9. Kapitel
London und Todgers‘ Logier- und Kosthaus
Wohl noch nie mag es in einer Stadt, einem Marktflecken oder einem Dorf auf der Welt eine so eigentümliche Anstalt als die von Mrs. Todgers gegeben haben. Und doch war Todgers‘ Etablissement ganz der Hauptstadt würdig und nicht viel anders als Hunderte und Tausende ähnlicher Häuser, die London in diesem Stadtteil einengt, drängt, quetscht, mit ziegelsteinernen Ellenbogen knufft und des Lichtes und der frischen Luft beraubt.
In der Umgebung von Todgers‘ Anstalt konnte man nicht herumschlendern wie vielleicht anderswo; da hieß es, seinen Weg wohl eine Stunde weit durch Gassen und Gäßchen, Durchlässe und Höfe zu tappen, bis man endlich auf etwas stieß, was man füglich eine Straße nennen konnte. Den Fremden wandelt eine Art verzweifelte Ergebung an, wenn er in diese unwegsamen Irrgänge gerät, in denen er sich unbedingt für verloren geben muß. Da hinein, dort heraus und im Kreis herum, bis ihn schließlich eine Mauer oder ein eisernes Geländer aufhält und er sich – ergeben in Gottes Willen – zur Umkehr genötigt sieht – überzeugt, daß sich schließlich alles zum Guten wenden müsse. Es sind Beispiele bekannt, daß Leute – zu Todgers zum Mittagessen eingeladen – eine halbe Ewigkeit im Kreise herumgingen, ohne die Schornsteine des Etablissements aus den Augen zu verlieren, und es doch nicht finden konnten und schließlich – zwar schweren Herzens, aber doch – wieder nach Hause gingen. Niemals hat wohl jemand Todgers‘ Etablissement auf bloße mündliche Weisung hin, und wäre sie kaum fünfzig Schritt davon entfernt erteilt worden, aufzufinden vermocht. Bedächtige Fremde aus Schottland oder dem Norden von England sollen sich zwar – angeseilt an einen Gassenjungen als Führer oder in die Fußstapfen von Briefträgern tretend – glücklich zurechtgefunden haben. Aber das waren eben seltene Ausnahmen, die nur die Regel bestätigen. Der Ariadnefaden zu Todgers‘ Etablissement ist nur wenigen Auserwählten anvertraut!
In der Nähe von Todgers‘ Logierhaus haben verschiedene Obsthändler ihre Stände, und das ist der Grund, weshalb sich den Sinnen des Wanderers zuerst der Geruch von Orangen aufdrängt – nämlich von schadhaften mit blauen und grünen Beulen versehenen –, die in Kisten oder dumpfen Kellern dahinsiechen. Den ganzen Tag hindurch wogt ein Strom von Lastträgern von den Löschplätzen der Themse her, die, mit zum Bersten überfüllten Orangenkisten auf dem Rücken, langsam durch die Gassen ziehen, während sich unter dem Torweg des Wirtshauses vom Morgen bis in die Nacht hinein ganze Haufen von Leuten zusammendrängen, um auszuruhen oder eine Erfrischung zu sich zu nehmen. Seltsame einsiedlerhafte Pumpbrunnen stehen in der Nachbarschaft von Todgers‘ Logierhaus herum, verstecken sich in Sackgäßchen und leisten den Feuerleitern Gesellschaft. Auch Kirchlein gibt es die Menge, mit so manchem gespenstischen kleinen Friedhof dahinter, überwuchert von der gewissen kümmerlichen Vegetation, die freiwillig aus Grüften und Ruinen, aus Schutt und dumpfigem Grasboden aufzusprießen pflegt. Auf einigen dieser schmutzigen Ruheplätze, die mit einem gewöhnlichen Friedhofsrasen ebenso viel Ähnlichkeit haben wie in den benachbarten Fenstern die irdenen Töpfe für Bartnelken und Goldlack mit ländlichen Gärten, stehen Bäume – hohe Bäume, die Jahr für Jahr ihre Blätter treiben, aber, wie man aus den kränklichen Zweigen entnehmen kann, mit der träumerischen Sehnsucht nach Licht, wie Vögel in Käfigen. Lahme alte Wächter hüten zur Nachtzeit hier die Toten, bis sie sich endlich selbst der schweigsamen Brüderschaft anschließen; nur, daß sie dann gesunder schlafen – von einer andern Art »Schilderhäuschen« umschlossen – als früher jemals über der Erde und sich dann selber bewachen lassen, anstatt noch länger Wächter zu sein.
In den engen Durchfahrten in der Nähe taucht hin und wieder ein altes, mit Schnitzwerk versehenes Eichenportal auf, dahinter vor alters gar oft der Lärm nächtlicher Schwelgerei und üppiger Gelage erscholl. Jetzt sind diese ehemaligen Paläste nichts weiter als dunkle, öde Warenmagazine, deren Echo mit schweren Wollen- und Baumwollballen die Kehle gestopft worden ist – Gebäude, die in ihrem Schweigen, ihrer Einsamkeit und Abgestorbenheit etwas Finsteres, Geisterhaftes haben. Dann liegen düstere Höfe ringsum verstreut, in die sich höchstens einmal ein verspäteter Wanderer verirrt und wo ungeheure Güterballen, für stromauf- oder stromabwärts bestimmt, unablässig an hohen Kränen zwischen Himmel und Erde schweben.
In der Nähe von Todgers‘ Logierhaus gibt es mehr Schubkarren, als man wohl für die Bedürfnisse einer ganzen Stadt für nötig halten sollte – keine aktiven Schubkarren, sondern eine Vagabundenrasse, die beständig in den engen Gassen vor den Türen ihrer Herren herumfaulenzt, den Durchgang versperrt, und wenn einmal eine verirrte Mietkutsche oder ein rumpelnder Frachtwagen des Weges kommt, Anlaß zu einem Lärm gibt, daß die ganze Umgegend lebendig wird und sogar die Glocken des nächsten Kirchturms vibrieren. In den Schlünden und Rachen der Torwege und Sackgassen halten Weingroßhändler und Spezerei-Engrossisten vollkommene, kleine Städte, und tief unter den Fundamenten der Gebäude ist der Grund unterwühlt von Stallungen, aus denen an stillen Sonntagen das Halftergerassel der von Ratten geplagten Karrengäule spukhaft empordringt wie das Kettenklirren ruheloser Gespenster aus Spinnstubenmärchen.
Bände und aber Bände würde die Schilderung der wunderlichen alten Tavernen füllen, die in der Nähe von Todgers‘ Logierhaus ein schläfriges, geheimnisvolles Dasein fristen, mit ihren kuriosen alten Stammgästen, die mit rasselndem Husten, asthmatisch und kurzatmig, nur noch inbetreff Geschichtenerzählens wunderbar gute Blasbälge besitzen und gewaltige Gegner der Dampfkraft und all des neumodischen Zeugs sind, die die Aeronautik für sündhaft halten, die Entartung des Zeitalters beklagen und zu der Ansicht hinneigen, die Sittlichkeit gehe zu Ende mit dem Perückenpuder und Englands alte Größe werde mit der Frisierkunst zu Grabe getragen.
Was Todgers‘ Logierhaus selbst betrifft – um von ihm bloß als Gebäude und nicht von seiner Eigenschaft und seinem Verdienst als Beherbergungs- und Speiseanstalt für Handelsbeflissene zu sprechen –, so war es seiner Umgebung vollkommen würdig. Für das Stiegenhaus hatte es ein einziges Fenster seitwärts im Erdgeschoß, das der Sage nach seit hundert Jahren nicht geöffnet worden und von dem Schmutz des Nebengäßchens dahinter derart mit einer zähen Schlammkruste überzogen war, daß keine Scheibe hätte herausfallen können, und wenn jede in zwanzig Stücke zersprungen gewesen wäre. Aber das große Geheimnis von Todgers‘ Logierhaus war der Keller, zu dem man nur durch ein kleines Hinterpförtchen und ein rostiges Gitter gelangen konnte. Seit Menschengedenken hatte er in keiner Verbindung mit dem Haus gestanden, sondern war stets das zinsfreie Eigentum irgendeines Unbekannten gewesen. Es ging die Sage, er stäke voller Schätze, wenngleich deren Art – ob nun Silber, Erz, Gold, Weinfässer oder Pulvertonnen – sowohl für Todgers‘ Etablissement wie für dessen sämtliche Insassen ein Gegenstand tiefer Ungewißheit und vollkommenster Wurstigkeit war.
Der Giebel des Hauses war besonders der Beachtung wert. Über das Dach hin erstreckte sich eine Art Terrasse, geschmückt mit Stangen und den verwitterten Überresten pensionierter Wäschestricke und ein paar mit Erde gefüllter Teekisten, in denen einige vergessene verdorrte Pflanzen wie alte Spazierstöcke staken. Wer immer zu diesem Observatorium emporklomm, wurde zuvörderst durch einen Schlag auf den Kopf von einer kleinen Falltür betäubt und sodann beinahe erstickt von der Rauchsäule aus dem Küchenschornstein, über den jeder Eindringling beim Aufwärtsklimmen seinen Kopf einen Augenblick zu halten gezwungen war. Hatte man aber einmal diese Fährnisse hinter sich, so konnte man von Todgers‘ Giebel aus Dinge schauen, die allerdings sehenswert waren. Erstlich und zuvörderst erblickte man, wenn der Tag hell war, über die Dächer sich weithin erstreckend einen langen, dunklen Pfad: – den Schatten des Monuments; und wenn man sich umwandte, stand das hohe Original selbst dicht vor einem, jedes Haar gesträubt auf dem goldenen Kopf, als sei es entsetzt über das Treiben der Stadt. – Dann sah man alte Stadttürme, Kirchtürme, Glockentürme, blinkende Wetterfahnen und einen ganzen Wald von Schiffsmasten – Giebel, Dächer, Dachfenster ohne Zahl und Ende – Rauch und Lärm genug für eine ganze Welt.
Allmählich tauchten dann aus dem Gewirr unwesentlichere Gegenstände auf und zogen ohne ersichtlichen Grund aus dem Getümmel hervorspringend die Aufmerksamkeit des Beschauers auf sich, mochte er nun wollen oder nicht. So schienen zum Beispiel die beweglichen Kappen eines Schornsteinungetüms sich hin und wieder gravitätisch miteinander zu besprechen und sich ihre Beobachtungen über das, was unten vorging, zuzuflüstern. Andere von buckliger Gestalt stellten sich hartnäckig und boshafterweise quer, um die Aussicht zu versperren. Der Mann, der über der Straße drüben im Mansardenfenster seine Feder schnitt, wurde plötzlich von unendlicher Wichtigkeit in der Szene und ließ eine lächerliche, ganz unverhältnismäßige Lücke im Bilde zurück, als er sich entfernte. Die Kapriolen eines Stückes Tuch auf einer Färberstange boten mit einem Male weit mehr Interesse als all die wechselnden Bewegungen der Volksmassen. Und noch während der Beschauer sich ärgerlich darüber wunderte, wie dies nur möglich sei, schwoll der Tumult zu einem Gebrüll an; die Masse von Gegenständen schien sich zu verdichten und hundertfältig auszudehnen. Verschüchtert sah sich dann der Fremdling um, kehrte schneller, als er gekommen, in Todgers‘ inneres Heim wieder zurück und erzählte Mrs. Todgers in neun unter zehn Fällen, er würde zuverlässig auf dem kürzesten Weg – nämlich kopfüber – auf die Straße hinabgelangt sein, wenn er noch länger geblieben wäre.
Und so sagten auch die beiden Misses Pecksniff, als sie mit Mrs. Todgers von diesem Beobachtungsposten zurückkehrten, es dem jungen Portier überlassend, die Türe zu schließen und ihnen nachzukommen, oder, wie es in diesem Falle zutraf, sich mit der seinem Geschlechte und Lebensalter eigentümlichen Freude an der Möglichkeit, herunterzustürzen und zu zerschellen, auf der Brustwehr noch ein wenig zu ergehen.
Am zweiten Tage ihres Aufenthaltes in London standen die Misses Pecksniff und Mrs. Todgers bereits auf sehr vertrautem Fuß miteinander; wenigstens hatte Mrs. Todgers ihre jungen Freundinnen schon zum zweitenmal in alle Einzelheiten der drei unglücklichen Liebschaften ihrer frühern Jahre und in das Leben, die Aufführung und den Charakter Mr. Todgers‘ eingeweiht, der seine eheliche Laufbahn etwas unversehens abgebrochen zu haben schien, um auf völlig ungesetzliche Weise sich dem häuslichen Glück zu entziehen und sich im Ausland als Junggeselle von neuem zu etablieren.
»Auch Ihr Papa erwies mir seinerzeit manche Aufmerksamkeit, meine lieben Kinder«, fuhr Mrs. Todgers in ihren vertraulichen Eröffnungen fort, »doch das große Glück, Ihre Mama zu werden, war mir versagt. – – – Sie erraten wohl kaum, wen dies darstellen soll?«
Sie lenkte damit die Aufmerksamkeit ihrer jungen Freundinnen auf ein ovales Miniaturbild, das, von einem kleinen Blasenpflaster kaum zu unterscheiden, eine nebelhafte Skizzierung ihres eigenen Antlitzes darstellte.
»Wirklich, zum Sprechen ähnlich!« riefen die beiden Misses Pecksniff wie aus einem Munde.
»So behauptete man wenigstens früher,« gab Mrs. Todgers zu und wärmte sich nach Herrenart den Rücken am Kamin; »ich hätte nicht gedacht, meine Lieben, daß Sie es so schnell erkennen würden.« Sie würden es an allen Orten und unter allen Umständen erkannt haben, versicherten die jungen Damen. »Hätten wir es auf der Straße oder in einem Ladenfenster gesehen, so würden wir ohne weiteres gerufen haben: ›Sieh doch nur, das ist ja Mrs. Todgers!‹«
»Wenn man einem Hauswesen wie dem meinigen vorzustehen hat, erleiden die Züge traurige Verheerungen, meine lieben Misses Pecksniff«, erklärte Mrs. Todgers. »Ich kann Ihnen versichern, die Fleischbrühe allein macht einen schon um zwanzig Jahre älter.«
»O Gott!« riefen die beiden Misses Pecksniff.
»Die Angst, die man dabei aussteht, ob man’s auch allen recht macht, meine lieben Kinder, erhält den Geist in unablässiger Spannung. In der ganzen menschlichen Natur ist keine Leidenschaft so ausgeprägt wie die für Fleischbrühe unter den Herren Handlungsbeflissenen. Eine Ochsenkeule – was sage ich? – ein ganzer Ochse reicht nicht aus, um die Fleischbrühe, die sie jeden Mittag haben wollen, zu bestreiten. Ach, was ich deshalb schon ausgestanden habe!« rief Mrs. Todgers und blickte kopfschüttelnd zur Decke auf. »Nein, es übersteigt alle Grenzen.«
»Gerade wie Mr. Pinch, Grazy!« sagte Charitas. »Erinnerst du dich, daß wir stets einen gleichen Hang an ihm bemerkt haben?«
»Ja, liebe Cherry«, kicherte Grazy; »aber du weißt, er hat doch keine gekriegt.«
»Was denn, Sie, meine Lieben, Sie können sich’s einrichten, wie Sie wollen. Sie haben es nur mit den Schülern Ihres Vaters zu tun, und die müssen sich alles gefallen lassen«, lamentierte Mrs. Todgers; »aber in einem Etablissement für Handlungsbeflissene, wo jeder am Samstagabend sagen kann: ›Mrs. Todgers, heut über acht Tag sind wir von wegen diesem Käse geschiedene Leute‹, ist es nicht so leicht, in gutem Einvernehmen miteinander zu bleiben. Ihr Papa« – setzte die gute Dame hinzu – »war so freundlich, mich heute zu einer Ausfahrt mit Ihnen einzuladen; und wenn ich nicht irre, so gedenkt er bei Miss Pinch einen Besuch zu machen. Vermutlich eine Verwandte des Gentlemans, von dem Sie eben gesprochen haben, Miss Pecksniff?« »Um Himmels willen, Mrs. Todgers«, fiel ihr die lebhafte Grazy ins Wort, »nennen Sie ihn doch nicht einen Gentleman. Liebe Cherry, denk nur: Pinch ein Gentleman! Schon der Gedanke!«
»Was Sie für ein gottloses Mädchen sind!« rief Mrs. Todgers und umarmte Miss Gratia mit großer Zärtlichkeit. »Wahrhaftig, der reinste Spottvogel! Meine liebe, liebe Miss Pecksniff, wie glücklich muß nicht die Lebhaftigkeit Ihrer Schwester Ihren Papa und Sie machen!«
»Er ist die häßlichste, glotzäugigste Kreatur von der Welt, Mrs. Todgers«, erklärte Gratia. »Ein leibhaftiger Menschenfresser. Der garstigste, linkischste und abschreckendste Kerl, den Sie sich nur vorstellen können. – Man kann sich da ungefähr ausmalen, wie seine Schwester ausschauen muß. Ich werde laut herauslachen müssen, wenn ich sie sehe; – das weiß ich jetzt schon!« rief das charmante Mädchen. »Der bloße Gedanke, daß es überhaupt eine Miss Pinch geben kann, wirft einen schon um. – Oh, du allbarmherziger Himmel!«
Mrs. Todgers konnte sich gar nicht fassen vor Heiterkeit über den Humor der holden Jungfrau und erklärte, sie kriege wahrhaftig Angst vor ihr; sie sei gar zu streng.
»Wer ist streng?« rief eine Stimme an der Türe. »Ich hoffe, es gibt nichts dergleichen in unserer Familie!« Und dann guckte Mr. Pecksniff lächelnd ins Zimmer und fragte: »Darf ich eintreten, Mrs. Todgers?«
Mrs. Todgers schrie fast laut auf, denn die kleine Verbindungstüre zwischen den beiden Zimmern stand weit offen und ließ den Schlafdiwan in seiner ganzen monströsen Anstößigkeit erblicken. – Aber geistesgegenwärtig schloß sie sie rasch und rief, wenn auch nicht ohne Verwirrung:
»O ja, Mr. Pecksniff, bitte, treten Sie nur ein.«
»Wie befinden wir uns heute?« fragte Mr. Pecksniff aufgeräumt. »Und was haben wir vor? Sind wir bereit, aufzubrechen und Tom Pinchs Schwester zu besuchen? – – Ha, ha, ha! der arme Thomas Pinch.«
»Nun, sind wir bereit«, nahm Mrs. Todgers verständnisvoll nickend die Frage auf, »sind wir bereit, auf Mr. Jinkins‘ und der übrigen Herren Bitte eine geneigte Antwort zu geben? Das ist die erste Frage, Mr. Pecksniff.«
»Mr. Jinkins‘ Bitte, meine liebe Madame?« fragte Mr. Pecksniff, legte den einen Arm um Gratia und den andern um Mrs. Todgers, sie in der Zerstreuung vermutlich für Charitas haltend. »Wie kommen Sie auf Mr. Jinkins?«
»Weil er das Zirkular entworfen hat und überhaupt bei allem, was im Hause geschieht, den Ton angibt«, erklärte Mrs. Todgers aufgeräumt. »Nur deshalb.«
»Mr. Jinkins ist ein Mann von ausgezeichneten Talenten«, bemerkte Mr. Pecksniff. »Alle Achtung vor Mr. Jinkins. Ich ersehe aus seinem Wunsch, meinen Töchtern eine Aufmerksamkeit zu erweisen, einen weitern Beleg für seine freundschaftlichen Gesinnungen, Madame.«
»Nun gut«, meinte Mrs. Todgers, »wenn Sie sich so weit ausgesprochen haben, müssen Sie auch mit dem übrigen herausrücken, Mr. Pecksniff, und den lieben jungen Damen alles mitteilen.«
Dabei machte sie sich sanft von Mr. Pecksniff los und umarmte Miss Charitas, möglicherweise aus heißer, mütterlicher Liebe, vielleicht aber auch, weil die vernachlässigte junge Dame sie lauernd und gehässig, sogar entschieden verächtlich von der Seite angesehen hatte. Sei dem übrigens, wie es wolle, Mr. Pecksniff zögerte nicht länger, seine Töchter hinsichtlich Entstehung und Inhalt erwähnter, mit Unterschriften versehener Bitte zu belehren, die kurz dahin lautete, daß die Herren Handelsbeflissenen, die die Summe und das Um und Auf des eine große Gesamtheit umfassenden Namens »Todgers« bilden halfen, solange die Misses Pecksniff im Hause weilten, um die Ehre ihrer Anwesenheit bei der Table d’hôte bäten. – Es war ausdrücklich betont, die Damen möchten damit schon am morgigen Sonntag den Anfang machen. Mr. Pecksniff erklärte, daß er für seinen Teil gegen die Einladung nichts einzuwenden habe, da Mrs. Todgers damit einverstanden sei. Dann verließ er die Damen, um sein gnädiges Antwortschreiben zu verfassen, während diese sich mit ihren besten Hüten bewaffneten, um Miss Pinch eine gründliche Niederlage zu bereiten. Tom Pinchs Schwester war Gouvernante in einer ungemein stolzen Familie – vielleicht der reichsten Rot- und Gelbgießerfamilie, von der die Menschheit weiß. Sie wohnten in Camberwell in einem so großen und protzigen Hause, daß schon die Fassade wie die eines von Riesen bewohnten Schlosses gemeine Seelen mit Schrecken erfüllte und auch den Kühnsten erzittern machte. Vorne befand sich ein großes Tor mit einer großen Glocke, deren Handgriff an sich schon ein Ausrufungszeichen bedeutete, und eine große Portierloge, die so dicht ans Haus gebaut war, daß sie jede Aussicht zwar verbarrikadierte, aber den Pomp ungemein erhöhte. An diesem Eingang hielt ein großer Portier beständig Wacht, und wenn er einem Besuch gnädig Erlaubnis erteilte, einzutreten, erscholl eine zweite große Glocke, auf deren Klang nach einer geziemenden Weile an dem großen Hallentore ein großer Lakai erschien, mit so großen Achselfangschnüren auf der Livree, daß er sich alle Augenblicke an den Stuhllehnen festhakte und sozusagen das qualvolle Leben einer Schmeißfliege in einer Welt von Spinnweben führte.
Höchst prunkvoll fuhr nun Mr. Pecksniff in Begleitung Mrs. Todgers‘ und seiner Töchter in einem Einspänner vor diesem Prachtgebäude vor. Nach glücklicher Erledigung der geschilderten Einleitungszeremonien wurden die Herrschaften in das Haus geführt und gelangten nach längerer Irrfahrt endlich in ein kleines Zimmer mit Büchern, wo Mr. Pinchs Schwester eben ihre älteste Schutzbefohlene unterrichtete, ein kleines frühreifes Dämchen von dreizehn Jahren, das es bereits zu einer solchen Höhe von Schnürleibchenanstand und Erziehung gebracht hatte, daß es zur großen Freude aller ihrer Familienangehörigen und Verwandten nicht die geringste Spur von Mädchenhaftigkeit mehr durchblicken ließ.
»Besuch für Miss Pinch!« meldete der Lakai.
Er war offenkundig ein sehr talentvoller junger Mann, denn er entledigte sich der Botschaft ungemein taktvoll, das heißt, er traf vorzüglich den richtigen Ton zwischen dem kalten Respekt, womit er Gäste der Familie, und der warmen, persönlichen Anteilnahme, mit der er einen Besuch bei der Köchin angekündigt haben würde. »Besuch für Miss Pinch!«
Miss Pinch erhob sich hastig und mit solcher Aufregung, daß man leicht erriet, wie gering die Liste derer, die sie erwarten konnte, sein mochte. Gleichzeitig nahm die kleine Schülerin auf ihrem Stuhle eine beunruhigend steife Haltung an, sichtlich entschlossen, sich jedes Wort genau im Geiste zu notieren. Die Frau vom Hause war nämlich ungemein wißbegierig hinsichtlich der Naturgeschichte und der Gewohnheiten des Tieres, das man »Gouvernante« nennt, und munterte ihre Tochter stets auf, alles zu melden, was sie im Interesse der guten Sache erlauern könnte.
Höchst bedauerlich zwar, aber nichtsdestoweniger Tatsache war, daß Mr. Pinchs Schwester durchaus nicht häßlich genannt werden durfte, sogar im Gegenteil ein sehr sanftes, einnehmendes Gesichtchen und eine wenn auch kleine und zarte, so doch äußerst reizvolle Figur hatte. Sie sah in gewissem Sinne ihrem Bruder ähnlich, das heißt, sie hatte dieselbe Sanftmut im Benehmen und den gleichen schüchternen und doch vertrauensvollen Blick, aber es fehlte ihr doch soviel zu der Vogelscheuche, der Schlumpe, dem Scheusal oder dergleichen, wofür sie von den Misses Pecksniff zum voraus erklärt worden war, daß die beiden jungen Damen sie natürlich mit großem Unwillen betrachteten, deutlich fühlend, daß Miss Pinch nicht im entferntesten die Person war, um derentwillen sie sich herbemüht hatten.
Miss Gratia, die lustigere von beiden, schickte sich noch am besten in die Enttäuschung und setzte sich wenigstens äußerlich durch ein Gekicher über ihren Ärger hinweg, ihre Schwester hingegen gab sich überhaupt keine Mühe, sich zu verstellen, und drückte ihren Unmut ziemlich offen in einer geringschätzigen Miene aus. Mrs. Todgers stützte sich auf Mr. Pecksniffs Arm und legte eine gewisse vornehme Grämlichkeit an den Tag, die zu jeder Gemütsstimmung passen und alle Meinungsschattierungen in sich schließen konnte.
»Erschrecken Sie nicht, Miss!« begann Mr. Pecksniff, nahm Miss Pinchs Hand herablassend in seine linke und tätschelte sie mit der rechten. »Ich besuche Sie zufolge eines Versprechens, das ich Ihrem Bruder, Thomas Pinch, gegeben habe. Mein Name – fassen Sie sich, Miss – ist Pecksniff.« Der Treffliche betonte diese Worte mit besonderem Nachdruck, und es klang so etwas durch wie: »Junge Person, du siehst in mir den Wohltäter deines Stammes, den Gönner deines Hauses und den Brotherrn deines Bruders, der tagtäglich an meinem Tische mit Manna gespeist wird und in den Büchern des Himmels als ›Haben‹-Posten für mich eingetragen steht. Ich bin trotzdem keineswegs stolz; es bedarf dessen nicht.«
Die arme Miss Pinch fühlte dies alles wie ein Evangelium. Ihr Bruder hatte ihr in der Fülle seines schlichten Herzens oft dasselbe geschrieben und noch viel mehr. Als Mr. Pecksniff schwieg, senkte sie daher ihr Köpfchen und ließ eine Träne auf seine Hand fallen.
»Ah, Miss Pinch«, dachte die kleine scharfsinnige Schülerin, »Sie weinen vor Freuden. Das soll wohl heißen, Sie fühlen sich unglücklich auf Ihrem Posten!?«
»Thomas ist wohlauf«, berichtete Mr. Pecksniff, »läßt Sie grüßen und schickt Ihnen diesen Brief. Ich kann zwar gerade nicht behaupten, daß der arme Mensch sich je in unserer Kunst auszeichnen wird, aber er hat doch den besten Willen, was gleich nach wirklichem Können kommt, und daher müssen wir eben ein Auge zudrücken. – Was?«
»Ich weiß, daß es ihm an gutem Willen nicht fehlt«, rief Miss Pinch; »auch weiß ich genau, wie gütig und rücksichtsvoll Sie ihn behandeln. – Ach, wir schreiben einander oft, daß wir Ihnen nie dankbar genug sein können. Auch den jungen Damen« – setzte sie mit einem strahlenden Blick auf die Misses Pecksniff hinzu –, »ich weiß, wie sehr wir Ihnen allen verpflichtet sind.«
»Meine Lieben«, wendete sich Mr. Pecksniff an seine Töchter, »Toms Schwester sagt etwas, was ihr mit Vergnügen hören werdet.«
»Wir können durchaus kein Verdienst für uns in Anspruch nehmen, Papa!« lehnte Cherry schroff ab und gab, wie auch Gratia, Miss Pinch mit einem steifen Knicks zu verstehen, sie wünsche die gehörige Distanz gewahrt zu sehen. »Daß Mr. Pinch so gut versorgt ist, verdankt er dir allein, und wir können uns nur freuen, zu hören, daß er das, was du für ihn tust, gebührendermaßen anerkennt.« »Vortrefflich, Miss Pinch!« dachte die scharfblickende kleine Schülerin abermals. »Sie haben also einen dankbaren Bruder, der von anderer Leute Wohltaten lebt. So, so!«
»Es war sehr freundlich von Ihnen«, sagte Miss Pinch mit der schlichten Einfachheit und dem Lächeln ihres Bruders, »wirklich außerordentlich freundlich, daß Sie sich selbst zu mir bemühten. Wo Sie so wenig Gewicht auf die Wohltaten legen, die Sie spenden, können Sie sich gar nicht denken, wie sehr ich es empfinde, daß Sie mir Gelegenheit geben, Ihnen mündlich danken zu dürfen!«
»Sehr erfreulich; sehr verbunden; sehr hübsch gesagt«, murmelte Mr. Pecksniff.
»Und ich bin so froh«;, fuhr Ruth Pinch fort, nachdem die erste Befangenheit vorüber war, in das fröhliche herzliche Wesen verfallend, das auch ihren Bruder auszeichnete, der in seiner redlichen Einfalt auch immer gleich alles von der besten Seite nahm, »so froh, denken zu dürfen, daß Sie Tom jetzt bezeugen können, wie außerordentlich glücklich ich mich hier in meiner Stellung fühle und wie unnötig es ist, daß er sich stets mit Sorgen quält, weil ich wegen meines Unterhalts auf mich selbst angewiesen bin. – Wirklich, ich bin überzeugt, wir könnten ohne Murren oder Klage weit mehr ertragen, als uns je auferlegt wurde, solange nur eins von dem andern hört, daß es glücklich ist.«
– Wenn je auf dieser dann und wann recht verlogenen Erde ein wahres Wort gesprochen wurde, so war es diesmal gewiß bei Toms Schwester der Fall gewesen. –
»Ach!« rief Mr. Pecksniff, dessen Blick inzwischen auf die kleine Schülerin gefallen war. »Und wie geht es Ihnen, mein höchst interessantes liebes Kind?«
»Ganz gut. Danke, Sir«, antwortete die frostige Unschuld.
»Welch holdes Antlitz, meine Lieben«, fuhr Mr. Pecksniff zu seinen Töchtern gewendet fort, »und das entzückende Benehmen!«
Die beiden jungen Damen waren schon von Anfang an ganz hingerissen gewesen von dem Sprößling eines reichen Hauses, durch den man mutmaßlich den Eltern am schnellsten und leichtesten beikommen konnte, und Mrs. Todgers versicherte hoch und teuer, sie habe noch nirgends ein so engelhaftes Wesen gesehen. »Sie brauchte nur«, erklärte die wackere Frau, »sie brauchte nur noch ein paar Flügelchen zu haben, um ein vollendeter junger Sirup zu sein« – womit sie vermutlich einen Seraph oder eine Sylphide meinte.
»Wenn Sie das Ihren verehrten Herren Eltern geben und ihnen zugleich sagen wollten, meine liebenswürdige kleine Freundin«, säuselte Mr. Pecksniff und zog eine seiner Geschäftskarten hervor, »daß ich und meine Töchter –«
»Und Mrs. Todgers, Papa!« ergänzte Gratia.
»– und Mrs. Todgers aus London – also, daß ich, meine Töchter und Mrs. Todgers aus London nicht lästig fallen wollen, da wir einzig und allein beabsichtigten, ein wenig nach Miss Pinch zu sehen, deren Bruder als junger Mann bei mir in Diensten steht, und daß ich übrigens dieses in den reinsten Formen gehaltene Palais nicht verlassen kann, ohne als Architekt dem korrekten und eleganten Geschmack des Eigentümers meine ergebenste Huldigung zu zollen und die gerechte Würdigung ehrend anzuerkennen, die er der herrlichen Kunst angedeihen läßt, deren Pflege ich ein ganzes Leben geweiht und deren Ruhm zu fördern ich ein – ein Vermögen geopfert habe, so würde ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet sein.«
»Missis läßt sich Miss Pinch empfehlen«, meldete plötzlich eintretend der Lakai ganz in demselben Stile wie früher, »und läßt fragen, was das gnädige Fräulein momentan lernt.«
»Oh!« rief Mr. Pecksniff. »Da ist der junge Mann. Vielleicht kann er die Karte abgeben. Meine Lieben, wir stören im Unterricht. Lasset uns gehen.«
Einen Augenblick richtete Mrs. Todgers eine gewisse Verwirrung an, indem sie ihr flaches Armkörbchen aufschnallte und dem »jungen Mann« eine von ihren eigenen Karten zusteckte, die, außer umständlichen Erörterungen der Statuten ihres Logierhauses, eine Anmerkung mit dem Zusatze enthielt, M. T. nähme die Gelegenheit wahr, den Herren zu danken, die sie mit ihrem geneigten Zuspruch beehrt hätten, und sie um die Gewogenheit zu bitten, falls sie mit dem Mittagstisch zufrieden gewesen sein sollten, ihr Haus gütigst weiter zu empfehlen. – Mr. Pecksniff eroberte jedoch mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart das Dokument wieder zurück und verwahrte es in seiner eigenen Tasche.
Dann redete er Miss Pinch an, und zwar mit noch größerer Herablassung und Güte als vorher, galt es doch, dem Lakaien begreiflich zu machen, daß sie nicht Freunde, sondern Gönner des Mädchens seien:
»Guten Morgen. Leben Sie wohl. Gott behüte Sie! Sie können sich darauf verlassen, daß ich Ihrem Bruder Thomas meinen Schutz nicht entziehen werde. Seien Sie über diesen Punkt unbesorgt, Miss!«
»Ich danke Ihnen viel – vielmals«, entgegnete Toms Schwester mit großer Herzlichkeit, »wirklich tausend –«
»Keine Ursache«, unterbrach sie Mr. Pecksniff und tätschelte ihr gütig den Arm. »Nicht der Rede wert. Sie machen mich böse, wenn Sie noch ein Wort darüber verlieren. – Und Sie, mein süßes Kind«, wendete er sich zu der kleinen Schülerin, »leben Sie wohl! Nein, dieses feenhafte liebe Geschöpfchen« – setzte er hinzu und stierte dabei zerstreut den Lakaien an, als meine er ihn – »hat ein Licht auf meinen Lebenspfad geworfen, so strahlend, daß ich es wohl so leicht nicht werde vergessen können! – Nun, meine Lieben, seid ihr bereit?«
Die Damen waren aber noch nicht ganz fertig, denn sie mußten die Kleine doch erst liebkosen! Endlich rissen sie sich los, rauschten mit einem hochmütigen Kopfnicken und einem schon in der Geburt erstickten Knicks an Miss Pinch vorbei und stolzierten hinaus.
Der »junge Mann« brauchte ziemlich lange, um die Herrschaften hinauszubegleiten, denn Mr. Pecksniffs Entzücken über die geschmackvolle Konstruktion und Einrichtung des Hauses kannte keine Grenzen, und er konnte auch nicht umhin, des öftern (namentlich als sie in die Nähe des Wohnzimmers kamen) haltzumachen und seinem Lob mit lauter Stimme und in sehr gelehrten Ausdrücken Worte zu verleihen. Er hielt geradezu einen populären Vortrag über Architektonik, soweit diese natürlich auf Wohnhäuser anwendbar sein kann, und war noch im schönsten Redefluß, als sie den Garten erreichten. »Wenn ihr«, sprach er, trat rücklings von der Treppe zurück, legte den Kopf auf die Seite und kniff ein Auge zu, um die Proportionen des Baues besser beurteilen zu können, »wenn ihr, meine Lieben, den Fries betrachtet, der das Dach trägt, und das Leichte in der Konstruktion, namentlich dort am südlichen Winkel des Gebäudes, zu erkennen vermögt, so werdet ihr mit mir fühlen. – – – Oh, wie steht das werte Befinden, Sir, ich hoffe, Sie sind wohlauf?«
Mit diesem Ausruf unterbrach er seine Rede und verbeugte sich sehr höflich vor einem Herrn in mittleren Jahren, der jetzt an einem Fenster im oberen Stock sichtbar wurde. Er redete natürlich den Herrn nicht an, zumal ihn dieser gar nicht hätte hören können, sondern akkompagnierte seinen Gruß lediglich mit geziemenden Worten.
»Ich zweifle nicht, meine Lieben«, fuhr Mr. Pecksniff, zu seinen Töchtern gewendet, fort und tat, als mache er sie auf weitere bauliche Schönheiten aufmerksam, »daß dies der Eigentümer des Hauses ist. Es würde mich freuen, mit ihm näher bekannt zu werden, da es für mich sehr ersprießlich sein könnte. – Sieht er nach uns herunter, Charitas?«
»Er öffnet das Fenster, Papa!«
»Aha!« meinte Mr. Pecksniff leise. »Sehr gut! Er hat gemerkt, daß ich ein Sachverständiger bin. Ohne Zweifel hörte er mich drinnen schon. Schauet jetzt nicht hinauf! – Was die mit Hohlkehlen verzierten Pilaster im Portikus betrifft, meine Lieben –« begann er laut –
»Heda!« rief der Herr herunter.
»Sir? Ihr Diener«, erwiderte Mr. Pecksniff und zog den Hut. »Ich bin stolz darauf, Ihre werte Bekanntschaft zu machen.«
»Ich frage Sie, ob Sie aus dem Rasen heraustreten wollen!« brüllte der Herr.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, entgegnete Mr. Pecksniff, im Zweifel, ob er recht gehört habe. »Wollten Sie –?«
»Heraus aus dem Rasen!« wiederholte der Herr mit Nachdruck. »Wir möchten nicht gern lästig fallen, Sir – –« begann Mr. Pecksniff lächelnd.
»Aber Sie fallen lästig! Über die Maßen lästig. Und verderben mir meinen Grasplatz. Sehen Sie denn nicht, daß ein Kiesweg da ist?! Zu welchem Zweck, glauben Sie wohl, habe ich ihn anlegen lassen? Das Tor dort aufgemacht und die Leute hinausgewiesen!«
Damit schlug der Herr das Fenster wieder zu und verschwand.
Mr. Pecksniff setzte seinen Hut auf und verfügte sich sehr bedächtig nach seinem Einspänner, dabei stumm und angelegentlich die Wolken betrachtend. Nachdem er Mrs. Todgers und seinen Töchtern einzusteigen geholfen hatte, blieb er noch eine Weile sinnend vor dem Wagen stehen, als sei er nicht ganz mit sich im reinen, ob es ein Fuhrwerk oder ein Tempel sei; erst, als er sich diesbezüglich völlig klar war, nahm er Platz, faltete die Hände über dem Knie und lächelte seinen drei Begleiterinnen zu.
Seine Töchter jedoch, weniger seelenruhig, ließen ihrem Unwillen freien Lauf. Das habe man davon, meinten sie, wenn man Kreaturen wie die Pinchs am Busen nähre. Das sei die Folge, wenn man sich wegwerfe, und das komme dabei heraus, wenn man sich in die demütigende Lage versetze, den Anschein zu erwecken, als sei man mit solchen kecken, frechen, verschmitzten und abscheulichen Dingern wie Toms Schwester bekannt. Sie hätten das übrigens kommen sehen und Mrs. Todgers gegenüber noch diesen Morgen davon gesprochen, wie dieselbe bezeugen könne. Der Eigentümer des Hauses habe, in der Meinung, sie seien mit Miss Pinch befreundet, ihrer Ansicht nach ganz recht gehandelt und nichts getan, was sich nicht unter solchen Umständen vernünftigerweise erwarten lassen müsse. – Und er sei, setzten sie etwas inkonsequenterweise hinzu, »ein gemeines Vieh und ein Rüpel«, worauf sie in einen Strom von Tränen ausbrachen, der alle weitern Beiwörter wegschwemmte.
Nun war jedoch Miss Pinch weit weniger die Veranlassung zu einer solchen Behandlung als vielmehr der »Sirup«, der unmittelbar nach Abgang des Besuches zum Rapport mit dem ausführlichen Bericht ins Hauptquartier geeilt war, in welch vermessener Weise man ihn mit einem Auftrag belästigt hatte, der Sache des Lakaien, und zwar von Anfang an, gewesen wäre; – ein Verbrechen, das in Verbindung mit Mr. Pecksniffs durchaus nicht aufdringlich gemeinten Bemerkungen über das Gebäude offenbar die Schuld an der barschen Abfertigung trug. Die arme Miss Pinch mußte natürlich dafür büßen und wurde von der Mutter des »Sirups« wegen ihrer ordinären Bekanntschaften so heruntergekanzelt, daß sie sich in Tränen in ihr Kämmerlein zurückzog und sich lange trotz ihres natürlichen Frohsinns über die Ehre, Mr. Pecksniff kennengelernt und einen Brief von ihrem Bruder erhalten zu haben, nicht freuen konnte.
Was Mr. Pecksniff betraf, so belehrte er seine Begleiterinnen, daß eine gute Handlung ihren Lohn stets in sich selbst trage; oder er gab ihnen vielmehr zu verstehen, wenn er bei genanntem Anlaß Fußtritte erhalten hätte, es in seelischer Hinsicht sogar noch besser gewesen wäre. Das war jedoch kein besonderer Trost für die jungen Damen, wenigstens grollten sie auf dem ganzen Rückweg in einem fort und verrieten mehr als einmal den lebhaften Wunsch, auf die stillergebene Mrs. Todgers loszufahren, der sie innerlich mit die Schuld an der üblen Behandlung gaben – schon infolge ihres nichtzuverkennenden Äußern als Logierhausbesitzerin, gar nicht zu sprechen von dem Verstoß mit der Karte und dem verdächtigen Armkörbchen.
In Todgers‘ Etablissement ging es noch am selben Abend sehr geräuschvoll zu, teils wegen einiger häuslicher Extravorbereitungen für morgen, teils auch wegen des in einem solchen Hause unvermeidlichen Samstagtumultes, da gegen Wochenschluß von früh bis abends die Wäschepäckchen der »Handelsbeflissenen« mit darauf gehefteten Rechnungen einzulaufen pflegten. An diesen Tagen gab es immer bis Mitternacht auf den Treppen viel Schlurfen von Überschuhen, ein rätselhaftes Auftauchen und Wiederverschwinden geheimnisvoller Lichter im Hausflur, rastloses Gepumpe am Brunnen und dito Klirren des eisernen Wassereimerhandgriffs. Von Zeit zu Zeit erhob sich auch ein kreischender Wortwechsel zwischen Mrs. Todgers und gewissen unbekannten Weibspersonen in verborgenen Hinterküchen, und mitunter erschollen Töne, wie wenn dem jugendfrohen Portier kleines Eisengerät oder sonstige Metallwaren nachgeworfen würden. Es gehörte zu den Sonnabendsbefugnissen dieses hoffnungsvollen Jünglings, die Hemdärmel bis an die Achseln aufgestreift, alle Teile des Hauses in einer groben, grünen Wollenzeugschürze unsicher zu machen, und zu seinen Sabbatfesten (an anderen Tagen war weniger Gelegenheit dazu), sooft er in die Nähe der Türe kam, Ausflüge in die benachbarten Gäßchen zu unternehmen, um daselbst mit der Straßenjugend »Räuber und Gendarm« oder andere Spiele zu spielen, bis er verfolgt und an den Händen oder an dem Ohrläppchen seiner Pflicht wieder zugeführt wurde.
Sosehr nun aber auch seine Tätigkeit zur Belebung des letzten Wochentages beizutragen pflegte, so sehr übertraf er sich selbst durch die Rolle, die er an diesem Samstag spielte.
Vorzugsweise beehrte er die Misses Pecksniff mit seiner besondern Aufmerksamkeit, und selten kam er an Mrs. Todgers‘ Privatzimmer, wo die beiden jungen Damen allein am Kaminfeuer saßen und sich beim Lichte einer einsamen Kerze beschäftigten, vorbei, ohne den Kopf hineinzustecken und sie mit Komplimenten wie: »Ah, da sind Sie!« oder: »Fein! Was?« und ähnlichen humoristischen Einfällen zu begrüßen.
»Hamm S‘ an Idöö, Fräuln«, flüsterte er, als er in seinem Hausgalopp gelegentlich wieder einmal haltmachte, »was mir murgen für a Suppn kriagn? Grad wird’s aufgossen. Meinen S‘ leicht a Wassersuppn? A gor ka Spur!« Um sich weiter dienstfertig zu zeigen, klopfte er gleich darauf abermals, steckte den Kopf herein und sagte:
»Ja – und Hendln gibt’s a morgen. Sakra, san dö fett – hamm S’an Idöö!«
Unmittelbar darauf rief er durch das Schlüsselloch: »Fisch gibt’s a – grad sans onkemma. – Aber lassen S‘ Eahna roten: Essen S‘ nix davo!« Und mit dieser gespenstigen Warnung verschwand er wieder.
Bald nachher kehrte er jedoch abermals zurück, um den Tisch für das Nachtessen zu decken, denn es war zwischen Mrs. Todgers und den jungen Damen ausgemacht worden, daß sie in dem Stübchen ungestört und abgesondert gemeinschaftlich ein paar Kalbsrippchen verzehren sollten. Bei dieser Gelegenheit bestritt er die Unterhaltung damit, daß er den glimmenden Lichtdocht in den Mund steckte und mit seiner Hilfe seine Backen transparent machte. Nachdem er dieses Kunststück produziert, wendete er sich wieder seinen Berufspflichten zu, die zur Zeit darin bestanden, die Messer blank zu putzen, das heißt, die Klingen anzuhauchen und sie dann an der Schürze abzuwischen. Nach Beendigung dieser anstrengenden Arbeit verzog er sein Gesicht zu einem breiten Grinsen und erklärte den Schwestern, er glaube, das Abendessen werde höllisch fein ausfallen.
»Dauert´s noch lange, bis es fertig ist, Bailey?« fragte Gratia.
»Na«, entgegnete Bailey, »kocht is schon. Vor i raufkommen bin, hat die Madam grad drin umanand gstierlt.«
Kaum jedoch waren diese Worte seinen Lippen entflohen, da erhielt er von rückwärts ein Kopfstück, daß er an die Wand taumelte, und Mrs. Todgers stand, einen Teller in der Hand, wie eine Rachegöttin vor ihm.
»O du kleiner Halunke!« rief sie zürnend. »Du ganz schlechter, falscher, boshafter Bube du.«
»Net boshafter als Sie selbst«, rief Bailey und schützte seinen Kopf mit der bekannten Parade des Boxerchampions Thomas Cribb. »Probiern S‘ dös fein noch amal, wann S‘ Eahna traun.«
»Es ist der abscheulichste Junge, der mir je unter die Augen gekommen ist«, erklärte Mrs. Todgers und stellte den Teller aus der Hand. »Die Herren bei uns lehren ihn immer solche Unarten, daß ich fürchte, er wird nicht eher gut tun, als bis er am Galgen hängt.«
»So? Meinen S‘?« rief Bailey. »Drum geben S‘ mir wahrscheinlich so wenig zum Essen, damit i mir net vorher noch ’n Magen verdirb?«
»Hinaus mit dir, du gottloser Junge!« schrie Mrs. Todgers und öffnete die Türe. »Hörst du, pack dich hinunter!«
Mit zwei oder drei geschickten Wendungen gewann Master Bailey das Freie und ließ sich den ganzen Abend hindurch nur ein einziges Mal wieder blicken, um einige Krüge mit heißem Wasser heraufzubringen und zur größten Verlegenheit der beiden Misses Pecksniff hinter dem Rücken der ahnungslosen Mrs. Todgers greuliche Grimassen zu schneiden. Erst, nachdem er auf diese Art seinen verletzten Gefühlen Luft gemacht, verfügte er sich endgültig ins Souterrain, um sich dort in Gesellschaft eines Schwarmes von Küchenschaben bei einem Sparlicht bis tief in die Nacht hinein mit Stiefelputzen und Kleiderausbürsten die Zeit zu vertreiben.
Wie das Gerücht ging, war Benjamin der eigentliche Name dieses jugendlichen Hausgeistes, obgleich er deren viele hatte. So kürzte man zum Beispiel »Benjamin« in »Onkel Ben«, und daraus wurde schließlich das einfache »Onkel«. – Durch eine leichte Ideenverschiebung ergab sich hieraus »Barnwell«, zum Andenken an einen gewissen berühmten Onkel gleichen Namens, der bekanntlich in seinem Garten in Camberwell, als er gerade tief in Gedanken verloren in seinem Lehnstuhl saß, von seinem Neffen Georg erschossen wurde. Die Herren Handelsbeflissenen in Todgers‘ Logierhaus liebten es auch, ihm je nach Umständen den Namen eines berüchtigten Übeltäters oder Ministers zu geben; und wenn die Tageschronik gerade arm an großen Männern war, nahmen sie sogar die Geschichte zu Hilfe und nannten ihn Mr. Pitt, Jung-Brownrigg und dergleichen. In der Zeit, in der unser Roman spielt, erfreute er sich der Bezeichnung »Old Bailey« – als Anspielung auf das gleichnamige berüchtigte Strafgefängnis oder vielleicht als Reminiszenz an die unglückliche »Miss Bailey«, die in jugendlichem Alter Hand an sich selbst gelegt und in einer Ballade den Kranz der Unsterblichkeit gewonnen hatte.
Die gewöhnliche Essenszeit in Todgers‘ Speiseanstalt war zwei Uhr – eine für alle Teile gleich bequeme Stunde, erstens für Mrs. Todgers wegen des Bäckers, und dann für die Gentlemen in bezug auf die Nachmittagsvergnügungen. An dem Sonntag jedoch, wo die beiden Misses Pecksniff eingeführt werden sollten, wurde das Dinner des vornehmeren Stiles wegen auf fünf Uhr verlegt.
Als die Stunde herannahte, erschien »Old Bailey« sehr aufgeregt in einem vollständigen Salonanzug aus lauter abgelegten Kleidungsstücken, die ihm sämtlich viel zu weit waren. Namentlich die Halsgarnitur schien so umfangreich, daß ihm ein als witziger Kopf gefeierter Gentleman sofort den neuen Spitznamen »Vatermörder« gab. Um dreiviertel über vier Uhr klopfte eine Deputation, bestehend aus Mr. Jinkins und einem andern Herrn namens Gänserich, an die Türe von Mrs. Todgers‘ Zimmer und erbat sich, nachdem sie den beiden Misses Pecksniff von dem würdigen Herrn Papa in aller Form vorgestellt war, die Ehre, die Damen hinunterbegleiten zu dürfen.
Das Gesellschaftszimmer in Todgers‘ Etablissement war nicht im üblichen Stile gehalten, und niemand würde es wohl für ein solches angesehen haben, wenn nicht Eingeweihte es ausdrücklich dafür erklärt hätten. Der Boden war mit Läufern belegt und die Decke, mit Einschluß eines großen Querbalkens in der Mitte, tapeziert. Außer den drei kleinen Nischenfenstern mit Sitzen davor und der Aussicht auf den Torweg gegenüber befand sich noch ein viertes in der Mauer, das ganz unverfroren in Mr. Jinkins‘ Schlafzimmer hineinsah. Und hoch oben lief die ganze Wand entlang ein Streifen von Glasscheiben, je zwei übereinander, um das Stiegenhaus am Tageslicht teilnehmen zu lassen. In dem Getäfel lauerten kuriose, treppenförmige Wandschränke mit kleinen Fensterchen wie an den Achttaguhren. Sogar die schwarz angestrichene Türe hatte unter ihrer Stirne zwei große Glasaugen mit inquisitorischen grünen Pupillen in der Mitte.
Hier waren jetzt sämtliche Gentlemen versammelt. Als Mr. Jinkins mit Charitas am Arm erschien, hörte man ein allgemeines: »Ah!« und »Bravo, Jink!«, das sich zu einer wahren Verzückung steigerte, als Mr. Gänserich mit Miss Gratia folgte und Mr. Pecksniff mit Mrs. Todgers den Zug beschloß.
Dann wurden die Herren vorgestellt, und zwar: ein sportsfreudiger Gentleman, der den Herausgebern der Sonntagsblätter harte Nüsse in Form von Anfragen über Wettrennentips aufzuknacken zu geben pflegte; ein emsiger Theaterbesucher, der einst selbst ernstlich daran gedacht hatte, zu debütieren, und nur durch die Gottlosigkeit der Massen daran gehindert worden war; ein sehr debattelustiger Herr und gewaltiger Redner; ein Literaturdilettant, der auf die übrigen Epigramme dichtete und jedermanns schwache Seite kannte, nur seine eigene nicht; dann ein Freund des Gesanges, ein eingefleischter Verehrer des Rauchtabaks, ein Verfechter geselliger Gelage und einige Anhänger des Whistspiels. – Die Passion für Billard und Wetten war einem großen Teil der anwesenden Herren gemeinsam und eine gewisse Vorliebe für geschäftliche Themen wohl allen, da sie sämtlich in einer oder der anderen Weise dem Handelsstande angehörten, was sie selbstverständlich nicht hinderte, allen möglichen Arten von Vergnügungen noch besonders zugetan zu sein. So hatte zum Beispiel Mr. Jinkins einen ausgesprochenen Zug zum Fashionablen; wenigstens besuchte er jeden Sonntag regelmäßig die Parks und kannte sehr viele Equipagen – vom Ansehen. Auch sprach er sehr geheimnisvoll von »feschen Weibern« und stand im Verdacht, sich einmal mit einer Gräfin fast kompromittiert zu haben. Mr. Gänserich war ein witziger Kopf, und niemand anderem als ihm verdankte man den humoristischen Einfall mit dem »Vatermörder« – ein Bonmot, das jetzt unter dem Titel »Gänserichs Letzter« von Mund zu Mund ging und sich allgemeinen Beifalles erfreute. Mr. Jinkins, müssen wir hinzusetzen, konditionierte als Buchhalter in dem Bureau eines Fischhändlers und zählte als Ältester in der Gesellschaft ungefähr vierzig Jahre. Er war aber auch der älteste Kostgänger des Etablissements und infolge dieser doppelten Seniorschaft, wie Mrs. Todgers bereits bemerkt hatte, tonangebend im Hause.
Das Auftragen des Dinners zog sich ungemein in die Länge, und die arme Mrs. Todgers, von Mr. Jinkins deshalb im Flüsterton mit Vorwürfen überschüttet, sah sich wohl zwanzigmal genötigt, hinauszueilen und so zu tun, als ob sie in der Küche nachgesehen hätte; – trotzdem geriet die Unterhaltung durchaus nicht ins Stocken, denn ein Gentleman aus der Parfümeriebranche erklärte eine hochinteressante Erfindung aus Deutschland in Form einer merkwürdigen Rasierseifenkugel, während der Literaturdilettant »auf Verlangen« einige sarkastische Strophen deklamierte, die er vor einigen Tagen anläßlich des Gefrierens des Wasserbehälters hinter dem Hause gedichtet hatte. Unter solchen Unterhaltungen und den daraus entspringenden Gesprächen verfloß die Zeit wie ein kurzer schöner Traum, bis endlich »Old Bailey« meldete, daß das Essen »kumme«.
Auf diese frohe Botschaft hin verfügten sich die Gäste, ohne zu zögern, in die Banketthalle, wobei einige witzige Geister die glücklichen Tischherren der beiden Misses Pecksniff nachahmten, indem sie ihren männlichen Partnern ritterlich galant den Arm reichten. Mr. Pecksniff sprach das Tischgebet – ein kurzes und andächtiges Gebet, in dem er Segen auf den Appetit aller Anwesenden herabflehte und die zahlreichen Armen, die heute nichts zu essen hatten, der Fürsorge des Himmels empfahl. Sodann griffen alle mit weniger Förmlichkeit als Appetit zu. Der Tisch bog sich unter der Last – nicht nur der den Misses Pecksniff bereits gestern angekündigten Leckerbissen, sondern auch von gekochtem Rindfleisch, gebratener Kalbsbrust, Schinken, Pasteten und eines Überflusses der gewissen schwer verdaulichen Pflanzenstoffe, die bei allen Pensionsinhaberinnen wegen ihrer sättigenden Eigenschaften so hoch in Ehren stehen. Außerdem gab es noch Doppelbier in Flaschen, Wein, Ale und unterschiedliche andere fremde und einheimische starke Getränke.
Alles dies mutete die beiden Misses Pecksniff gar lieblich an, um so mehr, da sie die Löwinnen des Tages waren. Sie saßen am oberen Ende der Tafel, zu beiden Seiten Mr. Jinkins‘, und wurden jede Minute von einem neuen Bewunderer mit einem »Prosit« beehrt. Wohl nie in ihrem ganzen Leben hatten sie sich so wohl und umworben gefühlt – besonders Gratia, die so brillierte und so treffliche Antworten gab, daß sie bald für ein wahres Wunder an Schlagfertigkeit galt. Kurz, wie die jungen Damen bemerkten, jetzt empfanden sie so recht, daß sie in London waren.
Ihr junger Gönner Master Bailey legte die lebhaftesten Sympathien mit diesen Empfindungen an den Tag und ermutigte beide Damen stets in gleicher Weise. Wenn er sich weniger beobachtet glaubte, beehrte er sie mit vertraulichem Blinzeln und anderen Zeichen des Verständnisses und berührte auch gelegentlich seine Nase mit dem Korkenzieher; wahrscheinlich eine Anspielung auf den bacchantischen Charakter des Banketts. Genaugenommen war vielleicht nicht einmal der Frohsinn der Misses Pecksniff oder die hungrige Wachsamkeit Mrs. Todgers‘ so beachtenswert wie das Tun und Lassen dieses merkwürdigen Knaben, den nichts aus der Fassung bringen oder stören konnte. Wenn zum Beispiel ein Stück Geschirr, ein Teller oder was sonst zufällig seinen Händen entglitt, was ein- oder zweimal der Fall war, so benahm er sich dabei ganz wie ein Mann von feinster Bildung, der die Sache nicht weiter erwähnt oder die Störung durch Äußerungen des Bedauerns noch peinlicher gestaltet. Auch störte er nicht durch Hinundherrennen, wie es so oft gut dressierte Dienstboten zu tun pflegen, sah vielmehr die Hoffnungslosigkeit, einer so großen Gesellschaft zu servieren, vollkommen ein und überließ es daher ruhig den Herren, sich selbst zu bedienen. Nur selten verließ er seinen Platz hinter Mr. Jinkins‘ Stuhllehne, von wo aus er, die Hände in den Taschen und die Beine gespreizt, zwanglos mit an der Konversation teilnahm. Das Dessert war glänzend. – Auch hier wurde nicht umständlich serviert. Die Teller für den Pudding wurden, nachdem der Käse aufgetragen worden, inzwischen in einem Kübel vor der Türe gewaschen und kamen, noch etwas naß und warm vom Reiben zwar, aber mit um so größerer Schnelligkeit wieder auf den Tisch. Mandeln schüsselweise, Orangen zu Dutzenden, Rosinen dem Pfunde nach, Zimmetsterne in Haufen und ganze Suppenschüsseln voller Nüsse! – Oh, Mrs. Todgers konnte schon – vorausgesetzt, daß sie wollte.
Dann kam noch mehr Wein, rote und weiße Sorten, und eine große Porzellanterrine mit Punsch, von dem Verfechter geselliger Gelage gebraut, der die Misses Pecksniff bat, ja nicht wegen der geringen Menge des Getränkes kleinmütig zu sein. Es sei im Hause noch genug Material vorhanden, um ein weiteres halbes Dutzend solcher Bowlen damit zu bestreiten. – Gütiger Himmel, wie die Damen da lachen mußten! Wie sie, nachdem sie davon geschlurft, husteten, weil das Getränk gar so scharf war, und dann wieder laut auflachten, als jemand beteuerte: hätte das Getränk nicht so eine verräterische Farbe, könne man es ganz gut wegen seiner Harmlosigkeit mit lauwarmer Milch verwechseln! Welch flammender Protest von den Lippen sämtlicher Herren, als die Damen Mr. Jinkins flehentlich ersuchten, den Punsch mit heißem Wasser verdünnen zu dürfen, und wie sie dann errötend doch nach und nach mit ihren Gläsern bis auf die Nagelprobe fertig wurden!
Doch die schwere Stunde naht.
»Die Sonne«, wie sich Mr. Jinkins ausdrückt, immer Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, »ist im Begriff, das Firmament zu verlassen.« »Miss Pecksniff«, fragt Mrs. Todgers leise, »vielleicht–?«
»O Himmel, nein, nichts mehr, Mrs. Todgers.«
Mrs. Todgers steht auf; die Misses Pecksniff stehen auf; alles steht auf. Miss Gratia sieht nach ihrem Umschlagtuch hinunter. Wo ist es nur? O Gott, wo kann es nur sein? Bezauberndes Mädchen, sie hat es um. Nur ruht es nicht mehr an ihrem schönen Nacken! Lose umflattert es ihren schlanken Leib. Ein Dutzend Hände stehen ihr bei. Sie errötet und ist verwirrt. Den jüngsten Gentleman in der Gesellschaft dürstet nach Mr. Jinkins‘ Blut. Sie hüpft davon und holt unter der Türe ihre Schwester ein. Charitas hat ihren Arm um Mrs. Todgers‘ Leib geschlungen, und Miss Gratia schlingt den ihrigen um die schlanke Taille ihrer Schwester. O Göttin Diana, welches Bild! Das letzte, was man sieht, sind ein Stück Spitzenkragen und ein hüpfendes Füßchen. – »Meine Herren, auf das Wohl der Damen!«
Der Enthusiasmus ist grenzenlos. Der debattelustige Gentleman erhebt sich und läßt plötzlich einen Strom von Beredsamkeit los, der alles vor sich niederwirft. Es drängt ihn zu einem Toast – zu einem Toast, in den sämtliche Anwesende begeistert einstimmen werden! Es ist ein Mann zugegen, er hat ihn im Auge, ein Mann, dem sie alle tiefste Dankbarkeit schulden! Ihre rauhen Naturen sind heute veredelt worden durch die Zaubermacht lieblicher Weiblichkeit. Ein Gentleman weilt unter ihnen, zu dem zwei entzückende junge Damen mit Verehrung aufblicken, den sie als den Urheber ihres irdischen Daseins betrachten. Ja, als die beiden Misses Pecksniff noch mit kindlicher Zunge in der Wiege lallten, nannten sie diesen Gentleman bereits: »Vater!« – (Stürmischer Beifall.) – Sein Toast lautet daher: »Der Himmel segne Mr. Pecksniff!« – Alle drücken Mr. Pecksniff die Hand und trinken Bescheid. Der jüngste Gentleman wankt dabei, denn er fühlt, daß ein geheimnisvoller Einfluß dem Manne innewohnt, der das Wesen im nelkenroten Schal »Tochter« nennen darf.
Was sagt Mr. Pecksniff darauf? Oder vielmehr, was läßt er ungesagt? Nichts. – Man ruft nach mehr Punsch und trinkt. Die Wogen der Begeisterung gehen noch höher. Niemand stellt sein Licht länger unter den Scheffel. Der emsige Theaterbesucher deklamiert. Der sangesfreudige Herr beglückt die Gesellschaft mit einem Liede. Gänserich läßt den Gänserich früherer Witzworte meilenweit hinter sich. Er erhebt sich, um einen Toast auszubringen. Er gilt dem Patriarchen von Mrs. Todgers‘ Logierhaus, ihrem gemeinsamen Freund Jink, dem alten Jink, wenn dieser vertrauliche Ausdruck erlaubt ist. Der jüngste Gentleman protestiert wütend; – er kann das nicht zugeben – es darf nicht sein! Aber die Tiefe seiner Gefühle wird nicht verstanden. Man hält ihn für benebelt und achtet nicht auf ihn.
Mr. Jinkins dankt aus dem Grunde seines Herzens. Der heutige Tag ist bei weitem der stolzeste in seinem bescheidenen Erdenwallen. Wenn er umherblickt, so fühlt er, daß ihm die Worte mangeln, um seinen Dank ausdrücken zu können. Nur eines will er sagen: Man hat bewiesen, daß man bei Todgers treu zusammenhalten kann und gesellschaftlich höher steht als in den benachbarten Kosthäusern. Er erinnert seine geehrten Tischgenossen unter donnerndem Beifall an ein gewisses ähnliches Etablissement in Cannon Street, das man diesbezüglich rühmlich habe erwähnen hören. Er wünsche keine gehässigen Parallelen zu ziehen. Er wäre der letzte, dem etwas derartiges in den Sinn käme, aber wenn die Cannon-Street-Pension imstande sei, eine so hohe Vereinigung von Geist und Schönheit, wie sie heute Todgers‘ Tafel geziert, aufzuweisen und ein auch nur ähnliches Dinner zu servieren, wie sie es soeben eingenommen, so werde er sich’s zur Ehre anrechnen, besagtem Etablissement das Wort zu reden. – »Bis dahin aber, meine Herren, Todgers für immer!«
Abermals Punsch – Enthusiasmus – Reden! Jedermanns Gesundheit wird ausgebracht, nur die des jüngsten Gentlemans nicht. Grollend sitzt der Herr abgesondert von den anderen, hat die Ellenbogen auf die Lehne eines unbesetzten Stuhles gestützt und wirft verächtliche Blicke auf Jinkins. Gänserich bringt in einer zwerchfellerschütternden Rede die Gesundheit von »Old Bailey« aus. Der »Schnackler« geht um, und ein Glas wird zerbrochen. Mr. Jinkins fühlt, daß es Zeit ist, die Damen nicht länger allein zu lassen. Nur noch rasch ein Toast auf Mrs. Todgers. Sie verdient eine besondere Erwähnung. – »Hört hört!« – Sie alle finden zwar zu anderen Zeiten Fehler auf Fehler an ihr, aber in diesem Augenblick fühlt jeder, daß er sein Leben für sie lassen könnte. Man geht die Treppe hinauf, wo man so bald noch nicht erwartet wurde, wenigstens »nickt« Mrs. Todgers, Miss Charitas ordnet sich das Haar und Gratia, die sich aus einem Fenstersitz ein Sofa zurechtgemacht hat, liegt in anmutiger Stellung hingegossen. Sie erhebt sich hastig, wird aber von Mr. Jinkins inständig gebeten, sich doch ja nicht stören zu lassen; sie sehe so reizend aus in dieser Attitüde, daß es ewig schade wäre, wenn sie sie verändere. Sie lacht, gibt nach, fächelt sich und läßt ihren Fächer fallen. Alles stürzt hinzu, ihn aufzuheben. Da sie sich einstimmig als Schönheit des Tages erklärt sieht, wird sie grausam und launenhaft, läßt die Herren einander Aufträge ausrichten, die sie längst vergessen hat, wenn die Antwort zurückkommt, und erfindet tausend Qualen für die Herzen ihrer Verehrer. »Old Bailey« bringt Tee und Kaffee herauf. – Um Charitas hat sich gleichfalls eine kleine Gruppe von Bewunderern gesammelt, jedoch nur von solchen, die ihrer Schwester nicht nahekommen können. Der jüngste Gentleman in der Gesellschaft ist blaß, aber gefaßt, und sitzt abgesondert, denn sein Geist hält geheime Zwiesprache mit sich selbst, und seine Seele verabscheut das lärmende Getriebe. – Gratia entgeht seine Gegenwart und die Glut seiner Gefühle nicht, denn er sieht bisweilen in ihrem Augenwinkel einen Lichtblick der Ermutigung. – Sieh dich vor, Jinkins, daß du einen Verzweifelnden nicht bis zum Wahnsinn reizest!
Mr. Pecksniff war seinen jüngeren Freunden gefolgt und an Mrs. Todgers‘ Seite in einen Stuhl gesunken. Er hatte sich eine Tasse Kaffee über das Bein gegossen, dem Umstand aber offenbar keine Beachtung geschenkt. Auch schien er gar nicht zu wissen, daß eine Semmel auf seinem Knie lag.
»Und wie hat man sich gegen Sie benommen unten?« fragte Mrs. Todgers.
»Das Benehmen der Herren ist derart gewesen, meine teure Madame«, entgegnete Mr. Pecksniff, »daß ich nie ohne Rührung oder eine Träne werde daran zurückdenken können. – Oh, Mrs. Todgers, oh, oh!«
»Lieber Gott!« rief die wackere Frau. »Warum denn auf einmal so niedergeschlagen, Sir?« »Ich bin ein Mann, meine teure Madame«, antwortete Mr. Pecksniff mit tränenerstickter Stimme, »aber ich bin auch Vater. Und Witwer. Meine Gefühle lassen sich nicht ersticken, Mrs. Todgers, wie die kleinen Kinder im Tower. Sie sind gewachsen und gewachsen, und je mehr ich sie mit Kissen zu erdrücken suche, desto lebhafter erheben sie ihre Häupter.«
Plötzlich gewahrte er das Semmelfragment auf seinem Knie und starrte es traumverloren an. Dabei schüttelte er ratlos und geistesschwach den Kopf, schien es für einen bösen Genius zu halten und haderte leise mit ihm.
»Sie war schön, Mrs. Todgers«, murmelte er und richtete wieder seinen verglasten Blick auf die Pensionsinhaberin, »und hatte einiges Vermögen.«
»Ich habe davon gehört!« rief Mrs. Todgers mit lebhafter Teilnahme.
»Das sind ihre Töchter«, fuhr Mr. Pecksniff mit steigender Rührung fort, und deutete auf die jungen Damen.
Mrs. Todgers zweifelte keinen Augenblick daran.
»Gratia und Charitas – Charitas und Gratia. Hoffentlich keine unheiligen Namen, wie?«
»Mr. Pecksniff!« rief Mrs. Todgers. »Wie geisterhaft Sie lächeln! Sie sind doch nicht unwohl, Sir?«
Mr. Pecksniff preßte ihren Arm und antwortete mit matter, feierlicher Stimme:
»Chronisch.«
»Kolik?« schrie Mrs. Todgers entsetzt.
»Chron-isch«, wiederholte Mr. Pecksniff mit einiger Anstrengung. »Chronisch. Ein chronisches Leiden. Ich leide an ihm von meiner Kindheit an. Es wird mich begleiten bis zum Grabe.«
»Gott behüte!« rief Mrs. Todgers.
»Ja, es ist so«, sprach Mr. Pecksniff trostlos. »Und doch bin ich gewissermaßen froh darüber. – Sie haben Ähnlichkeit mit ihr, Mrs. Todgers.«
»Bitte, bitte, drücken Sie mich nicht so, Mr. Pecksniff. Was, wenn einer von den Herren uns zusähe!«
»Um ihretwillen«, lallte Mr. Pecksniff. »Erlauben Sie es mir – um ihres Andenkens willen. Um einer Stimme willen aus dem Grabe. Sie sind ihr sehr sehr ähnlich, Mrs. Todgers! Es ist eine seltsame Welt!«
»Ach ja; Sie haben recht«, seufzte Mrs. Todgers.
»Ich fürchte, es ist eine eitle, eine gedankenlose Welt«, fuhr Mr. Pecksniff niedergedrückt fort. »Diese jungen Leute rings um uns! Oh, haben sie überhaupt ein Gefühl für Verantwortlichkeit? Nein! – Geben Sie mir auch Ihre andere Hand, Mrs. Todgers.« Die Dame zögerte und erklärte, sie täte es nicht gern. »Hat eine Stimme aus dem Grabe kein Gewicht?« fragte Mr. Pecksniff mit trübseliger Zärtlichkeit. »Das ist irreligiös, mein teures Wesen!«
»Pst, wirklich«, flüsterte Mrs. Todgers, »wirklich, es geht nicht.«
»Ich bin es doch nicht, der spricht. Glauben Sie ja nicht, daß ich es bin. Es ist die Stimme – es ist ihre Stimme.«
Die selige Mrs. Pecksniff mußte eine ungewöhnlich heisere und rauhe Stimme gehabt haben, eine für eine Dame sogar seltsam schwere und lallende, wenn sie jetzt wirklich aus ihrem Gatten sprach. – Aber vielleicht war das Ganze nur ein Irrtum von seiner Seite.
»Heute ist ein Tag der Freude gewesen, Mrs. Todgers, aber auch zugleich ein Tag des Schmerzes für mich. Er hat mich an meine Verlassenheit gemahnt. – Was bin ich auf der Welt?«
»Ein vortrefflicher Gentleman, Mr. Pecksniff«, rief Mrs. Todgers.
»Darin läge wenigstens noch ein Trost«, meinte Mr. Pecksniff. »Bin ich es wirklich?«
»Zuverlässig! Es gibt keinen bessern auf dem ganzen Erdenrund«, beteuerte Mrs. Todgers.
Mr. Pecksniff lächelte unter Tränen und schüttelte mild das Haupt. »Sie sind sehr gütig; ich danke Ihnen. Ich finde mein größtes Glück darin, junge Leute emporzuheben. Das Wohl meiner Zöglinge geht mir über alles. Ich liebe sie von ganzem Herzen. Aber auch sie beten mich fast an – bisweilen wenigstens.«
»Stets! Immer!« verbesserte Mrs. Todgers. »Wenn die Welt behauptet, sie hätten sich bei mir nicht vervollkommnet, Madam«, flüsterte Mr. Pecksniff mit abgrundtiefem Blick und winkte Mrs. Todgers, sie möge ihr Ohr seinen Lippen näher bringen – »wenn die Welt sagt, sie hätten sich bei mir nicht vervollkommnet und müßten ein zu hohes Lehrhonorar bezahlen, so lügt sie! Doch genug davon! Sie verstehen mich. Ihnen, als einer alten Freundin, darf ich’s wohl sagen – sie lügt!«
»Oh, die Elenden!« rief Mrs. Todgers.
»Ja, Madame, Sie haben recht. Und ich schätze Sie hoch um dieser Bemerkung willen. – Noch ein Wort ins Ohr. Für Eltern und Vormünder – dies im Vertrauen, Mrs. Todgers –«
»Sie können sich vollständig auf mich verlassen«, versicherte die wackere Frau.
»Für Eltern und Vormünder«, wiederholte Mr. Pecksniff, »es bietet sich eine vortreffliche Gelegenheit, die Vorteile der besten praktischen Ausbildung in der Baukunst mit den Annehmlichkeiten eines häuslichen Heimes und dem beständigen Aufenthalt unter Personen zu vereinigen, die, wie unbedeutend ihr Wirkungskreis und wie beschränkt ihre moralischen Fähigkeiten auch sein mögen – wohlgemerkt!? –, doch stets ihrer moralischen Verantwortlichkeit eingedenk bleiben werden.«
Man kann sich denken, welch verblüfftes Gesicht Mrs. Todgers machte, da sie sich den Sinn dieser ziemlich unverständlichen Worte, die sie überdies schon irgendwo gelesen zu haben glaubte (nämlich auf den Reklameplakaten Mr. Pecksniffs) absolut nicht erklären konnte. Doch der Treffliche erhob den Finger zur Warnung, daß sie ihn nicht unterbrechen möge.
»Kennen Sie Eltern oder Vormünder, Mrs. Todgers«, fuhr er eindringlich fort, »die sich eine solche günstige Gelegenheit für einen jungen Gentleman zunutze zu machen wünschen? Eine Waise hätte den Vorzug. Kennen Sie irgendein Waisenkind mit drei- oder vierhundert Pfund?«
Mrs. Todgers überlegte, schüttelte aber dann den Kopf.
»Wenn Sie von einer Waise mit drei- oder vierhundert Pfund hören sollten, nicht wahr, so bedeuten Sie den Verwandten des lieben, verlassenen jungen Menschen, sie möchten sich brieflich – franko natürlich – an S. P., postamtlagernd Salisbury, wenden. – Ich weiß nicht, was das wieder ist! Erschrecken Sie nicht, Mrs. Todgers«, lallte Mr. Pecksniff und sank schwerfällig zurück, »Chronisch – chronisch! Geben Sie mir doch einen Schluck zu trinken.« »Gott im Himmel, Misses Pecksniff!« rief Mrs. Todgers laut. »Ihrem lieben Papa ist unwohl!«
Mit erstaunlicher Kraft richtete sich Mr. Pecksniff, als er plötzlich aller Augen auf sich gerichtet sah, auf, stellte sich auf die Füße und richtete einen Blick tiefgründiger Weisheit auf die Gesellschaft. Dann verzog er sein Antlitz allmählich zu einem Lächeln – zu einem matten, hilflosen, melancholischen Lächeln, mild, fast todestraurig.
»Beklaget mich nicht, meine Freunde«, sprach er wehmütig. »Weinet nicht um mich. Es ist chronisch.«
Und mit diesen Worten fiel er, nach einem vergeblichen Versuch, seine Schuhe auszuziehen, in den Kamin.
Der jüngste Gentleman in der Gesellschaft zog ihn im Nu wieder heraus. – Ja, noch ehe ein Haar seines Hauptes versengt war, hatte ihn Gratia glücklich wieder auf dem Teppich vor dem Kamine liegen – ihren Vater!
Sie war fast außer sich. Desgleichen ihre Schwester. Jinkins tröstete sie beide. Alle trösteten sie. Jeder hatte etwas zu sagen, nur der jüngste Gentleman in der Gesellschaft nicht, der mit edler Selbstaufopferung das schwere Werk vollbracht und jetzt Mr. Pecksniffs Haupt stützte, ohne von sonst jemandem die geringste Notiz zu nehmen. Endlich sammelte sich alles um den Leidenden, und man beschloß, ihn hinauf ins Bett zu schaffen. Der jüngste Gentleman bekam von Mr. Jinkins Vorwürfe, weil er Mr. Pecksniffs Rock zerrissen haben sollte! »Ha! Auch das noch! – Aber schon gut – schon gut!«
Dann schleppten sie den Patienten die Treppe hinauf und traten dem jüngsten Gentleman dabei unablässig auf die Zehen.
Mr. Pecksniffs Schlafgemach befand sich fast unter dem Giebel, und es war ein beschwerlicher Weg bis dahin; aber mit der Zeit brachten sie ihn doch glücklich an Ort und Stelle. Unterwegs forderte er die Herren zu wiederholten Malen auf, ihm doch einen Schluck zu trinken zu geben. Es schien förmlich eine Idiosynkrasie zu sein. – Der jüngste Gentleman in der Gesellschaft schlug ein Glas Wasser vor, zog sich aber dafür von Mr. Pecksniff sofort eine Flut von Schimpfwörtern zu.
Jinkins und Gänserich übernahmen den Rest der Arbeit und legten den Trefflichen so bequem wie möglich auf sein Bett. Da er geneigt schien, schlafen zu wollen, verließen sie ihn, aber noch hatten sie kaum den untersten Treppenabsatz gewonnen, da erschien oben am Geländer, spukhaft gekleidet, Mr. Pecksniff und schickte sich an, ihnen einen längeren Vortrag über das Wesen des menschlichen Lebens halten zu wollen.
»Meine Freunde«, rief er herab, »lasset uns unsern Geist erfreuen durch Fragen und Erwägungen aller Art. Fassen wir die Moral ins Auge. Lasset uns Betrachtungen über das menschliche Dasein anstellen. Wo ist Jinkins?«
»Hier, mein Herr, hier! Wollen Sie aber nicht lieber wieder zu Bett gehen?«
»Zu Bett gehen?!« rief Mr. Pecksniff. »Zu Bett gehen?! – So spricht der Tagedieb und der Träge; und ich höre ihn klagen: ›Ihr habet mich zu balde gewecket, dieweil ich noch schlummern will!‹ Wenn eine junge Waise die Strophen dieses schlichten Gedichtes aus Doktor Watts‘ Poesien deklamieren will, so bietet sich jetzt eine vortreffliche Gelegenheit.«
Niemand schien Lust dazu zu haben.
»Sehr wohltuend«, lallte Mr. Pecksniff nach einer Pause. »Außerordentlich wohltuend. Kühl und erfrischend; namentlich für die Beine. Die Beine sind eine gar herrliche Einrichtung am menschlichen Organismus, meine Freunde. Vergleichen wir ihre Konstruktion mit den hölzernen Beinen und achten wir dabei auf den Unterschied zwischen der Anatomie der Natur und der Anatomie der Kunst. – Wissen Sie«, fuhr er eindringlich fort wie in einer nebelhaften seltsamen Reminiszenz an die gewisse leutselige Art, in der er zu Hause neu angekommene Schüler vorzunehmen pflegte. »Wissen Sie, daß ich sehr gern sehen würde, wie sich Mrs. Todgers die Konstruktion eines hölzernen Beines denkt? Vorausgesetzt, daß sie sich darüber aussprechen will.«
Da nach dieser Rede zu schließen vernünftigerweise jede Hoffnung ausgeschlossen schien, er werde sich aus eigenem Antrieb zur Ruhe begeben, stiegen Mr. Jinkins und Mr. Gänserich die Treppe hinauf und schafften ihn von neuem zu Bett. Doch kaum erreichten sie auf dem Rückweg den zweiten Stock, stand er bereits wieder am Geländer. So ging das noch einige Male fort, und jedesmal erschien er mit einer neuen moralischen Phrase bewaffnet auf der Plattform, von dem lebhaften Wunsche, zur Veredelung seiner Mitmenschen beizutragen, beseelt, so daß schließlich Mr. Jinkins nichts anderes übrigblieb, als ihn im Bette festzuhalten und »Old Bailey« von Mr. Gänserich heraufholen zu lassen.
Sofort erfaßte der umsichtige Jüngling die Situation und schaffte frohgelaunt einen Schemel, ein Licht und sein Nachtessen zur Stelle, um seine Wache vor Mr. Pecksniffs Schlafstübchen erfolgreich überdauern zu können.
Sodann wurde die Türe verschlossen und der Schlüssel außen stecken gelassen. Ausdrücklich bedeutet, sofort Hilfe zu requirieren, falls apoplektische Symptome hörbar würden, die möglicherweise den Schlummer des Patienten stören könnten, erwiderte Mr. Bailey schlicht, er hoffe zu wissen, wieviel die Glocke geschlagen habe, und werde die Herren nicht unnötigerweise alarmieren.