meinen Geschmack würden, und möchten sich einreden, daß ich an Sie angebunden wär wie der Drachen ober der Tür, und immer ausreißen möcht. – Ich weiß ja nicht, ob es so kommen würde«, fuhr Mark gedankenvoll fort, »aber sein könnt’s doch immerhin. Sie wissen, ich bin ein unsteter Mensch und hab gern Abwechslung. Ich glaub immer, daß ein Mensch von meiner Gesundheit und meiner guten Laune eigentlich nur dann Ehre einlegen kann, wenn er dort fidel ist, wo andere sich unglücklich fühlen. Vielleicht hab ich unrecht, aber sehen Sie, wenn’s auch so wär, was könnt’s da Besseres geben als Ausprobieren? Es ist also wohl das beste, wenn ich geh. Besonders, wo Sie mir erlaubt haben, alles das rund herauszusagen. So können wir wenigstens als gute Freunde scheiden, wie wir’s immer gewesen sind, seitdem ich zum erstenmal hier unter dem Dach dieses edlen Drachen eingezogen bin, an den ich«, setzte Mr. Tapley zum Schlüsse hinzu, »bis zum letzten Atemzug mit Hochachtung denken werde.«

Eine kleine Weile blieb die Wirtin ganz stumm sitzen, dann legte sie ihre beiden Hände in die Mr. Tapleys und drückte sie herzlich. »Sie sind halt ein guter Mensch«, sagte sie und sah ihm mit einem Lächeln, das sich an ihr ein wenig ernst ausnahm, ins Gesicht. »Ich glaube, Sie sind mir heute abend ein besserer Freund gewesen, als ich je einen in meinem ganzen Leben gehabt hab.«

»Ach, was das betrifft, wissen Sie«, entgegnete Mark, »das sind Possen. Aber, so wahr ich lebe!« rief er und sah sie mit einer Art Begeisterung an. »Wenn es Ihnen wirklich darum zu tun wäre – wieviel annehmbaren Freiern könnten Sie nicht den Kopf verdrehen!«

Mrs. Lupin lachte herzlich über dieses Kompliment, schüttelte ihm wieder die Hände und bat ihn, wenn er je einen Freund in der Not brauche, ihrer nicht zu vergessen. Dann verließ sie fröhlich das kleine Schenkzimmer und begab sich die Drachentreppe hinauf.

»Sie singt ein Liedchen im Gehen«, murmelte Mark lauschend, »damit ich nicht glauben soll, sie sei traurig. Na, da ist’s doch wenigstens ein bißchen Ehre, wenn man dabei fidel ist!«

Mit diesem Trosteswort, das recht kläglich klang, ging er nichts weniger als fidel zu Bett.

Am nächsten Morgen stand er noch früher auf als gewöhnlich und war schon bald nach Sonnenaufgang auf den Beinen. Doch das half alles nichts; der ganze Ort war gleichfalls schon wach, um Mark Tapley scheiden zu sehen: – die Buben, die Hunde, die Kinder, die alten Männer, die Fleißigen und die Müßiggänger, alle waren sie da und riefen jeder sein: »Leb wohl, Mark!« und jedem tat es leid, daß er ging. Tapley hatte auch so eine Art Ahnung, daß seine gewesene Gebieterin aus ihrem Kammerfenster heraussähe, aber er konnte es nicht übers Herz bringen, hinaufzuschauen.

»Lebt wohl – alle miteinander!« rief er, schwenkte seinen Hut auf seinem Wanderstab und marschierte mit raschen Schritten die schmale Gasse hinauf. »Brave Kerle, die Wagenmacher – hurra! Da kommt der Fleischerhund aus dem Garten nach Haus, alter Kerl! – Und Mr. Pinch geht zu seiner Orgel – leben Sie wohl, Sir! Und der kleine Dachshund vom Nachbar! Obs d‘ schaust, daß d‘ heimkommst! Und Kinder, genug, um das Menschengeschlecht bis zum jüngsten Tag fortzupflanzen – lebt wohl, ihr Buben und Mädels! – Na, da kann man wirklich mal Ehre einlegen – da braucht’s die ganze Manneskraft, um fidel zu bleiben. – Aber ich bin ungeheuer fidel! Nicht ganz so zwar, wie ich möchte – aber doch beinah. – Adjö, adjö!«