Kapitel 1


Oliver Twist

Handelt von dem Orte, wo Oliver Twist geboren ward, und von Umständen, die seine Geburt begleiteten

In einer Stadt, die ich aus mancherlei Gründen weder nennen will, noch mit einem erdichteten Namen bezeichnen möchte, befand sich unter anderen öffentlichen Gebäuden auch eines, dessen sich die meisten Städte rühmen können, nämlich ein Armenhaus. In diesem wurde an einem Tage, dessen Datum dem Leser kaum von Interesse sein kann, der Kandidat der Sterblichkeit geboren, dessen Namen die Kapitelüberschrift nennt.

Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es hielt nämlich ungernein schwer, Oliver zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen, allerdings eine schwere Arbeit, die jedoch die Gewohnheit zu unserm Wohlbefinden nötig gemacht hat. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, auf einer kleinen Matratze, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Oliver damals von sorglichen Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelehrten Ärzten umgeben gewesen, so wäe er unzweifelhaft mit dem Tode abgegangen, so aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Biergenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten mußte. Oliver hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, daß Oliver nach einigen Anstrengungen atmete, nieste und endlich damit zustande kam, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde für die Gemeinde durch ein so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß. Da erhob sich das bleiche Gesicht einer jungen Frau mit Mühe von den Kissen und eine schwache Stimme flüsterte kaum vernehmbar: „Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben.“

Der Arzt saß vor dem Kamin und war bemüht, seine Hände bald durch Reiben, bald durch Ausstrecken über die Kohlen warm zu halten; als aber die junge Frau sprach, stand er auf, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit, als man ihm zugetraut hätte: „Oh! Sie müssen nicht vom Sterben sprechen!“

Die Wöchnerin streckte die Hand nach ihrem Kinde aus, der Arzt legte es ihr in die Arme. Sie küßte es leidenschaftlich auf die Stirn, dann fuhr sie mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild um sich, schauderte, sank zurück – und starb.

„Sie hat ausgerungen“, sagte der Arzt nach einer kurzen Untersuchung zu der alten Frau. „Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit, wahrscheinlich wird es etwas unruhig sein.“ Er zog bedächtig seine Handschuhe an. „Ihr könnt ihm dann ein wenig Haferschleim geben.“ Er setzte den Hut auf und trat, bevor er das Zimmer verließ, noch einmal ans Bett und sagte: „Es war ein hübsches Mädchen; woher kam sie?“

„Sie wurde gestern abend auf Anordnung des Armenvorstehers hier eingeliefert“, antwortete die alte Frau. „Man fand sie auf der Straße ohnmächtig; sie muß weit gelaufen sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen, jedoch, woher sie kam oder wohin sie wollte, weiß niemand.“

Der Arzt beugte sich über die Verblichene und hob ihre linke Hand hoch.

„Ich sehe schon, es ist die alte Geschichte“, sagte er kopfschüttelnd, „kein Trauring. Na! Gute Nacht!“

Er ging zu seinem Abendessen, und die alte Frau setzte sich auf einen Schemel in der Nähe des Kamins und begann das Kind zu kleiden.

In der Decke, die Oliver bisher umhüllt hatte, konnte man ihn ebensogut für das Kind eines Edelmannes als für das eines Bettlers halten. Aber jetzt in dem alten verwaschenen Kinderzeug, dlas durch langjährige Benutzung gelb geworden war, trug er Zeichen und Abzeichen seiner Stellung, nämlich die eines Gemeindekindes, einer Waise des Armenhauses, eines zum Hungern bestimmten Lasttieres, das von allen verachtet und von niemand bemitleidet, durch die Welt geknufft und gepufft wird.

Oliver schrie laut und kräftig; hätte er wissen können, daß er eine Waise war und der zärtlichen Fürsorge von Kirchen- und Armenvorstehern ausgeliefert, so hätte ervielleicht noch lauter geschrien.

Handelt davon, wie Oliver Twist heranwuchs, erzogen und ernährt wurde

In den ersten acht oder zehn Monaten war Oliver das Opfer eines systematischen Betrugs und einer unausgesetzten Gaunerei. Er wurde nämlich aufgepäppelt. Die Armenhausbehörde meldete den ausgehungerten und elenden Zustand des Waisenkindes pflichtschuldigst an den Gemeindevorstand. Dieser forderte einen Bericht darüber, ob sich „in dem Hause“ keine Frauensperson befände, die in der Lage sei, dem kleinen Oliver Twist die Nahrung zu reichen, deren er bedurfte. Die untertänige Antwort der Armenhausbehörde fiel verneinend aus, worauf der Gemeindevorstand den hochherzigen und menschenfreundlichen Entschluß faßte, Oliver in einem fünf Kilometer entfernten Filialarmenhaus unterzubringen. Dort wuchsen unter der mütterlichen Aufsicht einer älteren Frau zwanzig bis dreißig andere jugendliche Übertreter der Armengesetze auf, ohne von Kleidung und Nahrung allzusehr belästigt zu werden. Die Matrone nahm die kleinen Verbrecher gegen eine Entschädigung von wöchentlich sieben und einem halben Pence für den Kopf auf, und damit läßt sich ein Kind recht gut ernähren. Der Betrag reicht sogar zu, den Magen zu überladen und das Kind krank zu machen. Die alte.Dame war eine kluge und erfahrene Frau, sie wußte, was für Kinder – und noch mehr, was für sie selber gut war. Sie verwendete den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Nutzen und setzte die heranwachsende Jugend auf noch kleinere Rationen, als von der Behörde beabsichtigt war.

Jedermann kennt die Geschichte eines praktischen Philosophen, der eine herrliche Theorie erfunden hatte, die ein Pferd befähigte, gänzlich ohne Nahrung zu leben. Der Versuch gelang so weit, daß er sein eigenes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte und auch ohne Zweifel ein sehr mutiges, feuriges und gar nichts fressend des Tier aus ihm gemacht hätte, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor dem Tage krepiert wäre, wo es sich zum ersten Male ausschließlich von der Luft ernähren sollte. Unglücklicherweise hatte das System der Frau, deren Fürsorge Oliver Twist anvertraut war, gewöhnlich einen ähnlichen Erfolg. Gerade wenn ein Kind so weit gekommen war, von dem kleinstmöglichen Teile der möglichst schwächsten Nahrung zu leben, so kam es acht-, bis neunmal in zehn Fällen vor, daß es an Hungertyphus erkrankte, oder sich verbrannte oder einen schweren Fall tat, lauter Zufälligkeiten, durch die das bedauernswerte kleine Wesen in eine andere Welt abgerufen und zu den Vätern versammelt wurde, die es in dieser nicht gekannt hatte.

Man kann nicht erwarten, daß diese Erziehungsmethode glänzende Ergebnisse zeitigte. Oliver Twist war an seinem neunten Geburtstage ein blasses, schmächtiges, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Aber Natur oder Vererbung hatte in seine Brust einen gesunden, kräftigen Geist gepflanzt, der auch, dank der spärlichen Diät der Anstalt hinreichend Raum hatte, sich auszudehnen. Vielleicht ist es nur diesem Umstande zuzuschreiben, daß er sich überhaupt seines neunten Geburtstages erfreuen durfte. Er feierte denselben in der erlesenen Gesellschaft zweier anderen jungen Herren im Kohlenkeller, wo sie nach einer tüchtigen Tracht Schläge eingesperrt worden waren, weil sie sich erdreistet hatten, hungrig zu sein. An diesem Tage wurde Frau Mann, die würdige Vorsteherin der Anstalt durch die unerwartete Erscheinung des Gemeindedieners, Herrn Bumble, in Schrecken gesetzt. Er bemühte sich gerade, die Gartentür zu öffnen.

„Herr du meine Güte! Sind Sie es, Herr Bumble?“ rief Frau Mann, indem sie ihren Kopf aus dem Fenster steckte, anscheinend hocherfreut dem Kirchendiener zu.

„Susanne, hole rasch den Oliver und die beiden anderen Rangen aus dem Keller und wasche sie. – Ach, wie mich das freut, Herr Bumble. Freue mich wirklich, Sie mal wiederzusehen“

Herr Bumble war ein dicker und außerdem jähzornige Mann und anstatt die freundliche Begrüßung zu erwidern, gab er der Gartentür einen Stoß, wie ihn nur der Fuß eines Gemeindedieners zu geben imstande ist.

„Mein Gott“, sagte Frau Mann hinauseilend – denn die drei Jungen waren inzwischen aus dem Keller geholt worden – „daß ich das vergessen konnte. Der lieben Kinder wegen hatte ich ja die Tür verriegelt. Treten Sie näher, Herr Bumble, bitte kommen Sie rein.“

Obgleich diese Einladung mit einer Liebenswürdigkeit vorgebracht wurde, die sogar das Herz eines Kirchenältesten erweicht, hätte, besänftigte sie den Gemeindediener durchaus nicht.

„Ist es etwa ein geziemendes und höfliches Benehmen, Frau Mann“, fragte Herr Bumble, „die Gemeindebeamten am Gartentor stehen zu lassen, wenn sie in Angelegenheiten, die die Gemeindewaisen betreffen, hierher kommen?‘

„Glauben Sie mir, ich war gerade dabei, den lieben Kindern zu erzählen, daß Sie kämen“, erwiderte Frau Mann unterwürfig.

Herr Bumble hatte eine hohe Meinung von seiner Beredsamkeit und seiner Wichtigkeit. Die eine hatte er entfaltet und die andere geltend gemacht. Er wurde dadurch milde gestimmt.

„Schon gut, Frau Mann“, entgegnete er in sanfterem Tone, „ich will es Ihnen glauben. Gehen Sie nur voran, Frau Mann, ich komme dienstlich und habe Ihnen etwas auszurichten.“

Frau Mann führte den Gemeindediener in ein kleines Zimmer, holte einen Stuhl herbei und nahm ihm dienstbeflissen den dreieckigen Hut und seinen Stock ab. Sie legte beides auf den Tisch vor ihm. Herr Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte wohlgefällig auf den dreieckigen Hut. Dann lächelte er. Tatsächlich, er lächelte. Gemeindediener sind auch nur Menschen, und Herr Bumble lächelte.

„Nehmen Sie mir nicht übel, was ich Ihnen jetzt sage“, bemerkte Frau Mann mit bestrickender Liebenswürdigkeit, „aber Sie haben einen weiten Spaziergang gemacht, darf ich Ihnen mit einem Gläschen aufwerten, Herr Bumble?“

„Nicht einen Tropfen, nicht einen!“ erwiderte Herr Bumble und wehrte mit seiner rechten Hand würdevoll, aber nicht unfreundlich ab.

„Sie dürfen’s mir nicht abschlagen“, sagte Frau Mann, der der Ton seiner Weigerung und die ihn begleitende Gebärde nicht entgangen war. „Nur ein kleines Gläschen mit ein wenig kaltem Wasser und ’nem Stückchen Zucker.“ Herr Bumble hustete.

„Nur einen Tropfen!“ fuhr Frau Mann im überredenden Tone fort.

„Was ist es denn?“ fragte der Gemeindediener.

„Nun, es ist etwas, von dem ich immer einen kleinen Vorrat haben muß, um es den lieben Kindern in den Kaffee gießen zu können, wenn sie nicht wohl sind“, versetzte Frau Mann, indem sie einen Eckschrank öffnete und eine Flasche nebst Glas zum Vorschein brachte. „Es ist Wachholder.“

„Den geben Sie den Kindern mit dem Kaffee, Frau Mann?“ fragte er, dabei mit seinen Augen den interessanten Vorgang der Mischung verfolgend.

„Ja, der liebe Gott weiß es, ich tu’s, so teuer er auch ist. Sie wissen ja, mein Herr, daß ich sie nicht vor meinen Augen leiden sehen könnte!‘

„Nein“, sagte Herr Bumble, „nein, das könnten Sie nicht. Ich weiß, daß Sie eine menschlich denkende Frau sind, Frau Mann“ (hier setzte sie ihm das Glas hin), „ich werde bei passender Gelegenheit den Gemeindevorstand besonders darauf aufmerksam machen.“ (Er zog das Glas näher an sich.) „Sie fühlen wie eine Mutter“ (er hob das Glas), „ich – mit Vergnügen trinke ich auf Ihre Gesundheit, Frau Mann“, damit trank er das Glas zur Hälfte leer.

„Doch nun zu unserm Geschäft!“ rief der Gemeindediener, indem er eine lederne Brieftasche herauszog. „Das mit der Nottaufe versehene Kind Oliver Twist ist heute neun Jahre alt geworden.“

„Gott segne ihn!“ fiel Frau Mann ein und rieb sich mit dem Schürzenzipfel ihr linkes Auge rot.

„Und trotz der angebotenen Belohnung von zehn Pfund, die nachher auf zwanzig erhöht wurde, trotz der äußersten – ich möchte fast sagen übernatürlichen – Anstrengungen seitens der Gemeinde sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater oder die Heimat, noch den Namen und den Stand seiner Mutter ausfindig zu machen.“

„Wie kommt es aber, daß er überhaupt einen Namen hat?“ fragte Frau Mann.

Der Gemeindediener warf sich in die Brust und entgegnete: „Den habe ich erfunden!“

„Sie, Herr Bumble?“

„Jawohl. Wir geben unsern Findlingen Namen nach dem Alphabet. Der letzte war ein S – ich taufte ihn Swubble. Dieser war ein T – ich benannte ihn Twist.“

„Sie sind ja ein wahrer Gelehrter, Herr Bumble.“

„Vielleicht“, sagte der Gemeindediener geschmeichelt, „kann sein, Frau Mann. – Oliver ist nun zu alt für dieses Haus, der Vorstand hat beschlossen, ihn wieder zurückzunehmen,.und ich soll ihn abholen. Bringen Sie ihn mal her.“

„Ich werde ihn sofort holen“, sagte Frau Mann und verließ das Zimmer. Oliver war inzwischen von dem Schmutz, der sein Gesicht und seine Hände bedeckte, so weit gereinigt worden, als es durch eine einmalige Wäsche geschehen konnte. An der Hand seiner wohlwollenden Beschützerin betrat er nun das Zimmer.

„Mach einen Diener vor dem Herrn, Oliver“, sagte Frau Mann.

Oliver machte eine tiefe Verbeugung sowohl vor Herrn Bumble auf dem Stuhl, als auch vor dem Dreispitz auf dem Tische.

„Willst du mit mir gehen, Oliver?“ fragte Herr Bumble mit hoheitsvoller Stimme.

Oliver wollte gerade sagen, daß er gern mit jedem fortgehen würde, als er bemerkte, daß ihm Frau Mann, die hinter den Stuhl des Gemeindedieners getreten war, mit wütender Miene die Faust zeigte. Er verstand diese Zeichensprache.

„Wird sie auch mitgehen?“ fragte der arme Junge.

„Nein, aber sie wird dich hin und wieder besuchen“, sagte Herr Bumble.

Das war kein sonderlicher Trost für Oliver. Trotz seiner Jugend war er jedoch klug genug, sich so zu gehaben, als verließe er Frau Mann nur ungern. Es wurde ihm nicht schwer, Tränen ins Auge zu locken, da Hunger und kürzlch überstandene Mißhandlungen recht geeignet sind, sie herbeizuführen. So weinte Oliver sehr natürlich. Frau Mann umarme ihn wohl tausendmal und gab ihm ein großes Butterbrot, damit er nicht allzu hungrig im Armenhuse ankäme. Unnötig zu sagen, daß ihm das Butterbrot leber war als die tausend Umarmungen der Frau Mann. Mit einer kleinen braunen Tuchmütze auf dem Kopf vere ließ nun Oliver die armselige Stätte, wo nie ein freundliches Wort oder ein zärtlicher Blick das Dunkel seiner Kinderjahre erhellt hatte.

Herr Bumble holte mit weiten Schritten aus, und der kleine Jnge trabte neben ihm her, wobei er alle fünf Minuten fragte, ob sie nicht bald „da“ seien.

Oliver war noch keine Viertelstunde im Armenhause und kaum mit der Vertilgung eines zweiten Stückchen Brotes fertig, als Bumble ihm sagte, daß heute abend eine Vorstandssitzung sei, und daß er unverzüglich vor dem Kollegium zu erscheinen habe.

Die Begriffe von Sitzung und Kollegium waren Oliver nicht besonders klar. Er wußte deshalb nicht, ob er bei dieser Nachricht lachen oder weinen sollte. Bumble führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, wo acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch saßen. Oben am Tische machte sich auf einem Lehnstuhl, der etwas höher als die übrigen Stühle war, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte breit.

„Verbeuge dich vor den Vorstandsmitgliedern!“ sagte Bumble, und Oliver tat es.

„Wie heißt du, Junge?“ fragte der Mann im hohen Lehnstuhl.

Der Anblick so vieler Herren brachte Oliver so aus der Fassung, daß er zu zittern anfing. Er antwortete daher nur leise und schüchtern.

„Junge!“ sagte der Vorsitzende, „du weißt doch, daß du eine Waise bist?“

„Was ist das?“ fragte der arme Kerl.

„Du weißt doch, daß du keinen Vater und keine Mutter hast und daß du von der Gemeinde erzogen wirst, nicht wahr?“

„Jawohl, Herr“, erwiderte Oliver, bitterlich weinend.

„Warum heulst du?“ fragte ein Herr mit einer weißen Weste. In der Tat, der Grund, weshalb er weinte, war sehr schwer zu finden.

„Ich hoffe, du betest jeden Abend vorm Zubettgehen für die Leute, die dich aufziehen, wie es sich für einen Christen geziemt“, fragte ein anderer Herr mit barscher Stimme.

„Ja, Herr“, stotterte der Junge.

„Nun, wir haben dich hierherkommen lassen, damit du erzogen wirst und ein nützliches Gewerbe lernst“, sagte der Vorsitzende.

„Du wirst daher morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen“, fügte der Herr mit der weißen Weste hinzu.

Für die Verbindung dieser beiden Wohltaten machte Oliver auf einen Wink des Gemeindedieners eine tiefe Verbeugung und wurde dann schnell in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einer harten Pritsche in den Schlaf weinte.

Armer Oliver! Er dachte nicht daran, als er so in einer glücklichen Selbstvergessenheit schlummernd dalag, daß jene Männer am selben Tage einen Entschluß gefaßt hatten, der den größten Einfluß auf sein künftiges Geschick haben sollte. Und doch war es der Fall, wie wir in folgendem sehen werden.

Die Mitglieder des Gemeinderats waren sehr weise, einsichtsvolle, philosophische Männer. Als sie ihre Aufmerksamkeit dem Armenhaus zuwandten, fanden sie mit einem Male, was bisher noch kein gewöhnlicher Sterblicher entdeckt hatte, daß es den Armen darin zu gut gefiel. Es war in ihren Augen ein rechtes Vergnügungslokal für die besitzlosen Klassen, ein Wirtshaus, wo nichts bezahlt wurde jahrein, jahraus Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot auf öffentliche Kosten –, ein Elysium aus Backsteinen und Mörtel mit Spiel und Tanz, ohne jede Arbeit.

„Oho“, sagten die Gemeinderäte, „das muß anders werden, und zwar sofort.“ Sie setzten daher als Richtlinie fest, daß die armen Leute die Wahl haben sollten (denn es war nicht ihre Absicht, jemand zu zwingen), in dem Hause langsam oder außer dem Hause schnell Hungers zu sterhen. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und trafen mit dem Getreidelieferanten eine Übereinkunft, von Zeit zu Zeit kleine Mengen Hafermehl herbeizuschaffen. So erhielten dann die Insassen des Armenhauses dreimal täglich einen dünnen Haferschleim, außerdem zweimal in der Woche eine Zwiebel und sonntags eine halbe Semmel.

Schon in den ersten sechs Monaten nach Olivers Rückkehr war dieses System in vollem Gange. Der Raum, in dem die Jungen abgefüttert wurden, war eine große Halle aus Stein, an deren einem Ende ein kupferner Kessel stand. Aus diesem schöpfte der Speisemeister, unterstützt von einigen Frauen, zur Essenszeit den Haferschleim. Von dieser köstlichen Speise erhielt jeder Junge einen Napf voll, und nicht mehr – festliche Anlässe ausgenommen, an denen sie auch noch ein nicht allzu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht abgewaschen zu werden, die Jungens bearbeiteten sie mit ihren Löffeln so lange, bis sie wieder spiegelblank waren.

Kinder haben fast immer Hunger. Oliver und seine Kameraden hatten die Qualen des langsamen Hungertodes drei Monate lang ausgehalten. Da erklärte ein ziemlich großer Junge, dessen Vater eine kleine Kneipe hatte, und der daher reichliches Essen gewöhnt war, er fürchte seinen Schlafkameraden einmal nachts aufzuessen, wenn er nicht noch einen weiteren Napf Haferschleim täglich erhielte. Dabei rollten seine Augen wild. Die Jungen beratschlagen und losten dann, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle. Das Los fiel auf Oliver Twist.

Der Abend kam heran, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, und nachdem ein langes Tischgebet über das kurze Mahl gesprochen war, wurde der Haferbrei aus, geteilt. Dieser war schnell im Magen der Kinder verschwunden, als Oliver aufstand und mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hintrat. Hunger und Elend ließen ihn alle Rücksichten vergessen, doch zitterte er, als er sagte:

„Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr.“

Der wohlgenährte, rotbäckige Koch wurde bei diesen Worten blaß und mußte sich am Kessel festhalten. Er blickte mit starrem Entsetzen auf den kleinen Rebellen und stieß schließlich mit schwacher Stimme aus: „Was?“

„Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr!“

Da schlug ihn der Küchenmeister mit dem Löffel über den Kopf, packte Oliver bei den Händen und rief laut nach dem Gemeindediener.

Der Verwaltungsausschuß hielt eben eine Sitzung ab, als Herr Bumble aufgeregt ins Zimmer stürzte. Er wandte sich an den Vorsitzenden:

„Verzeihung, Herr Limbkins! Oliver Twist hat mehr haben wollen!“

Alle waren starr.

„Mehr?“ fragte Herr Limbkins. „Nehmen Sie sich zu, sammen, Bumble, und antworten Sie mir klar und deutlich. Habe ich das so zu verstehen, daß er noch mehr verlangte, nachdem er bereits seinen vorschriftsmäßigen Anteil erhalten hatte?“

„Jawohl, Herr!“

„Der Junge wird am Galgen enden“, sagte der Herr mit der weißen Weste. „Ich bin ganz sicher, daß der Bursche dereinst gehängt wird!“

Niemand widersprach dieser Prophezeiung. Nach kurzer Beratung wurde Oliver eingesperrt. Am nächsten Morgen wurde ein Anschlag an das Tor geklebt, der jedem, der Oliver der Gemeinde abnähme, eine Summe von fünf Pfund verhieß. Mit anderen Worten, Oliver Twist wurde nebst fünf Pfund jedem Mann oder jeder Frau – wer eben einen Lehrling oder einen Laufburschen brauchte – angeboten.

Berichtet, wie Oliver Twist dicht daran war, eine Stellung zu bekommen, die keine Sinekure gewesen wäre

Oliver blieb eine Woche lang in einer dunklen, eisamen Kammer eingesperrt. Er weinte den ganzen Tag über bitterlich. Wenn dann die lange, traurige Nacht kam, legte er seine Händchen auf die Augen, um nicht ins Dunkel starren zu müssen, kroch in eine Ecke und versuchte zu schlafen. Alle Augenblicke aber fuhr er aus seinem Schlaf auf und drückte sich dann dichter an die Mauer, als ob er sich selbst in ihrer kalten, harten Fläche einen Schutz gegen die ihn umgebende Finsternis verspräche.

Nun begab es sich, daß eines Morgens der Schornsteinfegermeister Gamfield die Landstraße entlangzog. Er dachte darüber nach, wie er gewisse Mietsrückstände, um die ihn sein Hauswirt ziemlich energisch gemahnt hatte, bezahlen solle. Er wußte nicht, wie er die ihm fehlenden fünf Pfund herbeischaffen könnte, und marterte damit bald sein Gehirn, bald den Kopf seines Esels. Da fiel ihm plötzlich der Anschlag ins Auge, als er beim Armenhause vorbeikam.

„Halt!“ sagte der Meister zu dem Esel, doch dieser, ebenfalls in tiefes Sinnen versunken, trabte, ohne auf den Befehl seines Herrn zu achten, ruhig weiter. Gamfield fluchte wie ein Heide und versetzte dem Esel einen Schlag auf den Kopf, daß dieser halb betäubt war und stillstand. Dann begann der Meister aufmerksam den Anschlag zu lesen.

Der Herr mit der weißen Weste stand, die Hände auf dem Rücken, am Tore. Er hatte dem kleinen Streit zwischen Gamfield und seinem Esel gespannt zugeschaut und lächelte gutgelaunt. Gamfield lächelte gleichfalls, als er das Schriftstück durchgelesen hatte, denn fünf Pfund waren gerade die Summe, die er brauchte. Was die Beigabe des Jungen anbelangt, so wußte der Meister, der die Armenhauskost kannte, daß es sich nur um ein ziemlich schmächtiges Menschenexemplar handeln könnte. Er buchstabierte also den Anschlag nochmals von Anfang bis zu Ende durch und redete dann den Herrn mit der weißen Weste an, indem er gleichzeitig grüßend die Hand an seine Pelzmütze legte:

„Diesen Jungen hier will also die Gemeinde als Lehrling vergeben?“

„Ja, lieber Freund“, erwiderte der Herr mit der weißen Weste leutselig, „warum?“

„Wenn die Gemeinde ihn ein leichtes, angenehmes Handwerk lernen lassen will, so möchte ich mein Schornsteinfegergeschäft empfehlen“, entgegnete der Meister. „Ich brauche einen Lehrling und bin bereit, ihn zu nehmen!“

„Kommen Sie rein“, sagte der Herr mit der weißen Weste.

Gamfield folgte diesem in das Sitzungszimmer und trug Herrn Limbkins seinen Wunsch vor.

„Es ist ein schmutziges Handwerk, man hat auch erlebt, daß Jungens in den Schornsteinen erstickt sind“, meinte Limbkins.

„Dies kommt daher“, versetzte Gamfield, „daß man das Stroh anfeuchtete, ehe man es im Kamin anzündete, um die Jungen herunterzuholen. Es gab nur Rauch aber kein Feuer. Rauch hat aber keinen Zweck, denn er veranlaßt einen Jungen nicht runterzukommen, er macht ihn nur schläfrig, und das ist es ja gerade, was solch ein Bursche will. Jungen sind faul und widerspenstig, meine Herren, und ein schönes, heißes Feuer das beste, um sie im Galopp herunterzubringen. Es ist auch ein humanes Mittel, meine Herren, denn wenn einer im Schornstein steckenbleibt und sich die Füße verbrennt, dann tut er schon selbst alles mögliche, um sich aus dieser Lage zu befreien.`

Die Vorstandsmitglieder berieten sich einige Minuten, dann verkündete Herr Limbkins:

„Wir haben Ihren Vorschlag überlegt, können aber nicht drauf eingehen.“

„Ganz und gar nicht“, sagte der Herr mit der weißen Weste.

„Entschieden nicht“, fügten die andern Vorstandsmitglieder hinzu.

„So soll ich ihn also nicht haben, meine Herren?“ fragte Gamfield.

„Nein“, antwortete Herr Limbkins, „oder Sie müßten mit einer kleineren Summe zufrieden sein, da es doch ein zu schmutziges Handwerk ist.“

„Was wollen Sie geben, meine Herren? Seien Sie nicht zu hart gegen einen armen Mann!“

„Nun, ich meine, drei Pfund und zehn Schillinge wären genug“, sagte Herr Limbkins.

„Schon zehn Schilling zuviel“, bemerkte der Herr mit der weißen Weste.

„Also, sagen wir vier Pfund, meine Herren“, versetzte Gamfield, „und Sie sind den Jungen für immer los. Vier Pfund, das ist anständig.“

„Drei Pfund und zehn Schillinge“, wiederholte Herr Limbkins unbeugsam.

„Wir wollen die Differenz teilen, meine Herren, drei Pfund und fünfzehn Schillinge also!“

„Nicht einen Penny mehr“, lautete die feste Antwort Herrn Limbkins.

„Sie sind mächtig hart zu mir“, sagte Gamfield kleinlaut.

„Unsinn“, sagte der Herr mit der weißen Weste. „Es wäre ein feines Geschäft auch ohne jeden Zuschuß. Greifen Sie zu, Mann. Er ist gerade der richtige Junge für Sie. Ab und zu hat er den Rohrstock nötig, und sein Essen braucht auch nicht üppig zu sein, denn er ist von seiner Geburt an nie überfüttert worden. Ha! Ha! Ha!

Der Handel wurde also geschlossen, und Bumble bekam den Auftrag, Oliver Twist noch am selben Nachmittag vor den Friedensrichter zu führen, um seinen Lehrbrief genehmigen und unterzeichnen zu lassen.

Der kleine Oliver wurde daher zu seinem großen Erstaunen aus der Haft entlassen und erhielt den Befehl, ein reines Hemd anzuziehen. Er hatte kaum diese ungewohnte gymnastische Übung beendet, als ihm Herr Bumble eigenhändig einen Napf voll Haferschleim und das sonntägliche Stück Brot brachte. Bei diesem Anblick fing Oliver kläglich an zu weinen, denn er dachte nichts anderes, als daß die Behörde ihn zu irgendeinem nützlichen Zwecke schlachten lassen wollte, da sie ihn wohl sonst kaum in dieser Weise mästen würde.

„Weine dir nicht die Augen rot, Oliver, sondern iß und sei dankbar“, sagte Herr Bumble würdevoll. „Du sollst Lehrling werden, Ofiver!“

„Lehrling, Herr?!“ rief der Junge zitternd.

„Jawohl, Oliver, die guten Herren, die an dir Elternstelle vertreten haben, wollen dich in die Lehre geben, damit du später im Leben vorwärts kommst und ein tüchtiger Kerl wirst. Das kostet der Gemeinde drei Pfund und zehn Schillinge, denke mal, Oliver, drei Pfund zehn Schillinge – siebzig Schillinge! – hundertvierzig Sixpences – und all das für einen ungezogenen Waisenjungen, den keiner leiden kann.“‚

Als Herr Bumble innehielt, um Atem zu schöpfen, rannen dem armen Oliver nur so die Tränen über die Backen, und er schluchzte bitterlich.

„Weine nicht!“ sagte Herr Bumble, der von der Wirkung seiner Beredsamkeit sehr befriedigt war. „Wisch dir die Tränen mit dem Ärmel ab und laß sie nicht -in die Suppe fallen. Das ist töricht.“ Das stimmte, denn in der Suppe war ohnehin schon Wasser genug.

Auf dem Wege zum Friedensrichter belehrte Herr Bumble seinen kleinen Begleiter, daß er dort weiter nichts zu tun habe, als recht glücklich auszusehen. Wenn ihn dann der Herr frage, ob er in die Lehre gehen wolle, so müsse er sagen, furchtbar gern. Oliver versprach zu gehhorchen, um so mehr als Herr Bumble die zarte Andeutung fallen ließ, er könne nicht sagen, was man ihm antun würde, wenn er nicht diesen seinen Unterweisungen getreulich nachkäme. Als sie an Ort und Stelle eintrafen, wurde Oliver in ein kleines Zimmer gebracht und von Herrn Bumble ermahnt, dort so lange zu verweilen, bis er ihn holen würde.

Klopfenden Herzens wartete der Junge bereits eine halbe Stunde, als endlich Herr Bumble seinen Kopf, der jetzt der Zierde des dreieckigen Hutes entbehrte, durch die Tür steckte und laut sagte:

„Nun, liebes Kind, komm zu dem Herrn.“ Dabei warf er Oliver einen drohenden Blick zu und flüsterte ihm zu: „Denke dran, was ich dir sagte, Bengel.“

Oliver sah bei diesem sich widersprechenden Ton der Anreden unschuldig zu Herrn Bumble auf. Dieser führte ihn sogleich in ein anstoßendes Zimmer, dessen Tür offen stand. Hinter einem Pult saßen dort zwei alte Herren mit gepuderten Perücken. Einer las eine Zeitung, der andere studierte mit Hilfe einer Schildpattbrille ein kleines vor ihm liegendes Pergament. Herr Limbkins stand vorn an einer Seite des Pultes und Meister Gamfield mit teilweise gewaschenem Gesicht auf der anderen.

Der alte Herr mit der Brille war über seinem Pergament eingenickt, und es entstand eine kurze Pause, nachdem Herr Bumble Oliver vor das Pult geführt hatte.

„Das ist der Junge, Euer Gnaden“, sagte Herr Bumble.

Der die Zeitung lesende Herr sah auf und zupfte den andern alten Herrn am Ärmel, worauf dieser erwachte.

„Ach, das ist also der Junge?“ fragte er.

„Ja, Euer Gnaden“, versetzte Herr Bumble. „Mach dem Herrn Richter eine Verbeugung, Oliver.“

Oliver machte seinen schönsten Diener.

„Der Junge will also gern Kaminfeger werden?“ sagte der Friedensrichter.

„Er ist ganz verrückt danach, Euer Gnaden“, sagte Bumble, „er würde davonlaufen, wenn wir ihn zwingen wollten, etwas anderes zu lernen!“

„Und dieser Mann da soll sein Meister sein, nicht wahr? Sie werden ihn doch gut behandeln, und was das Essen und die Kleidung anbelangt, nicht Not leiden lassen, versprechen Sie das?“

„Wenn ich einmal gesagt habe, ich will, so werde ich esauch tun“, entgegnete Gamfield mürrisch.

„Ihre Ausdrucksweise ist nicht gerade fein, mein Freund, aber Sie scheinen ein offener, ehrlicher Mensch zu sein“, sprach der Richter, den Meister dabei durch seine Brillengläser flüchtig anguckend. Wäre er nicht halb blind und beinahe schon kindisch gewesen, so hätte ihm die Brutalität in Gamfields Gesicht auffallen müssen.

„Ich denke das zu sein“, entgegnete der Meister mit einem häßlichen Blick.

„Daran zweifle ich nicht, mein Freund“, fuhr der alte Herr fort und suchte nach dem Tintenfaß.

Es war für Olivers Schicksal ein kritischer Augenblick. Hätte das Tintenfaß da gestanden, wo es der alte Herr vermutete, so hätte er seine Feder eingetaucht und den Lehrbrief unterzeichnet. Gamfield hätte dann Oliver gleich mitgenommen. Aber da es unmittelbar vor seiner Nase stand, so suchte er natürlich vergebens nach ihm auf dem Pulte herum. Er begegnete dabei dem verstörten Blicke Olivers, der trotz aller ermahnenden Winke und Püffe Bumbles seinen künftigen Lehrherrn mit Furcht und Schrecken betrachtete. Halb blind wie er war, fiel es doch dem Friedensrichter auf. Er hielt daher inne, legte die Feder hin und schaute von Oliver zu Herrn Limbkins hinüber, der unbefangen zu erscheinen versuchte und lächelnd eine Prise nahm.

„Mein Junge“, sagte der alte Herr und beugte sich über das Pult. Oliver fuhr bei diesem Tone zusammen, denn er war einer freundlichen Anrede nicht gewohnt. „Mein Kind, du siehst blaß und verstört aus. Was ist dir?“

„Tretet ein wenig auf die Seite, Bumble“, sagte der andere Ratsherr, die Zeitung weglegend. Er sah Oliver teilnahmsvoll an und sprach: „Junge, sag uns, was dir ist, habe keine Angst!“

Oliver fiel auf die Knie und bat mit gefalteten Händen, man möge ihn lieber in die finstere Kammer sperren, ihm nichts zu essen geben, ihn prügeln, ja totschlagen, nur solle man ihn nicht mit diesem schrecklichen Manne fortschicken.

„Nun“, sagte Herr Bumble, indem er feierlich Augen und Hände gen Himmel hob, „von allen lügnerischen, hinterlistigen Waisenkindern, die mir je vorgekommen sind, bist du der frechste.“

„Haltet den Mund, Gemeindediener!“ sagte der zweite alte Herr, als sich Herr Bumble in dieser Weise Luft gemacht hatte.

„Verzeihung, Euer Gnaden!“ entgegnete Bumble, der seinen Ohren nicht traute, „haben Euer Gnaden mich gemeint?“

„Jawohl. Sie sollen den Mund halten!“

Herr Bumble war starr. Einem Gemeindediener den Mund zu verbieten Das war ja Revolution.

Der Friedensrichter guckte seinen Kollegen bedeutungsvoll an und sagte dann:

„Wir versagen dem Lehrbriefe unsere Genehmigung“; damit schob er das Pergament beiseite.

„Ich hoffe“, stotterte Herr Limbkins, „Sie werden nicht glauben, daß die Behörde fahrlässig gehandelt hat, noch dazu auf das unhaltbare Zeugnis eines Kindes hin.“

„Wir sind nicht berufen, darüber eine Meinung auszusprechen“, versetzte der alte Herr ziemlich scharf. „Nehmen Sie den Jungen wieder mit und behandeln Sie ihn anständig. Er scheint’s nötig zu haben.“

Am nächsten Morgen wurde Oliver wieder für fünf Pfund ausgeboten.

Oliver findet eine Stelle und macht den ersten Schritt ins Leben

Angesehene Familien schicken die jüngeren Söhne, die sonst keine Aussicht haben vorwärtszukommen, gern auf die See. Der Armenhausvorstand beschloß dieses weise Beispiel nachzuahmen. Er glaubte, es wäre das beste für Oliver. Vielleicht würde ihn ein Schiffer in der Trunkenheit zu Tode prügeln oder sonstwie um die Ecke bringen. Herr Bumble erhielt also den Auftrag, einen Schiffer ausfindig zu machen, der Oliver nehmen würde. Als er von dieser Mission zurückkehrte, traf er in der Haustür den Leichenbestatter Herrn Sowerberry. Dieser war trotz seines ernsten Berufes keinem Scherze abgeneigt. Er schüttelte Herrn Bumble die Hand und sagte:

„Ich habe den beiden Weibern, die gestern abend starben, eben Maß genommen.“

„Sie werden noch reich werden, Herr Sowerberry.“

„Glauben Sie? Aber die von der Gemeinde bewilligten Preise sind zu gering, Herr Bumble.“

„Die Särge sind auch dementsprechend klein“, erwiderte der Gemeindediener würdevoll lächelnd.

Herr Sowerberry fand diesen Witz furchtbar komisch und lachte anhaltend. Endlich sagte er:

„Größere sind bei dem neuen Verpflegungssystem auch nicht nötig.“

„Übrigens, Herr Sowerberry, wissen Sie keinen, der einen Lehrjungen gebrauchen kann?“ fragte Herr Bumble, der das Gespräch ablenken wollte. „Sehr günstige Bedingungen, sehr günstig.“

Währenddessen zeigte er mit seinem Stock nach dem Anschlag an der Tür und schlug dreimal bedeutungsvoll auf die großgedruckten Worte „fünf Pfund“.

„Nun, wie wär’s?“

„Ach, Sie wissen, Herr Bumble, daß ich viel Armensteuer bezahle.“

„Nun?“

„Da dachte ich, wenn ich soviel bezahle, hätte ich auch ein Recht, wieder etwas davon rauszukriegen. Ich möchte deshalb schon den Jungen nehmen.“

Herr Bumble faßte den Leichenbestatter am Arme und führte ihn ins Haus. Dort hatte Herr Sowerberry eine Unterredung von fünf Minuten mit dem Vorstand, und man kam überein, daß Oliver ihm noch am selben Abend auf Probe übergeben werden solle. Dies wurde Oliver von den Herren mitgeteilt und ihm gleichzeitig angedroht, daß man ihn auf die See schicken würde, wenn er es in der Lehre nicht aushielte und der Gemeinde nochmal lästig fiele. Oliver hörte das schweigend an, dann führte ihn der würdige Herr Bumble an den neuen Schauplatz von Leiden. Als sie dem Orte ihrer Bestimmung näher kamen, sagte Herr Bumble:

„Schiebe dir die Mütze aus dem Gesicht, und halte den Kopf hoch.“

Der Leichenbesorger hatte eben die Fensterladen seiner Werkstätte geschlossen und trug beim Schein einer Kerze einige Posten in sein Buch ein, als Herr Bumble eintrat.

„Sind Sie es, Bumble?“ sagte Sowerberry und blickte von seinem Buche auf.

„Niemand anders“ versetzte der Gemeindediener, „und da ist der Junge.“

Oliver machte einen Diener.

„Also das ist der Junge“, sagte der Leichenbesorger und hob die Kerze hoch, um ihn besser betrachten zu können. „Liebe Frau, komm doch mal herein.“

Frau Sowerberry kam aus einem kleinen Zimmer hinter der Werkstätte, sie war eine kleine, magere Person mit einem Gesicht wie eine Xanthippe.

„Das ist der Junge aus dem Armenhause, von dem ich dir gesprochen habe.“

„,Mein Gott“, sagte sie, der ist aber doch zu klein.“

„Klein ist er freilich“, bemerkte Herr Bumble, „aber er wird wachsen, sicher, er wird wachsen.“

„Das glaub‘ ich wohl“, sagte Frau Sowerberry, „aber von unserer Kost. – Da, geh die Treppe herunter, kleines Gerippe! Charlotte, gib dem Jungen etwas von dem, was für den Hund zurückgestellt war, der kriegt nichts mehr, da er heute morgen nicht nach Hause gekommen ist“, rief sie dem Dienstmädchen zu.

Oliver verschlang mit Gier den Hundefraß.

„Nun“ sagte Frau Sowerberry, „bist du fertig?“ Sie hatte mit Entsetzen und düsterer Ahnungen voll zugesehen, wie ein solcher Appetit in Zukunft zu befriedigen sei. Oliver bejahte.

„So komm mit. Dein Bett ist unter dem Ladentisch. Ich denke, es macht dir nichts aus, unter den Särgen zu schlafen. Doch gleichviel, eine andere Schlafstelle können wir dirnicht geben.“

Oliver lernt seine neue Umgebung kennen und nimmt zum erstenmal an einem Leichenbegängnis teil. Er faßt eine ungünstige Meinung vom Geschäfte seines Meisters

Am Morgen wurde Oliver durch lautes Pochen an der Ladentür geweckt. Während er in seine Kleider fuhr und die Sperrkette zu lösen begann, ließ sich eine Stimme vernehmen:

„Öffne die Tür, ein bißchen schnell!“

„Sofort, Herr“, antwortete Oliver und schloß an der Tür.

„Ich vermute, du bist der neue Lehrling, nicht wahr?“ sagte die Stimme durchs Schlüsselloch.

„Jawohl“

„Wie alt?“

„Zehn Jahre.“

„Dann setzt es Keile, wenn ich erst drin bin. Paß bloß auf, du Armenhäusler!“ Dann hörte man pfeifen.

Oliver schob zitternd die Riegel zurück und machte die Tür auf. Ein paar Augenblicke sah Oliver die Straße rauf und runter, im Glauben, der Unbekannte sei einige Schritte weitergegangen. Er sah aber niemand als einen dicken Bengel, der auf einem Stein vor dem Hause saß und ein Butterbrot verschlang.

Da Oliver sonst niemand in der Nähe sah, sagte er zu ihm:

„Verzeihung, haben Sie geklopft?“

„Jawohl“, antwortete der Bengel.

„Wünschen Sie einen Sarg?“ fragte Oliver harmlos.

Der Bengel schnitt ein grimmiges Gesicht und schrie ihn an, es werde nicht lange dauern, bis er selbst einen brauchte, wenn er sich derartige Witze mit seinem Vorgesetzten erlaube.

„Du weißt wohl nicht, wer ich bin, Armenhäusler?“ fuhr der Bengel fort und kam näher.

„Allerdings nicht!“.

„Ich bin Herr Noah Claypole, und du bist mein Untergebener“, sagte der Bengel. „Mach die Fensterladen auf, Faultier!“ Mit diesen Worten versetzte Herr Claypole unserm Oliver einen Tritt und ging mit gewichtiger Miene in den Laden.

Bald nachdem Oliver die Fensterladen aufgemacht hatte, kamen Herr und Frau Sowerberry herunter. Claypole und Oliver gingen nun die steile Treppe zur Küche hinab, um zu frühstücken. Charlotte, die Köchin, legte Noah die besten Bissen vor, während Oliver mit dem Abfall vorliebnehmen mußte.

Noah war zwar der Zögling einer Armenschule, aber keine Waise. Seine Mutter war eine Waschfrau, und sein Vater ein abgedankter, immer betrunkener Soldat. Sie wohnten in der Nachbarschaft. Die Ladenschwengel schimpften Noah „Lederhose“ , „Barmherzigkeitsschüler“ und dergleichen, und er steckte es schweigend ein. Nun warf ihm der Zufall eine namenlose Waise in den Weg, und an dieser nahm er nun mit Wucherzinsen Rache.

Oliver war schon drei Wochen im Hause des Leichenbesorgers, als eines Morgens Herr Bumble in die Werkstätte trat und aus seiner großen ledernen Brieftasche ein Blatt Papier herausnahm, das er Herrn Sowerberry einhändigte.

„Aha“, sagte letzterer, „wohl eine Bestellung auf einen Sarg, nicht wahr?“

„Zuerst auf einen Sarg und dann auf ein Begräbnis“, erwiderte Herr Bumble, sich verabschiedend.

„Nun“, meinte Herr Sowerberry und nahm den Hut, „je eher dieses Geschäft erledigt wird, desto besser ist es. Noah, du bleibst in der Werkstatt, und du, Oliver, setzt die Mütze auf und kommst mit mir.“ Sie zogen los und waren bald vor dem Haus, wo man ihrer Dienste bedurfte. Es stand in einer schmutzigen, armseligen Gasse. Sie stiegen die Treppe hinauf und machten an einer offenenen Tür halt, die weder Klingel noch Klopfer hatte. Herr Sowerberry pochte. mit dem Finger an. Ein junges Mädchen von vierzehn Jahren öffnete. Sie waren am richtigen Orte. In einem kleinen, der Tür gegenüberliegenden Alkoven lag unter einer Decke die Leiche.

Der Leichenbesorger zog ein Band aus der Tasche, kniete an der Seite der Toten, eines jungen Mädchens, nieder und nahm Maß. Dann eilte er, Oliver hinter sich herziehend, rasch hinaus.

Am nächsten Tage kehrten Oliver und sein Meister wieder nach diesem Ort des Jammers zurück, wo sie bereits Herrn Bumble mit vier Männern aus dem Armenhause trafen, die Trägerdienste leisten sollten. Der rohe Sarg wurde zugeschraubt und auf die Straße gebracht. „Ihr müßt rasch machen“, flüsterte Sowerberry der Mutter der Toten zu. „Wir haben uns etwas verspätet, und es wäre unschicklich, den Geistlichen warten zu lassen. Los, Leute, – und so schnell wie ihr könnt.“

Man hätte übrigens nicht nötig gehabt, sich so zu beeilen, denn als sie den Kirchhof erreichten, war noch kein Geistlicher zu sehen. Der Küster, der in der Sakristei saß, meinte, es könne wohl noch eine Stunde dauern, bis der Prediger käme. Man setzte den Sarg am Rande des Grabes nieder. Zerlumpte Jungen, die dieses Schauspiel nach dem Friedhof gelockt hatte, spielten herum und machten sich das Vergnügen, über den Sarg hin und her zu springen. Sowerberry und Bumble saßen in der Sakristei beim Küster und lasen die Zeitung. Endlich, nach einer guten Stunde, sah man Herrn Bumble, Sowerberry und den Küster nach dem Grabe eilen, und gleich darauf erschien der Geistliche. Herr Bumble prügelte, um den Anstand zu wahren, ein paar Jungen durch. Der Prediger las aus dem Gebetbuch so viel als sich in fünf Minuten zusammenfassen ließ. Drauf gab er dem Küster seinen Talar und eilte fort.

„Nun, Bill“, sagte der Leichenbesorger ztim Totengräber, „wirf das Grab zu.“

Nachher wurde der Kirchhof geschlossen, und Sowerberry fragte auf dem Heimweg Oliver, wie es ihm gefallen hätte. Mit einigem Zögern sagte dieser, nicht sehr gut.

„Ach, mit der Zeit wirst du dich schon dran gewöhnen“, meinte der Meister. „Wenn man es gewöhnt ist, ist’s einem gar nichts, Junge.“

Oliver machte sich so seine Gedanken, ob Herr Sowerberry lange gebraucht habe, sich an etwas der Art zu gewöhnen. Er hielt es aber für besser, seine Frage für sich zu behalten.

Oliver erlaubt sich kräftiger aufzutreten

Der Probemonat war vorüber und Oliver wurde endgültig als Lehrling eingestellt. Die Jahreszeit war damals gerade ungesund und Särge fanden guten Absatz. Im Laufe einiger Wochen hatte Oliver ziemlich Erfahrung gesammelt. Da er seinen Meister in den meisten Geschäften begleitete, um sich die Ruhe des Gemütes und jene Herrschaft über seine Nerven anzueignen, die ein so notwendiges Erfordernis für einen Leichenbesorger sind, so hatte er oft Gelegenheit, Zeuge der Ergebung und Seelenstärke zu sein, mit der soviele Menschen ihre Heimsuchungen und Verluste trugen.

Wurde ein reicher alter Herr oder eine reiche alte Dame beraben, die von einer ganzen Anzahl Neffen und Nichten zur letzten Ruhe begleitet wurden, so konnte Oliver in den meisten Fällen beobachten, daß dieselben Verwandten, die während der Krankheit der Verblichenen sich ganz trostlos gebärdet hatten, recht fröhlich miteinander plauderten, als ob nichts in der Welt imstande wäre, ihre gute Launezu trüben. Männer ertrugen den Verlust ihrer Frauen mit der heldenmütigsten Ruhe. Frauen, die um den dahingeschiedenen Gatten Trauerkleider anlegten, schienen nur darauf bedacht zu sein, recht anziehend auszusehen.

Daß Oliver sich durch das Beispiel dieser guten Leute in eine gleiche Gemütsruhe hineingearbeitet hätte, wage ich als sein Lebensbeschreiber nicht zu behaupten. Ich kann nur sagen, daß er monatelang die schlechte Behandlung Noahs mit Geduld über sich ergehen ließ. Charlotte mißhandelte ihn, weil es Noah tat, und Frau Sowerberry war seine erklärte Feindin, da Herr Sowerberry ihn gern zu haben schien.

Oliver fühlte sich daher zwischen diesen drei Gegnern und den vielen Leichenbegängnissen nicht ganz so behaglich als das hungrige Ferkel, das aus Versehen in die Kornkammer einer Brauerei eingeschlossen wurde.

Oliver und Noah befanden sich eines Tages zur Essenszeit allein in der Küche. Charlotte war gerade abgerufen worden, und so mußte man aufs Essen warten. Die Wartezeit glaubte Noah nicht würdiger ausfüllen zu können, als daß er Oliver höhnte und neckte. Noah legte also seine Beine auf das Tischtuch, zupfte Oliver an den Haaren, kniff ihn in die Ohren, nannte ihn einen Kriecher und versprach ihm, dabei zu sein, wann und wo immer man ihn hängen würde. Da diese Neckereien ihren Zweck verfehlten, Oliver zum Weinen zu bringen, wurde Noah noch ausfallender. Er fragte:

„Armenhäusler!Wie geht’s deiner Mutter?“

„Sie ist tot“, versetzte Oliver, „unterstehdich aber nicht, über sie zu reden.“ Dabei wurde er feuerrot im Gesicht und um seinen Mund zuckte es verräterisch, als ob er im nächsten Augenblick losweinen müßte. Noah sah dies mit Befriedigung und fuhr fort:

„Woran starb sie denn?“

„An gebrochenem Herzen, wie mir eine alte Wärterin gesagt hat“,murmelte Oliver vor sich hin. „Ich kann mir denken, was das heißt.“

Als Noah eine Träne über Ollvers Backen rinnen sah, pfiff er ein lustiges Lied und sagte dann:

„Was bringt dich denn so zum Heulen?“

„Du nicht“ versetzte Oliver, indem er rasch die Träne wegwischte. „Glaub das nur nicht.“

„Was, ich nicht?“ höhnte Noah.

„Nein, du nicht“, entgegnete Oliver scharf. „Nun ist’s aber genug. Wenn du noch ein Wort über sie sagst, dann sollst du mal sehen.“

„Na, was denn? Was soll ich sehen. Armenhäusler, du wirst frech! Und deine Mutter! Wird auch ’ne feine Nummer gewesen sein. Du lieber Himmel!“ Noah rümpfte die Nase.

Oliver fraß seinen Ärger in sich und schwieg. Dadurch ermuntert, fuhr Noah im Ton spöttischen Mitleides fort:

„Du weißt, da ist nichts mehr zu ändern, auch tust du uns allen leid, aber du mußt doch wissen, daß deine Mutter eine ganz schlimme Person war, vollkommen herunter gekommen.“

„Was sagst du da“, fragte Oliver schnell aufblickend.

„Ein ganz heruntergekommenes Frauenzimmer, Armenhäusler“, versetzte Noah kühl, „und es ist nur gut, daß sie auf diese Weise starb, sonst hätte sie sicher im Gefängnis oder am Galgen geendet.“

Glutrot im Gesicht, sprang Oliver auf und Noah an die.Kehle, nahm dann seine ganze Kraft zusammen und schmetterte ihn mit einem Schlag zu Boden.

„Er bringt mich um!“ schrie Noah. „Charlotte! Frau Sowerberry! Hilfe, Hilfe! Oliver mordet mich! Er ist verrückt geworden! Char – lotte!“

Noahs Hilfegeschrei wurde durch ein lautes Kreischen Charlottens,und ein noch lauteres der Meisterin erwidert. Erstere eilte durch eine Seitentür in die Küche, während Frau Sowerberry so lange auf der Treppe stehen blieb, bis sie sich überzeugt hatte, daß keine Gefahr für ihr Leben zu fürchten sei.

„Du verfluchter Lump“, schrie Charlotte, indem sie Oliver mit kräftiger Faust packte, „du undankbarer, meuchelmörderischer, nichtswürdiger Schurke“, dabei schlug sie unbarmherzig auf ihn ein. Nun stürzte auch noch Frau Sowerberry in die. Küche und zerkratzte Oliver das Gesicht. Diesen günstigen Stand der Angelegenheit machte sich Noah zunutze, er sprang auf und knuffte Oliver von hinten.

Als alle drei müde waren und nicht mehr weiter prügeln konnten, schleppten sie den sich wehrenden, aber keineswegs entmutigten Oliver in den Keller und schlossen ihn da ein. Frau Sowerberry sank in einen Stuhl und brach in Tränen aus.

„Himmel, sie stirbt“, rief Charlotte. „Schnell, liebster Noah, ein Glas Wasser.“

„Ach, Charlotte“, stöhnte die Meisterin, „wir müssen Gott danken, daß wir nicht alle in unseren Betten ermordet wurden.“

„Ja, der arme Noah war schon halbtot, als ich hinzukam.“

„Armer Junge!“ sagte Frau Sowerberry mitleidig. „Doch was machen wir nun? Der Meister ist nicht zu Hause, und in zehn Minuten wird Oliver die Tür eingestoßen haben!“

Seine Fußtritte hörte man auch schon gegen diese donnern.

„Ich glaube, das beste wäre, man holte die Polizei“ , meinte Charlotte.

„Oder das Militär“, fügte Herr Noah Claypole hinzu.

„Nein“, rief Frau Sowerberry, die sich plötzlich an Olivers alten Freund erinnerte, lauf zu Herrn Bumble, Noah, und bitte ihn, er möge unverzüglich hierherkommen. Renne, eine Mütze brauchst du nicht.“

Ohne Zeit zu verlieren, stürzte Noah fort.

Oliver bleibt widerspenstig

Noah Claypole rannte ohne Aufenthalt nach dem Armenhause, wo er atermlos ankam. Nachdem er sich einige Minuten an der Tür ausgeruht hatte, setzte er eine klägliche Miene auf und klopfte dann laut an das Pförtchen. Nächdem man ihm geöffnet hatte, schrie Noah in ängstlichem Tone:

„Herr Bumble, Herr Bumble!“ Dieser eilte herbei.

„Ach, Herr Bumble!“ rief Noah, „Oliver hat – –“

„Was, – doch nicht etwa weggelaufen?“

„Nein, Herr, weggelaufen ist er nicht, aber ganz bösartig ist er geworden. Er hat mich umbringen wollen, und dann wollte er auch Charlotte und die Meisterin ermorden. Es war ganz schrecklich.“ Noah fing laut zu heulen an. Der Herr mit der weißen Weste ging gerade über den Hof; er trat auf Bumble zu und fragte, was mit dem Jungen los sei.

„Es ist ein Junge aus der Armenschule“, versetzte Herr Bumble, „der von dem jungen Twist beinahe ermordet worden wäre, jawohl, Herr.“

„Donnerwetter“, rief der Herr, „habe ich’s nicht gesagt? Ich hatte immer das Gefühl, daß Oliver Twist mal gehängt werden würde.“

„Er wollte auch die Köchin umbringen“, fuhr Herr Bumble bleichen Gesichts fort.

„Und die Meisiterin auch“, fügte Noah hinzu.

„Und den Meister ebenfalls –, so, sagtest du doch, Noah?“ ergänzte Herr Bumble.

„Nein, der war ausgegangen, sonst würde er ihn auch ermordet haben. Er sagte aber, er wolle –“

„So, sagte er das wirklich, er wolle“, fragte der Hery mit der weißen Weste.

„Ja, Herr!“ erwiderte Noah, „und die Meisterin wünscht zu wissen, ob Herr Bumble Zeit hat, hinüberzukommen und Oliver durchzuprügeln. Der Meister ist nämlich nicht zu Hause.“

„Gewiß, mein Junge, gewiß!“ sagte der Herr und streichelte Noahs Kopf. „Du bist ein guter Junge. Hier hast du einen Penny. Gehen Sie schnell mit Ihrem Stock zu Sowerberrys und schonen Sie Oliver Twist nicht.“

„Gewiß nicht,. Herr“, sagte Bumble und holte dann seinen Hut. Er begab sich in aller Eile, soweit es sich mit seiner Würde vertrug, nach der Werkstatt des Leichenbesorgers.

Hier hatte sich der Stand der Dinge nicht geändert. Da Oliver fortfuhr, mit ungeminderter Kraft gegen die Kellertüre zu stoßen, so hielt es Herr Bumble für klug, erst zu parlamentieren, bevor er die Tür öffnete. Er rief deshalb durchs Schlüsselloch:

„Oliver!“

„Lassen Sie mich raus“, erwiderte dieser von innen.

„Kennst du meine Stimme?“ fragte Herr Bumble.

„Und du fürchtest dich nicht, Junge? Zitterst nicht?“

„Nein!“

Eine solche Antwort hatte Herr Bumble nicht erwartet. Er war baff.

„Wissen Sie, Herr Bumble sagte Frau Sowerberry, der Junge muß verrückt sein, sonst würde er es nicht wagen, so mit Ihnen zu sprechen.“

„Das ist nicht Verrücktheit“, versetzte Herr Bumble nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens, „das ist das Fleisch.“

„Was für Fleisch?“ fragte die Meisterin.

„Jawohl, das Fleisch. Sie haben ihn überfüttert. Daher kommt diese störrische Seele und der Geist des Widerspruchs, die für einen Menschen in seiner Lage nicht passen. Was haben überhaupt Arme mit Seele und Geist zu schaffen. Es ist genug, daß wir ihren Körper leben lassen. Hätten Sie dem Bengel nichts als Haferschleim gegeben, so wäre so etwas nie vorgefallen.“

In diesem Augenblick kam Herr Sowerberry nach Hause, und man erzählte ihm Olivers Verbrechen mit so viel Übertreibungen, daß er in einen mächtigen Zorn geriet. Er schloß die Kellertür im Nu auf und packte Oliver beim Kragen.

„Du bist mir ja ein nettes Früchtchen“, brüllte der Meister und gab ihm ein paar Maulschellen.

„Noah schmähte meine Mutter“, erwiderte Oliver trotzig.

„Wenn schon, du Strolch“, schrie die Meisterin. „Sie. hat’s verdient und noch viel mehr.“

„Sie hat’s nicht verdient“, entgegnete Oliver.

„Doch“, geiferte Frau Sowerberry.

„Das ist ’ne Lüge“, schrie der Junge.

Frau Sowerberry brach in einen Strom von Tränen aus, und dies ließ dem Meister keine Wahl. Er mußte seine teure Gattin zufriedenstellen, und so prügelte er denn, wenn auch ungern, den armen Jungen in einer Weise durch, die Herrn Bumbles nachträgliche Anwendung des Amtsstockes eigentlich unnötig machte. Dann wurde Oliver bei Wasser und Brot wieder eingeschlossen und durfte spät am Abend unter den Stichelreden Noahs und Charlottes sein trauriges Bett bei den Särgen aufsuchen.

Als Oliver in der düsteren Werkstätte allein war, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte die Schmähungen mit Verachtung angehört und jede Mißhandlung ohne einen Schmerzenslaut hingenommen. Hier aber, wo ihn niemand sehen konnte, fiel er auf die Knie, verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte heiße Tränen. Lange blieb Oliver in dieser Stellung. Als er wieder aufstand, war das Licht fast heruntergebrannt. Er horchte und entfernte dann leise die Riegel von der Tür. Er sah hinaus. Es war eine kalte, finstere Nacht. Kein Lüftchen wehte. Er schloß leise wieder die Tür, dann band er seine wenigen Kleidungsstücke mit einem Taschentuch zusammen und erwartete den Morgen auf einer Bank. Als die Sonne aufging, öffnete er aufs neue die Tür, sah sich scheu um und drückte sie dann hinter sich ins Schloß. Auf der Straße sah er sich nach rechts und links um, unschlüssig, wohin er fliehen sollte. Schließlich nahm er den Weg, der bergan führte, und bemerkte nach kurzer Zeit, daß er ganz nahe der Anstalt war, wo er seine ersten Kinderjahre zugebracht hatte.

Er langte bei dem Hause an. Niemand schien zu dieser frühen Stunde in demselben wach zu sein. Oliver blieb stehen und guckte durch das Gartengitter. Ein Kind jätete eben auf einem Beete Unkraut aus. Als es sein blasses Gesicht erhob, erkannte Oliver die Züge eines seiner früheren Kameraden.

„Pst, Dick!“ rief Oliver, und der Junge lief ans Tor und streckte seine dünnen Armchen zum Gruße durch das Gitter. „Ist niemand auf, Dick?“

„Außer mir, keiner“, entgegnete der Junge.

„Hör mal, du darfst nicht sagen, daß du mich gesehen hast, Dick“, sprach Oliver. „Ich bin weggelaufen. Man hat mich geschlagen und schrecklich mißhandelt. Ich will jetzt mein Glück in der Fremde versuchen. – Du siehst aber blaß aus, Dick.“

„Ich hörte, wie der Doktor sagte, ich müßte sterben“, sagte Dick mit einem schwachen Lächeln. „Ach, wie ich mich freue, dich wiedergesehen zu haben, Oliver, aber halt dich nicht auf. Eile.“

„Erst sage ich dir jedoch Lebewohl“, entgegnete Oliver. Ich werde dich wiedersehen, Dick; ganz gewiß. Du wirst noch gesund und glücklich werden.“

„Das hoffe ich auch, wenn ich einmal tot bin, früher nicht. Ich fühle, daß der Doktor recht hat, denn ich träume soviel vom Himmel und von Engeln und freundlichen Gesichtern, die ich nie sehe, wenn ich wach bin. Küsse mich“, sagte. der Kleine, indem er an dem niedrigen Tore emporkletterte und seine Ärmchen um Olivers Nacken schlang. „Lebwohl, lieber Oliver! Gott segne dich!“

Es war der Segenswunsch eines kleinen Kindes, aber es war der erste, den Oliver je über sein Haupt herabrufen hörte. Er vergaß ihn nie in allen Kämpfen, Mühen und Leiden seines späteren Lebens.

Oliver geht nach London, unterwegs begegnet er einem schnurrigen jungen Herrn

Bis Mittag wanderte Oliver, ohne zu rasten, die Landstraße entlang. Der Meilenstein, an dem er jetzt wagte auszuruhen, sagte ihm, – daß er noch hundert Kilometer von London entfernt sei. Dieser Name erweckte in der Seele des Knaben eine Flut von Gedanken. – London! – Diese große Stadt! – Niemand – nicht einmal Herr Bumble – konnte ihn dort auffinden. Er hatte im Armenhause oft alte Leute sagen hören, daß ein pfiffiger Junge in London nicht Hungers sterben würde. Nachdem er weiter sechs Kilometer zurückgelegt hatte, überlegte er, wie er wohl am besten hinkommen könne. Er hatte eine Brotrinde, ein Hemd, zwei Paar Strümpfe in seinem Bündel und einen Penny – ein Geschenk Sowerberrys – in der Tasche.

Ein reines Hemd, dachte Oliver, ist etwas sehr Angenehmes – wie auch das Paar gestopfter Strümpfe und der Penny aber für einen Marsch von vierundneunzig Kilometern nur geringe Hilfe. Oliver legte an diesem Tage dreißig Kilometer zurück und genoß die ganze Zeit über nichts als seine trockene Brotrinde und einige Glas Wasser. Mit Einbruch der Nacht kroch er in einen Heuhaufen und schlief bald fest ein. Er erwachte am nächsten Morgen durchgefroren und hungrig. Sein Penny ging für ein kleines Laib Brot drauf. An diesem Tage konnte er nicht mehr als achtzehn Kilometer schaffen. Nach einer weiteren im Freien zugebrachten Nacht fühlte er sich noch elender und konnte sich kaum auf den Beinen halten.

Er wartete am Fuße eines steilen Berges, bis eine Postkutsche kam, deren außensitzende Passagiere er anbettelte. Diese wollten sehen, wie weit er für einen halben Penny laufen könnte. Eine Weile versuchte Oliver mit der Kutsche Schritt zu hälten, aber die wunden Füße und seine Müdigkeit ließen es nicht lange zu. Als die Reisenden dies sahen, steckten sie ihren halben Penny wieder in die Tasche und nannten ihn einen faulen Hund.

In einigen Ortschaften waren große Warnungstafeln aufgestellt, die jeden Bettler mit Gefängnis bedrohten. Wenn sich nicht ein gutherziger Schrankenwärter und eine gutmütige alte Frau seiner erbarmt und ihm zu essen gegeben hätten, so.wäre es Oliver wahrscheinlich wie seiner Mutter ergangen; er wäre vor Hunger auf der Landstraße umgefallen.

Am siebenten Tage nach seiner Flucht hinkte Oliver morgens früh langsam in die kleine Stadt Barnet hinein. Die Fensterläden waren geschlossen, die Straßen leer. Die Sonne erhob sich soeben in all ihrer Herrlichkeit, aber, ihre Strahlen dienten nur dazu, dem Jungen, der mit blutenden Füßen auf einer Türschwelle saß, seine ganze trostlose Lage und Verlassenheit zu zeigen.

Allmählich öffneten sich die Fensterläden, und auf den Straßen zeigten sich Menschen. Einige blieben stehen, um Oliver anzustarren, aber niemand half ihm, ja, man nahm sich nicht einmal die Mühe, ihn zu fragen, woher er käme.

Da trat plötzlich ein Junge auf ihn zu, der ihn schon lange heimlich beobachtet hatte. Er sagte:

„Hallo, Dicker, was ist los mit dir?“

Der Junge mochte ungefähr von Olivers Alter sein und hatte ein ziemlich gemeines Gesicht, Stumpfnase, niedrige Stirn, kleine, stechende Augen, krumme Beine und war für sein Alter klein, dabei furchtbar schmutzig. Er benahm sich jedoch ganz wie ein Erwachsener. Sein Rock war zu weit und reichte ihm bis zu den Hacken. Der Hut saß so leicht auf seinem Kopfe, daß er jeden Augenblick herunterzufallen drohte, doch gab ihm der Junge dann mit einem Ruck einen Schwung, wodurch er wieder in die richtige Lage kam.

„Ich bin hungrig und müde“, antwortete Oliver mit Tränen in den Augen, „sieben Tage bin ich in einem fort gewandert.“

„In einem fort? Sieben Tage? Ich verstehe, wohl auf Schenkels Befehl? – Ich glaube, du weißt nicht mal, was ein Schenkel ist?“

„Doch“, erwiderte Oliver sanft, „das ist der obere Teil des Beins.“

„Mensch, du bist naiv!“ rief der junge Herr aus. „Ein Schenkel ist ein Friedensrichter, und wer auf Schenkels Befehl geht, kommt nicht vorwärts. Er muß immer aufwärts, ohne daß es je bergab ginge. Noch nie in der Mühle gewesen?“

„In was für einer Mühle?“ fragte Oliver.

„Na in der Tretmühle. – Doch du schiebst Kohldampf und mußt was zwischen die Zähne kriegen. Viel Moos habe ich ja auch nicht, aber es wird für dich schon reichen. Stell dich auf deine Hammelbeine und komm.“

Der junge Herr half Oliver aufstehen und nahm ihn mit in eine Schenke. Dort ließ er Bier, Brot und Schinken bringen. Oliver machte sich tüchtig über die Mahlzeit her, wobei ihn sein neuer Freund aufmerksam beobachtete. Als er mit dem Essen fertig war, fragte ihn der fremde Junge:

„Du willst nach London?“

„Ja.“

„Hast du schon ’ne Wohnung?“

„Nein.“

„Geld?“

„Nein.“

Der junge Herr pfiff durch die Zähne.

„Wohnst du in London?“ fragte jetzt Oliver.

„Ja, wenn ich zu Hause bin. – Aber du brauchst ’ne Schlafstelle, nicht wahr?“

„Freilich, ich habe seit einer Woche unter keinem Dach mehr geschlafen.“

„Laß dir darum keine grauen Haare wachsen, ich muß heute abend wieder nach London und kenne dort einen ganz respektablen alten Herrn, bei dem du umsonst wohnen kannst. Es muß dich allerdings ein Bekannter bei ihm einführen. Mich kennt er aber zur Genüge“, fügte der fremde Junge verschmitzt lächelnd hinzu.

Dieses unerwartete Anerbieten war zu verführerisch, um ausgeschlagen zu werden. Es entspann sich nun zwischen den beiden Jungen eine vertrauliche Unterhaltung, in deren Verlauf Oliver erfuhr, daß sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und ein besonderer Liebling jenes alten Herrn sei. Dawkins Äußeres sprach allerdings nicht zugunsten einer solchen Protektion, da er aber ziemlich lockere Redensarten führte und auch gestand, daß seine Freunde ihn den pfiffigen Gannef(*Spitzbuben*) nannten, so folgerte Oliver, er möge wohl ein leichtsinniger Mensch sein, an dem die guten Lehren seines Wohltäters verlorengingen. Er beschloß daher bei sich, sich die gute Meinung des alten Herrn zu verschaffen und den weiteren Verkehr mit dem Gannef abzubrechen, wenn er ihn, wie er bereits jetzt schon vermutete, unverbesserlich finden sollte.

Da Dawkins nicht vor Einbruch der Nacht in London eintreffen wollte, so wurde es fast elf Uhr, als sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Der Gannef riet Oliver, sich dicht hinter ihm zu halten, und eilte durch ein Gewirr kleiner Straßen und Gäßchen mit einer Geschwindigkeit, daß unser Held mächtig aufpassen mußte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Trotzdem konnte sich Oliver nicht enthalten, ein paar hastige Blicke auf seine Umgebung zu werfen. Er befand sich jetzt an einer Stelle, wie er sie nie armseliger und schmutziger gesehen hatte. Die sich bergab ziehende Straße war schmal und dreckig und ihre Luft mit Gestank erfüllt Er konnte zwar ziemlich viel kleine Läden bemerken, aber die einzigen Warenvorräte schienen in Haufen von Kindern zu bestehen, die sogar in dieser späten Stunde vor den Türen herumkrochen. Die einzigen Stellen, die in dieser Atmosphäre gediehen, waren die Kneipen, in denen sich die niedrigste Klasse der Irländer mit Schimpfen und Raufen unterhielt. Bedeckte Gänge und Höfe, die sich von der Hauptstraße abzweigten, führten zu kleineren Häusergruppen, wo sich betrunkene Männer und Frauen buchstäblich im Kote wälzten. Aus dem Schatten der Torwege lösten sich große, verdächtig aussehende Kerle, die nichts Gutes im Schilde zu führen schienen, und schlichen scheuen Blicks über die Straße.

Sie waren am oberen Ende der Straße angelangt, und Oliver überlegte gerade, ob es nicht besser sei, davonzulaufen, als ihn sein Führer am Arm ergriff und durch die offene Tür in ein Haus in der Nähe der Field Lane zog. Sobald sie drin waren, schloß Dawkins die Tür ab.

„Der Gannef pfiff und antwortete auf eine Stimme von unten: „Was ist los?“

„Gannoven(*Spitzbuben*)!“

Unmittelbar darauf zeigte sich am hinteren Ende des Ganges ein schwacher Lichtschein, und das Gesicht eines Mannes erschien am zerbrochenen Geländer einer alten Kellertreppe.

„Ihr seid zwei, wer ist der andere?“

„Ein neuer Kumpel(*Kamerad*)“,.versetzte Jack Dawkins und stieß Oliver vorwärts.

„Wo kommt er her?“

„Aus der Fremde. Ist Fagin oben?“

„Ja, er sortiert die Rotzlappen(*seidene Taschentücher*). Geht hinauf.“ Die Kerze und das Gesicht verschwanden.

Oliver stolperte an der Hand Dawkins die Treppe hinauf. Oben angelangt, öffnete dieser die Tür eines Hinterzimmers und zog Oliver hinein.

Die Wände und die Decke des Gemachs waren von Alter und Schmutz ganz schwarz. Auf einem elenden Tisch brannte eine Kerze, die in den Hals einer Bierflasche gesteckt war. Über dem Feuer hing eine Bratpfanne, in der einige Würste prasselten, und daneben stand, eine Gabel in der Hand, ein alter, zusammengeschrumpfter Jude, dessen spitzbübisches Gesicht von verfilztem, rotem Haar umrahmt war. Er hatte einen schmierigen flanellenen Schlafrock an und schien seine Aufmerksamkeit zwischen der Bratpfanne und einem Kleiderständer zu teilen, auf dem eine Anzahl seidener Taschentücher hing. Um den Tisch saßen vier oder fünf Jungen, keiner älter als der Gannef, und rauchten aus langen Tonpfeifen Tabak und tranken Schnaps wie Alte. Sie drängten sich um Dawkins, als dieser dem Juden etwas zuflüsterte, und grinsten dann Oliver an.

„Das ist er, Fagin“, sagte Jack Dawkins laut; „mein Freund, Oliver Twist.“

Der Jude grinste, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, nahm seine Hand und sagte, er freue sich, seine Bekannt,schaft gemacht zu haben. Hierauf umringten ihn die rauchenden jungen Herren und schüttelten ihm kräftig die Hände. Einer war besorgt, ihm die Mütze abzunehmen und aufzuhängen, während ein anderer seinen Diensteifer so weit trieb, ihm in die Taschen zu greifen, um ihm die Mühe zu ersparen, sie vor Schlafengehen auszuleeren. Hätte der Jude nicht mit der Gabel die Köpfe der liebenswürdigen Jünglinge bearbeitet, so hätten sich deren Höflichkeiten noch viel weiter erstreckt.

„Wir freuen uns alle sehr, dich kennenzulernen, Oliver“, sagte der Jude. „Gannef, nimm die Würste weg und laß Oliver an den Kamin, damit er sich wärmen kann. Du guckst nach den Taschentüchern, Liebling? Sind ’ne ganze Menge, nicht wahr? Wir haben sie für die Wäsche zusammengesucht, das ist alles, Oliver, ja, das ist alles! Ha! Ha! Ha!

In das Gelächter stimmten die hoffnungsvollen Schüler des alten Herrn laut ein. Dann setzte man sich zu Tisch.

Als Oliver seinen Teil gegessen, reichte ihm der Jude ein Glas Grog und ließ es ihn sogleich austrinken, weil noch ein anderer des Glases bedürfe. Nachdem Oliver dies getan, fiel er in einen tiefen Schlaf und wurde von seinem Freunde Jack auf ein aus alten Säcken bereitetes Lager getragen.

Enthält weitere Mitteilungen über den spaßhaften alten Herrn und seine hoffnungsvollen Schüler

Oliver erwachte am nächsten Morgen erst spät aus einem langen und festen Schlafe. Es befand sich nur noch der alte Jude im Zimmer, der sich zum Frühstück Kaffee kochte und leise vor sich hinpfiff. Oliver schlief zwar nicht mehr, er war aber auch noch nicht hellwach. Er sah mit halbgeschlossenen Augen den Juden und hörte sein leises Pfeifen.

Als der Kaffee fertig war, setzte der Alte die Pfanne auf den Kaminrost und stand einige Minuten unschlüssig da, als ob er nicht wisse, was er nun machen solle. Er drehte sich nach Oliver um und rief ihn an. Dieser antwortete jedoch nicht, sondern schien zu schlafen.

Der Jude beruhigte sich hierbei und verriegelte leise die Tür. Dann hob er eine Diele hoch und brachte ein Kästchen zum Vorschein, das er behutsam auf den Tisch stellte. Seine Augen funkelten, als er es öffnete und hineinsah. Er zog einen alten Stuhl an den Tisch, setzte sich und nahm eine herrliche, mit Brillanten besetzte, goldene Uhr heraus.

„Aha“, sagte der Jude, indem sich sein Gesicht zu einem scheußlichen Grinsen verzog, „verflucht schlaue Hunde! – Dichte gehalten bis zuletzt! Dem alten Pfaffen nicht das Versteck verpfiffen! Alten Fagin nicht reingelegt. Nu, was hätt’s auch genützt? Wären dem Strick doch nicht entgangen. Nein, nein, nein! Brave Jungens!“

Unter diesen und ähnlichen halblaut gesprochenen Betrachtungen legte der Jude die Uhr wieder behutsam an ihre Stelle zurück und holte dann wenigstens ein halbes Dutzend andere aus dem Kästchen, die er alle mit dem gleichen Vergnügen betrachtete. Dann kam die Reihe an Ringe, Busennadeln, Armbänder und solche Kostbarkeiten, die Oliver nicht einmal mit Namen kannte. Zuletzt nahm der Alte ein ganz kleines Geschmeide heraus. Es schien sich eine schwer zu lesende Inschrift darauf zu befinden, denn :der Jude legte es auf den Tisch, beschattete es mit der Hand und brütete lange darüber. An dem Gelingen seines Versuches verzweifelnd, lehnte er sich schließlich in seinen Stuhl zurück und murmelte vor sich hin:

„Es ist doch was Schönes ums Hängen! Tote bereuen nicht und machen keine Dummheiten. Plaudern auch nichts aus. Das ist gut fürs Geschäft. Fünf aufgehängt der Reihe nach, und keiner übriggeblieben, mich zu verpfeifen.“

Plötzlich fielen des Alten Augen auf Oliver, dessen Blicke in stummer Neugier auf ihn gerichtet waren. Er warf den Deckel des Kästchens hastig zu und ergriff das auf dem Tische liegende Brotmesser, dabei zitterte er am ganzen Körper.

„Was ist das?“ schrie Fagin. „Warum beobachtest du mich? Warum bist du wach? Was hast du gesehen? Rede, Junge, schnell, wenn dir dein Leben lieb ist.“

„Ich konnte nicht länger schlafen, Herr“, erwiderte Oliver demütig. „Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie gestört habe.“

„Bist du nicht schon seit einer Stunde wach?“ fragte der Jude mit finsterem Blick.

„Nein, Herr, bestimmt nicht“, antwortete Oliver.

„lst’s auch wahr?“ versetzte der Jude, und er nahm eine noch drohendere Haltung ein.

„Auf mein Wort, es ist wahr, ich bin wirklich nicht wach gewesen“, entgegnete Oliver ernst.

„Schon gut, schon gut, mein Lieber!“ sagte der Jude, indem er sein früheres Wesen wieder annahm. Er spielte noch ein wenig mit dem Messer, ehe er es weglegte, um Oliver glauben zu machen, er hätte es nur aus Zerstreuung in die Hand genommen. „Ich wußte das schon vorher und wollte dir nur einen kleinen Schreck einjagen. Du bist ein braver Junge. Ha! ha! du bist ein braver Junge, Oliver.“ Er rieb sich kichernd die Hände, guckte aber unruhig nach dem Kästchen hin.

„Hast du etwas von den hübschen Sachen gesehen, Liebling?“ sagte dei Jude nach einer kurzen Pause und legte die Hand auf das Kästchen.

„Ja, Herr“, erwiderte Oliver.

„Ach!“ rief erblassend der Jude. „Sie sind – ja sie sind mein Eigentum, Oliver, mein winziges Eigentum, mein alles für meine alten Tage. Die Leute nennen mich einen Geizhals. Ja, das tun sie.“

Oliver dachte, der alte Herr müßte tatsächlich ein rechter Geizhals sein, sonst würde er nicht so elend wohnen. Dann fiel ihm aber ein, daß die Fürsorge für den Gannef und die übrigen Jungen ihn ein schönes Geld kosten möge. Oliver fragte nun bescheiden, ob er aufstehen dürfe.

„Gewiß, Liebling“, antwortete der Jude. „Dort in der Ecke steht ein Krug Wasser, hole ihn, ich werde dir eine Waschschüssel geben.“

Oliver tat, wie ihm geheißen, und als er sich umdrehte, war das Kästchen verschwunden. Nachdem er sich gerade gewaschen hatte, trat der Gannef mit einem jungen Kameraden ins Zimmer. Dieser wurde Oliver als Karl Bates förmlich vorgestellt, er war einer von den rauchenden Jungen des gestrigen Abends.

Sie setzten sich zum Frühstück nieder, und der Jude fragte mit einem bedeutungsvollen Blick auf Oliver den Gannef:

„Liebe Kinder, hoffentlich habt ihr heute morgen schon fleißig gearbeitet?`

„Aber mächtig“, entgegnete Dawkins.

„Wie ’n Pferd“, fügte Bates hinzu.

„Ihr seid brave Jungen! Was hast du erwischt, Gannef?“

„Ein paar Brieftaschen.“

„Gespickte?“ fragte der Jude aufgeregt.

„So ziemlich“, sagte Dawkins und holte eine rote und eine grüne aus der Tasche.

Der Alte durchsuchte sie sorgfältig und meinte dann: „Nicht so schwer, als sie hätten sein können, aber schöne Stücke, gediegene Arbeit. Nicht wahr, Oliver?“

„Ja, allerdings, Herr“, erwiderter Oliver. Bei dieser Antwort brach Karl Batees in ein lautes Gelächter aus, zur großen Verwunderung Olivers, der absolut keinen Grund dazu sah.

„Und was hast du mitgebracht?“ fragte Fagin den Karl Bates.

„Rotzlappen“, versetzte der junge Herr; dabei zog er vier Schnupftücher aus der Tasche.

Der Jude besichtigte sie genau und sagte dann: „Sie sind gut, sehr sogar. Aber du hast sie nicht richtig gezeichnet, wir müssen die Buchstaben mit der Nadel wieder auftrennen. Das kann Oliver machen. Willst du? Ha! ha! ha!“

„Gern“, sagte dieser.

„Möchtest du nicht auch so leicht wie Karl Bates Taschentücher besorgen, hättest du Lust, Liebling?“ fragte der Jude.

„Große Lust, wenn Sie es mich lehren wollten, Herr.“

Karl Bates fand in dieser Antwort etwas so unwiderstehlich Komisches, daß er abermals in ein schallendes Gelächter ausbrach. Er wäre dabei fast erstickt, da er gerade den ganzen Mund voll Kaffee hatte. „Er ist doch gar zu naiv!“ sagte Karl gleichsam als Entschuldigung für sein unhöfliches Benehmen. Der Gannef strich Oliver über das Haar und sagte, er würde es schon noch lernen. Als der Jude sah, daß Oliver rot wurde, brachte er das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Er fragte, ob bei der heutigen Hinrichtung viele Leute da waren. Aus den Antworten der beiden Jungen ging hervor, daß sie auch zugeguckt hatten. Oliver wunderte sich deshalb nicht wenig, wie sie trotzdem noch soviel hatten arbeiten können.

Als sie fertig mit Frühstücken waren, spielte der lustige alte Herr mit den beiden Jungen ein gar seltsames Spiel. Der Alte steckte nämlich eine Schnupftabakdose in die eine und eine Brieftasche in die andere Hosentasche. Eine Uhr, die an einer um den Hals geschlungenen Kette hing, brachte er in seiner Westentasche unter. An sein Hemd befestigte er eine unechte Brillantnadel. Dann knöpfte er den Rock fest zu, verstaute sein Brillenfutteral und das Schnupftuch in den Rocktaschen. Mit einem Stock in der Hand, ging er im Zimmer auf und ab, ganz so wie man alte Herren in den Straßen der Stadt umherschlendern sieht. Er blieb hin und wieder bei dem Kamin oder bei der Tür stehen und tat so, als ob er aufmerksam ein Schaufenster besähe. Dabei guckte er sich aber immer um, als wenn er sich vor Dieben fürchtete. Von Zeit zu Zeit klopfte er auf die Taschen, um sich zu überzeugen, daß er nichts verloren habe. Er meinte die Sache so natürlich, daß Oliver lachen mußte, und zwar lachte er derart, daß ihm die Tränen über die Backen liefen. Die ganze Zeit über waren die beiden Jungen dem alten Herrn gefolgt. Sobald er sich jedoch umdrehte, zogen sie sich mit unnachahmlicher Geschwindig;keit zurück. Schließlich trat ihm der Gannef auf die Zehen, oder strauchelte wie zufällig über seinen Stiefel, während Karl Bates ihn von hinten anrempelte. In diesem Augenblick entwendeten sie ihm mit außerordentlicher Geschicklichkeit Schnupftabaksdose, Brieftasche, Busennadel, Uhr, Taschentuch und sogar das Brillenfutteral. Fühlte der alte Herr eine Hand in einer seiner Taschen, so kündigte er das durch einen Schrei an, und das Spiel begann von neuem.

Das war so eine ganze Weile fortgegangen, als ein paar Damen erschienen, die die jungen Herren besuchen wollten. Eine hieß Bet, die andere Nancy. Sie hatten üppiges Haar, waren aber nicht ordentlich frisiert. Ihre Schuhe und Strümpfe waren im schlechten Zustande. Hübsch konnte man die Mädchen eigentlich nicht nennen, aber sie hatten ein frisches Aussehen und sympathische Gesichtszüge. Auch benahmen sie sich so gefällig und ungezwungen, daß sie Oliver für recht artige Mädchen hielt, was sie ohne Zweifel auch waren.

Die Besucherinnen blieben ziemlich lange. Man trank Schnaps und die Unterhaltung wurde bald sehr heiter und lebhaft. Schließlich meinte Karl, es wäre Zeit sich auf die Socken zu machen, was nach Olivers Vermutung ein französischer Ausdruck für Ausgehen sein mußte, denn unmittelbar danach brachen alle vier auf, nachdem der freundliche alte Jude ihnen noch vorher reichlich Geld gegeben hatte.

Als sie fort waren, sagte Fagin:

„Nicht wahr, das ist ein lustiges Leben?“

„Haben sie denn ihre Arbeit schon getan?“

.Ja`, erwiderte der Jude, „das heißt, wenn sie nicht zufällig unterwegs neue bekommen. Die nehmen sie natürlich mit, darauf kannst du dich verlassen. An denen kannst du dir ein Beispiel nehmen, besonders an dem Gannef. Der wird noch mal werden ein großer Mann und auch dich zu einem machen, wenn du ihm dir nimmst zum Vorbilde. – Hängt mir übrigens das Schnupftuch aus der ‚Tasche?“

„Jawohl.“

„Versuch’s mal herauszuziehen, ohne daß ich es merke. Du hast ja heute mittag gesehen, wie man es machen muß.“‚

Oliver machte es so, wie er es beim Gannef gesehen hatte.

„Hast du es?“ fragte der Jude.

„Hier ist es, Herr.“

„Du bist ein gewandter Bursche“, sagte der alte Herr und fuhr mit der Hand über Olivers Haar. „Ich habe niemals einen gelehrigeren Jungen gesehen. Hier hast n‘ Schilling. Fahr nur weiter so fort, dann wirste noch werden der größte Mann deiner Zeit. – Und nun werde ich dir zeigen, wie man die Namen aus den Schnupftüchern macht.“

Oliver konnte nicht recht begreifen, wie er dadurch, daß er dem alten Herrn im Scherze das Schnupftuch aus der Tasche gezogen hatte, ein großer Mann werden könne. Er dachte aber, der Jude müsse das besser wissen, war dieser doch um soviel älter als er. Er machte sich also unbekümmert daran, die Buchstaben aus den Taschentüchern zu entfernen.

Oliver lernt seine neuen Bekannten besser kennen und muß die Erfahrung teuer bezahlen

Oliver blieb eine Reihe von Tagen dauernd im Zimmer des Juden und fing an, sich nach frischer Luft zu sehnen. Er machte die Zeichen aus den Taschentüchern heraus, die in ziemlich großer Zahl ins Haus gebracht wurden. Hin und wieder nahm er auch an dem erwähnten Spiel teil, das Fagin regelmäßig jeden Morgen mit den beiden Jungen aufführte. Oliver hatte den alten Herrn verschiedenemal gebeten, mit Jack und Karl gemeinsam auf Arbeit ausgehen zu dürfen, endlich erhielt er die ersehnte Erlaubnis. Da seit einigen Tagen keine Schnupftücher da waren, an denen Oliver hätte arbeiten können, so gab der alte Herr wohl aus diesem Grunde seine Zustimmung.

Die drei Jungen zogen los und schlenderten gemächlich die Straße-entlang. Oliver fand keinen Geschmack an dem langsamen Gang seiner Genossen und kam auf die Vermutung, daß sie den alten Herrn betrögen und der Arbeit aus dem Wege gingen. Der Gannef hatte außerdem noch die üble Gewohnheit, kleinen Jungen die Mütze vom Kopf zu reißen, während Karl Bates ziemlich freie Ansichten hinsichtlich des Eigentumsrechts an den Tag legte. Von den Ständen der Straßenhändler ließ er hier einen Apfel, dort eine Zwiebel verschwinden. Dies mißfiel unserm Oliver so sehr, daß er gerade zu erklären beabsichtigte, er wolle nach Hause gehen, als er durch das eigenartige Benehmen des Gannefs von diesem Vorhaben abgebracht wurde. Dieser stand plötzlich still, legte den Finger an die Lippen und hielt seine Genossen zurück.

„Was ist los?“ fragte Oliver.

„Pst!“ machte der Gannef. „Siehst du jenen alten Knacker-an der Bücherbude?“

„Den alten Herrn da drüben? Ja, den sehe ich.“

„Bei dem wollen wir arbeiten“, sagte Dawkins.

„Scheint erstklassig zu sein“, bemerkte Karl.

Oliver guckte in größter Überraschung von einem auf den anderen. Die beiden Jungen gingen unauffällig auf die andere Straßenseite und schlichen sich dann dicht hinter den alten Herrn. Oliver harrte mit stummer Verwunderung der weiteren Vorgänge.

Der alte Herr schien den besseren Kreisen anzugehören, trug Puder in den Haaren und hatte eine goldene Brille auf. Er hatte sich aus einem Regal ein Buch genommen und sich so ins Lesen vertieft, als säße er zu Hause in seinem Lehnstuhl. Möglich, daß er dort zu sein wähnte,.denn er war offensichtlich durch die Lektüre so abgelenkt, daß er weder für die Straße noch für die Jungen ein Auge übrig hatte.

Man denke sich Olivers Entsetzen, als er sah, wie der Gannef dem alten Herrn das Schnupftuch aus der Tasche zog und es dann Karl Bates zusteckte. Im Augenblick war ihm das Geheimnis der Taschentücher, der Uhren und Kleinodien des Juden klar. Als er die beiden wegrennen sah, fing er auch aus Leibeskräften zu laufen an. Doch gerade als Oliver Reißaus nahm, griff der alte Herr nach seinem Tuch in die Tasche und wandte sich rasch um, als er es nicht finden konnte. Wie er nun den Jungen so Hals über Kopf davonlaufen sah, kam er auf den naheliegenden Gedanken, daß dieser ihn bestohlen hätte. Das Buch in der Hand haltend, lief er mit dem Ruf: „Haltet den Dieb!“ hinter ihm her. Doch. er war nicht der einzige, der dieses Geschrei erhob. Der Gannef und Karl Bates hatten, um nicht durch Rennen aufzufallen, sich in den ersten besten Torweg an der Ecke zurückgezogen. Sobald sie das Gebrüll: „Haltet den Dieb“ vernahmen und Oliver laufen sahen, errieten sie schnell den Zusammenhang. Sie schlossen sich dessen Verfolgern an und riefen kräftig mit.

„Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ Es liegt ein Zauber in diesem Rufe. Der Krämer verläßt seinen Ladentisch, der Kutscher seinen Wagen, der Schlächter seine Fleischbank, der Bäcker seinen Trog, der Milchmann seine Kannen, der Junge seine Murmel, der Steinsetzer seine Ramme, der Straßenhändler seinen Karren und das Kind seine Fibel. Alles eilt, Hals über Kopf, im hellen Haufen fort, schreit, brüllt, überrennt ruhige Spaziergänger und macht die Hunde wild. Straßen, Gassen, Höfe – alles hallt von dem Rufe wider.

„Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ Die Leidenschaft, etwas zu jagen, ist der menschlichen Brust tief eingepflanzt. Ein armes, atemloses Kind, keuchend vor Erschöpfung, Todesangst im Auge und große Schweißtropfen im Gesicht, strengt alle seine Kräfte an, den Verfolgern einen Vorsprung abzugewinnen. Man läßt aber nicht von ihm ab. Jeden Augenblick rückt man ihm näher. Je mehr seine Kräfte sinken, desto lauter wird der Lärm, das Gebrüll und der Ruf: „Haltet den Dieb!“

Endlich ist er eingeholt, niedergeschlagen und liegt auf dem Pflaster. Die Menge drängt sich um ihn. Jeder will den Verbrecher sehen.

„Tretet zurück!“ „Laßt ihn doch zu Atem kommen!“

„Ach was, er verdient es nicht!“ „Wo ist der Herr?“

„Da. er kommt die Straße herunter.“ „Platz für den Herrn!“ „Ist das der Junge, Herr?“ „Ja.“

Oliver lag, ganz beschmutzt, mit blutendem Munde da. Er blickte verwirrt auf die ihn umgebende Menge.

„Ja, ich fürchte, daß er es ist“, wiederholte der alte Herr. „Der arme Junge hat sich sicher verletzt.“

„Das war ich, Herr“, sagte ein großer, ungeschlachter Kerl „Ich schlug ihn in die Fresse, daß er hinfiel.“

Der Bursche griff grinsend an seine Mütze und erwartete wohl eine Belohnung für seine Tat. Der alte Herr warf ihm jedoch einen Blick des Abscheus zu und sah sich ängstlich um, als ob er selbst davonzulaufen gedächte. Da kam endlich ein Polizist, wie denn bei solchen Anlässen die Polizei gewöhnlich immer zuletzt kommt. Er hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und packte Oliver nun beim Kragen.

„Aufgestanden“, brüllte er.

„Ich bin’s wirklich nicht gewesen, Herr. Es waren zwei andere Jungen“, sagte Oliver mit gefalteten Händen, dann sah er sich um: „Sie müssen hier in der Nähe sein.“

„Ach nein, es ist keiner da“, sagte der Polizist. Er meinte es ironisch, dabei war es die reine Wahrheit, denn der Gannef und Karl Bates hatten sich bei der ersten Gelegenheit, aus dem Staube gemacht. „Steh auf!“

„Ach, tun Sie ihm nichts“, sagte der alte Herr mitleidig.

„Ich tue ihm schon nichts“, antwortete der Polizist und riß ihm zum Beweise dafür die Jacke beinahe vom Leibe. „Nun komm schon! Donnerwetter, steh auf, du kleiner Strolch, du!“

Oliver versuchte mühsam aufzustehen‘, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Polizist packte ihn beim Kragen und zerrte ihn im Laufschritt durch die Straßen. Der alte Herr ging neben dem Polizisten her und eine johlende Menge begleitete die drei auf ihrem Weg.

Handelt von dem Polizeirichter Herrn Fang und gibt eine kleine Probe seiner Gerechtigkeit

Das Vergehen war in der unmittelbaren Nachbarschaft eines sehr bekannten Polizeiamtes der Hauptstadt begangen. Die johlende Menge hatte daher nur das Vergnügen, Oliver durch zwei oder drei Straßen zu begleiten. Angekommen, wurde Oliver in eine furchtbar schmutzige Zelle gesperrt. Der alte Herr sah, als.sich der Schlüssel in dem Schlosse drehte, fast ebenso kläglich wie Oliver aus. Mit einem tiefen Seufzer blickte er auf das Buch, das die unschuldige Ursache dieses aufregenden Auftritts gewesen war.

„Es ist etwas im Gesicht des Jungen“, sagte der alte Herr gedankenvoll zu sich selbst, „ein Ausdruck ist darin, der mich rührt und mich für ihn einnimmt. Sollte er nicht unschuldig sein? Er sah aus, wie – ja wie –“, hier hielt der alte Herr plötzlich inne; „Herrgott im Himmel, wo habe ich ein ähnliches Gesicht früher schon mal gesehen?“

Der alte Herr sann einige Augenblicke nach und trat dann in ein Wartezimmer des Polizeiamtes. Hier zog er sich in einen Winkel zurück und ließ eine Reihe von Gesichtern an seinem geistigen Auge vorbeiziehen. „Nein, es muß Einbildung sein“, sagte der alte Herr, den Kopf schüttelnd. Er stieß einen Seufzer aus und vertiefte sich wieder in die alte Schwarte.

Ein Gerichtsdiener berührte ihn an der Schulter und ersuchte ihn, ihm ins Amtszimmer zu folgen. Er schloß eilig das Buch und stand alsbald dem berühmten Herrn Fang gegenüber.

Das Amtszimmer lag nach vorn hinaus und hatte getäfelte Winde. Herr Fang saß am oberen Ende hinter einer Schranke. Neben der Tür war ein hölzerner Verschläg in dem sich bereits der arme, am ganzen Körper zitternde Oliver befand. Herr Fang war ein Mann von mittlerer Größe. Mager, glatzköpfig, hatte er ein finsteres, stark gerötetes Gesicht. Wenn er wirklich nicht mehr trank, alt ihm zuträglich war, so hätte er gegen sein Gesicht eine Verleumdungsklage anstrengen können. Beträchtlicher Schadenersatz wäre ihm sicher gewesen.

Der alte Herr verbeugte sich höflich, trat an das Pult und überreichte seine Karte. Zufälligerweise las Herr Fang gerade in der Zeitung einen Artikel, der eine seiner neuen Entscheidungen abfällig besprach. Er war daher höchst übel gelaunt und guckte ärgerlich auf.

„Wer sind Sie?“ herrschte er den alten Herrn an.

Der alte Herr wies etwas überrascht auf seine Karte.

„Gerichtsdiener“, sagte Herr Fang, indem er mit der Zeitung die Karte verächtlich vom Pult fegte, „wer ist dieser Mensch?“

Mein Name“, sagte der alte Herr würdig, „mein Name, Herr, ist Brownlow. Gestatten Sie mir nun auch, nach dem Namen des Richters zu fragen, der ohne irgendeinen Anlaß einen anständigen Mann so beleidigend behandelt.“

„Gerichtsdiener!“ fuhr Herr Fang unbeirrt fort, „wessen ist dieser Bursche angeklagt?“

„Euer Gnaden, er ist kein Angeklagter, sondern tritt als Kläger gegen diesen jungen auf“, erwiderte der Gerichtsdiener.

Seine Gnaden wußten das sehr gut, konnten jedoch auf diese Weise ohne Gefahr unverschämt werden.

„Tritt als Kläger gegen den Jungen auf, – so, so!“ sagte Herr Fang und maß Brownlow mit einem verächtlichen Blick. – „Nehmen Sie ihm den Eid ab.“

„Ehe man mich vereidigt, bitte ich ein paar Worte sagen zu dürfen“, sprach Herr Brownlow: „närnlich, daß ich nie geglaubt hätte, wäre es mir nicht selbst passiert –“

„Halten Sie den Mund, Herr!“ rief Herr Fang im Befehlston.

„Nein, Herr“, versetzte der alte Herr.

„Wenn Sie nicht augenblicklich den Mund halten, lasse ich Sie hinausführenl“ brüllte Herr Fang. „Sie sind ein ganz unverschämter Mensch. Wie können Sie es wagen, einen Richter anzuschnauzen?“

„Was sagen Sie da?“ rief der alte Herr puterrot.

„Vereidigen Sie den Menschen!“ sagte Fang zu einem Schreiber. „Ich will nichts mehr hören. Vereidigen Sie ihn.“

Herrn Brownlows Entrüstang war aufs höchste gestiegen, und er wollte seinen Gefühlen auch Luft machen. Da er aber befürchtete, damit Oliver zu schaden, so unterdrückte er sie und ließ sich vereidigen.

„Nun“, beginn Herr Fang, „wessen wird der Junge beschuldigt. Was haben Sie vorzubringen, Herr?“

„Ich stand an einer Bücherbude –“

»Schweigen Sie, Herr!“ unterbrach ihn Herr Fang. „Wo ist der Polizist? Hier, vereidigen Sie den Polizisten. Nun, was wissen Sie von der Sache?“

Der Polizist berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, was ihm von der Anklage bekannt geworden war. Er habe auch Oliver untersucht und nichts bei ihm gefunden. Weiter könne er nichts angeben.

„Sind Zeugen da?“ fragte Herr Fang.

„Nein, Euer Gnaden“, erwiderte der Polizist.

Herr Fang saß einige Minuten schweigend da, wandte sich dann an den Kläger und sprach mit immer zunehmender Heftigkeit:

„Wollen Sie nun endlich sagen, wessen Sie diesen Knaben beschuldigen? Sie haben geschworen. Wenn Sie Ihr Zeugnis verweigern, so werde ich Sie wegen Nichtachtung des Gerichts in Strafe nehmen. Ja, das will ich bei –“

Bei wem oder bei was ließ sich nicht vernehmen, denn der Schreiber und der Gefängniswärter brachen in diesem Augenblick in ein lautes Husten aus. Ersterer ließ auch noch ein schweres Buch auf die Erde fallen, zufällig natürlich, so daß man das Wort nicht verstehen konnte.

Unter mancherlei Unterbrechungen und wiederholten Beleidigungen gelang es endlich Herrn Brownlow, den Tatbestand auseinanderzusetzen. Er drückte dabei den Wunsch aus, daß das Gericht so nachsichtig, als es das Gesetz erlaube, mit dem Jungen verfahren möchte. „Er ist bereits verletzt“, schloß der alte Herr seine Ausführungen, „und ich fürchte, er fühlt sich gar nicht wohl.“

„Ich glaube es auch“, sagte Herr Fang höhnisch lächelnd. „Höre mal, du kleiner Landstreicher, mach hier kein Theater, damit kommst du bei mir nicht durch. Wie heißt du?“

Oliver wollte antworten, konnte aber keinen Ton herausbringen. Er wurde leichenblaß, und alles schien sich um ihn zu drehen.

„Wie heißt du, verstockter Lümmel?“, schrie ihn Herr Fang wiederholt an. „Gerichtsdiener, wie heißt er?“

Dieser, ein alter Mann, beugte sich über Oliver und wiederholte die Frage. Als er fand, daß der Junge tatsächlich außerstande war zu antworten, nannte er, um den Richter nicht noch wütender zu machen, aufs Geratewohl einen Namen.

„Er sagt, er heiße Tom White, Euer Gnaden!“

„Wo wohnt er?“ fuhr Herr Fang fort.

„Wo er kann, Euer Gnaden“, antwortete der Gerichtsdiener, indem er sich so anstellte, als spräche er Oliver nach.

„Hat er Eltern?“ fragte Herr Fang.

„Er sagt, sie seien in seiner frühesten Jügend gestorben, Euer‘ Gnaden“, entgegnete der Gerichtsdiener, indem er auf gut Glück die in solchen Fällen übliche Antwort gab.

Oliver hob jetzt den Kopf hoch, sah mit flehenden Blicken um sich, und bat leise um einen Schluck Wasser.

„Quatsch!“ sagte Herr Fang. „Willst mich wohl zum Narren halten?“

„Ich glaube, ihm ist wirklich schlecht, Euer Gnaden“, wandte der Gerichtsdiener ein.

„Ich weiß das besser“, brülIte Herr Fang.

„Halten Sie ihn, Gerichtsdiener“, rief der alte Herr, unwillkürlich die Hände ausstreckend, „er fällt gleich.“

„Nichts da, Gerichtsdiener“, schrie Herr Fang, „lassen Sie ihn fallen, wenn er Lust hat.“

Oliver machte von dieser gütigen Erlaubnis Gebrauch und fiel ohnmächtig zu Boden.

„Ich wußte, daß es Verstellung war“, sagte Herr Fang. „Laßt ihn liegen, er wird’s bald müde werden!“

„Wie gedenken Sie in diesem Falle zu verfahren, Herr?“ frägte leise der Gerichtsschreiber.

„Summarisch“, antwortete Herr Fang. Er wird drei Monate eingesperrt –, natürlich mit harter Arbeit. Schafft ihn fort!“

Einige Beamte schickten sich gerade an, den bewußtlosen Oliver in seine Zelle zu tragen, als ein ältlicher Mann von anständigem, aber erbärmlichem Äußern atemlos ins Zimmer stürzte und vor den Richter trat:

„Halt, halt! Tragt ihn noch nicht fort. Um Himmels willen, wartet einen Augenblick!“

„Was ist los? Wer sind Sie? Hinaus mit dem Menschen. Räumt den Gerichtssaal!“ schrie Herr Fang.

„Ich will aussagen“, rief der. Mann .“Ich lasse mich nicht hinauswerfen. Ich sah alles mit an. Ich bin der Besitzer der Bücherbude. Ich verlange vereidigt zu werden. Ich lasse mich nicht abweisen. Sie müssen mich anhören, Herr Fang. Sie dürfen mein Zeugnis nicht ablehnen!“

Der Mann war in seinem Rechte und trat bestimmt auf. Man konnte nicht darüber hinweggehen.

„Lassen. Sie den Menschen schwören“, knurrte Herr Fang mürrisch. „Nun, was haben Sie zu bekunden?“

„Folgendes. Ich sah drei Jungen – diesen hier und zwei andere – auf der anderen Seite der Straße dahinschlendern, als dieser Herr vor meiner Bude stand und las. Der Diebstahl wurde von einem anderen Jungen begangen. Ich habe es genau gesehen und auch bemerkt, daß dieser Junge hier darüber ganz erstaunt und wie vor den Kopf geschlagen war!“

„Warum kamen Sie nicht schon früher?“ fragte Fang nach einer Pause.

„Ich bin allein in meiner Bude und hatte keine Vertretung. Erst vor fünf Minuten konnte ich jemand auftreiben und bin dann Hals über Kopf hierhergeeilt.“

„Also der Ankläger las, nicht wahr?“, fragte Fang nach einer weiteren Pause.

„Ja“, erwiderte der Mann, „im selben Buche, das er jetzt noch in der Hand hat!“

„So – in diesem Buch? Ist es denn bezahIt?“erkundigte sich Herr Fang.

„Nein, noch nicht“, erwiderte der Buchhändler mit einem kleinen Lächeln.

„Himmel, das habe ich über der Geschichte hier ganz vergessen“, sagte der zerstreute alte Herr ganz unbefangen.

„Ein feiner Mann, aber eine Klage gegen einen armen Jungen vorbringen“, sagte Herr Fang und bemühte sich krampfhaft, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen.

„Nach meiner Ansicht haben Sie sich unter sehr verdächtigen Umständen in den Besitz dieses Buches gesetzt und dürfen sich beglückwünschen, wenn der Eigentümer keine Anklage gegen Sie erhebt. Lassen Sie sich das zur Warnung dienen, sonst möchte das Gesetz einmal gegen Sie in Anwendung kommen. Der Junge ist freizulassen. Räumen Sie den Saal.“

„Donnerwetter“, schrie der alte Herr. Der so lange aufgespeicherte Zorn kam nunmehr zum Ausbruch. „Donnerwetter, ich will –“

„Gerichtsdiener! Räumen Sie den Saal! Hören Sie?“ brüllte der Richter.

Man führte den entrüsteten alten Herrn, der ein Bild der Wut und des Trotzes darbot, schnell auf den Hof heraus. Dort fand er den kleinen Oliver auf dem Steinpflaster liegend, sein Gesicht war leichenblaß, und ein krampfartiges Zittern ging durch seinen Körper. „Armes Kind!“ sagte Herr Brownlow, als er sich über ihn beugte. „Will niemand so gut sein und mir einen Wagen holen?“ Man holte einen und bettete Oliver auf einen Sitz, während Herr Brownlow auf dem anderenPlatz nahm.

„Darf ich Sie begleiten?“ fragte der Buchhändler.

„Himmel, ich hatte Sie ganz vergessen. Steigen Sie ein, lieber Freund. Und das unglückliche Buch habe ich auch noch. Der arme Junge! Geschwind, es ist keine Zeit zu verlieren.“

Nachdem der Buchhändler in den Wagen geklettert war, zogen die Pferde an.

In dem für Oliver besser gesorgt wird als je. Die Erzählung geht zu dem lustigen alten Herrn und seinen hoffnungsvollen Schülern zurück.

Nach ziemlich langer Fahrt hielt.die Kutsche vor einem hübschen Hause in einer ruhigen Straße, unweit Pentonville. Herr Brownlow ließ für seinen Schützling rasch ein Bett herrichten und sorgte für ihn mit einer Aufmerksamkeit, die keine Grenzen kannte.

Oliver blieb jedoch viele Tage für die Wohltaten seiner neuen Freunde unempfindlich. Ein starkes Fieber zehrte an seiner Kraft. Schwach, abgemagert und blaß erwachte er endlich wie aus einem langen, wüsten Traume. Er richtete sich mit Mühe in seinem Bette auf und blickte sich ängstlich um.

„Wo bin ich? Wer hat mich hergebracht?“ murmelte er leise. Der Vorhang vor seinem Bett wurde schnell zurückgezogen, und eine mütterliche alte Frau näherte sich ihm.

„Still, Liebling“, sagte die alte Dame sanft. „Du mußt dich ganz ruhig verhalten, sonst wirst du wieder kränker. Leg dich nur brav wieder hin.“ Mit diesen Worten drückte sie ihn sanft in die Kissen zurück. Drauf strich sie ihm das Haar aus der Stirn und schaute ihm so gütig und wohlwollend ins Gesicht, daß er sich nicht enthalten konnte, seine abgemagerten Händchen auf ihre zu legen und sie dann um seinen Nacken zu schlingen.

„Lieber Gott“, sagte die Frau mit Tränen in den Augen, „wie dankbar der Kleine ist. Was würde wohl seine Mutter fühlen, wenn sie so wie ich an seinem Krankenbette gesessen hätte und ihn jetzt sehen könnte.“

„Vielleicht sieht sie mich“, flüsterte Oliver und faltete die Hände. „Vielleicht hat sie bei mir gesessen. Mir ist ganz so, als ob sie hier gewesen wäre.“

„Das war das Fieber, Liebling“, sagte die alte Dame sanft.

„Wahrscheinlich“, erwiderte Oliver, „denn der Himmel ist weit weg, und man ist dort zu glücklich, als daß Engel an das Bett eines armen Jungen herunterkommen sollten. Aber wenn meine Mutter wußte, daß ich krank war, so mußte sie doch selbst im Himmel mit mir Mitleid haben. Denn sie war selbst sehr krank, ehe sie starb. Aber vielleicht weiß sie nichts von mir“, fügte Oliver nach kurzem Schweigen hinzu, „denn wenn sie gesehen hätte, wie man mich schlug, so muß sie traurig gewesen sein. Ach, ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr träumte.“

Die alte Dame sagte nichts, aber wischte sich gerührt die Augen. Dann streichelte sie ihm die Backen und ermahnte ihn, ganz ruhig zu liegen, damit es nicht wieder schlimmer werde.

Oliver verhielt sich daher still und fiel bald in einen sanften Schlaf. Aus diesem wurde er erst durch einen Herrn geweckt, der an seinem Bette stand und seinen Puls fühlte.

„Nicht wahr, mein Kind, du fühlst dich bedeutend wohler?“ fragte der Herr.

„Ja, ich danke“, entgegnete Oliver.

„Das wußte ich“, fuhr der Herr fort. Du hast auch Hunger, nicht wahr?“

„Nein, Herr“, antwortete Oliver.

„Hm! Ich wußte ja, du könntest nicht hungrig sein. Er hat keinen Hunger, Frau Bedwin“, sagte der Herr mit weiser Miene.

Die alte Dame neigte ehrfurchtsvoll den Kopf, womit sie andeuten wollte, daß sie den Doktor für einen sehr klugen Mann halte. Der Doktor schien so ziemlich dieselbe Meinung von sich zu haben.

„Du möchtest schlafen, nicht wahr, mein Kind?“ sprach der Doktor.

„Nein, Herr.“

„Nicht?“ versetzte der Doktor mit einem zufriedenen Blick. „Du fühlst dich also nicht schläfrig? Auch nicht durstig, wie?“

„Ja, Herr, durstig sehr.“

„Genau, wie ich’s erwartete, Frau Bedwin“, sagte der Doktor. Es liegt in der Natur der Sache, daß er Durst hat, vollkommen. Sie können ihm etwas Tee geben und eine geröstete Brotschnitte, aber ohne Butter. Halten Sie ihn nicht zu warm, Frau Bedwin, aber passen Sie gut auf, daß er sich nicht erkältet.“

Frau Bedwin knickste, und der Doktor verabschiedete sich. Oliver schlief bald darauf wieder ein, und als er erwachte, war es beinahe Mitternacht. Frau Bedwin sagte ihm freundlich gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die eben gekommen war. Diese erzählte Oliver, daß sie die Nacht bei ihm wachen werde, und setzte sich eine große Nachtmütze aufs Haupt. Nachdem sie sich ihren Stuhl dicht an den Kamin gezogen und ein Gebetbuch vor sich auf den Tisch gelegt hatte, fing sie an einzunicken. In zehn Minuten war sie fest eingeschlafen.

Oliver lag noch einige Zeit wach, dann fiel er in jenen tiefen und ruhigen Schlaf, den nur das Genesungsstadium schwerer Krankheiten zu geben vermag.

Als Oliver die Augen öffnete, war es bereits heller, lichter Tag. Er fühlte sich froh und glücklich. Die Krisis war vorüber, er gehörte wieder der Welt an.

Nach drei Tagen konnte er schon, allerdings durch Kissen gestützt, in einem Lehnstuhl sitzen. Frau Bedwin hatte ihn in ihr eigenes Zimmer bringen lassen und fing vor Freude, ihn auf dem Weg zur Genesung zu sehen, laut zu weinen an.

„Kümmere dich nicht darum, Liebling“, sagte die alte Frau, „ich muß mich einmal recht ausweinen. Jetzt ist schon alles wieder vorüber, und mir ist leichter.“

„Sie sind auch zu gut zu mir“, sagte Oliver.

„Laß gut sein, liebes Kind“, versetzte Frau Bedwin. „Nun ist es aber Zeit, daß du deine Fleischbrühe kriegst. Der Doktor sagte, Herr Brownlow werde dich vielleicht heute vormittag besuchen.“ Sie machte ihm eine kräftige Brühe zurecht und beobachtete dabei, daß Oliver sein Auge aufmerksam auf ein Porträt geheftet hatte, das seinem Stuhle gegenüber an der Wand hing.

„Hast du Bilder gern, Liebling?“ fragte sie.

„Ich weiß nicht, ich habe noch zu wenig gesehen. Aber wie schön und sanft ist das Gesicht der Dame.“

„Ach“, sagte Frau Bedwin, „die Maler machen die Damen immer hübscher als sie sind, sonst würden sie keine Kundschaft kriegen.“

„Stellt es jemand vor?“

„Ja, es ist ein Porträt.“

„Von wem?“ fragte Oliver lebhaft.

„Ja, das kann ich dir nicht sagen. Es scheint dir zu gefallen, Kind?“

„Es ist gar zu schön!“

„Aber du fürchtest dich doch nicht davor?“ sagte Frau Bedwin, als sie verwundert den ängstlichen Blick bemerkte, mit dem das Kind das Gemälde betrachtete.

„O nein“, erwiderte Oliver rasch, „aber die Augen blicken so traurig und sind immer auf mich gerichtet; wo ich auch sitzen mag. Mir ist immer so, als sei das Bild lebendig und wolle mit mir sprechen, könne aber nicht.“

„Um Himmelswillen!“ rief Frau Bedwin aufspringend, „sprich nicht so, Kind. Du bist noch schwach und angegriffen von deiner Krankheit. Ich werde. deinen Sessel herumdrehen, dann kannst du es nicht mehr sehen!“

Oliver sah es jedoch im Geiste so deutlich, ab ob der Sessel nicht gerückt worden wäre. Da er aber die alte Dame nicht kränken wollte, so lächelte er ihr freundlich zu, als sie ihn anblickte. Jetzt ließ sich ein leises Pochen an der Tür vernehmen.

„Herein!“ rief Frau Bedwin, und ins Zimmer trat Herr Brownlpw.

Oliver machte einen vergeblichen Versuch aufzustehen, um seinen Wohltäter zu begrüßen, dem die Tränen in die Augen traten.

„Armer Junge, armer Junge“, sagte er, „wie geht es dir heute?“

„Sehr gut, Herr“, entgegnete Oliver, „und ich danke Ihnen auch für die große Güte, mit der Sie sich meiner angenommen haben.“

„Du bist ein guter Junge“, sagte Herr Brownlow, mit seinen Tränen kämpfend. „Was haben Sie ihm zu essen gegeben, Frau Bedwin? Wohl eine leichte Brühe?“

„Er hat eben einen Teller herrlicher, kräftiger Fleischbrühe bekommen“ sagte Frau Bedwin etwas empfindlich.

„Hm“, meinte Herr Brownlow mit leichtem Achselzucken, „ein paar Gläser Portwein hätten ihm vielleicht besser getan. Wie denkst du darüber, Tom White?“

„Ich heiße Oliver, Herr“, entgegnete der kleine Patient etwas verwundert.

„Oliver?“ fragte Herr Brownlow. „Oliver? – also Olliver White?“

„Nein, Twist. Oliver Twist.“

„Seltsamer Name. Warum sagtest du aber dem Richter, du heißest White?“

„Das habe ich ihm doch nicht gesagt“, erwiderte Oliver erstaunt.

Dies klang wie eine Lüge, so daß der alte Herr ihn strenge ansah. Es war aber unmöglich, die Aussage des Jungen zu bezweifeln, denn auf Olivers Stirn war die Wahrheit geschrieben.

„Ein Mißverständnis also“, bemerkte Herr Brownlow. Er behielt aber Oliver fest im Auge, da der frühere Gedanke einer Ahnlichkeit zwischen seinen Zügen und irgendeinem bekannten Gesicht sich ihm wieder aufdrängte.

„Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse?“ sagte Oliver mit bittendem Augenaufschlag.

„Nein, nein – aber – großer Gott, was ist das? Frau Bedwin, sehen Sie – da!“ schrie der alte Herr.

Er deutete hastig auf das Porträt und dann auf Oliver.

Die Ähnlichkeit war sprechend.

Oliver entging die Ursache von Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf und hatte einen furchtbaren Schrecken gekriegt. Er war ohnmächtig geworden.

Nachdem der Gannef und sein trefflicher Freund mit Befriedigung festgestellt hatten, daß die Menge in Oliver den vermeintlichen Dieb sah, und für sie nichts mehr zu befürchten war, machten sie sich auf den Heimweg.

„Was wird Fagin sagen?“ meinte der Gannef mit ernstem Gesicht.

„Na, was wird er sagen?“ erwiderte Karl Bates.

„Schließlich den Kopf kann er uns nicht abreißen“, meinte der Gannef. Das sollte ein Trost sein, aber keine Beruhigung. Karl Bates fühlte das auch und wurde nachdenklich.

Einige Minuten nach diesem kurzen Gespräch weckte das Geräusch von Fußtritten auf der knarrenden Treppe den alten Juden aus seinen Betrachtungen. Er war gerade beim Essen.

„Hm, was ist das?“ murmelte er, „ich höre bloß zwei. Wo mag der dritte sein? Sie werden ihn doch nicht geklappt haben? Horch!“

Langsam öffnete sich die Tür, und der Gannef und Karl Bates traten ins Zimmer.

Dem Leser werden einige neue Bekanntschaften vorgestellt, außerdem enthält es verschiedene hübsche Sachen, die zu dieser Geschichte gehören.

„Wo ist Ollver?“ rief der Jude wütend, „wo ist der Junge?“

Die jugendlichen Diebe waren über die Heftigkeit ihres Lehrmeisters so erschrocken, daß sie nicht sofort antworten konnten.

„Was ist aus dem Jungen geworden?“ schrie der Jude und packte den Gannef am Kragen, dabei schreckliche Verwünschungen ausstoßend. „Sprich, oder ich erwürge dich.“

„Die Polente(*Polizei*) hat ihn erwischt – das ist alles“, versetzte der Gannef mürrisch. „Nun lassen Sie mich mal los“, damit befreite er sich aus den Händen des Juden und ergriff äie Bratgabel. Er wollte damit gerade dem Alten zuleibe gehen, als die Tür aufging und ein stämmiger Kerl mit einem weißen, zottigen Hund eintrat.

„Was ist hier los, Fagin?“ Der Sprecher war ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren mit einem plumpen, unrasierten Gesicht, in dem zwei düster blickende Augen saßen. Eins davon schillerte in allen Regenbogenfarben, die Folgen eines gutgezielten Faustschlages.

„Warum bist du so aufgeregt, alter Gauner, und willst den Jungen verhauen?“ Er setzte sich bedächtig. „Es wundert mich nur, daß sie dir nicht den Hals abschneiden. Ich würde es an ihrer Stelle tun!“

„Stille, Herr Sikes, stille“, versetzte der Jude zitternd, „sprecht nicht so.laut.“

„Ich pfeife auf deine Anrede mit Herr“‚, sagte der Strolch, „du hast immer einen Schurkenstreich vor, wenn du mir so kommst. Du kennst meinen Namen, und ich werde ihm keine Schande machen, wenn meine Zeit gekommen ist.“

„Schön, nun denn – Bill Sikes“, sagte der Jude kriechend, „Ihr scheint schlechter Laune zu sein.“

„Kann sein“, erwiderte Sikes, ,bei dir scheint es jedoch auch der Fall zu sein. Aber nimm dich in acht, Halunke, wenn du schwatzst –“

„Seid Ihr verrückt?!“, rief der Jude, indem er Sikes am Ärmel erwischte und auf die Jungen zeigte.

Sikes begnügte sich pantomimisch unter seinem linken Ohre einen Knoten zu machen, und ließ dann den Kopf auf die rechte Schulter sinken. Eine sinnbildliche Darstellung, die der Jude vollkommen zu verstehen schien. Dann verlangte er Schnaps und fügte scherzend hinzu:

„Daß du mir aber kein Gift hineintust.“

Hätte er jedoch den teuflischen Seitenblick sehen können, mit dem der Jude sich in die Lippen biß, als er an den Wandschrank ging, so hätte er seine Mahnung sicher nicht für unnötig gehalten.

Nachdem Sikes einige Gläser Schnaps hinuntergestürzt hatte, zog er gnädig die beiden jungen Herrn in ein Gespräch. Der Gannef erzählte umständlich und mit allerhand Ausschmückungen von Olivers Verhaftung.

„Ich fürchte, er wird uns verpfeifen, und wir kommen dann in Teufels Küche“, sagte der Jude.

„Höchstwahrscheinlich“, antwortete Sikes boshaft grinsend. „Du fällst unbedingt rein.“

„Doch wenn mir das Handwerk gelegt wird“, fuhr der Jude fort, die andern dabei scharf ansehend, „kommen auch noch andere in den Schlamassel. Jedenfalls würde es Euch schlimmer ergehen als mir.“

Sikes sprang auf und wollte gegen Fagin heftig werden. Dieser zuckte jedoch nur mit den Achseln und starrte die gegenüberliegende Wand an. Es trat eine lange Pause ein. Schließlich begann Sikes im gedämpfen Tone:

„Wir müssen rauskriegen, was sich vor dem Richter mit Oliver zugetragen hat.“

Der Jude nickte zustimmend.

„Wenn er nicht gepfiffen hat und ist verurteilt, brauchen wir nichts zu befürchten, bis er wieder rauskommt. Dann aber müssen wir ein wachsames Auge auf ihn haben und versuchen, ihn in unsere Hände zu bekommen.“

Der Jude nickte wieder. Der Plan war gut, aber seiner Ausführung stellte sich ein großes Hindernis entgegen. Die vier Herren hatten einen nicht zu besiegenden Widerwillen dagegen, mit irgend etwas, das Polizei hieß, in Berührung zu kommen. Sie saßen stumm da und sahen sich unsicher an, als die zwei jungen Damen auftauchten, die Oliver bei einer früheren Gelegenheit kennengelernt hatte.

„Wie gerufen“, sagte der Jude. „Bet wird hingehen, nicht wahr, meine Liebe?“

„Wohin?“ fragte die junge Dame.

„Nur ein wenig auf die Polizei, Liebling“, sagte der Jude schmeichelnd.

Wir müssen der Dame Gerechtigkeit widerfahren lassen und sagen, daß sie dieses Ansinnen nicht geradezu ablehnte. Sie.erklärte bloß mit Nachdruck, der Henker solle sie holen, wenn sie auf die Polizei ginge. Eine ungemein zarte Ablehnung der Bitte, die beweist, daß das junge Mädchen zuviel Gutmütigkeit besaß, um ihre Mitmenschen durch eine runde und entschiedene Weigerung zu kränken. Der Jude wandte sich nun an Nancy:

„Was sagen Sie dazu, meine Liebe?“

„Geben Sie sich keine Mühe, Fagin, ich tue es auch nicht“, versetzte diese.

„Wie soll ich das verstehen?“ brauste Sikes auf.

„So, wie ich es gesagt habe, Bill“, sagte Nancy ruhig.

„Du bist gerade die rechte Person dazu“, entgegnete Sikes, „niemand kennt dich in dieser Gegend.“

„Ist mir auch sehr lieb, wünsche gar nichts anderes!“

„Also sie wird gehen, Fagin“, sagte Sikes.

„Sie wird sich hüten“, entgegnete Nancy.

„Doch, sie wird’s machen, Fagin“, bekräftigte Sikes. Und er hatte recht. Das Mädchen ließ sich durch Drohungen und Versprechungen endlich bewegen, den Auftrag auszuführen.

Aus den Vorräten des Juden wählte sie eine weiße Schürze, die sie umband, und einen Strohhut. In die Hand nahm sie ein Deckelkörbchen.

„Ach, mein Bruder! Mein armer, lieber, kleiner Bruder!“ rief Nancy, in Tränen ausbrechend. „Was ist aus ihm geworden? Wo hat man ihn hingebracht? Ach, habt Erbarmen, liebe Leute, und sagt mir, was mit dem Kinde geschehen ist. Bitte, bitte, sagt es mir doch.“

Als Nancy diese Worte im kläglichsten Tone hervorgebracht hatte, verbeugte sie sich lächelnd gegen die Zuhörer und verschwand.

„Das ist ein Mädel, Jungens“, sagte der Jude. „Da könnt ihr euch ein Beispiel dran nehmen.“

„Sie ist eine Zierde ihres Geschlechts“, rief Herr Sikes und hob sein Glas. „Sie lebe hoch!“

Nancy schlug indessen den nächsten Weg zur Polizei ein. Dort angekommen, trat sie durch die Hintertür in das Gebäude ein und klopfte leise mit dem Schlüssel an eine der Zellentüren. Dann horchte sie. Da sich nichts in der Zelle rührte, so hustete sie und horchte wieder. Abermals keine Antwort. Nancy wandte sich daher unmittelbar an den Gerichtsdiener und fragte mit den kläglichsten Jammertönen nach ihrem lieben Bruder.

„Er ist nicht hier“, sagte der alte Gerichtsdiener.

„Mein Gott, wo ist er denn?“ meinte Nancy trostlos.

„Nun, der Herr hat ihn mitgenommen.“

„Was für ein Herr, um Himmelswillen?“ rief Nancy.

Der Gerichtsdiener erzählte ihr den ganzen Vorgang und schloß damit, daß der alte Herr unweit Pentonville wohne.

Nancy eilte auf schnellstem Wege zum Juden zurück.

Sie hatte sich kaum ihres Berichtes entledigt, als Herr Bill Sikes schnell seinen Hund rief, den Hut auf den Kopf stülpte und sich schleunigst ohne Gruß entfernte.

„Wir müssen Oliver finden“, sagte der Jude in großer Aufregung. „Nancy, mein Liebling, ich muß ihn wiederhaben. Auf Sie und den Gannef kann ich mich am besten verlassen. Hier habt ihr Geld. Ich schließe heute nacht diese Wohnung, ihr wißt ja, wo ihr mich finden könnt. Eilt, zögert keinen Augenblick.“ Mit diesen Worten schob er sie aus dem Zimmer, und nachdem er hinter ihnen die Tür doppelt verschlossen und verriegelt hatte, holte er das Kästchen aus seinem Versteck hervor und verbarg in aller Eile Uhren und Juwelen unter seinen Kleidern.

„Bis jetzt hat er noch nichts ausgeplaudert“, sprach der Jude zu sich, indem er in seiner Arbeit fortfuhr. „Wenn er uns aber bei seinen neuen Freunden zu verpfeifen gedenkt, so werden wir ihm wohl noch das Maul stopfen können.“

Umfaßt weitere Einzelheiten über Olivers Aufenthalt bei Herrn Brownlow, nebst der merkwürdigen Prophezeihung, die ein gewisser Herr Grimwig über ihn aussprach, als man Oliver mit einem Auftrage ausschickte.

Oliver erholte sich bald wieder von der Ohnmacht, in die er bei Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf gefallen war. Der alte Herr und Frau Bedwin vermieden es sorgfältig, im Gespräch wieder auf das Gemälde zurückzukommen. Der Junge war noch zu schwach, um zum Frühstück zu gehen. Als er am nächsten Tage in das Zimmer der Haushälterin hinuntergebracht wurde, suchten seine Blicke sofort das Bildnis der schönen Dame. Das Gemälde war aber entfernt worden.

„Ja“, sagte Frau Bedwin, „es ist fort, wie du siehst.“

„Oh, warum hat man es weggenommen?“ versetzte Oliver mit einem Seufzer.

„Weil Herr Brownlow sagte, daß es dich zu beängstigen scheine und daher deiner Wiederherstellung hinderlich sein könnte“, entgegnete die alte Dame.

„Ach nein, es beängstigte mich gar nicht“, sprach Oliver, „ich mochte es gern ansehen.“

„Nun, nun, liebes Kind, mache nur, daß du bald wieder gesund wirst“, sagte die gute Frau. „Man wird es dann wieder aufhängen, das verspreche ich dir. Doch jetzt wollen wir von etwas anderm sprechen.“

Oliver hörte aufmerksam zu, als ihm Frau Bedwin von ihrem verstorbenen Manne und ihren wohlerzogenen Kindern erzählte. Sie plauderte munter drauflos, bis die Zeit zum Teetrinken herankam. Nachdem dieser eingenommen war, unterrichtete sie Oliver im Kartenspielen, was er ebenso schnell auffaßte, wie sie zu lehren imstande war. Dann vertieften sie sich angelegentlich in diese Beschäftigung, bis es für den Patienten Zeit war, ins Bett zu gehen.

Die Tage der Genesung waren für Oliver Tage des Glückes. Jedermann war so lieb und gütig zu ihm, daß er im Himmel zu sein glaubte. Er hatte kaum wieder soviel Kräfte erlangt, um sich ankleiden zu können, als ihm Brownlow einen neuen Anzug anfertigen ließ. Da man Oliver sagte, er könne mit den alten Kleidern anfangen, was er wolle, so schenkte er sie einem Dienstmädchen, die sehr gut zu ihm gewesen war. Er riet ihr, die Lumpen an einen Juden zu verkaufen und dadurch zu etwas Geld zu kommen.

Eines Abends, als Oliver plaudernd bei Frau Bedwin saß, ließ Herr Brownlow sagen, daß er.Oliver auf seinem Stüdierzimmer sprechen möchte.

Frau Bedwin putzte ihn schnell schön heraus und führte ihn bis an die Tür des Studierzimmers. Oliver klopfte an, und als Herr Brownlow „Herein“ rief, trat er in ein kleines, ganz mit Bilchern angefülltes Hintergemach, durch dessen Fenster man in einige schöne, kleine Gärten sah. Vor dem Fenster stand ein Tisch, an dem Herr Brownlow lesend saß. Bei Olivers Eintritt schob er das Buch von sich und hieß den Jungen, näherzukommen und sich zu setzen. Oliver gehorchte, nicht wenig verwundert, wo all die Leute herkommen sollten; eine derartige Menge von Büchern zu lesen. Bücher, die geschrieben schienen, um die Welt weiser zu machen. Eine Verwunderung, die tagtäglich erfahrenere Leute mit unserm Helden teilen.

„Das ist ein ansehnlicher Haufen Bücher, nicht wahr, mein Junge?“ fragte Herr BrownIow, als er die Neugierde gewahrte, mit der Oliver die vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherschränke betrachtete.

„Ach ja, ich habe noch nie so viele gesehen!“

„Wenn du immer hübsch artig bleibst, so sollst du sie auch lesen. Das wird dir besser gefallen, als das bloße Anschauen des Einbandes – das heißt nicht immer. Es gibt nämlich auch Bücher, an denen die Außenseite das Beste ist.“

„Das sind gewiß diese schweren da“, erwiderte Oliver, indem er auf einige dicke Quartanten mit reicher Vergoldung des Einbandes deutete.

„Nicht immer“, sagte der alte Herr lächelnd.

„Möchtest du wohl gern ein Gelehrter werden und Bücher schreiben, wie?“

„Ich würde es vorziehen, sie lieber zu lesen.“

„Wie? du willst kein Bücherschreiber werden?“

Oliver sann eine Weile nach, dann sagte er, es dünkte Ihn weit besser, Buchhändler zu sein.

Der alte Herr lachte herzlich und bemerkte, er hätte etwas sehr Gescheites gesagt. Oliver freute sich darüber, obgleich er nicht wußte, was das Gescheite war.

„Nun“, sagte der alte Herr wieder ernst, „hab keine Angst. Wir wollen keinen Schriftsteller aus dir machen, solange es noch ein ehrliches Handwerk oder Gewerbe zu erlernen gibt.“

„Ich danke Ihnen“, entgegnete Oliver, und der alte Herr lachte von neuem, und zwar über den Ernst, mit dem unser Held diese Antwort vorbrachte. Er ließ auch noch einige Worte von einem merkwürdigen Instinkt fallen, auf die aber Oliver nicht besonders acht gab, da er sie nicht verstand.

„Nun, mein Sohn“, fuhr Herr Brownlow in einem ernsteren Tone fort, „du mußt jetzt wohl auf das merken, was ich dir zu sagen habe. Ich will ohne Rückhalt mit dir reden, denn ich glaube, du wirst mich so gut verstehen können, wie manche ältere Person!“

„Ach, sagen Sie nur nicht, daß Sie mich fortschicken wollen. Weisen Sie mir nicht die Tür, daß ich wieder auf den Straßen herumwandern muß. Lassen Sie mich hier bleiben und Ihnen dienen. Erbarmen Sie sich über einen armen Jungen, bitte!“

„Mein liebes Kind“, sagte der alte Herr gerührt, „hab keine Furcht, ich werde dich nicht fortjagen, wenn du mir keinen Anlaß dazu gibst.“

„Nie werde ich das, niemals.“

„Ich hoffe es nicht und glaube auch nicht, daß du es je tun wirst“, versetzte der alte Herr. „Ich habe mich zwar früher oft in denen getäuscht, welchen ich Wohltaten erweisen wollte. Dir will ich jedoch vertrauen, weil ich wärmeren Anteil an dir nehme, als ich mir selbst erklären kann. Diejenigen, welche ich am innigsten geliebt habe, schlummern längst in den Gräbern, aber obgleich das Glück und die Freude meines Lebens mit ihnen begraben sind, habe ich doch mein Herz zu keinem Sarge gemacht und meine schönsten Gefühle drin verschlossen.“

Der alte Herr sprach dies leise vor sich hin, mehr zu sich als zu Oliver, der kaum zu atmen wagte. Nach einer kleinen Weile fuhr er in heiterem Tone fort:

„Genug, ich sage das nur, weil dein Herz jung ist und ich hoffe, daß du dich um so mehr vorsehen wirst mich zu betrüben, wenn du weißt, daß ich bereits großen Kummer und viele Leiden erduldet habe. Du sagst, du wärest eine Waise und ohne Verwandte in der Welt. Erkundigungen, die ich angestellt habe, bestätigen deine Angaben. Erzähle mir jetzt deine Geschichte – woher du kommst wer dich erzogen hat und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in der ich dich gefunden habe. Sprich aber die Wahrheit. Wenn ich sehe, daß du kein Verbrechen begangen hast, wirst du an mir zeitlebens einen Freund und Beschützer haben.“

Olivers Schluchzen erstickte eine Weile seine Worte. Als er gerade anfangen wollte zu erzählen, kündigte das Dienstmädchen den Besuch des Herrn Grimwig an.

„Kommt er herauf?“ fragte Herr Brownlow das Mädchen.

„Ja“, versetzte das Mädchen. „Er fragte, ob es Keks im Hause gäbe, und als ich bejahte, sagte er, er wolle hier Tee trinken.“

Herr Brownlow lächelte und bemerkte zu Oliver, daß Grimwig ein alter Freund von ihm wäre, ein ungeschliffener Diamant.

„Soll ich mich entfernen?“ fragte Oliver.

.“Nein, du kannst hierbleiben.“

In diesem Augenblick trat, auf einen starken Stock gestützt, ein starker, alter Herr ins Zimmer. Er war auf einem Bein etwas gelähmt und humpelte. Im ausgestreckten Arm hielt er seinem Freunde ein Stückchen Orangenschale entgegen und rief polternd:

„Da, sehen Sie das? Ist es nicht zum Wahnsinnigwerden, daß ich in keines Menschen Hause vorsprechen kann, ohne.so was auf der Treppe zu finden. Durch eine Orangenschale bin ich lahm geworden, und eine Orangenschale wird noch mal mein Tod sein. Ich will meinen eigenen Kopf aufessen, wenn mich nicht eine 0rangenschale noch unter die Erde bringt. – Hallo! was ist das?“ fügte er mit einem Blick auf Oliver hinzu und trat einige Schritte zurück.

„Der junge Oliver Twist, von dem wir bereits gesprochen haben“, versetzte Herr Brownlow.

Oliver verbeugte sich.

„Das ist also der Junge“, begann Herr Grimwig.

„Ja, das ist der Junge“,. versetzte Herr Brownlow und nickte Oliver dabei zu.

„Nun, wie geht’s dir?“ fragte Herr Grimwig.

„Ich danke, viel besser“, antwortete Oliver.

Herr Brownlow schien zu befürchten, daß sein absonderlicher Freund irgend etwas Unangenehmes auf der Zunge hätte. Er trug daher Oliver auf, Frau Bedwin zu bestellen, daß sie den Tee bereithalten solle. Nachdem Oliver gegangen, fragte Herr Brownlow:

„Ist es nicht ein hübscher Junge?“

„Weiß nicht“, erwiderte Grimwig mürrisch.

„Wie, Sie wissen es nicht?“

„Nein, ich weiß es nicht. Kann nie einen Unterschied an Jungen entdecken. Kenne nur zwei Arten von Jungen, nämlich Mehlsuppengesichter und Beefsteakgesichter.“

„Und zu welchen gehört Oliver?“

„Zu den Mehlsuppengesichtern. Ein Bekannter, von mir hat einen Jungen, dessen Gesicht so recht die Fleischmastung ausdrückt. Sie nennen ihn einen schönen Jungen, weil er einen so runden Kopf, rote Backen und glänzende Augen hat. Mir ist der Bursche etwas Schreckliches – ein Körper und Gliedmaßen, die die Nähte seines blauen Anzuges auseinanderzusprengen drohen. Dazu kommt noch die Stimme eines Schifferknechts und der Hunger eines Wolfes. Ich kenne den Schlingel.“

„Nun, derartige Eigenschaften besitzt Ofiver nicht und verdient deshalb nicht Ihren Zorn.“

„Wenn nicht derartige, so hat er vielleicht noch schlimmere“, entgegnete Herr Grimwig.

Herr Brownlow hustete nervös, was Herrn Grimwig mächtig zu ergötzen schien.

„Ja, er hat vielleicht noch schlimmere, sage ich“, wiederholte Hee Grimwig. „Woher kommt er? Was ist er? Er hat Fieber gehabt – warum? Fieber ist bei ordentlichen Leuten nicht gewöhnlich. Schlechtes Volk hat bisweilen Fieber. Ich habe einen Menschen gekannt, der in Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn umgebracht hatte. Er hatte sechsmal das Fieber und wurde deshalb nicht zur Begnadigung empfohlen.“

Im Innern seines Herzens mußte Herr Grimwig aber zugeben, daß Oliver etwas Gewinnendes an sich hatte. Sein starker Hang zum Widersprechen und sein Grundsatz, sich nie von einem andern ein Urteil über das Aussehen eines Jungen vorschreiben zu lassen, hatte ihn bewogen, seinem Freunde Opposition zu machen. Als daher Herr Brownlow zugestand, daß er sich noch nicht eingehend über Oliver erkundigt hätte, kicherte Herr Grimwig bdshaft und fragte mit höhnischem Lächeln, ob die Haushälterin auch abends immer das Silbergeschirr nachzähle, denn er würde sich nicht wundern, wenn einen schönen Tages mal ein paar Löffel fehlten – – usw.

Herr Brownlow, der selbst etwas temperamentvoll war, nahm jedoch all dies gemütlich hin, da er die Eigentümlichkeiten seines Freundes kannte. Als dieser die Keks und den Tee lobte, wurde die Unterhaltung wieder angenehmer, so daß selbst Oliver, der inzwischen zurückgekommen war, freier zu atmen begann.

„Und wann gedenken Sie sich den ausführlichen und wahrhaften Bericht von Oliver Twists Leben und Taten erstatten zu lassen?“ fragte Grimwig, nachdem der Tee getrunken war. Er streifte dabei Oliver mit einem Blick.

„Morgen früh“, entgegnete Herr Brownlow. „Ich möchte dann allein mit ihm sein. Komm morgen um zehn Uhr zu mir herauf, mein Kind!“

„Ja, Herr Brownlow“, sagte Oliver mit einigem Zögern. Er war etwas verwirrt, da ihn Grimwig scharf ansah.

„Ich will Ihnen etwas sagen“, flüsterte Herr Grimwig BrownIow zu, „er wird morgen früh nicht zu Ihnen heraufkommen. Haben Sie nicht bemerkt wie er zögerte? Er betrügt Sie, lieber Freund!“

„Ich möchte drauf schwören, daß dies nicht der Fall ist« , erwiderte Herr Brownlow mit Wärme.

,;Wenn es nicht so ist, wie ich sagte, so will ich meinen Kopf – -„, damit stieß Grimwig seinen Stock heftig auf die Erde.

„Ich setze mein Leben auf die Wahrhaftigkeit des Jungen“, sagte Herr Brownlow und schlug mit. der Hand auf den Tisch.

„Und ich meinen Kopf auf seine Tücke“, schrie Herr Grimwig.

„Nun, wir werden ja sehen“, sagte Herr Brownlow, seinen Unmut bezwingend.

„Allerdings, wir werden es sehen“, sagte Herr Grimwig mit einem herausforderndem Lächeln.

Das Schicksal wollte es, daß in diesem Augenblick Frau Bedwin mit einigen Büchern hereintrat, die Brownlow am Vormittag bei demselben Buchhändler gekauft hatte, der schon einmal in unserer Geschichte eine Rolle spielte. Sie legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen, als Brownlow sagte:

„Lassen Sie den Boten einen Augenblick warten, er muß noch etwas mitnehmen.“

„Er ist bereits fort“, versetzte Frau Bedwin.

„Rufen Sie ihm nach, die Sache ist wichtig. Die Bücher sind noch nicht bezahlt, und der Mann braucht sein Geld. Auch will ich ihm einige mir zur Ansicht gesandten Bücher zurückgeben.“

Man lief dem Boten nach, dieser war aber nirgends mehr zu sehen.

„Schicken Sie doch Oliver damit hin“, sagte Grimwig mit ironischem Lächeln. „Sie wissen, er wird sie sicher abliefern.“

„Ja, lassen Sie sie mich hintragen“, sagte Oliver. „Ich renne schnell hin.“

Der alte Herr wollte gerade erklären, daß Oliver auf keinen Fall gehen sollte, als ein boshaftes Husten Grimwigs ihn bestimmte, den Jungen doch zu schicken. Sein Freund sollte die Ungerechtigkeit seines Argwohnes einsehen lernen.

„Du kannst gehen, Oliver. Die Bücher liegen auf dem Stuhle neben meinem Tische. Bringe sie her!“

Oliver war froh, sich nützlich machen zu können. Die Bücher unterm Arm und die Mütze in der Hand, erwartete er den Auftrag.

„Sage also dem Buchhändler“, sprach Brownlow und sah dabei Grimwig scharf an, „du brächtest die Bücher wieder zurück und wolltest die vier Pfund und zehn Schillinge, die ich ihm schuldig bin, bezahlen. – -Hier ist eine Fünfpfundnote; er wird dir zehn Schillinge herausgeben.“

„In zehn Minuten bin ich wieder zurück“, sagte Oliver lebhaft, verbeugte sich und verließ das Zimmer. Frau Bedwin folgte ihm zur Haustür und bezeichnete ihm den Weg zum Buchhändler. „Gott sei mit dir“, murmelte sie, als sie ihm nachblickte. Es tut mir leid, daß ich ihn aus den Augen lassen soll.“

In diesem Augenblick sah sich Oliver um und winkte ihr zu, ehe er um die Ecke bog. Frau Bedwin erwiderte seinen Gruß und ging dann nach ihrem Zimmer zurück.

„Nun wollen wir sehen, in spätestens zwanzig Minuten wird er wieder zurück sein“, sagte Herr Brownlow und zog seine Uhr aus der Tasche, die er auf den.Tisch legte. „Inzwischen wird es dunkel geworden sein.“

„Sie glauben also wirklich, daß er wiederkommt?“ fragte Grimwig ironisch.

„Sie nicht?“ fragte Brownlow lächelnd zurück.

„Nein“, sagte er, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. „Der Junge hat einen neuen Anzug auf dem Leibe, einen Packen wertvoller Bücher unter dem Arme und eine Fünfpfundnote in der Tasche. Er wird wieder zu seinen alten Freunden, den Langfingern, gehen und Sie auslachen. Wenn der Junge je wieder hierher zurückkehrt, will ich meinen Kopf aufessen.“

Mit diesen Worten rückte er seinen Stuhl näher an den Tisch und so saßen die beiden Freunde, die Uhr vor sich, in schweigender Erwartung da. – –

Es wurde so dunkel, daß man die Zahlen der Uhr nicht mehr erkennen konnte, aber die beiden alten Herren saßen immer noch schweigend da – und warteten.

Zeigt, wie lieb der alte Jude und Fräulein Nancy Oliver Twist hatten

In einer armseligen Kneipe einer finsteren Straße in der Gegend von Little Saffron Hill, saß über einer kleinen Kanne und einem Schnapsglase brütend Herr William Sikes. Zu seinen Füßen lag ein weißer, rotäugiger Hund, der bald seinem Herrn zublinzelte, bald eine an der Seite seiner Schnauze befindliche große, frische Wunde leckte.

„Ruhig, Biest!“ rief plötzlich Herr Sikes und gab dem Hunde einen Fußtritt. Dieser biß ihn dafür in den Stiefel und zog sich dann knurrend unter eine Bank zurück. Dies entflammte Herrn Sikes Zorn mächtig. Er kniete nieder und begann das Tier mit einem Feuerhaken aufs wütendste anzugreifen. Der Hund sprang,schnappend und knurrend bald nach rechts, bald nach links. Der Kampf schien eben für den einen oder den anderen der beiden Kämpfer eine bedenkliche Wendung nehmen zu wollen, als plötzlich die Tür aufging. Der Hund schoß sofort hinaus und ließ Herrn Sikes allein.

Zu einem Streite gehören wenigstens zwei, sagt das Sprichwort, und da der Hund entkommen war, band Herr Sikes mit dem Eintretenden an.

„Was zum Teufel brauchst du zwischen mich und meinen Hund zu treten?“ fragte Sikes grob.

„Das hab ich doch nicht gewußt, wirklich nicht“, antwortete Fagin demütig – denn der neue Gast war niemand anders als der Jude.

„Nicht gewußt, Spitzbube?“ brummte Sikes unwirsch. „Hast du denn den Radau nicht gehört?“

„Keinen Ton, so wahr ich lebe“, entgegnete der Jude.

„Ja, ja, du hörst nie etwas“, sagte Sikes mit Hohnlachen, „ebensowenig wie man dich hört, wenn du rein und raus schleichst. Ich wünschte nur, du wärst vor einer Minute der Hund gewesen!“

„Warum?“ fragte der Jude mit gezwungenem Lächeln. „Darum, weil das Gesetz einem nicht verbietet, seinen Hund abzumurksen, während es um das Leben von Leuten deines Schlages besorgt ist, die nicht halb so viel wert sind als ein Köter“, entgegnete Sikes grimmig.

Der Jude rieb sich die Hände und setzte sich an den Tisch nieder. Obgleich ihm nicht besonders wohl zumute war, zwang er sich doch zu einem Lächeln über den „Scherz“ des Freundes.

„Ja, grinse nur“, sagte Sikes, „grinse nur immerzu. Über mich wirst du nicht lachen, ich habe dich in der Hand, Fagin, und der Teufel soll mich holen, wenn ich dich aus den Fingern lasse. Geh‘ ich verschütt, so gehst du auch. Also paß gut auf, daß sie mich nicht kriegen!“

„Schon gut, mein Lieber“, entgegnete der Jude, „wir haben das gleiche Interesse, ich weiß das ganz genau, Bill, dasselbe Interesse.“

„Na schön“, sagte Sikes, dem es so vorkam, als sei das Interesse mehr auf Seite des Juden, „was hast du mir eigentlich zu sagen?“

„Es ist alles glücklich durch den Schmelztiegel gewandert“, antwortete der Jude, „und dies ist Euer Anteil. Es ist zwar etwas mehr, als Euch zusteht, Bill, aber da, ich weiß, daß Ihr mir ein andermal wieder gefälfig sein werdet, so-„

„Hör bloß mit dem Geschmuse auf“, fiel der Dieb ungeduldig ein. „Wo ist’s? Rück heraus!“

„Ja doch, Bill, einen Augenblick“, versetzte der Jude begütigend. „Hier ist’s – bei Heller und Pfennig.“ Er brachte ein kleines, in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen zum Vorschein, das ihm Sikes aus den Händen riß und hastig öffnete. Nachdem er die darin befindlichen Goldstücke gezählt hatte, fragte der Dieb:

„Ist das alles?“

„Jawohl“, antwortete der Jude.

„Hast du auch unterwegs das Päckchen nicht aufgemacht und ein paar Stücke verdrückt?“ fuhr Sikes argwöhnisch fort. „Stell dich nur nicht beleidigt, es wäre nicht das erstemal. Klingle mal.“

Fagin setzte den Klingelzug in Bewegung, und kurz darauf trat ein anderer Jude ein. Jünger zwar als Fagin, aber ebenso spitzbübisch und abstoßend in seinem Äußern.

Bill zeigte nur auf die leere Kanne, worauf der Jude, der den Wink verstand, sich entfernte, um sie wieder zu füllen. Beim Herausgehen hatte er jedoch Fagin einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen, den dieser mit einem leichten Kopfschütteln beantwortete. Diese Zeichensprache ging Sikes verloren, da er sich gerade zufällig bückte. Hätte er sie bemerkt, würde er wohl wenig Gutes für sich selber daraus gefolgert haben.

„Ist jemand hier, Barney?“ fragte Fagin den wieder eintretenden Juden.

„Nur Fräulein Nancy“, erwiderte dieser.

„Nancy?“ rief Sikes. „Ein patentes Mädel.“

„Ja, sie ist drinnen am Büfett und hat sich einen Teller Rindfleisch geben lassen“, bemerkte Barney.

„Schick sie her! Schnell!“ rief Sikes.

Barney warf einen fragenden Blick auf Fagin, da ihm dieser aber kein Zeichen gab, so entfernte er sich und kehrte bald mit Nancy zurück.

„Du bist ihm auf der Spur, Nancy, nicht wahr?“ fragte Sikes und bot ihr ein Glas Schnaps an.

„Ja, Bill“, entgegnete die junge Dame und leerte das Glas mit einem Zuge. „Mühe genug hat es gekostet. Der Junge ist krank gewesen und mußte das Bett hüten, dann –“

„Sie sind ein Prachtmädel, Nancy!“ sagte Fagin. Ein Augenblinzeln des Juden warnte das Mädchen vor allzu großer Offenheit. Sie lenkte deshalb das Gespräch mit Herrn Sikes auf andere Gegenstände und erklärte nach ungefähr zehn Minuten, gehen zu müssen. Herr Sikes bemerkte, daß er denselben Weg habe, und sie gingen zusammen fort. Der Hund folgte in einiger Entfernung seinem Herrn. Nachdem Sikes das Zimmer verlassen hatte, schüttelte Fgin die geballte Faust hinter ihm her und murmelte einen schweren Fluch. Dann setzte er sich wieder an den Tisch und vertiefte sich in die Lektüre des Londoner Kriminalanzeigers.

Inzwischen eilte Oliver Twist dem Bücherladen zu und dachte darüber nach, wie glücklich und zufrieden er jetzt sei. Aus diesen Träumereien wurde er durch den Ruf geschreckt: „oh, mein lieber Bruder“. und fühlte gleichzeitig seinen Hals von einem Paar weiblichen Armen umschlungen.

.“Lassen Sie mich los“, rief Oliver sich wehrend. „Was wollen Sie denn von mir? Warum halten Sie mich auf?“

Die einzige Antwort hierauf war seitens des Mädchens:

„Gott sei Dank, ich habe ihn gefunden! O Oliver, böser Junge, wieviel Kummer hast du mir bereitet. Komm nach Hause, Liebling, komm! Ich bin ja so froh, ihn gefunden zu haben.“

Das junge Mädchen brach in Tränen aus und bekam so schreckliche Krämpfe, daß ein paar dabeistehende Weiber einen vorübergehenden Schlächterlehrling fragten, ob er es nicht für richtiger hielte, zum Arzt zu laufen. Der Lehrling, wenn auch nicht gerade gefühllos, schien aber ein ziemlich träger Bursche zu sein, denn er erwiderte, seiner Ansicht nach wäre das nicht nötig.

„Mir ist schon wieder besser“, sagte das Mädchen und nahm Oliver bei der Hand. „Aber nun komm schnell mit mir nach Hause, du böser, böser Junge, du!“

„Was ist denn los?“ fragte eine der Frauen.

„Ach, er ist vor ungefähr vier Wochen seinen Eltern, arbeitsamen und achtbaren Leuten, entlaufen und hat sich einer Diebesbande angeschlossen. Der armen Mutter ist darüber fast das Herz gebrochen.“

„Geh nach Hause, Bösewicht“, schrien die Weiber.

„Solch ein verdammter Bengel.“

„Das ist nicht wahr“, rief Oliver in großer Angst , „Ich kenne sie gar nicht. Ich habe weder Schwester noch Vater, noch Mutter. Ich bin eine Waise und wohne zu Pentonville.“

„Lieber Gott, wie frech er schon geworden ist“, schluchzte das junge Mädchen.

„Ach, Nancy!“ schrie Oliver, entsetzt zurückfahrend, als er ihr ins Gesicht sah.

„Ihr seht, er kennt mich“, sagte Nancy zu den Umstehenden. „Er kann es nicht leugnen. Helft mir, gute Leute, ihn nach Hause bringen, sonst sterben seine armen Eltern noch vor Kummer und Sorge, und mir bricht er das Herz.“

„Donnerwetter, was ist los?“ rief ein Mann, der aus einer Kneipe stürzte. „Ach, der junge Oliver, komm nach Hause zu deiner armen Mutter, du Galgenstrick. Sofort gehst du mit!“

„Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich kenne sie nicht. Hilfe! Hilfe!“ brüllte Oliver und wehrte sich verzweifelt gegen den festen Griff des Mannes.

„Hilfe!“ wiederholte der Mann. „Ich will dir gleich helfen, Lümmel! Was sind das für Bücher? Wahrscheinlich gestohlen! Gib mal her.“

Mit diesen Warten entriß er ihm die Bände und gab ihm einen heftigen Schlag auf den Kopf.

„So ist’s recht, der einzige Weg, ihn wieder zur Vernunft zu bringen“, riefen die Zuschauer.

„Er kann noch mehr haben“, sagte Sikes, indem er Oliver einen zweiten Schlag versetzte und dann beim Kragen packte. „Marsch, du Taugenichts, und nimm dich vor meinem Hund dort in acht.“

Noch schwach von der eben erst überstandenen Krankheit, betäubt durch die Schläge und das Plötzliche des Angriffs, was konnte da wohl ein armes Kind machen? Es war dunkel geworden, nirgends Hilfe, so war jeder Widerstand fruchtlos. Oliver wurde in aller Eile durch ein Labyrinth enger, finsterer Höfe geschleppt und zu so schnellen Schritten gezwungen, daß die wenigen Hilferufe ungehört verhallten.

Die Gaslampen wurden angezündet. Frau Bedwin wartete besorgt an der offenen Haustür, und das Dienstmädchen war wohl zwanzigmal die Straße hinabgelaufen, ohne eine Spur von Oliver zu entdecken. Die beiden alten Herren saßen beharrlich im dunklen Zimmer, zwischen sich die Uhr auf dem Tische – und warteten.

Erzählt von Olivers Schicksalen nach seiner Begegnung mit Nancy

Die engen Straßen und Gassen endeten an einem großen Platz, der als Viehmarkt benutzt wurde. Sikes ging jetzt langsamer, da das Mädchen ganz außer Luft und Atem war. Er herrschte Oliver mit rauher Stimme an, Nancys Hand zu fassen.

„Hast du gehört?“ brüllte Sikes, als Oliver zögerte und sich umblickte.

Sie befanden sich in einem dunkeln, abgelegenen Teil der Stadt und Oliver erkannte, daß jeder Widerstand vergeblich sein würde. Er streckte daher seine Hand aus, die Nancy sofort mit der ihrigen erfaßte.

„Gib mir die andere“, sagte Sikes und packte ihn bei der noch freien Hand.

Sie kamen jetzt zum Smithfieldmarkt. Die Nacht war finster und neblig. Es schlug acht.

„Acht Uhr, Bill!“ sagte Nancy, als die Uhr ausgeschlagen hatte.

„Das brauchst du mir nicht zu erzählen, ich hab‘ ja Ohren“, erwiderte Sikes.

„Ob sie die Uhr auch schlagen hören?“ meinte Nancy.

„Natürlich“, versetzte Sikes. „Es war so um Bartholomae, als ich im Kittchen saß, und da war keine Pfennigtrompete auf dem ganzen Markt, die ich nicht quäken hörte.

„Die armen Jungens!“ seufzte Nancy. „Ach, Bill, was es für schneidige junge Kerle sind!“

„Ja, ja, so sind die Weiber, an etwas anderes denken sie nicht“, entgegnete Sikes. „Schneidige Kerle, meinetwegen; sie sind so gut wie tot, also kann’s mir gleichgültig sein.“

Mit diesem Trost schien Sikes eine Anwandlung von Eifersucht niederzukämpfen. Er faßte Olivers Handgelenk fester und eilte weiter. Nach einer halben Stunde bogen sie in eine enge, schmutzige Gasse, in der fast nur Trödler zu wohnen schienen. Vor einem anscheinend unbewohnten Laden machten sie halt.

„Gott sei Dank“, sagte Sikes und sah sich vorsichtig um.

Nancy bückte sich, und Oliver hörte eine Klingel. Sie gingen nun auf die andere Seite der Straße und stellten sich für einen Augenblick unter eine Laterne. Jetzt wurde geräuschlos die Haustür geöffnet, und Sikes packte Oliver ohne weitere Umstände am Kragen. In einer Sekunde befanden sich alle drei im Innern des Hauses. Sie warteten im dunklen Hausflur, bis die Person, die sie eingelassen, die Tür wieder verschlossen und verriegelt hatte.

„Ist jemand hier?“ fragte Sikes.

„Nein“, antwortete eine Stimme, die Oliver schon früher gehört zu haben glaubte.

„Ist der Alte da?“ fuhr der Spitzbube fort.

„Ja“, entgegnete die Stimme, „er geht aber mächtig sparsam mit seinen Worten um. Glaube nicht, daß er sehr erfreut ist, Sie zu sehen. Sicher nicht.“

„Bring eine Funzel!“, sagteSikes, „sonst brechen wir uns noch den Hals oder treten den Hund, und das ist gefährlich.“

„Einen Augenblick, werde sofort Licht bringen“, erwiderte eine Stimme. Nach einer Minute zeigte sich die Gestalt des Herrn John Dawkins, sonst auch der Gannef geheißen, in der rechten Hand eine brennende Kerze haltend. Der junge Herr gab Oliver kein anderes Zeichen des Wiedererkennens als ein höhnisches Grinsen, dann winkte er den Dreien, ihm zu folgen. Sie kamen durch eine leere Küche, und als sie die Tür eines niedrigen, dumpfen Gemaches öffneten, wurden sie mit einem schallenden Gelächter empfangen.

„Wer kommt denn da?“ brüllte Karl Bates, indem er sich vor Lachen die Seiten hielt. „Das ist er ja. Gucken Sie ihn an, Fagin. Sehen Sie ihn sich bloß mal an. Das ist ein Hauptspaß! Ich kann nicht mehr! Ich sterbe vor Lachen!‘ Damit legte er sich der Länge nach mit dem Rücken auf die Erde und strampelte minutenlang mit den Beinen. Dann sprang er auf, entriß dem Gannef die Kerze, und beleuchtete Oliver von allen Seiten. Zu gleicher Zeit machte der Jude, seine Nachtmütze abnehmend, unserm verwirrten Helden tiefe Verbeugungen. Der Gannef, ernster veranlagt und beim Geschäft keinen Spaß kennend, durchsuchte inzwischen eifrig Olivers Taschen.

„Ein vornehmer Herr“, sagte Bates. „Sehen Sie sich nur seine Klamotten an. Das feinste Tuch und der modernste Schnitt, Fagin! Und dann noch seine Bücher!“

„Entzückt Sie so wohl zu sehen, mein Herr“,. begann der Jude, indem er sich mit ironischer Höflichkeit vor Oliver verbeugte. Der Gannef wird Ihnen geben einen, anderen Anzug, damit Sie sich nicht gleich verderben Ihren Sonntagsstaat. Warum haben Sie uns nicht geschrieben, daß Sie kommen würden? Wir hätten Ihnen dann etwas Warmes zum Abendessen aufgehoben.“

Karl Bates begann aufs neue – und zwar so unbändig zu lachen, daß auch Fagin sein Gesicht verzog und sogar der Gannef lächelte. Da aber dieser in jenem Augenblick die Fünfpfundnote aus Olivers Tasche zog, so ist es zweifelhaft, ob die Lustigkeit seines Kameraden oder der wichtige Fund sein Lächeln hervorrief.

„Hallo, was ist, das?“ fragte Sikes vortretend, als der Jude die Banknote ergriff. „Das ist mein, Fagin!“

„Nein, mein“, sagte der Jude, „mein ist es. Ihr könnt die Bücher haben!“

„Wenn ich, das heißt, wenn ich und Nancy nicht die Fünfpfundnote kriegen“, sagte Sikes ganz energisch und setzte sich seinen Hut auf, „so nehme ich den Jungen wieder mit.“

Der Jude und Oliver fuhren zusammen, aber aus ganz verschiedenen Gründen. Hoffte doch letzterer, der Streit möchte damit endigen, daß er wieder zurückgebracht würde.

„Schnell, rück ‚raus! Was, du willst es nicht hergeben?“ ,schrie Sikes.

„Es ist ungerecht, Sikes, Nicht wahr, Nancy, er ist ungerecht?“ versetzte Fagin.

„Gerecht oder ungerecht! Gib her“, damit riß Sikes dem Juden die Banknote aus den Fingern. Er faltete sie zusammen und knüpfte sie in seine Halsbinde.

„Das ist für unsere Mühe“, fuhr Sikes fort, „und wenig genug. Du kannst meinetwegen die Bücher behalten und dazin lesen, wenn du Lust hast. Oder kannst sie auch verkaufen.“

„Sie gehören dem alten Herrn“, sagte Oliver händeringend, „dem guten, alten Herrn, der mich in sein Haus nahm und mich pflegte, als ich todkrank daniederlag. Ach, bitte, schicken Sie es ihm zurück, schicken Sie ihm Geld und Bücher zurück. Behalten Sie mich mein Leben lang hier, aber geben Sie ihm sein Eigentum wieder. Er wird sonst glauben, ich hätte ihn bestohlen; die alte Dame und.alle anderen, die so gut zu mir waren, werden denken, ich sei ein Dieb. Oh, haben Sie Mitleid mit mir und senden Sie Bücher und Geld zurück.“ Mit diesen Worten fiel Oliver vor dem Juden auf die Knie und rang verzweiflungsvoll die Hände.

„Der Junge hat recht“, sprach Fagin, sich im Kreise umsehend. „Man wird dich allerdings für den Dieb halten, Oliver. Ha! ha! ha! –“ kicherte der Jude. „Einen besseren Zeitpunkt hätten wir gar nicht wählen können.“

„Stimmt“, sagte Sikes. „Ich wußte das, als ich ihn mit den Büchern herankommen sah. Jetzt ist alles in schönster Ordnung.“

Oliver hatte wie ein Unzurechnungsfähiger während dieses Gespräches von dem einen Sprecher auf den anderen gesehen, er war sich nicht im geringsten darüber klar, was um ihn vorging. Plötzlich stürzte er aus dem Zimmer und rief laut und flehentlich um Hilfe. Das ganze Haus hallte von seinem Geschrei wider.

„Halt den Hund zurück, Bill!“ kreischte Nancy und schloß die Tür, durch die der Jude mit seinen beiden Zöglingen eben Oliver nachgeeilt war. „Halt den Hund zurück, er wird sonst den Jungen in Stücke reißen.“

„Geschieht ihm recht“, brüllte Sikes und suchte sich den Händen des Mädchens zu entwinden. „Laß mich los, oder ich schmeiß‘ dich an die Wand.“

„Mir gleich,“ schrie Nancy in heftigem Ringen mit dem Manne, „das Kind soll nicht vom Hunde zerrissen werden, da mußt du mich erst kaltmachen.“

„Das kann dir leicht passieren, wenn du mich nicht los läßt“, knirschte Sikes und schleuderte das Mädchen in eine Ecke des Zimmers. In diesem Augenblick kam der Jude mit seinen beiden Zöglingen zurück, die Oliver nachzerrten.

„Was ist denn hier, los?“ fragte der Jude sich umblickend.

„Das Weib ist verrückt geworden, glaub‘ ich“, erwiderte Sikes wütend.

„Durchaus nicht“, rief Nancy blaß und atemlos von dem Kampf. „Glauben Sie das ja nicht Fagin.“

„Dann halte den Mund“, schrie der Jude drohend.

„Habe ich nicht nötig“, kreischte Nancy..“Was sagst du nun?“

Fagin schien es im gegenwärtigen Augenblick nicht geraten, sich in einen weiteren Wortwechsel mit ihr einzulassen. Er wandte sich deshalb an Oliver und fuhr ihn an:

„Du wolltest also fortlaufen, mein Lieber“, dabei nahm er einen Knotenstock, der am Kamin lag, in die Hand. „Wolltest um Hilfe rufen, zur Polizei gehen! Das wollen wir dir austreiben.“ Hier packte er den Jungen und schlug ihn mit dem Stock über den Rücken. Als er zum zweiten Male ausholen wollte, eilte Nancy herbei und entwand den Stock seinen Händen. Sie schleuderte ihn in den Kamin, daß die Funken nur so im Zimmer herumflogen.

„Ich dulde es nicht“, schrie sie und stampfte mit dem Fuß zornig auf den Boden. „Ihr habt den Jungen, was wollt ihr mehr. Laßt ihn zufrieden, oder ich tue euch was an, selbst wenn es mich vor der Zeit an den Galgen bringen sollte.“

„Ach, Nancy!“ sagte- der Jude beschwichtigend nach einer Pause, während der er und Sikes sich verblüfft angeguckt hatten. „Sie spielen heute abend Ihre Rolle besser als je.“

„Wirklich?“ versetzte das Mädchen, „nehmt euch in acht, daß ich euch nicht tatsächlich mal was vorspiele. Das wäre schlimm für euch. Ich sage euch das rechtzeitig, damit ihr euch vorseht.“

„Was soll das heißen?“ tobte Sikes und stieß eine Flut von Verwünschungen gegen sie aus. „Der Teufel soll dich holen! Du hast wohl vergessen, wer du bist und was du bist?“

„O nein, ich weiß das ganz genau“, versetzte das Mädchen mit hysterischem Lachen.

„Na, dann sei ruhig“, sagte Sikes, „oder ich mach‘ dich für eine lange Zeit still.“

Das Mädchen lachte wieder und warf einen flüchtigen Blick auf ihn; dann drehte sie sich um und biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten.

„Du bist mir gerade die Rechte, die Menschenfreundin ‚rauszubeißen“, fuhr Sikes im verächtlichen Tone fort. „Eine nette Freundin für das Kind, wie du den Jungen nennst.“

„Der Allmächtige ist mein Zeuge, daß ich es bin“, rief Nancy leidenschaftlich. „Lieber läge ich tot auf der Straße oder säße im Gefängnis, als daß ich mich dazu hergegeben hätte, ihn in euere Hände zu bringen. Er ist von diesem Augenblick an ein Dieb, ein Lügner, ein Teufel, kurz alles, was man sich nur Schlimmes denkt. Ist das nicht für den alten Halunken genug, muß er ihn auch noch prügeln?“

„Sehen Sie, Sikes“, sagte der Jude in einem belehrenden Tone, „wir müssen höflich sein und freundliche Worte gebrauchen. Immer höflich, Bill!“

„Höfliche Worte!“ schrie das Mädchen, das in seiner Wut schrecklich anzusehen war. „Freundliche Worte! Du Schurke! Du verdienst sie auch von mir. Ich stahl für dich, als ich noch ein Kind war, nicht halb so alt wie dieses (sie zeigte auf Oliver) und treibe nun seit zwölf Jahren dasselbe Gewerbe. Weißt du das nicht? Sprich!“

„Nun“, sagte der Jude begütigend, „wenn du es tatest, so hattest du doch dein Brot davon.“

„Das stimmt“, sprudelte das Mädchen mit steigender Heftigkeit heraus. Ihre Worte überstürzten sich förmlich.

„Es ist mein Brot, und die kalten, nassen, schmutzigen Straßen sind mein Heim. Und du bist der Lump, der mich heraustrieb und der mich Tag und Nacht hinaustreiben wird, bis ich verrecke!“

Kapitel 2

„Nun hör auf“, fiel der Jude gereizt ein, „sonst passiert dir was, das dir recht unangenehm sein könnte.“

Das Mädchen sagte nichts mehr, aber zerraufte sich wie eine Verrückte das Haar und zerriß sich das Kleid, dann stürzte sie wütend auf den Juden los. Im rechten Augenblick packte Sikes sie jedoch am Handgelenk, sonst hätte sie ohne Zweifel sehr deutliche Zeichen ihrer Rache in des Juden Gesicht zurückgelassen. Nachdem sie vergeblich versuchte, sich von Sikes Griff zu befreien, fiel sie plötzlich in Ohnmacht.

„Nun ist alles wieder in Ordnung“, meinte Sikes und trug sie in eine Ecke des Zimmers. .Sie hat eine Riesenkraft, wenn sie in Wut ist!“

Der Jude wischte sich die Stirn und lächelte: „mit Weibern zu tun zu haben, ist schlimm, aber sie sind schlau, und ohne sie geht’s in unserm Geschäft nicht. – Karl, bring Oliver zu Bett!“

„Nicht wahr, Fagin, er soll morgen seinen Sonntagsstaat nicht tragen?“ Der Jude verneinte. Oliver wurde nun in das anstoßende Gemach geführt, wo ein Bett aus alten Säcken in der Ecke stand. Karl brachte lachend denselben alten Anzug zum Vorschein, den Oliver in Brownlows Hause dem Dienstmädchen geschenkt hatte. Fagin hatte die Lumpen von einem Juden gekauft und dadurch die erste Spur von unseres Helden Aufenthalt erhalten.

„Zieh deinen Sonntagsanzug aus“, sagte Karl; „ich will ihn Fagin zum Aufheben geben. Das wird ein Hauptspaß.“

Widerwillig gehorchte Oliver und wurde dann von Karl im Finstern gelassen, der hinausging und die Tür hinter sich abschloß. Karls Lachen und die Stimme Betsys, die gekommen war, um ihrer Freundin beizustehen, hätten ihn unter glücklicheren Umständen wach erhalten. Er war jedoch krank und müde und verfiel deshalb in einen tiefen Schlaf.

Olivers Schicksal bleibt dauernd ungünstig. Ein großer Mann kommt nach London, um seinem Rufe zu schaden

Wir bitten den Leser jetzt, uns nach der Stadt zu begleiten, wo unser kleiner Held zur Welt kam.

Herr Bumble trat eines Morgens früh aus dem Armehause und ging würdevoll die Straße hinunter. Er trug zwar seinen Kopf immer gebührend hoch, heute jedoch noch höher als gewöhnlich. Herr Bumble hielt sich nicht mit den kleinen Krämern auf, die ihn ansprechen wollten, sondern grüßte sie nur mit einer leichten Handbewegung. An dem Landhaus machte er schließlich halt, wo Frau Mann die armen Kinder nach den Grundsätzen der Armenbehörde betreute.

„Was mag dieser verwünschte Gemeindediener schon in aller Herrgottsfrühe wollen?“ sagte Frau Mann, als sie sein bekanntes, ungeduldiges Klopfen an der Gartentür vernahm. – „Ah! Sieh da, Herr Bumblel freut mich, Sie zu sehen. Bitte, treten Sie näher.“

„Frau Mann“, sagte Herr Bumble, indem er sich würdevoll setzte, „Frau Mann, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!“

„Danke, gleichfalls, Herr Bumble“, versetzte Frau Mann liebenswürdig lächelnd. „Es geht Ihnen hoffentlich gut?“

„So, so Frau Mann“, erwiderte Herr Bumble; „man ist nicht auf Rosen gebettet.“

„Ach, das ist nur zu wahr!“ Hätten die Armenkinder das hören können, sie hätten alle ausnahmslos Frau Mann beigepflichtet.

„Das Leben eines Gemeindebeamten, Frau Mann“, fuhr Bumble fort und schlug mit seinem Stock auf den Tisch, „ist ein Leben voll Mühe, Arbeit und Ärger. Dagegen ist jedoch nichts zu machen, alle Leute im öffentlichen Leben müssen sich Anfeindungen gefallen lassen.“

Obgleich Frau Mann nicht wußte, was er damit sagen wollte, seufzte sie teilnahmsvoll.

„Ich gehe nach London, Frau Mann“, fuhr Bumble fort.

„Ach, wirklich?“

„Ja, und zwar in der Postkutsche. Ich und zwei Arme. Es handelt sich um die Feststellung ihrer Heimatszustädigkeit. Die Armenhausbehörde hat mich mit ihrer Vertretung betraut. Es wird sich dann herausstellen“, fuhr Herr Bumble fort und richtete sich stolz auf, „ob die Herren vom Gericht in Clerkenwell sich nicht in mir gewaltig verrechnet haben. So leicht werden Sie mit mir nicht fertig.“

„Sie reisen also mit der Post. Ich dachte, man transportiere die Armen immer auf Karren?“

. „Nur, wenn sie krank sind. Bei Regenwetter setzen wir die armen Kranken auf offene Karren, damit sie sich nicht erkälten.“

„Ach so!“

„Es ist eine Retourkutsche und daher sehr billig“, sagte Herr Bumble. „Die beiden Armen sind in einem ziemlich elenden Zustande, und die Gemeinde fährt um zwei Pfund besser, wenn sie sie fortschickt, als wenn sie sie begraben lassen muß. Das heißt, wir müssen sie einer andern Gemeinde zuweisen können, was, wie ich glaube, gehen wird. Sie dürfen uns nur nicht den Possen spielen und unterwegs sterben. Ha! Ha! Ha!“

„Doch wir vergessen unser Geschäft“, sagte der Gemeindediener, nachdem er genügend gelacht hatte. „Hier ist das Kostgeld für den Monat.“ Er holte eine kleine Rolle Silbergeld aus seiner Tasche hervor und bat um Quittung, die Frau Mann auch sofort ausschrieb. Dann fragte Bumble nach dem Wohlergehen der Kinder.

„Gott segne die lieben kleinen Herzblättchen. Sie sind alle so gesund, als es die Umstände erlauben – bis auf die zwei, die in der letzten Woche starben.“

Herr Bumble verabschiedete sich nun nach einer Weile und ging heim.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr nahm er mit den beiden Armen seinen Sitz auf der Außenseite der Kutsche ein und langte fahrplanmäßig in London an. Nachdem Herr Bumble seine Schützlinge, die halb erfroren waren, für die Nacht untergebracht hatte, ließ er sich in dem Gasthause, wo die Kutsche hielt, ein bescheidenes Essen, bestehend aus Beefsteak, Austernsauce und Porter, bringen und studierte dann die Zeitung.

Das erste, was Herrn Bumble ins Auge fiel, war folgende Ankündigung:

Fünf Guineen Belohnung.

Letzten Donnerstagabend ist ein Knabe, namens Oliver Twist, aus seiner Wohnung in Pentonville verschwunden und hat nichts mehr von sich hören lassen. Die Möglichkeit besteht, daß er entfüht wurde. Obige Belohnung soll derjenige erhalten, der über den Verbleib des besagten Oliver Twist Angaben machen kann, oder der sonst etwas von seiner Herkunft weiß, da der Inserent sich auch für diese lebhaft interessiert.

Der Anzeige war eine genaue Besch reibung von Oliver nebst Herrn Brownlows Adresse beigegeben.

Herr Bumble machte große Augen und las die Anzeige dreimal durch. Doch ehe fünf Minuten vergingen, war er auf dem Wege nach Pentonville. –

„Ist Herr Brownlow zu Hause?“ fragte Bumble das Mädchen, welches die Tür öffnete.

„Ich weiß nicht – was wünschen Sie?“

Herr Bumble hatte kaum den Namen Oliver Twist genannt, als Frau Bedwin, die an der Tür gehorcht hatte, hastig in den Hausflur eilte.

„Kommen Sie herein“, sagte die alte Frau; „ich wußte ja, daß wir von ihm hören würden. Der arme Junge. Gott segne ihn.«‘

Das Mädchen war inzwischen die Treppe hinaufgegangen und kehrte jetzt mit der Bitte zurück, daß Herr Bumble ihr folgen möchte.

Er wurde in das kleine Studierzimmer geführt, wo Herr Brownlow und sein Freund Grimwig sich bei einer Flasche Wein gütlich taten.

„Sie kommen auf meine Anzeige?“ fragte BrownIow.

„Jawohl.“

„Sie sind Gemeindediener?“

„Jawohl.“

„Wissen Sie, wo der arme Junge sich befindet?“

„So wenig, wie irgendein anderer“, versetzte Bumble.

„Nun, was wissen sie von ihm?“ fragte der alte Herr. „Sprechen Sie, lieber Freund, wenn Sie etwas zu sagen haben. Was wissen Sie von ihm?“

„Wahrscheinlich nichts Gutes“, bemerkte Herr Grimwig beißend, nachdem er Herrn Bumbles Gesichtszüge aufmerksam betrachtet hatte.

Dieser schüttelte feierlich den Kopf.

„Sehen Sie?“ sagte Grimwig triumphierend.

Herr Brownlow ersuchte Bumble nun, ihm in kurzen Worten mitzuteilen, was er von Oliver wüßte.

Es würde ermüdend sein, die Erzählung mit den Worten des Gemeindedieners wiederzugeben, da sie volle zwanzig Minuten dauerte. Ihr Inhalt war kurz der: Oliver sei ein Findling, das Kind geineiner und lasterhafter Eltern, tückisch, undankbar und boshaft. Er habe auf einen harmlosen Jungen einen blutdürstigen und hinterlistigen Angriff gemacht und sei dann bei Nacht und Nebel aus dem Hause seines Lehrherrn entlaufen. Zum Beweise, daß er wirklich der Mann sei, als den er sich vorstellte, legte Herr Bumble seine Papiere vor.

„Ich fürchte, es ist alles nur zu wahr“, sagte der alte Herr, nachdem er die Papiere flüchtig durchgesehen hatte. „Nehmen Sie das Geld, es ist nicht viel für die Wichtigkeit Ihrer Mitteilungen. Ich hätte gern das Dreifache gegeben, wenn sie für den Jungen günstiger gelautet hätten.“

Hätte Herr Bumble das früher gewußt, so würde er wahrscheinlich seiner Erzählung eine ganz andere Färbung gegeben haben. Kopfschüttelnd steckte er die fünf Guineen ein und entfernte sich.

Herr Brownlow war so niedergeschlagen, daß selbst Herr Grimwig es für richtig hielt, seine bissigen Bemerkungen einzustellen. Der alte Herr zog heftig an der Klingel.

„Frau Bedwin“, sagte Herr Brownlow, nachdem die Haushälterin eingetreten war, „der Junge ist ein Betrüger.“

„Unmöglich“, versetzte die alte Frau mit Nachdruck, „rein unmöglich.“

„Ich sage Ihnen aber, es ist so“, entgegnete der alte Herr scharf. „Es war sein ganzes Leben läng ein kleiner Bösewicht.“

„Das werde ich nie glauben“, erwiderte Frau Bedwin fest. „Er war ein liebes, sanftes und dankbares Kind!“

„Ruhig!“ sagte Brownlow. „Ich will den Namen des Jungen nie wieder hören. Um Ihnen das zu sagen, hatte ich geklingelt. Sie können jetzt gehen, aber denken Sie daran, ich habe im Ernst gesprochen.“

In Herrn Brownlows Hause gab es in dieser Nacht betrübte Herzen, aber auch Olivers Herz war todtraurig, wenn er seiner gütigen Freunde gedachte. Hätte er geahnt, was sie über ihn gehört hatten, es wäre gebrochen.

Wie Oliver in der sittenverbessernden Gesellschaft seiner ehrenwerten Freunde die Zeit verbrachte

Am Mittag des nächsten Tages, als der Gannef und Karl Bates zu ihren gewöhnlichen Geschäften ausgegangen waren, benutzte Herr Fagin die Gelegenheit, Oliver eine lange Rede über die schreckliche Sünde der Undankbarkeit zu halten. Er setzte ihm eingehend auseinander, wie er sich derselben in ganz ungewöhnlich hohem Grade schuldig gemacht habe, indem er sich von seinen besorgten Freunden entfernte und ihnen sogar zu entfliehen versuchte. Dabei hätte man doch auf seine Wiederauffindung so viel Mühe und Kosten verwendet. Herr Fagin legte großes Gewicht auf den Umstand, daß er Oliver ins Haus genommen und verpflegt habe. Ohne die ihm rechtzeitig gewährte Hilfe wäre er doch wahrscheinlich Hungers gestorben. Aber sie würden noch die besten Freunde werden, wenn sich Oliver folgsam und anstellig zeige. Der Jude nahm jetzt seinen Hut, zog einen alten geflickten Überrock an und ging fort, nicht ohne vorher das Zimmer abzuschließen.

So blieb Oliver während des ganzen Tages und einer Anzahl nachfolgender Tage eingesperrt und sich selbst überlassen. Er hatte genügend Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, die sich immer mit seinen Freunden in Pentonville beschäftigten, und was diese wohl für eine Meinung von ihm gefaßt haben mochten. Nach Ablauf einer Woche ließ der Jude die Tür unverschlossen, und Oliver stand es frei, im Hause umherzugehen.

Es war überall schmutzig im Hause, aber die Zimmer im oberen Stockwerk hatten große Türen und hölzerne Wandtäfelchen. Es mußte vor langer Zeit mal besseren Leuten gehört haben und war wohl einmal schön und heiter gewesen, so traurig und verkommen es auch jetzt aussah. In den Ecken der Wände hatten Spinnen ihre Netze ausgespannt, und wenn er leise in ein Zimmer trat, liefen die Mäuse erschreckt in ihre Löcher zurück. In allen Zimmern waren die morschen Fensterläden fest verschlossen. Das Licht konnte nur durch kleine, eingebohrte Löcher eindringen und erfüllte die Zimmer mit seltsamen Schattengestalten. Hintenhinaus befand sich eine Dachkammer, deren Fenster keine Läden hatten, sondern die nur vergittert waren. Hier sah Oliver oft stundenlang hinaus, aber er hatte nur einen Blick auf ein Gewirr von .Dächern, Schornsteinen und Giebeln.

Eines Nachmittags, als der Gannef und Karl Bates sich zu einer Abendunternehmung vorbereiteten, setzte jener es sich in den Kopf, eine größere Sorgfalt auf seine Toilette zu verwenden. Eine Schwäche, die wir, um gerecht zu sein, nur als eine ausnahmsweise vorkommende bezeichnen müssen. Er befahl Oliver gnädig, ihm bei diesem Geschäft an die Hand zu gehen.

Oliver war froh, sich nützlich machen zu können. Er kniete auf dem Boden nieder und nahm, während der Gannef auf dem Tische saß, dessen Füße in seinen Schoß, und putzte ihm die Stiefel.

Der Gannef blickte eine Weile gedankenvoll auf Oliver nieder und sprach dann halb für sich, halb zu Karl Bates:

„Wie schade, daß er kein Gannove ist!“

„Ach“, sagte Karl, „er weiß seinen Vorteil nicht auszunützen.“

„Ich glaube, du weißt nicht einmal, was ein Gannove ist?“

„Doch, ich glaube, ich weiß es“, versetzte Oliver hastig aufsehend. „Es ist ein Dieb. Du bist einer, nicht wahr?“ fügte er schüchtern hinzu.

„Ja“, erwiderte der Gannef, „und ich bin stolz darauf. Ich bin ein Dieb, wir alle sind Diebe – Karl – Fagin –Sikes – Nancy – Betsy – bis auf den Hund hinunter, und der ist nicht der schlechteste!“

„Jedenfalls verrät er keinen“, fügte Karl Bates hinzu.

„Warum gehst du eigentlich nicht bei Fagin in die Lehre, Oliver?“

„Könntest dein Glück machen“, sagte der Gannef grinsend.

„Und dich später mal als Rentier zurückziehen – ja, und wie ein Herr leben, wie ich es zu tun gedenke in dem nächsten vierten Schaltjahr, am zweiundvierzigsten Dienstage in der Trinitatiswoche“, fuhr Karl fort.

„Es gefällt mir nicht“, sagte Oliver schüchtern, „ich wollte, man ließe mich fort. Ich – ich – möchte lieber gehen.“

„Und Fagin möchte lieber, daß du bliebst“, entgegnete Karl.

Oliver wußte das nur zu gut, er hielt es aber für gefährfich, noch weiter darüber zu sprechen, deshalb fuhr er seufzend im Stiefelputzen fort.

„Geh“, rief der Gannef, „hast du gar kein Ehrgefühl? Möchtest du wieder hingehen und. deinen Freunden zur Last fallen? Ich könnte nicht so sein.“

„Aber ihr könnt eure Freunde im Stich lassen“, erwiderte Oliver mit mattem Lächeln, „und sie einer Strafe preisgeben, die ihr verdient habt?“

„Das geschah nur mit Rücksicht auf Fagin. Die Greifer wissen, daß wir gemeinschaftlich arbeiten, und er hätte Uhgelegenheiten gehabt. Das war der Grund, weshalb wir ausgerissen sind, nicht wahr, Karl? Guck mal hier“, fuhr der,Gannef fort und zog aus der Tasche eine Handvoll Schillinge, „so leben wir! Wer schert sich drum, wo es herkommt. Greif zu! Wo ich diese erwischt habe, gibt’s noch eine ganze Masse. Du willst nicht, du willst nicht? O du Dummkopf.“

„Nicht wahr, Oliver, es ist nicht recht?“ fragte Karl Bates. „Er wird dafür noch mal Bammelmann machen, nicht?“

„Ich weiß nicht, was das ist“, versetzte Oliver.

„Das will es heißen“, sagte Karl und machte mit seinem Taschentuch die Pantomime des Gehängtwerdens.

„Du bist schlecht erzogen“, meinte der Gannef, „aber Fagin wird schon noch etwas aus dir machen. Fang nur gleich an, sonst verlierst du nur Zeit.“

Karl Bates unterstützte diesen Rat mit einigen moralischen Nutzanwendungen und schilderte in glühenden Farben das Leben, was sie jetzt führten.

„Und dann bedenke, Nolly(*Oliver*)“, sagte der Gannef, „wenn du die Taschentücher und Uhren nicht nimmst, so stiehlt sie ein anderer. Wer sich daher eine solche Gelegenheit nicht zunutze macht, ist ein Dummkopf.“

„Er hat vollkommen recht, vollkommen“, sagte Fagin, der inzwischen leise eingetreten war. „Er gibt dir das Ganze in der Nußschale, ja in einer Nußschale, Freundchen. Dem Gannef kannst du glauben. Ha! Ha! Ha! Er kennt genau den Katechismus seines Geschäfts!“

Das Gespräch wurde nicht weiter fortgesetzt, denn der Jude war mit Fräulein Betsy und einem Herrn nach Hause gekommen, den Oliver noch nie gesehen hatte.

Dieser, als Tom Chitling angeredet, war etwas älter als der Gannef und mochte wohl achtzehn, Lenze zählen. Er benahm sich gegen diesen mit einer Ehrerbietung, die bewies, daß er sich bewußt war, dem Gannef an Geist und Geschäftsgewandtheit nicht ebenbürtig zu sein. Tom hatte kleine blinzelnde Augen und ein pockennarbiges Gesicht. Er trug eine Pelzmütze, eine dunkle Jacke, schmierige Barchenthosen und eine Schürze. Er sah ziemlich heruntergekommen aus und entschuldigte es damit, daß seine „Zeit“ erst seit einer Stunde um sei und er noch nicht dazu gekommen war, seinen Anzug zu wechseln. Er schloß daran die Bemerkung, daß er in zweiundvierzig langen, harten Arbeitstagen keinen Tropfen Schnaps angerührt hätte. Er wolle sich hängen lassen, wenn er nicht so sei wie ein Pulverfaß.

„Was glaubst du wohl, woher dieser Herr kommt, Oliver?“ fragte der Jude grinsend, als die anderen Jungen eine Schnapsflasche auf den Tisch stellten.

„Ich – weiß nicht“, stotterte Oliver.

„Wer ist denn das?“ fragte Tom Chitling, Oliver verächtlich ansehend.

„Ein junger Freund von mir“, antwortete Fagin.

„Dann ist er gut aufgehoben“, sagte Tom und sah Fagin bedeutungsvoll an. „Kümmere dich nicht darum, woher ich komme, Junge. Ich wette einen Taler, daß du den Weg dahin schnell genug finden wirst.“

Man lachte, und dann flüsterte Tom dem Juden einige Worte zu. Sie setzten sich an den Kamin, und Fagin ließ Oliver an seiner Seite Platz nehmen. Man sprach von den großen Gewinnen des Geschäfts, der Geschicklichkeit des Gannefs und der Freigebigkeit Fagins. Als dieses Thema und zu gleicher Zeit auch Herr Tom Chitling erschöpft war – denn der Aufenthalt im Gefängnis wird nach einigen Wochen etwas angreifend –, entfernte sich Betsy, und die ganze Bande begab sich zur Ruhe.

Von diesem Tage an wurde Oliver nur noch selten allein gelassen. Er war fast dauernd in Gesellschaft von Jack oder Karl, die Tag für Tag mit dem Juden das alte Spiel spielten. Ob zu ihrer eigenen oder zu Olivers Ausbildung, wußte Fagin am besten. Manchmal erzählte der alte Mann auch Geschichten von Diebstählen, die er in jüngeren Jahren begangen hatte. Er mischte darin so viel Drolliges und Spaßhaftes, daß Oliver häufig nicht umhin konnte, herzlich mitzulachen und die Geschichten lustig zu finden. Trotz seiner besseren Einsicht!

Der schlaue alte Jude hatte den Jungen im Netz. Er hatte Olivers Geist durch Einsamkeit und Langeweile darauf vorbereitet, jede Gesellschaft seinen traurigen Grübeleien vorzuziehen. Langsam flößte er ihm das Gift ein, das die Unschuld seiner Seele trüben und sein Herz für immer schwarz machen sollte.

In dem ein denkwürdiger Plan beraten und beschlossen wird

Es war eine kalte und windige Nacht, als der Jude gut vermummt aus seiner Höhle auftauchte. Er blieb auf der Schwelle stehen, während die Jungen die Tür von innen verschlossen und verriegelten. Nachdem dies geschehen, eilte er so schnell, als er konnte, die Straße hinab.

Das Haus, in das man Ofiver gebracht hatte, befand sich in der Nähe von Whitechapel. – Der Jude stand an der nächsten Ecke einen Augenblick still und sah sich argwöhnisch um. Dann ging er über die Straße und schlug die Richtung nach Spitalfields ein.

Der Schmutz lag dicht auf dem Pflaster, und ein dunkler Nebel hing über den Straßen. Es regnete, und alles war kalt und feucht anzufühlen. Eine Nacht, so recht geeignet für die Unternehmungen eines Wesens, wie der Jude es war. Als der greuliche Alte unter dem Schutz der dunkeln Mauern und Torwege dahinschlich, glich er ganz einem eklen Gewürm, welches in dem Schlamm und Dunkel, das ihn geboren, nach einem leckeren Mahle sucht.

Er kam auf seinem Gange durch viele krumme und enge Gassen nach Bethnal Green. Hier bog er plötzlich links ab und tauchte dann in ein Labyrinth von schmutzigen Straßen unter, die es in diesem bevölkerten Stadtteil zu Dutzenden gibt.

Der Jude war augenscheinlich mit der Gegend gut vertraut, denn ohne irgendwelches Zögern eilte er durch mehrere Straßen, bis er eine Gasse erreichte, an deren äußerstem Ende nur eine Laterne brannte. Er klopfte an die Tür eines Hauses und stieg die Treppe hinauf, nachdem man ihm gegen Bekanntgabe des Losungswortes geöffnet hatte.

Als er die Klinke einer Tür berührte, hörte man das Knurren eines Hundes, und eine rauhe Mannesstimme fragte, wer da sei.

„Nur ich, Bill; nur ich, Freundchen“, sagte der Jude und guckte herein.

„So bring deinen schuftigen Leichnam ‚rein“, erwiderte Sikes. – „Kusch, dummes Vieh! Kennst du denn den Teufel nicht, auch wenn er vermummt ist.“

Der Hund hatte sich augenscheinlich durch Fagins Regenmantel täuschen lassen, denn sobald der Jude ihn abwarf, zog sich das Tier wieder in seine Ecke zurück und wedelte mit dem Schwanze.

„Nun?“ fragte Sikes.

„Tja, mein Lieber! – Ach Nancy.“

Der Jude war etwas verlegen, da er nicht wissen konnte, wie er von dem Mädchen empfangen werden würde. Doch Nancy tat ganz harmlos; sie winkte Fagin zu sich an den Kamin heran und meinte: es wäre eine kalte Nacht und sie wolle das Mißverständnis vergessen.

„Ja, es ist wirklich kalt“, entgegnete der Jude. .Es geht einem durch und durch.“

„Gib ihm was zu trinken, Nancy. Donnerwetter, spute dich! Es wird einem ja ganz übel, wenn man das dürre Gerippe so klappern sieht, als sei es eben erst dem Grabe entstiegen.“

Nancy holte eiligst eine Flasche und Sikes füllte ein Glas mit Brandy, das er dem Juden hinhielt.

Der Jude berührte es mit den Lippen und sagte dann:

„Danke, Bill, nicht mehr, habe genug.“

„Du hast wohl Angst, wir wollen dir was“, fragte Sikes, den Juden mit einem Blick durchbohrend. Er ergriff mit einem heiseren Grunzen das Glas und goß den Rest seines Inhalts in den Kamin. Dann füllte er es aufs neue und trank es aus.

Fagin sah sich im Zimmer um, nicht aus Neugierde, denn er war schon öfters dagewesen, sondern aus Argwohn, wie es ihm zur zweiten Natur geworden war. Es war ein ärmlich möbliertes Gemach, und man sah darin nichts Verdächtiges als ein paar schwere Knüttel in einer Ecke und einen ‚Totschläger‘ auf dem Kaminsims.

„Weshalb bist du gekommen“, fragte jetzt Sikes den Juden.

„Wegen der Villa in Chertsey“, erwiderte dieser leise.

„Nun und – Was weiter?“

„Ach, lhr wißt schon, was ich meine, Bill. Nicht wahr, Nancy, er weiß es recht gut?“

„Nein, er weiß es nicht“, sagte Sikes höhnisch, „oder will es nicht wissen, was auf dasselbe rauskommt. Schleime dich nur ruhig aus und nenne die Dinge beim rechten Namen. Tue doch nicht so, als ob du nicht das Ding ausbaldowert hast!“

„Pst, Bill“, machte Fagin, der sich umsonst bemüht hatte, Sikes Unwillen zu beschwichtigen. „Man wird uns hören, Freundchen, man wird uns hören!“

„Meinetwegen“, erwiderte Sikes, „mir ist’s gleich.“ Er dämpfte aber doch unwillkürlich seine Stimme.

„Nun, es war von mir aus doch nur Vorsicht“, sagte der Jude schmeichelnd, „weiter nichts als Vorsicht. Also was die Villa in Chertsey anbelangt – wann soll es sein, Bill, sprich? – Großartiges Silbergeschirr!“ fügte er händereibend hinzu und seine Augen funkelten beutegierig.

„Gar nicht“, erwiderte Sikes kalt.

„Was, gar nicht?“ wiederholte der Jude in grenzenlosem Erstaunen.

„Gar nicht, wenigstens geht’s nicht so, wie wir dachten.“

„Dann habt Ihr die Sache nicht richtig angefaßt“, meinte Fagin ärgerlich. „Mir könnt Ihr doch nichts erzählen!“

„Ich werde es dir schon erzählen“, entgegnete Sikes höhnisch. „Also, Toby Crackit hat seit ‚vierzehn Tagen alle möglichen Versuche gemacht, einen von der Dienerschaft zu gewinnen.“

„Ihr wollt also sagen“, unterbrach ihn der Jude, „daß keiner der beiden Bedienten überredet werden konnte?“

„Gerade das wollte ich sagen“, antwortete Sikes. „Sie sind schon zwanzig Jahre im Hause der alten Frau und würden’s nicht tun, selbst wenn wir ihnen fünfhundert Pfund bieten würden!“

„Und das weibliche Personal?“ fragte Fagin.

„Auch nicht dran zu denken.“

„Nicht mal durch den schneidigen Toby Crackit? Wie doch die Weiber nun einmal sind!“

„Auch vergeblich, trotzdem er sich einen Backenbart angeklebt und eine schöne gelbe Weste getragen hatte.“

„Er hätte es mit einem Schnurrbart und Soldatenhosen versuchen sollen“, meinte der Jude nach kurzem Besinnen.

„Das hat er auch getan, hatte aber ebensowenig Zweck.“

Fagin machte ein langes Gesicht dazu und versank in tiefes Nachdenken. Dann meinte er seufzend, wenn Crackits Berichte stimmen, müßte man den Plan wohl aufgeben. „Es ist furchtbar traurig, so viel zu verlieren, wenn, man sein Herz daran gehängt hat.“

„Ja“, sagte Sikes, „es ist ein mächtiges Pech.“

Es folgte nun ein langes Schweigen. Der Jude versank in tiefe Gedanken, wobei sein Gesicht den Ausdruck wahrhaft teuflischer Spitzbüberei annahm. Sikes warf ihm von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke zu, während Nancy sich mäuschenstill verhielt und so tat, als hätte sie vom ganzen Gespräch nichts gehört.

„Fagin“, sagte Sikes, plötzlich die Stille unterbrechend, „ist es fünfzig Scheine extra wert, wenn man’s durch Einbruch schafft?“

„Ja!“ sagte der Jude, aufschnellend.

„Gilt’s?“ fragte Sikes.

„Ja, abgemacht“, antwortete Fagin, die Hand des andern drückend. Er strahlte im Gesicht und seine Augen glänzten.

„Dann“, erwiderte Sikes und schob die Hand des Juden verächtlich beiseite, „dann kann es sofort losgehen. Toby und ich sind gestern nacht über die Gartenmauer geklettert und haben die Türen und Fensterläden untersucht. Die Villa ist zwar in der Nacht gut verrammelt, aber es gibt eine Stelle, wo man bequem einbrechen kann.“

„Wo ist denn die Stelle?“ fragte Fagin lebhaft.

„Also, man geht über den Rasenplatz“, flüsterte Sikes, „und –“

„Ja, und –“ unterbrach ibn Fagin mit aufgerissenen Augen, dabei beugte er sich gespannt vor.

„Dann –“, rief Sikes schnell abbrechend, als ihm das Mädchen, fast ohne den Kopf zu bewegen, einen warnenden Blick zuwarf. „übrigens geht dich die Stelle gar nichts an, ohne mich kannst du es doch nicht machen. Wenn man mit dir zu tun hat, muß man verdammt vorsichtig sein.“

„Wie Ihr denkt, mein Lieber. Braucht Ihr keine Hilfe, schafft Ihr beide es allein?“

„Wir brauchen nur noch ein Brecheisen und ’nen Jungen. Das erstere haben wir, den Buben mußt du uns besorgen!“

„Einen Jungen?“ rief der Jude. „Ach, dann geht’s durchg ein Fenster, nicht wahr?“

„Kann dir gleich sein“, erwiderte Sikes. „Der Junge darf aber nicht zu groß sein.“ Nachdenklich fuhr er fort: „Wenn ich nur den Buben des Schornsteinfegers Ned kriegen könnte, der hätte ihn mir billig ausgeliehen. Aber da haben sie den Vater eingespunnt, und mit einemmal kommt solch ein Verein für verlassene Kinder und nimmt den Bengel aus einem Geschäft, wo er Geld verdienen konnte. Man lehrt ihn schreiben und lesen, damit er Handwerker werden kann. Aber so ist ’s“, fuhr Herr Sikes fort, der über diese Ungerechtigkeit immer mehr in Wut geriet „so ist’s, und wenn diese Vereine Geld genug hätten – was aber Gott sei Dank nicht der Fall ist – so würden für unsern Beruf in einigen Jahren kaum ein halbes .Dutzend Jungen übrigbleiben.“

„So viel würden uns kaum bleiben“, stimmte der Jude zu, der während dieser Rede seine Gedanken ganz wo anders hatte und nur die letzten Worte aufschnappte.

„Was ist los?“

Der Jude machte mit dem Kopf ein Zeichen, als wenn es ihm lieb wäre, daß Nancy, die immer noch mit dem Gesicht gegen den Kamin saß, jetzt das Zimmer verließe. Erst zuckte Sikes ungeduldig die Achseln, er hielt diese Vorsicht für unnötig, dann aber forderte er doch Nancy auf, ihm einen Krug Bier zu holen.

„Du brauchst kein Bier“, sagte Nancy, ruhig sitzenbleibend, und schlug die Arme übereinander.

„Ich habe aber Durst!“ erwiderte Sikes.

„Unsinn!“ versetzte das Mädchen gelassen. „Fahrt nur weiter fort, Fagin. Ich weiß, was er sagen will, Bill, vor mir braucht er sich nicht zu genieren!“

Der Jude zögerte, und Sikes guckte verwundert erst Nancy und dann Fagin an.

„Nanu, du wirst dich vor unserer alten Nancy nicht fürchten?“ sagte er schließlich. „Die kennst du doch lange genug, um ihr zu mißtrauen, zum Donnerwetter! Die verpfeift uns nicht, nicht wahr, Mädel?“

„Das sollt‘ ich meinen, Bill!“ erwiderte die junge Dame, dabei rückte sie ihren Stuhl an den Tisch und stützte den Kopf auf die Ellbogen.

„Das schon, mein Lieber. Ich weiß das, aber –“ Fagin hielt inne.

„Aber was?“ fragte Sikes.

„Aber vielleicht kriegt sie wieder einen Rappel, wie neulich“, antwortete der Jude.

Bei diesen Worten brach das Mädchen in ein lautes Gelächter aus und stürzte ein Glas Brandy hinunter. Sie schüttelte den Kopf herausfordernd und sagte, das wäre ja lächerlich. Sie könnten vor ihr ruhig sprechen. „Redet nur ungeniert von Oliver, Fagin.“

Dies schien die beiden Herren zu beruhigen, denn der Jude nahm mit zufriedenem Lächeln seinen Sitz wieder ein, und Herr Sikes folgte seinem Beispiel.

„Die Nancy ist doch ein schlaues Mädel, wie mir selten eines vorgekommen ist“, dabei klopfte ihr der Jude schmunzelnd auf die Schulter. „Sie hat ganz recht, ich wollte tatsächlich von Oliver reden, ha! Ha! Ha!“

„Wieso?“ fragte Sikes.

„Das ist für Euch der Junge, mein Lieber“, erwiderte Fagin, heiser flüsternd. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

„Der?“ rief Sikes aus.

„Den kannst du nehmen sagte Nancy. „Wenigstens ich täte es an deiner Stelle. Er ist vielleicht nicht so abgefeimt wie die anderen, aber das ist ja auch nicht nötig. Er hat ja nur eine Tür aufzumachen, darin ist er zuverlässig, Bill.“

„Stimmt das ist er“, sagte Fagin. „Er ist die letzten Wochen in einer guten Schule gewesen, und es wird Zeit, daß er anfängt, sich sein Brot selbst zu verdienen. Außerdem sind die anderen alle zu groß.“

„Ja, die richtige Figur hat er“ meinte Sikes.

„Und er wird auch alles tun, was ihr verlangt, Bill. Er kann nicht anders, vorausgesetzt daß Ihr ihn gut in Zucht haltet.“

„Daran soll es nicht fehlen, verlaß dich drauf“, entgegnete Sikes. „Macht der Bengel dumme Geschichten, wenn wir bei der Arbeit sind, siehst du ihn lebend nicht wieder, Fagin. Teufel auch! Überlege dir das wohl, ehe du ihn mir schickst.“ Er holte ein schweres Brecheisen unter der Bettstelle vor und schwang es drohend.

„Habe bereits älles überlegt“, sagte der Jude entschieden. „Habe ihn scharf beobachtet. Laßt ihn nur einmal klar werden, daß er einer der Unsrigen ist! Wenn sich der Gedanke in seinem Kopf festgesetzt hat, er sei ein Dieb gewesen, so ist er uns verfallen. Für sein ganzes Leben. Ha! Ha! Es hätte gar nicht besser kommen können.“

Er kreuzte seine Arme über der Brust und wand den Kopf und die Schultern, sozusagen, in einen Knäuel zusammen. Er umarmte sich buchstäblich selber vor Freude.

„Uns verfallen?“ sagte Sikes. „Dir, willst du wohl sagen.“

„Vielleicht stimmt’s, mein Lieber“, sagte Fagin schrill lachend. „Mein also, wenn es Euch so besser gefällt.“

„Und warum“, sprach Sikes grollend, „gibst du dir eigentlich soviel Mühe mit dem Gelbschnabel? Du hast doch die Auswahl unter fünfzig Jungen, die jede Nacht im Hyde Park pennen!“

„Die kann ich nicht gebrauchen“, versetzte Fagin etwas verwirrt. „Sie sind nichts wert, denn wenn sie in Schlamassel geraten, so steht ihnen gleich auf dem Gesicht geschrieben, was sie ausgefressen haben, und sie gehen kapores. Mit Oliver, richtig dressiert, kann man mehr erreichen als mit zwanzig andern. Zudem“, fuhr er gefaßter fort, „hat er uns jetzt in der Hand, wenn er wieder entwischen sollte. Er muß deshalb mit uns in dasselbe Boot. Es ist gleichgültig, wie er dareingekommen ist, aber bleiben muß er. Und ist dies nicht besser, als wenn wir den armen Jungen um die Ecke bringen müßten. Abgesehen davon, daß das gefährlich wäre, würden wir auch dabei verlieren.“

„Wann soll es geschehen?“ fragte Nancy. Sie schnitt dadurch einen heftigen Gefühlsausbruch des Herrn Sikes ab, der die geheuchelte Menschenfreundlichkeit Fagins nicht gut anhören konnte.

„Ja, Bill“, fragte ebenfalls der Jude, „wann soll es sein?“

„Ich habe mich mit Toby auf übermorgen nacht verabredet“, versetzte Sikes mürrisch, „wenn ich ihm nicht noch vorher absage.“

„Schön“, sagte Fagin, „es ist doch kein Mondschein?“

„Nein!‘

„Habt Ihr auch alle nötigen Vorkehrungen zur Fortschaffung der Beute getroffen?“ fragte der Jude.

Sikes nickte.

„Und wegen –“

„Ach, es ist alles in Ordnung“, fiel ihm Sikes ins Wört, „kümmere dich nicht um die Einzelheiten. Bringe den Jungen morgen abend her, eine Stunde nach Tagesanbruch geht’s los. Du hast weiter nichts als das Maul und den Schmelztiegel bereit zu halten. Mehr verlangen wir nicht.“

Nach einigen Hin, und Herreden aller drei wurde beschlossen, daß Nancy am nächsten Abend Oliver von Fagin abholen solle. Dieser meinte nämlich, er würde dem Mädchen lieber als irgendeinem anderen folgen, weil sie neulich so energisch für ihn eingetreten war. Man war sich ferner darüber einig, daß der arme Oliver zum Zwecke der beabsichtigten Unternehmung Herrn William Sikes ohne Vorbehalt übergeben werden solle. Dieser könne nach Gutdünken mit dem Jungen verfahren und wäre nicht verantwortlich für irgendeinen möglichen Unfall oder eine notwendige Züchtigung.

Nach Abschluß dieser Verhandlungen fing Sikes an, ein Glas Brandy nach dem anderen hinunterzustürzen und fuchtelte dabei mit dem Brecheisen in beunruhigender Weise herum. Darauf begann er gemeine Lieder zu singen, die er dann und wann mit wilden Flüchen unterbrach. Endlich bestand er in einem Anfall von Zunftstolz darauf, seine Einbrecherwerkzeuge vorzuführen. Er hatte jedoch kaum den Kasten mit ihnen gebracht und aufgemacht, um die Eigentümlichkeiten der verschiedenen Instrumente auseinanderzusetzen und auf die besondere Schönheit ihrer Konstruktion hinzuweisen, als er zu Boden stürzte und auf der Stelle einschlief.

„Gute Nacht, Nancy“, sagte Fagin und vermummte sich wieder.

„Gute Nacht.“

Ihre Blickt trafen sich, und der Jude faßte sie scharf ins Auge. Doch er fand keinen Anlaß zum Argwohn, denn sie benahm sich ruhig und gelassen. Indem er dem wie tot daliegenden Herrn Sikes noch einen leichten Tritt gab, ging er hinaus und die Treppe hinunter.

„So ist es immer“, brummte der Jude auf dem Nachhauseweg vor: sich hin. „Es ist das schlimmste bei diesen Weibern, daß die unbedeutendste Kleinigkeit in ihnen irgendein längst vergessenes Gefühl wieder weckt – gut ist nur, daß es nie lange währt. Ha! Ha! Der Kerl gegen den Jungen! Ich halte einen Beutel Gold auf den Kerl!“

Mit diesen angenehmen Gedanken beschäftigt, verfolgte Fagin seinen Weg durch Dreck und Nässe, bis er seine Höhle wieder erreichte. Der Gannef war noch wach und erwartete ungeduldig seine Rückkehr.

„Ist Oliver zu Bett? Ich muß ihn sprechen!“ waren des Juden erste Worte, als sie die Treppe hinaufstiegen. „Schon lange“, antwortete der Gannef und öffnete eine Tür. „Hier ist er.“

Der Junge schlief fest auf einer harten Matratze auf dem Fußboden. Angst, Kummer und die lange Gefangenschaft hatten ihm die Blässe des Todes aufgedrückt – des Todes, nicht wie er im Sarge erscheint, sondern wie man ihn wahrnimmt. Wenn das Leben aus dem Körper entflohen ist, und die Seele gen Himmel fliegt, ohne daß die schwere Luft der Erde schon Zeit hatte, den Staub umzuwandeln, den sie heiligte.

„Jetzt nicht“, murmelte der Jude und wandte sich still weg. „Morgen, morgen.“

In dem Oliver Herrn William Sikes übergeben wird

Als Oliver am Morgen erwachte, war er nicht wenig überrascht, statt seiner alten ein Paar neue Schuhe mit starken, dicken Sohlen neben seinem Lager zu finden. Anfangs freute er sich über diese Entdeckung, denn er hoffte, sie wäre die Vorläuferin seiner Erlösung. Er gab diesen Gedanken aber bald auf, als ihm der Jude beim Frühstück mitteilte, daß er am Abend nach Bill Sikes Wohnung gebracht werden solle.

„Muß – muß ich – dort bleiben?“ fragte Oliver ängstlich.

„Nein, Liebling, du sollst nicht dort bleiben“, versetzte Fagin. „Wir möchten dich nicht gern verlieren. Sei unbesorgt, Oliver, du kommst wieder zu uns zurück. Ha! Ha! Ha! So grausam werden wir nicht sein, dich wegzuschicken. O, nein!“

Der alte Mann, der sich über das Kaminfeuer gebückt hatte und eine Brotschnitte röstete, blickte sich bei diesen ironischen Worten um und kicherte, um zu zeigen, er wisse recht wohl, wie gern Oliver weglaufen würde.

„Ich glaube, du möchtest gern wissen“, fuhr Fagin fort, ihn dabei scharf anblickend, „was du bei Bill sollst, nicht wahr?“

Oliver errötete unwillkürlich bei diesen Worten, denn er glaubte, der Alte habe seine Gedanken gelesen. Er erwiderte jedoch dreist:

„Ja, ich möchte es wohl wissen.“

„Nun, was denkst du wohl?“ fragte Fagin ausweichend.

„Weiß es wirklich nicht“, versetzte Oliver.

„Na. dann warte, bis es dir Bill sagen wird.“ Er wandte sich damit mißvergnügt ab, denn er ärgerte sich, daß der Junge keine größere Neugierde verriet.Nach einer Weile sagte der Alte. „Du kannst ein Licht anzünden“ und legte eine Kerze auf den Tisch. „Da ist ein Buch, in dem du lesen magst, bis man dich abholt. Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, sagte Oliver leise.

Der Jude ging auf die Tür zu. Ehe er sie öffnete, sah er sich nach dem Jungen um und rief ihn mit Namen an.

Oliver sah auf; der Jude zeigte auf die Kerze und bedeutete ihm, sie anzuzünden. Der Junge gehorchte und bemerkte, als er den Leuchter auf den Tisch stellte, daß Fagin ihn mit düsteren Blicken betrachtete.

„Nimm dich in acht, Oliver, hüt‘ dich!“ sagte der Alte und hob warnend die rechte Hand hoch. „Er ist ein roher Mensch und scheut kein Blutvergießen, wenn er in Wut ist. Was auch passiert, schweige und tue, was er dir, befiehlt. Denke daran!“ Er sagte die letzten Sätze mit starker Betonung, und sein finsterer Gesichtsausdruck wich einem gräßlichen Grinsen; dann nickte er mit dem Kopf und verließ das Zimmer.

Als Fagin verschwunden war, stützte Oliver seinen Kopf auf die Hand und dachte mit Herzklopfen den eben vernommenen Worten nach. Je mehr er über des Juden Warnung nachsann, desto weniger vermochte er sich den Sinn derselben zu erklären. Er konnte sich nicht denken, daß man Böses gegen ihn im Schilde führe, wenn man ihn zu Sikes schickte. Das hätte man ebenso bequem gehabt, wenn er bei Fagin bliebe. Nach langem Grübeln kam er zu dem Schlusse, daß er dazu bestimmt sei, Sikes so lange als Aufwärter zu dienen, bis ein anderer, besser geeigneter Junge ihn ablösen würde. Er blieb einige Minuten in Gedanken versunken und putzte dann seufzend das Licht. Darauf nahm er das Buch zur Hand, das ihm der Jude gegeben hatte, und fing zu lesen an.

Er blätterte anfangs rein mechanisch in dem Buche, doch wurde bald seine Aufmerksamkeit durch eine Stelle gefesselt, die ihn veranlaßte, eifriger im Lesen fortzufahren. Es waren Schilderungen des Lebens und der Taten großer Verbrecher. Die abgegriffenen, schmutzigen Seiten des Buches ließen darauf schließen, daß es viel studiert worden war. Er las von furchtbaren, das Blut erstarrenden Verbrechen, von geheimen Mordtaten, die an einsamen Wegen begangen wurden, von Leichen, die man in tiefen Abgründen und Brunnen vor den Augen der Menschen verbergen wollte, die aber nicht in ihren Gräbern bleiben konnten, so tief sie auch sein mochten. Die vielmehr nach Jahren wieder zum Vorschein kamen und durch ihren Anblick ihre Mörder so entsetzten, daß sie vor Grausen ihre Schuld bekannten und flehten, man möge sie hinrichten und so die Qual ihres Gewissens endigen. Die entsetzlichen Schilderungen waren so natürlich und lebendig, daß die schmutzigen Blätter sich vom Blute zu röten schienen.

In wahnsinniger Angst klappte der Junge das- Buch zu und warf es in eine Ecke. Dann fiel er auf die Knie und betete zu Gott, er möge ihn vor solchen Taten bewahren und ihn lieber gleich sterben lassen, als ihn für solche entsetzliche Verbrechen aufbewahren. Dann wurde er allmählich ruhiger und betete mit leiser, gebrochener Stimme um Errettung aus den ihn umgebenden Gefahren.

Er war mit seinem Gebet zu Ende, aber noch hielt er das Gesicht mit den Händen bedeckt, als ihn ein Rascheln weckte.

Er fuhr auf, und als er an der Tür eine Gestalt erblickte, rief er:

„Was ist das? Wer ist da ?“

„Ich – ich bin es nur!“ antwortete eine bebende Stimme.

Oliver hob das Licht in die Höhe und erkannte Nancy.

„Stell das Licht wieder hin“, sagte das Mädchen und wandte das Gesicht zur Seite; „es blendet meine Augen.“

Der Junge sah, daß sie sehr blaß war, mitleidig fragte er daher, ob sie krank wäre. Doch ohne zu antworten, warf sie sich auf einen Stuhl, so daß sie Oliver den Rücken kehrte, und rang die Hände.

„Gott verzeihe es mir“. rief sie endlich – „ich habe nie an alles dies gedacht.“

„Ist etwas vorgefallen?“ fragte Oliver. Kann ich Ihnen helfen? Wenn ich kann, will ich’s gerne tun.“

Sie wiegte sich hin und her, faßte sich an die Kehle und schnappte nach Luft.

„Nancy!“,schrie Oliver, „was ist Ihnen?“

Des Mädchens Arme und Beine zuckten wie im Krampf, sie hüllte sich fröstelnd in ihren Schal.

Oliver fachte das Feuer im Kamin zu größerer Glut an, sie rückte ihren Stuhl an den Kamin und saß eine Weile stumm da. Endlich hob sie den Kopf und blickte umher.

„Ich weiß nicht, wie mir zuweilen wird“, sagte Nancy und tat so, als ob sie mit dem Ordnen ihres Kleides beschäftigt sei. „Ich glaube, die dumpfe Luft in dieser Stube ist schuld daran. Nun, Nolly, bist du bereit?“

„Soll ich mit Ihnen gehen?“

„Ja, ich komme. von Bill“, antwortete Nancy.

„Ich will dich zu ihm bringen.“

„Wozu?“ fragte der Junge zurückweichend.

„Wozu?“ wiederholte das Mädchen, indem sie die Augen emporhob, aber schnell wegsah, als sie Olivers Blick begegnete. „Oh, zu nichts Bösem,“

„Das glaube ich nicht“, sagte Oliver, der sie aufmerkosam beobachtet hatte.

„Das kannst du halten, wie du willst“, erwiderte sie mit gezwungenem Lachen. „Also zu nichts Gutem!“

Oliver hatte erkannt, daß das Mädchen zuweilen bessere Regungen hatte und dachte einen Augenblick daran, ihr Mitleid anzuflehen. Dann fiel ihm jedoch ein, daß es kaum elf Uhr sei und mithin wohl noch Leute auf den Straßen sein würden. Von diesen würde der eine oder der andere sicher seiner Erzählung Glauben schenken und ihm helfen. Als ihm dies durch den Kopf flog, ging er auf Nancy zu und sagte hastig, er sei bereit.

Dieser war nicht entgangen, was in seinem Innern vorging und sah ihn, während er sprach, scharf an.

„Pst“, sagte sie, als sie sich über ihn beugte und, vorsichtig um sich blickend, auf die Tür zeigte. „Du kannst dir nicht helfen. Ich habe alles Mögliche deinetwegen versucht, aber vergebens. Du bist von allen Seiten umstellt, und wenn du auch vielleicht einmal loskommst, jetzt ist noch nicht der richtige Augenblick dafür gekommen!“

Betroffen durch die Entschiedenheit in ihrem Benehmen, blickte ihr Oliver verwundert ins Gesicht. Sie schien es aufrichtig zu meinen, sie war blaß und aufgeregt und zitterte stark.

„Ich habe dich schon einmal vor Mißhandlungen geschützt und werde es auch künftig tun, – ich tue es sogar jetzt“, fuhr das Mädchen lauter fort, „denn wenn jemand anders dich geholt hätte, wäre man weit gröber mit dir umgegangen. Ich habe mich für dich verbürgt, daß du ruhig und artig sein würdest. Wenn du mir Schande machst, so wirst du mir und dir schaden, vielleicht an meinem Tode schuld sein. Sieh her! das alles habe ich schon für dich erduldet! So wahr, als Gott sieht, daß ich es dir zeige.“ Sie wies ihm einige blaue Flecken an Hals und Armen vor und fuhr dann hastig fort: „Vergiß das nicht und laß mich deinetwegen nicht noch mehr ausstehen. Wenn ich dir helfen könnte, würde ich es gern tun, aber es steht nicht in meiner Macht. Sie wollen dir kein Leid zufügen, und wozu man dich auch immer zwingen mag – dich trifft keine Schuld. Gib mir die Hand. Schnell, deine Hand!“

Sie ergriff Olivers Hand, die er ihr unwillkürlich reichte, blies das Licht aus und zog ihn die Treppe hinunter. Die Tür wurde von jemand, den man in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, geöffnet und, sobald sie auf der Straße waren, ebenso schnell wieder geschlossen. Vor dem Hause hielt eine Droschke, sie zog ihn hinein und schloß die Fenster. Der Kutscher bedurfte keiner Weisung, sondern fuhr sofort in scharfem Trabe fort.

Nancy hielt Oliver noch immer fest an der Hand und flüsterte ihm weiterhin Warnungen und Versprechungen ins Ohr. Alles war so rasch vor sich gegangen, daß er sich kaum besinnen konnte, wo er wäre und wie er hierher käme. Da hielt auch schon die Droschke vor dem Hause, in dem Sikes wohnte.

Oliver warf einen schnellen Blick auf die leere Straße und ein Ruf um Hilfe schwebte ihm auf den Lippen. Nancys bittende Stimme, sie zu schonen, tönte ihm im Ohr. Er zögerte, und damit war die günstige Gelegenheit verpaßt; er befand sich plötzlich im Hause, das sofort verriegelt wurde.

„Wir sind da“, sagte das Mädchen, zum erstenmal seine Hand loslassend. – „Bill!“

„Hallo“, antwortete dieser, der mit einem Licht oben an der Treppe erschien. „Ihr kommt zur rechten Zeit! Nur herein!“

Das war für einen Menschen von Sikes‘ Temperament eine ungewöhnlich herzliche Begrüßung, und Nancy war darüber augenscheinlich sehr vergnügt.

„Tom hat den Hund mitgenommen“, bemerkte Sikes, während er leuchtete, „er wäre uns im Wege gewesen.“

„Das ist gut“, erwiderte Nancy.

„Du hast also den Bengel“, sagte Bill, die Tür schließend, nachdem sie ins Zimmer getreten waren.

„Ja, hier ist er“, antwortete Nancy.

„Ging er ruhig mit?“ fragte Sikes.

„Wie ein Lamm“, entgegnete das Mädchen.

„Freut mich zu hören“, sagte Sikes, Oliler drohend anblickend, „es wäre ihm sonst auch schlecht ergangen. Komm her, Junge, ich muß dir eine Vorlesung halten, je eher, desto besser!“

Mit diesen Worten riß Sikes seinem neuen Zögling die Mütze vom Kopfe und warf sie in eine Ecke. Dann setzte er sich an den Tisch und rief Oliver zu sich heran.

„Weißt du, was das ist?“ fragte Sikes, eine Pistole ergreifend, die auf dem Tische lag.

Oliver bejahte.

„Nun denn, guck her! Dies ist Pulver, dies eine Kugel und dies ein Pfropfen.“

Oliver flüsterte, daß er das alles begreife.

Nun lud Herr Sikes die Pistole mit großer Umständlichkeit und sagte dann:

„So, jetzt ist sie geladen.“

„Ja, ich sehe es“, sprach Oliver, am ganzen Leibe zitternd.

„Nun“, fuhr der Räuber fort und setzte den Lauf der Pistole an Olivers Schläfe. Dieser konnte einen Angstschrei nicht unterdrücken. „Wenn du auf der Straße das Maul auftust, ohne gefragt zu sein, kriegst du die Kugel in den Hirnkasten. Hast du dir also vorgenommen, ohne Erlaubnis zu reden, so sprich erst vorher dein letztes Gebet. Soviel ich weiß, wird sich keiner viel nach dir erkundigen, wenn du in dieser Weise erledigt bist. Wenn ich mir die Mühe machte, dir dies auseinanderzusetzen, so geschah es nur zu deinem eigenen Besten. Hast du mich verstanden?“

„Du willst mit kurzen Worten sagen, Bill“, nahm jetzt Nancy das Wort und sah dabei Oliver bedeutungsvoll an, „daß du ihm durch eine Kugel in den Kopf das Ausplaudern verleiden willst, falls er dir einen schlimmen Streich spielt. Selbst auf die Gefahr hin, dafür gehängt zu werden. Eine Gefahr, die du ja täglich wegen vieler anderer Dinge in deinem Berufsleben auf dich nimmst.‘

„Ganz recht“, bemerkte Sikes beifällig. „Die Weiber können doch immer alles in die kürzesten Worte fassen, ausgenommen, wenn sie zanken, denn da können sie kein Ende finden. Und nun, da er Bescheid weiß, kannst du uns etwas zu essen geben. Nachher wollen wir noch ein bißchen pennen, ehe wir aufbrechen.“

Dieser Aufforderung nachkommend, deckte Nancy schnell den Tisch und holte eine Schüssel Hammelfleisch und einen Krug Bier aus der Küche. Als das Abendessen beendet war, goß Herr Sikes noch ein paar Gläser Brandy hinter die Binde und befahl Nancy, ihn Punkt fünf Uhr zu wecken. Dann warf er sich auf sein Lager. Oliver legte sich, dem Befehle seines neuen Herrn gehorchend, ohne sich auszuziehen, auf eine Matratze neben Sikes‘ Bett. Nancy blieb vor dem Kamin sitzend, wach, um die beiden zur bestimmten Zeit zu wecken.

Oliver glaubte, das Mädchen würde ihm vielleicht noch einige Ratschläge zuflüstern, sie rührte sich aber nicht. So schlief er endlich ein.

Als er erwachte, stand eine Teekanne auf dem Tisch, und Nancy war eifrig mit der Bereitung des Frühstücks beschäftigt. Sikes war dabei, verschiedene Sachen in die Taschen seines über einer Stuhllehnie hängenden Mantels zu stecken. Der Tag war noch nicht angebrochen; die Kerze brannte noch; draußen war dunkle Nacht. Ein starker Regen schlug gegen die Fensterscheiben., und der Himmel sah schwarz und wolkig.aus.

„Nun“, brummte Sikes, als Oliver aufsprang, „bereits halb sechs! spute dich oder du kriegst kein Frühstück mehr. Es ist schon spät.“

Nachdem der Junge ein wenig gefrühstückt hatte, band ihm Nancy ein Halstuch um, und Sikes hing ihm einen großen, groben Mantelkragen über die Schultern. Sikes ergiff ihn nun bei der Hand und zeigte ihm mit drohender Gebärde, daß die Pistole in einer Seitentasche seines Mantels stecke. Nachdem er sich kurz von Nancy verabschiedet hatte, zog er Oliver mit sich fort.

Dieser wandte sich an der Tür einen Augenblick um, in der Hoffnung, von dem Mädchen noch einen Blick zu erhaschen, doch Nancy hatte ihren Platz vor dem Kamin wieder eingenommen und rührte sich nicht.

Unterwegs

Der Morgen war unfreundlich, als sie auf die Straße traten. Es regnete in Strömen und düstere Wolken bedeckten den Himmel. Auf den Straßen standen große Pfützen, und die Rinnsteine flossen über. Alles schien in diesem Stadtteil noch in den Federn zu sein, denn die Fensterläden waren überall fest geschlossen und die Straßen öde und leer.

Als sie in die Bethnal Greenstraße gelangten, schien der Tag erst wirklich anzubrechen. Die Wirtshäuser, in denen die Gaslampen noch brannten, waren bereits geöffnet. Allmählich machten auch die anderen Läden auf, und hin und wieder begegnete man Menschen. Je näher sie der City kamen, desto mehr nahm der Lärm und das Geschäftsgewühl zu. Es war nun so hell, wie es an einem solchen trüben Tage sein konnte. Sie kamen nach länger Wanderung nach Holborn.

„Junge“, sagte Sikes mit einem Blick auf die Uhr der Andreaskirche, „beinahe sieben Uhr. Du mußt schneller ausschreiten, Faulpelz.“ Er riß ihn mit sich fort. Auf der Straße nach Kensington holten sie einen leeren Karren ein, und Sikes fragte den Kutscher mit so viel Höflichkeit, als ihm zu Gebote stand, ob er sie in Richtung Isleworth mitnehmen wolle. Der Kärrner bejahte, und sie fuhren bis Brentford mit, wo Sikes mit Oliver abstieg. Sie schlugen einen Seitenweg ein und erreichten Hampton. Dort kehrten sie in einer kleinen Gastwirtschaft ein und ließen sich kaltes Fleisch geben. Als sie damit fertig waren, zündete sich Sikes eine Pfeife an, so daß Oliver glaubte, die Reise ginge nicht weiter. Da er von dem vielen Laufen sehr müde war, verfiel er in einen tiefen Schlaf.

Es war dunkel, als er durch Sikes wieder wach gerüttelt wurde. Sie machten sich nun auf den Weg und kamen nach Shepperton. Da bemerkte Oliver, daß gerade unter ihnen Wasser rauschte und sie bei einer Brücke angelangt waren. Sikes bog links zum Ufer hinab.

„Ach, das Wasser!“ dachte Oliver, vor Furcht fast vergehend. „Er hat mich an diesen einsamen Platz gebracht, um mich umzubringen!“

Er war gerade im Begriff, sich niederzuwerfen und verzweifelt um sein Leben zu kämpfen, als er sah, daß sie vor einem einsamen, verfallenen Hause standen. Es war dunkel und scheinbar unbewohnt.

Sikes, der dauernd Oliver an der Hand hielt, näherte sich leise der niedrigen Tür und drückte auf die Klinke. Diese wich dem Drucke, und sie traten ein.

Der Einbruch

„Hallo!“ rief eine laute, aber heisere Stimme, als sie den Fuß in den Hausflur setzten.

„Mach nicht solchen Radau“, sagte Sikes, die Tür verriegelnd. „Bring eine Funzel, Toby!“

„Aha, mein Kumpel“, sagte dieselbe Stimme. „Eine Kerze, Barney, eine Kerze! Führe den Herrn hinein, Barney. Wache aber vorher auf, wenn’s dir recht ist!“

Der Sprecher schien einen Stiefelknecht oder einen ähnlichen harten Gegenstand nach der angeredeten Person zu werfen, um ihn aus dem Schlafe zu wecken, denn man hörte etwas Schweres zu Boden fallen und kurz darauf ein undeutliches Brummen, wie das eines aus dem Schlaf gestörten Menschen.

„Hörst du nicht?“ rief dieselbe Stimme, „Bill Sikes ist da, und du pennst, als ob du Opium genommen hättest oder noch Stärkeres! Nun, wird’s bald? – oder muß ich den Feuerhaken gebrauchen, um dich ganz munter zumachen?“

Ein Paar bepantoffelte Füße schlürften jetzt hastig über den Fußboden, und aus einer Tür zur Rechten tauchte erst ein schwaches Licht und dann die Gestalt desselben Individuums auf, das wir von dem Wirtshaus zu Saffron-Hill her kennen.

„Ah, Herr Sikes“, rief Barney mit wahrer oder erheuchelter Freude. „Willkommen, Herr!“

„Marsch“, sagte Sikes jetzt zu Oliver. „Vorwärts, oder ich trete dir die Hacken ab.“

Mit einem Fluch über die verwünschte Langsamkeit des Jungen.stieß er Oliver in ein niedriges, dunkles Zimmer. Dort lag auf einem furchtbar schmutzigen Bett ein Mann lang ausgestreckt und rauchte aus einer langen Tonpfeife. Herr Crackit, denn dieser war es, besaß nicht viel Haare. Weder auf dem Kopfe, noch im Gesicht; die wenigen aber, die er hatte, waren von rötlicher Farbe und in Locken gedreht. Er war etwas über Mittelgröße und augenscheinlich schwach auf den Beinen.

„Bill, mein Junge“, sagte er, den Kopf nach der Seite drehend, „freue mich, dich zu sehen. Ich fürchtete schon, du hättest die Sache aufgegeben, dann hätte ich die Geschichte auf eigene Faust unternommen. Nanu, wer ist denn das?“

„Das ist der Junge!“ versetzte Sikes und schob einen Stuhl vor den Kamin.

„Einer von Figins Buben?“ fragte Barney mit höhnischem Grinsen.

„Ach so – von Fagin“, sagte Toby und musterte Oliver aufmerksam. „Ein Prachtjunge für die Taschen der alten Weiber in der Kirche. Sein Ponim ist so gut wie ein Kapital.“

„Ach, laß das“, sagte Sikes ungeduldig und flüsterte seinem Freunde einige Worte ins Ohr. Herr Crackit brach darauf in lautes Lachen aus und beehrte Oliver mit einem langen Blick der Verwunderung.

„Nun“, meinte Sikes, indem er Platz nahm, „wenn ihr für uns etwas zu essen und zu trinken habt, her damit. Es wird uns Mut machen, mir wenigstens. Setz dich ans Feuer, Junge, und ruhe dich aus. Du mußt heute nacht mit, weit ist es zwar nicht.“

Oliver sah ihn schüchtern und verwundert an, rückte einen Schemel an den Kamin und verbarg seinen schmerzenden Kopf in den Händen. Er wußte kaum, wo er war und was um ihn vorging.

„Da“, sagte Toby, als der Judenjüngling etwas Essen und eine Brandyflasche auf den Tisch stellte. „Auf glückliches Gelingen!“

Er stand dem Trinkspruch zu Ehren auf, stellte die ausgerauchte Pfeife behutsam in eine Ecke, trat an den Tisch und füllte ein Weinglas mit Brandy. Er hob es hoch und trank es mit einem Zuge aus. Herr Sikes tat das gleiche.

„Einen Tropfen für den Jungen“, fuhr Toby fort und goß das Glas halb voll. „Hinunter damit, du Unschuld vom Lande!“

„Ich weiß nicht“, stotterte Oliver mit kläglichem Gesicht, „habe noch nie –“

„Hinunter damit!“ wiederholte Toby. „Denkst du vielleicht, ich weiß nicht, was dir gut ist? Sag du ihm, daß er trinkt, Bill!“

„Es wäre gut, wenn er’s täte“, sprach Sikes drohend.

„Hol mich der Teufel, man hat mit dem Jungen mehr Mühe als mit einer ganzen Familie Gannoven. Sauf, du Teufelsbraten!“

Eingeschüchtert durch die drohenden Gebärden der beiden, schluckte Oliver den Inhalt hastig hinunter und mußte gleich darauf furchtbar husten. Darob brachen Toby und Barney in ein lautes Gelächter aus, und selbst der mürrische Herr Sikes verzog den Mund zu einem Lächeln. . Als Sikes seinen Hunger gestillt hatte, denn Oliver konnte weiter nichts als eine Brotrinde essen, die man ihm aufzwang, legten sich die beiden Männer zu einem kurzen Schlafe nieder. Oliver blieb auf seinem Schemel beim Kamin sitzen, während sich Barney, in eine Decke gehüllt, vor dem Kamin auf den Boden ausstreckte.

Um halb zwei Uhr sprang Toby Crackit auf und sagte, es wäre Zeit.

Im Nu waren alle auf den Beinen. Sikes und sein Kumpel vermummten Hals und Kinn mit schwarzen Tüchern und zogen ihre weiten Mäntel an. Barney öffnete einen Schrank und entnahm ihm verschiedene Gegenstände, die er eilig in ihre Taschen verpackte. Nachdem Sikes sich überzeugt hatte, daß von ihren Einbrecherwerkzeugen nichts fehlte, nahm er und Toby einen tüchtigen Knüttel in die Hand und hängte Oliver den Mantelkragen wieder um.

„Nun los!“ sagte Sikes und streckte seine Hand aus.

Oliver reichte ihm mechanisch die seinige.

„Nimm ihn bei der anderen Hand, Toby“, fuhr Sikes fort. „Barney, sieh draußen nach!“

Dieser ging hinaus und kam mit der Nachricht zurück, daß alles ruhig sei. Die beiden Einbrecher verließen nun mit Oliver in ihrer Mitte das Haus. Es war pechschwarze Nacht. Sie gingen über die Brücke und waren bald in Chertsey.

„Tippeln wir schon durch die Stadt“, flüsterte Sikes. „In dieser Nacht wird niemand unterwegs sein, der uns beobachten könnte.“

Toby war einverstanden, und so schritten sie hastig durch die Hauptstraße der kleinen Stadt, die zu so später Stunde ganz verödet war. Um zwei Uhr hatten sie das Städchen im Rücken. Sie gingen nun schneller und bogen in einen Weg ein, der nach links führte. Nach zehn Minuten machten sie vor einer Villa halt, die von einer Mauer umgeben war und welche Toby sofort erklomm.

„Jetzt den Jungen!“ sagte Toby. „Reiche ihn mir herauf.“

Ehe Oliver sich’s versah, hatte ihn Sikes hochgehoben und im nächsten Augenblicke lag er neben Toby auf der anderen Seite der Mauer im Grase. Sikes folgte gleich darauf, und dann schlichen sie vorsichtig dem Hause zu. Jetzt wurde es dem armen Jungen, der vor Angst und Schrecken fast wahnsinnig war, zum erstenmal klar, daß die beiden Halunken auf Raub und Einbruch, wenn nicht gar auf Mord ausgingen. Er schlug dit Hände zusammen und seinen Lippen entfloh unwillkürlich ein Ausruf des Entsetzens. Seine Augen umflorten sich, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, er wankte und sank in die Knie.

„Steh auf!« knirschte Sikes wutbebend. „Steh auf, oder ich jage dir eine Kugel durch den Kopf.“ Damit zog er seine Pistole aus der Tasche.

„Ach, um Gotteswillen, lassen Sie mich doch gehen“, schrie Oliver, „lassen Sie mich doch Iaufen. Ich will nie wieder nach London kommen, niemals! Ach, seien Sie doch barmherzig und zwingen Sie mich nicht zum Stehlen! Haben Sie doch Erbarmen!“

Sikes.stieß einen fürchterlichen Fluch aus und spannte den Hahn der Pistole. Toby schlug sie ihm aber aus der Hand und hielt Oliver den Mund zu. Dann zog er ihn fort nach dem Hause hin. Er sagte:

„Pst! Zum Bitten ist jetzt keine Zeit. Wenn du noch einmal die Schnauze aufreißt, kriegst du eins auf den Schädel. Das ist ebenso gut und macht keinen Lärm. – Komm, Bill, brich den Fensterladen auf. Ich wette, daß der Junge jetzt gehorcht. Hab‘ schon ältere und erfahrenere Burschen gesehen, die in solcher Lage mit einemmal die Hosen voll hatten.“

Sikes rief schreckliche Verwünschungen auf Fagins Haupt herab, daß er ihm zu einem solchen Unternehmen einen Jungen wie Oliver geschickt hatte. Er setzte geräuschlos das Brecheisen an, und mit Tobys Beistand war in kurzer Zeit der Fensterladen erbrochen.

Es war ein kleines Gitterfenster an der Hinterseite des Hauses, etwa fünf Fuß über der Erde. Die Öffnung war zwar klein, aber doch groß genug, um einen Jungen von Olivers Größe durchzulassen. Dank Sikes‘ Geschicklichkeit war das Gitter schnell ausgebrochen und kein Hindernis mehr vorhanden.

„Nun paß auf, kleiner Strolch“, flüsterte Sikes, indem er eine Blendlaterne aus der Tasche zog, „ich steck‘ dich jetzt durchs Fenster. Dann gehst du mit der Laterne die Treppe herauf und über den Flur zur Haustür. Die machst du auf und läßt uns herein!“

„Oben an der Tür ist ein Riegel vor, an den du wahrscheinlich nicht herankannst“, fiel Toby ein. „Du mußt daher auf einen Stuhl klettern, es sind ihrer drei im Flur.“

Er stellte sich nun unter das Fenster, den Kopf gegen die Wand gestemmt. Die Hände hatte er auf die Knie gestützt, so daß man über seinen Rücken wegklettern konnte.

Dies tat Sikes sofort und steckte Oliver, mit den Füßen voran, sachte durchs Fenster.

„Nimm die Laterne“, flüsterte Bill. „Siehst du die Treppe da vor dir?“

Oliver, mehr tot als lebendig, hauchte „Ja!“ Sikes deutete mit dem Pistolenlaufe nach der Haustür und sagte, daß er ihn für den Fall des geringsten Zögerns sofort erschießen würde. Seine Kugel träfe sicher.

„In einer Minute kannst du es gemacht haben“, flüsterte Sikes, „Horch!“

„Was ist los?“ fragte Toby.

Sie lauschten gespannt.

„Nichts!“ sagte Sikes. „Nun vorwärts, Oliver!“

Der Junge hatte sich inzwischen gesammelt und war fest entschlossen, die Treppe hinaufzurennen und Lärm zu schlagen, selbst wenn es ihm das Leben gekostet hätte. Von diesem Gedanken erfüllt, schlich er leise vorwärts.

„Komm zurück!“ schrie Sikes plötzlich laut. „Zurück, zurück!“

Erschreckt durch diese plötzliche Unterbrechung der Totenstille und einen darauffolgenden lauten Schrei, ließ Oliver die Laterne fallen und wußte nicht, ob er weitergehen oder fliehen solle.

Das Geschrei wiederholte sich – ein Licht erschien – die Gestalten von zwei bestürzten, halb angekleideten Männern oben auf der Treppe schwammen vor seinen Augen – ein Blitz -ein Knall – Rauch – ein Krachen, er wußte nicht wo –, dann taumelte er zurück.

Sikes war auf einen Augenblick verschwunden, aber nur für einen Augenblick, denn noch ehe der Rauch verzogen war, hatte er Oliver am Kragen. Er feuerte seine Pistole auf die sich zurückziehenden Männer ab und zog ihn durchs Fenster.

„Halte dich fester an mich“, sagte Sikes. „Toby, ein Halstuch – schnell. Sie haben ihn getroffen. Donnerwetter, wie der Junge blutet!“

Oliver hörte noch verschwommen lautes Geklingel, vermischt mit dem Knall von Gewehrschüssen und dem Geschrei von Menschen. Dann fühlte er sich rasch fortgetragen. Nach und nach erstarb der Lärm in der Ferne, eine tödliche Kälte durchschauerte ihn – er war bewußtlos geworden.

Welches das Wesentliche einer anmutigen Unterhaltung zwischen Herrn Bumble und einer Dame enthält und zugleich offenbart, daß auch ein Gemeindediener für manche Sachen empfänglich sein kann

Es war ein bitterkalter Abend, und der Schnee lag fußhoch. Es war ein Abend, an dem jeder, der ein Heim hat, sich dicht an das flackernde Kaminfeuer drängt und Gott dankt, daß er zu Hause ist – eine Nacht, wo die Unglücklichen ohne Heim und Obdach nichts Besseres tun können, als sich hinzulegen und zu sterben.

So sah es draußen aus, als Frau Corney, die Hausmutter der Armenanstalt, wo Oliver Twist das Licht der Welt erblickte, sich in ihrem kleinen Zimmer an den Kamin setzte., in dem ein lustiges Feuer prasselte, und wohlgefällig den kleinen runden Tisch überschaute. Sie war nämlich im Begriff, sich an einer Tasse Tee zu letzen; und als sie ihren Blick wieder dem Feuer zuwandte, wo der kleinste aller nur erdenklichen Teekessel sein lustiges Lied sang, wuchs ihre innere Zufriedenheit in einem solchen Maße, daß sie vergnügt lächelte.

„Nun“, sprach die würdige Dame vor sich hin, indem sie ihren Ellbogen auf den Tisch stützte und sinnend ins Feuer sah, „gewiß haben wir alle große Ursache, Gott dankbar zu sein, wollten wir es nur einsehen.“

Frau Corney schüttelte traurig den Kopf, als ob sie die Geistesblindheit der Armen beklage, die es nicht erkannten, fuhr dann mit einem silbernen Löffel (Privateigentum!) in eine zinnerne Teebüchse und begann den Tee zu bereiten.

Was für geringfügige Anlässe nicht die Ruhe schwacher Gemüter stören können! Der schwarze kleine Teetopf lief über, während Frau Corney in diesen moralischen Betrachtungen versunken war, und das Wasser verbrühte ein wenig ihre Hand.

„Verwünschter Topf“, sagte sie und setzte ihn hastig nieder, „das dumme Ding hält nur ein paar Tassen. Ach, du lieber Himmel!“

Der kleine Teetopf und die einzelne Tasse hatten in ihrer Seele traurige Erinnerungen an Herrn Corney geweckt, der noch nicht länger als fünfundzwanzig Jahre tot war. Eine tiefe Rührung bemächtigte sich ihrer.

„Ich bekomme nie wieder einen solchen Mann“, sagte sie mißmutig. „Nie wieder einen wie er.“

Sie kostete gerade die erste Tasse Tee, als leise an die Tür geklopft wurde.

„Nur herein!“ rief Frau Corey ärgerlich. Wahrscheinlich will wieder eines von den alten Weibern sterben, denn die sterben immer, wenn ich beim Essen bin. Bleibt nicht in der Tür stehen, es kommt kalt herein. Was ist denn los?“

„Nichts, gar nichts“, antwortete eine männliche Stimme.

„Ach, du meine Güte“, rief die Matrone schon freundlicher, „sind Sie’s, Herr Bumble?“

„Zu Diensten“, erwiderte dieser und trat, seinen Dreispitz in der einen und ein Bündel in der andern Hand, ins Zimmer. „Soll ich die Tür schließen?“

Die Dame zögerte verschämt mit der Antwort. Es hätte als unschicklich angesehen werden können, wenn sie mit Herrn Bumble bei geschlossener Tür geplaudert hätte. Dieser benutzte das Zaudern und machte die Türe zu, ohne weitere Erlaubnis abzuwarten.

„Schlechtes Wetter, Herr Bumble“, sagte die Matrone.

„In der Tat, sehr schlecht“, erwiderte dieser, „besonders für die Gemeinde! Wir haben heute nachmittag zwanzig Brote und anderthalb Käse verteilt, Frau Corney, und doch sind die Armen nicht zufrieden.“

„Wann wären sie es je“, entgegnete die Dame, behaglich ihren Tee schlürfend.

„Wann? Sie haben recht. Da ist ein Mann, der in Anbetracht seiner großen Familie ein Brot und ein ganzes Pfund Käse erhielt. Glauben Sie wohl, daß er sich dafür bedankt hat? Jawohl, um Kohlen hat er noch gebeten, wenn es auch nur ein Taschentuch voll wäre, sagte er. Kohlen! Was will er mit Kohlen? Wahrscheinlich seinen Käse damit rösten und dann wiederkommen und mehr erbetteln! So machen’s diese Leute, Frau Corney.“

Die hielt mit ihrem Unwillen nicht zurück.

»Vorgestern kam ein Mann“, fuhr Bumble fort, „sie waren ja verheiratet, also kann ich’s sagen – der kaum ein Hemd auf dem Leibe hatte, (Frau Corney schlug verschämt die Augen nieder) an die Tür unseres Direktors, als dieser gerade eine Mittagsgesellschaft hatte. Er bat um Unterstützung. Der Direktor ließ ihm ein Pfund Kartoffeln und ein halbes Pfund Hafermehl geben. ‚Mein Gott‘ sagte der Undankbare, ‚was soll ich damit. Sie hätten mir ebensogut ein Brille geben können!‘ ‚Schön‘,versetzte unser Direktor und nahm die Gabe wieder an sich, ‚dann .werdet Ihr gar nichts kriegen‘ – ‚So werde ich auf offener Straße sterben‘, erwiderte der Landstreicher – ‚Das werdet Ihe Euch noch überlegen‘, meinte der Direktor.“

„Ha! Ha! Das war gut. Das sieht Herrn Grannett ähnlich! Und was geschah weiter?“

„Was geschah?“ wiederholte Bumble. „Er ging weg und starb tatsächlich auf der Straße. Was sagen Sie zu solchem Eigensinn?“

„Unglaublich! Aber halten Sie eine Unterstützung außer dem Hause nicht für direkt zwecklos? Sie sind ein Mann von Erfahrung und müssen das wissen.“

„Nein, Frau Corney“, sagte der Gemeindediener überlegen, „Unterstützung außer dem Hause richtig angewandt – wohlgemerkt, richtig angewandt –, ist für die Gemeinde das Beste. Man befolgt dabei den Grundsatz, den Armen gerade das zu geben, was sie nicht brauchen. Es wird ihnen dann über, wiederzukommen. – Doch das sind Amtsgeheimnisse, so etwas dürfen wir nur unter uns Gemeindebeamten laut werden lassen!“

Er fing jetzt an sein Bündel auszupacken und sagte:

„Hier ist Portwein, den der Vorstand für die Kranken bewilligt hat, echter Portwein, glockenklar, ohne den geringsten Bodensatz.“

Er stellte die beiden mitgebrachten Flaschen auf die Kommode und wollte sich verabschieden. Frau Corney fragte nun verschämt, ob sie ihm nicht ein Täßchen Tee anbieten dürfe. Herr Bumble legte Hut und Stock auf einen Stühl und rückte einen andern an den Tisch. Während er sich langsam niederließ, blickte er die Matrone an. Sie hatte ihre Augen auf den kleinen Teetopf geheftet. Herr Bumble hustete und verzog sein Gesicht zu einem Lächeln.

Frau Corney holte eine zweite Tasse aus dem Schrank, und als sie sich wieder setzte, begegneten ihre Augen denen des galanten Gemeindedieners. Sie errötete und machte sich an dem Teetopf zu schaffen. Herr Bumble hustete abermals.

„Süß?“ fragte die Matrone und nahm die Zuckerdose in die Hand.

„Sehr süß, bitte.“

Er sah dabei Frau Comey zärtlich an, soweit ein Gemeindediener zärtlich blicken kann.

„Sie haben eine Katze, wie ich sehe, und auch ein Kätzchen“, plauderte Herr Bumble.

„Sie können gar nicht glauben, Herr Bumble, wie gern ich diese Tierchen habe“, entgegnete die Matrone.

„Niedliche Dingerchen“, sagte Herr Bumble beistimmend, „und so ans Haus gewöhnt.“

„O ja“ sagte die Dame, „sie sind zu gerne bei mir, und ich habe sie so lieb.“

„Frau Corney“, sagte Bumble feierlich, „ich muß sagen, eine Katze, die bei Ihnen lebt und Sie nicht liebhat, muß ein rechter Esel sein.“

„Ach, Herr Bumble“, sagte sie mit verweisendem Ton.

„Warum soll man nicht reden dürfen, wie es einem ums Herz ist. – Eine solche Katze würde ich mit Vergnügen ersäufen.“

„Dann sind Sie ein hartherziger Mensch.“

„Hartherzig?“ wiederholte Bumble und rückte seinen Stuhl näher. „Sind Sie hartherzig, Frau Corney?“

„Mein Gott, was ist das für eine komische Frage von einem ledigen.Manne! Warum wollen Sie das wissen?“

Herr Bumble trank seinen Tee bis zum letzten Tropfen aus, wischte sich die Lippen ab und brachte der Matrone bedächtig einen Kuß bei.

„Herr Bumble!“ rief die zartfühlende Dame – aber nur ganz leise, denn sie hatte vor Schreck fast die Stimme verloren, „Herr. Bumble, ich werde schreien.“

Dieser gab keine Antwort, sondern schlang langsam und würdevoll seinen Arm um den Leib der Matrone.

Da Frau Corney erklärt hatte, sie werde schreien, so hätte sie es auch sicher getan, wenn nicht ein Klopfen an die Tür eine solche Anstrengung überflüssig gemacht hätte. Herr Bumble sprang hastig auf und fing mit großem Eifer an, die Portweinflaschen abzustauben, während die Matrone mit scharfer Stimme „Herein!“ rief.

Eine abschreckend häßliche, alteArmenhäuslerin steckte den Kopf durch die Tür und sagte: „Ich bitte um Verzeihung, Frau Corney, die alte Sally liegt im Sterben.“

„Was geht mich das an?“ sagte die Matrone.ärgerlich, „kann ich es ändern, wie?“

„Nein“, sagte die alte Frau, „niemand kann das. Menschliche Hilfe kann ihr nichts mehr nützen. Aber sie hat noch etwas auf dem Herzen, so sagt sie, sie habe Ihnen noch etwas anzuvertrauen und könne nicht ruhig sterben, bis sie es Ihnen gesagt habe.“

Nun fing die würdige Frau Corney an, mächtig auf die alten Weiber zu schimpfen, die nicht mal sterben könnten, ohne ihre Vorgesetzten absichtlich zu belästigen. Sie wickelte sich in einen dicken Schal und bat Herrn Bumble zu bleiben, bis sie wiederkäme. Dann ging sie mit der alten Frau keifend aus dem Zimmer.

Als Herr Bumble allein war, benahm er sich auf eine ziemlich eigentümliche Weise. Er öffnete den Schrank und zählte die Teelöffel, wog die Zuckerzange in der Hand, dann prüfte er eine silberne Milchkanne auf ihre Echtheit. Nachdem er so seine Neugierde befriedigt hatte, setzte er seinen Dreispitz schief auf den Kopf und tanzte etlichemal mit vielem Anstand um den Tisch herum. Nach dieser Tanzaufführung nahm er seinen Hut wieder ab und lehnte sich gegen den Kamin.Er schien im Geiste eine Bestandaufnahme von dem im Zimmer befindlichen Mobiliar zu machen.

Handelt von einem äußerst armen Geschöpf

Das arme Weib, das Frau Corney in ihrer Bequemlichkeit gestört hatte, war keine unpassende Todesbotin. Ihr Körper war unter der Last der Jahre gekrümmt, alle ihre Glieder zitterten, und ihr durch einen Schlaganfall schiefgezogenes Gesicht glich mehr der grotesken Schöpfung eines phantastischen Malers, als einem Werke aus den Händen der Natur.

Ach, wie selten trifft man bei alten Leuten Gesichter, die uns durch ihre Schönheit erfeuen. Die Sorgen und die Leiden der Welt ändern sowohl das Antlitz als auch die Herzen.

Die alte Frau humpelte durch die Gänge und über die Treppen, bis sie erschöpft stehenblieb und Frau Corney das Licht in die Hand gab mit dem Bemerken, sie käme nach, sobald sie könne. Die Matrone ging nun rasch dem Zimmer zu, wo die Sterbende lag.

Es war eine kalte Bodenkammer, in der ein düsteres Licht brannte. Neben dem Krankenbette saß eine alte Frau, während der Lehrling des Armenhausapothekers am Kamin stand und sich aus einer Federpose einen Zahnstocher schnitt.

„Es ist heute abend kalt, Frau Corney“, sagte der Jüngling, als die Matrone eintrat.

„Sehr kalt, in der Tat“, versetzte die Dame sehr höflich und neigte den Kopf.

„Sie sollten von Ihrem Lieferanten bessere Kohlen fordern“, sagte der Apothekerlehrling, „diese taugen nichts.“

„Das ist Sache des Vorstandes. Das wenigste, was er tun könnte, wäre freilich, für ein warmes Zimmer zu sorgen, denn unser Amt ist schwer genug.“

Hier unterbrach ein Stöhnen der kranken Frau das Gespräch.

„Ach“, sagte der junge Mann und schaute nach dem Bette hin, „mit der ist es bald vorbei.“

„Ist’s schon so weit?“

„Würde mich wundern, wenn sie’s noch ein paar Stunden machte. – Hallo, schläft sie, Alte?“

Die Wärterin beugte sich über das Bett und sah nach, dann nickte sie. Plötzlich richtete sich jedoch die Kranke. auf und streckte die Arme nach der Wärterin aus.

„Wer ist das?“ fragte sie diese mit hohler Stimme.

Der Apothekerlehrling schlich auf den Zehenspitzen aus dem Zimmer.

„Leg dich wieder hin“ sagte die Wärterin.

„Nein, nein, ich will es ihr sagen. Kommen Sie hier her. Näher. Ich werde es Ihnen ins Ohr flüstern.“

Frau Corney setzte sich auf einen Stuhl an Ihrem Bette.

„Schicken Sie die Wärterin fort, geschwinde!“ sagte die Kranke, und jene verließ das Zimmer.

„Nun hören Sie mich an“, sagte die Sterbende so laut, als es ihre schwindenden Kräfte gestatteten. „In diesem Zimmer – ja, sogar in diesem Bette lag einst ein hübsches, junges Geschöpf. Es wurde mit wunden Füßen, staub- und schmutzbedeckt ins Haus gebracht. Sie gab in meiner Anwesenheit einem Knaben das Leben und starb. Ich will mal nachdenken – in welchem Jahr war es doch?“

„Das tut nichts zur Sache“, versetzte die Matrone uno geduldig. „Sagen Sie lieber, was es mit der Verstorbenen für eine Bewandtnis hat.“

„Was es mit ihr für eine Bewandtnis hat? Ich habe sie bestohlen“, schrie die Sterbende gellend, und ihr Gesicht glühte – „ich habe sie bestohlen, sie war noch nicht kalt, als ich sie bestahl.“

„Um Gottes willen – was häben Sie ihr gestohlen?“

„Es! Das einzige, was sie hatte. Sie brauchte Kleider, um nicht zu frieren, Nahrung, um nicht zu hungern, aber sie hatte es an ihrem Herzen aufbewahrt. Es war von Gold, echtem Gold,. und sie hätte sich dadurch das Leben retten können.“

„Gold?“ wiederholte Frau Corney, sich schnell über das Weib hinbeugend, als es auf das Bett zurücksank. „Weiter, weiter! Was ist damit? Wer war die Mutter? Wann war es?“

„Sie trug mir auf, es aufzuheben, und vertraute es mir an als der einzigen Frau, die um sie war. Ich stahl es Ihr schon in Gedanken, als sie es mir zuerst zeigte. Ach, vielleicht bin ich auch an des Kindes Tod schuld! Man hätte ihn wohl besser behandelt, wenn man alles gewußt hätte.“

„Was gewußt? Reden Sie doch!“

„Der Junge wurde seiner Mutter so ähnlich“, fuhr das Weib fort, ohne die Frage zu beachten, „daß ich immer an sie erinnert wurde, sooft ich sein Gesicht sah. Armes Mädchen! Und noch so jung – und so sanft! – Warten Sie, ich habe noch mehr zu sagen. Nicht wahr, ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt?“

„Nein, nein“, antwortete Frau Corney, „nur schnell, ehe es zu spät ist.“

„Die Mutter“, sagte die Sterbende und nahm ihre letzten Kräfte zusammen, „die Mutter flüsterte mir ins Ohr, als sie den Tod nahen fühlte, daß, wenn ihr Kind am Leben bliebe, einst der Tag kommen dürfte, an dem es keinen Grund haben würde, sich des Namens seiner Mutter zu schämen.“

„Des Kindes Name?“ drängte die Matrone.

„Oliver!“ sagte die Sterbende mit matter Stimme. „Und das Gold, das ich. stahl, war –“

„Jja, was war es?“ fragte Frau Corney. Sie beugte sich schnell über das Weib, um die Antwort zu vernehmen, aber sie prallte zurück, als die Sterbende sich noch einmal langsam und steif aufrichtete, die Decke mit beiden Händen krampfhaft faßte, und nachdem sie einige unverständliche Worte gemurmelt hatte, leblos auf die Kissen zurücksank.

– – – – – – – – – – –

„Maustot“, sagte die Wärterin, als Frau Corney die Tür wieder geöffnet hatte.

„Und wußte auch nichts Wichtiges zu erzählen“, bemerkte die Matrone in gleichgültigem Tone. Damit ging sie.

Worin unsere Geschichte zu Herrn Fagin und Genossen zurückkehrt

Während sich diese Ereignisse im Armenhause zutragen, saß Herr Fagin am rauchenden Kamin, still vor sich hinbrütend, in seiner alten Höhle, aus der Oliver von Nancy neulich abgeholt worden war. Er war in tiefe Gedanken versunken und blickte in völliger Geistesabwesenheit in das trübe Feuer.

An einem Tische hinter ihm saßen der Gannef, Karl, Bates und Herr Chitling bei einer Partie Whist. Der Gannef spielte mit dem Strohmann gegen die beiden anderen. Es war merkwürdig, daß diese dauernd verloren, ein Umstand, der Herrn Bates nicht etwa aufbrachte, sondern höchlichst amüsierte. Er lachte nach Beendigung jedes Spiels hell auf und versicherte, daß er sich noch nie so gut unterhalten hätte. Als Herr Chitling nach Bezahlung seiner Spielschuld mit kläglicher Miene sagte: „Ich habe nie einen Spieler wie dich giesehen, Jack, denn du gewinnst ja immer. Selbst wenn wir gute Karten haben, können wir gegen dich nicht aufkommen“, brach Karl Bates in ein derartiges Gelächter aus, daß der Jude aus seinen Grübeleien gerissen wurde und verwundert fragte, was los sei.

„Ich wollte, Sie hätten dem Spiele zugesehen, Fagin. Tommy Chitling hat nicht einen Point gewonnen.“

„Ei, ei“, sagte der Jude grinsend, der des Gannefs Mogelei hinreichend kannte, „versuch’s nochmal, Tom, versuch’s nochmal!“

„Danke, Fagin, ich verzichte, habe vollkommen genug. Der Gannef hat ein solches Schwein, da ist nichts zu machen.“

„Ja, Freundchen, wenn du gegen den Gannef gewinnen willst, mußt du früher aufstehen“, versetzte der Alte.

„Nein“, sagte Karl Bates, „er muß am besten auch noch die ganze Nacht die Stiefel anbehalten und sich für jedes Auge ein Fernrohr besorgen. Dann kommt er vielleicht früh genug und ist passend ausgerüstet, um gegen den Gannef erfolgreich anzukämpfen.“

Herr Dawkins nahm diese Schmeicheleien mit philosophischer Ruhe hin und zeichnete zu seinem Vergnügen einen Plan des Newgate-Gefängnisses mit Kreide auf den Tisch. Er pfiff sich dazu ein Lied.

Nach einer Weile sagte der Gannef zu Herrn Chitling:

„Weißt du, Tommy, du bist doch mächtig stumpfsinnig. – An was mag er wohl denken, Fagin?“

„Wie sollte ich das wissen, wahrscheinlich an seinen Verlust oder an den sechswöchigen Landaufenthalt, den er eben hinter sich hat. Ha, ha! Stimmt’s, Tommy?“

„Ach wo“, rief der Gannef, Herrn Chitling in die Rede fallend, der eben antworten wollte. „Was meinst du, Karl?“

„Ich glaube“, sagte dieser grinsend, „er denkt an Betsy, hinter der er mächtig her ist. Seht, wie er rot wird. Das ist ein Hauptspaß! Tommy Chitling verliebt! Fagin, ist es nicht zum Totlachen?“

„Ach, laß Ihn in Ruhe“, sagte der Jude mißbilligend und puffte Karl in die Seite. „Betsy ist ein nettes Mädel. Mach dich nur an sie ‚ran, Tommy.“

„Ein für allemal, Fagin“, schrie Herr Chitling mit rotem Kopf, „das ist meine Sache, die keinen Menschen hier etwas angeht.“

„Du hast vollkommen recht“, sagte der Jude, „aber Karl muß immer schwatzen, das weißt du doch. Betsy ist ein nettes Mädel, und wenn du tust, was sie dir rät, wirst du dein Glück machen.“

„Horcht!“,rief der Gannef in diesem Augenblick, „ich habe die Klingel gehört.“ Er ergriff das Licht und schlich sachte die Treppe hinauf.

Während die übrigen sich im Dunkeln befanden, ertönte die Klingel abermals. Nach einer Minute erschien der Gannef wieder und flüsterte Fagin geheimnisvoll etwas zu.

„Was?“ schrie der Jude, „allein?“

Der Gannef nickte und gab Karl einen vertraulichen Wink, weniger lustig zu sein.

Der alte Mann biß sich in seine gelben Finger und überlegte einige Augenblicke. Sein Gesicht zeigte Spuren großer Aufregung, als fürchte er schlimme Nachrichten zu erhalten. Endlich erhob er den Kopf und fragte:

„Wo ist er?“

Der Gannef deutete nach oben und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.

„Ja“, sagte der Jude als Antwort auf diese stümme Frage, „bring ihn herunter. Pst! – stille, Karl! – leise! – Tom! Sachte!“

Totenstille trat ein, als der Gannef mit einem Mann die Treppe herunterkam, der ein großes, sein Gesicht halb verhüllendes Tuch abwarf, nachdem er sich vorher hastig im Zimmer umgesehen hatte. Es war der schmucke Toby Crackit, ungewaschen und unrasiert.

„Wie geht’s dir, Fagin?“ sagte er. „Steck das Tuch nur in meinen Hut, daß ich es finden kann, wenn ich wieder gehe, Gannef. Aber ehe ich von Geschäftssachen rede, schafft erst etwas zu essen und trinken herbei, damit ich zum erstenmal seit drei Tagen wieder ein paar Krümel in den Magen bekomme.“

Fagin befahl dem Gannef, was an Eßbarem da war, aufzutischen, und setzte sich dem Einbrecher gegenüber, der Mitteilungen harrend, die dieser nun machen würde.

Es hatte nicht den Anschein, als ob es Toby sehr eilig habe, das Gespräch zu eröffnen. Anfangs begnügte sich der Jude, geduldig sein Gesicht zu beobachten, um darin etwas zu lesen. Vergebliche Mühe. Toby sah zwar ermüdet und übernächtigt aus, aber seine Gesichtszüge‘ zeigten dieselbe selbstgefällige Ruhe, die ihm gewöhnlich eigen war. Fagin zählte ungeduldig jeden Bissen, den der Einbrecher in den Mund steckte. Plötzlich sprang der Jude auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Toby aß gleichmütig weiter, bis er nicht mehr konnte. Dann forderte er den Gannef auf, sich zu entfernen, und schickte sich endlich zu sprechen an.

„Zuerst und vor allen Dingen, Fagin was macht Bill?“

„Was?“ schrie der Jude vom Stuhl aufschnellend, auf den er sich inzwischen wieder gesetzt hatte.

„Donnerwetter, du willst doch nicht etwa sagen, daß –“‚, stotterte Toby und wurde blaß wie der Tod.

„Was sagen?“ schrie Fagin wütend und stampfte mit dem Fuße auf. „Wo sind sie? – Sikes und der Junge! – wo sind sie? – wo sind sie geblieben? – wo stecken sie? – warum sind sie nicht hier?“

„Der Einbruch mißglückte“, erwiderte Toby leise.

„Das weiß ich“, sagte der Jude und riß eine Zeitung aus seiner Tasche; „da steht es drin. Was noch?“

Sie schossen, und der Junge wurde getroffen. Wir rannten wie die Besessenen, querfeldein, über Hecken und Gräben. Man machte Jagd auf uns. Es war zum Teufel holen, die ganze Gegend war hinter uns her, und Hunde uns auf den Hacken!“

„Und der Junge?“ keuchte Fagin.

„Bill hatte ihn auf dem Rücken und jagte mit ihm dahin wie der Wind. Nach einer Weile blieben wir stehen, um ihn zwischen uns zu nehmen; er ließ jedoch den Kopf hängen und rührte sich nicht. Die Verfolger kamen immer näher, und da hieß es, jeder ist sich selbst der Nächste, wenn er nicht Bekanntschaft mit dem Henker machen wollte. Wir trennten uns und ließen den Jungen in einem Graben liegen, ob tot oder lebendig, weiß ich nicht.“

Der Jude wollte nichts mehr hören, er raufte sich die Haare und brüllte laut auf. Dann rannte er aus dem Zimmer auf die Straße hinaus.

In dem eine geheimnisvolle Person auf der Bildfläche erscheint und mancherlei Dinge sich ereignen, die sich von dieser Geschichte nicht trennen lassen

Der alte Mann war bereits an der Straßenecke, ehe er anfing, sich von dem Schrecken einigermaßen zu erholen, den ihm Tobys Bericht eingejagt hatte. Er unterbrach seinen Lauf nicht, sondern stürmte wie von Sinnen unentwegt weiter. Ein Wagen hätte ihn um ein Haar überfahren, wenn nicht die lauten Zurufe des Publikums ihn auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht hätten. Er vermied soviel wie möglich die Hauptstraßen und gelangte auf Nebengäßchen endlich nach Snow-Hill. Hier beschleunigte er seine Schritte noch mehr und verfiel erst wieder in seinen gewöhnlichen schiebenden Gang, als er in eine Sackgasse eingebogen war, in der er sich in seinem Element fühlte.

Unweit der Stelle, wo Snow-Hill und Holborn-Hill zusammentreffen, führt ein enges und häßliches Gäßchen nach Saffron-Hill. In seinen schmutzigen Läden sind große Haufen seidener Taschentücher von jeder Größe und den verschiedensten Mustern zum Verkauf gestellt,

denn hier wohnen die Handelsleute, die sie den Dieben abkaufen. Hunderte solcher Tücher flattern, mit hölzernen Klammern befestigt, an Ladentür und Schaufenster, während im Innern ganze Stöße derselben in den Regalen liegen. So klein auch das Gäßchen, mit Namen Fieldo-Lane, ist, so hat es doch seinen Friseur, sein Café, seine Kneipe und seine Garküche. Es bildet eine eigene Handelskolonie, ein Stapelplatz gestohlener Waren. Frühmorgens und im Abenddunkel erscheinen schweigsame Handelsleute, die in düsteren Hinterzimmern ihre Geschäfte abschließen und dann ebenso geheimnisvoll wieder verschwinden, wie sie gekommen sind. Hier legt der Trödler und Lumpenhändler seine Ware als Aushängeschild für den kleinen Dieb aus.

Dies war der Ort, wohin der Jude seine Schritte lenkte.

Er war den Bewohnern des Gäßchens gut bekannt, denn viele von ihnen, die sich des Kaufs oder Verkaufs wegen lauernd vor ihren Läden aufhielten, nickten ihm bei seinem Vorübergehen vertraulich zu. Er erwiderte die Begrüßung in gleicher Weise, jedoch ohne anzuhalten. Am äußersten Ende der Gasse blieb er endlich stehen und redete einen kleinen Mann an, der so viel von seiner Person in einen Kinderstuhl gezwängt hatte, als dieser aufnehmen konnte. Der Handelsmann saß vor seinem Laden und rauchte eine Pfeife.

„Ach, Herr Fagin, Ihr Anblick ist Labsal für Verschmachtende!“ sagte der ehrenwerte Händler in Erwiderung auf des Juden Frage nach seinem Befinden.

„Die Nachbarschaft war mir ein wenig zu heiß, Lively“, versetzte Fagin und zog die Augenbrauen hoch.

„Ja, diese Klagen sind mir auch ein paarmal zu Ohren gekommen“, antwortete der Trödler, „aber es wird auch mal wieder weniger heiß; meinen Sie nicht auch?“

Fagin nickte zustimmend und fragte dann, indem er nach Saffron-Hill zeigte, ob heute abend wohl jemand dort wäre.

„In den ‚Krüppeln‘?“ fragte das Männchen. Fagin nickte.

„Muß mal nachdenken. Ja, soviel ich mich entsinnen kann, sind ungefähr ein halbes Dutzend hingegangen. Ich glaube aber nicht, daß Ihr Freund dabei war!“

„Sikes also nicht?“ fragte Fagin enttäuscht.

„Non est ventus, wie die Rechtsgelehrten sagen“, entgegnete der kleine Mann mit einem pfiffigen Blick und schüttelte verneinend den Kopf. „Haben Sie heute nichts zu verkaufen?“

„Nein, heute nicht“, sagte der Jude und wandte sich zum Gehen.

„Gehen Sie in die ‚Krüppel‘, Fagin?“ fragte das kleine Männchen. „Warten Sie einen Augenblick, ich komme mit.“

Doch der Jude gab ihm zu verstehen, daß er es vorziehe, allein zu sein. Und da sich obendrein der kleine Mann nicht so leicht von seinem Kinderstuhl losmachen konnte, so mußte für diesmal das angesehene Wirtshaus „Zu den Krüppeln“ der Ehre verlustig gehen, Herrn Lively zu seinen Gästen zu zählen. Bis er sich auf die Beine gebracht hatte, war Fagin verschwunden, und so zwängte .sich Herr Lively wieder in den Kinderstuhl und nahm mit wichtiger Miene seine Pfeife wieder in die Hand.

Die „Drei Krüppel“ oder vielmehr die „Krüppel“ waren das Gasthaus, in dem wir Herrn Sikes und seinen Hund schon mal getroffen hatten. Es war einer gewissen Sorte von Gästen wohlbekannt. Fagin gab dem Mann am Schenktisch nur ein Zeichen und ging dann geradezu die Treppe hinauf. Oben öffnete er die Tür eines Zimmers und trat leise ein. Er sah sich, die Augen mit der Hand beschattend, vorsichtig um.

Das Zimmer war durch zwei Gaslampen erhellt, deren Licht jedoch nicht durch die mit Läden gut geschlossenen Fenster nach außen drang. In dem von Tabaksrauch angefüllten Raum konnteFagin kaum etwas erkennen. Nach und nach aber, als sich der Rauch durch den Luftzug der offenen Tür etwas verzogen hatte, tauchte eine Anzahl von Köpfen aus dem Qualm auf. Wenn sich das Auge mehr an den Schauplatz gewöhnt hatte, so konnte der Beobachter allmählich eine zahlreiche, aus Männern und Frauen bestehende Gesellschaft wahrnehmen, die sich um einen langen Tisch drängte. An dessen oberem Ende saß der Vorsitzende, in der Hand das Zeichen seiner Würde, einen Holzhammer haltend, während an einem verstimmten Piano in der entgegengesetzten Ecke ein Musiker sich niedergelassen hatte, der sich einer bläulichen Nase erfreute und eine von Zahnweh geschwollene Backe hatte.

Als der Jude leise ins Zimmer trat, hatte der Klavierspieler gerade durch einen präludierenden Lauf über alle Tasten die kunstbegeisterten Gäste zu einem Verlangen nach einem Liede veranlaßt, und sie gaben ihren Wunsch in ziemlich lärmender Weise zu erkennen. Als die Ruhe einigermaßen wiederhergestellt war, unternahm es eine junge Dame, die Gesellschaft mit einer aus vier Strophen bestehenden Ballade zu unterhalten. Der die Sängerin begleitende Künstler zappelte sich aus Leibeskräften ab, um seiner Musik den gehörigen Schwung zu geben. Als dieser Kunstgenuß zu Ende war, gab der Herr Vorsitzende mit dem Hammer ein Zeichen, und sofort begannen ein paar Herren zu seiner Rechten und Linken ein Duett, wofür sie großen Beifall ernteten.

Die Gesellschaft wies einige interessante Typen auf. Da war zuerst mal der Herr Vorsitzende in der Person des Wirtes selbst – ein schwerfälliger ungehobelter Kerl – der während des Gesanges seine Augen überall umherschweifen ließ und auf alles, was geschah und gesprochen wurde, sorgfältig achtete. Dann die Sänger neben ihm die mit Künstlergleichmut die Lobsprüche der Gesellschaft hinnahmen und sich nebenbei herabließen, ein Dutzend Gläser Grog zu leeren, die ihnen von ihren lärmendsten Bewunderern gespendet wurden. Man sah hier Verschmitztheit, Brutalität und Trunkenheit in allen Abstufungen. Den dunkelsten und traurigsten Teil dieses düsteren Gemäldes bildeten jedoch die Weiber – lauter Mädchen oder junge Frauen, die sich alle noch im Mai ihres Lebens befanden, und von denen einige die letzten Spuren einstiger Jugendfrische zeigten, während bei den meisten in ihrem wüsten Aussehen kein Zeichen edler Weiblichkeit mehr zu entdecken war.

Während der Gesangsdarbietungen sah sich Fagin die Gesellschaft scharf an, konnte aber augenscheinlich das Gesicht, welches er suchte, nicht finden. Schließlich gelang es ihm den Blick des vorsitzenden Wirtes auf sich zu ziehen und ihm einen Wink zu geben. Dann verließ er das Zimmer so unauffällig, wie er eingetreten war.

„Was wünschen Sie, Herr Fagin“, fragte der Wirt, der dem Juden auf den Treppenabsatz gefolgt war. „Wollen Sie nicht an unserem Tisch Platz nehmen? Wir würden es uns zur Ehre schätzen!“

Der Jude schüttelte ungeduldig den Kopf und fragte flüsternd:

„Ist er da?“

„Nein“, antwortete der Wirt.

„Und keine, Nachricht von Barney?“ fragte Fagin.

„Keine, er wird sich auch nicht rühren, bis die Luft rein ist. – Verlassen Sie sich darauf, man ist ihnen auf der Spur, und sobald er sich zeigte, würde man ihn klappen. Barney wird sich in Sicherheit gebracht haben, sonst hätte ich schon etwas von ihm gehört. Darüber können Sie ganz ruhig sein.“

„Kommt er heute nacht nicht her?“ fragteeter Jude, das „er“ stark betonend.

„Sie meinen Monks?“ entgegnete der Wirt zögernd.

„Pst, ja doch.“

„Sicherlich“, versetzte der Mann und zog eine goldene Uhr aus der Tasche. „Er müßte eigentlich schon hier sein. Wenn Sie zehn Minuten warten wollen, so –“

„Nein, nein“, sagte Fagin hastig, als käme ihm die Abwesenheit der betreffenden Person sehr gelegen, so gerne er sie auch gesehen hätte. „Sagen Sie ihm doch, ich hätte ihn besuchen wollen, und er solle heute abend noch – nein, morgen – er solle also morgen zu mir kommen. Da er nicht hier ist, wird’s wohl auch bis morgen Zeit haben!“

„Schön , sagte der Wirt. „Weiter nichts?“

„Nein, kein Wort mehr“, sagte der Jude und ging die Treppe hinunter.

„Hören Sie mal“, rief ihm der Mann im Flüsterton nach, „hier ist noch ein Schlag zu mächen. Phil Barker ist hier – mächtig duhn, dermaßen, daß ihn ein Kind neppen könnte!“

„So, so! Aber Phil Barkers Zeit ist noch nicht gekommen“, antwortete der Jude leise zurück. „Er hat noch etwas zu tun, ehe wir uns mit ihm verkrachen können. Also gehen Sie nur wieder zu Ihrer Gesellschaft zurück und sagen Sie den Leuten, sie sollen ihr Leben nur ordentlich genießen – wer weiß, wie lange noch. Ha! Ha! Ha!“ –

Der Wirt stimmte in das Lachen des Alten ein und kehrte zu seinen Gästen zurück. Sobald der Jude allein war, verdüsterten sich seine Mienen wieder. Nach kurzem Besinnen winkte er eine Droschke heran und ließ sich nach Bethnal Green fahren. Ein paar hundert Schritte von Sikes Wohnung stieg er aus und legte den Rest seines Weges zu Fuß zurück.

„Nun“, brummte der Jude vor sich hin, als er an die Tür klopfte, „wenn man hier ein abgekartetes Spiel mit mir treibt, so werde ich es bald heraushaben, meine Liebe, so verschlagen du auch bist.“

Fagin schlich leise die Treppe hinauf und trat ohne anzuklopfen in Nancys Zimmer. Das Mädchen war allein und lag mit dem Kopf auf dem Tisch. Das Haar hing ihr in Strähnen herunter.‘

„Sie ist betrunken“, dachte der Jude, „Oder ihr ist schlecht zumute.“

Als der Alte die Tür schloß, wurde das Mädchen durch das Geräusch wach. Sie fragte ihm offen ins Gesicht sehend, was es Neues gäbe, und hörte aufmerksam zu, als er Toby Crackits Bericht wiederholte. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie nach Beendigung der Erzählung ihre frühere Stellung wieder ein. Sie schob das Licht ungeduldig beiseite, wechselte verschiedenemal nervös ihre Lage und scharrte mit den Füßen. Das war jedoch alles.

Während sie schwieg, blickte der Jude unruhig im Zimmer umher. Er schien sich überzeugen zu wollen, ob Sikes nicht etwa heimlich zurückgekehrt sei. Durch seine Untersuchung anscheinend zufriedengestellt, hustete er einigemal und machte verschiedene vergebliche Versuche, ein Gespräch mit dem Mädchen anzuknüpfen. Schließlich fragte er im liebenswürdigsten Tone:

„Und was meinen Sie wohl, Kindchen, wo Bill jetzt ist?“

Das Mädchen antwortete in kaum verständlichen Worten, sie könne das nicht wissen. Sie schien zu weinen.

„Und der Junge?“ fuhr Fagin fort und versuchte einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen. „Das arme Kindl Denken Sie nur, Nancy, sie haben es in einem Graben liegengelassen!“

„Da ist es besser dran als bei uns“, versetzte das Mädchen aufblickend. „Und wenn es Bill nicht nachteilig wäre, würde ich wünschen, Oliver läge tot im Graben, und seine Gebeine vermoderten dort.“

„Was?“ rief der Jude in großem Erstaunen.

„Ja, es ist mein Ernst. Ich bin froh, wenn ich ihn nicht mehr sehen muß und weiß, daß er das Schlimmste überstanden hat. Es ist mir furchtbar, ihn in meiner Nähe zu haben. Wenn ich ihn sehe, muß ich mich selbst und euch alle verabscheuen!‘

„Ach, du bist betrunken, Mädel“, sagte der Jude verächtlich.

„Wirklich? Deine Schuld ist’s nicht, wenn ich es nicht bin! Wenn’s nach dir ginge, wäre ich immer betrunken, nur jetzt nicht. Meine Gemütsverfassung paßt dir nicht, nicht wahr?“

„Allerdings nicht“, sagte Fagin aufgebracht.

„So ändert’s“, versetzte das Mädchen mit einem Auflachen.

„Werde ich auch“, schrie der Jude, durch die unerwartete Störrigkeit des Mädchens und die Verdrießlichkeiten des Abends im höchsten Grade erbittert. „Paß auf, Dirne, höre gut auf die Worte eines Mannes, der nur drei Worte zu sagen braucht, und Sikes wird gehängt. Wenn er zurückkommt und den Jungen nicht mitbringt – wenn er glücklich davongekommen ist und liefert mir Oliver, tot oder lebend, nicht wieder ab –, so ist es besser, Mädchen, du bringst ihn selbst um, wenn du nicht willst, daß er Bammelmann macht!“

„Was soll das heißen?“ fragte Nancy unwillkürlich.

„Das will heißen, daß der Junge mir viele hunderte Pfund wert ist“, schrie Fagin sinnlos vor Wut. „Soll ich, was mir der Zufall gefahrlos in die Hände gespielt hat durch die Dummheiten einer betrunkenen Bande verlieren, deren Leben ich in meiner Hand halte. Und soll ich mich auch noch an einen richtigen Teufel ketten, der die Macht hat und nur zu wollen braucht, um –“

Er keuchte vor Wut und rang nach Worten, doch plötzlich zügelte er seinen Zorn und nahm sich zusammen. Hatte er vorher noch mit geballten Fäusten in der Luft herumgefuchtelt, so sank er jetzt in einen Stuhl zurück und bebte bei dem Gedanken, eine Schurkerei selbst ausgeplaudert zu haben. Nach kurzem Schweigen sah er sich verstohlen nach Nancy um und war beruhigt, als er sie in der teilnahmslosen Stellung wie zuerst sah.

„Nancy, Kindchen“, krächzte Fagin jetzt wieder in seinem gewöhnlichen Tone, „hast du alles gehört, was ich sagte?“

„Ach, laßt mich zufrieden. Ist es Bill diesmal nicht geglückt, dann ein andermal. Er hat manche feine Sache für Euch geschoben und wird’s auch in Zukunft tun. Wenn’s aber nicht geht, dann geht’s eben nicht. Also nun Schluß!“

„Aber der Junge, Kindchen?“ sagte der Jude und rieb sich nervös die Hände.

„Ich hoffe, er ist tot“, fiel das Mädchen schnell ein, „und dadurch allem Ungemach, besonders aber Euren Händen entronnen – wenn nur Bill nicht dabei zu Schaden gekommen ist. Das glaube ich jedoch nicht, denn wenn Toby sich in Sicherheit bringen konnte, so kann es Bill jedenfalls zweimal!“

„Und was meine vorigen Worte anbelangt, liebes Kind“, bemerkte der Jude, und sah sie mit seinen schielenden Augen lauernd an.

„Ihr müßt es nochmals sagen, wenn Ihr was von mir wollt. Es wäre aber besser, bis morgen zu warten. Für einen Augenblick habt Ihr mich munter gemacht, jetzt ist mir aber schon wieder ganz dämlich zumute.“

Fagin stellte noch mehrere Fragen an sie, um sich zu überzeugen, ob das Mädchen seine unvorsichtigen Andeutungen beachtet und behalten hätte. Sie antwortete jedoch so unbefangen und ließ sich durch seine lauernden Blicke so wenig in Verlegenheit bringen, daß sich sein ursprünglicher Gedanke zu bestätigen schien, sie hätte zu tief ins Glas geguckt. Nancy war allerdings nicht frei von diesem Laster, das bei Fagins Schülerinnen so häufig war und von ihm auch noch ermutigt wurde. Ihr unordentliches Aussehen und der starke Branntweingeruch, der das Zimmer erfüllte, schien ein Beweis für Fagins Annahme zu sein. Er fühlte sich durch diese Feststellung sehr erleichtert und schickte sich zum Gehen an. Er verließ also seine junge Freundin, die noch immer mit dem Kopfe auf dem Tische lag und schlief.

Es war elf Uhr und bitterkalt, er eilte deshalb, nach Hause zu kommen. Der scharfe Wind schien die Straßen sowohl von Menschen, als auch von Schmutz leer gefegt zu haben. Für den Juden war der Wind günstig, denn er trieb denselben vor sich her.

Herr Fagin hatte seine Straßenecke erreicht und wollte eben seinen Hausschlüssel aus der Tasche holen, als eine dunkle Gestalt aus dem tiefen Schatten eines gegenüberliegenden Hauses auftauchte und sich geräuschlos an seine Seite schlich.

„Fagin!“ flüsterte eine Stimme dicht an seinem Ohre.

„Ist das –“

„Ja“, fiel der Fremde schnell ein. „Ich laure hier schon zwei Stunden auf Euch, wo zum Teufel seid Ihr denn gewesen?“

„War in Ihren Angelegenheiten fort, mein Lieber“, antwortete : der Jude, ihn unruhig ansehend und seine Schritte mäßigend, „die ganze Nacht in Ihren Angelegenheiten.“

„Das wäre“, versetzte höhnisch der Fremde. „Nun – und was ist dabei herausgekommen?“

„Nicht viel Gutes“, entgegnete Fagin.

„Doch auch nichts Schlimmes, hoffe ich“, sagte der Mann und blieb bestürzt stehen.

Der Jude schüttelte den Kopf und wollte antworten, doch der Fremde unterbrach ihn und meinte, er solle ihm das zu Hause erzählen, er wäre halb erfroren. Fagin schnitt ein Gesicht, als wenn ihm das unangenehm wäre, und murmelte etwas von ungeheizter Stube. Der Mann wiederholte jedoch seinen Wunsch so gebieterisch, daß derJude ihn in sein Haus hineinließ.

„Hier ist’s dunkel wie im Grabe“, sagte der Mann, ein paar Schritte vorwärts tappend. „Beeilt Euch, Licht zu holen, ich kann so etwas nicht leiden.“

„Schließen Sie die Tür“, flüsterte Fagin und hatte noch nicht ausgesprochen, als jene mit lautem Krachen zuflog.

„Dafür kann ich nicht“, sprach der andere und tappte weiter, „der Wind hat sie zugeschlagen. Sorgt für Licht, oder ich stoße mir noch in diesem verwünschten Loch den Schädel ein.“

Fagin schlich die Küchentreppe hinab und kehrte bald mit einem brennenden Licht und der Kunde zurück, daß Toby Crackit im Hinterzimmer und die Jungen im Vorderzimmer schliefen. Er winkte nun dem Fremden und führte ihn die Treppe hinauf.

„Wir können uns die paar Worte hier sagen“, meinte Pagin und öffnete im ersten Stockwerk eine Tür. „Da in den Fensterläden Löcher sind und wir unsern Nachbarn nie Licht zeigen, so will ich den Leuchter auf die Treppe stellen. – So!“

Bei diesen Worten bückte sich der Jude, setzte das Licht auf die Treppe gerade der Zimmertür gegenüber und trat ins Gemach. Mit Ausnahme eines zerbrochenen Lehnstuhles und eines hinter der Tür stehenden alten Sofas ohne Bezug waren weiter keine Möbel vorhanden. Der Fremde warf sich sofort aufs Sofa, indes der Jude den Lehnstuhl näher rückte. Es war nicht ganz finster, denn die Tür stand halb offen; so saßen sie sich zuerst schweigend gegenüber. Nach einer Weile flüsterten sie miteinander, und ein Horcher hätte leicht gewahren können, daß der Fremde mächtig aufgeregt zu sein schien und Fagin sich gegen einige seiner Ausführungen verteidigte. Sie mochten in dieser Weise wohl eine Viertelstunde verhandelt haben, als Monks (mit diesem Namen redete der Jude den Fremden im Laufe des Gespräches an) mit etwas lauterer Stimme fortfuhr:

„Ich sage Euch, es war schlecht überlegt. Warum habt Ihr ihn nicht hier behalten und einen Taschendieb aus ihm gemacht?“

„Nun höre einer bloß mal an“, sagte Fagin achselzuckend.

„Wie, wollt Ihr etwa damit sagen, Ihr hättet’s nicht gekonnt, wenn Ihr gewollt,hättet?“ sagte Monks finster. „Habt Ihr es nicht dutzendmal mit anderen Jungen verstanden? Hättet Ihr ein Jahr Geduld mit ihm gehabt, wäre es Euch eine Kleinigkeit gewesen, daß er vom Gericht verurteilt und deportiert worden wäre, vielleicht auf Lebenszeit.“

„Wem wäre damit gedient gewesen, lieber Freund?“ sagte der Jude unterwürfig.

„Mir!“ antwortete Monks.

„Aber mir nicht“, entgegnete Fagin noch demütiger. „Er hätte mir vielleicht noch nützlich werden können. Wenn zwei bei einem Geschäft beteiligt sind, so ist es nur recht und billig, daß beider Vorteil berücksichtigt wird, nicht wahr?“

„Schön, was weiter?“ fragte Monks verdrießlich.

„Ich hatte bald heraus, daß es nicht leicht war, ihn fürs Geschäft zu erziehen. Er war nicht wie die anderen Jungen unter solchen Umständen!“

„Hol’s der Teufel, nein“, brummte der Mann, „er wäre sonst längst ein Dieb geworden.“

„Es war unmöglich, ihn zum Schlechten anzuhalten“, fuhr Fagin fort und betrachtete dabei ängstlich Monks Miene. „Mit Drohungen und Strenge war auch nichts bei ihm auszurichten. Was konnte ich tun? Ihn wieder mit Karl und dem Gannef auf Tour schicken? Wir hatten an dem ersten Mal genug, es war für uns alle gefährlich.“

„Dafür kann ich doch nichts“, bemerkte Monks.

„Sicher nicht“, versetzte der Jude, „ich klage ja auch nicht, denn ohne diesen Vorfall wären Sie nie auf den Jungen aufmerksam geworden. Sie hätten nie die Entdeckung gemacht, daß er es sei, den Sie suchten. Schön, ich brachte ihn mit Hilfe des Mädchens wieder zurück und jetzt hält sie ihm mit einemmal die Stange.“

„Erwürgt das Frauenzimmer“, schrie Monks unwirsch.

„Ja, das geht nicht, lieber Freund“, erwiderte Fagin lächelnd. „Ich kenne diese Art Mädels gut. Sobald der Junge weniger unschuldig sein wird, wird sie sich nicht mehr um ihn kümmern. Sie wollen einen Dieb aus ihm machen. Wenn er noch am Leben ist, werde ich’s nochmal versuchen, und wenn – wenn –“ sagte der Jude und rückte mit seinem Stuhl näher, „doch es ist nicht wahrscheinlich – aber wenn es zum Schlimmsten gekommen ist und Oliver ist tot – -„

„Dann ist’s nicht meine Schuld!“ fiel Monks mit bestürzter Miene ein und umklammerte Fagins Arm mit zitternden Händen. „Ihr wißt genau, daß ich dabei meine Hand nicht im Spiele hatte. Alles, nur nicht seinen Tod, sagte ich gleich anfangs. Ich will kein Blut vergießen, es kommt stets ans Tageslicht und läßt einem außerdem keine Ruhe. Wenn sie ihn totgeschossen haben, ich bin nicht schuld, verstanden! – Donnerwetter, was ist in dieser verfluchten Kabache los! – Was war das? –“

„Was?“ schrie der Jude und umfaßte den Erschrockenen, als er aufsprang, mit beiden Armen. „Was – Wo?“

„Dort!“ brüllte der Mann, nach der gegenüberliegenden Wand stierend. „Der Schatten – ich sah den Schatten eines Weibes in Hut und Mantel, wie einen Hauch an der Wandtäfelung vorbeigleiten.“

Beide stürzten aufgeregt aus dem Zimmer ins Treppenhaus. Sie horchten angespannt, allein tiefe Stille herrschte im ganzen Hause.

„Es war Einbildung!“ sagte Fagin und nahm das Licht auf.

„Ich will drauf schwören, daß ich’s sah“, versetzte Monks zitternd. „Der Schatten beugte sich vor, als ich ihn zuerst bemerkte und glitt weg, sobald ich von ihm sprach.“

Der Jude warf ihm einen verächtlichen Blick zu und forderte ihn höflich auf, ihm zu folgen. Sie stiegen die Treppe hinauf und sahen sich in allen Zimmern um, sie waren kahl und leer. Dann stiegen sie zum Hausflur und von da in den Keller hinunter, alles war öde und still wie der Tod.

„Was sagen Sie nun?“ fragte Fagin, als sie wieder auf dem Hausflur anlangten. „Außer uns sind nur noch Toby und die Jungen im Hause, und die sind gut aufgehoben. Sehen Sie her.“

Er zog zwei Schlüssel aus der Tasche und erklärte, daß er seine Zöglinge eingeschlossen hatte, um jede Störung ihrer Unterhaltung unmöglich zu machen.

Herr Monks wurde wankend und gab zu, daß ihm seine aufgeregte Phantasie einen Streich gespielt haben könnte. Die Unterhaltung wollte er heute aber nicht mehr fortsetzen, da es schon ein Uhr sei. So trennte sich denn das würdige Paar.

Sucht die Unhöflichkeit eines früheren Kapitels wieder gutzumachen, das eine Dame ohne weiteres im Stiche ließ

Da es einem Schriftsteller wegen seiner Unbedeutendheit nicht ziemt, eine so wichtige Person, wie ein Gemeindediener ist, mit über die Arme geschlagenen Rockschößen am Kamin stehen zu lassen, bis es dem Geschichtserzähler beliebt, ihn zu erlösen; und da es sich mit seiner Stellung oder seiner Galanterie noch weit weniger verträgt, in ähnlich vernachlässigender Weise eine Dame zu behandeln; der der besagte Beamte zärtliche und verliebte Blicke zugeworfen und süße Worte ins Ohr geflüstert hat, Worte, die aus dem Munde eines solchen Mannes das Herz eines jeden Mädchens oder einer jeden Frau erbeben machen müßten, – so beeilt sich der gewissenhafte Erzähler mit seiner höchst wahren Geschichte.

Herr Bumble hatte also die Teelöffel abermals gezählt, die Zuckerzange aufs neue gewogen, den Milchtopf noch genauer untersucht und sich über den Zustand der Möbel bis auf die Roßhaarpolster der Stühle herunter die nötige Gewißheit verschafft – ehe ihm auch nur der Gedanke kam, es wäre nachgerade Zeit, daß Frau Corney zurückkehrte. Da fiel Herr Bumble auf den unschuldigen Zeitvertreib, seine Neugierde durch einen Blick in das Innere der im Zimmer befindlichen Kommode zu befriedigen.

Um sich zu vergewissern, daß niemand käme, horchte Herr Bumble am Schlüsselloch und fing dann mit der untersten der drei Schubladen an. Die verschiedenen Kleider von gutem Stoff gefielen ihm ausnehmend wohl. In einem der oberen Schubfächer stieß er auf ein kleines, verschlossenes Kästchen, das er schüttelte; der Klang von Gold- und Silbermünzen war seinen Ohren liebliche Musik. Nun schritt Herr Bumble würdevoll wieder zum Kamin und nahm seine alte Stellung wieder ein. Mit entschlossenem Gesichtsausdruck sagte er dann zu sich selbst: „Ich werde es tun!“ Darauf lächelte er pfiffig, als wollte er sagen, was für ein verfluchter Schwerenöter er doch sei, dabei betrachtete er mit Interesse und Vergnügen seine strammen Waden.

Er war noch in deren bewundernden Anblick versunken, als Frau Corney ins Zimmer stürzte, sich atemlos auf einen Stuhl am Kamin warf und mit einer Hand die Augen bedeckte. Die andere legte sie aufs Herz und rang nach Luft.

„Frau Corney“, sagte Herr Bumble, sich über sie beugend, „was ist Ihnen? Ist etwas passiert? Bitte reden Sie doch, ich stehe hier, wie auf – auf –“ Er konnte in seiner Bestürzung nicht das Wort „Nadeln“ finden und sagte daher. – „Flaschenscherben“.

„Ach, Herr Bumble, ich bin wie zerschlagen.“

„Wer hat das gewagt, zerschlagen? Ich weiß schon“, fuhr er mit angeborener Majestät fort, „dieses gottverlassene Armenpack.“

„Schrecklich, dran zu denken“, sagte die Matrone schaudernd.

„Denken Sie nicht dran!“ versetzte Herr Bumble.

„Ich kann’s nicht lassen“, wimmerte Frau Corney.

„Dann stärken Sie sich und trinken ein Glas Wein“, meinte der Gemeindediener teilnahmsvoll.

„Nicht um die ganze Welt“, erwiderte die Matrone. „Das könnte ich nicht – oh, nein! – Im Wandschrank auf dem obersten Brett – ach –“

Die gute Frau, die jetzt in Krämpfe fiel, konnte nur schwach mit der Hand hinzeigen, aber Herr Bumble stürzte auf denselben zu und entnahm ihm eine grüne Flasche. Er goß eine Teetasse voll und hielt sie der Dame an die Lippen.

„Es wird mir schon besser“, sagte Frau Corney, nachdem sie die Tasse halb geleert hatte.

Herr Bumble erhob voller Dankbarkeit gegen Gott seine Augen zur Zimmerdecke, senkte sie dann auf die Tasse und brachte diese an seine Nase.

„Pfefferminze“, erklärte Frau Corney mit schwacher Stimme und lächelte dabei Herrn Bumble an. „Kosten Sie es mal – es ist noch ein bißchen anderes darin.“

Dieser kostete mißtrauisch die Arznei, leckte darauf die Lippen, kostete abermals und setzte die Tasse leer nieder.

.Es ist sehr stärkend“, sagte die Dame.

„Sehr, in der Tat.“

Nach diesen Worten rückte er seinen Stuhl an die Seite der Matrone und fragte zärtlich, was ihr passiert wäre.

„Ach nichts“, versetzte Frau Corney, „ich bin ein recht törichtes, schwaches Geschöpf.“

„Nicht schwach“, sagte Bumble und rückte noch näher. „Sind Sie wirklich schwach, Frau Corney?“

„Wir sind alle schwache Geschöpfe“, erwiderte die Matrone, damit eine Bibelstelle zitierend.

„Ja, das stimmt“, meinte Herr Bumble.

Beide schwiegen einige Minuten, dann erwies der Gemeindediener die Wahrheit dieses Satzes dadurch, daß er seinen linken Arm von Frau Corneys Stuhllehne fortnahm und mit sanftern Druck um ihre Taille legte.

„Wir sind allesamt schwache Geschöpfe“, sagte Herr Bumble.

Frau Corney seufzte.

„Seufzen Sie doch nicht, Frau Corney!“

„Ich kann nicht anders“, antwortete diese und seufzte nochmal.

„Das ist ein sehr gemütliches Zimmer meinte Herr Bumble. „Noch eins dazu, und es wäre eine ideale Wohnung.“

„Das wäre für eine einzelne Person zu viel“, flüsterte die Matrone.

„Aber nicht für zwei“, flötete Herr Bumble. ..Was meinen Sie, Frau Corney?“

Bei seinen Worten senkte sie den Kopf, und er tat dasselbe, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Frau Corney blickte züchtig seitwärts und machte ihre Hand los, um nach dem Taschentuch zu greifen. Unwillkürlich legte sie sie aber wieder in seine Hand.

„Die Behörde liefert Ihnen die Kohlen, nicht wahr?“ fragte Herr Bumble und drückte zärtlich ihre Hand.

„Und das Licht“, antwortete die Matrone, den Händedruck leicht erwidernd.

„Heizung, Licht und Wohnung frei“, sagte Herr Bumble. „Frau Corney, Sie sind ein Engel!‘

Einem derartigen Gefühlsausbruch konnte die Dame nicht widerstehen. Sie sank in Bumbles Arme, und dieser drückte einen feurigen Kuß auf ihre keusche Nase.

„Sie sind die Krone der Schöpfung“, rief Herr Bumble entzückt. „Sie wissen doch, mein Engel, daß Herr Slout heute abend kränker geworden ist?“

„Ja“, sagte Frau Corney verschämt.

„Der Doktor meint, er macht keine Woche mehr. Durch seinen Tod würde die Stelle des Armenhausvaters frei und müßte wieder besetzt werden. Ach, Frau Corney, welche Aussichten! Was für eine schöne Gelegenheit, zwei Herzen und Haushaltungen zu vereinigen!“

Frau Corney schluchzte.

„Das kleine Wörtchen“, sagte Herr Bumble und beugte sich über die verschämte Matrone. „Das einzige kleine – kleine Wörtchen, angebetete Corney!“

Ja – a – a“, hauchte die Dame.

„Und noch eins“, fuhr Herr Bumble fort, „wann soll es sein?“

Frau Corney versuchte zweimal zu sprechen, aber jedesmal versagte ihre Stimme. Endlich faßte sie sich ein Herz, schlang ihre Arme um seinen Hals und sagte, sobald es ihm beliebe, denn er wäre doch ein zu großer Schwerenöter.

Nachdem die Angelegenheit in so befriedigender Weise erledigt war, wurde der Vertrag durch eine weitere Tasse Pfefferminzarznei feierlich bestätigt, was bei der Aufregung der Dame durchaus notwendig war. Dabei erzählte Frau Corney von dem Tode des alten Weibes.

„Gut“, sagte Bumble, seinen Pfefferminz schlürfend. „ich werde auf dem Nachhauseweg bei Sowerberry vorsprechen und ihn morgen früh herschicken. – Was hat dich so erschreckt, Liebling?“

„Ach, nichts Besonderes, Lieber“, antwortete die Dame ausweichend.

„Es muß doch aber etwas gewesen sein, Schatz. Du wirst es doch deinem Bumble anvertrauen.“

„Noch nicht“, erwiderte die Dame. „Später, wenn wir verheiratet sind.“

„Wenn wir verheiratet sind?“ rief Herr Burnble. „Hat sich etwa einer der Armenhäusler eine Unverschämtheit herausge – -?“

„Nein, nein, Liebster“, fiel Frau Corney hastig ein.

„Wenn ich das denken müßte“, fuhr Herr Bumble fort „daß einer dieser Gesellen seine gemeinen Augen zu erheben wagte –“

„Keiner hätte sich das getraut, Liebling“, antwortete die Dame.

„Das ist ihr Glück“, meinte Herr Bumble drohend und ballte die Faust. „Mit dem hätte ich aber auch gesprochen, daß er es ein zweites Mal nicht getan hätte.“ Herr Bumble begleitete diese Worte mit so vielen kriegerischen Gesten, daß die Dame von diesem Beweise seiner aufopfernden Liebe äußerst gerührt wurde. Sie beteuerte mit großer Zärtlichkeit, er wäre auch „ihr liebes Täubchen“.

Das Täubchen schlug nun den Rockkragen in die Höhe, setzte seinen Dreispitz auf und umarmte seine Zukünftige zärtlich und lange. Dann ging er, um wieder dem kalten Nachtwinde Trotz zu bieten. Er hielt sich noch einige Minuten im Zimmer der männlichen Armen auf, um sie ordentlich auszuschimpfen und sich selbst den Beweis zu erbringen, daß er dem Amte eines Armenhausvaters mit der nötigen Strenge vorzustehen imstande sei. Mit sich selbst zufrieden und voll schöner Träume hinsichtlich seiner zukünftigen Beförderung verließ er das Armenhaus und erreichte bald den Laden des Herrn Sowerberry.

Dieser war mit seiner Frau zu einer Abendgesellschaft eingeladen und deshalb abwesend. Da Noah Claypole zu keiner Zeit geneigt war, sich weitergehenderen physischen Anstrengungen zu unterziehen, als die Funktionen des Essens und Trinkens es erforderten, so stand der Laden offen, obgleich die Ladenschlußstunde längst vorbei war.

Herr Bumble klopfte mit einem Stock verschiedene Male vergebens auf den Ladentisch. Durch das Glasfenster des kleinen hinter dem Laden befindlichen Zimmers sah er Licht schimmern. Er trat heran, um zu sehen, was drinnen vorging. Was sich seinen Augen darbot, war erstaunlich.

Der Tisch war gedeckt und mit Brot und Butter, Tellern und Gläsern, einem Kruge schäumenden Bieres und einer Flasche Wein besetzt. Am oberen Ende der Tafel rekelte sich Herr Noah Claypole in einem Armsessel und hatte ein mächtiges Butterbrot in der Hand. Dicht neben ihm stand Charlotte und öffnete Austern, die Herr Claypole mit Gier verschlang. Eine ungewöhnliche Röte in der Nasengegend deutete an, daß der junge Herr angetrunken war.

„Hier ist noch eine riesig fette, lieber Noah“, sagte Charlotte, „die mußt du noch essen, die eine noch.“

„Wie gut doch Austern schmecken“, bemerkte Herr Claypole, nachdem er sie geschlürft hatte. „Schade, daß man nicht unendlich viel davon essen kann, ohne unwohl zu werden.“

„Ja, ’s ist wirklich traurig“, stimmte Charlotte zu. „Willst du noch eine, sieh mal diese mit dem schönen Bart?“

„Kann keine mehr unterbringen“, antwortete Noah, „tut mir leid! – Komm her, Charlotte, ich will dir einen Kuß geben.“

„Was?“ schrie Bumble, in das Zimmer stürzend, „willst du das nochmal sagen, Bürschchen?“

Charlotte stieß einen Schrei aus und verbarg ihr Gesicht hinter der Schürze, während Herr Claypole, ohne seine Stellung zu verändern, in trunkenem Schrecken den Gemeindediener anstarrte.

„Willst du das noch einmal sagen, du schamloser Wicht?“ tobte Herr Bumble. „Wie kannst da so etwas in den Mund nehmen; Schlingel? Und wie können Sie sich unterstehen, ihn dazu zu ermutigen, Sie freches Weibsbild, Sie? Von Küssen reden! Pfui!“

„Ich wollte es gar nicht“, sagte Noah weinerlich. „Sie küßt mich immer, ob ich es will oder nicht.“

„Ach, Noah!“ rief Charlotte vorwurfsvoll.

„Ist’s etwa nicht wahr? Du kannst es nicht abstreiten“, erwiderte Noah. „Immer küßt sie mich und faßt mich ans Kinn und ist zärtlich zu mir.“

„Schweig!“ schrie Herr Bumble streng.“ Packen Sie sich, Mamsell, und du, Noah, machst den Laden zu und redest kein Wort mehr, bis dein Meister nach Hause kommt – auf deine eigene Gefahr. Wenn er kommt, so sagst du ihm, Herr Bumble sei dagewesen, und der Meister solle morgen früh einen Sarg für ’ne alte Frau nach dem Armenhaus schicken. Hörst du, Bengel? – Küssen! Die Sündhaftigkeit und Verderbtheit der unteren Klassen in dieser Gemeinde ist himmelschreiend. Da müßte das Parlament einschreiten!“ Mit diesen Worten verließ er in würdevoller Haltung das Haus des Sarglieferanten.

Nun wollen wir uns ein wenig nach dem jungen Oliver Twist umsehen und schauen, ob er noch in dem Graben liegt, wo Sikes und Toby Crackit ihn verlassen haben.

Sieht sich nach Oliver um und berichtet über seine weiteren Abenteuer

„Daß euch die Wölfe an die Gurgel führen“, knirschte Sikes und legte den verwundeten Oliver über sein gebeugtes Knie, um sich nach seinen Verfolgern umzusehen.

Der Nebel und die Dunkelheit ließ nur wenig erkennen. Das Rufen der Menschen und Bellen der Hunde erfüllte die Luft, und schauerlich tönte die Sturmglocke.

„Halt, du feiger Hund“, rief der Einbrecher Toby Crackit nach, der von seinen langen Beinen den besten Gebrauch machte und schon einigen Vorsprung gewonnen hatte. „Halt!“

Die Wiederholung dieses Wortes brachte Toby zum Stehen, denn er war sich nicht ganz klar darüber, ob er schon außer Pistolenschußweite sei. Sikes schien in einer Laune zu sein, die keinen Scherz vertrug.

„Hilf mir den Jungen weiterschaffen“, brüllte Sikes, seinem Kumpan energisch zuwinkend. „Komm zurück!“

Toby tat, als ob er umkehre, wagte jedoch mit leiser, atemloser Stimme einige Einwendungen zu machen.

„Schneller!“ schrie Sikes, legte Oliver in einen trockenen Graben und zog die Pistole aus der Tasche. „Halte mich ja nicht zum Narren!“

In diesem Augenblick wurde der Lärm lauter, und als Sikes sich umsah, bemerkte er, daß die Verfolger schon über den Zaun des Feldes kletterten, auf dem er sich befand. Ein paar Hunde rannten bereits vorweg.

„Ist nichts mehr zu wollen, Bill“, rief Toby. „Laß den Jungen liegen und türme!“

Mit diesen Worten machte Herr Crackit rechtsum und rannte davon, so schnell ihn die Beine tragen konnten.

Sikes knirschte mit den Zähnen, sah sich nochmal schnell um und bedeckte Oliver mit dem Mantelkragen. Dann lief er längs der Hecke hin, um die Aufmerksamkeit der Verfolger von der Stelle, wo der Junge lag, abzulenken. An einer zweiten Hecke, die mit der ersten im rechten Winkel zusammenstieß, stand er still und setzte dann mit einem kühnen Sprung drüber weg, nachdem er noch vorher seine Pistole fortgeworfen hatte.

„Caesar! Neptun! Hierher! Zurück!“ rief eine zittrige Stimme. Die Hunde, die auch kein großes Vergnügen an der Hetzjagd zu haben schienen, gehorchten sofort. Und drei Männer machten nun halt, um gemeinsam zu beraten.

„Mein Rat – das heißt mein Befehl – ist, daß wir sofort wieder nach Hause gehen“, sagte der dickste von den dreien.

„Mir ist alles recht, was Herr Giles für richtig hält“, versetzte ein kleinerer, aber keineswegs schlanker Mann, der sehr blaß aussah und äußerst höflich war, wie man das häufig bei furchtsamen Leuten findet.

Ich möchte nicht unmanierlich erscheinen, meine Herren“, sagte der dritte Mann, der die Hunde zurückgerufen hatte, „Herr Giles muß es am besten wissen!“

„Gewiß“, sagte der kleinere, „und was auch immer Herr Giles sagen mag, wir dürfen ihm nicht widersprechen. Ich weiß, was sich gehört. Gott sei Dank weiß ich das!“ Dabei klapperten ihm die Zähne im Munde vor Furcht.

„Du fürchtest dich, Brittles!“ sagte Herr Giles.

„Durchaus nicht.“

„Doch“, meinte Herr Giles.

„Ist ein Irrtum“, entgegnete Brittles.

„Du lügst, Brittles!“ rief Herr Giles.

Der dritte Mann schlichtete den Streit In höchst philosophischer Weise, indem er meinte, daß sie sich alle drei fürchteten.

„Da mögt Ihr für Euch selbst gesprochen haben“, versetzte Herr Giles, der am meisten blaß war.

„Allerdings“ erwiderte jener, „es ist doch ganz natürlich, daß man sich in solcher Lage fürchtet. Ich fürchte mich.“

„Ich auch“, sagte Brittles, „aber es ist unnötig, daß einem das geradezu ins Gesicht gesagt wird.“

Diese freimütigen Eingeständnisse besänftigten Herrn Giles, der nun auch gestand, daß er sich gleichfalls fürchte. Alle drei machten jetzt kehrt und liefen in schönster Eintracht zurück. Nach einer kleinen Weile bestand der engbrüstige Herr Giles darauf, daß ausgeruht werde, außerdem wolle er sich für seine vorigen übereilten Worte entschuldigen.

„Es ist doch erstaunlich“, fuhr Herr Giles fort, nachdem er einige Entschuldigungsworte gesagt hatte, „wozu ein Mensch fähig sein kann, wenn sein Blut in Wallung gekommen ist. Ich hätte einen Mord begangen, wenn uns einer der Spitzbuben in die Hände gefallen wäre!“

Die beiden anderen meinten, sie hätten gegebenenfalls auch gemordet.

Dieses Gespräch führten die zwei Männer, welche die Einbrecher bei ihrer Tat überrascht hatten, und ein wandernder Kesselflicker, der in einem Nebengebäude ein Nachtlager erhalten hatte. Dieser hatte sich mit seinen zwei Hunden der Diebesjagd angeschlossen. Herr Giles versah in der Villa der alten Dame den Dienst eines Haus- und Kellermeisters, und Brittles war das Faktotum. Er war schon als Kind zu der alten Dame gekommen, und obgleich er bereits in den Dreißigern war, wurde er immer noch wie ein Junge behandelt.

Die drei eilten nun auf den Baum zu, wo sie ihre Laterne hatten stehenlassen, und nahmen sie an sich. Dann trabten sie heim.

Mit Tagesanbruch wurde es kälter, und dichter Nebel bedeckte das Land. – Oliver lag noch immer bewußtlos da, wo Sikes ihn hingelegt hatte. Es fing stark zu regnen an, aber Oliver fühlte die Nässe nicht. Nach einer ganzen Weile weckte ihn ein heftiger Schmerz, und er schrie laut auf. Sein linker, mit einem Halstuch notdürftig verbundener Arm hing schwer und regungslos an seiner Seite nieder, und der Verband war mit Blut getränkt. Er war so schwach, daß er sich kaum aufrichten konnte. Er machte dann den Versuch, sich zu erheben, aber es war vergebliches Bemühen, er fiel der Länge nach zu Boden.

Nachdem sich Oliver von diesem neuen Ohnmachtsanfalle erholt hatte, sagte er sich, daß er unfehlbar sterben müsse, wenn er liegenbleibe. Er versuchte deshalb aufs neue aufzustehen und zu gehen. Ihm war schwindelig, und er wankte wie ein Betrunkener hin und her. Er hielt sich trotzdem auf den Beinen und taumelte mit herabhängendem Kopfe vorwärts, ohne zu wissen wohin. Er kroch fast mechanisch durch die Lücken der Hecken, die ihm den Weg versperrten, bis er eine Straße erreichte. Er sah sich um und sah in nicht allzu großer Entfernung ein Haus, das er möglicherweise erreichen konnte. Vielleicht hatte man dort Mitleid mit ihm, und wenn nicht, dünkte es ihn besser, in der Nähe menschlicher Wesen als einsam auf freiem Felde zu sterben. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und wankte auf das Haus zu. Als er näherkam, erinnerte er sich, es schon früher gesehen zu haben. Auf Einzelheiten konnte er sich zwar nicht besinnen, aber das Äußere des Gebäudes kam ihm bekannt vor.

Ach, diese Gartenmauer! Und dort auf dem Rasen hatte er vor den beiden Halunken auf den Knien gelegen. Es war dasselbe, in das sie eingebrochen waren.

Als Oliver dies erkannte, bemächtigte sich seiner eine solche Furcht, daß er darüber seine schmerzende Wunde ganz vergaß und nur an Flucht dachte. Flucht? Er konnte ja kaum stehen, und wenn er auch im vollen Besitz seiner Kräfte gewesen wäre, wohin hätte er fliehen können? Er stieß die Gartentür auf, sie war unverschlossen. Er wankte über den Rasenplatz, klomm die Eingangstreppe hinauf und klopfte leise an die Tür. Dann schwanden seine Sinne, und er sank ohnmächtig nieder.

Zur selben Zeit erholten sich die Herren Giles und Brittles sowie der Kesselflicker von den Strapazen der Nacht durch eine Tasse Tee und allerlei Kleinigkeiten. Es war sonst nicht die Art des Herrn Giles, sich zu einer allzu großen Vertraulichkeit gegen Untergebene herabzulassen. Gegen diese benahm er sich eher mit einer gewissen würdevollen Leutseligkeit, die, so gewinnend sie war, doch stets an seine höhere Stellung erinnerte. Aber Tod, Feuersnot und Einbruch machen alle Menschen gleich. Also Herr Giles saß mit ausgestreckten Beinen vor dem Küchenherd, den linken Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und gestikulierte lebhaft mit dem rechten Arm, als er seinen Zuhörern einen genauen und umständlichen Bericht des Einbruchs gab. Diese hörten mit atemloser Spannung zu, besonders aber das Hausmädchen und die Köchin.

„Es war ungefähr halb drei Uhr“, erzählte Herr Giles, „ich will aber nicht darauf schwören, ob es nicht vielleicht ein bißchen näher an drei war – als ich aufwachte, mich in meinem Bette umdrehte, etwa so –“ hier drehte sich Herr Giles in seinem Stuhle und zog den Zipfel des Tischtuches über sich hin, um dadurch die Bettdecke zu versinnbildlichen – „und ein Geräusch zu hören glaubte!“

Bei dieser Stelle der Erzählung erblaßte die Köchin und forderte das Hausmädchen auf, die Türe zu schließen; diese sagte es Brittles; Brittles beauftragte damit den Kesselflicker, und dieser tat so, als ob er es nicht höre.

„Ich glaubte ein Geräusch zu hören“, fuhr Herr Giles fort, „doch sagte ich mir anfangs, es sei eine Täuschung. Gerade schickte ich mich an, wieder einzuschlafen, als ich das Geräusch aufs neue und deutlicher vernahm.“

„Was war es denn für ein Geräusch?“ fragte die Köchin.

„So eine Art von knarrendem Geräusch“, antwortete Herr Giles.

„Ich meine, es hörte sich eher so an, als wenn man eine Eisenstange über ein Reibeisen zieht“, sagte Brittles.

„So war es, als du es hörtest“, versetzte Herr Giles, „aber damals hatte es einen knarrenden Ton. Ich warf die Bettdecke ab, setzte mich im Bette auf und horchte.“

„Ach, du lieber Himmel“, riefen die Köchin und das Hausmädchen gleichzeitig und rückten mit den Stühlen näher zusammen.

„Ich hörte es jetzt ganz deutlich“, fuhr Herr Giles fort, „und sagte mir: da will jemand einbrechen; was tun? Zuerst den armen Jungen, den Brittles, wecken, damit er nicht im Bett umgebracht oder ihm die Kehle durchgeschnitten wird, ohne daß er es merkt.“

Hier richteten sich aller Blicke auf Brittles, der den Erzähler mit offenem Munde anstarrte, während sich auf seinem Gesicht Entsetzen malte.

„Ich warf also die Bettdecke beiseite“, berichtete Herr Giles weiter, und er nahm dasselbe Manöver mit dem Tischtuch vor, „stand leise auf, zog meine –“

„Es sind Damen anwesend, Herr Giles“, flüsterte ihm der Kesselflicker zu.

„- Schuhe an“, fuhr Giles mit großem Nachdruck fort und sah den Unterbrecher groß an, „langte nach der geladenen Pistole, die mit dem Silberzeugkasten immer heraufgebracht wird, und schlich auf den Zehen zu seiner Kammer. Als ich ihn weckte, sprach ich: ‚Brittles, erschrick nicht‘.“

„Ja, so sagten Sie“, bemerkte dieser leise.

„Wir sind verloren, aber hab keine Angst, Brittles!“

„War er erschrocken?“ fragte die Köchin.

„Nicht im geringsten“, erwiderte Herr Giles. „Er war so mutig – fast so unverzagt wie ich!“

„Wenn mir das passiert wäre, ich wäre auf der Stelle gestorben“, meinte das Hausmädchen.

„Sie sind eben ein Weib“, sagte Brittles, der den tapferen Helden herausbiß.

„Brittles hat recht“, sagte Herr Giles mit beifälligem Kopfnicken, „von Weibern läßt sich nichts anderes erwarten. Wir aber, als Männer, nahmen Brittles Laterne und tappten in der stockfinsteren Nacht die Treppe hinunter – ungefähr so.“

Herr Giles war von seinem Stuhl aufgestanden und, um seine Schilderung durch geeignete Mimik zu beleben, mit geschlossenen Augen einige Schritte vorwärts gegangen. Plötzlich fuhr er sowohl, als auch die übrige Gesellschaft heftig zusammen und eilte zu seinem Stuhle zurück. Die Köchin und das Hausmädchen kreischten.

„Man hat an die Haustür geklopft“, sagte Herr Giles, „jemand muß öffnen gehen.“

Niemand rührte sich.

„Es ist doch komisch, daß man am frühen Morgen schon Einlaß begehrt“, meinte Herr Giles, leichenblaß im Gesicht. „Aber die Tür muß aufgemacht werden. Jemand muß öffnen! Hört ihr nicht?“

Er sah bei diesen Worten Brittles an, dieser schien sich aber aus Bescheidenheit nicht als „Jemand“ zu betrachten. Er gab jedenfalls keine Antwort. Herr Giles heftete seinen Blick nun fragend auf den Kesselflicker, aber dieser war plötzlich eingeschlafen, und von dem weiblichen Personal konnte von vornherein natürlich nicht die Rede sein.

„Wenn Brittles die Tür lieber in Gegenwart von Zeugen öffnen will“, meinte Giles nach kurzem Schweigen, „so will ich gern mitgehen.“

„Ich auch“, fügte der Kesselflicker hinzu, der ebenso schnell wieder, aufwachte, als er eingeschlafen war.

Auf diese Bedingungen hin kapitulierte Brittles, und als man beim Öffnen der Fensterläden sah, daß es heller Tag sei, ging die ganze Gesellschaft mit den Hunden die Treppe hinunter, wobei die Weiber die Nachhut bildeten. Herr Giles riet, den Hunden in die Schwänze zu kneifen, damit sie recht wütend bellten und dadurch einem draußenstehenden Feinde Angst und Schrecken einjagten. Dann faßte er den Kesselflicker fest am Arm, damit dieser nicht ausrücke, wie er scherzend sagte, und befahl nun die Tür zu öffnen. Brittles gehorchte, ängstlich sah einer dem andern über die Schulter, aber nichts Verdächtiges war zu sehen. Nur der kleine Oliver Twist lag da, erschöpft und blaß, und schlug die Augen stumm um Mitleid flehend auf.

„Ein Junge!“ rief Herr Giles und drängte den Kesselflicker mutig zurück. „Was ist mit ihm los? Sieh mal, Brittles, erkennst du ihn?“

Dieser stieß, als er Oliver erkannte, einen lauten Schrei aus. Herr Giles ergriff den Jungen bei einem Arme und einem Beine – zum Glück nicht bei dem verwundeten – und zog ihn in den Hausflur.

„Hier ist er!“ schrie Herr Giles mächtig aufgeregt die Treppe hinauf. „Hier ist einer der Diebe, gnädige Frau! Wir haben einen Spitzbuben erwischt, gnädiges Fräulein! Er ist verwundet, ich habe ihn getroffen.“

Die Köchin und das Hausmädchen eilten die Treppe hinan, um die Nachricht zu hinterbringen, daß Herr Giles einen Einbrecher gefangen habe. Der Kesselflicker gab sich inzwischen die größte Mühe, Oliver wieder zu sich zu bringen, damit er nicht stürbe, bevor er gehängt würde. – Durch diesen Lärm ließ sich jetzt eine sanfte weibliche Stimme vernehmen, die sofort dem Tumult ein Ende machte. „Giles!“

„Hier bin ich, gnädiges Fräulein. Erschrecken Sie nicht, ich bin nicht zu Schaden gekommen. Er leistete keinen besonders starken Widerstand.“

„Pst!“ machte die junge Dame, „nicht so laut. Ist der arme Mensch schwer verwundet?“

„Sehr schwer, gnädiges Fräulein“, erwiderte Giles selbstgefällig.

„Es sieht so aus, als ob es mit ihm zu Ende ginge, gnädiges Fräulein“, brüllte Brittles nach oben. „Wollen Sie nicht herunterkommen und ihn ansehen, falls er –“

„Aber schreien Sie doch nicht so entsetzlich“, sagte die junge Dame, „ich werde mit meiner Tante sprechen.“

Sie eilte leichtfüßig weg und kehrte bald wieder mit dein Befehl zurück, den Verwundeten auf Herrn Giles Zimmer zu tragen. Brittles aber sollte nach Chertsey reiten und so schnell wie möglich einen Polizisten und einen Arzt holen.

„Wollen Sie nicht mal einen Blick auf ihn werfen, gnädiges Fräulein?“ fragte Giles stolz, als wenn Oliver ein seltener Vogel wäre, den er dank seiner Geschicklichkeit erlegt hatte.

„Jetzt nicht, nicht um alles in der Welt. Armer Kerl! Behandeln Sie ihn gut, Giles – um meinetwillen.“

Der alte Diener sah zu der Sprecherin, wie sie sich entfernte, voller Stolz und Bewunderung auf; als wäre sie seine eigene Tochter. Dann beugte er sich über Oliver und half ihn mit fast weiblicher Sorgfalt die Treppe hinauftragen.

Gibt einen einleitenden Bericht über die Bewohner des Hauses, in das Oliver geflüchtet war

In einem hübschen Zimmer mit altmodischen, aber bequemen Möbeln saßen zwei Damen an einem wohlbesetzten Frühstückstisch. Herr Giles in schwarzem Anzug wartete auf. Er stand kerzengerade zwischen dem Büfett und dem Frühstückstisch, hocherhobenen Hauptes, den linken Fuß vorgestellt und die rechte Hand in die Weste gesteckt. In der Linken hielt er ein Tablett und schien von der Wichtigkeit seiner Person ganz durchdrungen zu sein.

Die eine der Damen war schon hoch in Jahren, aber ihre Haltung war noch so gerade wie die steife Rückenlehne des Eichenstuhls, auf dem sie saß. Ihre Kleidung war gewählt aber altmodisch, mit einigen Zugeständnissen an den Tagesgeschmack, was aber dem Kostüm nur zum Vorteil gereichte. Würdevoll, mit gefalteten Händen, saß sie da und hatte ihre Augen – deren Glanz das Alter kaum hatte trüben können – auf ihre Gesellschafterin gerichtet. Diese, im Frühling ihres Lebens, war eine Jungfrauengestalt von solcher Lieblichkeit, daß wir in ihr ohne Vermessenheit die Wohnung eines Engels vermuten dürften, wenn es den Zwecken Gottes entspräche, die Himmelsbewohner in sterbliche Hüllen zu kleiden.

Sie befand sich im siebzehnten Lebensjahre, und ihre Erscheinung war so zierlich und edel, so mild und zart, so rein und schön, als sei die Erde nicht ihre Heimat und paßten deren Bewohner nicht für sie als Umgang. Der Geist, der aus ihren dunkelblauen Augen strahlte, schien weder ihrem Alter noch der Welt anzugehören. Ihr Lächeln aber, das frohe, glückliche Lächeln, verhieß häuslichen Frieden und häusliches Glück.

Sie war eifrig mit dem Zubereiten des Tees beschäftigt, und wenn sie zufällig die Augen erhob und die alte Dame sah, legte sie in den Blick so viel Zärtlichkeit und Liebe, daß selbst selige Geister bei ihrem Anblick wohlgefällig gelächelt hätten.

„Brittles ist bereits eine Stunde fort, nicht wahr, Giles?“ fragte die alte Dame.

„Eine Stunde und zwölf Minuten, gnädige Frau“, versetzte Herr Giles, auf seine silberne Uhr blickend, die er an einer schwarzen Schnur trug.

„Er ist immer so langsam“, bemerkte die Dame.

„Brittles war immer ein langweiliger Junge“, meinte Giles.

„Es wird mit ihm immer schlimmer anstatt besser“, sagte die alte Dame.

„Es wäre unverantwortlich, wenn er sich unterwegs aufhielte, um etwa mit anderen Jungen zu spielen“, fügte die junge Dame lächelnd hinzu.

Herr Giles überlegte gerade, ob es sich mit dem Respekt vertrüge, selbst ein wenig zu lächeln, als ein Einspänner vorfuhr, aus dem ein dicker Herr sprang und durch das Haus in das Zimmer stürzte, wo er beinahe Herrn Giles und den Frühstückstisch umgerannt hätte.

„Das ist ja unerhört!“ rief der dicke Herr. „Meine beste Frau Maylie – um Himmelswillen – und noch dazu mitten in der Nacht – so was ist mir noch nicht vorgekommen!“

Unter diesen Teilnahmebezeugungen schüttelte er beiden Damen die Hände, nahm Platz und fragte, wie es ihnen ginge.

„Sie hätten vor Schreck tot umfallen können – auf der Stelle. Warum schickten Sie nicht zu mir? Mein Diener wäre in einer Minute hiergewesen – ebenso ich und mein Assistent. Wir wären glücklich gewesen, Ihnen gefällig sein zu können. Unter solchen Umständen! So unerwartet und mitten in der Nacht.“

Der Doktor schien besonders darüber empört zu sein, daß der Einbruch so unerwartet und zur Nachtzeit versucht wurde, als ob es bei den Herren Mitgliedern der Verbrecherzunft üblich wäre, um die Mittagszeit an ihr Geschäft zu gehen und ihre Absicht ein paar Tage vorher durch die Post anzukündigen.

„Und Sie, Fräulein Rosa?“ fragte der Doktor, sich an die junge Dame wendend. „Ich –“

„Mir geht’s gut“, fiel ihm Rosa ins Wort, „aber oben liegt ein armer Mensch verwundet, und die Tante wünscht, Sie möchten nach ihm sehen.“

„Ach ja, richtig“, sagte der Doktor. „Das ist Ihr Werk, Giles, wie ich höre.“

Dieser errötete stark und erwiderte, er habe die Ehre gehabt.

„Die Ehre?“ fragte der dicke Herr, „nun ich weiß nicht; vielleicht ist es ebenso ehrenvoll, einen Dieb in einer Waschküche, wie einen Gegner auf zwölf Schritte zu treffen. Nehmen Sie an, er hätte in die Luft geschossen und Sie haben ein Duell gehabt, Giles.“

Herr Giles, der die scherzhafte Behandlung des Gegenstandes als einen ungerechten Versuch ansah, sein Verdienst zu schmälern, antwortete ehrerbietig, daß es seinesgleichen nicht zustände, ein Urteil abzugeben, daß er aber des Glaubens sei, die Sache sei für die Gegenpartei kein Spaß gewesen.

„Ohne Zweifel, ohne Zweifel“, sprach der Doktor. „Wo ist er? Führen Sie mich zu ihm. Wenn ich herunterkomme, spreche ich bei Ihnen nochmals vor, Frau Maylie. Das ist also das kleine Fenster, durch das er hereinkam? Das hätte ich kaum für möglich gehalten!“

Plaudernd folgte er Herrn Giles die Treppe hinauf. Inzwischen erlaube ich mir dem Leser mitzuteilen, daß Herr Losberne ein im Umkreise von zehn Meilen als „Der Doktor“ bekannter Wundarzt war, der seine Beleibtheit mehr seinem heiteren Gemüt als einem üppigen Leben verdankte. Er war ein gemütlicher und biederer, aber etwas wunderlicher alter Junggeselle, wie man ihn in einem fünfmal größeren Umkreise kaum wiederfindet.

Der Doktor blieb länger fort, als die Damen dachten. Es wurde ein flacher Kasten aus dem Wagen geholt, ziemlich oft geklingelt, und die Dienstboten liefen ununterbrochen die Treppen hinauf und hinunter; lauter Zeichen, aus denen man schließen konnte, daß oben etwas Wichtiges vorgehen müsse. Endlich kam er zurück, machte ein geheimnisvolles Gesicht und schloß die Tür behutsam hinter sich.

„Das ist etwas ganz Außerordentliches, Frau Maylie“, begann der Doktor und stellte sich mit dem Rücken gegen die Tür, als ob er verhindern wolle, daß jemand hereinkäme.

„Hoffentlich ist die Verwundung nicht gefährlich?“ fragte die alte Dame.

„Nun, das wäre den Umständen nach nichts Außergewöhnliches“, erwiderte der Doktor, „obgleich ich nicht glaube, daß es der Fall ist. Haben Sie den Dieb gesehen?“

„Nein“, sagte die alte Dame.

„Auch nichts über ihn gehört?“

„Nein.“

„Verzeihung, gnädige Frau“, fiel Giles ein, „ich wollte gerade von ihm erzählen, als Herr Doktor kam.“

Die Sache verhielt sich eigentlich so, daß Herr Giles es nicht hatte über sich gewinnen können, einzugestehen, das Opfer seines Schusses sei bloß ein Kind gewesen. Da er im Augenblick noch auf dem Gipfel seines Ruhmes stand und um seiner Heldentat willen von allen Seiten mit Lobsprüchen überhäuft wurde, so hätte es ihm schier das Herz gebrochen, wenn er nicht die Aufklärung, die aller seiner Herrlichkeit ein Ende machen mußte, um einige köstliche Minuten hätte hinausschieben können.

„Rosa wünschte den Menschen zu sehen“, sagte Frau Maylie, „ich habe es aber nicht zugegeben!“

„Hm“, meinte der Doktor, „es ist nichts besonders Abschreckendes in seinem Äußern. Haben Sie etwas gegen einen Besuch in meiner Anwesenheit?“

„Wenn es nötig ist, gewiß nicht“, erwiderte die alte Dame.

„Dann möchte ich darum bitten“, sagte der Doktor, Jedenfalls bin ich überzeugt, daß Sie es später bereuen würden, wenn Sie es unterlassen hätten. Er ist vollkommen ruhig und gut versorgt. Darf ich bitten, Fräulein Rosa? – Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Ehrenwort!“

Was die beiden Damen und Doktor Losberne von Oliver dachten

Unter vielen geschwätzigen Versicherungen, daß sie der Anblick des Verbrechers angenehm überraschen werde, bot der Doktor Fräulein Rosa den Arm, reichte Frau Maylie die andere Hand -und führte die Damen mit etwas altfränkischer Galanterie die Treppe hinauf.

„Nun“, sagte der Doktor leise, als er sachte auf die Klinke der Tür drückte, „ich bin gespannt zu hören, was Sie von ihm halten. Er ist zwar unrasiert, sieht aber trotzdem nicht wie ein Räuber aus. Einen Augenblick – ich will erst nochmal nachsehen, ob er in der Verfassung ist, Besuch zu empfangen!“

Er ging zuerst ins Zimmer, sah sich darin um, winkte dann seinen Begleiterinnen hereinzukommen, schloß die Tür und schob langsam die Bettgardine zurück. Man sah im Bett statt eines wüst aussehenden Verbrechers, wie man erwartete, ein Kind, das vor Schmerz und Erschöpfung in tiefen Schlaf versunken war. Der verwundete Arm lag verbunden auf seiner Brust, während der Kopf auf dem anderen ruhte, der durch Olivers lang hinabwallendes Haar fast verdeckt wurde.

Der wackere Doktor hielt die Gardine in der Hand und sah den Kleinen schweigend an. Inzwischen trat die junge Dame näher und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bette. Sie strich dem Jungen das Haar aus dem Gesicht, und als sie sich über ihn beugte, fielen einige Tränen auf seine Stirn.

Oliver regte sich und lächelte im Schlaf, als ob dieses Zeichen von Mitleid und Erbarmen irgendeinen süßen Traum von nie gekannter Liebe in ihm hervorriefe.

„Was bedeutet das nur?“ rief die alte Dame. „Dieser arme Junge kann doch nie und nimmer ein Spitzbube sein.“

„Das Laster“, seufzte der Arzt und zog die Gardine wieder zu, „schlägt seinen Wohnsitz in gar vielen Tempeln auf, und wer kann sagen, ob es sich nicht auch hinter einer schönen Außenseite versteckt.“

„Aber doch nicht in so früher Jugend?“ meinte Rosa.

„Mein liebes Fräulein“, entgegnete der Doktor, traurig den Kopf schüttelnd, „das Laster ähnelt dem Tode und beschränkt sich nicht allein auf die Alten und Abgelebten, es sucht sich nur zu oft unter den Jüngsten und Schönsten seine Opfer.“

„Ach können Sie wirklich glauben, daß dieser zarte Knabe sich freiwillig dem Auswurf der Menschheit angeschlossen hat?“ fragte Rosa.

Der Doktor bewegte den Kopf in einer Weise, die anzudeuten schien, daß er es für möglich halte; dann führte er die Damen mit der Bemerkung, der Kranke könnte gestört werden, in ein anstoßendes Zimmer.

„Aber selbst, wenn er verbrecherisch gewesen wäre“, fuhr Rosa fort, „bedenken Sie, wie jung er ist. Vielleicht hat er nie Mutterliebe, vielleicht nie ein Heim gekannt und ist durch schlechte Behandlung, Prügel oder Hunger an Menschen geraten, die ihn zu Verbrechen zwangen. Tante, liebste Tante, bedenken Sie das, ehe Sie das kranke Kind ins Gefängnis schleppen lassen, das jedenfalls das Grab für jede Möglichkeit einer Besserung werden muß. Haben Sie daher Mitleid mit ihm, ehe es zu spät ist!“

„Liebes Kind“, sagte die alte Dame und drückte das weinende Mädchen an ihre Brust, „glaubst du, ich werde dem .Knaben ein Haar krümmen lassen?“

„O nein, sicher nicht“, versetzte Rosa lebhaft.

„Meine Tage sind gezählt“, fuhr die alte Dame fort, „und der HErr wird mir gnädig und barmherzig sein, wie ich auch mit anderen Erbarmen habe! Was kann ich zur Errettung des Knaben tun, Herr Doktor?“

„Ich will darüber nachdenken, gnädige Frau. Muß mal überlegen.“

Herr Losberne steckte die Hände in die Tasche und ging einigemal im Zimmer auf und ab. Er zog die Stirn in ernste Falten und murmelte vor sich hin: „ich hab’s“ und dann auch wieder: „nein, so geht’s nicht“. Endlich blieb er stehen und hob an:

„Wenn Sie mir unbeschränkte Vollmacht geben Giles und Brittles, den großen Jungen, ins Bockshorn zu jagen, glaube ich, läßt’s sich machen. Sie können es ihnen ja wiedergutmachen. Nicht wahr, Sie haben nichts einzuwenden?“

„Nein, vorausgesetzt, daß es kein anderes Mittel zur Rettung des Kindes gibt“, erwiderte Frau Maylie.

„Es gibt kein anderes, mein Wort darauf.“

„Dann gibt Ihnen Tante unbeschränkte Vollmacht“, sagte Rosa unter Tränen lächelnd. „Aber gehen Sie nicht härter mit den beiden um, als unumgänglich nötig ist.“

„Sie scheinen zu glauben“, entgegnete der Doktor, „daß alle Welt heute hartherzig ist, Sie selbst ausgenommen, Fräulein Rosa. Ich will nur hoffen, daß der erste Ihrer würdige junge Mann, der Ihr Mitgefühl in Anspruch nimmt, Sie in einer ebenso weichherzigen Stimmung treffen möge; und ich möchte wünschen, selbst ein junger Bursche zu sein, um von der günstigen Gelegenheit Nutzen ziehen zu können.“

„Sie sind ein ebenso großes Kind wie unser Brittles“, versetzte Rosa rotwerdend.

„Nun“, sagte der Doktor mit herzlichem Lachen, „dazu gehört nicht viel; aber um auf unsern Jungen zurückzukommen. Den Hauptpunkt unseres Übereinkommens haben wir noch gar nicht erörtert. Er wird etwa in einer Stunde aufwachen; und obgleich ich dem schafsköpfigen Ortspolizisten gesagt habe, daß man mit dem Jungen wegen seines gefährlichen Zustandes nicht sprechen dürfe, glaube ich doch, daß wir es unbedenklich tun können. Ich stelle nun die Bedingung, daß ich ihn in Ihrer Gegenwart ausfragen darf. Lassen seine Antworten erkennen, – und und ich halte es für mehr als möglich – daß er wirklich durchaus verdorben ist, so soll er ohne weiteres seinem Schicksal überlassen werden, wenigstens ich kümmere mich dann nicht mehr um ihn.“

„O nein, Tante!“ flehte Rosa.

„Doch, Tante!“ sagte der Doktor. „ist es abgemacht?“

„Er kann kein hartgesottener Verbrecher sein“, meinte Rosa, „das ist unmöglich.“

„Nun also“, erwiderte der Doktor, „um so weniger ist Grund vorhanden, auf meinen Vorschlag nicht einzugehen.“

Man einigte sich schließlich und setzte sich, um Olivers Erwachen zu erwarten.

Die Geduld der beiden Damen wurde auf eine härtere Probe gestellt, als man nach Herrn Losbernes Reden annehmen konnte. Stunde auf Stunde verging, und immer noch lag Oliver im tiefsten Schlaf. Es war Abend geworden, als ihnen der Doktor mitteilen konnte, daß Oliver erwacht und verhandlungsfähig sei. Der Junge wäre allerdings durch den großen Blutverlust sehr geschwächt, aber sein Gewissen verlange so dringend etwas zu beichten, daß es besser wäre, ihn reden zu lassen, als ihm bis morgen Ruhe und Schweigen zu verordnen, was unter anderen Umständen ratsamer gewesen wäre.

Die Unterredung währte lange, denn Oliver erzählte ihnen seine ganze Lebensgeschichte und mußte verschiedenemal vor Schmerz und Schwäche innehalten. Es hörte sich feierlich an, als im dunklen Zimmer die schwache Stimme des kranken Kindes flüsterte und einen traurigen Bericht gab von dem Jammer, Elend und Leiden, die schlechte, grausame Menschen über ihn gebracht hatten.

Sobald die Beichte zu Ende war, wurde Oliver wieder zur Ruhe gebracht, und der Doktor begab sich hinunter, um Herrn Giles aufs Korn zu nehmen. Er wischte sich die Augen und verfluchte dieselben wegen ihrer Schwäche.

In der Küche waren alle Dienstboten versammelt, Herr Giles, Herr Brittles, das weibliche Personal, der Kesselflicker, der in Anbetracht seiner geleisteten Dienste eine besondere Einladung erhalten hatte und der schafsköpfige Polizist. Dieser hatte einen Polizeiknüppel, einen Wasserkopf, einen großen Mund und große Stiefel an. Er sah aus, als ob er eine diesen großartigen Eigenschaften entsprechende Menge Bier sich einverleibt hätte, was auch tatsächlich der Fall war.

Man sprach immer noch über die Ereignisse der vergangenen Nacht, und Herr Giles war eben dabei, seinen Mut und seine Geistesgegenwart in das richtige Licht zu setzen, wobei ihm Brittles, den Bierkrug in der Hand, kräftig sekundierte, als der Doktor eintrat.

„Sitzengeblieben!“ rief derselbe mit einer Handbewegung.

„Danke“, sagte Herr Giles. „Die gnädige Frau ordnete an, daß Bier verteilt werden sollte, und da ich Verlangen nach Gesellschaft hatte, bin ich aus meinem Zimmer hierher gekommen, um meinen Schoppen zu trinken.“

Brittles und die übrigen Damen und Herren murmelten etwas von „großer Ehre“ und „Leutseligkeit des Herrn Giles“, worauf sich dieser mit einer Gönnermiene umsah, als wenn er sagen wollte, daß er ihre Gesellschaft nicht verlassen würde, solange sie sich anständig benähmen.

„Wie geht es dem Kranken, Herr Doktor?“ fragte Giles.

„So, so, la la, ich fürchte, Sie haben sich dabei in eine arge Patsche gebracht, Herr Giles.“

„Ich hoffe, Sie wollen damit nicht andeuten, daß er sterben muß“, sagte Giles erschrocken. „Ich würde meines Lebens nicht mehr wieder froh. Ich könnte keinen Jungen töten – nicht einmal den Brittles da, und wenn man mir das Silbergeschirr des ganzen Landes dafür böte.“

„Davon ist nicht die Rede“, erwiderte der Doktor. „Herr Giles, sind Sie ein guter Christ?“

„Ja, Herr Doktor, das hoffe ich“, stotterte dieser und wurde weiß wie die Wand.

„Und wie steht’s mit dir, Junge?“ fuhr der Doktor zu Brittles gewandt fort.

„Mein Gott“, sagte Brittles zusammenzuckend, „ich bin dasselbe wie Herr Giles.“

„Dann sagt mir, ihr beide, wollt ihr es auf euern Eid nehmen, daß der Junge derselbe ist, welcher in der vergangenen Nacht durch das kleine Fenster kam? Heraus mit der Sprache! Redet!“

Der Doktor, als gutmütig überall bekannt, stellte diese Frage in so drohendem Tone, daß Giles und Brittles sich vor Schreck und Erstaunen starr ansahen.

„Passen Sie auf ihre Antwort gut auf, Polizist, ich bitte darum“, sagte der Doktor und hob in feierlicher Weise seinen Zeigefinger hoch. „Es kann später darauf ankommen.“

Kapitel 3

Der Polizist machte ein würdevolles Gesicht und nahm das Zeichen seines Amtes, den Knüppel, aus der Kaminecke, wo er unbeachtet gelegen hatte, in die Hand.

„Die Frage behandelt die Identität der Person, das haben Sie wohl schon gemerkt?“ sagte der Doktor.

„Allerdings, darüber war ich mir klar“, erwiderte der Polizist mit heftigem Husten, denn er hatte sein Bier so hastig ausgetrunken, daß ihm davon etwas in die Luftröhre gekommen war.

„Es wird in ein Haus eingebrochen“, sprach der Doktor, „und ein paar Menschen sehen für einen Augenblick, mitten im Pulverdampf und im Dunkel der Nacht, die Gestalt eines Knaben. Am nächsten Morgen kommt ein Junge in dasselbe Haus, und weil er zufällig den Arm verbunden hat, legen diese Menschen gewaltsam Hand an ihn. Sie bringen sein Leben durch ihr rohes Zugreifen in Gefahr – und schwören darauf, daß er der Dieb sei. Nun fragt es sich, ob diese Menschen ihr Verhalten rechtfertigen können und, wenn dies nicht der Fall ist, in welche Lage sie sich gebracht haben.“

Der Polizist nickte tiefsinnig mit dem Kopf und meinte, wenn der Herr Doktor sich nicht auf das Recht verstehe, so möchte er wissen, wer es sonst täte.

„Ich frage euch also noch einmal“, brüllte der Doktor, „wollt ihr mit einem feierlichen Eide beschwören, daß dieser Junge mit dem Diebe identisch ist?“

Brittles sah verlegen Herrn Giles an, und dieser blickte zweifelnd auf Brittles. Der Polizist legte die Hand ans Ohr, damit ihm kein Wort der Erwiderung entgehe. Der Doktor sah sich stolz im Kreise um, als man einen Wagen vorfahren und gleich darauf die Haustürklingel ertönen hörte.

„Das sind die Kriminalbeamten“, rief Brittles, anscheinend mächtig erleichtert.

„Wer?“ fragte der Doktor, an den jetzt die Reihe des Erschreckens kam.

„Die Beamten aus Scotland-Yard“, erwiderte Brittles, eine Kerze anzündend, „ich und Herr Giles haben heute früh nach ihnen geschickt.“

„Was?“ brüllte der Doktor.

„Ja“, antwortete Brittles, „ich habe durch den Postkutscher Botschaft gesandt und wundere mich nur, daß sie nicht schon früher gekommen sind.“

„Das tatest du? Dann hole der Teufel – die Dummköpfe in diesem Haus. Das wollte ich nur sagen“, schimpfte der Doktor und stiefelte hinaus.

172

Behandelt einen kritischen Fall

„Wer da?“ fragte Brittles und öffnete die Tür ein wenig, ohne jedoch die Sicherheitskette abzumachen. Die Kerze verdeckte er mit seiner Hand.

„Aufgemacht!“ tönte es von draußen. „Es ist die Kriminalpolizei von Scotland-Yard, nach der heute geschickt wurde.“

Durch diese Antwort beruhigt, öffnete Brittles die Tür weit und sah sich einem stattlichen Manne im Mantel gegenüber, der sofort nähertrat und seine Stiefel ruhig an der Matte reinigte, als ob er hier zuhause sei.

„Schicken Sie doch jemand hinaus, junger Mann, der meinem Kollegen hilft, Pferd und Wagen unterzustellen. Sie haben doch eine Remise hier?“

Brittles bejahte und zeigte nach dem Gebäude, worauf der Beamte selbst zu seinem Kollegen ging, um ihm behilflich zu sein, wobei Brittles ihm achtungsvoll mit der Kerze leuchtete. Nachdem dies erledigt war, führte man die beiden Kriminalpolizisten in ein Zimmer, wo sie die Mäntel ablegten. Der Mann, der an die Tür geklopft hatte, war von Mittelgröße und kräftig gebaut. Er konnte wohl fünfzig Jahre alt sein, trug einen Backenbart und hatte scharfe, durchdringende Augen. Der andere war ein rotköpfiger, hagerer Mann in Stulpenstiefeln mit einem häßlichen Gesicht, in dem eine aufgestülpte Nase saß.

„Sagen Sie Ihrer Herrschaft, daß Blathers und Duff gekommen wären“, begann der ältere, indem er sich ins Haar faßte und dann ein paar Handschellen auf den Tisch legte. „Ah! guten Abend, mein Herr, kann ich einige Worte mit Ihnen allein sprechen?“

Diese Anrede galt Herrn Losberne, der gerade mit den beiden Damen ins Zimmer trat. Dieser winkte Brittles, sich zu entfernen und schloß dann die Tür.

„Dies ist die Dame des Hauses sagte der Doktor mit einer Handbewegung gegen Frau Maylie.

Herr Blathers verbeugte sich, stellte, als man ihn zum Platznehmen aufforderte, seinen Hut auf den Fußboden, nahm einen Stuhl und winkte Duff, das gleiche zu tun. Dieser, anscheinend nicht gewöhnt, sich in guter Gesellschaft zu bewegen, ließ sich erst nach ziemlich vielen Kratzfüßen nieder und steckte dann den Knopf seines Stockes aus Verlegenheit in den Mund.

„Um gleich auf den Einbruchsversuch zu kommen, wie war der Hergang?“ fragte Blathers.

Herr Losberne wollte Zeit gewinnen und erzählte weitschweifig und umständlich die Geschichte. Die Detektive machten dazu pfiffige Gesichter und nickten sich von Zeit zu Zeit zu.

„Ich kann natürlich nichts Bestimmtes sagen, bevor ich den Tatort in Augenschein genommen habe“, sagte Blathers, „meiner unmaßgeblichen Meinung nach, scheint der Versuch nicht von einem Kaffer gemacht worden zu sein. Was hältst du von der Sache, Duff?“

„Ich bin ganz deiner Ansicht“, versetzte dieser.

„Um den Damen die Bedeutung des Wortes Kaffer klar zu machen, darf ich wohl annehmen, daß dieser Einbruchsversuch von keinem, der nicht zur Londoner Einbrecherzunft gehört, gemacht wurde?“ versetzte der Doktor lächelnd.

„Ganz recht, mein Herr“, sagte Blathers. „Ist dies alles, was Sie über den Vorfall zu berichten haben?“

„Ja, alles.“

„Was hat das nun für eine Bewandtnis mit dem Jungen, von dem die Dienerschaft spricht?“

„Gar keine“, entgegnete Herr Losborne. „Einer der bestürzten Diener hat es sich in den Kopf gesetzt, der Junge sei an dem Einbruch beteiligt gewesen. Das ist natürlich Unsinn, eine alberne Einbildung des Dieners.“

„Hm, so leicht darf man die Sache aber doch nicht nehmen“, bemerkte Duff.

„Sehr richtig“, meinte Blathers und nickte zustimmend mit dem Kopf. Er spielte mit den Handschellen, als wenn es ein paar Kastagnetten wären. „Wer ist der Junge? Was erzählt er von sich? Woher kommt er? Er ist doch nicht vom Himmel gefallen, nicht wahr?“

„Natürlich nicht“, versetzte der Doktor, den Damen einen unruhigen Blick zuwerfend. „Ich kenne seine ganze Geschichte – wir können ja nachher davon sprechen. Ich dachte, Sie wollten erst den Tatort besichtigen?“

„Allerdings“, erwiderte Blathers. „Das machen wir zuerst, und dann vernehmen wir die Dienstboten. So ist der gewöhnliche Geschäftsgang.“

Man brachte nun Lichter herbei, und die Herren Blathers und Duff, begleitet von dem Ortspolizisten, Giles, Brittles – kurz allen Anwesenden – begaben sich zu dem kleinen Fenster und sahen hinaus; dann ging man über den Rasenplatz und guckte durch das Fenster hinein. Darauf wurde der Fensterladen besichtigt und der Erdboden auf Fußspuren untersucht. Mit einer Heugabel stach man in die Büsche. Die Zuschauer folgten diesem Verfahren mit gespanntem Interesse; dann ging man wieder ins Haus, wo Herr Giles und Brittles ihre Aussagen machten. Nach Beendigung dieses Verhörs verließen Blathers und Duff das Zimmer und hielten eine lange Beratung ab, gegen die eine Besprechung großer Ärzte über einen schwierigen Krankheitsfall – was das Feierliche und Geheimnisvolle anbelangt – ein reines Kinderspiel war.

Unterdessen ging Losberne im anstoßenden Zimmer auf und ab, und Frau Maylie und Rosa zeigten auch ängstliche Mienen.

„Auf mein Wort“, sprach er nach einer Weile plötzlich stehenbleibend, „ich weiß wirklich nicht, was hier zu tun ist.“

„Gewiß wird eine wahrheitsgetreue Erzählung der Geschichte des armen Jungen genügen, um ihn bei den Kriminalbeamten zu entlasten“, meinte Rosa.

„Das bezweifle ich“, entgegnete der Doktor mit dem Kopfe schüttelnd. „Ich glaube nicht, daß ihm das, weder bei den Detektiven noch bei den höheren Polizeibeamten, zum Vorteil gereichen würde. Sie würden sagen, in jedem Fall ist er ein aus der Lehre entlaufener Bursche. Und außerdem ist seine Geschichte, vom Wahrscheinlichkeitsstandpunkt betrachtet, eine höchst zweifelhafte.“

„Sie schenken ihr doch aber Glauben?“ fiel Rosa hastig ein.

„Ja, das tue ich, so seltsam sie auch ist, vielleicht bin ich aber deshalb auch ein alter Esel“, erwiderte der Doktor. „Nichtsdestoweniger halte ich sie nicht für eine Geschichte, die einen erfahrenen Polizeibeamten zufriedenstellen kann.“

„Warum denn nicht?“ fragte Rosa.

„Aus dem einfachen Grunde, mein liebes Fräulein Rosa, weil für die Auffassung dieser Herren soviel böse Punkte darin vorkommen. Der Junge kann nur das, was gegen ihn, aber nicht das, was für ihn spricht, beweisen. Der Teufel hole die Gesellen, aber sie wollen stets das ‚Weshalb‘ und ‚Warum‘ wissen und glauben Sachen nicht, die nicht bewiesen sind. Er gesteht selbst, daß er einige Zeit mit Dieben zusammen gehaust hat, und daß er wegen Taschendiebstahls angeklagt vor dem Polizeirichter gestanden hat. Dann ist er gewaltsam aus dem Hause des Herrn, der ihn aufnahm, nach einem Ort entführt worden, den er nicht beschreiben kann, ja, von dessen Lage er nicht die geringste Ahnung hat. Er wird von Menschen, die ganz gewaltig auf ihn versessen zu sein scheinen, zwangsweise nach Chertsey gebracht und zum Zwecke der Plünderung eines Hauses durch ein Fenster gesteckt. Als er Lärm machen und etwas tun will, das seine Absichten in ein günstiges Licht stellen könnte, verrennt ihm ein verwünschter Hausmeister den Weg und schießt auf ihn. Grade als wäre alles darauf abgesehen, das zu verhindern, was ihm nützen könnte. Sehen Sie das nicht ein?“

„Doch“, sagte Rosa und mußte über des Doktors Aufregung lächeln. „Aber das beweist doch nicht, daß der Junge ein Verbrecher ist!“

„Natürlich nicht!“ erwiderte Herr Losberne etwas ironisch. „Der Herr segne den Scharfblick des weiblichen Geschlechts. Die Frauen sehen im Guten wie im Bösen immer nur die eine Seite einer Sache, und zwar immer die, welche sich ihnen zuerst gezeigt hat.“

Nachdem der gute Doktor diesen Erfahrungssatz von sich gegeben hatte, steckte er die Hände in die Taschen und nahm sein Hin- und Herlaufen im beschleunigten Zeitmaß wieder auf.

„Je mehr ich darüber nachdenke“, fuhr er nach einer Weile fort, „desto zahlreichere und größere Schwierigkeiten und Scherereien sehe ich voraus, wenn wir diesen Leuten die wahre Geschichte des Jungen erzählen. Ich bin überzeugt, daß sie sie nicht glauben werden; und selbst wenn man ihm am Ende nichts anhaben kann, so muß doch das ganze Untersuchungsverfahren mit dem damit verbundenen Schmutzaufrühren Ihren wohlwollenden Plan, den Jungen seiner elenden Lage zu entreißen, stark beeinträchtigen.“

„Ach, was ist da zu tun?“ rief Rosa. „Warum hat man nur nach der Kriminalpolizei geschickt?“

„Ich gäbe wer weiß was darum, wenn man das ungeschehen machen könnte“, sagte Frau Maylie.

„Das einzige, was wir tun können“, meinte der Doktor und setzte sich ergeben auf einen Stuhl, „ist, daß wir die Kerle durch Unverschämtheit zu verblüffen suchen. Da der Zweck ein guter ist, sind die Mittel geheiligt. Der Junge hat Fieber und ist nicht vernehmungsfähig; das ist ein Trost. Wir müssen diesen Umstand ausnutzen, hoffentlich gelingt’s – Herein!“

„Nun, mein Herr“, sagte Blathers, der jetzt mit seinem Kollegen ins Zimmer trat, aber bevor er zu sprechen begann, die Tür sorgfältig schloß, „das ist kein geschobenes Ding.“

„Zum Teufel, was meinen Sie mit geschobenem Ding?“ fragte der Doktor ungeduldig.

„Wir nennen das ein geschobenes Ding“, sagte der Polizist zu den Damen gewandt, als ob er sie um ihre Unwissenheit bemitleide, den Doktor aber aus demselben Grunde verachte, „wenn die Dienerschaft bei dem Einbruch beteiligt ist.“

„Wir hatten sie auch nicht in Verdacht“, sagte Frau Maylie.

„Schon möglich, gnädige Frau“, erwiderte Blathers, „das Personal hätte aber trotzdem die Hand mit im Spiel haben können. Es ist übrigens meisterhafte Arbeit, hier war sicher einer von der Londoner Einbrecherzunft am Werk!“

„Wirklich, prächtige Arbeit“, fügte Duff leise hinzu.

„Es waren zwei Einbrecher, die einen Jungen bei sich hatten, der durch das kleine Fenster mußte. Mehr läßt sich für den Augenblick nicht sagen. Wir möchten uns den Jungen oben doch einmal ansehen!“

„Darf ich den Herren zuerst etwas zu trinken anbieten?“ sagte der Doktor, und sein Gesicht glänzte vor Freude über seinen Einfall.

„Gewiß“, rief Rosa eifrig, „sie sollen im Augenblick bedient werden.“

„Wir nehmen dankend an, gnädiges Fräulein“, sagte Blathers und fuhr sich mit dem Rockärmel über den Mund. „Solche Verhöre machen die Kehle trocken. Bitte, keine Umstände unsertwegen, was gerade zur Hand ist.“

„Was wäre Ihnen am liebsten?“ fragte der Doktor, der jungen Dame zum Büfett folgend.

„Einen Tropfen Brandy, Herr, wenn es Ihnen gleich ist. Es war kalt auf dem Wege von London hierher, und ich finde immer, ein Gläschen Brandy wärmt das Herz so angenehm!“

Diese interessante Feststellung war an Frau Maylie gerichtet, die sie sehr freundlich aufnahm. Der Doktor schlüpfte inzwischen aus dem Zimmer.

„Ja, meine Damen“, sagte Blathers und hob das Glas hoch, „ich habe während meiner Dienstzeit eine ganze Anzahl solcher Fälle bearbeitet.“

„Zum Beispiel den Einbruch in Edmonton“, sagte Duff, dem Gedächtnisse seines Kollegen nachhelfend.

„Ja, das war ein ganz ähnlicher Fall, nicht wahr?“ meinte Herr Blathers. „Conkey Chickweed war der Täter!“

„Das hast du immer gesagt“, erwiderte Duff, „aber ich behaupte, es war die Familie Pet, und Conkey hatte daran keinen größeren Anteil als ich selber.“

„Ach geh“, entgegnete Blathers, „ich weiß das besser. Erinnerst du dich, daß damals auch Conkey sein Geld gestohlen wurde? Was das für ein Aufsehen machte! Mehr als der neuste Sensationsroman!“

„Wie war das?“ fragte Rosa, ängstlich besorgt, die unwillkommenen Gäste bei guter Laune zu erhalten.

„Das war ein Spitzbubenstreich, gnädiges Fräulein, auf den kaum irgendein anderer verfallen wäre“, antwortete Blathers. „Der Conkey Chickweed also hatte ein Wirtshaus, der Battlebrücke gegenüber, und einen Keller, wo viele junge Lords hinkamen, um den Hahnenkämpfen, Dachshetzen und dergleichen zuzuschauen. Er gehörte damals noch nicht zur Diebeszunft; da wurden ihm einmal mitten in der Nacht dreihundertsiebenundzwanzig Guineen, in einem Sacke befindlich, von einem großen Mann mit einem schwarzen Pflaster über dem Auge aus seiner Schlafstube gestohlen. Der Dieb, der sich unter dem Bette versteckt hatte, sprang nach der Tat aus dem Fenster. Aber Conkey war nicht weniger flink, durch das Geräusch geweckt, fuhr er schnell aus seinem Bett heraus, und schoß eine Kugel auf den Flüchtling ab; er brachte durch den Knall die ganze Nachbarschaft auf die Beine. Bei näherer Untersuchung ergab sich, daß Conkey den Dieb getroffen hatte, denn man konnte auf einer ziemlichen Strecke Blutspuren verfolgen, die sich schließlich verloren. Das Geld aber war weg, und Herr Chickweed machte Bankerott. Man eröffnete Subskriptionen für den armen Mann und ließ Sammellisten und, weiß der Henker, was noch alles für ihn herumgehen. Dieser lief mit gerauftem Haar wie ein Verrückter durch die Straßen, und man befürchtete, er würde sich ein Leid antun. Eines Tages kam er in fliegender Eile auf die Polizei und hatte eine geheime Unterredung mit dem Polizeirichter, der am Schluß derselben nach Jem Spyers klingelte und diesen, einen unserer tüchtigsten Detektive, beauftragte, Herrn Chickweed bei der Ergreifung des Diebes zu helfen. ‚Ich sah ihn gestern morgen an meinem Hause vorbeigehen‘, sagte Chickweed. ‚Warum haben Sie ihn nicht gleich am Kragen gepackt?‘ fragte Spyers. – ‚Ich war so bestürzt, daß man mir den Schädel mit einem Zahnstocher hätte einschlagen können. Wir werden ihn aber bestimmt erwischen, denn zwischen zehn und elf Uhr abends kam er wieder vorbei.‘ Spyers hatte dies kaum gehört, als er seine Reisetasche packte und mit Conkey fortging. Er setzte sich in Conkeys Wirtshaus hinter einen Fenstervorhang, den Hut auf dem Kopf, um jederzeit zur Verfolgung bereit zu sein. Plötzlich, in später Nacht, fing Chickweed zu schreien an: ‚Da ist er! Haltet den Dieb!‘ Jem Spyers stürzt hinaus und sieht Chickweed, in einem fort rufend, durch die Straßen rennen. Von allen Seiten eilen Leute herbei, und überall schallt der Ruf ‚Diebe!‘, wobei Chickweed am lautesten schreit. Spyers verliert ihn an einer Ecke eine Minute aus dem Gesicht – schießt herum – sieht eine kleine Gruppe – dringt hinein. ‚Welches ist der Dieb?‘ – ‚Verflucht‘, sagt Chickweed, ‚ich hab‘ ihn wieder verloren!'“

„Das war merkwürdig, aber da man keinen Dieb fand, so gingen sie wieder ins Wirtshaus zurück. Am nächsten Morgen saß Spyers wieder auf seinem Posten hinter dem Fenstervorhang und guckte sich nach einem großen Mann mit einem schwarzen Pflaster schier die Augen aus. Endlich konnte er sich nicht enthalten, sie für eine Minute zu schließen, und im Augenblick hörte er Chickweed brüllen: ‚Da ist er!‘ Er rannte abermals hinaus, Chickweed die halbe Straßenlänge voraus, und nach einem zweimal so langen Rennen als gestern hatte man den Dieb wieder aus dem Gesicht verloren. Dies wiederholte sich noch verschiedene Male, bis die eine Hälfte der Nachbarn meinte, Herr Chickweed sei vom Teufel bestohlen worden, der ihn außerdem noch nachträglich foppe, während die andere Hälfte sagte, der arme Herr Chickweed sei vor Kummer närrisch geworden.“

„Und was sagte Jem Spyers?“ fxagte der Doktor, der kurz nach Geschichtsanfang wieder ins Zimmer getreten war.

„Der sagte zuerst gar nichts“ fuhr Blathers fort, „horchte aber auf alles, ohne daß man es merkte. Ein deutlicher Beweis, daß er sein Geschäft verstand. Eines Morgens aber trat er an den Schenktisch, zog seine Schnupftabaksdose heraus und sagte: ‚Chickweed, ich hab’s heraus, wer diesen Diebstahl begangen hat.‘ – ‚Wirklich?‘ versetzte Chickweed, ‚ach, lieber Spyers, ich will zufrieden sterben, wenn ich an diesem Spitzbuben gerächt bin! Wo ist er?‘ – ‚Ach‘, sagte Spyers und bot ihm eine Prise an, ‚lassen Sie doch diese faulen Witze – Sie haben es selbst getan.‘ – Und so war’s auch, und er hatte ein schönes Stück Geld damit gemacht. Wäre er nicht so ängstlich bemüht gewesen, allen bösen Schein zu vermeiden, so wäre die Geschichte nie ans Licht gekommen!“ schloß Herr Blathers. Er setzte sein Glas auf den Tisch und spielte wieder mit den Handschellen.

„In der Tat, ein merkwürdiger Fall“, meinte der Doktor. „Wenn es Ihnen recht ist, können wir jetzt zu dem Jungen hinaufgehen.“

Herr Giles leuchtete den beiden Beamten und Herrn Losberne nach Olivers Zimmer.

Dieser hatte geschlafen, aber er sah kränker und fiebriger aus als vorher. Er richtete sich mit des Doktors Hilfe im Bette auf, blickte verständnislos auf die Fremden und schien keine Ahnung davon zu haben, wo er sich befand.

„Das“, sagte Herr Losberne lebhaft, aber mit leiser Stimme, „ist der Junge, der auf eines Nachbarn Grundstück durch Selbstschuß verwundet wurde und heute morgen hier um Hilfe anklopfte. Er wurde dann sogleich von diesem schlauen Herrn da, der die Kerze in der Hand hat, ergriffen und in einer Weise mißhandelt, die lebensgefährlich genannt zu werden verdient. Ich sage das als Sachverständiger.“

Herr Giles blickte verdutzt auf die Polizeibeamten und den Doktor.

„Ich nehme an, Sie wollen das nicht ableugnen“, sagte der Doktor und legte Oliver wieder in die Kissen zurück.

„Es geschah alles in der besten Absicht“, antwortete Giles. Gewiß – ich dachte, es wäre der Junge, sonst hätte ich mich nicht in der Weise an ihm vergriffen. Icb bin doch kein brutaler Kerl, Herr Doktor.“

„Sie dachten, es wäre wessen Junge?“ fragte Blathers.

„Des Einbrechers Junge“, antwortete Giles. „Sie hatten einen Jungen bei sich.“

„Glauben Sie das noch?“

„Was, glauben?“ fragte Giles mit leerem Blick.

„Daß es derselbe Junge ist, den die Einbrecher bei sich hatten, Idiot!“ sagte Blathers ungeduldig.

„Ich weiß nicht, weiß es wirklich nicht“, sprach Giles mit Jammermiene. „Drauf schwören, daß er es ist, kann ich nicht.“

„Nun, wofür halten Sie ihn denn?“

„Ich weiß nicht, wofür ich ihn halten soll. Ich glaube nicht, daß es der Junge ist, ich möchte sagen, ich weiß es fast gewiß, daß er es nicht sein kann. Sie wissen, es ist nicht möglich.“

„Hat der Mann getrunken?“ fragte Blathers den Doktor.

„Sie sind wirklich ein richtiger Konfusionsrat“, sagte Duff zu Giles mit verächtlicher Miene.

Der Doktor hatte währenddessen Olivers Puls gefühlt, er bemerkte nun, daß, wenn die Herren noch Zweifel hätten, so möchten sie so gut sein und in das anstoßende Zimmer gehen und dort Brittles verhören.

Die beiden Beamten begaben sich nun in das nächste Gemach und vernahmen Brittles. Dieser verwickelte sich in so viele Widersprüche, daß daraus nur seine eigene Unklatheit deutlich wurde. Er erklärte, daß er den Jungen des Einbrechers, wenn man ihm denselben vorführen würde, nicht wiedererkennen würde. Er habe Oliver nur für diesen Jungen gehalten, weil Herr Giles sagte, er wäre es. In der Küche habe eben Herr Giles aber gesagt, er fürchtete, in der Sache ein wenig voreilig gewesen zu sein.

Es wurde nun die Frage aufgeworfen, ob Herr Giles überhaupt jemand getroffen habe. Als man die zweite Pistole untersuchte, stellte sich heraus, daß sie nur mit Pulver geladen war. Diese Entdeckung machte auf alle einen tiefen Eindruck – nur auf den Doktor nicht, der einige Minuten vorher die Kugel herausgezogen hatte. Nun überließen die Kriminalbeamten, ohne sich weiter um Oliver zu kümmern, das Haus der Obhut des Ortspolizisten und nahmen ihr Nachtlager in der Stadt. Am nächsten Morgen wollten sie wiederkommen.

Des anderen Tages verbreitete sich das Gerücht, daß sich im Gefängnis von Kingston zwei Männer und ein Junge befänden, die in der Nacht unter verdächtigen Umständen aufgegriffen worden seien. Blathers und Duff begaben sich sofort dorthin. Eine genaue Untersuchung stellte fest, daß die Männer schlafend in einer Scheune gefunden waren. Obgleich dies nun ein „großes“ Verbrechen war, konnte es doch nur mit Gefängnis bestraft werden. In Ermangelung aller weiteren Zeugnisse vermochte man es aber nicht als einen genügenden Beweis zu betrachten, daß die Schläfer einen mit Gewalttat verbundenen Einbruch begangen hätten und damit der Todesstrafe verfallen wären. Die beiden Detektive kehrten also ebenso klug zurück, wie sie hingegangen waren.

Um uns kurz zu fassen – nach einigem Hin und Her ließ sich der benachbarte Friedensrichter leicht bewegen, Frau Maylies und Herrn Losbernes Bürgschaft dafür anzunehmen, daß Oliver, falls verlangt, vor Gericht erscheine. Blathers und Duff, mit einigen Guineen von Frau Maylie belohnt, kehrten mit grundverschiedenen Ansichten von der Sache nach London zurück. Der letztere neigte nach reiflicher Erwägung aller Umstände zu dem Glauben, daß der Einbruch von der Familie Pet verübt sei, während ersterer zu dem Schlusse kam, daß einzig und allein der große Herr Conkey Chickweed die Tat ausgeführt haben könnte.

Inzwischen erholte sich Oliver allmählich unter Frau Maylies, Rosas und des guten Doktors Pflege.

Von dem glücklichen Leben, das Oliver bei seinen gütigen Beschützerinnen zu führen anfing

Oliver hatte viel Schmerzen auszustehen. Die Wunde tat arg weh, und dazu gesellte sich noch ein heftiges Fieber, das viele Wochen anhielt und ihn sehr herunterbrachte. Endlich fing es an mit ihm besser zu werden, und er konnte unter Tränen seinen Dank abstatten und sagen, wie tief er die Güte der Damen empfinde. Er wünschte und hoffte, ihnen nach seiner Genesung Beweise seiner Dankbarkeit geben zu können. Er sehne sich danach, ihnen irgendwie dienen zu können, damit sie sähen, daß sie ihre Güte nicht an einen Unwürdigen verschwendet hätten.

„Liebes Kind“, sagte Rosa, „du wirst manche Gelegenheit dazu haben. Wir gehen aufs Land, und meine Tante will dich mitnehmen. Die ländliche Ruhe und die reine Luft werden dich in kurzer Zeit wieder ganz gesund machen, dann wollen wir dich auf hunderterlei Art beschäftigen, sobald du der Mühe gewachsen bist.“

„Mühe?“ rief Oliver. „Ach, liebes Fräulein, wenn ich nur für Sie arbeiten oder Ihnen eine Freude machen könnte, indem ich Ihre Blumen begösse, Ihre Vögel pflegte oder Gänge für Sie machte. Ich würde wer weiß was darum geben!“

„Gar nichts sollst du darum geben“, versetzte Rosa lächelnd, „denn wie ich schon vorhin sagte, wirst du dich auf vielerlei Art nützlich machen können. Wenn du nur die Hälfte davon hältst, was du jetzt versprichst, so wirst du mich sehr glücklich machen.“

„Glücklich?“ rief Oliver aus. „Wie lieb sind Sie!“

„Du wirst mich glücklicher machen, als ich dir sagen kann“, entgegnete die junge Dame. „Schon der Gedanke, daß meine liebe Tante das Werkzeug Gottes gewesen ist, jemand aus einer so unglücklichen Lage, wie du sie beschrieben hast, zu erretten, gewährt mir eine unaussprechliche Freude. Aber die Überzeugung, daß ihr Schützling in aufrichtigem Danke ihr zugetan ist, macht mich überglücklich. Verstehst du mich?“ fragte sie, Olivers nachdenkliches Gesicht betrachtend.

„O ja, Fräulein“, antwortete Oliver hastig. „Aber es fiel mir eben ein, daß ich jetzt schon undankbar bin.“

„Gegen wen?“ fragte Rosa.

„Gegen den gütigen Herrn und die liebe alte Dame, die sich meiner so herzlich angenommen haben. Ich weiß bestimmt, sie würden sich freuen, wenn sie erführen, daß ich hier so glücklich bin.“

„Das glaube ich auch, und Herr Losberne hat sich bereits vorgenommen, mit dir dort einen Besuch zu machen, sobald es dein Zustand erlaubt.“

„Wirklich, Fräulein?“ rief Oliver, und sein Gesicht strahlte. „Ach, ich wüßte mich vor Freude nicht zu lassen, wenn ich die lieben Menschen wiedersehen würde.“

Nach ziemlich kurzer Zeit war Oliver so weit wiederhergestellt“ daß er die kleine Reise zu Herrn Brownlow wagen durfte. In einem kleinen Wagen der Frau Maylie fuhr er zusammen mit Herrn Losberne nach Pentonville. Als sie an die Chertseybrücke kamen, erblaßte Oliver und stieß einen lauten Schrei aus.

„Was ist los?“ fragte der Doktor mit seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit. „Siehst du etwas? Hörst du etwas? Fühlst du etwas – wie?“

„Dort, Herr Doktor, jenes Haus!“

„Ja – was ist damit? Halt, Kutscher! – Was ist mit dem Hause, Junge, he?“

„Die Diebe – in jenes Haus haben sie mich mitgenommen“, flüsterte Oliver.

„Donnerwetter! Halt, Kutscher, ich will aussteigen!“

Aber ehe noch der Kutscher halten konnte, war der Doktor schon aus dem Wagen gesprungen. Er lief auf das Haus zu und begann wie toll an die Tür zu klopfen.

„Hallo, was soll der Lärm?“ schrie ein kleiner, buckliger Mann und öffnete die Tür so plötzlich, daß Losberne beinahe ins Haus gefallen wäre.

„Was das soll?“ brüllte er und packte das Männchen am Kragen. „Gar viel. Es ist von Raub und Einbruch die Rede.“

„Und auch bald von Mord“, versetzte der Bucklige kaltblütig, „wenn Sie mich nicht sofort loslassen, verstanden?“

„Ich verstehe sehr gut“, entgegnete der Doktor und schüttelte ihn kräftig. „Wo ist – Donnerwetter, wie heißt doch gleich der verdammte Spitzbube – Sikes – richtig. – Wo ist Sikes, Halunke?“

Der Bucklige starrte ihn entrüstet und wütend an, entwand sich dann durch eine geschickte Bewegung den Händen des Doktors und zog sich in das Haus zurück, schreckliche Flüche ausstoßend. Ehe er jedoch die Tür zumachen konnte, war Herr Losberne, ohne ein Wort zu sprechen, ins Zimmer eingedrungen. Er sah sich schnell um, aber nichts entsprach Olivers Beschreibung vom Hause.

„Nun“, sagte das Männchen, „was soll das bedeuten, daß Sie so gewaltsam in mein Haus eindringen? Wollen Sie mich berauben – oder ermorden?“

„Hast du jemals gehört, daß man in dieser Absicht im Wagen vorgefahren kommt und sich Zeugen mitbringt, du alter Idiot?“ brüllte der nervöse Doktor.

„Zum Teufel, was wollen Sie denn sonst?“ fragte der Bucklige heftig. „Wenn Sie sich nicht augenblicklich ‚rausscheren, gibt’s ein Unglück.“

„Ich werde gehen, wenn es mir paßt“, sagte Losberne und guckte in ein anderes Zimmer. Es hatte aber auch keine Ähnlichkeit mit dem von Oliver beschriebenen. „Ich werde schon einmal dahinterkommen, Freundchen!“

„So – wirklich?“ höhnte der bucklige Krüppel. „Ich bin immer hier zu finden, wenn Sie mich suchen. Ich habe in diesem Hause fünfundzwanzig Jahre lang, und von den Leuten als Verrückter gemieden, gelebt. Ich laß mich von Ihnen nicht schikanieren. Dafür sollen Sie mir büßen.“ Er schrie und brüllte in höchster Wut wie ein Wahnsinniger.

„Dumme Sache“, murmelte der Doktor, „der Junge muß sich getäuscht haben. – Hier – steckt das ein und haltet’s Maul.“ Er warf dem Buckligen ein Geldstück zu und ging zum Wagen zurück.

Das kleine Männchen folgte ihm unter gräßlichen Flüchen und Verwünschungen an den Wagenschlag und warf auf Oliver voller Haß und Wut einen Blick, der den armen Jungen im Wachen und Träumen noch monatelang verfolgte. Das Herumtoben hörte gar nicht auf, und noch aus der Entfernung konnte man das kleine Scheusal schreien hören und sich die Haare raufen sehen.

„Ich bin ein Esel“, sagte der Doktor nach einer langen Pause. „Wußtest du das schon vorher, Oliver“

„Nein, Herr Doktor!“

„Dann merke es dir für ein andermal.“

„Ein Esel!“ wiederholte Herr Losberne nach einer weiteren Pause. „Selbst wenn es das richtige Haus war und die Verbrecher drin, was hätte ich als einzelner machen können? Und hätte ich auch ausreichenden Beistand gehabt, hätte es mir doch nichts genützt. Im Gegenteil, die ganze Geschichte, welche ich vertuschen wollte, wäre ans Tageslicht gekommen. Wäre mir aber ganz recht geschehen, ich bringe mich immer von einer Patsche in die andere durch mein unbeherrschtes Wesen. So hätte es nur als Warnung dienen können.“

Der treffliche Doktor hatte sein ganzes Leben lang nie anders als nach den Eingebungen des Augenblicks gehandelt. Es gereichte aber seinem Herzen, aus dem sie kamen, nicht zur Unehre, daß er sich dadurch die Liebe und Achtung aller derjenigen erwarb, die ihn kannten. Um die Wahrheit zu gestehen, er war darüber ärgerlich, daß es ihm bei dieser Gelegenheit nicht gelungen war, einen überzeugenden Beweis für die Richtigkeit von Olivers Erzählungen zu erhalten. Doch die Verstimmung währte nicht lange, und da Olivers Antworten auf seine Fragen klar und bestimmt gegeben wurden und den früheren auch nicht widersprachen, so nahm er sich vor, ihnen in Zukunft vollen Glauben zu schenken.

Da Oliver den Namen der Straße kannte, in der Herr Brownlow wohnte, so bedurfte es keiner weiteren Nachfrage. Als die Kutsche um die Ecke bog, und Oliver das Haus sah, schlug sein Herz zum Zerspringen.

„Nun, wo ist’s?“ fragte Herr Losberne.

„Dort, das weiße Gebäude“, erwiderte der Junge, hastig aus dem Fenster zeigend. „Ach, lassen Sie schnell fahren, es ist mir, als müßte ich vergehen. Ich zittere am ganzen Leibe.“

„Beruhige dich, Junge“, sagte der Doktor und klopfte Oliver beschwichtigend auf die Schultern. „Gleich bist du da, und sie werden mächtig erfreut sein, dich gesund und munter wiederzusehen.“

„Ach, das hoffe ich auch. Sie waren so gut, so furchtbar gut zu mir.“

Die Kutsche rollte weiter. Sie hielt nun. – Nein, das war nicht das rechte Haus – das nächste. Man fuhr weiter und machte abermals halt. Oliver sah aus dem Fenster, und Tränen der Freude rollten ihm über die Backen.

Aber ach, das Haus war leer. Am Fenster klebte ein Zettel mit der Aufschrift. Zu vermieten!

„Wir wollen im nächsten Haus fragen“, rief der Doktor, Oliver am Arm nehmend. – „Können Sie uns nicht sagen, was aus Herrn Brownlow geworden ist, der nebenan gewohnt hat?“

Das Dienstmädchen wußte es nicht, wollte aber fragen gehen. Sie kam schnell wieder zurück und sagte, Herr Brownlow hätte alle seine Besitzungen verkauft und wäre vor sechs Wochen nach Westindien gegangen. Oliver rang die Hände und taumelte zurück.

„Hat er seine Hausdame auch mitgenommen?“ fragte Herr Losberne nach kurzer Pause.

„Ja“, antwortete das Mädchen. „Der alte Herr, die Hausdame und ein Freund von Herrn Brownlow – alle reisten miteinander.“

„Also wieder nach Hause“, rief der Doktor dem Kutscher zu. „Die Pferde können Sie füttern, wenn wir dieses verfluchte London erst mal im Rücken haben!“

„Wollen wir nicht zu dem Buchhändler, ich kenne den Weg. Besuchen Sie ihn doch“, bat Oliver.

„Lieber Junge, wir haben heute genug Enttäuschungen erlebt“, sagte der Doktor. „Für uns beide gerade hinreichend. Wenn wir zu dem Buchhändler führen, würden wir sicher hören, er sei tot oder weggelaufen oder hätte sein Haus angezündet. Nein, nein wir fahren nach Hause.“

Dieses Mißgeschick verursachte Oliver inmitten seines Glückes vielen Kummer. Hatte es ihm doch während seiner Krankheit manche frohe Stunde bereitet, wenn er sich ausmalte, wie sich Herr Brownlow und Frau Bedwin freuen würden, ihn wiederzusehen. Auch hatte die Hoffnung, sich ihnen gegenüber rechtfertigen zu können, ihn in seinen neuen ihm auferlegten Prüfungen aufrecht erhalten. Er erlag fast dem Gedanken, daß sie so weit fortgezogen seien mit dem Glauben, er wäre ein Betrüger und Dieb – einem Glauben, den ihnen zu nehmen, er vielleicht bis zu seinem Tode nicht imstande war.

Das Benehmen seiner Wohltäter gegen ihn blieb unverändert freundlich. Als nach vierzehn Tagen schönes, warmes Wetter einzutreten begann, und Sträucher und Bäume sich in frisches Grün kleideten, traf man Anstalten, die Villa in Chertsey auf einige Monate zu verlassen. Das Silberzeug, welches die Habgier des Juden so erregt hatte, wurde der Bank in Verwahrung gegeben, und die Bewachung des Hauses Giles und einem anderen Diener anvertraut. Dann reisten die Damen aufs Land und nahmen Oliver mit.

Der neue Aufenthalt unserer Familie war ein ungemein liebliches Fleckchen Erde, und für Oliver, der bisher seine Tage fast immer in dumpfigen Räumen zugebracht hatte, schien ein neues Leben zu erblühen. Rosen und Geißblatt umrankten die Wände des Häuschens. Efeu kroch um die Stämme der Bäume, und die Blumen des Gartens erfüllten die Luft mit ihrem Duft. In der Nähe befand sich ein kleiner Gottesacker, unter dessen niedrigen Rasenhügeln die alten Leute des Dorfes ihren letzten Schlaf schliefen. Oliver machte hierher oft seinen Spaziergang, setzte sich manchmal, wenn er des ärmlichen Grabes seiner Mutter gedachte, an einem der Hügel nieder und schaffte seinem Herzen durch Tränen Erleichterung.

Es war eine glückliche Zeit. Froh und heiter entschwanden ihm die Tage, und die Nächte brachten ihm nur freundliche Träume. Alle Morgen besuchte er einen in der Nähe der kleinen Kirche wohnenden alten Herrn im Silberhaar, der ihn besser lesen und schreiben lehrte und sich so große Mühe mit ihm gab, daß Oliver alles aufbot, um ihm recht viel Freude zu machen. Dann ging er mit Frau Maylie oder Rosa spazieren, oder saß neben ihnen im Garten und hörte aufmerksam zu, wenn die junge Dame vorlas. Nachher hatte er für den nächsten Tag seine Aufgaben zu lernen, mit denen er in einem kleinen Gartenzimmer eifrig beschäftigt war, bis der Abend herankam, und die Damen ihn abermals auf ihre Spaziergänge mitnahmen. Wenn es ganz dunkel geworden war, und sie nach Hause zurückkehrten, setzte sich Rosa gewöhnlich ans Klavier und spielte irgendeine sanfte Weise oder sang mit lieblicher Stimme ein altes Lied, das die Tante zu hören wünschte.

Wenn dann erst der Sonntag kam – wie ganz anders wurde der zugebracht, als er ihn bisher zu verleben gewohnt war. Morgens war er in der Kirche, wo die grünen Blätter um die Fenster rankten. Dann kamen wieder Spaziergänge, und abends las Oliver einige Kapitel aus der Bibel.

Morgens ganz früh war Oliver auf den Beinen, streifte durch die Wiesen und Felder und brachte mächtige Sträuße wildwachsender Blumen nach Hause. Er schmückte damit den Frühstückstisch.

So entschwanden drei Monate, die für Oliver wahre Tage der Seligkeit waren.

In dem das Glück Olivers und seiner Freunde plötzlich einen argen Stoß erleidet

Der Frühling ging schnell dahin, und der Sommer kam. Das ruhige Leben in dem kleinen Häuschen ging unverändert fort, und Frohsinn und Heiterkeit herrschten dort. Oliver war schon lange gesund und kräftig geworden, aber er blieb stets der sanfte, stille, liebevolle Junge, der er in den Tagen war, als er noch der Pflege und Wartung bedurfte.

An einem schönen Sommerabend hatten die Damen einen ungewöhnlich langen Spaziergang gemacht, denn der Tag war sehr heiß gewesen, und der Abendwind hatte etwas Kühlung gebracht. Da man im heiteren Gespräch den Ausflug länger als sonst ausgedehnt hatte, fühlte sich Frau Maylie ziemlich ermüdet, und man kehrte nun langsam nach Hause zurück. Rosa nahm ihren Strohhut ab, setzte sich wie gewöhnlich ans Klavier, und nach einem langen Vorspiel ging sie in eine gehaltene, feierliche Melodie über, während deren man sie auf einmal laut schluchzen hörte.

„Was ist dir, liebes Kind?“ fragte Frau Maylie.

Rosa erwiderte nichts, sondern spielte etwas schneller, als ob die Frage sie aus einem schmerzlichen Gedankengang geweckt hätte.

„Rosa, Liebling!“ rief die alte Dame und eilte zu dem jungen Mädchen, sie umarmend, „was ist mit dir? In Tränen gebadet? Was drückt dich?“

„Nichts, Tante, nichts“, versetzte Rosa. „Ich weiß nicht, was es ist, kann es nicht beschreiben, aber –“

„Du bist doch nicht krank, Liebling?“ unterbrach sie Frau Maylie.

„Ach nein, ich glaube nicht“, erwiderte das junge Mädchen, zusammenschauernd, als wenn ein Fieber sie schüttelte. „Wenigstens wird mir bald wieder besser sein. Bitte schließe das Fenster.“

Oliver beeilte sich, ihrem Wunsche nachzukommen. Das junge Mädchen suchte nun ihre Heiterkeit wiederzugewinnen und fing an, eine lustige Weise zu spielen. Die Finger versagten ihr aber bald den Dienst und fielen kraftlos auf die Tasten. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, sank aufs Sofa und ließ ihren jetzt hervorquellenden Tränen freien Lauf.

„Mein Kind“, sagte Frau Maylie und schloß sie in die Arme, „so habe ich dich noch nie gesehen!“

„Ich wollte Sie nicht gern in Unruhe versetzen“, sagte Rosa, „aber ich konnte die Tränen nicht aufhalten, soviel Mühe ich mir auch gab. Ich glaube jetzt selbst, Tante, ich bin krank.“

Sie war es auch tatsächlich, denn als Licht hereingebracht wurde, bemerkte man, daß sich ihre gesunde Gesichtsfarbe in der kurzen Zeit seit ihrer Heimkehr in Marmorblässe verwandelt hatte.

Oliver blickte die alte Dame ängstlich an, und sein Herz war beklommen. Als er aber sah, daß die Tante ihre Besorgnis zu verbergen suchte, so bemühte er sich, ein gleiches zu tun. Rosa erklärte nun zu Bett gehen zu wollen und entfernte sich mit der Versicherung, daß sie sich schon besser fühle und hoffe, morgen wieder ganz gesund zu erwachen.

„Fräulein Rosa wird doch nicht ernstlich krank sein, gnädige Frau“, sagte Oliver, als Frau Maylie, die Rosa beigleitet hatte, wieder ins Zimmer trat.

Die alte Dame winkte ihm zu schweigen, setzte sich in eine dunkle Ecke des Raumes und blieb selbst eine Weile stumm. Endlich begann sie mit bebender Stimme:

„Ich hoffe nicht, Oliver. Ich bin mit ihr verschiedene Jahre sehr glücklich gewesen – zu glücklich vielleicht, und es könnte Zeit sein, daß mich wieder ein Unglück trifft. Lieber Gott, bloß das nicht.“

„Was für ein Unglück, gnädige Frau?“

„Das Unglück, das liebe Mädchen zu verlieren“, erwiderte die Dame mit tonloser Stimme. „Sie war so lange mein Trost und mein Glück.“

„Das wolle Gott verhüten!“ rief Oliver hastig.

„Ich sage dazu Amen“, sprach darauf die alte Dame und faltete fromm die Hände.

„Ach, ich glaube, wir haben so etwas Schreckliches nicht zu befürchten, vor zwei Stunden war sie ja noch ganz munter.“

„Aber jetzt ist sie sehr krank, und ich habe Angst, daß es noch schlimmer werden wird. Meine liebe, liebe Rosa, was soll ich anfangen ohne dich!“

Die alte Dame erlag fast ihren trostlosen Vorstellungen und gab sich so sehr ihrem Kummer hin, daß Oliver, seine eigene Herzensangst unterdrückend, sie bat, um des lieben Fräuleins willen gefaßter zu sein.

„Bedenken Sie doch, gnädige Frau“, sagte Oliver und suchte vergebens seine Tränen zurückzudrängen, „wie jung und gut sie ist. Ich bin überzeugt, daß sie um Ihretwillen, die Sie selbst so gut sind, und um unser allerl willen, die sie so glücklich macht, nicht sterben wird. Unmöglich kann Gott sie jetzt schon hinübergehen lassen, so grausam ist er nicht!“

„Still, du denkst und sprichst wie ein Kind“, sagte Frau Maylie und streichelte Oliver das Gesicht. „Aber du hast mir eben eine Lehre gegeben, denn ich hatte meine Pflicht vergessen. Ich hoffe jedoch Vergebung zu finden, denn ich bin alt und habe genug Krankheiten und Tod gesehen, um den Schmerz zu kennen, die sie den Angehörigen zufügen, denen sie das Liebste rauben!“

Es folgte eine bange Nacht, und als der Morgen graute, zeigte es sich nur zu sehr, wie recht Frau Maylie mit ihrer Voraussagung hatte. Rosa lag im ersten Stadium eines heftigen und gefährlichen Fiebers.

„Wir müssen uns tummeln, Oliver, und uns keinem nutzlosen Kummer hingeben“, sagte Frau Maylie, dem Jungen mit tapferer Miene ins Gesicht guckend. „Dieser Brief muß so schnell wie möglich an Herrn Losberne befördert werden. Am besten durch reitenden Boten. Du sorgst dafür, daß es geschieht. Und dann ist hier noch ein anderes Schreiben“, fuhr Frau Maylie nach kurzem Besinnen fort, „ich weiß aber nicht, ob ich es jetzt schon absenden soll. Ich möchte es nur abgehen lassen, wenn das Schlimmste zu befürchten wäre.“

„Soll es auch nach Chertsey, gnädige Frau?“ fragte Oliver und streckte die Hand danach aus.

„Nein“, erwiderte die Dame, indem sie ihn mechanisch hinreichte.

Oliver las die Adresse: Herrn Harry Maylie, in dem Hause eines Lords auf dem Lande, dessen Namen ihm fremd war.

„Soll er abgehen, gnädige Frau?“ fragte Oliver.

„Nein, ich will bis morgen warten.“ Mit diesen Worten gab Frau Maylie Oliver ihre Börse und dieser eilte fort, um den Brief an Herrn Losberne auf die Post zu bringen. Er jagte über die Felder und erreichte bald den Marktplatz des kleinen Fleckens. Vor dem Gasthof mit Namen „Der Georg“ redete Oliver einen Postillion an, der auf einer Bank dahindöste. Er wies ihn an den Wirt, der an einem Brunnen beim Stall lehnte und einen fleißigen Gebrauch von einem silbernen Zahnstocher machte. Dieser Herr schritt bedächtig nach seinem Kontor, um die Posttaxe auszurechnen, was ziemlich lange dauerte. Als dies geschehen und die Bezahlung geleistet war, mußte der Reitknecht sich anziehen und das Pferd satteln. Dadurch vergingen wieder zehn Minuten. Oliver wurde ungeduldig, er wäre am liebsten aufs Pferd gesprungen und selbst mit dem Briefe weggeritten. Endlich war alles bereit, und der Bote gab dem Gaul die Sporen und jagte davon.

Es ist schon etwas, zu wissen, daß keine Zeit verloren gegangen ist, wenn man nach Hilfe geschickt hat. Oliver eilte daher mit erleichtertem Herzen über den Hof und wollte gerade durch den Torweg gehen, als er gegen einen großen Mann rannte, der in einen Mantel gehüllt aus dem Gasthaus trat.

„Donnerwetter, was ist das?“ schrie dieser und prallte zurück.

„Verzeihung, ich wollte schnell nach Hause und habe Sie nicht kommen sehen.“

„Tjod und Teufel!“ brummte der Mann vor sich hin und stierte Oliver mit seinen großen schwarzen Augen an. „Wer hätte das gedacht! Selbst, wenn man ihn zu Staub mahlen würde, stünde er aus seinem Felsengrabe wieder auf und käme mir in die Quere.“

„Es tut mir leid“, stammelte Oliver, betroffen von dem wilden Blick des Mannes. „Es ist Ihnen doch nichts passiert?“

„Krepiere!“ zischte der Fremde wütend durch die zusammengebissenen Zähne. „Hätte ich nur den Mut gehabt, das einzige Wort auszusprechen, so wäre ich ihn in einer Nacht losgeworden. Fluch auf dein Haupt und die Pest in deinen Leib, du Teufelsbraten. Was hast du hier zu schaffen?“

Der Unbekannte drohte mit der Faust, als er diese unzusammenhängenden Worte sprach. Wie er sich jedoch auf Oliver stürzen wollte, um ihn zu schlagen, fiel er plötzlich mit Krämpfen auf die Erde, und dicker Schaum trat ihm auf die Lippen.

Oliver eilte ins Haus, um Hilfe für den Wahnsinnigen herbeizuholen, denn dafür hielt er ihn. Als er ihn in guter Obhut wußte, verlor er keine Zeit und begann mit großer Hast nach Hause zu rennen, dabei nicht ohne Bangigkeit an das merkwürdige Benehmen des Fremden zurückdenkend.

Mit Rosa Maylie war es schlimmer geworden, das Fieber hatte einen hohen Grad erreicht, und sie phantasierte. Ein im Dorfe wohnender Mediziner, der nicht von ihrem Bette wich, hatte Frau Maylie beiseite genommen und ihr erklärt, daß es ein schwerer Fall wäre. Ein Wunder würde es sein, wenn sie wieder aufkäme.

Wie oft sprang in der Nacht Oliver aus dem Bette, um ängstlich und besorgt an der Zimmertür der Kranken zu horchen. Wie heiß und innig betete er für das Leben und die Gesundheit des edlen Midchens.

Der Morgen kam, und das kleine Landhaus war still und öde. Man sprach nur im Flüsterton. Losterne langte erst spät in der Nacht an.

„Es ist furchtbar traurig“, sagte der Doktor, indem er sein Gesicht abwandte, „so jung – von allen geliebt – und so wenig Hoffnung.“

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne so herrlich, als ob sie keinen Schmerz zu bescheinen hätte. Oliver schlich nach dem Gottesacker, setzte sich auf einen Grabhügel und weinte bittere Tränen um Rosa. Seine traurigen Gedanken unterbrach das Läuten der Kirchenglocke. Sie rief zu einem Leichenbegängnis. Eine Gruppe Leidtragender trat durch das Friedhofstor – mit weißen Bändern geschmückt, denn es sollte ein Jüngling begraben werden. Sie standen mit entblößten Häuptern um das Grab und weinten. Aber die Sonne schien heiter vom Himmel, und die Vögel sangen lustig in den Zweigen.

Oliver kehrte heim, und als er zu Hause anlangte, saß Frau Maylie in dem kleinen Wohnzimmer. Sein Mut sank, als er sie sah, denn sie hatte das Krankenlager ihrer Nichte nie verlassen. Er erfuhr, daß Rosa in einen tiefen Schlaf verfallen sei, aus dem sie entweder zum Leben oder zum letzten Abschied erwachen würde.

Sie saßen stundenlang, ohne zu sprechen, in Erwartung beieinander und rührten keine Speisen an. Schließlich erfaßten ihre lauschenden Ohren das Geräusch näher kommender Tritte und sie eilten beide zugleich an die Tür, als Herr Losberne eintrat.

„Wie geht es Rosa?“ fragte Frau Maylie. „Schnell, sagen Sie es mir! Ich kann alles, nur nicht diese peinvolle Ungewißheit vertragen! Sprechen Sie, reden Sie, um Himmels willen!“

„Fassen Sie sich“, sagte der Doktor, sie stützend. „Ich bitte, bleiben Sie ruhig, liebe, gnädige Frau!“

„um Gottes Willen, lassen Sie mich! Mein armes Kind! Sie ist tot! Sie liegt im Sterben!“

„Nein!“ sagte der Doktor bewegt. „Da ER gütig und barmherzig ist, wird sie leben, um uns noch viele Jahre zu beglücken.“

Die alte Dame fiel auf die Knie und versuchte, ihre Hände zu falten. Die Willenskraft aber, die sie so lange aufrecht erhalten hatte, versagte mit dem ersten Dankgebet, das sie zum Himmel sandte, und sie sank ohnmächtig in die Arme des herbeieilenden Doktors.

Enthält einige einleitende Bemerkungen über einen jungen Herrn, der jetzt auf der Bildfläche erscheint, und ein neues Abenteuer, das Oliver erlebt

Es war fast des Glückes zuviel, um ertragen werden zu können. Oliver war durch diese unerwartete Nachricht ganz betäubt. Er vermochte weder zu weinen, noch zu sprechen. Ein langer Spaziergang in der weichen Abendluft, auf dem er reichlich Tränen vergoß, brachte ihm Erleichtemng. Jetzt erst schien er auf einmal zum vollen Bewußtsein der glücklichen Wendung gekommen zu sein, und seine Brust fühlte sich von einem Alp befreit.

Die Nacht war bereits hereingebrochen, als er nach Hause ging, beladen mit Blumen, die er mit besonderer Sorgfalt für die Kranke gepflückt hatte. Plötzlich hörte er hinter sich eine Postkutsche in rasender Fahrt herankommen. Als der Wagen an ihm vorbeijagte, konnte Oliver im Innern einen Mann mit weißer Nachtmütze erkennen, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam. Im nächsten Augenblick fuhr die Nachtmütze durch das Fenster heraus und befahl dem Postillon mit mächtiger Stimme haltzumachen. Als die Pferde standen, kam der Kopf mit der Nachtmütze wieder zum Vorschein, und eine bekannte Stimme rief Oliver an.

„Hallo, wie steht’s? Was macht Fräulein Rosa?“

„Ach, Sie sind es, Giles!“ schrie Oliver und eilte an den Wagenschlag.

Giles wollte gerade etwas erwidern, als er durch einen jungen Mann beiseitegedrängt wurde, der in einer Ecke des Wagens saß. Hastig fragte er Oliver nach dem Stand der Dinge zu Hause.

„Mit einem Wort“, rief der junge Herr „geht es besser oder schlechter?“

„Besser – viel besser“, sagte Oliver schnell.

„Gott sei Dank!“ rief der Herr. „Weißt du es auch ganz gewiß?“

„Ganz gewiß“, entgegnete Oliver. „Die Wendung zum Besseren trat erst vor ein paar Stunden ein, und Herr Losberne meint, alle Gefahr wäre nun vorüber.“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, sprang der junge Herr aus dem Wagen und zog Oliver zur Seite.

„Du bist ganz sicher, mein Junge, ein Irrtum deinerseits ist ausgeschlossen?“ fragte der Herr mit bebender Stimme. „Erwecke nicht unnötigerweise Hoffnungen in mir, die vielleicht nie in Erfüllung gehen.“

„Um keinen Preis würde ich das tun. Sie dürfen mir schon glauben. Es sind des Doktors eigene Worte, daß sie leben werde, um uns alle noch viele Jahre zu beglücken. Ich selbst hab‘ es so von ihm gehört.“

Die Tränen standen Oliver in den Augen, und der junge Herr wandte sein Gesicht ab, ohne etwas zu erwidern. Der Junge glaubte ihn ein paar Mal schluchzen zu hören. Endlich sagte der Herr zu Giles:

„Es ist wohl besser, Sie fahren mit der Kutsche vorab, während ich zu Fuß nachkomme. Ich muß mich erst sammeln, bevor ich sie sehe. Sie können meiner Mutter schon immer bestellen, daß ich bald da sein werde.“

„Verzeihung, Herr Harry, ich würde Ihnen aber sehr zu Danke verpflichtet sein, wenn Sie sich durch den Postillion anmelden ließen. Ich kann mich so nicht zeigen, ich würde bei der Dienerschaft allen Respekt verlieren!“

„Nun“, entgegnete Harry Maylie lächelnd, „handeln Sie nach Gutdünken. Soll also der Postillion vorfahren und uns anmelden, und Sie gehen mit uns. Aber vertauschen Sie die Nachtmütze mit einer anderen Kopfbedeckung, damit man uns nicht für Verrückte hält.“

Herr Giles riß die Nachtmütze vom Kopfe, steckte sie in die Tasche und setzte sich einen Hut auf, den er seinem Gepäck entnahm. Der Postillion fuhr nun weiter, und die drei folgten gemächlich nach.

Als sie so dahinschritten, blickte Oliver von Zeit zu Zeit den neuen Ankömmling verstohlen an. Er war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und von mittlerer Größe; er hatte ein hübsches, offenes Gesicht und gewinnende Manieren. Trotz dem großen Altersunterschied war die Ähnlichkeit mit Frau Maylie so auffallend, daß Oliver mühelos die Verwandtschaft herausgefunden haben würde, hätte der junge Herr auch nicht von ihr als von seiner Mutter gesprochen.

Diese erwartete ihn bereits mit großer Sehnsucht, und als er endlich anlangte, war sie ganz gerührt und zerfloß in Tränen.

„Ach, Mutter“, sagte der junge Mann, „warum hast du mir nicht früher geschrieben?“

„Ich hatte geschrieben, aber nach reiflicher Überlegung entschloß ich mich, den Brief zurückzuhalten, bis ich Herrn Losbernes Meinung gehört hätte!“

„Aber warum? Warum ließest du es darauf ankommen, was beinahe eingetreten wäre? Wenn Rosa – wenn diese Krankheit eine andere Wendung genommen hätte, hättest du dir das je verzeihen können? Niemals im Leben wäre ich wieder froh geworden.“

„Wenn es so gekommen wäre, wäre dein Glück für immer vernichtet worden und es von keiner Bedeutung gewesen, ob du einen Tag früher oder später gekommen wärst.“

„Und wer kann sich darüber wundern, wenn es so wäre, Mutter? Aber was rede ich von wenn. Es ist so, du weißt es, Mutter – du mußt es wissen!“

„Ich weiß, daß sie die innigste und reinste Liebe verdient, die ein Mann ihr bieten kann, und ich weiß auch, daß ihre zärtliche Hingebung eine nicht gewöhnliche, sondern eine tiefe und dauernde Gegenliebe fordert. Wüßte ich nicht, daß ein verändertes Benehmen desjenigen, den sie liebt, ihr Herz brechen müßte, so würde mir meine Aufgabe nicht so schwierig vorkommen.“

„Mutter, hältst du mich denn noch immer für einen Knaben, der sich selbst nicht kennt?“

„Ich glaube, lieber Harry, daß die Jugend viele edle Gefühle hegt, die aber häufig nicht von Dauer sind und ganz schwinden, wenn sie befriedigt sind. Und dann glaube ich, daß ein feuriger, ehrgeiziger, junger Mann, wenn er im Besitze eines Weibes ist, auf deren Namen – wenn auch ohne ihre Schuld – ein Makel haftet, eines Tages die eingegangene Verbindung bereuen dürfte, besonders wenn er eine glänzende Laufbahn erfolgreich eingeschlagen hat, und die Welt seiner Frau und ihm den Makel zum Vorwurf und Gegenstand ihres Spottes macht.“

„Mutter, nur ein erbärmlicher Egoist könnte so handeln!“

„So denkst du jetzt, Harry!“

„Und werde immer so denken. Die Herzensnot, welche ich während der beiden letzten Tage erlitten habe, ringt mir das Geständnis einer Liebe ab, die, wie du wohl weißt, nicht von gestern stammt und nicht leichtfertig und vorübergehend ist. An Rosa, dem süßen, holden Mädchen hängt mein Herz so innig, wie nur je das Herz eines Mannes an dem eines Weibes. Ich habe keine Gedanken, keine Zukunft, keine Lebenshoffnung außer ihr; und wenn du mir zu diesem heißersehnten Ziele in den Weg trittst, so zerstörst du mein Glück für immer. Mutter, denke besser von mir und überlege noch einmal, verkenne die heiße Liebe nicht, die du so gering anzuschlagen scheinst!“

„Harry, weil ich so hoch von edlen und gefühlvollen Herzen denke, möchte ich ihnen Enttäuschungen und Wunden ersparen. Doch wir haben jetzt genug und übergenug von der Sache gesprochen.“

„So laß Rosa entscheiden. Du wirst mir doch mit deinen überstrengen Ansichten nicht Hindernisse in den Weg legen?“

„Gewiß nicht, aber ich möchte, daß du gut überlegst.“

„Ich habe überlegt – jahrelang – seit ich überhaupt zu denken und überlegen fähig war. Meine Gefühle sind unverändert geblieben und werden es auch bleiben. Und warum soll ich die Qual des Aufschiebens erdulden, ohne daß es einen vernünftigen Sinn hat. Nein, Rosa muß mich anhören, ehe ich wieder abreise.“

„Sie soll es!“

„Du sprichst in einer Weise, Mutter, als ob du andeuten wolltest, daß sie mich kalt anhören wird.“

„Gewiß nicht kalt, weit entfernt davon.“

„Sie liebt doch keinen anderen?“

„Nein, ich müßte mich sehr täuschen, wenn du nicht bereits einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hast. – Ich wollte dir aber noch das eine sagen, ehe du dein Schicksal herausforderst, das dich auf den Gipfel des Glückes tragen soll – denke, lieber Harry, einige Augenblicke über Rosas Lebensgeschichte nach und erwäge reiflich, welchen Eindruck das Bewußtsein ihrer zweifelhaften Herkunft auf ihre Entscheidung üben muß. Ziehe dabei ihr edles, aufopferndes Herz in Betracht, wie sie es bei allen Gelegenheiten gezeigt hat.“

„Was willst du damit sagen?“

„Das mußt du selbst herausfinden. – Doch ich muß jetzt zu Rosa zurück!“

„Ich sehe dich doch heute abend noch?“

„Wenn ich von Rosa abkommen kann!“

„Wirst du ihr sagen, daß ich hier bin?“

»Natürlich!“

„Und ihr sagen, welche Angst ich um sie ausgestanden hätte, und wie ich mich sehne, sie zu sehen? Das kannst du mir nicht abschlagen, Mutter?“

„Nein, ich will’s ihr sagen.“

Die alte Dame drückte ihrem Sohne zärtlich die Hand und eilte aus dem Zimmer.

Während dieses flüchtigen Gespräches standen Herr Losberne und Oliver an der anderen Seite des Gemachs.

Der Doktor begrüßte jetzt Harry durch Handschlag und erstattete ihm einen ausführlichen Bericht über die Krankheit und das Befinden der Patientin. Herr Giles, der sich an dem Gepäck zu schaffen machte, hörte gespannt zu.

„Haben Sie in der letzten Zeit nichts Besonderes geschossen, Giles?“ fragte der Doktor, nachdem er Harry alles erzählt hatte.

„Nein, Herr Doktor, nichts Besonderes“, erwiderte Giles und wurde bis über die Ohren rot.

„Auch keine Einbrecher gefangen oder Diebe erwischt?“ fuhr Herr Losberne boshaft fort.

„Keins von beiden“, versetzte Giles mit vieler Würde.

„Nun, das tut mir leid; in derartigen Dingen besitzen Sie doch eine große Geschicklichkeit. Was macht denn Brittles?“

„Dem Jungen geht’s gut und läßt sich Ihnen gehorsamst empfehlen, Herr Doktor.“

„Danke. übrigens, da fällt mir ein, daß ich Ihnen noch etwas von Ihrer Herrschaft zu bestellen habe, was ich am Tage, als ich so schnell fort mußte, nicht mehr ausführen konnte. Kommen Sie mal bitte mit mir in jene Ecke!“

Herr Giles begab sich mit dem Doktor dahin und nach einem kurzen Geflüster ging er unter vielen Verbeugungen aus dem Zimmer. Der Gegenstand des Gespräches wurde im Zimmer weiter nicht erörtert, aber ohne Verzug in der Küche ausposaunt. Denn Herr Giles begab sich sofort dahin, ließ sich ein Glas Bier geben und verkündete mit großer Feierlichkeit, die ihren Eindruck nicht verfehlte, daß es der gnädigen Frau gefallen habe, die Summe von fünfundzwanzig Pfund für ihn bei der städtischem Sparkasse einzuzahlen. Als Anerkennung für sein mutiges Benehmen bei dem Einbruch. Auf diese Mitteilung erhoben die Köchin und das Dienstmädchen Augen und Hände und meinten, Herr Giles werde wohl nun anfangen, mächtig stolz zu werden, worauf dieser, an seiner Halsschleife zupfend, erwiderte, das sei ausgeschlossen. Er würde ihnen danken, wenn sie ihn dann darauf aufmerksam machten, falls er sich einmal hochmütig gegen Untergebene gäbe.

Oben verging der Abend in heiterster Stimmung, denn Herr Losberne war äußerst gut gelaunt; und wie ermüdet und nachdenklich Harry Maylie auch anfangs sein mochte, so konnte er doch dem Humor des Doktors nicht widerstehen. Dieser gab eine Anzahl von lustigen Erlebnissen aus seiner Praxis zum besten, und Oliver glaubte, nie etwas Drolligeres gehört zu haben. So mußte er zur großen Freude des Doktors fortwährend lachen, und dieser lachte mit. Da Lachen ansteckend wirkt, so stimmte schließlich auch Harry in das allgemeine Gelächter ein. Kurz, die Gesellschaft war so vergnügt, als sie den Umständen nach sein konnte. Es war bereits spät, als man sich trennte und zur Ruhe ging, deren sie alle nach den Aufregungen der letzten Tage so sehr bedurften.

Oliver stand am anderen Morgen viel fröhlicher auf und ging mit größerer Lust an seine gewöhnliche Beschäftigung als sonst. Er pflückte die schönsten Blumen des Feldes, um Rosa eine Freude zu bereiten. Die Melancholie, die von ihm Besitz genommen hatte, war wie durch Zauberei verschwunden. Der Tau schien ihm blendender im Grase zu funkeln und der Himmel im herrlicheren Blau zu leuchten. Solchen Einfluß übt unsere Stimmung auf Außendinge. Die Menschen, die in der Natur und an ihren Nächsten alles trübe und düster sehen, haben recht; aber diese dunklen Farben sind nur der Widerschein ihrer kranken Seele.

Oliver brauchte seine Morgenspaziergänge nicht mehr allein zu machen. Nachdem Harry Maylie ihn am ersten Tage mit seiner Ladung hatte heimkehren sehen, faßte der junge Mann eine solche Leidenschaft für Blumen und entwickelte einen so feinen Geschmack in der Anordnung derselben, daß er seinen jungen Freund weit hinter sich ließ. Mochte aber Oliver in dieser Hinsicht im Nachteil sein, so wußte er dafür die Stellen, wo die schönsten zu finden waren. Alle Morgen durchstreiften sie miteinander die Umgegend und brachten stets das Schönste, was auf den Feldern und Wiesen stand, nach Hause.

Die Fenster in Rosas Zimmer wurden jetzt weit geöffnet, denn die duftige Sonnenluft tat der Patientin wohl. In einem Fenster stand jeden Morgen ein frischer Blumenstrauß, und es entging Oliver nicht, daß die welken Blumen nie weggeworfen wurden. Er bemerkte auch, daß der Doktor, wenn er in den Garten kam, stets nach dem Fenster guckte und bedeutsam mit dem Kopfe nickte. So verflossen die Tage schnell, und Rosa erholte sich wieder vollständig.

Auch auf Oliver lastete die Zeit nicht schwer, obgleich die junge Dame noch immer das Zimmer nicht verlassen durfte und von Abendspaziergängen keine Rede war, ausgenommen dann und wann ganz kurze mit Frau Maylie. Er verdoppelte seinen Fleiß in den Unterrichtsstunden des silberlockigen alten Herrn und war über seine schnellen Fortschritte selbst erstaunt. Da wurde er eines Tages durch einen unerwarteten Vorfall aufs äußerste erschreckt.

Das kleine Zimmer, in dem er bei seinen Schularbeiten saß, war im Erdgeschoß, nach hinten hinaus. Man hatte von ihm die Aussicht auf den Garten, aus dem ein Pförtchen nach einem eingezäunten Rasenplatz führte. Jenseits war alles Wiesenland und Buschwerk und so hatte man eine ziemliche weite Rundsicht.

An einem schönen Abend, in der Dämmerung, saß Oliver am Fenster, noch eifrig in einem Buche lesend. Da der Tag ziemlich schwül war, überfiel ihn plötzlich eine Müdigkeit, und er schlief über dem Buch ein.

Zuweilen beschleicht uns eine Art Schlummer, die zwar den Leib gefangen hält, aber der Seele die Empfindung für die Außenwelt nicht nimmt. Oliver wußte daher recht gut, daß er in seinem eigenen kleinen Zimmer war – und doch schlief er. Plötzlich trat eine Umwandlung seiner Umgebung ein, die Luft wurde schwül, und er glaubte mit Angst und Schrecken, wieder im Hause des Juden zu sein. Dort saß der abscheuliche Alte in seiner gewohnten Ecke, zeigte auf ihn und flüsterte leise mit einem anderen Mann, der mit abgewandtem Gesicht neben ihm auf einem Stuhle Platz genommen hatte.

„Pst, Freundchen“, glaubte er den alten Juden sagen zu hören, „er ist es, gewiß und wahrhaftig. Komm weg!“

„Glaubt Ihr, ich erkannte ihn nicht?“ schien der andere zu antworten. „Wenn eine Legion von Teufeln seine Gestalt annähme, und er stände mitten unter ihnen, ich würde ihn herausfinden. Verscharrt ihn fünfzig Fuß tief und führt mich über sein Grab, ich würde es wissen, daß er drunten läge, wenn auch kein Merkmal oder sonst ein Zeichen es andeutete!“

Der Mann schien diese Worte in einem so fürchterlichen Tone des Hasses zu sagen, daß Oliver entsetzt auffuhr und erwachte.

Guter Gott! was trieb ihm da auf einmal das Blut so stürmisch zum Herzen und raubte ihm Sprache und Bewegungsfreiheit? Dort – dort – am Fenster – dicht vor ihm, so dicht, daß er ihn fast hätte berühren können, ehe er zurückprallte – mit durchdringenden Blicken ins Zimmer sehend und den seinigen begegnend – dort stand der Jude. Und neben ihm, blaß vor Furcht oder Wut, oder vielleicht beidem, der Mann mit wild verzerrtem Gesicht, mit dem er im Gasthaus des Posthalters zusammengestoßen war.

Doch nur einen Augenblick – dann waren sie verschwunden. Aber er hatte sie und sie ihn erkannt. Er stand eine Sekunde wie vom Blitz getroffen da. Dann sprang er aus dem Fenster in den Garten und rief laut um Hilfe.

Enthält das unbefriedigende Ergebnis von Olivers Abenteuern und ein ziemlich wichtiges Gespräch zwischen Harry Maylie und Rosa

Als man auf Olivers Rufen herbeieilte, fand man ihn blaß und zitternd dastehen. Er zeigte nach der Wiese hinter dem Garten und konnte nur mühsam die Worte hervorbringen: „Der Jude – der Jude!“

Herr Giles konnte aus diesem Ausruf nicht klug werden. Aber Harry Maylie, dessen Auffassungsgabe schneller war und der obendrein Olivers Geschichte von seiner Mutter gehört hatte, begriff sofort.

„Welche Richtung hat er eingeschlagen?“ fragte er und nahm einen Knüppel auf, der zufällig da herumlag.

„Dorthin“, erwiderte Oliver, den Weg andeutend, den die Männer genommen hatten. „Ich habe sie eben erst aus den Augen verloren.“

„Dann sind sie im Graben“, sagte Harry. „Folgt und haltet euch dicht an mir!“

Mit diesen Worten sprang er über die Hecke und schoß wie ein Pfeil dahin, so daß die anderen Mühe hatten nachzukommen.

Giles und Oliver rannten ihm nach, so schnell sie konnten, und einige Minuten später setzte Herr Losberne, der gerade von einem Spaziergange heimkehrte – allerdings etwas ungeschickt – ebenfalls über die Hecke und strauchelte. Er raffte sich aber schneller, als man von ihm erwartet hätte, wieder auf und stürmte den übrigen mit langen Schritten nach. Dabei brüllte er mit mächtiger Stimme, fragend, was denn los sei. So ging’s immer weiter, und keiner hielt inne, um neuen Atem zu schöpfen, bis der Anführer an den Graben gelangte und diesen sorgfältig zu untersuchen begann. Dadurch gewannen die übrigen Zeit heranzukommen, und Oliver konnte dem Dokter die Veranlassung zu dieser wilden Jagd mitteilen.

Aber alles Suchen war vergeblich. Nicht einmal frische Fußspuren ließen sich entdecken.

„Du mußt geträumt haben, Oliver“, sagte Harry, ihn beiseitenehmend.

„Nein, nein, gewiß nicht. Ich habe ihn ganz deutlich gesehen. Sie standen so bestimmt vor mir wie Sie jetzt.“

„Wer war der andere?“ fragten Harry und der Doktor zu gleicher Zeit.

„Derselbe Mensch, der mich, wie ich Ihnen erzählte, im Gasthaus des Posthalters so ausschimpfte. Er sah mir gerade in die Augen, und ich könnte darauf schwören, daß er es wäre.“

„Und weißt du auch ganz gewiß, daß sie diesen Weg einschlugen?“

„So gewiß, wie ich weiß, daß sie vor dem Fenster standen.“

Die beiden Herren sahen Olivers ernstes Gesicht und guckten dann einander an, sie schienen sich durch seine bestimmten Antworten überzeugen zu lassen. Aber nirgends ließen sich Spuren finden. Das Gras war lang und nur da niedergetreten, wo sie selbst gelaufen waren.

„Das ist merkwürdig“, meinte Harry.

„Sehr merkwürdig!“ bestätigte Herr Losberne. „Selbst Blathers und Duff vermöchten nicht klug daraus zu werden.“

Trotz der anscheinenden Erfolglosigkeit ihres Suchens, setzten sie es bis zum Einbruch der Nacht fort, erst dann ließen sie, wenn auch ungern, davon ab.

Am nächsten Morgen wurden die Nachsuchungen wieder aufgenommen, aber mit keinem günstigeren Erfolge. Tags darauf gingen Harry und Oliver nach dem Marktflecken in der Hoffnung, vielleicht dort etwas über die Männer zu erfahren, aber vergebens; und nach einigen Tagen fing man an, die Geschichte zu vergessen, nachdem der Reiz des Seltsamen aus Mangel an neuer Nahrung erstorben war.

Inzwischen ging es mit Rosas Genesung schnell vorwärts. Sie durfte das Zimmer verlassen, konnte ausgehen und brachte, als sie dem Familienkreise wieder zurückgegeben war, Sonne und neues Leben in aller Herzen.

Aber obgleich sich in den Räumen des kleinen Landhauses wieder heiteres Geplauder und frohes Lachen vernehmen ließ, entging es Oliver nicht, daß sich manchmal eine ungewohnte Zurückhaltung bei den beiden jungen Leuten geltend machte. Frau Maylie und ihr Sohn waren oft lange Zeit miteinander eingeschlossen, und mehr als einmal zeigten sich Tränenspuren auf Rosas Gesicht. Als der Doktor den Tag seiner Abreise nach Chertsey festgesetzt hatte, trat es klar zutage, daß etwas vorging, was den Seelenfrieden der jungen Dame und noch eines anderen Menschen beeinträchtigte.

Als endlich Rosa eines Morgens im Wohnzimmer allein war, trat Harry ein und bat mit stockender Stimme um die Erlaubnis, sie einige Augenblicke ungestört sprechen zu dürfen.

“ Wenige – sehr wenige – werden genügen, Rosa. Was ich dir zu sagen habe, weißt du bereits. Die größten Hoffnungen meines Lebens sind dir nicht unbekannt, obgleich sie noch nie über meine Lippen gekommen sind.“

Rosa war bei seinem Eintreten blaß geworden, was vielleicht noch eine Nachwirkung der Krankheit war. Sie nickte zustimmend, beugte sich über einige Blumen, die in ihrer Nähe standen, und wartete schweigend darauf, daß er anfangen würde.

„Ich – ich hätte schon früher abreisen sollen.“

„Gewiß, Harry. Verzeihe, daß ich so rede, aber ich wünschte, du hättest es getan.“

„Die Angst, das einzige Wesen zu verlieren, das mein ein und mein alles ist, hat mich hierhergetrieben. Du warst dem Tode nahe – schwanktest auf der Scheidelinie zwischen Himmel und Erde.“

Bei diesen Worten perlten Tränen in den Augen des holden Mädchens.

„Ein Engel“, fuhr Harry leidenschaftlich fort, „ein Wesen so schön und unschuldig, wie einer von Gottes Engeln, schwebte zwischen Tod und Leben. Rosa! Rosa! zu wissen, daß du entschwändest, keine Hoffnung zu haben, daß du den hienieden Weilenden erhalten bliebest – das waren Gedanken, fast zu schwer, um ertragen werden zu können. Aber sie lasteten Tag und Nacht auf meiner Seele, und denken zu müssen, du könntest dahinscheiden, ohne zu erfahren, wie innig ich dich liebe, das brachte mich dem Wahnsinn nahe. Du genasest wieder, und ich habe dich vom Tode zum Leben zurückkehren sehen, Dank gegen Gott im Herzen.“

„Ach, wärest du doch abgereist, um dich deinen edlen Bestrebungen, die deiner so würdig sind, wieder ganz zu widmen“, erwiderte Rosa unter Tränen.

„Es gibt kein Streben, das meiner würdiger wäre als das Ringen um ein Herz wie das deinige.“ Er ergriff ihre Hand und fuhr leidenschaftlich fort: „Rosa, liebe Rosa, ich habe dich seit Jahren geliebt. Ich hoffte mir Ruhm zu gewinnen, um dann stolz heimzukehren und dir zu sagen, daß ich ihm nur nachjagte, um ihn mit dir zu teilen. Die Blütenträume meiner Liebe gaukelten mir diesen glücklichen Augenblick vor. Ich erinnere dich an die stummen Andeutungen, in denen dir schon der Knabe sein Herz geoffenbart hat, und an das Erröten, mit dem du sie aufnahmst. Ich dachte dann auf deine Hand Anspruch zu machen und damit einen längst zwischen uns schweigend geschlossenen Vertrag zu besiegeln. Die Zeit ist noch nicht gekommen, kein Ruhm geerntet, keiner meiner Jugendträume hat sich verwirklicht. Trotzdem biete ich dir mein Herz an – so lange schon das deine – und setze mein alles auf die Antwort, die meinem Antrag von dir zuteil wird!“

„Dein Handeln war immer gut und edel“, sagte Rosa, den Sturm ihrer Gefühle niederkämpfend, „damit du aber nicht glaubst, ich sei undankbar und gefühllos, so höre meine Antwort.“

„Wird sie mich auffordern, daß ich mich bemühen soll, dich zu verdienen, teuerste Rosa?“

„Nein, sie will dich bloß bitten, mich zu vergessen, das heißt nur als Gegenstand deiner Liebe, nicht aber als deine alte, dir herzlich zugetane Gespielin, denn das würde mich sehr kränken. Schau hinaus in die Welt, wieviele Herzen gibt es zu gewinnen, auf die du ebenso stolz sein kannst. Mache mich bei einer anderen Liebe zu deiner Vertrauten, und ich will dir die aufrichtigste und zuverlässigste Freundin sein.“

Eine Pause folgte, während der Rosa ihr Gesicht mit der einen Hand bedeckte und ihren Tränen freien Lauf ließ. Die andere Hand hielt Harry immer noch fest.

„Und deine Gründe, Rosa –“ fragte er endlich leise. „Deine Gründe für diese Entscheidung, darf ich sie wissen?“

„Du hast ein Recht darauf, sie zu erfahren“, erwiderte Rosa, „kannst ihnen aber nichts entgegenhalten, was meinen Entschluß zu ändern vermöchte. Es ist eine Pflicht, die ich erfüllen muß. Ich schulde es anderen und mir.“

„Dir?“

„Ja, Harry, ich bin es mir selbst schuldig. Ein Mädchen ohne Eltern und Vermögen, mit einem Flecken auf seinem Namen, darf der Welt keinen Anlaß zu der Annahme geben, sie hätte aus niedrigen Beweggründen deiner ersten Leidenschaft nachgegeben und dadurch wie ein Bleigewicht deinen Aufstieg gehemmt. Ich habe gegen dich und die Deinen die Verpflichtung, es zu verhindern, daß du, durch dein edles Herz getrieben, deiner Laufbahn eine solche Belastung aussetzt.“

„Wenn deine Neigungen mit diesem Pflichtgefühle im Einklang stehen –-“ sagte Harry.

„Das ist nicht der Fall“, versetzte Rosa, tief errötend.

„So erwiderst du also meine Liebe?“ rief Harry, „sage nur das, Rosa, sage nur das, und lindere meinen Schmerz und meine Enttäuschung!“

„Wenn ich es hätte tun können, ohne gegen ihn, den ich liebe, ein großes Unrecht zu begehen“, antwortete Rosa, „so würde ich –“

„Die Erklärung meiner Liebe ganz anders aufgenommen haben?“ fiel Harry ein. „Verhehle mir wenigstens das nicht, Rosa!“

„Ja“, bestätigte sie, „doch“, fuhr sie fort und zog ihre Hand aus der seinigen, „warum wollen wir dieses peinliche Gespräch fortsetzen? Peinlich, und mich doch so beseligend. Ja, zu wissen, daß ich von dir geliebt wurde, wird mir stets eine Quelle hohen Glückes sein. Lebe wohl, Harry, denn so wie wir uns heute gegenüberstanden, wird es nie mehr der Fall sein; und so möge dich mein Segen begleiten.“

„Noch ein Wort, Rosa! Deine Gründe – ich möchte sie aus deinem eigenen Munde hören.“

„Die schönsten Aussichten stehen dir offen, alle Ehren sind dir erreichbar, die durch Talent und einflußreiche Verbindungen errungen werden können. Aber deine Verwandten und Gönner sind stolz, und ich will mich nicht in ihre Kreise drängen, zumal sie meine Mutter verachten, die mir das Leben gab. Ich will auch nicht Unehre über den Sohn derjenigen bringen, die an mir Mutterstelle vertreten hat. Mit einem Worte“, – und dabei wandte sie sich ab, um ihre Rührung zu verbergen – „es haftet ein Makel auf meinem Namen, und der soll nicht auf einen anderen übergehen. Der Fluch soll mich allein treffen.“

„Ach, nur noch ein – nur noch ein einziges Wort, teuerste Rosa!“ rief Harry und warf sich ihr zu Füßen. „Wäre ich – im Sinne der Welt – weniger vom Glück begünstigt – wäre kein glänzendes, sondern ein unbeachtetes Leben mein Los – wäre ich arm, krank, hilflos – würdest du mich auch dann abweisen, oder kommen dir die Bedenken nur wegen meiner vermuteten Aussicht auf eine ehrenreiche Laufbahn?“

„Dränge mich nicht zu einer Antwort. Von einer solchen Frage ist – und wird nie die Rede sein. Es ist nicht hübsch von dir, mir solche Gewissensfragen zu stellen!“

„Wenn deine Antwort lautete, wie ich fast zu hoffen wage, so wird sie einen beglückenden Hoffnungsstrahl auf meinen einsamen Weg werfen und die düstere Bahn vor mir erhellen. Hältst du es denn nicht der Mühe für wert, durch das Aussprechen einiger weniger Worte soviel für einen zu tun, der dich über alles liebt? Ach, Rosa, ich beschwöre dich bei meiner heißen, unvergänglichen Liebe, bei allem, was ich für dich gelitten habe, und was ich um deiner Entscheidung willen noch leiden soll – beantworte mir nur diese einzige Frage!“

„Nun denn, wenn dir ein anderes Los beschieden gewesen wäre – wenn du nur ein wenig und nicht gar so hoch über mir ständest, wenn ich dir in einer bescheidenen, zufriedenen und unabhängigen Stellung eine Kameradin sein könnte und nicht befürchten müßte, stets als ein Hindernis für dein Streben angesehen zu werden, so wäre uns wohl diese harte Prüfung erspart geblieben. Ich habe jetzt alle Ursache glücklich, ja, sehr glücklich zu sein; aber dann, Harry – ich gestehe es – dann hätte mein Glück keine Grenzen gekannt.“

Mächtige Erinnerungsbilder tauchten vor Rosa auf, während sie dies Eingeständnis machte, aber sie brachten auch Tränen mit sich, in denen sie jedoch Erleichterung fand.

„Ich kann meiner Schwäche nicht wehren, aber sie wird mich in meinem Entschluß nicht wankend machen“, sagte Rosa und reichte ihm ihre Hand hin. „Doch jetzt muß ich dich verlassen.“

„Versprich mir eines“, erwiderte Harry, „gestatte mir noch ein einziges Mal – in einem Jahre oder lieber noch früher – ein letztes Mal über diese Sache mit dir zu sprechen!“

„Willst du mich etwa dann drängen, meinen unabänderlichen Entschluß umzustoßen?“ sagte sie mit wehmütigem Lächeln. „Es würde nutzlos sein.“

„Nein, um dich ihn wiederholen zu hören, falls es dir beliebt. Ich will dir meine Stellung und alles, was ich dann habe, zu Füßen legen, und wenn du bei deiner heutigen Abweisung beharrst, so will ich mich fügen.“

„Gut, es sei so. Es ist nur ein Schmerz mehr, und ich bin vielleicht dann imstande, ihn leichter zu tragen!“

Sie reichte ihm noch einmal die Hand. Harry aber schloß das Mädchen in seine Arme und drückte einen Kuß auf ihre reine Stirn, dann eilte er hinaus.

Ist zwar sehr kurz und erscheint hier vielleicht als nicht besonders wichtig, sollte aber doch gelesen werden, weil es eine Ergänzung des vorhergehenden ist und ein Schlüssel zu einem späteren

„Sie sind also entschlossen, heute mein Reisegefährte zu sein, wie?“ fragte der Doktor, als er mit Harry und Oliver beim Frühstück saß. Es scheint, ihre Entschlüsse wechseln mit jeder halben Stunde!“

„Sie werden bald anders von mir denken“, entgegnete Harry, ohne erkennbaren Grund rot werdend.

„Das würde mir lieb sein“, sagte Herr Losberne, „obgleich ich gestehen muß, daß ich es bezweifle. Gestern morgen setzten Sie sich in den Kopf, hierzubleiben und als gehorsamer Sohn Ihre Mutter an die See zu begleiten. Es war noch nicht Mittag, als Sie mir mitteilten, Sie wollten mir die Ehre Ihrer Gesellschaft bis London schenken. Abends dringen Sie ganz geheimnisvoll in mich, ich solle abreisen, ehe die Damen aufständen. Die Folge davon ist, daß der kleine Oliver am Frühstückstisch sitzen muß, anstatt botanisieren gehen zu können. Das ist doch arg – nicht wahr, Oliver?“

„Es hätte mir sehr leid getan, Herr Doktor, wenn Ich bei Ihrer und Herrn Maylies Abreise nicht zugegen gewesen wäre“, erwiderte Oliver.

„Du bist ein guter Junge. Mußt mich auch mal besuchen, wenn ihr wieder zurück seid. Aber Spaß beiseite, hat irgendeine Mitteilung der Bonzen in der Regierung Sie zu dieser schleunigen Abreise veranlaßt?“

„Die Bonzen, zu denen Sie wohl auch meinen Onkel zählen, haben mir nichts sagen lassen, solange ich hier bin. Es ist auch nicht wahrscheinlich, daß sich in dieser Jahreszeit etwas ereignet, was meine dortige Anwesenheit erforderlich macht!“

„Sie sind ein schnurriger Kerl“, meinte Herr Losberne. „Man wird Sie aber wahrscheinlich bei der Weihnachtswahl ins Parlament bringen wollen, und dieses plötzliche Ändern der Entschlüsse ist keine schlechte Vorbereitung für das politische Leben.“

Harry machte Miene, ihm eine schlagfertige Antwort zu geben, er begnügte sich jedoch mit der Bemerkung: „Wir werden sehen!“ und ließ den Gegenstand fallen. Die Postkutsche fuhr kurz darauf vor, und als Giles kam, um das Gepäck zu holen, eilte der Doktor hinaus, um die Unterbringung desselben zu überwachen.

„Oliver“, sagte Harry leise, „ich muß noch ein paar Worte mit dir reden.“

Der Junge trat zu ihm ans Fenster, verwundert über Harrys Traurigkeit und Unruhe.

„Du kannst jetzt gut schreiben“, sagte Harry und legte die Hand auf Olivers Arm.

„Ich denke doch.“

„Ich komme vielleicht auf einige Zeit nicht wieder nach Hause und wünsche, daß du mir schreibst – so alle vierzehn Tage. Willst du das?“ fragte Herr Maylie.

„Gern, ich bin stolz darauf, daß ich es tun darf“, sagte der Junge, ganz erfreut über diesen Auftrag.

„Es wäre mir lieb, zu erfahren, wie – wie es meiner Mutter und Fräulein Rosa geht. Du kannst daher einen ganzen Bogen voll schreiben und mir erzählen, was ihr für Spaziergänge macht, wovon ihr sprecht, und ob sie – ja, ich meine sie beide –, ob sie heiter und zufrieden sind. Verstehst du?“

„Vollkommen“, antwortete Oliver.

„Du brauchst ihnen übrigens nichts davon zu sagen“, fügte Harry schnell, wie beiläufig, hinzu. „Es könnte meine Mutter beunruhigen, und sie würde mir dann häufiger schreiben, was ihr in ihren Jahren ein wenig schwer fällt. Es soll daher ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben, aber vergiß ja nicht, mir alles mitzuteilen. Ich verlasse mich auf dich!“

Oliver fühlte sich mächtig geehrt und wichtig und versprach, seine Berichte auf das ausführlichste abzufassen. Herr Maylie sagte ihm nun unter der Versicherung seines Wohlwollens Lebewohl.

Der Doktor saß bereits im Wagen, Giles hielt den geöffneten Kutschenschlag, und Harry sprang in den Wagen, nachdem er noch zuvor einen Blick nach Rosas Fenster geworfen hatte.

„Los!“ rief er dem Postillion zu, fahre so schnell du kannst, heute muß es wie im Fluge gehen!“

„Hallo!“ brüllte der Doktor durchs Vorderfenster zum Kutscher, „ich will nichts vom Fliegen wissen, verstanden?“

Rasselnd rollte der Wagen davon, und lange noch schauten die Augen einer jungen Dame ihm nach. Rosa stand nämlich hinter den weißen Vorhängen ihres Fensters verborgen und hatte von dort aus Harrys letzten Blick aufgefangen.

„Er scheint ganz heiter und glücklich zu sein“, murmelte sie. „Ich hatte schon Angst, daß es anders sein könnte, aber ich habe mich getäuscht und bin froh darüber!“

Tränen sind ebensogut Zeichen der Freude wie des Schmerzes, aber die, welche über Rosas Wangen perlten, als sie in Gedanken verloren am Fenster saß und immer noch in dieselbe Richtung schaute, schienen mehr aus Herzeleid als aus Freude vergossen zu sein.

In welchem der Leser einen im ehelichen Leben nicht selten sich zeigenden Gegensatz beobachten kann

Herr Bumble saß in seinem Wohnzimmer im Armenhause und blickte mit schwermütigen Augen in den Kamin, von dem aber kein heller Glanz ausging, da es Sommer war und kein Feuer brannte. Ein Streifen Leimpapier hing als Fliegenfänger von der Decke hinunter, um den die Fliegen lustig herumgaukelten, ahnten sie doch nicht, daß er ihnen Verderben brachte. Schwere Seufzer entrangen sich Herrn Bumbles Brust, wenn er seine Augen zur Decke hob, riefen ihm doch die dort sorglos spielenden Fliegen ein schmerzliches Ereignis seines vergangenen Lebens ins Gedächtnis. Es war jedoch nicht allein Herrn Bumbles melancholische Stimmung, die des Lesers Mitleid erregen mußte, es fehlte auch nicht an anderen Anzeichen, die bekundeten, daß eine große Veränderung in der Lage der Dinge stattgefunden haben müsse. Die schöne Uniform des Gemeindedieners mit dem dazugehörigen Dreispitz – wo waren sie hingekommen? Der Rock, den er jetzt trug, war von dem Uniformrock ach, so sehr verschieden, und der pompöse Dreispitz hatte einem bescheidenen runden Hute Platz machen müssen. Herr Bumble war nicht mehr Gemeindediener.

Es gibt Beförderungen im Leben, die, abgesehen von den damit verbundenen geldlichen Vorteilen, noch eine besondere Bedeutung und Würde durch die dazugehörige Tracht erhalten. Ein Feldmarschall hat seine Uniform, ein Bischof seinen Ornat, ein Ratsherr seinen Talar und ein Amts- und Gemeindediener seinen dreieckigen Hut. Nimm dem Bischof seinen Ornat oder dem Amtsdiener seinen Hut und Rock – was bleibt? Menschen – bloße Menschen. Würde, und bisweilen sogar Heiligkeit, hängen weit mehr von Uniform und Ornat ab, als viele Leute ahnen.

Herr Bumble hatte Frau Corney geheiratet und war Armenhausvater geworden. Ein anderer Gemeindediener war zur Macht gelangt, und der Dreispitz, die Uniform und der Stock waren auf ihn übergegangen.

„Morgen werden’s zwei Monate!“ seufzte Herr Bumble. Es scheint ein Menschenalter zu sein.“

Er wollte vielleicht damit sagen, daß das Glück eines ganzen Lebens sich in den kurzen Zeitraum von acht Wochen zusammengedrängt hätte – aber die Seufzer! Es lag so viel darin.

„Ich verkaufte mich“, fuhr er, seine Gedanken weiterd spinnend, fort, „für sechs Teelöffel, eine Zuckerzange, einen Milchtopf, etliche alte Möbel und zwanzig Pfund in bar. Ach, ich habe mich viel zu billig fortgegeben“

„Billig?“ kreischte eine grelle Stimme in Herrn Bumbles Ohr. „Du bist noch umsonst zu teuer, und Gott im Himmel weiß, daß ich dich teuer genug bezahlt habe.“

Herr Bumble drehte sich um und sah seine Ehehälfte streng an. Diese hatte seine Seufzer nur unvollständig verstanden und ihre Bemerkungen auf gut Glück hingeworfen.

„Frau Bumble!“ sagte der Ehegemahl vorwurfsvoll.

„Nun?“ schrie die Dame.

„Bitte, sieh mich an!“ („Wenn sie einen solchen Blick aushalten kann, so ist sie zu allem fähig. Er hat meines Wissens bei den Armen nie seine Wirkung verfehlt, und sollte er hier versagen, so ist’s mit meiner Macht aus.“)

Ob nun ein strenger Blick hinreichend ist, Armenhäusler, die freilich der spärlichen Nahrung wegen keine besonders kräftigen Nerven haben, in Schrecken zu versetzen, oder ob die vormalige Frau Corney sogar gegen Adlerblicke gefeit war – wir wissen es nicht. Tatsache aber war, daß die Dame sich keineswegs durch Herrn Bumbles finsteren Blick und Stirnrunzeln einschüchtern ließ. Sie nahm ihn mit Verachtung auf und lachte nur geringschätzig.

Als Herrn Bumble diese unerwarteten Lachtöne ans Ohr schlugen, machte er zuerst ein ungläubiges, dann aber ein bestürztes Gesicht. Er versank darauf wieder in sein trostloses Brüten, aus dem er aber bald durch die Stimme seiner holden Gattin geweckt wurde.

„Willst du den ganzen Tag dasitzen und schnarchen?“ fragte Frau Bumble.

„Solange, wie es mir beliebt“, entgegnete Herr Bumble, „und obgleich ich nicht schnarchte, werde ich es aber doch tun, auch gähnen, niesen, lachen oder weinen, gerade, wie es mir paßt. Denn ich habe das Recht dazu.“

„Das Recht?“ höhnte sie mit unaussprechlicher Verachtung.

„Jawohl Frau Bumble. Der Mann hat die Kommandogewalt.“

„Und was wäre denn, beim Himmel, das Recht der Frau?“ schrie die Hinterbliebene des seligen Herrn Corney.

„Sie muß gehorchen“, donnerte Herr Bumble. „Das hätte dich dein unglückseliger seliger Mann schon lehren sollen, dann wäre er vielleicht noch am Leben. Ach, wie sehr wünschte ich, daß er es wäre.“

Frau Bumble sah jetzt, daß der entscheidende Augenblick gekommen war. Es galt jetzt die Herrschaft an sich zu reißen oder endgültig darauf zu verzichten. Bei der Anspielung auf ihren ersten Gatten sank sie auf einen Stuhl und erklärte Herrn Bumble für ein hartherziges Scheusal, dabei brach sie in einen Strom von Tränen aus.

Doch Tränen waren nicht der Weg, auf dem Herrn Bumble beizukommen war. Sein Herz war wasserdicht. Wie die waschbaren Filzhüte, die durch Regen immer besser werden, wurden seine Nerven durch Tränen kräftiger. Diese schienen ihm ein Zeugnis der Schwäche zu sein und somit eine Unterwerfung unter seine Oberherrlichkeit. Er blickte daher mit großer Zufriedenheit auf sein holdes Ehegespons und ermunterte sie, aus Leibeskräften zu weinen, da es nach Ansicht der Ärzte eine ganz gesunde und körperlich wohltätige Übung sei.

„Es lüftet die Lungen, wäscht das Gesicht rein, stärkt die Augen und beruhigt das Gemüt, also weine nur“, sagte Herr Bumble trocken.

Nachdem Herr Bumble diesen Witz angebracht hatte, nahm er seinen Hut und setzte ihn verwegen aufs Ohr, wie ein Mann, der die Überzeugung hat, seine Herrschaft auf geeignete Weise behauptet zu haben. Die Hände in den Taschen ging er triumphierend auf die Tür zu.

Aber dieses Experiment auf nassem Wege hatte Frau Bumble nur angestellt, weil sie es weniger anstrengend hielt als einen Boxkampf. Sie war aber auch bereit, diesen zu wagen, was Herr Bumble bald spüren sollte.

Die erste Probe davon bestand in einem hohlen Tone, dessen unmittelbare Folge war, daß sein Hut nach der entgegengesetzten Ecke des Zimmers flog. Dieses einleitende Verfahren gab sein Haupt jedem Angriff preis, und während die erfahrene Dame die Kehle ihres teuren Ehegatten umkrallte, ließ sie einen Hagel kräftiger Faustschläge auf seinen Kopf niederhageln. Dann brachte sie ein wenig Abwechslung in die Sache und zerkratzte Herrn Bumble erst mal tüchtig das Gesicht, und dann riß sie ihm ordentliche Büschel Haare aus. Nachdem sie sein Vergehen nun genügend gestraft zu haben glaubte, warf sie ihn über einen Stuhl, der nicht bequemer dafür hätte stehen können und forderte ihn höhnisch auf, noch einmal von seinem Recht zu sprechen, wenn er den Mut dazu hätte.

„Jetzt steh auf“, sagte Frau Bumble im Befehlstone, „und mach, daß du mir aus den Augen kommst, wenn du nicht willst, daß ich etwas ganz Desperates tue!“

Herr Bumble erhob sich mit kläglicher Miene und überlegte, was dieses Desperate wohl sein möge. Dann hob er seinen Hut auf und sah nach der Tür.

„Willst du gehen?“ fragte Frau Bumble drohend.

„Gewiß, mein Schatz, ich gehe schon“, erwiderte er, seine Schritte beschleunigend. „Es war nicht meine Absicht, dich – ich gehe schon, meine Liebe – du bist aber auch gar zu heftig, daß ich wirklich –“

In diesem Augenblick trat Frau Bumble eilig vor, um den Teppich wieder zurechtzurücken, der sich während der letzten Viertelstunde etwas verschoben hatte. Herr Bumble benutzte das, um hastig aus dem Zimmer zu stürzen, ohne daran zu denken, seinen Satz zu vollenden, und ließ die frühere Frau Corney im unbestrittenen Besitz des Schlachtfeldes.

Herr Bumble war überrumpelt worden und hatte eine entscheidende Niederlage erlitten. Aber das Maß seiner Erniedrigung war noch nicht voll. Nachdem er einen Gang durch das ganze Haus gemacht und zum erstenmal darüber nachgedacht hatte, daß die Armengesetze doch wirklich zu hart wären, und daß Männer, die ihren Frauen fortliefen und die Erhaltung derselben der Gemeinde überließen, von Rechts wegen nicht bestraft, sondern vielmehr als verdienstvolle Märtyrer belohnt werden sollten – kam er in eine Waschküche, wo die weiblichen Armen beschäftigt zu werden pflegten, das Leinenzeug der Anstalt zu reinigen, und aus dem ihm lautes Geplauder entgegenschallte.

„Hm“, sagte Bumble, seine ganze Würde zusammennehmend, „zum wenigsten sollen diese Weiber auch künftig mich anerkennen. – Hallo, zum Donnerwetter! Was soll dieser Radau, verwünschte Hexen?“

Mit diesen Worten öffnete Herr Bumble die Tür und trat mit hochfahrender, finsterer Miene ein; sie verwandelte sich aber sehr bald in eine demütige, als seine Augen seine bessere Ehehälfte entdeckten.

„Schatz“, sagte Herr Bumble, „ich wußte nicht, daß du hier wärest.“

„Wußtest nicht, daß ich hier wäre?“ äffte ihm sein Weib nach. „Was hast du hier zu suchen?“

„Es kam mir vor, man schwatzte zu viel, als daß die Arbeit gehörig getan werden könnte, Schatz“, erwiderte er, zerstreut nach ein paar alten Weibern am Waschfaß blickend, die sich nicht wenig über das demütigende Benehmen des Armenhausvaters wunderten.

„Du glaubst, man schwatze zu viel?“ fragte Frau Bumble. „Was geht denn dich das an?“

„Ja, lieber Schatz –“ stotterte er demutsvoll.

„Ich will wissen, was es dich angeht!“

„Es ist allerdings richtig, daß du hier zu befehlen hast, liebe Frau, aber ich glaubte, du seiest gerade nicht anwesend!“

„Ich will dir mal was sagen, Bumble, wir brauchen deine Aufsicht nicht. Du steckst deine Nase immer in Dinge, die dich nichts angehen und machst dich lächerlich. Scher dich ‚raus!“

Bumble gewahrte mit Wut im Herzen, wie die beiden alten Weiber am Waschfaß einander zukicherten und zögerte einen Augenblick. Aber Frau Bumble, deren Geduld schon erschöpft war, nahm einen Topf mit Seifenwasser und drohte den Inhalt über ihn auszuschütten, wenn er sich nicht augenblicklich entferne.

Was konnte er anders tun? Er blickte niedergeschlagen um sich und schlich von dannen. Als er die Tür erreicht hatte, verwandelte sich das Kichern der Weiber in ein schrilles Gelächter. Das war zu viel. Er war in ihren Augen herabgewürdigt, er hatte Ansehen und Achtung sogar bei den Armenhäuslern verloren. Von der Höhe eines Gemeindedieners war er zur tiefsten Tiefe eines Pantoffelhelden herabgestürzt.

„Und das alles in zwei Monaten“, klagte Bumble sich selber. „Vor nicht mehr als zwei Monaten war ich nicht nur mein eigener Herr, sondern auch Herr über das ganze Armenhaus, – und nun?“

Es war zuviel. Er gab dem Jungen eine Ohrfeige, der ihm die Tür öffnete und trat zerstreut auf die Straße. Er ging zuerst planlos straßauf, straßab, bis sich sein erster Kummer gelegt hatte, dadurch war er aber durstig geworden. Er kam an einer Anzahl von Wirtshäusern vorbei und blieb endlich bei einer Kneipe stehen, deren Gastzimmer mit Ausnahme eines Gastes leer war, wie er sich vorher durch einen Blick durchs Fenster überzeugt hatte. Es fing gerade tüchtig zu regnen an, und dies bestimmte ihn, hier einzukehren. Er forderte ein Glas Branntwein.

Der einzige Gast außer ihm war groß, von dunkler Gesichtsfarbe, und hatte einen langen Mantel umgehängt. Er schien fremd zu sein, und den bestaubten Kleidern nach zu schließen, von weit herzukommen. Er sah den eintretenden Bumble von der Seite an, erwiderte jedoch dessen Begrüßung nur mit einem Kopfnicken. Bumble besaß Würde genug für zwei, und so trank er seinen Schnaps schweigend. Dabei las er mit wichtiger Miene die Zeitung.

Wie es aber oft zu geschehen pflegt, wenn Menschen unter ähnlichen Umständen zusammentreffen, so kam es, daß Bumble sich gewaltig versucht fühlte, mal einen verstohlenen Blick auf den Fremden zu werfen. Er mußte aber seine Augen verlegen abwenden, als er seinem Gelüste nachgab, denn er bemerkte, daß der Fremde im selben Augenblicke nach ihm hinsah. Bumbles Verlegenheit wurde durch den höchst merkwürdigen Ausdruck im Auge des Fremden noch gesteigert. Denn der stechende Blick des fremden Mannes schweifte argwöhnisch und mißtrauisch umher und gaben seinen Mienen etwas Abstoßendes.

Als sie sich in dieser Weise mehrere Male angesehen hatten, brach schließlich der Fremde das Schweigen.

„Haben Sie nach mir gesehen, als Sie durch das Fenster guckten?“

„Nicht, daß ich wüßte, wenn Sie nicht der Herr –“

Hier hielt Bumble inne, denn er war neugierig, den Namen des Fremden zu erfahren und hoffte, dieser würde seine Redelücke ausfüllen.

„Ach, ich merke schon“, sagte der Fremde spöttisch, „Sie haben nicht nach mir gesehen, sonst würden Sie meinen Namen wissen. Ich möchte Ihnen auch nicht raten, danach zu fragen.“

„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, bemerkte Bumble würdevoll.

„Und haben es auch nicht getan“, entgegnete der Fremde.

Es folgte nun wieder ein Schweigen, das der Fremde nach einer Weile abermals unterbrach.

„Ich habe Sie früher schon mal gesehen, glaube ich“, fing er an. „Sie waren damals jedoch anders gekleidet. Ich begegnete Ihnen zwar nur auf der Straße, aber ich meine doch, Sie wiederzuerkennen. Sie waren früher hier der Gemeindediener, nicht wahr?“

„Stimmt“, erwiderte Bumble etwas überrascht.

„Was sind Sie jetzt?“

„Armenhausvater“, antwortete Herr Bumble langsam und mit Betonung, er wollte eine plumpe Vertraulichkeit des Fremden von vornherein zurückweisen. „Verwalter des Armenhauses, junger Mann.“

„Sie sind zweifellos noch ebenso auf Ihren Vorteil bedacht wie sonst?“ fuhr der Fremde fort, indem er Herrn Bumble scharf anblickte, der bei dieser Frage verwundert die Augen erhoben hatte. „Sie brauchen sich nicht zu schämen, mir offen zu antworten, denn Sie sehen, ich kenne Sie genau!‘

„Ich bin der Ansicht, daß ein verheirateter Mann ebenso dazu berechtigt ist, wenn ihm die Gelegenheit geboten wird, ein Stück Geld zu verdienen, wie ein lediger. Gemeindebeamten sind nicht so glänzend bezahlt, daß sie einen kleinen Nebenverdienst ausschlagen sollten, wenn er sich ihnen in einer schicklichen Weise bietet.“

Der Fremde nickte lächelnd mit dem Kopfe, als wenn er sagen wollte, daß er sich in seinem Manne nicht getäuscht hätte. Dann zog er die Klingel.

„Füllen Sie das Glas noch einmal“, befahl er dem Wirte und händigte ihm Herrn Bumbles leeres Glas ein. „Machen Sie es aber stark und recht heiß. So lieben Sie es doch?“

„Nicht zu stark“, versetzte Herr Bumble und hüstelte verlegen.

„Sie wissen, was das sagen soll, Herr Wirt“, sagte der Fremde trocken.

Der Wirt lächelte und verschwand. Nach einer kleinen Weile kam er mit einem dampfenden Glas wieder, von dem der erste Schluck Herrn Bumble das Wasser in die Augen trieb.

„Hören Sie mich mal aufmerksam an“, sagte der fremde Mann, nachdem er vorher die Tür und Fenster geschlossen hatte. „Ich kam heute mit der Absicht hierher, Sie zu treffen. Durch einen der Zufälle, die der Teufel manchmal herbeiführt, mußten Sie in dieses Zimmer treten, gerade als ich mich in Gedanken mit Ihnen beschäftigte. Ich möchte eine Auskunft von Ihnen haben und verlange sie, so unbedeutend sie ist, nicht umsonst. Nehmen Sie das als Anzahlung.“

Mit diesen Worten schob er behutsam Herrn Bumble ein paar Goldstücke über den Tisch hin, als wünsche er nicht, daß man draußen das Geld klimpern höre. Herr Bumble prüfte die Münzen auf ihre Echtheit und steckte sie vergnügt in seine Tasche, als er sich davon die nötige Überzeugung verschafft hatte.

„Denken Sie mal zurück – warten Sie – an den Winter vor zwölf Jahren!“

„Das ist lange her“, meinte Herr Bumble. „Aber schön, ich hab’s getan.“

„Der Schauplatz – das Armenhaus.“

„Gut.“

„Zeit – die Nacht“

„Ja.“

„Und der Ort – das elende Loch, wo liederliche Frauenzimmer piepsende Kinder in die Welt setzen, die der Gemeinde zur Last fallen, während sie ihre Schande im Grabe verbergen.“

„Das wird, denke ich, das Wöchnerinnenzimmer sein“, sagte Herr Bumble, der des Fremden aufgeregter Schilderung nicht ganz zu folgen imstande war.

„Ja, dort wurde ein Knabe geboren.“

„Sehr viele“, bemerkte Herr Bumble.

„Hol der Teufel die Höllenbrut“, schrie der Fremde. „Ich spreche von einem – einem schmächtig aussehenden, blaßgesichtigen Bengel, der zu einem Leichenbestatter in die Lehre gegeben wurde (ich wünschte, er hätte da seinen eigenen Sarg gemacht und sein Körper faulte darin) und nachher nach London entlief.“

„Ach, Sie meinen Oliver – den Oliver Twist, an den kann ich mich natürlich noch ganz gut erinnern“, versetzte Herr Bumble. „Das war ein eigensinniger Racker –-„

„Ich brauche nichts von ihm zu hören, hab‘ schon genug von ihm vernommen“, fiel ihm der Fremde ins Wort. Es handelt sich um die alte Hexe, die seiner Mutter bei der Entbindung beistand. Wo ist sie?“

„Wo sie ist?“ sagte Herr Bumble, den der starke Grog witzig zu machen schien. „Das ist schwer zu sagen. jedenfalls Hebammen werden da nicht gebraucht, und so wird sie wohl außer Dienst sein!“

„Wie muß ich das verstehen?“

„Daß sie den letzten Winter starb!“

Der Unbekannte sah ihn bei dieser Mitteilung scharf an. Eine Weile schien es zweifelhaft, ob ihm die Nachricht erfreulich oder unerfreulich sei. Schließlich stand er auf und schickte sich zum Gehen an; er bemerkte dabei, es käme wenig darauf an.

Bumble war schlau genug, um eine Gelegenheit zu wittern, aus dem Geheimnisse seiner besseren Hälfte Geld zu machen. Er erinnerte sich noch genau der Nacht, in der die alte Sally starb. Der Tag war ihm durch seinen Heiratsantrag, den er Frau Corney damals machte, unvergeßlich geworden. Und obgleich ihm seine Frau niemals anvertraute, was sie damals erfahren hatte, so hatte er doch genug gehört, um zu wissen, daß die Beichte der Sterbenden sich auf etwas bezog, das mit Oliver Twists Mutter im Zusammenhang stand. Er eröffnete daher dem Fremden mit geheimnisvoller Miene, die Hebamme hätte sich kurz vor ihrem Tode eine andere Frau rufen lassen, die wahrscheinlich Licht in die Sache bringen könnte.

„Wo kann ich die Frau treffen?“ fragte der Fremde mit unvorsichtiger Hast. Er zeigte, daß ihn die Mitteilungen stark erregten.

„Nur durch mich“, versetzte Herr Bumble.

„Wann?“

„Morgen!“

„Abends neun Uhr“, sagte der Fremde und schrieb auf ein Stück Papier mit zitternder Hand eine Adresse, die Herrn Bumble in ein abgelegenes Haus am Flusse hinbeschied. „Bringen Sie sie um neun Uhr zu mir. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß es im Geheimen geschehen muß. Es ist Ihr Vorteil.“

Mit diesen Worten ging er zur Tür und bezahlte die Zeche. Von Bumble verabschiedete er sich ohne weitere Förmlichkeit mit dem Bemerken, daß sich jetzt ihre Wege trennten, und er ihn morgen pünktlich erwarte.

Bumble sah, daß die Adresse keinen Namen enthielt, und so folgte er dem Unbekannten, um ihn danach zu fragen.

„Was ist los“, rief der Mann und drehte sich rasch um, als der Armenhausvater seinen Arm berührte.“Warum schleichen Sie mir nach?“

„Ich wollte nur wissen, nach wem ich zu fragen habe; wollen Sie mir nicht Ihren Namen sagen?“

„Monks!“ versetzte der Mann und eilte hastig weiter.

Berichtet, was sich zwischen dem Ehepaar Bumble und Monks bei ihrer nächtlichen Zusammenkunft zutrug

Es war ein schwüler, dumpfer Sommerabend. Die dunklen Wolken, welche den ganzen Tag über mit Regen gedroht hatten, ließen einige Tropfen fallen und schienen ein schweres Gewitter zu verkünden. Herr und Frau Bumble kamen die Hauptstraße hinunter und bogen in eine Seitengasse, die auf einige halbverfallene Häuser am Flußufer führte. Beide waren in schäbige Mäntel gehüllt, die nicht nur den Zweck hatten, sie gegen den Regen zu schützen, sondern auch um sie unkenntlich zu machen. Herr Bumble trug eine Laterne, deren Licht aber noch nicht brannte, und ging voraus. Er bahnte dadurch mit seinen breiten Schuhen seiner Frau in dem Schmutz einen Weg.

Schweigend zogen sie dahin; hin und wieder hielt er an, als wolle er sich überzeugen, ob seine Ehehälfte auch folge. Wenn er feststellte, daß sie ihm dicht auf den Fersen war, beschleunigte er seine Schritte wieder.

Die Gegend war dafür bekannt, daß dort hauptsächlich Leute wohnten, die unter dem Deckmantel eines ehrlichen Gewerbes in Wirklichkeit von Raub und Diebstahl lebten. Hart am Flusse stand ein großes Gebäude, das früher eine Fabrik gewesen zu sein schien, aber jetzt nur eine Ruine war. Vor diesem Hause machte das würdige Paar halt, als das Rollen eines fernen Donners zum erstenmal die Luft erschütterte, und der Regen in Strömen herunterzukommen anfing.

„Hier herum muß es sein“, sagte Herr Bumble, auf das Papier mit der Adresse blickend.

„Hallo“, rief eine Stimme von oben.

Bumble guckte hinauf und gewahrte einen Mann, der aus einem Fenster des zweiten Stockes hinaussah.

„Einen Augenblick, ich komme sofort hinunter“, rief die Stimme.

„Ist das der Mann?“ fragte Frau Bumble.

Ihr Gatte nickte bejahend.

„Nun, so vergiß nicht, was ich dir gesagt habe“, fuhr die würdige Dame fort, „und sprich so wenig wie möglich, sonst verrätst du uns gleich.“

Monks hatte inzwischen die Tür geöffnet und rief mit ungeduldiger Gebärde:

„Kommt schnell herein, haltet mich hier nicht unnötig auf.“

Frau Bumble, die zuerst gezögert hatte, trat jetzt mutig ins Haus, und Herr Bumble, der sich schämte oder fürchtete zurückzubleiben, folgte ihr auf dem Fuße. Man konnte ihm jedoch anmerken, daß ihm nicht besonders wohl zumute war, und daß ihn die ihm eigene Würde fast ganz verlassen hatte.

„Zum Donnerwetter, warum blieben Sie draußen im Regen stehen?“ sagte Monks, als er die Tür verschloß.

„Wir – wir wollten uns nur ein bißchen abkühlen“, stammelte Bumble und sah sich furchtsam um.

„Abkühlen?“ meinte Monks. „Aller Regen, der je fiel oder noch fallen wird, vermag nicht das Höllenfeuer zu löschen, das der Mensch in seinem Innern mit sich herumtragen kann. Denken Sie nur nicht, sich so leicht abzukühlen.“

Mit diesen liebenswürdigen Worten und einem finsteren Blick wandte sich Monks zu Frau Bumble, die sonst nicht schüchtern, doch vor den wilden Augen des Mannes die ihrigen zu Boden schlug.

„Das ist die Frau, nicht wahr?“ fing Monks an.

„Ja“, sagte Bumble kurz, eingedenk der Warnung seiner Frau.

„Sie denken wohl, Frauen können keine Geheimnisse für sich behalten?“ nahm Frau Bumble das Wort und begegnete fest den beobachtenden Blicken Monks‘.

„Jedenfalls verschweigen sie immer eins so lange, bis es ans Licht kommt“, entgegnete dieser.

„Und was wäre das?“ fragte die Dame.

„Den Verlust ihres guten Namens. Ebensowenig fürchte ich, daß ein Weib ein Geheimnis ausplaudert, dessen Ausschwatzen ihr den Strick oder das Zuchthaus eintragen kann. Verstehen Sie?“

„Nein“, erwiderte Frau Bumble, sich verfärbend.

„Begreiflich, wie sollten Sie auch?“ sagte Monks ironisch.

Nachdem er dem würdigen Paar einen höhnischen Blick zugeworfen hatte, winkte er ihnen, ihm zu folgen. Als sie gerade eine steile Treppe hinaufstiegen, fuhr ein Blitzstrahl vom Himmel, dem ein so mächtiger Donnerschlag folgte, daß das ganze Gebäude bebte.

„Hört!“ rief er zurückschreckend. „Hört, als ob die Hölle losgelassen ist, ich hasse den Lärm.“

Er schwieg einige Augenblicke und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Als er sie entfernte, schaute Herr Bumble in ein wachsbleiches, verzerrtes Gesicht.

„Ich bin manchmal solchen Anfällen unterworfen“, sagte Monks, die Bestürzung Bumbles bemerkend, „besonders bei Gewittern. Beachten Sie das nicht, es ist schon vorüber!“

Mit diesen Worten führte er sie nun eine Leiter hinauf, und oben angekommen, schloß er gleich die Fensterläden des Zimmers, in dem sie Platz genommen hatten. Er ließ eine Laterne, die an der Decke an einem Strick hing, herunter und begann:

„Je schneller wir zu Sache kommen, desto besser ist’s für uns alle. Die Frau weiß, um was es sich handelt, nicht wahr?“

Die Frage war an Herrn Bumble gerichtet, aber seine Frau kam ihm mit der Antwort zuvor und erklärte, daß sie vollkommen im Bilde wäre.

„Ist es so, wie er sagt, daß die alte Hexe Ihnen auf ihrem Totenbette etwas anvertraute –“

„In betreff der Mutter des von Ihnen benannten Knabens?“ unterbrach ihn Frau Bumbie. „Ja!“

„Es fragt sich also zunächst, worin ihre Mitteilung bestand“, sagte Monks.

„Nein, das kommt erst später“, bemerkte Frau Bumble trocken. „Zuerst handelt es sich darum, was ist die Mitteilung wert.“

„Wer, Teufel nochmal, kann das sagen, ohne zu wissen, was zur Sprache kam?“

„Ich glaube, niemand besser als Sie“, antwortete Frau Bumble, der es, wie ihr Mann aus Erfahrung bestätigen konnte, nicht an Mut gebrach.

„Hm“, meinte Monks. „Man kann wohl Geld damit herausschlagen, wie?“

„Vielleicht!“

„Man hat ihr wohl etwas fortgenommen – etwas was sie trug – etwas –“

„Nun bieten Sie schon! Ich habe bereits genug gehört und bin der Überzeugung, daß für Sie das Geheimnis von großem Wert ist.“

Herr Bumble, den seine bessere Hälfte nicht weiter in das Geheimnis eingeweiht hatte, hörte dem Gespräch mit aufgerissenen Augen zu. Er guckte mal Monks, mal seine Frau an. Groß war sein Erstaunen, als er die Summe hörte, die diese für ihre Mitteilung von Monks verlangte.

„Was ist Ihnen also die Geschichte wert?“ fragte Frau Bumble ruhig.

„Vielleicht nichts, vielleicht zwanzig Pfund“, sagte Herr Monks. „Lassen Sie hören.“

„Legen Sie noch fünf Pfund zu, geben Sie mir fünfundzwanzig Goldstücke und Sie sollen alles erfahren, was ich weiß. Eher nicht!“

„Fünfundzwanzig Pfund?“ rief Monks zurückprallend aus.

„Ich habe so offen und deutlich wie nur möglich gesprochen. Es ist nicht einmal viel“

„Nicht viel für ein lumpiges Geheimnis, das vielleicht keinen Pfennig wert und schon zwölf Jahre alt ist!“

„Solche Dinge halten sich und steigen wie gute Weine mit der Zeit oft um das Doppelte ihres Wertes“, sagte Frau Bumble mit gutgespieltem Gleichmut.

„Wie aber, wenn ich das Geld für nichts ausgebe“, sagte Monks bedenklich.

„Sie können es mir leicht wieder abnehmen“, entgegnete Frau Bumble. „Ich bin nur ein Weib, allein und ohne Schutz hier.“

„Weder allein, Schatz, noch unbeschützt“, sagte nun Herr Bumble, dabei zitterte seine Stimme vor Furcht. „Ich bin auch noch hier, Liebling. Aber“, fuhr er zähneklappernd fort, „außerdem ist Herr Monks zu sehr Ehrenmann, als,daß er eine Gewalttat gegen Gemeindebeamte begehen würde! Herr Monks weiß zwar, daß ich kein junger Mann bin und nicht mehr in der Vollkraft der Jahre stehe, aber er hat sicher auch gehört, daß ich ein energischer Beamter bin mit ungeheurer Stärke, sobald es notwendig ist. Man braucht mir nur einen Anlaß zum Einschreiten zu geben.“

„Du bist ein Idiot und tätest besser, deinen Mund zu halten“, war Frau Bumbles Antwort.

„Da haben Sie recht, wenn er nicht leiser reden kann“, sagte Monks wütend. „Das ist also Ihr Mann?“

„Er, mein Mann?!“ kicherte Frau Bumble ausweichend.

„Ich dachte es mir gleich, als Sie beide hereinkamen“, meinte Monks, als er den zornigen Blick gewahrte, den die Dame ihrem Ehegemahl zuwarf. „Desto besser; es macht mir gar nichts aus, mit zwei Menschen zu verhandeln, wenn ich nur sehe, daß sie gleichen guten Willens sind. Es ist mir ernst – sehen Sie her.“

Er holte einen Geldbeutel aus der Tasche und entnahm ihm fünfundzwanzig Goldstücke, die er Frau Bumble hinreichte.

„Nehmen Sie das Geld, und wenn das verdammte Gewitter vorüber ist, das jetzt gerade über dem Hause losbricht, erzählen Sie die Geschichte.“

Sobald das Unwetter sich gelegt hatte, hob Monks seinen Kopf von dem Tische auf und hörte aufmerksam Frau Bumble zu. Die Köpfe der drei Personen berührten sich beinahe, da die beiden Männer in ihrer Neugierde sich über den kleinen Tisch beugten, und die Frau, um ihr Flüstern vernehmlich zu machen, das gleiche tat.

„Als dieses Weib, die man die alte Sally nannte, starb“, erzählte Frau Bumble, „war ich mit ihr allein.“

„Also sonst war niemand dabei?“ fragte Monks im Flüsterton. „Keine Kranke oder Verrückte in einem anderen Bette. Niemand, der etwas hören oder verstehen konnte?“

„Keine Menschenseele! Wir waren ganz allein. Niemand außer mir war bei ihr, als der Tod über sie kam.“

„Gut, weiter.“

„Sie sprach von einem jungen Weibe“, fuhr Frau Bumble fort, „die vor einer Reihe von Jahren ein Kind zur Welt brachte – nicht nur im selben Zimmer, sondern sogar im gleichen Bette, auf dem die Alte jetzt mit dem Tode rang.“

„Wirklich?“ sagte Monks, an den Lippen nagend. „Donnerwetter! Wie doch die Dinge zuletzt kommen können.“

„Das Kind war dasselbe, das Sie ihm gestern abend nannten“, erzählte die Matrone weiter und machte eine nachlässige Kopfbewegung zu ihrem Manne hin. „Und die alte Sally bestahl das junge Weib.“

„Als sie noch lebte?“ fragte Monks.

„Nein, als sie gestorben war“, antwortete Frau Bumble, und ein Schauder überflog sie. „Sie stahl der Toten (sie war noch nicht kalt) das, was diese mit ihren letzten Atemzügen gebeten hatte, für das Kind in Verwahrung nehmen zu wollen.“

„Sie verkaufte es?“ rief Monks gespannt. „Nicht wahr, sie verkaufte es. – Wo? – wann? – an wen? – wie lange ist es schon her?“

„Als sie mir dies mit letzter Kraftanstrengung gebeichtet hatte, fiel sie zurück und starb.“

„Weiter hat sie nichts gesagt?“ rief Monks mit einer Stimme, die sich um so wütender anhörte, je mehr er sie zu dämpfen versuchte. „Das ist eine Lüge. Ich lasse mir nichts weißmachen. Sie sagte mehr. Ich erwürge euch beide, wenn ich nicht herauskriege, was es war.“

„Sie sagte weiter kein Wort“, fuhr die Matrone ruhig fort, „aber sie faßte krampfhaft mit der einen Hand mein Kleid, und als ich nach ihrem Hinscheiden die Hand losmachen wollte, fand ich darin ein Stückchen schmutzigen Papiers.“

„Was enthielt es?“ fragte Monks schnell, sich wieder vorbeugend.

„Nichts, es war ein Pfandschein.“

„Über was?“

„Darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Ich vermute, sie hat den Schmuck eine Zeitlang aufgehoben in der Hoffnung, ihn einst besser verwerten zu können, ihn aber dann doch verpfändet. Sie hat dem Pfandleiher jedes Jahr die Zinsen bezahlt, um es sofort wieder einlösen zu können, wenn es ihr notwendig erschien. Sie starb mit dem Pfandschein in der Hand, wie ich bereits erzählte. Das Pfand wäre nach einigen Tagen verfallen, und ich löste es ein, da ich glaubte, dereinst nochmal daraus Nutzen ziehen zu können.“

„Wo ist es jetzt?“ fragte Monks rasch.

„Hier“, rief Frau Bumble und warf hastig ein kleines, ledernes Beutelchen auf den Tisch, als ob sie froh sei, es loszuwerden. Monks griff mit zitternden Händen danach und öffnete es. Es enthielt einen einfachen goldenen Trauring und ein Medaillon, in dem sich zwei Haarlocken befanden.

„Innen ist der Name Agnes eingegraben“, ergänzte Frau Bumble ihre Erzählung. „Für den Zunamen hat man Raum gelassen, und dann folgt ein Datum, welches in das Jahr vor der Geburt des Kindes fällt. Das habe ich herausgefunden!“

„Und das ist alles?“ fragte Monks, nachdem er den Inhalt des Beutelchens festgestellt hatte.

„Ja, alles“, antwortete die Matrone.

Herr Bumble holte tief Atem, als freue er sich, daß die Geschichte zu Ende sei, ohne daß von einer Zurückgabe der fünfundzwanzig Pfund gesprochen wurde.

„Ich weiß von der Sache nichts weiter, als was ich mutmaßen kann“, sagte Frau Bumble nach kurzem Schweigen zu Monks. „Und will auch nicht mehr davon wissen, das ist sicherer. – Aber darf ich zwei Fragen an Sie richten?“

„Das können Sie“, versetzte Monks, überrascht. „Ob ich sie aber beantworten werde, ist eine andere Frage.“

„Macht zusammen drei Fragen“, meinte Bumble und wollte damit einen Witz machen.

„War es das, was Sie von mir zu hören erwarteten?“ fragte Frau Bumble.

„Ja“, antwortete Monks. „Und die andere Frage?“

„Was gedenken Sie zu tun? Kann es gegen mich gebraucht werden, kann ich Schaden dadurch haben?“

„Nie, weder gegen Sie noch gegen mich“, sagte Monks. „Schaut her, aber tut keinen Schritt vorwärts, sonst ist euer Leben keinen Pfifferling wert!“

Mit diesen Worten schob er plötzlich den Tisch beiseite und öffnete vor Herrn Bumbles Füßen eine Falltür, so daß dieser eiligst ein paar Schritte zurücktrat.

„Gucken Sie da hinunter“, sagte Monks und ließ die Laterne hinab. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Wenn ich die Absicht gehabt hätte, Sie verschwinden zu lassen, so hätte ich es vorhin gekonnt, als Sie über der Falle saßen.“

So ermutigt, näherte sich Frau Bumble dem Rande, und sogar ihr Gatte wagte es, von Neugierde getrieben, dasselbe zu tun. Das trübe, vom Regen angeschwollene Wasser rauschte unten so ungestüm, daß alle anderen Laute sich in dem Geräusch der brausenden gegen die grünen Pfeiler anschlagenden Wogen verloren.

„Wo würde wohl morgen früh der Leichnam des Menschen sein, den man jetzt hier hinunterwürfe“, fragte Monks und ließ die Laterne in dem dunklen Schlunde hin und her schwingen.

„Zwölf Meilen weiter unten im Flusse und obendrein in Stücke zerrissen“, meinte Bumble, bei dem bloßen Gedanken schon zitternd.

Monks holte nun das Beutelchen mit dem Medaillon und Trauring aus seiner Tasche und befestigte ein Bleistück von einem alten Flaschenzug daran, der zerbrochen in einer Ecke lag. Dann ließ er es hinunterfallen, und man hörte ein schwaches Plätschern, als es ins Wasser glitt.

Alle drei blickten einander an und schienen freier zu atmen.

„So!“ sagte Monks, indem er die Falltür wieder schloß. „Wenn die See auch wieder ihre Toten herausgibt, wie in den Büchern steht, Gold und Silber – und daher auch diesen Plunder wird sie wohl für sich behalten. – Wir haben uns nichts mehr zu sagen und können die Sitzung aufheben. Aber daß Sie mir reinen Mund halten“, fuhr er mit drohender Gebärde gegen Bumble fort. „Wegen Ihres Weibes bin ich unbesorgt.“

„Sie können sich auf mich verlassen, junger Mann“, entgegnete Herr Bumble, der sich allmählich unter vielen höflichen Verbeugungen der Leiter näherte. „Um unser aller willen. Sie wissen ja, es könnte mir ebenso nachteilig werden wie den anderen.“

„Das ist mir für Sie lieb zu hören. Nun zünden Sie Ihre Laterne an und machen Sie, daß Sie so schnell als möglich von hier fortkommen.“

Es war ein Glück, daß die Unterhaltung hier endete, sonst wäre Herr Bumble, der sich bereits bis auf die Ent,fernung von sechs Zoll nach der Leiter hinkomplimentiert hatte, kopfüber in den unteren Raum hinabgestürzt. Er zündete eine Laterne an und stieg stillschweigend hinunter, während Frau Bumble nachfolgte. Monks kam hinterdrein, nachdem er noch einige Augenblicke gehorcht hatte. Sie gingen langsam und vorsichtig über den Hausflur, und Monks entriegelte und öffnete leise die Tür. Mit einem einfachen Kopfnicken verabschiedete sich das wackere Ehepaar von ihrem geheimnisvollen Bekannten und trat in die Nacht und den Regen hinaus.

Sie hatten sich kaum entfernt, als Monks einen Jungen rief, der irgendwo versteckt gewesen sein mußte, ihn mit dem Licht vorangehen hieß und nach dem Gemach zurückkehrte, das er eben verlassen hatte.

In dem wieder alte Bekannte erscheinen, und das zeigt, wie Monks und der Jude ihre würdigen Köpfe zusammenstecken

Am Abend des folgenden Tages erwachte Herr William Sikes aus seinem Schlummer und fragte noch schlaftrunken, wieviel Uhr es sei.

Die Stube, in der er lag, war keine von denen, die er vor dem Einbruch bewohnt hatte, aber sie befand sich in demselben Stadtviertel und war nicht weit von seiner früheren Wohnung. Es war ein kümmerliches, kleines Gemach, das nur durch ein einziges kleines Dachfenster Licht erhielt. Auch fehlte es nicht an anderen Zeichen, daß der Ehrenmann in letzter Zeit ziemlich heruntergekommen war. Das wenige Hausgerät, der Mangel aller Bequemlichkeit und sein abgemagertes Aussehen bestätigten es.

Der Räuber lag in einen weißen Mantel gehüllt auf dem Bette und zeigte ein Gesicht, dessen krankhafte Blässe durch den eine Woche alten, schwarzen Stoppelbart nicht verschönert wurde. Der Hund lag neben dem Bette, bald aufmerksam seinen Herrn anblickend, bald die Ohren spitzend und knurrend, wenn irgendein Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte. Am Fenster saß mit der Ausbesserung einer dem Einbrecher gehörigen Weste beschäftigt, eine blasse, durch Entbehrungen und Nachtwachen so heruntergekommene Frauensperson, daß man in ihr nicht leicht die frühere Nancy wiedererkannt haben würde, wenn nicht ihre Stimme gewesen wäre, die den alten Klang hatte.

„Es hat vor kurzem sieben geschlagen“, sagte das Mädchen. „Wie geht es dir heute abend, Bill?“

„So schwach wie Wasser“ erwiderte er mit einem kräftigen Fluch. „Reich mir mal die Hand, damit ich aus diesem verwünschten Bette komme.“

Die Krankheit hatte Sikes nicht milder gestimmt, denn als ihm das Mädchen aufhalf und ihn nach einem Stuhl geleitete, fluchte er über ihre Ungeschicklichkeit und prügelte sie.

„Heulst du schon wieder!“ fuhr Sikes sie an. „Laß bloß das Geplärre bleiben. Schere dich zum Teufel, wenn du nichts Besseres tun kannst. Verstanden?“

Jawohl“, sagte das Mädchen, das Gesicht zur Seite wendend, und zwang sich zu einem Lächeln. „Was hast du nur wieder?“

„Hast dich eines Besseren besonnen“, brummte Sikes, als er noch eine in ihrem Auge hängende Träne gewahrte.

„Um so besser für dich.“

„Ach, du kannst heute abend nicht schlecht zu mir sein“, sagte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter.

„Warum nicht?“ brüllte er.

„So viele Nächte“, sagte das Mädchen mit einem Anflug von weiblicher Zärtlichkeit, die ihrer Stimme eine gewisse Weichheit verlieh, „so viele Nächte habe ich dich wie ein Kind geduldig gewartet und gepflegt und sehe dich heute zum ersten Male wieder bei Besinnung. Du würdest mich nicht so behandelt haben wie eben, wenn du daran gedacht hättest, nicht wahr? Bitte sage, du hättest es nicht getan!“

„Nun ja, ich hätte es wahrscheinlich nicht getan, aber, zum Donnerwetter, da fängt sie schon wieder zu heulen an.“

„Es ist nichts“, sagte Nancy und warf sich in einen Stuhl. „Laß mir einen Augenblick Ruhe, und es ist gleich vorüber.“

„Was wird vorüber sein?“ fragte Sikes wütend. „Was ist das wieder für ein Blödsinn. Steh auf und tue etwas, aber bleib mir mit deinem Weiberquatsch vom Leibe!“

Zu jeder anderen Zeit würde diese Aufforderung und der Ton, in dem sie gesprochen wurde, die gewünschte Wirkung gehabt haben. Aber das Mädchen war in der Tat abgespannt und ganz erschöpft, ließ den Kopf auf die Stuhllehne fallen und wurde ohnmächtig, ehe noch Herr Sikes einige passende Flüche ausstoßen konnte, mit denen er bei ähnlichen Gelegenheiten seine Drohungen auszuschmücken pflegte. Da er nicht wußte, was in diesem Falle zu tun sei, denn Nancys hysterische Anfälle waren meistens von jener heftigen Art, die der Kranke gewöhnlich ohne sonderlichen Beistand selbst durchkämpft – so versuchte er es zuerst mit ein bißchen Gotteslästerung, und als sich diese Behandlungsweise als ganz unwirksam erwies, rief er nach Hilfe.

„Was ist los, Freundchen?“ fragte der Jude, in die Stube tretend.

„Da, hilf dem Mädchen gefälligst“, schrie Sikes ungeduldig. „Steh nicht da, um zu quatschen und mich anzugrinsen!“

Mit einem Ausruf der Überraschung beeilte sich Fagin, dem Mädchen Beistand zu leisten, während Herr Jack Dawkins (sonst auch der Gannef genannt), welcher nach seinem würdigen Freunde ins Zimmer getreten war, schnell ein Bündel, das er in der Hand trug, auf die Erde warf und Herrn Karl Bates, der ihm auf dem Fuße folgte, eine Flasche aus der Hand riß. In einem Augenblick entkorkte er sie mit den Zähnen und goß der Kranken einen Teil ihres Inhalts in den Mund, nachdem er denselben vorher selbst gekostet hatte, um eine etwaige Verwechslung zu verhüten.

„Bring ihr mit dem Blasebalg etwas frische Luft unter die Nase“, sagte der Gannef zu Karl Bates. „Und Sie, Fagin, reiben ihr die Handflächen, während Bill ihr das Mieder aufmacht!“

Diese vereint angewandten Belebungsmittel übten bald die gewünschte Wirkung aus. Das Mädchen kam allmählich wieder zu sich, wankte nach einem Stuhl am Bett, verbarg ihr Gesicht in den Kissen und überließ es Herrn Sikes, die Neuankömmlinge gebührend zu empfangen.

„Donnerwetter, welch böser Wind hat dich hierher verschlagen?“ fragte er Fagin.

„Kein böser Wind, mein Lieber“, antwortete der Jude, „denn schlimme Winde blasen niemand etwas Gutes zu. Ich habe Euch aber etwas Gutes mitgebracht, das Euer Herz erfreuen wird. Gannef, mach doch mal das Bündel auf und gib Bill die Kleinigkeiten, wofür wir heute morgen unser ganzes Geld ausgegeben haben.“

Der Gannef öffnete nun das ziemlich große Bündel, das aus einem zusammengeschlagenen alten Tischtuch bestand, und händigte den Inhalt desselben, Stück für Stück, Karl Bates aus. Dieser legte die Gegenstände unter Lobsprüchen über ihre Vortrefflichkeit auf den Tisch.

„Seht, die Kaninchenpastete, Bill. Köstliche, zarte Tierchen, daß einem sogar ihre Knochen auf der Zunge zergehen, und man sie nicht erst abzunagen braucht; – und hier den Tee, so stark, daß er beinahe den Deckel der Teekanne in die Luft wirft; – und den Zucker – den herrlichen Chesterkäse – und dann, was sagt Ihr nun?“

Hier brachte Herr Bates aus einer seiner umfangreichen Taschen eine ziemlich große, sorgfältig verkorkte Weinflasche zum Vorschein.

„Ja!“ sagte Fagin, mit zufriedenem Lächeln sich die Hände reibend. „Das wird Euch schmecken, das wird Euch bekommen, Bill.“

„Bekommen?“ schrie Sikes. „Ich hätte zehnmal umkommen können, ohne daß du für mich auch nur einen Finger krümmtest. Was soll das heißen, daß du mich über drei Wochen in dieser Patsche sitzen ließest, du falscher Hund, du!“

„Nun hört bloß mal an, Jungens“, sagte der Jude achselzuckend; „und wir kommen her, um ihm alle diese wundervollen Sachen zu bringen.“

„Die Sachen sind ja schön und gut“, meinte Sikes etwas besänftigt, als er den Tisch überblickte, „aber was hast du zu deiner Entschuldigung anzuführen, daß du mich hier krank und ohne alle Mittel liegen ließest, als wäre ich ein Hund wie dieser da. Still, Köter!“ brüllte er seinen Hund an, als dieser knurrte. „Also womit kannst du dich ausreden, du altes Gerippe?“

„Ich war über eine Woche von London weg, lieber Freund – in Geschäften.“

„Und die anderen vierzehn Tage? Warum hast du dich da nicht um mich gekümmert, ich hätte krepieren können wie eine kranke Ratte in ihrem Loche!“

„Ich konnt’s nicht anders, Bill. Vor so vielen Zuhörern kann ich mich jedoch nicht auf eine lange Erörterung einlassen. Es war mir aber unmöglich. Auf Ehre!“

„Auf – was?“ fragte Sikes mit dem Ausdruck höchster Verachtung im Gesicht. „Jungens, schneidet einer mir mal ein Stück von der Pastete ab, damit ich den üblen Geschmack von seiner Ehre aus dem Munde kriege, oder ich ersticke dran!“

„Nicht so hitzig, lieber Freund“, sprach der Jude unterwürfig. „Ich habe Euch nicht vergessen, – niemals, Bill.“

„Nein, ich will meinen Kopf verwetten, daß du es nicht tatest“, meinte Sikes höhnisch. „Die ganze Zeit über, als ich hier im Fieber lag, hast du Pläne ausgeheckt. Bill sollte dies und Bill sollte das tun. Und alles sollte Bill spottbillig machen, sobald er wieder gesund und arm genug wäre, um von dir ausgenutzt werden zu können. Hätte ich das Mädchen nicht gehabt, so wäre ich wahrscheinlich verreckt!“

„Das ist’s ja gerade, Bill“, sagte der Jude, der begierig den letzten Satz auffaßte. „Wenn Ihr das Mädchen nicht gehabt hättet! Aber war es nicht der arme alte Fagin, der Euch das Mädchen zuführte, und hättet Ihr sie gehabt ohne mich?“

„Weiß Gott, da hat er recht“, meinte Nancy, hastig hervortretend. „Laß ihn, Bill, laß ihn.“

Nancys Einmischung gab dem Gespräch eine andere Wendung, denn die Jungen begannen auf einen Wink des schlauen alten Juden, sie mit Schnaps zu traktieren, von dem sie jedoch nur sparsam genoß. Fagin, der eine große Lustigkeit zur Schau trug, brachte allmählich Herrn Sikes in eine bessere Laune. Er tat so, als betrachte er dessen Drohungen nur als Scherz und belachte den einen oder den anderen derben Witz des Einbrechers recht geräuschvoll. Herr Sikes, der der Schnapsflasche wiederholt in reichlichem Maße zugesprochen hatte, sagte:

„Das ist alles ganz schön und gut, aber ich muß heute noch Draht von dir haben.“

„Ich habe nicht einen Pfennig bei mir“, sagte Fagin.

„Aber haufenweise zu Hause“, entgegnete Sikes.jedenfalls mußt du Draht heranschaffen.“

„Haufenweise?“ rief der Jude in komischem Entsetzen. „Ich habe nicht so viel, wie – -„

„Ich weiß nicht, wieviel Zaster du hast, und ich wette, es ist dir selbst nicht einmal bekannt, da eine ziemliche Zeit dazu gehören würde, alle die Goldfüchse zu zählen. Aber ich muß noch heute abend Geld haben – und damit basta!“

„Schon gut“, sagte der Jude mit einem Seufzer, „ich werde den Gannef schicken.“

„Das laß man, der würde vielleicht das Wiederkommen vergessen oder den Weg verlieren oder die Greifer würden ihn fassen, so daß er nicht. hätte kommen können – um Ausreden ist der ja nicht verlegen. Nancy soll in deine Lasterhöhle mitgehen und den Draht holen. Das ist sicherer; inzwischen werde ich noch ein bißchen pennen!“

Nach vielem Feilschen handelte Fagin die geforderte Summe von fünf Pfund auf drei Pfund vier Schilling und sechs Pence herunter, wobei er wiederholt feierlich beteuerte, daß ihm nur noch achtzehn Pence zum Leben übrigblieben. Herr Sikes meinte mürrisch, das wäre auch genug, worauf Nancy sich zum Fortgehen fertig machte. Fagin nahm nun Abschied von seinem ehrenwerten Freunde und trat, von Nancy und den beiden Jungen begleitet, den Rückweg an, während sich Sikes aufs Bett warf.

Als sie in der Wohnung des Juden ankamen, fanden sie dort Toby Crackit und Herrn Chitling eifrig beim fünfzehnten Spiel Cribbage, das der letztere natürlich mit seinem fünfzehnten und letzten Sixpencestück verlor – zur großen Erheiterung seiner jungen Freunde. Herr Crackit schien sich etwas zu schämen, in einer derartigen Unterhaltung mit einem Menschen betroffen worden zu sein, der hinsichtlich seiner Stellung und Geistesgaben so weit unter ihm den Rang einnahm. Er gähnte und fragte so beiläufig nach Sikes, dann nahm er seinen Hut, um zu gehen.

„Ist niemand hier gewesen, Toby?“ fragte der Jude.

„Kein Bein. Es war hier so langweilig wie in der Kirche. Ihr müßt eigentlich mit einer Belohnung herausrücken, daß ich Euch das Haus solange gehütet habe. Weiß der Teufel, mir ist im Kopf so dumm wie einem Geschwornen. Ich wäre glatt eingeschlafen, wenn mich meine Gutmütigkeit nicht bewogen hätte, diesen jungen Menschen da zu unterhalten. Es war furchtbar stumpfsinnig, hol mich der Teufel, wenn’s nicht wahr ist.“

Er steckte mit hochmütiger Miene seinen Gewinn in die Westentasche, als wären solche kleinen Silberstücke der Beachtung eines Mannes von seiner Bedeutung gar nicht wert, und verließ das Zimmer in seiner gewohnten vornehmen Haltung. Herr Chitling schickte ihm bewundernde Blicke nach und versicherte, daß er die Bekanntschaft dieses Herrn für fünfzehn Sixpences nicht zu teuer erkauft zu haben glaube.

„Du bist ein schnurriger Kerl, Tom“, sagte Herr Bates, den diese Erklärung höchlich ergötzte.

„Nicht im mindesten“, versetzte Herr Chitling. „Nicht wahr, Fagin?“

„Du bist ein ganz gescheiter Bursche“, sagte der Jude, ihm auf die Schulter klopfend, während er den beiden anderen Jungen einen bezeichnenden Blick zuwarf.

„Und Herr Crackit ist ein großer Stutzer, nicht wahr, Fagin?“ fragte Tom.

„Ohne Zweifel, mein Lieber“, erwiderte der Jude.

„Und es gereicht einem zur Ehre, sich seiner Bekanntschaft erfreuen zu dürfen, nicht wahr, Fagin?“ fuhr Tom fort.

„Allerdings, sehr. Sie sind nur eifersüchtig, weil er sich mit ihnen nicht abgeben mag.“

„Also da liegt der Hase im Pfeffer“, rief Tom triumphierend. Er hat mich zwar kahl ausgeplündert, aber ich kann ja hingehen und mir wieder neues Geld verschaffen, sobald ich Lust habe – stimmt’s, Fagin?“

„Sicher kannst du’s“, versetzte der Jude, „und je eher du es tust, desto besser ist’s. Sieh zu, daß du deinen Verlust schnell wieder gutmachst, und vertrödle keine Zeit. Gannef, Karl, für euch ist es auch Zeit, an die Arbeit zu gehen, es ist schon zehn Uhr und noch nichts getan.“

Die beiden Jungen nahmen ihre Hüte, nickten Nancy zu und verließen das Zimmer. Sie machten sich unterwegs über Herrn Chitling lustig, obgleich dessen Benehmen, wenn man gerecht sein will, gar nicht so besonders auffallend oder ungewöhnlich gewesen war. Gibt es doch überall viele vortreffliche junge Herren, die weit höhere Summen aufwenden als Herr Chitling, um in guter Gesellschaft gesehen zu werden.

„Nun will ich Ihnen das Geld holen, Nancy. Dieser Schlüssel gehört zu einem kleinen Schrank, wo ich die Sachen aufbewahre, die die Jungen bringen. Ich schließe mein Geld nämlich nie ein, weil ich keins einzuschließen habe, meine Liebe. Ha! ha! ha! Es ist ein kümmerliches Geschäft, Nancy, und man hat keinen Dank davon. Aber ich habe die jungen Leute gern um mich, und so hält man eben aus. – Pst!“ unterbrach er sich und verbarg hastig den Schlüssel in seiner Brusttasche. „Wer mag das sein? Horch!“

Nancy saß mit gekreuzten Armen am Tisch und schien sich für den Besuch nicht sonderlich zu interessieren, als das Geflüster einer Männerstimme an ihr Ohr schlug. Sofort riß sie ihren Hut und Schal ab und warf beides unter den Tisch. Wie sich der Jude umwandte, klagte sie mit matter Stimme über Hitze.

„Ach“, murmelte der Jude, „es ist der Mann, den ich vorhin erwartete. Er kommt die Treppe herab. Sprechen Sie, wenn er da ist, nicht von dem Gelde, Nancy. Er wird nicht lange bleiben – keine zehn Minuten!“

Den Zeigefinger an die Lippen legend, ging der Jude mit der Kerze an die Tür und erreichte sie gleichzeitig mit dem Besucher, der rasch ins Zimmer trat und dicht vor dem Mädchen stand, ehe er es bemerkte.

Es war Monks.

„Eine von meinen Schülerinnen“, erklärte Fagin, als er sah, daß Monks beim Anblick des fremden Gesichts zurückfuhr. „Bleiben Sie ruhig sitzen, Nancy.“

Diese rückte näher an den Tisch und blickte mit gleiche gültiger Miene nach Monks hin, dann wandte sie die Augen ab. Als sich Monks aber zu dem Juden umdrehte, schielte sie beobachtend zu ihm hin, daß ein dritter kaum geglaubt hätte, daß diese beiden Blicke von derselben Person wären.

„Neuigkeiten?“ fragte der Jude.

„Große.“

„Und – und – gute?“ fragte Fagin mit langsamer Stimme, als fürchtete er, den anderen durch große zur Schau getragene Zuversicht zu reizen.

„Jedenfalls keine schlechten“, versetzte Monks lächelnd. „Diesmal war ich fix genug. Doch ich möchte mit Euch allein sprechen.“

Das Mädchen rückte noch näher an den Tisch heran und tat so, als ob sie den Wink nicht verstand. Fagin, der wohl fürchtete, sie möge von dem Geld sprechen, wenn er sie hinausgehen ließ, zeigte nach oben und ging mit Monks aus dem Zimmer.

„Nur nicht wieder in das verfluchte Loch, wo wir neulich waren“, hörte Nancy noch den Mann sagen, als beide die Treppe hinaufstiegen. Fagin lachte und gab eine Antwort, die sie nicht mehr vernehmen konnte. Aus dem Knarren der Dielen schloß sie, daß er seinen würdigen Freund nach dem zweiten Stocke hinaufgeführt hatte.

Kaum waren die Fußtritte der beiden verhallt, als das Mädchen seine Schuhe auszog, aus dem Zimmer eilte und mit unglaublicher Geschwindigkeit geräuschlos die Treppe hinaufflog. Oben verlor sie sich im Dunkel.

Das Zimmer blieb über eine Viertelstunde leer. Dann kam Nancy mit gespensterhaften Schritten wieder zurück, und gleich darauf hörte man auch die beiden Männer herunterkommen. Monks verließ sogleich das Haus, und der Jude holte das Geld. Als er zurückkam, rückte sich das Mädchen gerade ihren Hut zurecht, als ob sie sich zum Gehen vorbereite.

„Donnerwetter, Nancy“, rief Fagin erschrocken, als er das Licht auf den Tisch setzte, „wie blaß Sie aussehen!“

„Blaß?“ sagte das Mädchen, ihn fest ansehend.

„Ganz furchtbar. Was ist denn los?“

„Nichts. Aber die dumpfe Luft hier im Zimmer ist angreifend. – Gebt schon das Geld, damit ich fort kann.“

Fagin zählte ihr, mit einem Seufzer bei jedem Stück, das Geld in die Hand, worauf sie sich mit einem einfachen „Gute Nacht!“ trennten.

Als sie auf der Straße war, setzte sie sich auf eine Türschwelle nieder und schien ganz erschöpft zu sein, als ob sie unfähig wäre, ihren Weg fortzusetzen. Plötzlich erhob sie sich aber und lief in entgegengesetzter Richtung von Sikes‘ Wohnung davon. Endlich hielt sie atemlos inne, um neu Luft zu schöpfen. Mit einemmal schien ihr die Besinnung zu kommen, daß sie unfähig war, das, was sie vorhatte, auszuführen. Sie brach in Tränen aus und rang die Hände.

Möglich, daß die Tränen ihr Erleichterung verschafften, oder daß sie die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage erkannte – genug, sie kehrte wieder um und eilte, um die verlorene Zeit wieder einzubringen, mit großer Hast nach Sikes‘ Wohnung.

Herr Sikes bemerkte ihre Aufregung nicht und fragte bloß, ob sie das Geld hätte. Auf ihre bejahende Antwort setzte er den unterbrochenen Schlaf fort.

Es war ein Glück für Nancy, daß das Geld Herrn Sikes in den Stand setzte, sich am andern Tage ganz mit Essen und Trinken zu beschäftigen. Das hatte eine so wohltätige Wirkung auf seine Stimmung, daß er weder Lust noch Neigung spürte, sich um ihr Benehmen zu bekümmern. Sein luchsäugiger Freund Fagin würde aber wahrscheinlich ihre Unrast auf den ersten Blick entdeckt haben und auf die Vermutung gekommen sein, daß ihr Aufgeregtsein auf irgendeinen gefährlichen Schritt hindeutete, zu dessen Ausführung sie sich erst nach einem inneren harten Kampf entschließen konnte. Freilich – Herr Sikes hatte nicht diesen scharfen Blick, wie denn auch einem so rauhen Burschen zartere Gefühlsäußerungen nicht leicht auffallen konnten.

Je näher der Abend heranrückte, desto mehr wuchs die Unruhe des Mädchens. Als sie am Bette des Einbrechers saß und wartete, daß er sich in den Schlaf trinken möge, lag eine so ungewöhnliche Blässe auf ihren Wangen, und in ihren Augen blitzte ein solches Feuer, daß es selbst Sikes auffallen mußte.

Dieser, durch das Fieber geschwächt, trank den Schnaps mit heißem Wasser vermischt, damit er weniger aufregend wirke. Er hatte Nancy gerade sein Glas gereicht, damit sie es zum dritten oder vierten Male wieder fülle, als er des Mädchens Blässe gewahrte.

„Zum Henker!“ schrie er und richtete sich im Bette auf, „du siehst ja wie eine wandelnde Leiche aus. Was ist dir?“

„Was mir ist?“ sagte das Mädchen. „Nichts! Warum starrst du mich so an?“

„Was ist das wieder für ein Blödsinn?“ tobte Sikes, dabei faßte er sie am Arm und schüttelte sie derb. „Was ist los? Was bedeutet das? Wo sind deine Gedanken?“

„Bei gar manchem, Bill“, versetzte sie schaudernd und preßte die Hände an die Augen. „Aber, lieber Gott, wäs ist da komisch dran?“

Der Ton erzwungener Heiterkeit, in dem sie die letzten Worte sprach, schien auf den Einbrecher einen tieferen Eindruck zu machen als ihr starrer Blick vorher.

„Ich will dir mal sagen, was es ist“, sagte Sikes.

„Falls du nicht vom Fieber angesteckt bist und es jetzt selbst kriegst, so führst du etwas Schlimmes im Schilde. Du wirst doch nicht hingehen – nein, Gott verdamm mich, so etwas kannst du nicht tun!“

„Was tun?“ fragte das Mädchen.

„Es gibt“, murmelte Sikes vor sich hin und richtete seinen Blick fest auf sie, „es gibt auf der ganzen Welt kein treueres und zuverlässigeres Mädel, sonst hätte ich ihr schon vor drei Monaten den Hals abgeschnitten. Sie hat das Fieber – das ist alles.“

Nachdem er sich so selbst beruhigt hatte, leerte Sikes das Glas und verlangte unter dem üblichen Gefluche seine Arznei. Das Mädchen sprang schnell auf und goß, ihm den Rücken zukehrend, die Medizin in eine Tasse, die er sogleich austrank.

„Nun“, sagte der Räuber, „komm, setze dich zu mir, zeige mir aber dein gewöhnliches Gesicht, wenn du nicht willst, daß ich es dir in einer Weise verändere, die dir das Wiedererkennen schwer macht.“

Nancy gehorchte, und Sikes, der ihre Hand fest umklammerte, legte sich auf die Kissen zurück und heftete den Blick auf sie. Nachdem er sich einigemal unruhig hin und her gewälzt hatte, fielen ihm schließlich die Augen zu, und seine Hand öffnete sich; der Arm fiel schlaff an seiner Seite nieder, und der Einbrecher lag wie in tiefer Betäubung da.

„Der Schlaftrunk hat endlich gewirkt“, murmelte sie, „doch vielleicht ist es jetzt schon zu spät.“

Sie nahm rasch ihren Hut und Schal, sah sich aber alle Augenblicke ängstlich um, als ob sie trotz des Schlaftrunks jede Sekunde den Druck von Sikes‘ schwerer Hand zu fühlen fürchte. Dann beugte sie sich langsam über den Schläfer und küßte seine Lippen, worauf sie schnell das Zimmer verließ und aus dem Hause schlüpfte.

Ein Nachtwächter rief halb zehn, und sie fragte, ob es schon lange nach dieser Zeit wäre.

„In einer Viertelstunde wird es voll schlagen“, erwiderte der Mann, ihr mit der Laterne ins Gesicht leuchtend.

„Vor einer Stunde kann ich nicht dort sein“, flüsterte Nancy und rannte eilig die Straße hinunter. Sie jagte auf dem schmalen Pflaster nur so dahin, stieß rücksichtslos die Vorübergehenden in ihrem tollen Lauf an und drängte sich mit Gewalt durch Haufen von Menschen, die ihr im Wege waren.

Es war elf Uhr abends, als sie sich dem Orte ihrer Bestimmung näherte. Dieser war ein Haus in einer ruhigen, aber schönen Straße unweit des Hydeparks. Mit einem raschen Entschlusse trat sie in den Hausflur. Die Pförtnerstube war leer. Sie blickte unsicher umher und ging auf die Treppe zu.

„Nun, junge Frau“, rief ein adrett gekleidetes Dienstmädchen aus einer Tür ihr zu, „zu wem wollen Sie denn?“

„Zu einer Dame, die in diesem Hause wohnt“, antwortete Nancy.

„Zu einer Dame?“ fragte das Mädchen und musterte Nancy unverschämt von oben bis unten. „Bitte, zu welcher Dame?“

„Zu Fräulein Maylie!“

Das Dienstmädchen forderte nun einen Diener auf, Nancy die nötige Auskunft zu geben, worauf sich dieser das Gesuch vortragen ließ.

„Wen soll ich melden?“ fragte er.

„Der Name tut nichts zur Sache!“

„Und was ist Ihr Anliegen?“ fuhr der Bediente fort.

„Das kommt auch nicht in Betracht. Ich muß die Dame selbst sprechen!“

„Da wird nichts draus“, damit schob er sie zur Haustür. „Scheren Sie sich weg!“

„Man kann mich nur mit Gewalt hinausbringen, und dazu dürften wohl zwei wie Sie nötig sein“, schrie Nancy laut. „Ist denn keiner hier“, sagte sie, sich umblickend, „der für ein armes Mädchen eine einfache Botschaft ausrichten will?“

Das machte auf einen gutmütigen Koch, der mit der anderen Dienerschaft dem Auftritte zusah, Eindruck, und er legte sich ins Mittel.

„Weißt du, Joe, tue ihr doch den Gefallen.“

„Hat doch keinen Zweck!“ versetzte der Bediente. „Die junge Dame wird doch solche Person nicht annehmen. Das glaubst du wohl selbst nicht!“

Diese Anspielung auf Nancys zweideutiges Aussehen weckte ein gewaltiges Maß tugendhafter Entrüstung in den Herzen der vier Dienstmädchen. Sie erklärten mit großer Geschwätzigkeit, dieses Geschöpf sei eine Schande ihres Geschlechts, und man könne nichts Besseres tun, als sie ohne Gnade auf die Straße zu setzen.

„Fangt mit mir an, was ihr wollt“, sagte Nancy zu den Männern, „aber tut zuerst, um was ich euch bat. Um Gottes willen, richtet meine Botschaft an die junge Dame aus.“

Der gutmütige Koch unterstützte ihre Bitte und erreichte damit, daß der zuerst erschienene Diener die Meldung übernahm.

„Also was soll ich der Herrschaft sagen?“ fragte er, mit einem Fuß auf der Treppe.

„Daß ein junges Mädchen dringend um eine Unterredung mit Fräulein Maylie unter vier Augen bittet. Die Dame wird nach meinen ersten Worten schon urteilen können, ob sie mich weiter anhören will oder mich hinauswerfen lassen muß.“

„Ich meine, das ist ein starkes Stück“, sagte einer der Diener.

„Richten Sie das aus“, versetzte Nancy bestimmt, „und lassen Sie mich die Antwort wissen.“

Der Diener eilte die Treppe hinauf. Nancy stand bleich und mit zuckenden Lippen da, als dauernd abfällige Bemerkungen über sie, in denen die züchtigen Dienstmädchen sich gar nicht genugtun konnten, an ihr Ohr drangen. Ihre Beklommenheit nahm noch zu, als der Diener zurückkam und ihr sagte, sie möge hinaufgehen.

„Was hat man eigentlich in der Welt davon, wenn man anständig bleibt?“ meinte das eine Dienstmädchen.

„Messing gilt mehr als das im Feuer erprobte Gold“, sagte das zweite.

Das dritte begnügte sich mit der Frage, aus welchem besseren Stoffe wohl Damen sein mögen.

Und das vierte übernahm den Sopran in dem harmonischen Quartett: „Es ist ’ne Sünd‘ und Schande“, womit die vier keuschen Dianen schlossen.

Ohne auf diese Redensarten zu achten – denn sie hatte wichtigere Dinge auf dem Herzen –, folgte Nancy mit zitternden Knien dem Diener in ein kleines, durch eine Hängelampe erleuchtetes Zimmer. Hier verschwand er, und sie blieb allein.

Eine denkwürdige Zusammenkunft, die gewissermaßen die Fortsetzung des vorigen Kapitels ist

Nancy hatte ihr Leben lang auf den Straßen der Hauptstadt und in den scheußlichsten Lasterhöhlen zugebracht, aber trotzdem hatte sie sich einen Rest von der Natur des Weibes bewahrt. Als sie hinter der Tür leichte sich nähernde Schritte vernahm und des großen Gegensatzes gedachte, den das kleine Gemach im nächsten Augenblick umschließen sollte, da fühlte sie sich von dem Gewicht ihrer eigenen tiefen Erniedrigung fast zu Boden gedrückt. Sie schrak zusammen, als könne sie die Gegenwart der Dame, die sie so dringend zu sprechen verlangt hatte, kaum ertragen.

Doch gegen diese besseren Gefühle kämpft der Stolz – eine Eigenschaft, die die niedrigsten und verworfensten Geschöpfe mit den Höchststehenden und sich ihres Wertes Bewußten gemein haben. Die elende Genossin von Dieben und Halunken aller Art, die tiefgesunkene Bewohnerin der gemeinsten Schlupfwinkel, die Verbündete des Auswurfs der Zuchthäuser und Galeeren, die bildlich gesprochen mit dem Strick des Henkers um den Hals lebte – selbst dieses so tief herabgewürdigte Geschöpf fühlte sich zu stolz, um auch nur die geringste Regung des weiblichen Gefühls zu verraten. Es kam ihr wie eine Schwäche vor, obgleich sie doch nur durch dieses einzige Band mit der edleren Menschheit verknüpft war, deren äußere Spuren ein wüstes Leben schon in den Tagen ihrer Kindheit verwischt hatte.

Nancy erhob die Augen so weit, um gewahren zu können, daß die Gestalt, die jetzt ins Zimmer trat, die eines zarten und schönen Mädchens war. Dann schlug sie die Augen wieder nieder und sprach mit angenommener Gleichmütigkeit:

„Es hält schwer, Sie zu Gesicht zu bekommen, Fräulein! Wäre ich empfindlich gewesen und wieder fortgegangen, wie es wohl die meisten getan hätten, so würden Sie wohl eines Tages Grund gehabt haben, es zu bereuen.“

„Es tut mir leid, wenn man Sie unhöflich behandelt hat“, sagte Rosa. „Doch denken Sie nicht mehr daran, und sagen Sie mir, warum Sie mich zu sprechen wünschen. Ich bin Fräulein Maylie.“

Der freundliche Ton dieser Antwort, die liebliche Stimme und das sanfte Benehmen, in dem keine Spur von Hochmut oder Verachtung war, überraschten Nancy derart, daß sie in Tränen ausbrach.

„Ach, Fräulein – Fräulein“, sagte Nancy, indem sie die Hände leidenschaftlich rang, „gäbe es mehr Ihresgleichen, so würden weniger sein wie ich – o gewiß.“

„Setzen Sie sich“, sprach Rosa, „Sie bringen mich in Verlegenheit. Sind Sie arm oder unglücklich, so will ich Ihnen gern helfen, soweit es in meiner Macht steht. Glauben Sie mir. – Bitte, setzen Sie sich!“

„Lassen Sie mich nur stehen, Fräulein“, sagte Nancy, immer noch Tränen vergießend, „und sprechen Sie nicht in solchem gütigen Ton zu mir, bis Sie mich besser kennen. Doch es ist spät. Ist – die – Tür verschlossen?“

„Ja“, erwiderte Rosa, einige Schritte zurücktretend, „warum ?“

„Weil ich im Begriff bin“, antwortete Nancy, „mein Leben und das Leben anderer in Ihre Hände zu legen. Ich bin das Mädchen, das den kleinen Oliver an jenem Abend, als er das Haus in Pentonville verfieß, zu Fagin, dem alten Juden, zurückschleppte.“

„Sie?“ rief Rosa erstaunt.

„Ja, ich, mein Fräulein“, sagte Nancy. „Ich bin die schlechte Person, von der Sie gehört haben, die unter Dieben lebt, und, soweit ihre Erinnerung reicht, keine bessere Heimat gekannt hat als die Straßen von London, und die keine freundlicheren Worte hörte, als wie sie der Auswurf der Menschheit von sich geben kann. Gott ist mein Zeuge, so ist’s! Ja, schrecken Sie nur vor mir zurück, Fräulein. Ich bin zwar jünger, als Sie nach meinem Außern wohl glauben mögen, allein ich bin daran gewöhnt. Die ärmsten Weiber wenden sich ab, wenn ich ihnen auf der Straße begegne.“

„Das ist ja schrecklich!“ rief Rosa, unwillkürlich einen weiteren Schritt zurückweichend.

„Danken Sie Gott auf den Knien, Fräulein“, fuhr Nancy fort, „daß Sie Freunde hatten, die über Ihre schutzlose Kindheit wachten. Daß Sie niemals Kälte und Hunger, Völlerei und Trunkenheit – und noch Schlimmeres gekannt haben, wie es bei mir von Anfang an der Fall war. Ich darf von diesen Dingen reden, da ich ein Gassenmädel bin, und die Gosse wird wohl auch dereinst mein Sterbebett sein.“

„Gott, wie ich Sie beklage“, sagte Rosa mit zitternder Stimme. „Ihre Worte schneiden mir ins Herz.“

„Gott lohne Ihnen Ihre Güte! Ach, wie würden Sie mich erst bedauern, wenn Sie wüßten, was ich manchmal bin! Aber ich habe mich von denen fortgestohlen, die mich ohne Erbarmen mordeten, wenn sie erführen, daß ich hier gewesen bin, um Ihnen mitzuteilen, was ich gehört habe. – Kennen Sie einen Mann namens Monks?“

Rosa verneinte.

„Aber er kennt Sie und weiß, daß Sie hier sind. Ich hörte ihn nämlich den Ort nennen, wo Sie wohnen, und daher gelang es mir, zu Ihnen vorzudringen.“

„Der Name ist mir vollkommen fremd.“

„Dann ist er angenommen, wie ich früher schon vermutete. Vor einiger Zeit, kurz nachdem Oliver in der Nacht des Einbruchs in Ihr Haus geschickt wurde, belauschte ich eine Unterredung, die dieser Mensch im Finstern mit dem alten Juden Fagin hatte. Ich erfuhr, daß Monks – der Mann, nach dem ich Sie vorhin fragte –“

„Ja, ich verstehe.“

„daß Monks Oliver zufällig an dem Tage, als wir ihn verloren, mit zweien von unsern Jungens gesehen hatte. Er erkannte ihn augenblicklich als das Kind, auf das er es abgesehen hatte, weshalb, konnte ich nicht herauskriegen. Es wurde eine Vereinbarung getroffen, daß Fagin eine gewisse Summe kriegen sollte, wenn Oliver wieder zurückgebracht würde. Wenn es dem Juden gelingen sollte, Oliver zum Diebe abzurichten, was Monks zu irgendeinem Zwecke wünschte, sollte er noch mehr erhalten.“

„Zu welchem Zwecke wohl?“

„In der Hoffnung, das zu erfahren, trat ich etwas näher, und da gewahrte Monks meinen Schatten an der Wand. Nur wenige außer mir wären damals wohl imstande gewesen, einer Entdeckung zu entgehen. Mir gelang es jedoch, und ich sah bis gestern abend nichts mehr von ihm.“

„Und was geschah?“

„Ich will es Ihnen sagen, Fräulein. Gestern abend kam er also wieder. Sie gingen wieder die Treppe hinauf, und ich horchte wieder an der Tür, aber so, daß mich mein Schatten nicht verraten konnte. Die ersten Worte, die ich Monks sagen hörte: waren: ‚So liegen denn die einzigen Beweise, durch die sich Oliver hätte legitimieren können, auf dem Boden des Flusses, und die alte Hexe, die sie von der Mutter erhielt, modert in ihrem Sarge.‘ Sie lachten und freuten sich, daß der Streich so gut gelungen war. Monks, der immer aufgeregter wurde, sprach noch weiter über Oliver und sagte, obwohl ihm das Geld des Jungen Teufels jetzt sicher sei, hätte er doch lieber den anderen Weg eingeschlagen. Ein Hauptspaß wäre es gewesen, das prahlerische Testament des Vaters dadurch Lügen zu strafen, daß man den Jungen durch alle Gefängnisse der Stadt hetzte und ihn dann wegen irgendeines Kapitalverbrechens aufknüpfte. Das zu bewerkstelligen, hätte Fagin ein leichtes sein müssen, und er hätte ihn zuvor noch ordentlich ausnutzen können.“

„Was bedeutet das alles?“

„Es ist die reine Wahrheit, obgleich sie von meinen Lippen kommt. Dann sagte Monks unter Verwünschungen, an die meine Ohren gewöhnt, die aber den Ihrigen fremd sind, er würde seinen Haß durch Ermordung Ofivers befriedigen, wenn er es tun könnte, ohne seinen Hals zu gefährden. Er würde aber dem Jungen sein ganzes Leben über auflauern und versuchen, ihm durch Enthüllung seiner Herkunft und durch das Erzählen seiner Geschichte auf jede Weise zu schaden. ‚Kurz und gut, Fagin‘, sagte er, ’so sehr du auch Jude bist, du hast noch nie solche Fallstricke gelegt, wie ich sie jetzt meinem Bruder Oliver legen werde.'“

„Sein Bruder?!“ rief Rosa, die Hände zusammenschlagend.

„Dies waren seine Worte“, erwiderte Nancy und sah sich wieder unruhig um. Sie hatte es die ganze Zeit über getan, denn der Gedanke an Sikes regte sie etwas auf. „Und noch mehr. Als er von Ihnen und der anderen Dame sprach, sagte er, Gott und der Teufel scheine gegen ihn im Bunde zu sein, daß Oliver gerade in Ihre Hände kommen mußte. Aber es läge auch einiger Trost darin, fuhr er höhnisch lächelnd fort, daß Sie nicht wüßten, wer Ihr zweibeiniger Schoßhund sei. Denn Sie würden tausende und hunderttausende Pfund geben, falls Sie sie hätten, wenn Sie es erführen.“

„Sie wollen mich doch nicht glauben machen“, sagte Rosa erblassend, „daß er das im Ernst sagte.“

„Wenn je ein Mensch im Ernst gesprochen hat, so tat er es. Er pflegt nicht zu scherzen, wenn der Haß in ihm wach wird. Ich kenne viele, die noch schlimmere Dinge tun, aber ich wollte sie alle lieber ein dutzendmal davon sprechen hören als diesen Monks nur ein einziges Mal. – Doch es ist schon spät, und zu Hause darf man nicht ahnen, daß ich hier gewesen bin. Ich muß eilen, um wieder heimzukommen.“

„Aber was kann ich tun?“ fragte Rosa. „Was kann ich mit Ihren Mitteilungen ohne Sie anfangen? Sie wollen wieder zurück? Warum wollen Sie wieder zu Leuten, die sie in so schrecklichen Farben gezeichnet haben? Wenn Sie Ihre Aussage in Gegenwart eines Herrn wiederholen wollen, den ich sofort aus dem nächsten Zimmer rufen kann, so können wir Sie, ehe eine halbe Stunde um ist, an einem sicheren Orte unterbringen.“

„Ich wünsche zurückzukehren“, entgegnete Nancy. „Ja, ich muß zurückkehren, weil – doch wie kann ich über solche Dinge mit einer so unschuldigen Dame wie Sie sprechen – weil unter den Menschen, von denen ich Ihnen erzählte, einer ist – und zwar einer der fürchterlichsten – den ich nicht verlassen kann. Nicht einmal, wenn ich von meinem gegenwärtigen Leben erlöst würde.“

„Sie haben sich schon früher Olivers angenommen, Sie sind unter großer Gefahr hierhergekommen, um mir mitzuteilen, was Sie gehört haben, Ihr ganzes Benehmen ist mir Bürge für die Wahrheit Ihrer Worte; und dann Ihre augenscheinliche Zerknirschung – alles das gibt mir die Überzeugung, daß Sie noch gerettet werden können. Ach“, fuhr Rosa tiefernst fort und faltete die Hände, während ihr die Tränen über die Backen liefen, „verschließen Sie Ihr Ohr nicht den Bitten einer Angehörigen Ihres eigenen Geschlechts – der ersten vielleicht, die jemals mitleidend und mitfühlend zu Ihnen gesprochen hat. Hören Sie auf mich und lassen Sie sich durch mich zu einem besseren Leben rettcnl“

„Fräulein!“ rief Nancy und sank auf die Knie, „teures, süßes, engelisches Fräulein! Sie sind die erste, die mich mit solchen Worten beglückt. Würde ich sie vor Jahren vernommen haben, so hätten sie mich wohl einem Leben voll Sünde entreißen können. jetzt ist es zu spät!“

„Reue und Buße kommen nie zu spät.“

„Doch, es ist zu spät“, schrie Nancy im höchsten Seelen-, schmerz, „ich kann von ihm jetzt nicht fort, unmöglich kann ich ihn dem Tode verfallen lassen.“

„Wieso sollte das sein?“

„Nichts könnte ihn retten; wenn ich anderen erzählte, was ich Ihnen beichtete, und dadurch die Verhaftung der in der Sache Verwickelten herbeiführte, so wäre sein Tod gewiß. Er ist der Verwegenste von allen gewesen und hat schreckliche Dinge begangen!“

„lst’s möglich, daß Sie eines solchen Menschen wegen auf jede Hoffnung für die Zukunft und die Gewißheit einer sofortigen Rettung verzichten? Das ist doch Wahno sinn!“

„Ich weiß nicht, was es ist, ich weiß nur, daß es so ist, und nicht nur bei mir allein, sondern auch bei hundert anderen, die eben so schlecht und verkommen sind wie ich. Ich muß zurück! Vielleicht ist es die Strafe Gottes für das viele Böse, was ich getan habe. Es zieht mich zu ihm hin, trotz aller Leiden und Mißhandlungen, die ich zu erdulden habe, und ich kann nicht von ihm lassen, selbst wern ich wüßte, daß ich mal durch seine Hand sterben soll!“

„Was ist da nur zu tun? Ich sollte Sie so nicht fortlassen.“

„Sie müssen es, Fräulein, und ich weiß, Sie werden es. Sie werden mich nicht zurückhalten, weil ich Ihrer Güte vertraute und Ihnen, wie ich eigentlich hätte tun sollen, kein Versprechen abverlangte.“

„Was kann mir dann aber Ihre Erzählung nutzen? Man muß doch diesem Geheimnis auf den Grund gehen. Wie können wir denn sonst Oliver helfen, dem zu nützen Ihnen doch so viel am Herzen liegt?“

„Sie kennen vielleicht irgendeinen Ihnen wohlwollenden Herrn, dem Sie das Geheimnis anvertrauen können und der Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen will“, sagte Nancy.

„Aber wo kann ich Sie wiedersehen, wenn es nötig sein sollte. Ich will nicht wissen, wo diese schrecklichen Menschen hausen, aber wo wird man Sie zu einer bestimmten Zeit wieder treffen können, etwa auf einem Spaziergange?“

„Wollen Sie mir versprechen, daß mein Geheimnis bei Ihnen aufs strengste bewahrt wird, und daß Sie allein oder nur mit dem Herrn, dem Sie Ihr Vertrauen geschenkt haben, kommen wollen, und daß ich in keiner Weise beobachtet oder verfolgt werde?“ fragte Nancy.

„Ich verspreche es Ihnen feierlichst“ , antwortete Rosa.

‚“So will ich, wenn ich am Leben bleibe, jeden Sonntag zwischen elf und zwölf Uhr nachts auf der Londoner Brücke auf und ab gehen!“

„Bleiben Sie noch einen Augenblick“, bat Rosa, als Nancy rasch zur Tür ging. „Denken Sie noch einmal über Ihre Lage nach und erwägen Sie, welche günstige Gelegenheit Ihnen geboten wird, sie hoffnungsvoll zu ändern. Sie haben einen Anspruch auf meinen Dank nicht nur als Überbringerin so wichtiger Nachrichten, sondern auch als eine Unglückliche, die sich selbst verloren hat. Sie wollen zu diesem Diebesgesindel und diesem Verbrecher zurückgehen, trotzdem ein einziges Wort Sie retten kann? Ach, ist denn in Ihrem Herzen keine Saite, die ich zum Klingen bringen kann? Gibt es gar nichts, was gegen diese Verblendung mir zur Hilfe kommen kann?“

„Wenn junge Damen, so schön und gut und liebenswürdig wie Sie, ihr Herz verschenken“, versetzte Nancy mit fester Stimme, „so macht die Liebe sie zu Opfern fähig – selbst wenn sie eine Heimat, Freunde, Anbeter haben – kurz alles, was sie sich nur wünschen können. Wenn aber solche wie ich, die kein sichereres Dach als den Deckel ihres Sarges und in der Stunde der Krankheit und des Todes keinen anderen Freund haben als die Krankenhauswärterin, ihr liebebedürftiges Herz an einen Mann hängen und ihm darin die Stelle der Eltern, der Heimat und der Freunde einräumen – wer kann da hoffen, solche Geschöpfe zu heilen? Bemitleiden Sie uns, daß uns nur dieses einzige weibliche Gefühl geblieben ist und daß es, statt unser Stolz und Trost zu sein, durch Gottes schwere Richterhand eine Quelle neuer Leiden und neuen Fluches geworden ist.“

„Sie werden aber doch etwas Geld von mir annehmen“, sagte Rosa nach einer Pause, „daß Sie bis zu der Zeit wenigstens, wo wir uns wiedersehen, ohne Schande leben können.“

„Keinen Pfennig!“ erwiderte Nancy und hob die Hand abwehrend.

„Verschließen Sie Ihr Herz doch nicht gegen alle meine Bemühungen, Ihnen zu helfen“, sagte Rosa näher tretend. „Ich möchte Ihnen gern dienlich sein.“

„Sie könnten mir den größten Dienst erweisen, Fräulein“, versetzte Nancy und rang die Hände, „wenn Sie mir mit einemmal das Leben nehmen würden, denn der Gedanke an das, was ich bin, ist mir heute nacht mehr und schmerzlicher zum Bewußtsein gekommen als je. Auch wäre es ein Trost, nicht in derselben Hölle zu sterben, in der ich gelebt habe. Gott segne Sie, mein liebes Fräulein, und er möge Ihnen so viel Glück spenden, als ich Schande auf mein Haupt geladen habe!“

Mit diesen Worten und laut schluchzend verließ die Unglückliche das Zimmer. Aufs höchste ergriffen sank Rosa Maylie auf einen Stuhl und versuchte ihre wirren Gedanken zu sammeln. Die Unterredung erschien ihr mehr ein flüchtiger Traum zu sein als Wirklichkeit.

Enthält neue Entdeckungen und zeigt, daß Überraschungen gleich Unglücksfällen selten allein kommen

Rosas Lage war in der Tat eine ungemein schwierige, denn während sie glühend wünschte, das Geheimnis zu lüften, das Olivers Geschichte umgab, durfte sie das Vertrauen nicht mißbrauchen, welches ihr das unglückliche Geschöpf geschenkt hatte. Nancys Benehmen und ihre Worte hatten Rosas Herz gerührt und zu der Liebe für ihren jungen Schützling gesellte sich der kaum weniger heiße Wunsch, die Verlorene einem besseren Leben wieder zu gewinnen.

Die Damen hatten die Absicht, nur drei Tage in London zu bleiben und dann auf einige Wochen nach einem Seebad abzureisen. Heute war der erste Tag um. Was konnte man in den nächsten achtundvierzig Stunden erreichen? Und wie konnte sie einen Aufschub der Reise erlangen, ohne Verdacht zu erregen?

Herr Losberne war bei ihnen auf Besuch und wollte auch noch die beiden nächsten Tage bleiben. Aber Rosa kannte die Heftigkeit dieses Ehrenmannes zu gut und sah seinen Zorn deutlich voraus, den er über die Person ergießen würde, die das Werkzeug zu Olivers Entführung war. Sie konnte ihm deshalb ihr Geheimnis nicht anvertrauen, wenigstens nicht so lange, bis ihre Fürsprache zugunsten Nancys von einer anderen Seite unterstützt würde.

Aus denselben Gründen beobachtete sie auch gegen Frau Maylie die größte Vorsicht, da deren erster Schritt sicher eine Besprechung der Angelegenheit mit dem würdigen Doktor gewesen wäre. Ebenso war auch nicht daran zu denken, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen, selbst wenn sie gewußt hätte, wie man das anzustellen hat. Einmal kam ihr der Gedanke, Harry um Beistand zu ersuchen, aber in der Erinnerung an den letzten Abschied schien es ihr unwürdig, ihn herzubitten, da er es vielleicht über sich gewonnen hatte, sie zu vergessen und sich in der Ferne glücklich fühlte. Die Tränen schossen ihr in die Augen, als sie daran dachte.

Rosa brachte eine schlaflose Nacht zu, da sie nicht wußte, wie sie handeln sollte und zu keinem Entschluß kommen konnte. Als sie am anderen Morgen aufs neue mit sich zu Rate gegangen war, beschloß sie in ihrer Verzweiflung, doch Harry Maylie in ihr Geheimnis einzuweihen.

„Es ist ihm vielleicht schmerzlich, wieder zurückzukommen“, dachte sie, „aber wie schmerzlich wird es erst für mich sein! Vielleicht kommt er aber gar nicht und macht die Sache schriftlich ab. Oder er kommt und meidet mich ängstlich, wie er es tat, als er abreiste. Ich hatte es damals nicht erwartet, aber es war für uns beide besser.“

Rosa ließ die Feder fallen und wandte sich ab, als sollte selbst das Papier, dem sie ihre Botschaft anzuvertrauen gedachte, nicht Zeuge ihrer Tränen sein.

Sie hatte die Feder wohl fünfzigmal ergriffen und ebensooft wieder weggelegt, und ohne eine Zeile zu schreiben, hin und her überlegt, wie sie ihren Brief anfangen sollte, als Oliver, der, mit Herrn Giles als Leibwächter, in der Stadt spazieren gegangen war, in großer Aufregung ins Zimmer stürzte.

„Warum siehst du so verstört aus?“ fragte Rosa, ihm entgegengehend.

„Ich weiß nicht warum, mir ist die Kehle wie zugeschnürt“, antwortete der Junge. „Lieber Gott, denken zu dürfen, daß ich ihn doch noch sehen soll und Ihnen nun beweisen kann, wie ich in allem die Wahrheit gesprochen habe!“

„Ich zweifelte nie, daß du uns etwas anderes als die Wahrheit sagtest, liebes Kind. Aber was ist? Von wem sprichst du?“

„Ich habe den Herrn wiedergesehen“, antwortete Oliver ganz aufgeregt, so daß er kaum die Worte herausbringen konnte, Den Herrn, der so gut zu mir war. Herrn Brownlow, von dem wir so oft gesprochen haben.“

„Wo?“

„Er stieg aus einer Kutsche und ging in ein Haus“, erwiderte Oliver, und Tränen der Freude rannen ihm über die Backen. „Ich habe nicht mit ihm gesprochen – ich konnte nicht mit ihm reden, denn er sah mich nicht. Ich zitterte so, daß ich nicht imstande war, auf ihn zuzueilen. Aber Giles hatte sich erkundigt, ob er dort wohne, und man bejahte es. Sehen Sie hier –“, damit holte er ein Stück Papier aus der Tasche – „hier wohnt er, ich will sogleich hingehen. Ach, wie werde ich mich freuen, wenn ich ihn wiedersehe und seine Stimme höre.“

Rosa nahm das Papier und las Cravenstraße, Strand. Sie entschloß sich sofort, diese Entdeckung auszunutzen.

„Schnell“, sagte sie, „laß eine Droschke kommen und mache dich fertig, um mich zu begleiten. Ich will sofort mit dir Herrn Brownlow besuchen und nur noch vorher der Tante sagen, daß wir auf eine Stunde ausgehen wollen. Ich werde ebenso rasch angezogen sein wie du.“

Oliver ließ sich das nicht zweimal sagen, und ehe fünf Minuten um waren, befanden sie sich auf dem Wege nach der Cravenstraße. Als sie dort angekommen waren, ließ Rosa Oliver im Wagen unter dem Vorwande, daß sie den alten Herrn erst auf seinen Besuch vorbereiten wolle.

Sie schickte durch den Diener Herrn Brownlow ihre Karte mit der Bitte, ihn in einer wichtigen Angelegenheit sprechen zu dürfen. Der Bediente kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß sie erwartet würde und führte Fräulein Maylie in ein Zimmer des Oberstocks, wo ihr ein ältlicher Herr mit gutmütigen Gesichtszügen im grünen Anzug zuerst ins Auge fiel. Neben ihm saß ein anderer alter Herr in Nankingbeinkleidern, der nicht besonders freundlich aussah und die Hände über dem Knauf eines dicken Stockes verschlungen hielt, worauf er sein Kinn gelegt hatte.

„Ach“, sagte der Herr im grünen Anzug und sprang schnell auf, „ich bitte um Verzeihung, gnädiges Fräulein, – ich glaubte, es wäre irgendeine zudringliche Person, die – bitte entschuldigen Sie mich. Aber nehmen Sie doch Platz!“

„Sie sind Herr Brownlow, nicht wahr?“ fragte Rosa und wandte ihren Blick von dem anderen Herrn ab und dem Sprecher zu.

„Der bin ich“, antwortete der Herr. „Und hier mein Freund, Herr Grimwig. – Grimwig, wollen Sie uns auf ein paar Minuten allein lassen?“

„Ich glaube nicht“, fiel Rosa ein, „daß es nötig ist, den Herrn zu bemühen. Wenn ich recht berichtet bin, so ist ihm die Angelegenheit nicht unbekannt, die mich zu Ihnen führt.“

Herr Brownlow stimmte durch ein Kopfnicken zu, und Herr Grimwig, der eine sehr steife Verneigung gemacht und sich erhoben hatte, machte eine zweite ebenso steife Verbeugung und nahm wieder Platz.

„Ich glaube, daß ich Sie mit meinen Mitteilungen sehr überraschen werde“, sagte Rosa in einiger Verlegenheit. „Sie haben einmal einem mir sehr teuern, jungen Freunde viel Güte und Wohlwollen erwiesen, und ich bin deshalb davon überzeugt, daß Sie es freuen wird, wieder von ihm zu hören.“

„So?“ sagte Herr Brownlow.

„Sie kennen ihn als Oliver Twist“, versetzte Rosa.

Diese Worte waren kaum ihrem Munde entflohen, als Grimwig, der so getan hatte, als lese er in einem auf dem Tische liegenden großen Buch, dasselbe mit großem Geräusch zuschlug, sich im Stuhl zurücklehnte und Rosa ganz erstaunt und mit großen, starren Augen ansah. Dann schnellte er sich mit einer krampfhaften Anstrengung in seine vorherige Stellung wieder zurück, als ob er sich schäme, soviel Überraschung gezeigt zu haben.

Er guckte gerade vor sich hin und ließ ein langes und tiefes Pfeifen vernehmen, das jedoch nicht in der Luft, sondern in den innersten Winkeln seines Magens zu ersterben schien.

Herr Brownlow war nicht weniger erstaunt, doch gab sich seine Überraschung nicht in der gleichen seltsamen Art kund. Er rückte mit seinem Stuhle Fräulein Maylie näher und sprach:

„Tun Sie mir den Gefallen, gnädiges Fräulein, die Güte und das Wohlwollen, von denen Sie sprachen und von denen außer Ihnen niemand etwas weiß, mal ganz aus dem Spiele zu lassen. Wenn es Ihnen aber möglich ist, etwas anzuführen, das geeignet ist, die ungünstige Meinung, die ich über den Jungen mir bilden mußte, zu ändern, so bitte ich Sie inständig darum.“

„Ein schlechter Junge – ich will meinen Kopf aufessen, wenn er nicht ein schlechter Junge ist“, brummte Herr Grimwig wie ein Bauchredner, denn er verzog dabei keine Muskel seines Gesichts.

„Der Knabe besitzt ein edles und warmes Herz“, sagte Rosa errötend, „und Gott, dem es gefallen hat, ihm Prüfungen, die über seine Jahre hinausgingen, aufzuerlegen, hat in seine Brust Gefühle gepflanzt, die vielen Ehre machen würden, die sechs mal so alt sind als er.“

„Ich bin erst einundsechzig“, meinte Herr Grimwig mit demselben unbeweglichen Gesicht, „und da es mit dem Teufel zugehen müßte, wenn dieser Oliver nicht mindestens zwölf Jahre alt ist, so finde ich nichts Zutreffendes in dieser Bemerkung.“

„Hören Sie nicht darauf, was mein Freund sagt, Fräulein Maylie, er meint es nicht so schlimm, wie es sich anhört“, sprach Herr Brownlow.

„Doch meint er es so“, brummte Herr Grimwig.

„Nein, er meint es nicht so“, entgegnete Herr Brownlow, ärgerlich werdend.

„Er will seinen Kopf aufessen, wenn er es nicht so meint“, versicherte Herr Grimwig.

„Er verdiente, daß man ihm denselben abschlüge, wenn er es täte“, sagte Herr Brownlow.

„Und er möchte den Mann sehen, der es versuchen wollte“, versetzte Herr Grimwig und stieß seinen Stock heftig auf den Boden.

Nachdem es soweit gekommen war, nahm jeder von den beiden alten Herren eine Prise, worauf sie sich, wie gewöhnlich, zum Zeichen der Versöhnung die Hände schüttelten.

„Nun, gnädiges Fräulein“, sagte Herr Brownlow, „kehren wir wieder zu der Angelegenheit zurück, an der Ihre Menschenfreundlichkeit so regen Anteil nimmt. Darf ich fragen, welche Nachrichten Sie von dem armen Kinde haben? Erlauben Sie mir vorauszuschicken, daß ich alle mir zu Gebote stehenden Mittel erschöpfte, ihn ausfindig zu machen. Auch meine erste Ansicht, von Oliver betrogen und auf Anraten seiner früheren Diebesgenossen bestohlen worden zu sein, hat seit meiner Auslandreise einen beträchtlichen Stoß erlitten!“

Rosa, die inzwischen Zeit gehabt hatte, ihre Gedanken zu sammeln, berichtete nun in kurzen Worten, was sich mit Oliver zugetragen hatte, seit er Herrn Brownlows Haus verließ. Nur für die Mitteilungen Nancys behielt sie sich eine Unterredung unter vier Augen vor. Sie schloß mit der Versicherung, sein einziger Kummer seit mehreren Monaten sei nur immer gewesen, daß er seinen ehemaligen Freund und Wohltäter nirgends habe finden können.

„Gottlob!“ rief der alte Herr. „Diese Nachricht macht mich über die Maßen glücklich. Sie haben mir aber noch nicht gesagt, wo er sich gegenwärtig befindet. Verzeihen Sie, wenn ich es Ihnen zum Vorwurf mache, ihn nicht gleich mitgebracht zu haben.“

„Er wartet im Wagen vor der Haustür“, sagte Rosa.

„Vor meiner Haustür?“ rief der alte Herr und rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und an den Wagen.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hob Herr Grimwig seinen Kopf hoch und ließ mit Hilfe seines Stockes und des Tisches seinen Stuhl auf einem Hinterbein drei Kreise beschreiben, ohne dabei seinen Sitz zu verlassen. Nachdem er das Kunststück ohne Unfall fertiggebracht hatte, stand er auf und hinkte wohl ein dutzendmal, so schnell er konnte, im Zimmer auf und ab, machte dann plötzlich vor Rosa halt und gab ihr ohne weitere Umstände einen Kuß.

„Pst!“ flüsterte er, als die junge Dame ob dieses uns gewöhnlichen Beginnens bestürzt aufstand. „Haben Sie keine Angst! Ich bin alt genug, um Ihr Großvater sein zu können. Sie sind ein prächtiges Mädel – Sie gefallen mir. – Doch da kommen sie schon!“

Durch eine geschickte Wendung brachte er sich wieder in seine frühere Stellung auf dem Stuhle, und gleich darauf trat Herr Brownlow mit Oliver ins Zimmer, der von Herrn Grimwig sehr gnädig empfangen wurde. Wäre die Freude, die Rosa in diesem Augenblick empfand, die einzige Entschädigung für alle Ängste und Sorgen gewesen, die sie Olivers wegen schon gehabt hatte, sie würde sich reich belohnt gefühlt haben.

„Es ist noch jemand da, den wir nicht vergessen dürfen“, sprach Herr Brownlow, den Klingelzug ergreifend. „Ich lasse Frau Bedwin bitten“, rief er dem eintretenden Diener zu.

Die betagte Hausdame kam sogleich und, einen Knicks machend, harrte sie der Befehle.

„Mein Gott, Sie werden alle Tage blinder“, sagte Herr Brownlow ärgerlich.

„Das stimmt“, erwiderte die gute Alte. „Ich habe aber nie gehört, daß die Augen mit dem Alter besser werden.“

„Das hätte ich Ihnen auch sagen können“, entgegnete Herr Brownlow, „aber setzen Sie Ihre Brille auf und sehen Sie zu, ob Sie nicht selbst herauskriegen, weshalb ich Sie rufen ließ!“

Kapitel 4

Die alte Frau fing an, in ihrer Tasche nach der Brille zu suchen, aber Oliver vermochte diese neue Geduldsprobe nicht zu bestehen, sondern eilte, dem Drange seines Herzens folgend, in ihre Arme.

„Gott sei mir gnädig“, rief die alte Frau, ihn zärtlich umarmend, „es ist mein lieber, guter Junge!“

„Meine liebe alte Pflegemutter!“ rief Oliver.

„Ich sagte ja immer, daß er wiederkommen würde, und wie gut er aussieht und so fein angezogen. Wo bist du denn diese ganze lange Zeit gewesen? Ach, es ist noch dasselbe sanfte Gesicht, nur nicht so bleich – dasselbe sanfte Auge, nur nicht so traurig. Oh, ich weiß alles noch ganz genau.“

So redete sie endlos weiter und lachte und weinte zu gleicher Zeit, indem sie Oliver mal in Armlänge von sich hielt, um zu sehen, wie groß er geworden sei, dann ihn wieder an sich zog und ihm zärtlich die Haare streichelte. Herr Brownlow überließ die beiden ihren Gefühlen und führte Rosa in ein anderes Zimmer, woselbst ihm diese zu seiner größten Überraschung ihre Unterredung mit Nancy erzählte. Rosa setzte ihm auch ihre Gründe auseinander, warum sie sich nicht gleich Herrn Losberne, ihrem Freunde, anvertraut hätte, was der alte Herr billigte. Er erklärte sich bereit, mit dem würdigen Doktor die Sache angelegentlich zu besprechen. Um dies bald ausführen zu können, wurde abgemacht, Herr Brownlow solle abends acht Uhr bei ihnen vorsprechen, damit man Frau Maylie inzwischen mit allen Vorgängen bekannt machen könne. Nachdem man diese Verabredungen getroffen hatte, kehrten Rosa und Oliver nach Hause zurück.

Rosa hatte das Maß von des guten Doktors Zorn keineswegs überschätzt, denn kaum waren ihm Nancys Mitteilungen erzählt worden, als er sich in eine Flut von Drohungen und Verwünschungen erging. Er beteuerte, er wolle die Dirne zum Opfer des vereinten Scharfsinns der Herren Blathers und Duff machen, und setzte sich auch wirklich den Hut auf, um sich ungesäumt des Beistandes dieser Ehrenmänner zu versichern. Er würde auch höchstwahrscheinlich, ohne die Folgen zu bedenken, im ersten Eifer seinen Entschluß ausgeführt haben, wäre er nicht zurückgehalten worden durch eine entsprechende Heftigkeit des Herrn Brownlow, der selbst ziemlich temperamentvoll war, aber auch durch Gründe und Gegenvorstellungen, denen sich Losberne nicht verschließen konnte.

„Ja, zum Donnerwetter, was sollen wir denn tun?“ tobte der hitzige Doktor, als sie wieder zu den beiden Damen zurückgekehrt waren. „Wir sollen wohl diesem Spitzbubengesindel, Männern sowohl als Weibern, eine Dankadresse überreichen und sie bitten, hundert Pfund oder mehr anzunehmen als ein bescheidenes Zeichen unserer Achtung und unserer Erkenntlichkeit für die Güte und Liebe, die sie Oliver erwiesen haben?“

„Das gerade nicht“, sagte Herr Brownlow lachend. „Aber wir müssen sachte und mit großer Behutsamkeit vorgehen!“

„Sachte und behutsam“, schrie der Doktor. „Ich möchte sie alle samt und sonders zum – -„

„Es ist gleichgültig, wohin Sie sie schicken möchten“, fiel Herr Brownlow ein. „Ich bitte Sie nur, dabei zu bedenken, ob wir dadurch auch zum Ziel kommen!“

„Zu welchem Ziel?“ fragte der Doktor.

„Einfach zu dem, herauszukriegen, wer Olivers Eltern gewesen sind, und ihm zu seinem Erbe zu verhelfen, das ihm so schändlich geraubt wurde.“

„Ach“, sagte Herr Losberne, sich mit dem Taschentuche Kühlung fächelnd, Aas hatte ich ganz vergessen!“

„Angenommen“, fuhr Herr Brownlow fort, „von dem Mädchen kann ja ohnehin keine Rede sein, angenommen, es wäre möglich, alle andern Halunken dem Gerichte zu überliefern, was könnte wohl Gutes dabei herauskommen?“

„Daß aller Wahrscheinlichkeit einige davon gehenkt und die übrigen ins Zuchthaus kommen würden“, erwiderte der Doktor.

„Schön“, sagte Herr Brovrnlow lächelnd. „Dahin wird es mit ihnen sowieso kommen, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Greifen wir ihnen vor, so begehen wir meines Erachtens einen Don-Quichotte-Streich, der in geradem Widerspruch zu unserm oder doch Olivers Interesse steht, was so ziemlich ein und dasselbe ist.“

„Wieso?“ fragte der Doktor.

„Es ist doch klar, daß es schwierig genug sein wird, diesem Geheimnis auf den Grund zu kommen, wenn wir diesen Monks nicht zu einem Geständnis bringen können. Das ist nur durch eine Kriegslist möglich, indem wir ihn abfangen, wenn er nicht von seinen Kumpanen umgeben ist. Denn, lassen wir ihn auch festnehmen, was haben wir für Beweise gegen ihn? Soviel wir wissen oder aus den Tatsachen schließen können, ist er nicht einmal bei den Diebereien der Bande beteiligt. Wenn er auch nicht glatt freigesprochen werden würde, so könnte man ihn höchstens nur als Landstreicher für kurze Zeit einsperren, und nachher wäre aus ihm ebensowenig herauszubringen, als wenn er taubstumm oder blödsinnig wäre!“

„Ich muß nochmals die Frage stellen“, fiel der Doktor heftig ein, „Ob Sie es wohl für vernünftig halten, daß man sich durch das dieser Dirne gegebene Versprechen binden läßt? Es ist allerdings ein Versprechen, in der besten und wohlwollendsten Absicht gegeben, aber in Wirklicho keit –“

„Ich bitte, lassen Sie sich auf keine Erörterung dieses Punktes ein“, sagte Herr Brownlow zu Rosa, die eben reden wollte. „Ihr Versprechen soll gehalten werden. Ich glaube, daß wir dadurch keinen Nachteil haben. Aber bevor wir uns zu einem wirksamen Schritt entschließen können, ist es nötig, daß wir mit dem Mädchen Rücksprache nehmen und es fragen, ob es uns den Monks zeigen will, wenn wir ihm versichern, daß er nur mit uns und nicht mit dem Gericht zu tun haben soll. Will oder kann es das nicht, so müssen wir von ihm eine Beschreibung seiner Person und seines Aufenthaltsortes herauszubekommen versuchen, damit wir den Burschen fassen können. Man kann es erst Sonntag wieder sprechen, und heute ist Dienstag. Ich rate daher, vorderhand uns ganz ruhig zu verhalten und auch Oliver von der Angelegenheit nichts wissen zu lassen.“

Obgleich Herr Losberne zu dem Vorschlag, fünf volle Tage zu warten, ein scheeles Gesicht machte, so mußte er doch zugeben, augenblicklich keinen besseren Rat zu wissen. Rosa und Frau Maylie waren ganz auf seiten des Herrn Brownlow, und so fand dessen Vorschlag einstimmige Billigung.

„Es wäre mir lieb“, sagte letzterer, „meinen Freund Grimwig ins Vertrauen zu ziehen. Er ist zwar ein schnurriger Kauz, besitzt aber einen scharfen Verstand und könnte uns von erheblichem Nutzen sein. Er war Rechtsanwalt und gab seine Laufbahn aus Unmut darüber auf, daß ihm in zwanzig Jahren nur zwei Klagesachen übertragen worden waren. Sie mögen aber selbst urteilen, ob dies eine Empfehlung ist oder nicht.“

„Ich habe nichts dagegen, wenn Sie Ihren Freund zuziehen wollen, vorausgesetzt, daß ich mich auch mit dem meinigen beraten darf“, versetzte der Doktor.

„Darüber muß abgestimmt werden“, entgegnete Herr Brownlow. „Wer ist es?“

„Der Sohn dieser Dame und Fräulein Rosas – langjähriger Freund“, antwortete der Doktor mit einer Kopfwendung zu den beiden Damen.

Rosa wurde feuerrot im Gesicht, aber sie machte keine Einwendungen (weil sie wohl erkannte, sie würde in einer hoffnungslosen Minderheit bleiben), und so wurden Harry Maylie und Herr Grimwig in den Ausschuß aufgenommen.

„Wir bleiben natürlich so lange in der Stadt“, sagte Frau Maylie, „als noch die geringste Aussicht vorhanden ist, die Nachforschungen mit Erfolg weiter zu betreiben. Ich werde bei einer Sache, die uns alle so nahegeht, weder Mühe noch Kosten sparen und gern hierbleiben, selbst, wenn es ein Jahr dauern sollte, um sie zu einem guten Ende zu bringen.“

„Gut“, Versetzte Herr Brownlow, „und da ich in Ihren Gesichtern lese, daß Sie gern wissen möchten, wie es kam, damals nicht dagewesen zu sein, um Olivers Angaben zu bestätigen, so bitte ich Sie, mir deshalb keine Fragen vorzulegen. Zur gegebenen Zeit werde ich durch Erzählung meiner eigenen Geschichte alle heute unausgesprochenen Fragen beantworten. Sie dürfen überzeugt sein, daß ich für meine Forderung Gründe habe. Ich will nämlich keine Hoffnungen erwecken, die vielleicht nie in Erfüllung gehen und nur die zahlreichen Schwierigkeiten vermehren würden. – Doch man hat zum Abendessen gerufen, und der arme Oliver, welcher ganz allein im nächsten Zimmer sitzt, denkt vielleicht, wir sind seiner überdrüssig geworden und hätten uns hier verschworen, ihn wieder in die Welt hinauszustoßen.

Mit diesen Worten bot der alte Herr Frau Maylie den Arm und führte sie in das Speisezimmer, während Herr Losberne Rosa geleitete. Die Beratung hatte damit ein Ende.

Ein alter Bekannter Olivers, der entschiedene Spuren von Genie blicken läßt, wird eine öffentliche Persönlichkeit in der Hauptstadt

In derselben Nacht, in der Nancy ihre Botschaft bei Fräulein Rosa Maylie ausgerichtet hatte, wanderten auf der großen, nach dem Norden führenden Straße zwei Personen nach London, denen unsere Erzählung einige Aufmerksamkeit schenken muß.

Die eine davon gehörte dem männlichen Geschlechte an und war eine jener knöchernen Gestalten mit langen Gliedern und schlotternden Knien, deren Alter sich nur schwer erraten läßt. Die andere – ein Frauenzimmer – war jung, aber von starkem und kräftigem Bau, was ihr allerdings auch zustatten kam, da sie die Last eines mächtigen Bündels auf dem Rücken zu schleppen hatte. Ihr Begleiter war nicht sonderlich mit Gepäck beschwert, denn er trug weiter nichts als ein zusammengeknotetes Taschentuch, mit ein paar kümmerlichen Habseligkeiten drin, an einem Stock über den Schultern.

So zogen sie den staubigen Weg dahin, bis sie an das Tor von Highgate kamen. Hier blieb der schnellere Wanderer stehen und rief seiner Gefährtin ungeduldig zu:

„So komm doch! Du bist so langsam, Charlotte, kaum zum Aushalten.“

„Du hast gut reden, trag nur mal solche schwere Last“, sagte das Frauenzimmer atemlos.

„Schwer? Ach, rede doch nicht – wozu habe ich dich denn?“ entgegnete er und warf sein kleines Bündel auf die andere Schulter. „Nun willst du schon wieder ausruhen. Wenn man bei dir nicht die Geduld verliert, dann weiß ich nicht, wo man sie verlieren sollte.“

„Ist es noch weit?“ fragte sie und setzte sich auf eine Bank, ganz in Schweiß gebadet.

„Noch weit? Wir sind so gut wie da!“ sagte der langbeinige Bursche und zeigte mit der Hand geradeaus. „Siehst du jene Lichter? Das ist London.“

„Die sind wenigstens noch zwei gute Meilen entfernt“, sagte das Weib verzweiflungsvoll.

„Was macht es, ob es zwei oder zwanzig sind“, erwiderte Noah Claypole (denn dieser war es). „Steh jetzt auf und komm, oder ich will dir Beine machen! Paß auf, dann geht’s schneller!“

Auf diese Drohung hin erhob sich Charlotte ohne weitere Bemerkung und ging an seiner Seite weiter.

„Wo gedenkst du zu übernachten, Noah?“ fragte sie, nachdem sie wohl eine halbe Meile gegangen waren.

„Was weiß ich!“ sagte dieser mürrisch.

„Hoffentlich in der Nähe?“

„Nein, nicht in der Nähe. Da ist gar nicht dran zu denken.“

„Warum nicht?“

„Wenn ich einmal sage, ich will das nicht tun, so muß dir das genügen, und du hast nicht nach den Gründen zu fragen“, entgegnete Herr Claypole würdevoll.

„Brauchst nicht gleich so böse zu sein“, sagte Charlotte.

„So wäre es richtig, irn ersten besten Gasthaus vor der Stadt einzukehren, damit Sowerberry, falls er uns nachsetzt, uns sofort findet und mit Handschellen an den Armen gleich wieder mit nach Hause nimmt“, meinte Noah ironisch. „Nein, ich werde im entlegensten Gasthaus der entlegensten Gasse Rast machen. Du kannst deinem Herrgott danken, daß du mich zum Führer hast, denn wenn wir anfangs nicht absichtlich einen falschen Weg gegangen wären, so säßest du schon seit acht Tagen hinter Schloß und Riegel. Und es wäre dir deiner Dummheit wegen nur recht geschehen!“

„Ich weiß, daß ich nicht so pfiffig bin wie du, aber wälze nur nicht alle Schuld auf mich. Denn du würdest ebensogut eingesperrt werden, wenn man mich festsetzte.“

„Wer hat das Geld aus der Schublade genommen, du oder ich?“ fragte Herr Claypole.

„Ich nahm es für dich, lieber Noah“, erwiderte sie.

„Habe ich es etwa behalten?“

„Nein, du vertrautest es mir an und ließest es mich tragen, Liebling“, damit klopfte sie ihm unter das Kinn und legte ihren Arm in den seinigen.

Es verhielt sich wirklich so. Er hatte ihr das Geld aber nur gelassen, damit es bei ihr gefunden würde, falls man sie verfolgte. Er konnte dann seine völlige Unschuld an dem Diebstahl beteuern und der Verhaftung entgehen. Natürlich ließ er sich bei dem jetzigen Anlaß in keine Erörterung seiner Beweggründe ein, und so wanderten sie in schönstem Einvernehmen weiter.

Durch allerhand schmutzige Straßen schleppte der Jüngling nun Charlotte und blieb endlich vor dem elendesten Gasthaus stehen, das ihm bis jetzt zu Gesicht gekommen war. Hier beschloß er zu übernachten.

„Gib mir jetzt das Bündel“, sagte Noah, „und rede nur, wenn du gefragt wirst. Wie heißt das Wirtshaus? D-r-e-i, drei was?“

„Krüppel“, las Charlotte.

„Drei Krüppel“, wiederholte Noah. „Kein übler Name! – Bleib immer dicht bei mir, und nun los!“ Nach diesen Worten stieß er die knarrende Tür auf, und sie traten ein.

.In der Gaststube war nur ein Judenjüngling, der mit beiden Ellbogen sich auf den Schanktisch stützte und in einer schmutzigen Zeitung las. Er starrte Noah an und dieser ihn.

„Sind dies die ‚Drei Krüppel‘?“ fragte Noah.

„Das ist der Name des Hauses“, erwiderte der Jude, er sprach etwas durch die Nase.

„Ein Herr, den wir draußen trafen, hat uns hierher empfohlen. Wir möchten hier übernachten.“

„Ich weiß nicht, ob es gehen wird, aber ich will fragen“, sagte Barney, denn dieser war der dienstbare Geist.

„Geben Sie uns inzwischen etwas kaltes Fleisch und ’nen Schluck Bier.“

Barney führte sie in ein kleines Hinterzimmer und brachte das Verlangte. Nach ein paar Minuten kam er mit der Nachricht zurück, daß sie über Nacht bleiben könnten. Dann ließ er das Pärchen allein. – Das Zimmer konnte von der Gaststube aus durch ein kleines Fenster, das sich unter der Stubendecke befand, beobachtet werden, auch konnte man gut hören, was in ihm gesprochen wurde. Als Barney wieder an den Schanktisch zurückkehrte, trat Fagin ein, um nach einem seiner jungen Freunde zu fragen.

„Pst!“ machte Barney, „es sind Fremde im kleinem Zimmer.“

„Fremde?“ wiederholte der Alte leise.

„Ja, komisches Volk“, meinte Barney. „Sie kommen aus der Provinz, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn sie nicht etwas für Euch wären.“

Fagin hörte diese Mitteilung mit großem Interesse und stieg sofort auf einen Stuhl, um das Paar durchs Fenster zu beobachten. Er sah, wie Herr Claypole dem Fleisch und Bier tüchtig zusprach und an Charlotte nur homöopathische Gaben verteilte.

„Aha!“ flüsterte Fagin, sich zu Bamey wendend. „Die Miene des Jünglings gefällt mir. Den können wir gebrauchen, er versteht es, mit dem Mädel richtig umzugehen. Sei jetzt mal mäuschenstille, Freundchen, damit ich hören kann, was sie sprechen.“ Er lauschte und hörte Noah sagen:

„Ich denke von jetzt ab den Herrn zu spielen und will nichts mehr von alten Särgen wissen. Und du, Charlotte, kannst eine Dame werden, wenn du Lust hast.“

„Ich möchte wohl, mein Lieber“, antwortete das Mädchen, „aber es gibt nicht alle Tage Schubladen zu leeren.“

„Hol der Teufel die Schubladen!“ entgegnete Herr Claypole. „Es gibt noch andere Dinge, die geleert werden können.“

„Und das wäre?“

„Taschen, Häuser, Postwagen, Banken“, meinte Noah, den das Bier mutig machte.

„Aber das kannst du doch nicht alles allein machen, Liebling“, sagte Charlotte.

„Ich werde mich nach Kameraden umsehen, die es können. Man wird uns auch brauchen können. Du selbst bist fünfzig Weiber wert, denn ich habe nie ein gerisseneres, spitzbübischeres Geschöpf gesehen als dich, sobald ich dich nur gewähren ließ.“

„Mein Gott, wie du schmeicheln kannst“, rief das Mädchen und drückte einen Kuß auf seine Lippen.

„Na, ’s ist schon gut! Sei nicht zu zärtlich, wenn ich Grund habe, mit dir böse zu sein“, sagte Noah, sehr würdig. „Ich möchte der Hauptmann einer Bande sein, ich würde gern die Zwanzigpfundnote, die du hast, darum geben – besonders, da wir doch nicht recht wissen, wie wir sie loswerden sollen.“

Nachdem Herr Claypole seinen Gedanken in dieser Weise Form gegeben hatte, öffnete sich plötzlich die Tür, und Herr Fagin trat ins Zimmer. Er hatte seine freundlichste Miene aufgesteckt, näherte sich mit einer tiefen Verbeugung und setzte sich an einen Tisch ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nieder. Den grinsenden Barney beauftragte er, ihm etwas zu trinken zu bringen.

„Ein herrlicher Abend, aber etwas zu kalt für diese Jahreszeit“, sagte Fagin, sich die Hände reibend. „Vom Lande, wie ich sehe?“

„Woran sehen Sie das?“ fragte Noah.

„Wir haben in London nicht so viel Staub wie Sie mitschleppen“, erwiderte der Jude und zeigte auf ihre Schuhe.

„Sie sind ein schlauer Kerl“, sagte Noah. „Ha! ha! hör nur, was er sagt, Charlotte.“

„Ja, Freundchen, hier in London muß man gerissen sein“, meinte der Jude; er sagte das in einem vertraulichen Flüstertone und schlug mit seinem rechten Zeigefinger an die Nase. Noah versuchte die Bewegung nachzuahmen, es gelang ihm nur unvollständig, da sein Gesichtserker dazu nicht groß genug war. Fagin schien diesen Versuch als eine Zustimmung seiner Ansicht zu deuten und bot ihm in der liebenswürdigsten Weise sein Glas mit Schnaps an, das Barney gerade brachte.

„Das ist ein guter Stoff“, bemerkte Herr Claypole und schnalzte wohlbehaglich mit den Lippen.

„Aber teuer“, sagte Fagin, „wer ihn immer trinken will – muß immer etwas leeren. Eine Schublade, eine Tasche, ein Haus, eine Postkutsche oder eine Bank.“

Herr Claypole hatte kaum die Wiederholung seiner eigenen Worte gehört, als er auf seinen Stuhl zurücksank und mit aschfahlem Gesicht von dem Juden zu Charlotte hin blickte.

„Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Lieber. Ha! ha! ha! Glücklicherweise habe ich es nur gehört. Das war wirklich ein Glück!“

„Ich hab’s nicht genommen“, stotterte Noah. „Sie hat’s ganz allein getan und hat das Geld auch noch. Du weißt das, Charlotte.“

„Es ist ganz gleich, wer es hat oder tat, Freundchen“, versetzte Fagin, der aber trotzdem einen lauernden Blick auf das Mädchen warf. „Ich bin in derselben Branche, und Sie gefallen mir deshalb.“

„In welcher Branche?“ fragte Noah aufatmend.

„Nun, derartige Geschäftchen zu machen wie Sie. Alle hier im Hause treiben dasselbe Gewerbe. Sie sind hier in die richtige Schmiede gekommen und so sicher, wie man es nur sein kann, das heißt, wenn ich will. Aber ich habe Sie und das junge Mädchen da in mein Herz geschlossen, und Sie können nun ganz ruhig sein.“

Trotz dieser Worte guckte ihn Noah immer noch ein wenig argwöhnisch an, so daß der Jude sich veranlaßt fühlte, in seiner Rede fortzufahren:

„Ich habe einen Freund, der Ihren Lieblingswunsch befriedigen kann und Ihnen gern den richtigen Weg zeigen wird zu dem Geschäftszweig, der Ihnen am meisten zusagt, wie er Ihnen auch in allen anderen Branchen Unterricht zu erteilen vermag!“

„Sie sprechen, als ob es Ihr Ernst wäre!“

„Was hätte ich davon, wenn ich hier scherzen wollte“, sagte der Jude achselzuckend. – „Doch ich möchte gern einige Worte mit Ihnen allein draußen sprechen.“

„Das ist nicht nötig, die Mühe können wir uns sparen. Sie kann das Gepäck hinauftragen. Charlotte, bring die Bündel hinauf!“

Diesen, mit viel Majestät gegebenen Befehl Noahs führte das Mädchen eilfertig aus, und befriedigt fragte er Fagin im Tone eines Tierbändigers:

„Halte ich sie nicht ordentlich in Zucht?“

„Großartig“, antwortete dieser und klopfte ihm auf die Schulter. „Sie sind ein Genie, mein Bester.“

„Wäre auch sonst nicht hier in London“, versetzte der Jüngling geschmeichelt. „Doch verlieren wir keine Zeit, sie wird bald wieder hier sein.“

„Nun, wie denken Sie darüber?“ fragte der Jude. „Wenn Ihnen mein Freund gefällt, gibt es dann etwas Besseres, als sich ihm anzuschließen?“

„Es kommt darauf an, ob sein Geschäft gut geht“, erwiderte Noah und zwinkerte mit einem Auge.

„Großartig geht’s, und er beschäftigt eine Masse Leute“, sprach der Jude. „Sie finden dort die beste Gesellschaft der Branche.“

„Alle aus der Stadt?“ fragte Herr Claypole.

„Kein Provinzler darunter, und er würde Sie selbst auf meine Empfehlung hin nicht annehmen, wenn es ihm nicht augenblicklich an Gehilfen fehlte.“

„Muß ich dann wohl mit diesem da ‚rausrücken?“ fragte Noah, auf seine Hosentasche klopfend.

„Läßt sich unmöglich anders machen“, sagte Fagin bestimmt.

„Aber zwanzig Pfund sind eine Masse Geld!“

„Nicht, wenn es eine Banknote ist, die Sie nicht los werden können. Man wird sich wohl Nummer und Datum gemerkt und sie bei der Bank gesperrt haben. Sie hat keinen großen Wert für ihn, denn er wird sie auswärts anbringen müssen und sicher viel daran verlieren.“

„Wann kann ich Ihren Freund sehen?“

„Morgen früh.“

„Wo?“

„Hier!“

„Hm! – Und der Lohn?“

„Ein Herrenleben – Kost, Wohnung, Tabak und Schnaps frei – und die Hälfte von allem, was Sie und die junge Frau erobern.“

Es ist zweifelhaft, ob Herr Noah Claypole, trotz seiner Habsucht, dieses lockende Angebot angenommen hätte, wenn er völlig frei hätte handeln können. Da er aber befürchtete, in der Gewalt Fagins zu sein, der ihn hätte den Gerichten übergeben können, so sagte er schließlich, daß ihm der Vorschlag annehmbar schiene.

„Aber sehen Sie“, bemerkte Noah, „daß mir recht Leichtes übertragen wird, denn Charlotte kann dafür desto mehr arbeiten!“

„Wie wäre es mit Ausbaldowern? Mein Freund braucht jemand, der dazu Talent hat.“

„Würde ich ganz gerne tun, es fällt aber bei dem Geschäft nicht viel für einen ab“, meinte Noah.

„Das ist wahr, viel zu verdienen ist dabei nicht.“

„Fällt Ihnen sonst nichts ein, eine ungefährliche Sache?“

„Was halten Sie von alten Damen? Wenn man ihnen die Handtaschen und Pakete aus der Hand reißt und um die nächste Ecke verschwindet – damit läßt sich ein schönes Stück Geld machen.“

„Schreien und kratzen die nicht zuweilen mächtig?“ fragte Noah, den Kopf schüttelnd. „Das sagt mir nicht besonders zu. Ist nichts Besseres für mich da?“

„Halt!“ rief der Jude, die Hand auf Noahs, Knie legend. „Ich hab’s, das Görenlausen!“

„Was ist das?“

„Die Gören“, sagte der Jude, „sind die kleinen Kinder, die von ihren Müttern mit Geld ausgeschickt werden, um allerhand einzuholen. Man laust sie, das heißt, nimmt ihnen das Geld weg und stößt sie in den Rinnstein. Wenn sie weinen, geht man langsam davon und tut, als ob weiter nichts passiert sei; die Leute denken, nur ein Kind sei hingefallen und habe sich wehgetan. Ha! ha! ha!“

„Ha! ha!“ brüllte Herr Claypole vor Lachen und trampelte mit den Füßen. „Das ist das Richtige für mich.“

„Glaub’s auch“, meinte Fagin. „Sie können ein paar feine Bezirke kriegen – zum Beispiel Camden Town und Battle Bridge, wo immer Kinder mit derartigen Aufträgen umherlaufen, und man zu jeder Tagesstunde Gören lausen kann. Ha! Ha!“

Mit diesen Worten stieß er ihm kitzelnd seinen Zeigefinger in die Seite, worauf beide abermals in ein langes Gelächter ausbrachen.

„Nun gut“, sagte Noah, als er sich von seinem Lachkrampf etwas erholt hatte und Charlotte wieder zurückgekehrt war. „Also um welche Zeit morgen?“

„Ist Ihnen zehn Uhr recht?“ fragte der Jude, und als Herr Claypole bejahte, fuhr er fort, „welchen Namen soll ich meinem Freunde nennen?“

„Bolter“, antwortete Noah, der sich auf eine solche Frage vorbereitet hatte. „Herr Morris Bolter und Frau Bolter.“

„Frau Bolter, ich empfehle mich Ihnen ergebenst“, sagte Fagin und verbeugte sich mit grotesker Höflichkeit. „Ich hoffe, Sie bald noch näher kennenzulernen.“

„Hörst du, was der Herr sagt, Charlotte?“ brüllte sie Herr Claypole an.

„Ja, lieber Noah“, erwiderte Frau Bolter, ihre Hand Fagin hinreichend.

„Noah ist ein Schmeichelname“, erklärte Herr Morris Bolter alias Claypole dem Juden. „Sie verstehen mich?“

„Vollkommen!“ antwortete Herr Fagin, der damit diesmal die Wahrheit sprach. „Gute Nacht. Gute Nacht.“

In dem gezeigt wird, wie der Gannef in die Patsche kommt

„So sind Sie also selbst der gute Freund gewesen?“ fragte Herr Claypole, sonst Bolter, als er am nächsten Vormittag das Haus des Juden betrat, wohin er bestellt worden war. „Ich Schafskopf hätte es mir gestern schon denken können.“

„Jedermann ist sein eigener Freund, mein Lieber“, versetzte Fagin mit bezeichnendem Grinsen, „er kann keinen besseren finden.“

„Mit Ausnahmen“, erwiderte Morris Bolter im Tone eines welterfahrenen Mannes. „Manche Menschen sind ihre eigenen größten Feinde, wissen Sie!“

„Glauben Sie das ja nicht“, sagte Fagin. „Ist ein Mensch sein eigener Feind, so nur deshalb, weil er zu sehr sein eigener Freund ist, und nicht, weil er andere mehr in sein Herz geschlossen hat. Das wäre gegen die Menschennatur.“

„Und käme es vor, so wäre es nicht in der Ordnung“, meinte Herr Bolter.

„Das liegt klar auf der Hand“, sprach Fagin. „Von den Magiern halten einige die 3 und andere die 7 für die Zauberzahl. Aber das stimmt nicht. Nummer eins ist’s!“

„Ha! ha!“ lachte Herr Bolter. „Hoch die Nummer eins.“

„In einer so kleinen Vereinigung wie die unsrige, mein Lieber“, sagte der Jude, „haben wir eine allgemeine Nummer eins. Das heißt, Sie können sich nicht selber als Nummer eins betrachten, ohne mich und all die anderen mit einzuschließen.“

„Teufel auch!“ rief Herr Bolter.

„Sie sehen“, fuhr Fagin fort und tat so, als ob er die Unterbrechung nicht gehört hätte, „unsere Interessen sind so miteinander verwachsen, daß es gar nicht anders sein kann. Zum Beispiel, Sie sorgen für Nummer eins – das heißt für sich selbst.“

„Ganz recht, gewiß!“

„Schön, Sie können aber nicht für sich als Nummer eins sorgen, ohne auch für mich zu sorgen, der ich gleiche falls Nummer eins bin.“

„Nummer zwei wollten Sie sagen“, meinte Herr Bolter.

„Nein, nicht doch“, erwiderte Fagin. „Ich bin für Sie ebenso wichtig, wie Sie es sich selbst sind.“

„Wissen Sie“, sagte Herr Bolter, „Sie sind ja ein netter Kerl, und ich habe Sie auch ganz gern, aber so dicke Freunde sind wir denn doch nicht.“

„Aber überlegt mal“, sagte der Jude, heftig gestikulierend, „bedenkt, Sie haben da einen Streich vollführt, der mir sehr gefällt. jedoch könnte er Ihnen leicht zu einer Krawatte verhelfen, die sich leichter knüpfen als aufmachen läßt – nämlich zum Strick.“

Herr Bolter fühlte sich an den Hals, als ob ihm der Kragen zu eng wäre, und murmelte etwas, das wie Zustimmung klang.

„Der Galgen“, fuhr Fagin fort, „ist ein häßlicher Wegweiser, der auf eine gefährliche Ecke zeigt, die der Laufbahn manches verwegenen Burschen ein plötzliches Ziel gesetzt hat. Sich von ihm fern zu halten, ist für Sie Nummer eins.“

„Selbstverständlich, doch warum reden Sie von solchen Dingen.“

„Nur, um Ihnen offen meine Meinung zu sagen“, entgegnete der Jude, die Augenbrauen hochziehend. „Sie hängen von mir ab, und ich hänge von Ihnen ab, wenn mein Geschäft gehen soll. Das erstere ist Ihre Nummer eins, das letztere die meinige. Je mehr Sie für Ihre Nummer eins sorgen, desto besorgter müssen Sie auf die meinige sein. So kommen wir zuletzt wieder auf das, was ich von Anfang an gesagt habe, daß nämlich die Rücksicht auf Nummer eins uns alle zusammenhält und zusammenhalten muß, wenn unsere Gemeinschaft nicht in die Brüche gehen soll!“

„Das ist richtig, ich merke schon, Sie sind ein schlauer alter Fuchs!“

„Ja, nur wenn wir fest zusammenstehen, kommt man über schwere Verluste weg“, sagte Fagin. „Gestern morgen habe ich meinen besten Mitarbeiter verloren.“

„Durch den Tod?“

„Nein, nein, so schlimm ist’s nicht!“

„Er ist wohl –“

„Abhanden gekommen“, ergänzte der Jude, „ja, ab, handen gekommen ist er!“

„Wie das?“ fragte Herr Bolter.

„Er wurde wegen versuchten Taschendiebstahls verhaftet, und man fand eine silberne Tabaksdose bei ihm – seine eigene, mein Lieber, denn er schnupft selbst gern. Ach, er war fünfzig silberne Dosen wert, und ich ließe mich’s gern das Geld dafür kosten, wenn ich ihn wieder hätte. Sie sollten den Gannef gekannt haben!“

„Nun, ich hoffe ihn wohl noch kennenzulernen, meinen Sie nicht auch?“

„Schwerlich“, sagte der Jude seufzend. „Man wird ihn wohl auf Lebenszeit in die Strafkolonie schicken.“

Das Gespräch wurde hier durch Herrn Karl Bates unterbrochen, der mit betrübtem Gesicht eintrat.

„Es ist mit ihm aus, Fagin“, sagte Karl, nachdem er und sein neuer Gefährte sich vorgestellt hatten.

„Was soll das heißen?“

„Man hat den Besitzer der Dose gefunden und auch noch einige andere Zeugen aufgetrieben. Der Gannef erhält freie Ausreise“, berichtete Karl Bates.

„Wir müssen herauskriegen, was er macht. Laß mich mal nachdenken“, sagte Fagin.

„Soll ich’mal gehen?“ fragte Karl.

„Bist du verrückt? Es ist vorläufig genug, einen verloren zu haben“, versetzte der Jude.

„Sie denken doch nicht etwa selbst hinzugehen?“

„Das wäre untunlich“, meinte Fagin kopfschüttelnd.

„Warum schicken Sie nicht das Grünhorn?“ fragte Herr Bates und legte seine Hand auf Noahs Arm. „Kein Mensch kennt ihn!“

„Wenn er nichts dagegen hat –“, meinte Fagin zögernd.

„Was soll er dagegen haben?“ fiel Karl ein.

„Es ist wirklich nichts zu befürchten“, sagte der Jude, sich an Noah wendend.

„Sie haben gut reden“, versetzte dieser. „Nein, ausgeschlossen, es schlägt nicht in mein Fach!“

„Was hat er denn für ein Fach gekriegt, Fagin?“ fragte Herr Bates mit einem verächtlichen Blick auf Noahs schlottrige Gestalt. „Vielleicht das Ausreißen, wenn’s nicht ganz geheuer ist, und das Fressen und Saufen, wenn alles geklappt hat. – Gehört das zu seinem Fach?“

„Geht dich gar nichts an!“ schnaubte Herr Bolter. „Nimm dir keine Frechheiten heraus gegen Leute, die mehr als du sind, Knirps. Bei mir kommst du an den Unrechten!“

Herr Bates lachte unbändig über die prahlerische Drohung, und es dauerte einige Zeit, ehe sich Fagin ins Mittel legen und Herrn Bolter klarmachen konnte, daß bei einem Gange nach der Polizei von einer Gefahr für ihn keine Rede sein konnte. Besonders, wenn er verkleidet sei. Herr Bolter ließ sich durch diese Ausführungen, mehr aber noch durch seine Furcht vor dem Juden bewegen, den Auftrag auszuführen. Er vertauschte auf Fagins Geheiß seinen eigenen Anzug mit einem Fuhrmannskittel, Manchesterhosen und Gamaschen, die der Jude gerade zur Hand hatte, und bekam eine Kärrnerpeitsche in die Hand.

Er stellte einen Bauernjungen mit großem Geschick dar (da er von Natur ein unbeholfener Bursche war), der aus Neugierde eine Verhandlung vor dem Polizeirichter mitanhören wollte. Nachdem ihm der Gannef genau beschrieben worden war, führte ihn Herr Bates in die Nähe des Polizeigebäudes und hieß ihn eilen. Er versprach, ihn an dem Orte, wo sie sich trennten, wieder zu erwarten.

Noah befolgte gewissenhaft die erhaltenen Anweisungen und gelangte auch richtig in den Gerichtssaal. Er kam hier in ein großes Gedränge von Menschen, zumeist Frauen, die Kopf an Kopf den muffigen Saal füllten. Auf der Anklagebank saßen ein paar Weiber, die ihren sie bewundernden Bekannten zunickten, während der Gerichtsschreiber einigen Polizisten und einem bürgerlich gekleideten Manne, der sich über den Tisch beugte, die Zeugenaussagen vorlas.

Noah sah sich neugierig nach dem Gannef um, konnte ihn aber nicht entdecken. Er erwartete daher ungeduldig das Urteil, welches über die Weiber gefällt wurde, die darauf mit stolzer Miene abgingen. Der Gefangene, der jetzt vorgeführt wurde, mußte nach der Beschreibung der Gannef sein. Und es war tatsächlich Jack Dawkins. Er setzte sich auf die Anklagebank mit der lauten Frage, warum man ihn hierherbringe.

„Willst du wohl den Mund halten“, sagte der Gerichtsdiener.

„Bin ich nicht ein Engländer?“ versetzte der Gannef. „wo sind meine Rechte?“

„Wirst sie bald genug bekommen und gepfeffert noch dazu“, erwiderte der Gerichtsdiener.

„Wollen mal sehen, was der Justizminister den Kadis sagen wird, wenn man meine Rechte nicht achtet“, brüllte der Gannef. „Aber nun man los. Ich bitte die Herren Richter, mich nicht mit ihrem Zeitungslesen aufzuhalten, sondern meine kleine Sache gleich zu erledigen. Ich habe mich nämlich mit einem Herrn in der City verabredet, und da ich ein Mann von Wort bin und in Geschäftssachen äußerst pünktlich, so könnte es leicht eine Schadenersatzklage gegen die geben, welche mich hier aufgehalten haben. Und das werden die Herren Richter nicht wollen.“

Da diese die Redensarten des Gannefs überhörten, so fragte der freche Junge den Gerichtsdiener „nach den Namen der beiden Hampelmänner auf der Richterbank“. Durch diese Frage fühlten sich die Zuhörer so gekitzelt, daß sie fast ebenso herzlich lachten, als es sicher Herr Karl Bates getan hätte, wenn er dagewesen wäre.

„Ruhe!“ brüllte der Gerichtsdiener.

„Was liegt vor?“ fragte einer der Polizeirichter.

„Ein Taschendiebstahl, Euer Gnaden.“

„Ist der Junge schon mal hier gewesen?“

„Hätte er schon oft sein sollen, aber solche Burschen trifft man eher woanders. Ich kenne ihn aber, Euer Gnaden“, sagte der Gerichtsdiener.

„So, Sie kennen mich, wirklich?“ rief der Gannef und tat so, als ob er sich eine Notiz machte. „Gut, das gibt eine Klage wegen Ehrabschneidung.“

Es entstand abermals ein großes Gelächter. Nachdem wieder Ruhe geboten war, fragte der Gerichtsschreiber:

„Nun, wo sind die Zeugen?“

„Richtig, wo sind sie, möchte sie auch gern sehen“, meinte der Gannef.

Seinem Wunsche wurde sofort willfahrt, denn ein Polizist trat vor und sagte aus, der Angeklagte hätte im Gedränge einem unbekannten Herrn das Schnupftuch aus derTasche gezogen, da es aber sehr alt gewesen, wieder in die Tasche zurückgesteckt, nachdem der Dieb es vorher an seiner eigenen Nase probiert. Er wäre deshalb zur Verhaftung geschritten und hätte bei der Durchsuchung des Festgenommenen eine silberne Schnupftabaksdose gefunden, auf deren Deckel der Name des Eigentümers eingegraben war. Die Wohnung desselben hätte man im Adreßbuch gefunden, und der Herr wäre als Zeuge anwesend. Dieser beschwor, daß die Dose sein Eigentum sei, und sie, als er aus dem Gedränge heraus war, sofort vermißte. Er fügte noch hinzu, daß im Gewühl sich ein junger Mensch auffallend viel um ihn zu schaffen gemacht habe, und daß dieser kein anderer als der vor ihm stehende Angeklagte sei.

„Hast du den Zeugen etwas zu fragen, Junge?“ sagte der Richter.

„Ich mag mich nicht so weit erniedrigen, eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen“, war die Antwort.

„Hast du überhaupt noch etwas vorzubringen?“

„Hörst du nicht, Seine richterliche Gnaden fragen, ob du noch etwas zu sagen hättest“, wiederholte der Gerichtsdiener und stieß den stummen Gannef mit dem Ellenbogen an.

„Verzeihung, haben Sie mit mir gesprochen?“ fragte der Junge zerstreut.

„Ich habe nie einen durchtriebeneren Spitzbuben gesehen, Euer Gnaden“, sagte der Gerichtsdiener grinsend.

„Beabsichtigst du noch etwas zu bemerken, Halunke?“

„Nein“, entgegnete der Gannef, „hier nicht, denn das ist wirklich nicht der richtige Laden für Gerechtigkeit. Außerdem frühstückt mein Rechtsanwalt heute vormittag mit dem Vizepräsidenten des Parlaments. Aber anderswo werde ich reden, ebenso mein Anwalt und eine Masse anderer Bekannten, und zwar so, daß die Kadis wünschen werden, nie geboren zu sein. Daß es ihnen lieber gewesen wäre, wenn sie sich von ihren Bedienten an ihren eigenen Kleiderständern hätten aufhängen lassen, als daß sie heute mir ein Urteil gesprochen hätten. Ich – -„

„Er ist vollständig überführt!“ unterbrach der Gerichtsschreiber die Rede. „Führen Sie ihn ab.“

„Komm, Junge“, sagte der Gerichtsdiener.

„Ja, ich komme schon“, sagte der Gannef, seinen Hut mit der Hand glattstreichend. „Und mit Ihnen“, zur Richterbank gewandt, „werde ich kein Erbarmen haben, wenn Sie auch noch so ängstliche Mienen zeigen. Ihr Kerle sollt mir dafür büßen! Ich möchte nicht in eurer Haut stecken. Ich würde jetzt meine Freilassung nicht annehmen, und wenn Ihr mich auf den Knien darum bätet. Führt mich ab!“

Der Gerichtsdiener packte ihn am Kragen und der Gannef drohte noch, die Sache vors Parlament zu bringen. Dann grinste er dem Gerichtsdiener mit großer Frechheit ins Gesicht.

Herr Bolter eilte nun, so schnell er konnte, zu der Stelle, wo er Karl Bates verlassen hatte. Dieser zeigte sich erst, nachdem er sich vergewissert hatte, daß keine naseweise Person Noah folge, und die Luft rein sei.

Beide begaben sich nun schleunigst nach Hause, um Herrn Fagin die erfreuliche Kunde zu bringen, daß der Gannef seiner Erziehung alle Ehre und sich selbst einen glänzenden Namen gemacht habe.

Die Zeit kommt, da Nancy ihr Rosa gegebenes Versprechen halten soll. Sie wird verhindert

So schlau und erfahren auch Nancy in allen Verstellungskünsten war, so konnte sie doch die Zerrissenheit ihrer Seele nicht ganz verbergen, die ihr gewagter Schritt erzeugt hatte. Sie dachte daran, daß beide, sowohl der verschmitzte Jude als auch der rohe Sikes, sie ohne Argwohn in Pläne eingeweiht hatten, die allen anderen Diebesgenossen unbekannt waren. Aber trotz der Schändlichkeit dieser Pläne, der Verworfenheit ihrer Urheber und ihrer Erbitterung gegen den Juden, der sie immer tiefer in Verderben und Elend geführt hatte, fühlte sie doch manchmal sogar für ihn eine weiche Regung. Sie hätte ihn nur ungern den unerbittlichen Händen überantwortet, denen er so lange entgangen war und doch am Ende anheimfallen mußte – so sehr er auch ein solches Schicksal verdient haben mochte.

Es war Sonntagabend, die Uhr der nächsten Kirche verkündete die Stunde. Sikes und der Jude unterbrachen ihre Unterhaltung, um die Schläge zu zählen. Nancy horchte gleichfalls gespannt – Elf!

„Eine Stunde vor Mitternacht“, sagte Sikes, indem er das Fenster öffnete und hinaussah. Als er wieder zu seinem Stuhl ging, meinte er: „Eine herrliche Nacht fürs Geschäft – es ist rabenschwarz draußen.“

„Schade, Bill, daß wir sie nicht ausnutzen können“, versetzte der Jude.

„Daran dachte ich auch gerade“, entgegnete Sikes mürrisch. „Es ist jammerschade, ich wäre heute gerade in Stimmung.“

Der Jude seufzte und schüttelte betrübt den Kopf.

„Wir müssen die verlorene Zeit wieder einbringen, wenn wir etwas Gutes ausbaldowert haben“, sagte Sikes.

„So ist’s recht, das ist ein Wort, lieber Freund“, rief der Jude und wagte es, dem Einbrecher auf die Schulter zu klopfen. „Es freut mich wirklich, Euch so sprechen zu hören.“

„So – freut’s dich? Meinetwegen.“

„Ha! ha! ha!“ lachte der Jude, als ob ihm sogar dieses geringe Zugeständnis Freude machte. „Ihr seid heute abend wieder ganz der Alte, Bill!“

„Mir ist’s aber nicht so, solange deine dreckige alte Pfote auf meiner Schulter liegt – weg damit!“ schrie Sikes und stieß die Hand des Juden fort.

„Macht sie Euch nervös, Bill – erinnert sie Euch ans Gefaßtwerden“, fragte der Jude, der sich vorgenommen hatte, keine Empfindlichkeit zu zeigen.

„Sie erinnert mich an die Klaue des Teufels, nicht an die eines Häschers“, erwiderte Sikes. „Es hat nie einen Menschen gegeben mit einem Gesicht wie deines, höchstens deinen Vater. Ich glaube aber, dem wird jetzt sein ergrauter roter Bart in der Hölle gesengt, wenn nicht etwa Beelzebub selbst dein Vater ist. Wundern würde mich das weiter nicht.“

Fagin schwieg zu dieser Schmeichelei, zupfte aber Sikes am Ärmel und zeigte auf Nancy, die sich während der Unterhaltung der beiden Ehrenmänner den Hut aufgesetzt hatte und im Begriff war, das Zimmer zu verlassen.

„Hallo, Nancy!“ rief Sikes. „Donnerwetter, wohin willst du zu so später Stunde.“

„Nicht weit.“

„Was ist das für eine Antwort! Wohin gehst du?“

„Ich sage, nicht weit.“

„Und ich sage, wohin?“ schrie Sikes barsch. „Hörst du?“

„Ich weiß selbst nicht, wohin.“

„Dann weiß ich es“, sagte Sikes, mehr aus Widerspruchsgeist, als weil er etwas gegen Nancys Ausgang einzuwenden hatte. „Du gehst nirgends hin. Setz dich!“

„Ich fühle mich nicht wohl. Ich muß an die frische Luft, habe es dir vorhin schon gesagt.“

„Stecke den Kopf zum Fenster hinaus, das ist ebenso gut“, schrie Sikes.

„Das genügt mir nicht, ich muß mir Bewegung machen.“

„Daraus wird nichts“, brummte Sikes, der bei diesen Worten aufstand, die Tür abschloß, den Schlüssel herauszog und dem Mädchen den Hut vom Kopf riß, den er auf einen alten Schrank warf. „So“, sagte der Einbrecher, „willst du jetzt hierbleiben oder nicht?“

„Ich gehe auch ohne Hut“, sagte Nancy blaß werdend „Was soll das heißen, Bill? Du weißt wohl nicht, was du tust?“

„Ob ich es weiß, zum Donnerwetter“, schrie Sikes und drehte sich nach Fagin um. „Sie ist verrückt geworden, sonst würde sie sich nicht trauen, so mit mir zu reden.“

„Du wirst mich noch zur Verzweiflung bringen“, murmelte Nancy dumpf, mit Gewalt ihre Wut unterdrückend. „Laß mich sofort gehen – sofort!“

„Nein“, brüllte Sikes.

„Sagt Ihr es ihm, daß er mich gehen läßt, Fagin. Es ist besser für ihn. Hört Ihr?“ schrie das Mädchen und stampfte mit dem Fuß auf.

„Ich höre dich ganz gut“, sagte Sikes, seinen Stuhl umdrehend, um Nancy scharf ansehen zu können. „Wenn ich dich noch eine halbe Sekunde länger höre, so wird dir der Hund deine kreischende Stimme aus dem Halse reißen, verlaß dich darauf. Was fällt dir ein, dummes Frauenzimmer?“

„Laß mich gehen“, sagte Nancy bittend und setzte sich auf den Fußboden dicht bei der Tür. „Bitte laß mich gehen. Du weißt nicht, was du tust. Nur eine einzige Stunde – bitte, laß mich.“

„Ich laß mich hängen“, schrie der Einbrecher, sie rauh am Arm packend, „wenn das Mädchen nicht toll geworden ist! Steh auf!“

„Nicht eher, als bis du mich gehen läßt – nicht eher!“ kreischte Nancy.

Sikes faßte sie bei den Händen und schleppte die sich heftig Sträubende in ein anstoßendes, kleines Gemach. Er drückte sie auf einen Stuhl nieder und hielt sie fest. Die Uhr schlug zwölf, und müde und erschöpft ließ Nancy vom Kampfe ab.

„Donnerwetter“, sagte der Verbrecher, als er wieder zu Fagin zurückgekehrt war, sich den Schweiß von der Stirn wischend: „Ein ganz verrücktes Mädel!“

„In der Tat, Bill“, erwiderte der Jude nachdenklich.

„Was mag ihr wohl in die Krone gestiegen sein, daß sie durchaus heute nacht ausgehen wollte?“ fragte Sikes. „Du mußt sie besser kennen als ich, was meinst du wohl?“

„Weibereigensinn und Halsstarrigkeit, glaube ich“, sagte Fagin und zuckte mit den Achseln.

„Hm! ’s kommt mir auch so vor“, brummte der Räuber. „Ich glaubte schon, ich hätte sie klein gekriegt, aber sie ist so schlimm wie je.“

„Schlimmer, Bill“, sagte Fagin. „Ich habe sie nie so gesehen und noch dazu wegen eines so unbedeutenden Grundes.“

„Ich auch nicht. Ich glaube, es steckt ihr noch etwas Fieber im Blut, und es will nicht heraus. Was meinst du?“

„Schon möglich.“

„Ich will ihr ein bißchen zur Ader lassen, ohne den Doktor darum zu bemühen, wenn Sie mir wieder so kommt!“

Fagin nickte zustimmend.

„Sie war Tag und Nacht um mich, als ich krank daniederlag, während du falscher Hund dich nicht sehen ließest. Wir waren die ganze Zeit über im mächtigen Dalles, und das hat sie so mitgenommen. Und dann das Immer-im-Hause-bleiben-müssen – wie?“

„Das wird’s sein, mein Lieber. – Pst!“

Nancy trat jetzt ins Zimmer und nahm ihren alten Platz wieder ein. Ihre Augen waren vom Weinen ganz rot und geschwollen. Nach einer Weile brach sie in ein lautes Lachen aus.

„Nanu, jetzt kommt’s ja ganz anders“, schrie Sikes und sah Fagin verwundert an.

Der Jude bedeutete ihm, sie nicht weiter zu beachten, und nach einigen Minuten war sie wieder ganz die alte. Fagin nahm nun seinen Hut und bat, es möchte ihm jemand die Treppe hinunterleuchten. „Gute Nacht, Bill.“

„Tu das, Nancy“, sagte Sikes, der sich gerade eine Pfeife stopfte. „Es wäre schade, wenn er sich hier den Hals bräche und die schaulustige Menge um das Schauspiel seines Gehängtwerdens betröge. Da, nimm die Funzel!“

Nancy folgte dem Alten mit der Kerze die Treppe hinunter. Als sie unten im Hausflur waren, legte er den Finger an die Lippen und flüsterte Nancy zu:

„Was war los, liebes Kind?“

„Was meint Ihr“ flüsterte sie zurück.

„Was war der Grund, auszugehen?“ entgegnete der Jude. „Wenn er –“ er zeigte nach oben, „wenn er so gemein zu Ihnen ist – solch ein Vieh! Ein richtiges wildes Tier! Warum wollen Sie nicht –?“

„Nun?“ fragte Nancy, als er innehielt.

„Lassen wir’s für heute! Reden wir ein andermal darüber. Sie haben einen Freund an mir, Nancy, einen treuen, zuverlässigen Freund. Seien Sie nicht ängstlich, ich habe ihn in der Hand. Wenn Sie sich an ihm rächen wollen, der Sie wie einen Hund behandelt – ja, noch schlechter, denn seinen Hund streichelt er doch manchmal –, so kommen Sie zu mir. Ihn kennen Sie erst seit kurzer Zeit – mich aber von alters her, Nancy.“

„Euch kenne ich allerdings“, sagte sie, ohne die geringste Bewegung zu zeigen. „Gute Nacht!“

Sie fuhr zurück, als Fagin ihr die Hand bot, sagte aber nochmals mit ruhiger Stimme gute Nacht und schloß die Tür.

Der Jude ging sinnend heim. Er war nicht gerade durch den letzten Vorfall auf den Gedanken gekommen, daß Nancy, der Roheit des Verbrechers müde, eine Neigung zu einem neuen Freunde gefaßt hätte – er schien aber seine Ansicht zu bestätigen. Ihr verändertes Wesen, der Umstand, daß sie oft allein das Haus verließ, ihre Gleichgültigkeit gegen die Interessen der Bande und ihr heftiges Verlangen, gerade zu einer bestimmten Stunde heute ausgehen zu wollen – alles trug dazu bei, ihn in seiner Meinung zu bestärken. Der Gegenstand ihrer neuen Herzensfreundschaft war keiner von seinem Anhang. Er mußte mit einer Gehilfin wie Nancy eine wertvolle Erwerbung sein, die man sich ohne Verzug sichern müßte.

Auch war damit noch etwas anderes zu erreichen. Sikes wußte zuviel, und seine höhnischen Redensarten hatten den Juden tief verletzt, obgleich er sich nichts merken ließ. Nancy mußte sich klar sein, daß, wenn sie sich von Sikes trennte, sie nie vor seiner Wut sicher sein konnte, auch daß ihr neuer Liebhaber gefährdet war. „Mit ein bißchen Überredungskunst“, dachte Fagin, „läßt sie sich vielleicht bewegen, ihn zu vergiften. Weiber haben solche Sachen und noch schlimmere schon oft getan, um sich ihre Liebhaber zu sichern. Dadurch würde der Halunke, den ich hasse, beseitigt, und ein anderer träte an seine Stelle als guter Ersatz. Mein Mitwissen um dieses Verbrechen aber verschafft mir einen unbegrenzten Einfluß auf das Mädchen.“

Aber vielleicht bebte sie doch vor dem Vorschlag zurück, Sikes um die Ecke zu bringen, und das war doch das Hauptziel, nach dem er trachtete. „Wie kann ich wohl meinen Einfluß auf sie vergrößern und neue Macht über sie gewinnen?“ grübelte der Jude, als er nach Hause schlich.

Ein Gehirn wie das seinige ist fruchtbar in Plänen. Wenn er sie mit Spionen umstellte und auf diesem Wege den Gegenstand ihrer neuen Leidenschaft entdeckte und dann drohte, Sikes alles zu verraten – konnte er nicht da ihrer Willfährigkeit gewiß sein?

„So mache ich’s“, sagte Fagin fast laut. „Sie darf mir dann nichts abschlagen, wenn ihr das Leben lieb ist. Die Mittel zum Zweck stehen mir zur Verfügung. Ich kriege sie alle beide, Nancy sowohl als Sikes.“

Er sah sich mit einem finsteren Blick um und ballte die Faust nach der Richtung, wo Sikes‘ Wohnung lag.

Noah Claypole wird von Fagin in geheimer Mission verwandt

Der alte Jude stand am nächsten Tage zeitig auf und erwartete ungeduldig das neue Mitglied seiner Bande. Endlich kam es und fiel sofort gierig über das Frühstück her.

„Bolter!“ sagte Fagin, sich ihm gegenübersetzend.

„Ja? Was soll’s?“ antwortete Noah. „Verlangen Sie nur nichts von mir, ehe ich gegessen habe. Das ist ein großer Fehler hier, es wird einem nie ordentlich Zeit zum Essen gelassen.“

„Na, beim Essen kann man doch auch sprechen, nicht wahr?“ meinte Fagin, die Gefräßigkeit seines jungen Freundes aus dem Grund seines Herzens verwünschend.

„Ja, das ist richtig. Das Essen rutscht sogar besser, wenn man dabei plaudert“, erwiderte Noah und säbelte sich ein mächtiges Stück Brot ab. „Wo ist übrigens Charlotte?«‘

„Ausgegangen“, sagte der Jude. „Ich habe sie mit dem andern Mädel fortgeschickt, weil ich mit dir allein sein wollte.“

„So!“ versetzte Noah. „Hättet Ihr ihr nur aufgetragen, vorher noch die Brotschnitte zu rösten. Doch nun schießt los, ich werde mich nicht stören lassen!“

„Du hast gestern deine Sache gut gemacht, mein Freund, ganz großartig. Sechs Schillinge und zehn Pence am allerersten Tage! Du wirst durch das Görenlausen zum reichen Manne werden!“

„Sie müssen die drei Bierkannen und den Milchtopf nicht vergessen“, sagte Herr Bolter.

„Nein, nein, mein Lieber. Die Bierkannen waren Geniestreiche, doch der Milchtopf, das war ein Meisterstück.“

„Wohl für ’nen Anfänger nicht übel?“ bemerkte Herr Bolter selbstgefällig. „Die Bierkannen nahm ich von einem Kellerhals herunter, und der Milchtopf stand vor einem Gasthofe. Ich dachte, er möchte im Regen rostig werden oder sich erkälten, wißt Ihr? Ha! ha! ha!“

Der Jude stimmte in das Gelächter ein und sagte dann:

„Du mußt für mich eine Sache ausführen, bei der große Vorsicht nötig ist.“

„Nur nichts, wobei Gefahr ist“, meinte Bolter, „Oder mich wieder zum Polizeigericht schicken. So was behagt mir nicht und ich will davon nichts mehr wissen.“

„’s ist gar keine Gefahr damit verbunden, nicht die geringste. Es handelt sich nur darum, ein Frauenzimmer zu beobachten!‘

„Ist’s ein altes?“

„Nein, ein junges.“

„Nun, das verstehe ich ziemlich gut“, meinte Bolter. „Das war schon immer meine Lieblingsbeschäftigung, als ich noch zur Schule ging. Was soll ich bei dem Frauenzimmer ausbaldowern, doch nicht –?“

„Du sollst herauskriegen, wohin sie geht, mit wem sie verkehrt und womöglich, was sie spricht.“

„Was verdiene ich dabei?“ fragte Noah neugierig.

„Wenn du es gut machst, ein Pfund. Ein Pfund! Ich habe noch nie so viel für eine Arbeit gegeben, die mir eigentlich nichts einbringt!“

„Wer ist sie?“

„Eine der Unsrigen!“

„Soso“, sagte Noah, die Nase rümpfend. „Ihr mißtraut ihr?“

„Sie hat einige neue Bekanntschaften angeknüpft, und ich muß wissen, was das für Menschen sind.“

„Ich verstehe, bloß um das Vergnügen zu haben, sie kennenzulernen, wenn es respektable Leute sind, nicht wahr? Ha! ha! ha! Werde es schon machen.“

„Ich wußte das vorher!“ rief Fagin, vergnügt über die Bereitwilligkeit des anderen.

„Natürlich, natürlich. Wo ist sie? Wo muß ich ihr auflauern? Wann soll ich gehen?“

„Das wirst du von mir noch zur Zeit erfahren. Bei Gelegenheit zeige ich sie dir. Du hast weiter nichts zu tun, als dich bereitzuhalten, alles andere überlasse mir!“

Sechs Nächte gingen um, in denen Herr Bolter vergeblich in seinem Fuhrmannsanzug sich bereit hielt. In der siebenten Nacht kehrte Fagin früher nach Hause zurück, freudestrahlend. Es war Sonntag.

„Heute abend geht sie aus“, sagte der Jude. „Komm mit – rasch!“

Noah sprang, ohne ein Wort zu sagen, auf. Sie schlichen aus dem Hause, eilten durch ein Labyrinth von Straßen und langten endlich bei einem Wirtshause an, das Noah als die „Drei Krüppel“ wiedererkannte.

Es war elf Uhr und die Tür geschlossen. Auf ein leises Pfeifen Fagins öffnete sie sich langsam. Sie traten geräuschlos ein, und die Tür tat sich wieder hinter ihnen zu.

Fagin und der Judenjüngling, der sie eingelassen hatte, wagten kaum zu flüstern, sondern gaben Noah nur durch Zeichen zu verstehen, daß er durch das bekannte kleine Fenster die Person im anstoßenden Zimmer sich ansehen solle.

„Ist das das Frauenzimmer?“ fragte er ganz leise.

Der Jude nickte bejahend.

„Ich kann das Gesicht nicht gut sehen. Das Mädchen sieht zu Boden, und das Licht steht hinter ihr.“

„Einen Augenblick!“ flüsterte Fagin und machte Barney ein Zeichen, worauf sich dieser entfernte. Eine Minute später trat er in das benachbarte Gemach, brachte den Leuchter unter dem Vorwand, das Licht zu putzen, in die richtige Stellung und sprach Nancy an. Dadurch war sie gezwungen, den Kopf hochzuheben.

„Jetzt kann ich sie sehen“, sagte Bolter.

„Deutlich?“ fragte Fagin.

„So, daß ich sie unter Tausenden herauskennen würde.“

Nancy ging jetzt fort, und Barney hielt hinter ihr die Haustür offen. „Nun los!“

Noah wechselte mit Fagin einen Blick und huschte durch die offene Tür hinaus.

„Links!“ flüsterte Barney, „- halten Sie sich links auf der anderen Straßenseite!“

Noah sah das Mädchen schon in einiger Entfernung. Er eilte ihr nach. Sie blickte sich zwei- oder dreimal ängstlich um und blieb auch einmal stehen, um zwei Männer vorbeizulassen, die hinter ihr herkamen. Je weiter sie ging, desto mutiger schien sie zu werden; denn ihr Schritt klang immer fester. Noah hielt sich in angemessener Entfernung, aber ließ sie nicht aus den Augen.

Nancy hält ihr Versprechen

Die Turmuhren schlugen dreiviertel zwölf, als an der Londoner Brücke zwei Gestalten auftauchten. Die eine davon, ein rasch vorwärtseilendes Mädchen, sah sich wiederholt aufmerksam um, als suche sie jemand. Die andere Gestalt, ein Mann, der im dunkelsten Schatten, den er finden konnte, dem Mädchen nachschlich und sofort stilistand, wenn sie haltmachte, und heimlich wieder folgte, wenn sie weiterging. Mitten auf der Brücke blieb sie längere Zeit stehen. Es war eine dunkle Nacht, und nur wenige Menschen ließen sich um diese Zeit auf der Brücke sehen. Und diese wenigen liefen schnell vorüber, ohne sich um das Mädchen und dessen Beobachter zu kümmern. Über der Themse hing ein dichter Nebel. Doch waren die Türme der alten Erlöserkirche und der St. Magnuskirche durch die Dunkelheit sichtbar. Dagegen blieb der Mastenwald der Schiffe den Augen verhüllt.

Mitternacht war inzwischen herangekommen, als eine junge Dame, von einem grauhaarigen Herrn begleitet, in der Uferstraße aus einer Droschke stieg, den Kutscher entlohnte und auf die Brücke zuging.

Sobald die beiden dort angelangt waren, eilte ihnen das Mädchen rasch entgegen. Als sie sich trafen, kam an ihnen ein Mann in Fuhrmannstracht so dicht vorbei, daß er Nancys Kleider streifte.

„Nicht hier“, sagte diese zu der jungen Dame hastig. „Ich fürchte mich, hier mit Ihnen zu sprechen. Wir wollen dort die Treppe hinuntergehen.“

Diese Treppe bildet einen Teil der Brücke und besteht aus drei Absätzen. Am Ende des zweiten geht die Steinwand in einen verzierten Pfeiler über, der dem Flusse zugekehrt ist. Von diesem Punkte aus werden die unteren Stufen breiter, so daß eine Person, wenn sie um die Ecke der Mauer geht, notwendig denen verborgen sein muß, die sich weiter oben auf der Treppe befinden. Hier versteckte sich der Fuhrmann. Die Zeit entschwand an dieser einsamen Stelle ungemein langsam, so daß er schon im Begriff war, sein Versteck zu verlassen, als er Schritte und den Ton von Stimmen vernahm. Er drückte sich dicht an die Mauer und horchte mit verhaltenem Atem.

„Das ist weit genug“, sagte der Herr, „ich gebe nicht zu, daß die Dame weitergeht. Viele würden sich nicht darauf eingelassen haben. Sie sehen, daß wir uns nach Ihnen gerichtet haben.“

„Nach mir gerichtet?“ rief Nancy. „Wirklich?! – Aber das hat nichts zu sagen. Sie sind sehr vorsichtig.“

„Warum führen Sie uns aber auch an solchen Ort“, sagte der Herr in einem etwas freundlicheren Ton. „Warum wollten Sie mich nicht lieber da oben sprechen lassen, wo es doch hell ist und Menschen in der Nähe. Nun bringen Sie uns nach diesem finsteren Loche.“

„Ich sagte Ihnen schon vorhin“, versetzte Nancy, „daß ich mich fürchtete, dort mit Ihnen zu reden. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist mir so bange, und ich zittere derart, daß ich nicht auf den Füßen stehen kann.“

„Vor was sind Sie denn bange?“ fragte der Herr im Tone des Mitleids.

„Ich weiß es selbst nicht; den ganzen Tag haben mich furchtbare Gedanken von Tod und Hölle gequält!“

„Einbildungen“, sagte der Herr tröstend.

„Reden Sie freundlich mit ihr“, sagte die junge Dame zu ihrem Begleiter, „Die Arme scheint es zu bedürfen.“

Man ließ Nancy sich etwas beruhigen, dann fragte sie der Herr:

„Sie waren vorigen Sonntag nicht hier?“

„Ich konnte nicht kommen, ich wurde mit Gewalt zurückgehalten.“

„Von wem?“

„Von Bill – von dem ich Fräulein Maylie schon neulich erzählte.“

„Man wird doch keinen Verdacht gegen Sie hegen, daß Sie mit uns verkehren?“

„Nein“, erwiderte Nancy, den Kopf schüttelnd. „Es ist aber für mich nicht leicht, von ihm wegzukommen, ohne daß er weiß, wohin ich gehe. Ich hätte auch das erstemal die Dame nicht besuchen können, wenn ich ihm nicht einen Schlaftrunk beigebracht hätte!“

„Erwachte er, ehe Sie zurückkehrten?“

„Nein, auch hat weder er, noch jemand anders auf mich irgendeinen Verdacht.“

„Gut!“ sagte der Herr, „nun hören Sie mich mal an!“

„Ich bin ganz Ohr“, erwiderte Nancy.

„Diese junge Dame hat mir und einigen Freunden, denen man vollkommen vertrauen kann, alles, was Sie ihr vor vierzehn Tagen erzählten, mitgeteilt. Ich gestehe, anfangs Zweifel gehabt zu haben, ob man sich unbedingt auf Sie verlassen könne. jetzt glaube ich, daß man’s kann!“

„Sie dürfen es“, versetzte Nancy ernst.

„Ich wiederhole, daß ich Ihnen vollkommen traue. Zum Beweise dafür verrate ich Ihnen unsern Plan, nämlich, daß wir entschlossen sind, dem Manne, den Sie Monks nennen, durch Einschüchterung das Geheimnis zu entreißen. Wenn – wenn uns das nicht gelingen sollte, so müssen Sie uns den Juden in die Hände spielen.“

„Fagin?“ rief das Mädchen aus und prallte unwillkürlich zurück.

„Ja, dieser Mensch muß uns ausgeliefert werden.“

„Das tue ich nicht und werde ich nie tun. Solch ein Teufel er auch ist, und trotzdem er noch schlimmer als ein Teufel zu mir war, aber das mache ich nicht.“

„Sie wollen nicht?“ fragte der Herr, der das erwartet hatte.

„Niemals!“

„Und warum nicht?“

„Aus dem Grunde, den das Fräulein kennt. Mag er immerhin ein schlechtes Leben geführt haben – das meinige ist auch kein gutes gewesen. Ich will keine verraten, die mich auch hätten verraten können.“

„Dann –“ sagte der Herr lebhaft, anscheinend mit dem Erreichten zufrieden, „dann liefern Sie uns diesen Monks in die Hände!“

„Wenn er aber die anderen verrät?“

„Ich verspreche Ihnen für den Fall, daß er uns reinen Wein einschenkt, daß wir die Sache auf sich beruhen lassen wollen. In Olivers kleiner Geschichte gibt es vielleicht Punkte, die man nicht gern in die Öffentlichkeit bringt. Haben wir nur erst die Wahrheit herausgebracht, so liegt uns an der Bestrafung der Schuldigen nichts.“

„Wenn Sie aber nichts aus Monks herausbringen können?“ fragte Nancy.

„Dann soll ohne Ihre Einwilligung der Jude nicht dem Gerichte überliefert werden. Ich hoffe jedoch, diese von Ihnen zu bekommen, da ich Ihnen Gründe angeben kann, die Sie überzeugen werden.“

„Habe ich dafür das Wort der Dame?“

„Ja“, sagte Rosa, „ich verspreche es Ihnen feierlich!“

„Monks wird also nie erfahren, woher Sie Kunde kriegten?“ fragte Nancy nach kurzer Pause.

„Nie!“ antwortete der Herr. „Wir gehen dann in einer Weise vor, daß er es nicht einmal vermuten kann!“

„Ich bin eine Lügnerin gewesen und habe von Kindheit an unter Lügnern gelebt“, entgegnete das Mädchen nach abermaligem kurzen Schweigen. „Aber ich will Ihren Worten glauben!“

Beide versicherten ihr, daß sie das getrost könne, worauf Nancy mit so leiser Stimme, daß es dem Horcher oft schwer wurde, ihre Worte zu verstehen, die Lage des Wirtshauses zu den drei Krüppeln zu beschreiben begann. Der Herr schien sich einiges von ihren Mitteilungen aufzuschreiben. Als sie noch gesagt hatte, zu welchen Stunden Monks gewöhnlich dort einzukehren pflegte, hielt sie inne, um sich das Gesicht und das sonstige Äußere des Mannes genau ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie begann:

„Er ist groß und kräftig gebaut, aber nicht dick und hat einen schlürfenden Gang, bei dem er beständig bald über die eine und dann über die andere Achsel schielt. Vergessen Sie das nicht, denn seine Augen liegen so viel tiefer als bei anderen Leuten, daß Sie ihn schon daran erkennen können. Er hat ein dunkles Gesicht und schwarze Augen und Haare. Und obgleich er erst sieben, oder achtundzwanzig Jahre alt ist, sieht er abgelebt und ältlich aus. Seine Lippen sind oft blaß und durch Bisse entstellt, denn er leidet an Krampfanfällen, wobei er sich häufig schrecklich in die Hände beißt – warum stutzen Sie?“ unterbrach sich Nancy, plötzlich innehaltend.

Der Herr erwiderte hastig, daß er sich dessen nicht bewußt sei, und bat sie fortzufahren.

„Einen Teil dieser Angaben habe ich aus den Gästen des genannten Wirtshauses herausgelockt, denn ich selbst sah ihn nur zweimal, und dann war er stets in einen großen Mantel gehüllt. Das ist wohl alles, was ich Ihnen von Monks sagen kann, doch halt – an seinem Halse, so hoch, daß man noch etwas davon über seinem Kragen sehen kann, wenn er den Kopf etwas dreht, ist –“

„Ein breites, rotes Brandmal?“ rief der Herr.

„Wie – Sie kennen ihn?“

Rosa entfuhr ein Ausruf höchsten Erstaunens, und alle drei schwiegen plötzlich. Der Lauscher konnte sie ganz deutlich atmen hören.

„Ich glaube es“, unterbrach der Herr das Schweigen, „wenigstens Ihrer Beschreibung nach. Wir werden ja sehen. Es gibt Leute, die sich auffallend ähneln. Vielleicht ist es doch nicht der nämliche.“

Der Horcher hörte ihn aber flüstern: „Er muß es sein“, laut fuhr er wieder fort:

„Sie haben uns einen großen Dienst geleistet, Fräulein, und wir möchten uns gern erkenntlich zeigen. Was kann ich für Sie tun?“

„Nichts“, erwiderte Nancy.

„Bitte, reden Sie nicht so“, sagte der Herr in so gütigem Tone, daß davon das härteste Herz hätte gerührt werden müssen. „überlegen Sie erst mal, und sprechen Sie dann.“

„Sie können mir nicht helfen“, entgegnete Nancy und fing zu weinen an. Für mich gibt’s keine Rettung mehr!“

„Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben“, sagte der Herr, „setzen Sie sie auf die Zukunft! Ich sage nicht, daß es in unserer Macht steht, Ihnen den Frieden der Seele wiederzugeben, da Sie ihn nur finden können, wenn Sie ihn suchen. Es übersteigt aber nicht unser Vermögen und ist auch unser sehnlichster Wunsch, Sie in Sicherheit zu bringen und Ihnen eine ruhige Freistätte entweder hier in England oder, wenn Sie sich zu bleiben scheuen, im Auslande zu verschaffen. Noch ehe der Morgen graut, sollen Sie sich außer dem Bereich Ihrer Genossen befinden und so wenige Spuren hinterlassen, als wenn Sie plötzlich von der Erde verschwunden wären. Verlassen Sie diese Elenden, solange Sie noch können!“

„Ich kann nicht“, versetzte Nancy nach einem kurzen Kampfe mit sich. „Ich bin mit ehernen Banden an mein früheres Leben gekettet, das mir jetzt verhaßt ist. Ich bin zu weit gegangen, um umkehren zu können. Wenn Sie vor einiger Zeit so zu mir gesprochen hätten, wäre ich wahrscheinlich mit Freuden darauf eingegangen. Doch – mich packt wieder die Angst“, sagte sie, sich scheu umsehend, „ich muß nach Hause.“

„Nach Hause?“ wiederholte Rosa, großen Nachdruck auf die Worte legend.

„Nach Hause“, entgegnete Nancy, „nach einem solchen Heim, wie ich es mir durch die Arbeit eines ganzen schlechten Lebens geschaffen habe. Lassen Sie uns scheiden. Man könnte mich sehen oder beobachten. Gehen Sie! Gehen Sie! Wenn ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, so wünsche ich dafür nur, daß Sie mich jetzt allein meines Weges ziehen lassen.“

„Es ist alles vergeblich“, seufzte der Herr. „Wir gefährden sie vielleicht, wenn wir noch bleiben, und haben sie wohl schon länger aufgehalten, als sie erwartet hatte.“

„Ja, so ist’s“, sagte Nancy.

„Was kann wohl das Ende dieser Armen sein?“ rief Rosa aus.

„Das Ende?“ wiederholte das Mädchen. Blicken Sie hinunter in das dunkle Wasser, Fräulein. Wie oft liest man von meinesgleichen, die sich in die Flut hinunterstürzen und kein lebendes Wesen zurücklassen, das sich um sie bangt oder beweint. Es können Jahre darüber hingehen oder auch nur Monate – aber schließlich wird das mein Ende sein.“

„Um Gotteswillen, reden Sie nicht so“, schluchzte Rosa.

Der Herr wandte sich ab.

„Nehmen Sie – um meinetwillen“, rief Rosa der sich entfernenwollenden Nancy zu. „Nehmen Sie diese Börse! Sie kann Ihnen in der Stunde der Not von Vorteil sein.“

„Nein, nein“, antwortete Nancy. „Was ich tat, habe ich nicht für Geld getan. Lassen Sie mir wenigstens diesen Trost. Doch – geben Sie mir ein Andenken, etwas, was Sie getragen haben. Nein – keinen Ring! Ihre Handschuhe oder Ihr Taschentuch. So! Gott segne Sie! Gute Nacht!“

Man vernahm sich entfernende Schritte, und die Stimmen schwiegen. Die Gestalten der jungen Dame und ihres Begleiters Herrn Brownlow erschienen bald nachher auf der Brücke.

Der Horcher blieb noch einige Minuten regungslos auf seinem Posten und kroch dann aus seinem Versteck hervor, nachdem er sich vorher überzeugt hatte, daß er wieder allein sei. Auf dem oberen Treppenabsatz schaute sich Noah Claypole noch einmal vorsichtig um und rannte dann, so schnell wie seine Beine konnten, dem Hause des Juden zu.

Unglückliche Folgen

Es war ungefähr zwei Stunden vor Tagesanbruch, als der Jude wachend in seiner Höhle mit bleichem Gesicht und blutrot unterlaufenen Augen dasaß, daß er nicht einem Menschen, sondern eher einem aus dem Grabe gestiegenen Gespenste glich.

Er kauerte, in eine alte zerrissene Bettdecke gehüllt, an einem kalten Herd und richtete seinen Blick auf ein dem Erlöschen nahes Licht, das neben ihm auf dem Tische stand.

Auf einer Matratze am Boden lag ausgestreckt Noah Claypole in tiefem Schlafe. Der alte Mann ließ zerstreut seinen Blick zwischen ihm und der Kerze schweifen, deren überhängender Docht den heißen Talg auf das Tischtuch träufeln ließ. Die Gedanken des Juden waren mit anderen Dingen beschäftigt. Der Verdruß über die Vereitlung seines Plans, der Haß gegen das Mädchen, das gewagt hatte, ihn an Fremde zu verraten, das Mißtrauen gegen die Aufrichtigkeit ihrer Weigerung, ihn auszuliefern, die Wut, sich an Sikes nicht rächen zu können, die Furcht vor der Entdeckung und dem Galgen – alles dies ging ihm durch den Kopf und brütete in seinem Hirn neue Pläne schwärzester Bosheit aus.

Er saß regungslos da und kümmerte sich nicht im geringsten um das Entschwinden der Zeit. „Endlich“, murmelte er, als er Schritte auf der Straße hörte. „Endlich!“

Die Klingel ertönte leise. Er schlich zur Haustür und kehrte bald mit einem vermummten Manne zurück, der einen Packen unter dem Arme trug. Es war Sikes.

„Da!“ sagte er, das Bündel auf den Tisch werfend. „Verwerte es, so gut du kannst. Es hat mir Mühe genug gemacht, es zu kriegen. Ich wollte schon vor drei Stunden hier sein.“

Fagin nahm den Packen und schloß ihn in den Schrank. Ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich wieder, starrte aber den Verbrecher unverwandt mit zitternden Lippen an.

„Was ist los?“ schrie Sikes. „Warum siehst du mich so an? Sprich!“

Der Jude hob seine rechte Hand hoch und bewegte den Zeigefinger hin und her. Er versuchte zu sprechen, konnte aber nicht.

„Zum Teufel!“ schrie Sikes und faßte in seine Brusttasche. „Er ist wahnsinnig geworden – ich muß mich vorsehen.“

„Nein –. nein!“ sagte Fagin, der endlich seine Sprache wiederfand. „Es ist nicht – Ihr seid es nicht, Bill. Ich habe nichts gegen Euch, gar nichts.“

„Hast nichts gegen mich, wirklich?“ entgegnete Sikes und warf ihm einen wilden Blick zu. Er holte seine Pistole aus der Brusttasche. „Das ist ein Glück – für einen von uns. Für welchen, ist gleichgültig.“

„Ich habe Euch etwas zu sagen, Bill“, versetzte Fagin, seinen Stuhl näher rückend, „was Euch stark aufregen wird.“

„So?“ sagte der Verbrecher mit ungläubiger Miene.

„Rede, aber mach schnell, sonst denkt Nancy, mir ist ein Unglück zugestoßen.“

„Ein Unglück zugestoßen?“ rief Fagin. „Sie hat Euch selber eins zugedacht.“

Sikes blickte dem Juden betroffen ins Gesicht, und da er darin nichts lesen konnte, faßte er den Juden am Rockkragen und schüttelte ihn tüchtig mit derber Faust.

„Heraus mit der Sprache oder ich drück‘ dir die Kehle zu. Mach das Maul auf und rede, du alter Schurke, du!“

„Denkt Euch, der Junge, der hier liegt –“ begann Fagin.

Sikes drehte sich nach dem schlafenden Noah um, ließ den Juden los und sagte: „Weiter!“

„Nehmt mal an, fuhr Fagin fort, „dieser Bursche plauderte aus, verpfiff uns alle – suchte zu diesem Zweck zuerst die rechten Leute und träfe mit ihnen dann auf der Straße zusammen, um ihnen Beschreibungen von uns und unsern Schlupfwinkeln zu geben.“ Die Augen des Juden blitzten vor Wut. „Wenn er dies täte, was dann?“

„Was dann?“ sagte Sikes mit einem schrecklichen Fluche. „Den Schädel würde ich ihm in so viele Stücke zertreten, als er Haare auf dem Kopfe hat.“

„Aber wie, wenn ich es täte?“ rief der Jude mit kreischender Stimme. „Ich, der ich so viel weiß und so viele an den Galgen bringen könnte!“

„Ich weiß nicht“, entgegnete Sikes zähneknirschend und bei dem bloßen Gedanken schon erblassend. „Aber ich täte im Gefängnis etwas, daß man mich in Ketten legen müßte. Und stünde ich mit dir vor Gericht, würde ich vor den Richtern und allen Menschen dir im Gerichtssaal den Kopf einschlagen. Dein Schädel würde aussehen, als ob ein beladener Wagen darübergegangen wäre.“

„Das würdet Ihr tun?“

„Ob ich’s tun würde. Stelle mich mal auf die Probe!“

„Wenn’s aber Karl Bates oder der Gannef oder Betsy oder –“

„Mir gleichgültig“, sagte der Einbrecher ungeduldig. „Wer es auch sein mag, ich würde ihm in dieser Weise dienen.“

Fagin sah den Räuber fest an und bückte sich dann über den Jüngling, um ihn aus dem Schlafe zu rütteln. Sikes sah neugierig zu.

„Bolter! Bolter! – Der arme Junge!“ meinte Fagin, indem er im Vorgefühl einer höllischen Schadenfreude aufblickte und mit starker Betonung fortfuhr: „Er ist müde, weil er ihretwegen so lange wachen mußte – ihretwegen, Bill!“

„Was soll das heißen?“ fragte Sikes, sich im Stuhl aufrichtend.

Der Jude gab keine Antwort, sondern brachte den schlaftrunkenen Noah in eine sitzende Stellung. Dieser gähnte, rieb sich die Augen und guckte sich verwirrt um.

„Erzähle es noch einmal, daß der es auch hört“, sprach Fagin, auf Sikes deutend.

„Was soll ich erzählen?“ fragte Noah, sich rekelnd.

„Die Geschichte von – Nancy!“ erwiderte der Jude, Sikes‘ Handgelenk fest umklammernd, als wollte er verhindern, daß er das Haus verließe, ehe er genug gehört hätte. „Du folgtest ihr?“

„Ja.“

„Nach der Londoner Brücke?“

„Ja.“

„Wo sie mit zwei Personen zusammentraf?“

„Ja.“

„Einem Herrn und einer Dame, zu der sie früher schon aus freien Stücken gegangen war. Der Herr forderte sie auf, alle ihre Genossen anzugeben, besonders aber Monks, was sie tat – und ihn zu beschreiben, was sie tat – und zu verraten, in welchem Gasthause wir verkehrten, was sie tat – und zu welcher Zeit man unsere Leute dort treffen könne, was sie tat. Sie beichtete alles, ohne durch eine Drohung dazu gezwungen zu sein. Nicht wahr, das tat sie – das tat sie?“ rief der Jude halb verrückt vor Wut.

„Stimmt, genau so verhält sich die Sache“, sagte Noah, sich den Kopf kratzend.

„Und was sprach man vom letzten Sonntag?“ fragte der Jude.

„Vom letzten Sonntag?“ fragte Noah, sich besinnend. „Na, das habe ich Ihnen doch schon vorhin erzählt.“

„Erzähle es noch einmal, schnell“, schrie Fagin mit wutschäumenden Lippen.

„Man fragte sie“, sagte Noah, dem es jetzt zu dämmern schien, wer Sikes sein möchte, „warum sie letzten Sonntag nicht wie verabredet gekommen sei. Sie erwiderte darauf, sie hätte nicht können.“

„Sag ihm, warum sie nicht hätte können!“

„Weil sie mit Gewalt zurückgehalten worden sei – von Bill, dem Manne, von dem sie der jungen Dame schon früher erzählt hätte!“

„Was sagte sie weiter von ihm?“ schrie Fagin.

„Nun, sie sagte, es sei schwer, von ihm fortzukommen, ohne daß er wisse, wohin sie gehe. Sie hätte ihm daher das erstemal, als sie die Dame besuchte, einen Schlaftrunk gegeben. Ha! ha! ha! Ich mußte lachen, als ich sie so reden hörte.“

„Tod und Teufel!“ brüllte Sikes, den Juden zurückstoßend. „Laß mich los.“ Er schleuderte den Alten von sich und rannte aus dem Zimmer.

„Bill! Bill!“ rief der Jude ihm nacheilend. „Auf ein Wort, nur ein Wort!“

Es wäre zu diesem Worte nicht gekommen, wenn der Verbrecher imstande gewesen wäre, die Haustür zu öffnen, an der er vergebens unter mächtigem Fluchen seine Wut ausließ, als Fagin keuchend anlangte.

„Laß mich hinaus!“ tobte Sikes. „Laß mich hinaus, sag‘ ich dir. Will nichts mehr hören!“

„Nur ein Wort“, sagte der Jude und legte die Hand aufs Türschloß. „Ihr werdet doch nicht –“

„Was?“

„Ihr werdet doch – keine Gewalttat begehen, Bill?“

Der Tag brach an, und es war hell genug, daß die Männer ihre Gesichter erkennen konnten. Sie wechselten einen einzigen Blick; in beider Augen glühte ein Feuer, das sich nicht mißdeuten ließ.

„Ich meine“, fuhr der Jude fort, der erkannte, daß Verstellung nutzlos sei, „ich meine, der eigenen Sicherheit wegen, kein Blutvergießen. Seid schlau, Bill, und nicht zu gewalttätig.“

Sikes gab keine Antwort, sondern stürzte sofort aus dem Hause, sobald Fagin geöffnet hatte.

Ohne anzuhalten, mit zusammengebissenen Zähnen stürmte der Räuber nach seiner Wohnung. Er öffnete sie sachte mit dem Schlüssel und ging in sein Zimmer hinauf, dessen Tür er hinter sich zweimal abschloß. Nun schob er die Vorhänge des Bettes zurück.

Auf demselben lag halb angekleidet Nancy. Er rüttelte sie aus dem Schlafe, und sie fuhr mit erschrockenem Gesicht auf.

„Erheb dich!“ sagte Sikes.

„Ach, du bist’s, Bill?“ sprach das Mädchen, erfreut über sein Kommen.

„Ja“, war die Erwiderung. „Steh auf!“

Es brannte ein Licht, aber der Räuber riß es aus dem Leuchter und warf es in den Kamin. Nancy erhob sich und gewahrte, daß der Morgen graute. Sie wollte zum Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen.

„Laß das“, fuhr Sikes sie an und hielt sie mit der Hand zurück. „Für das, was ich vorhabe, ist’s hell genug.“

„Bill!“ sagte das Mädchen ängstlich, „was guckst du mich so an?“

Er sah sie eine Weile mit weit aufgerissenen Augen und keuchender Brust an. Dann packte er sie an die Kehle, schleppte sie in die Mitte des Zimmers und mit einem Blick nach der Tür legte er seine schwere Hand auf ihren Mund.

„Bill! Bill!“ keuchte das Mädchen in Todesangst, „ich will nicht schreien oder weinen – nicht ein einziges Mal – höre mich an – sprich mit mir – sage mir, was ich getan habe!“

„Du weißt’s selbst am besten, du weiblicher Satan, man hat dich heute nacht belauscht und jedes deiner Worte gehört!“

„Dann, um Himmelswillen, schone mein Leben, wie ich deines schonte“, rief Nancy, sich fest an ihn klammernd. „Bill, lieber Bill, du kannst mich doch nicht töten wollen. Bedenkt, was ich heute nacht alles deinetwegen aufgegeben habe. Komm wieder zu Sinnen und erspare dir dies Verbrechen. Ich laß dich nicht los, und du kannst mich nicht abschütteln. Bill, Bill, um Gotteswillen, komm zu dir, ehe du mein Blut vergießt! Ich bin dir treu gewesen, bei meiner sündigen Seele, ich war dir treu!“

Der Einbrecher kämpfte vergebens, um seine Arme freizukriegen, die Nancy mit der Kraft der Verzweiflung fest umklammert hielt.

„Bill!“ rief das Mädchen, indem sie sich bemühte, ihren Kopf an seine Brust zu legen. „Der alte Herr und die liebe Dame sprachen von einem fernen Lande, wo ich meine Tage in Frieden beschließen könnte. Laß mich noch einmal zu ihnen gehen und sie bitten, dir dieselbe Wohltat zu erweisen. Dann wollen wir beide diesen schrecklichen Ort verlassen und weit von hier ein neues Leben beginnen und uns niemals wiedersehen. Sie sagten mir, Reue komme nie zu spät – ich fühle es jetzt – aber wir müssen Zeit haben – nur ein wenig Zeit.“

Sikes hatte einen Arm freigekriegt und ergriff seine Pistole. Doch mitten in seiner Wut kam ihm der Gedanke, daß der Mord sogleich entdeckt werden würde, wenn er Feuer gäbe; so schlug er Nancy aus Leibeskräften mit dem Kolben zweimal auf das zu ihm emporgehobene, das seine fast berührende Gesicht.

Sie wankte und fiel, fast blind von dem Blut, das aus einer tiefen Stirnwunde ihr Gesicht überströmte. Mit aller Gewalt erhob sie sich mühsam auf die Knie und zog aus ihrem Busen ein weißes Taschentuch – es war Rosas -hielt es mit gefalteten Händen so hoch gen Himmel, als es ihre entschwindenden Kräfte erlaubten und stammelte ein Gebet um Gnade und Erbarmen zu ihrem Schöpfer.

Es war ein gräßlicher Anblick. Der Mörder wankte zurück bis zur Wand und ergriff einen schweren Knüttel. Er bedeckte mit einer Hand sein Gesicht und schlug die Kniende nieder.

Sikes‘ Flucht

Von allen Verbrechen, die in jener Nacht in dem großen London begangen wurden, war dieses das größte. Die Sonne ging über die menschenreiche Stadt in voller Pracht auf und schien auch in das Zimmer, wo das ermordete Mädchen lag. Sikes versuchte das Eindringen des Lichtes zu verhindern, aber vergebens. Der Mörder rührte sich nicht – Furcht hatte alle seine Glieder gelähmt. Noch ein Stöhnen war ihrem Munde entwichen und ihre Hand hatte noch einmal gezuckt, aber immer wieder und wieder hatte er auf sie eingeschlagen. Schließlich warf er eine zerrissene Decke über sie, aber es war ihm so, als ob sie die Augen auf ihn richtete, deshalb nahm er die Decke wieder fort. Und da lag die Leiche – weiter nichts als Blut und zerfetztes Fleisch.

Er machte Licht, zündete im Kamin ein Feuer an und verbrannte den Knüttel. Dann wusch er sich und reinigte seine Kleider, aber es waren Flecke da, die nicht weggehen wollten. Er schnitt sie deshalb heraus und verbrannte sie. Wie war das Zimmer mit Blut bespritzt! Sogar die Füße des Hundes waren blutig. – Nachdem er mit allem fertig war, ging er, den Hund mit sich fortziehend, aus dem Zimmer und verschloß die Tür. Eine Minute später hatte er das Haus verlassen. Er ging auf die andere Straßenseite und guckte nach dem Fenster hinauf, um sich zu überzeugen, daß von außen nichts zu sehen wäre. Der Vorhang, den Nancy wegziehen wollte, um das Licht einzulassen, das sie nie wieder sehen sollte, war noch vorgezogen. Er wußte, daß die Leiche ganz in der Nähe lag. Gott! wie strahlend die Sonne darauf schien.

Er wandte den Kopf rasch ab und fühlte sich erleichtert, das Zimmer verlassen zu haben. Er pfiff dem Hunde und eilte fort. Er kam durch Islington nach der Hampsteader Heide und wanderte kreuz und quer ohne Plan darin herum. Er war hungrig und durstig geworden und wollte in Hendon eine Erfrischung einnehmen. Als er dort anlangte, schienen ihn alle Leute, selbst die Kinder auf den Straßen, mit Argwohn zu betrachten. Er kehrte daher wieder um, ohne den Mut zu haben, einen Trunk Wasser oder einen Bissen Brot zu fordern, obgleich er seit Stunden nichts über die Lippen gebracht hatte.

So lief er stundenlang durch die Heide und kam doch immer wieder auf denselben Fleck zurück. Endlich ging er auf Hatfield zu, es war inzwischen wieder Abend geworden. Um neun Uhr erreichte er das kleine Gasthaus des Dorfes. Es brannte Feuer im Kamin der Gaststube, um den einige Bauern mit ihren Bier- und Schnapsgläsern saßen. Sie machten für den Fremden Platz, aber er ließ sich in der äußersten Ecke nieder und aß allein, oder vielmehr mit seinem Hund, dem er hin und wieder einen Bissen zuwarf.

Nachdem der Mörder seine Zeche bezahlt hatte, saß er stumm da und war fast eingeschlafen, als ihn der lärmende Eintritt eines neuen Gastes weckte.

Dieser war ein alter Bursche, halb Hausierer, halb Quacksalber, der im Lande umherzog, um Wetzsteine, Streichriemen, Rasiermesser, Seifen, Putzpulver, Arzneien für Hunde und Pferde, billige Parfüms, Schönheitsmittel und ähnliche Waren zu verkaufen, die er in einem Kasten auf dem Rücken trug. Sein Kommen war für die Bauern das Zeichen für allerhand derbe Witze.

„Was ist denn das für ein Ding da? Ist’s gut zum Essen, Heinrich?“ fragte ein grinsender Bauer, indem er auf eine in Tafeln geschnittene Masse deutete.

„Das –“ sagte der Händler, die Ware zeigend, „ist ein untrügliches und unbezahlbares Mittel, um alle Arten von Flecke, Rost-, Schmutz-, Öl-, Fett- und andere Flecke aus Seide, Atlas, Leinwand, Battist, Tuch, Flor, Teppiche, Musselin oder sonstigen Wollstoffen herauszumachen. Hat ein Mädchen seine Ehre befleckt, so braucht es nur ein Täfelchen zu verschlucken und ist dann ein für allemal kuriert – denn es ist Gift. Will ein Herr seine Ehre beweisen, so braucht er ebenfalls nur solch Täfelchen zu kaufen, denn es ist jedenfalls so gut wie eine Pistolenkugel, und um vieles ekliger im Geschmack. – Ein Penny das Täfelchen! Trotz dieser vielen Vorzüge, nur ein Penny das Täfelchen!“

Es meldeten sich sofort ein paar Käufer, doch eine ganze Masse war noch unschlüssig. Der Verkäufer steigerte deshalb seine Beredsamkeit:

„Sie gehen reißend ab, so daß man nicht genug machen kann. Vierzehn Wasserwerke, sechs Dampfmaschinen und eine galvanische Batterie sind Tag und Nacht in Tätigkeit und doch kann man nicht genug fertigstellen. Also ein Penny für das Täfelchen – zwei Halbpennys tun’s übrigens auch, und vier Viertelpennys werden gleichfalls mit Vergnügen angenommen. Wein-, Obst-, Bier-, Schmutz-, Teer-, Blutflecke! Hier ist ein Fleck am Hute eines Herrn, den ich heraushabe, ehe er mir ein Glas Bier bestellen kann!“

„Donnerwetter“, brüllte Sikes, „laßt meinen Hut liegen!“

„Ich will ihn rein haben“, versetzte der Hausierer, den übrigen zunickend, „ehe Sie durch das Zimmer kommen können, um ihn zu holen. Meine Herren, bemerken Sie den dunklen Fleck auf dem Hut? Nicht größer als ein Schilling, aber dicker als eine halbe Krone. Mag es nun ein Obstfleck, Bierfleck, Teerfleck oder ein Blutfleck –“

Der Mann kam nicht weiter, denn Sikes warf mit einem gräßlichen Fluche den Tisch um, riß ihm den Hut aus der Hand und stürzte aus dem Hause. Vor dem kleinen Postgebäude stand die Londoner Postkutsche, und Sikes ging über die Straße, um auf die Gespräche der Leute zu horchen.

„Nichts Neues aus der Stadt, Ben?“ fragte der Wildhüter den Postbegleiter.

„Das Korn ist ein wenig gestiegen“, sagte dieser und zog sich seine Handschuhe an. „Auch hörte ich von einem Morde in Spitalfields sprechen, aber wer weiß, ob das stimmt.“

„Doch, es hat seine Richtigkeit“, sagte ein Herr, aus dem Fenster der Postkutsche blickend. „Eine gräßliche Tat!“

„So? Ein Mann oder eine Frau“, fragte der Postbegleiter, seine Hand an den Hut legend.

„Ein Weib“, sagte der Herr. „Man glaubt –“

Die Kutsche zog an, und der Begleiter schwang sich drauf. Das Posthorn tönte in lustiger Weise.

Sikes blieb in der Straße stehen, scheinbar unbewegt von dem, was er gehört hatte. Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Endlich schlug er den Weg nach St. Albans ein. Als er den Ort hinter sich hatte, bemächtigte sich seiner in der Dunkelheit eine Angst, die ihm das Innerste erbeben machte. Wenn der Wind durch die Blätter der Bäume fuhr, glaubte er das Stöhnen der Sterbenden zu hören. Er vermeinte, die Ermordete folge ihm auf Schritt und Tritt. Man rede ja nicht, daß Mörder ihrem Strafgericht entgehen, und die Vorsehung zu schlafen scheine. In einer einzigen Minute der Verbrecherangst liegt oft die hundertfache Pein und Not des gewaltsamen Todes.

Er kam zu einer leeren Hütte auf freiem Felde, die ihm Obdach für die Nacht bot. Er streckte sich dicht an der Wand nieder, konnte aber nicht schlafen, denn ein schreckliches Gesicht trat vor seine Seele. Zwei starre, weit aufgerissene Augen, glanzlos und gläsern, erschienen ihm mitten in der Dunkelheit und leuchteten, gaben aber kein Licht von sich. Es waren nur zwei, aber sie waren überall. Wenn er seine Augen mit der Hand bedeckte, so sah er sein Zimmer im Geiste vor sich. Auch die Leiche lag noch auf derselben Stelle – es waren dieselben Augen, die ihn zu verfolgen schienen, als er aus dem Mordzimmer schlich. – Er sprang auf und eilte wieder ins Freie. Die Gestalt war gespenstisch hinter ihm. Er ging wieder in die Hütte und versuchte zu schlafen, aber die Augen waren da, noch ehe er sich hingestreckt hatte. An allen Gliedern zitternd lag er da, während ihm ein kalter Schweiß aus allen Poren drang. Da trug ihm plötzlich der Nachtwind den Lärm entfernter Stimmen zu. Er eilte ins Freie und rannte querfeldein.

Der ganze Himmel schien in Flammen zu stehen. Das Geschrei wurde lauter, da stets neue Stimmen den Lärm vergrößerten. Die Sturmglocke heulte, und er konnte ganz deutlich den Ruf „Feuer“ verstehen. Es waren Leute da, – Männer und Frauen – Licht und Tätigkeit. Neues Leben kam über ihn. Er sprang über Hecken und Zäune, der Hund laut bellend immer mit.

Er war endlich zur Stelle. Halbangekleidete Menschen rannten jammernd hin und her. Einige bemühten sich, die scheugewordenen Pferde aus den Ställen herauszujagen, während andere das Rindvieh in Sicherheit zu bringen suchten. Andere kamen mit Habseligkeiten beladen aus den brennenden Häusern. Frauen und Kinder weinten, während die Männer sich durch Zurufe gegenseitig Mut zu machen suchten. Sikes schrie gleichfalls, bis er heiser wurde und stürzte sich in das dichteste Gedränge, um der Erinnerung zu entfliehen. Er arbeitete an den Spritzen, stieg Leitern auf, Leitern ab, auf die Dächer der Häuser – er war allerorten. Allein er schien ein gefeites Leben zu haben, denn bei Tagesgrauen, als nur noch geschwärzte Trümmer übriggeblieben waren, hatte er auch nicht eine Beule oder Schramme erhalten; er fühlte sich nicht einmal müde.

Als jedoch die wahnsinnige Aufregung vorüber war, kehrte ihm mit zehnfacher Gewalt das schreckliche Bewußtsein seiner verbrecherischen Tat zurück. Er sah sich mißtrauisch um, denn die Leute standen in Gruppen beieinander, und er fürchtete, der Gegenstand ihrer Unterhaltung zu sein. Er wollte mit seinem Hunde wegschleichen, als ihm einige Spritzenmänner zuriefen, an ihrem Frühstück teilzunehmen. Er nahm etwas Fleisch und Brot an, und als er einen Schluck Bier trank, hörte er die Leute von dem Morde sprechen.

„Man sagt, der Mörder sei nach Birmingham geflüchtet, aber man wird ihn schon kriegen. Die Kriminalpolizei ist bereits hinter ihm her, und morgen ist sein Steckbrief im ganzen Lande bekannt!“

Sikes sprang auf und rannte fort. Er wanderte, in steter Furcht vor einer zweiten schlaflosen Nacht, planlos weiter.

Plötzlich faßte er den verzweifelten Entschluß, wieder nach London zurückzukehren.

„Jedenfalls kann ich doch dort mit jemand reden“, dachte er, „und finde ein gutes Versteck. Da vermutet mich die Polizei am wenigsten. Ich verhalte mich acht Tage ganz still, und Fagin muß Geld ausspucken, damit flüchte ich nach Frankreich. Teufel auch, ich wag’s.“

Er machte sich auch gleich auf den Weg. Aber der Hund! Wenn ein Steckbrief hinter ihn erlassen war, hatte man sicher auch den Hund nicht vergessen. Dieser konnte ihn auf seinem Wege durch die Straßen verraten. Er entschloß sich daher, ihn zu ersäufen und sah sich nach einem Gewässer um. Im Gehen nahm er einen schweren Stein auf und band ihn in sein Taschentuch.

Der Hund sah diese Vorbereitungen und blieb aus Instinkt etwas weiter zurück. Als der Mörder am Rande eines Weihers haltmachte und sich umsah, um ihn zu rufen, legte sich der Hund auf den Bauch und rührte sich nicht von der Stelle.

„Hörst du nicht? Komm her!“ schrie Sikes und pfiff.

Langsam kam der Hund endlich näher. Als aber sein Herr sich bückte, um das Schnupftuch an seinem Halse zu befestigen, knurrte er und rannte zurück.

„Wirst du herkommen!“ schrie der Mörder wütend.

Doch der Hund wedelte nur mit dem Schwanze, aber rührte sich nicht. Plötzlich wandte er sich um und jagte davon. Der Verbrecher pfiff zu wiederholten Malen, aber kein Hund kam. So mußte er allein weiterwandern.

Monks und Herr Brownlow treffen endlich zusammen. Ihre Unterhaltung und die Nachricht, die sie unterbricht

Es war bereits dunkel, als Herr Brownlow vor seinem Hause aus einer Droschke kletterte und leise an die Tür klopfte. Sobald die Haustür geöffnet war, entstiegen dem Wagen zwei Männer mit einem dritten in ihrer Mitte und gingen schleunigst in das Haus. Dieser dritte war Monks.

Ohne ein Wort zu sprechen, klommen sie, Herr Brownlow an der Spitze, die Treppe hinauf nach einem kleinen Hinterzimmer. Vor dessen Tür machte Monks, der nur widerstrebend mitgegangen war, halt. Die beiden stämmigen Männer blickten den alten Herrn fragend an.

„Wenn er irgendwelche Schwierigkeiten macht, so schleppen Sie ihn auf die Straße, rufen nach der Polizei und beschuldigen ihn in meinem Namen eines schweren Verbrechens.“

„Wie können Sie sich erkühnen, so etwas von mir zu sagen?“ fragte Monks.

„Wie können Sie es wagen, mich dazu zu drängen, junger Mann?“ erwiderte Herr Brownlow und sah ihn streng an. „Wären Sie töricht genug, dieses Haus zu verlassen? Lassen Sie ihn los! So, mein Herr. Sie können ungehindert fortgehen, aber niemand kann uns auch hindern, Ihnen zu folgen. Doch ich warne Sie! Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, daß ich Sie wegen Raubes und Betruges verhaften lasse, sobald Sie den Fuß auf die Straße setzen. Ich bin dazu fest entschlossen. Sind Sie es auch, so kommt Ihr Blut auf Ihr eigenes Haupt.“

„Auf wessen Veranlassung bin ich von diesen Halunken aufgegriffen und hierher geschleppt worden?“ fragte Monks, die Männer dabei verächtlich ansehend.

„Auf meine Verantwortung hin. Wenn Sie sich wegen Freiheitsberaubung hätten beklagen wollen, unterwegs hatten Sie genügend Gelegenheit dazu. Sie hielten es aber für richtiger ruhig zu sein. Ich wiederhole, Sie können den Schutz des Gesetzes anrufen, aber ich werde dann gleich, falls die Gerichte in Anspruch nehmen. Ist die Sache aber erst vor den Richter gekommen, so haben Sie von mir keine Nachsicht mehr zu erwarten und dürfen dann nicht sagen, ich hätte Sie ins Verderben gestürzt.“

Monks zögerte, er wußte nicht, was tun.

„Sie müssen sich schnell entschließen“, fuhr Herr BrownIow mit Festigkeit fort. „Wollen Sie, daß ich Sie bei der Staatsanwaltschaft anzeige und Sie einer Strafe zuführe, deren Schwere ich wohl ahnen, aber nicht verhindern kann, so wissen Sie, was Sie zu tun haben. Wünschen Sie aber Nachsicht und die Vergebung derjenigen, die Sie so schwer geschädigt haben, so setzen Sie sich ohne Widerrede auf diesen Stuhl – er wartet auf Sie schon zwei Tage!“

„Gibt es –“ fragte Monks stotternd, „gibt es – keinen Mittelweg?“

„Nein, keinen!“

Monks setzte sich.

„Schließen Sie von außen die Tür“, sprach Herr Brownlow zu den beiden Männern, „und wenn ich klingele, kommen Sie herein!“

„Das ist eine nette Behandlung von dem ältesten Freunde meines Vaters.“

„Gerade weil ich Ihres Vaters ältester Freund war, junger Mann. Weil die Hoffnungen einer glücklichen Jugendzeit sich an ihn und das holde Wesen von seinem Blute knüpften, das zu früh zu Gott zurückkehrte und mich einsam und verlassen hier zurückließ. Weil er, noch ein Knabe, mit mir an dem Sterbebette seiner einzigen Schwester kniete und zwar an dem Tage, der sie zu meiner Frau gemacht hätte, wenn es der Wille Gottes gewesen wäre. Weil von jener Zeit an mein wundes Herz bis zu seinem Ende an ihm hing. Weil schöne Rückerinnerungen noch immer in meinem Herzen leben, und selbst Ihr Anblick mir ihn wieder ins Gedächtnis zurückruft. Das sind die Gründe, die mich veranlassen, Sie mit Nachsicht und Milde zu behandeln, obgleich Sie erröten müssen, Eduard Leeford, wie unwürdig Sie des Namens sind, den Sie tragen!“

„Was hat der Name mit dieser Sache zu tun?“ fragte Monks verstockt. „Was kümmert mich der Name?“

„Ihnen ist er nichts. Er war aber der Name des von mir geliebten Wesens und mir teuer. Ich bin froh, daß Sie einen anderen angenommen haben. Wirklich sehr froh.“

„Das ist alles recht schön“, sagte Monks trotzig nach einer ziemlich langen Pause, „aber was wollen Sie eigentlich von mir?“

„Sie haben einen Bruder, dessen leise ausgesprochener Name fast allein schon ausreichte, um Sie zu veranlassen, mich hierher zu begleiten.“

„Ich habe keinen Bruder. Sie wissen, daß ich der einzige Sohn meines Vaters bin.“

„Hören Sie, was ich weiß und Sie vielleicht nicht wissen. Es wird Sie interessieren. Es ist mir bekannt, daß Sie der einzige und unnatürliche Sprößling des unseligen Ehebundes sind, zu dem Familienstolz und schmutzigster Ehrgeiz seiner Verwandten Ihren Vater gezwungen haben, als er fast noch ein Knabe war!“

„Es ist mir gleichgültig, wie starke Ausdrücke Sie gebrauchen“, unterbrach ihn Monks mit höhnischem Lachen. „Sie kennen die Tatsache, und das genügt.“

„Aber ich kenne auch das Elend und die Qual dieser unpassenden Verbindung. Ich weiß, wie schwer die Unglücklichen die Kette trugen und sie durch die Welt schleppten. Ich weiß, wie der Gleichgültigkeit Abneigung, der Abneigung Haß und dem Hasse Abscheu folgte, bis sie zuletzt das Band zerrissen. Ihrer Mutter gelang es, die Vergangenheit bald zu vergessen, aber an Ihres Vaters Herzen fraß sie noch jahrelang.“

„Nun, sie haben sich getrennt“, versetzte Monks, „doch was hat das auf sich?“

„Zur Zeit ihrer Trennung hatte Ihre Mutter, während des lustigen Lebens auf dem Festland, ihren um zehn Jahre jüngeren Gatten ganz vergessen, der mit zerstörten Hoffnungen in der Heimat blieb und neue Freunde fand. Diesen Umstand wenigstens kennen Sie?“

„Nein“, antwortete Monks, die Augen abwendend und mit dem Fuß auf die Erde stampfend, wie ein Mann, der entschlossen ist, alles abzuleugnen.

„Ihr Benehmen wie Ihre Handlungen beweisen mir, daß Sie es nie vergessen und nie aufgehört haben, mit Bitterkeit daran zu denken. Ich spreche von der Zeit vor fünfzehn Jahren, wo Sie erst elf Jahre und Ihr Vater einunddreißig Jahre alt war; ich muß wiederholen, daß er beinahe noch ein Knabe war, als sein Vater ihm befahl, sich zu verheiraten. Muß ich auf Dinge zurückkommen, die einen Schatten auf das Andenken Ihres Erzeugers werfen, oder wollen Sie es mir ersparen und die Wahrheit enthüllen?“

„Ich habe nichts zu enthüllen“, versetzte Monks verwirrt. „Reden Sie nur ruhig weiter.“

„Nun denn“, fuhr Herr Brownlow fort, „zu Ihres Vaters neuen Freunden gehörte ein im Ruhestand lebender Seeoffizier, dessen Frau ein halbes Jahr zuvor gestorben war. Von seinen vielen Kindern waren ihm nur zwei Töchter geblieben, die eine ein schönes Mädchen von neunzehn, die andere noch ein Kind von drei Jahren.“

„Was geht mich das an?“ fragte Monks.

„Sie wohnten“, sprach Herr Brownlow weiter, ohne auf die Unterbrechung zu achten, „in einem Landesteil, den Ihr Vater auf seinen Reisen häufiger besucht und wo er auch später dauernden Aufenthalt genommen hatte. Die Bekanntschaft ging schnell in Vertraulichkeit und Freundschaft über. Ihr Vater war begabt wie wenige Männer – er hatte seiner Schwester Herz und Äußeres. Je mehr der alte Offizier ihn kennenlernte, desto inniger liebte er ihn. Ich wünschte, es hätte dabei sein Bewenden gehabt, aber seine Tochter tat dasselbe.“

Der alte Herr hielt inne. Monks biß sich in die Lippen und schlug die Augen nieder. Herr Brownlow bemerkte das und fuhr weiter fort:

„Am Ende des ersten Jahres war er verlobt, feierlich verlobt mit jener Tochter. Ihr Vater der Gegenstand der ersten, wahren, glühenden und einzigen Liebe eines arglosen, unerfahrenen Mädchens.“

„Ihre Erzählung wird lang“, bemerkte Monks, unruhig auf seinem Stuhl hin- und herrückend.

„Es ist eine wahrheitsgetreue Erzählung von Kummer, Prüfungen und Leiden, junger Mann“, versetzte der alte Herr, „und derartige Geschichten sind gewöhnlich lang, während die von ungetrübtem Glück gar kurz zu sein pflegen. Endlich starb einer der reichsten Verwandten und hinterließ ihm sein großes Vermögen. Ihr Vater mußte schleunigst nach Rom reisen, wo jener Verwandte gestorben war, ohne vorher seine eigenen Angelegenheiten ordnen zu können. Als er dort ankam, wurde er von einer tödlichen Krankheit befallen, worauf Ihre Mutter, als sie in Paris davon Kenntnis erhielt, zusammen mit Ihnen Ihrem Vater nachreiste. Er starb den Tag nach ihrer Ankunft in Rom – ohne Testament, so daß sein ganzes Vermögen Ihnen und ihr zufiel.“

Monks hörte bei diesem Teil der Geschichte atemlos zu.

„Ehe er abreiste“, sagte Herr Brownlow langsam, „kam er zu mir, da er auf seinem Wege nach Rom London berühren mußte.“

„Hiervon habe ich nie gehört!“ unterbrach ihn Monks, anscheinend unangenehm überrascht.

„Er kam zu mir und übergab mir unter anderm ein von ihm selbst gemaltes Bildnis jenes armen Mädchens, das er zwar ungern zurückließ, aber auf seiner eiligen Reise nicht mitnehmen konnte. Er war durch Kummer und Gewissensbisse zu einem Schatten abgezehrt und sprach in unzusammenhängender Weise von Schande und Verderben, die sein Werk wären. Er vertraute mir seine Absicht an, sein ganzes Vermögen zu barem Gelde zu machen, auch wenn es mit Verlust geschähe. Er gedachte, Ihre Mutter und Sie durch einen Teil des ihm durch die Erbschaft zugefallenen Vermögens abzufinden und wollte dann für immer England verlassen. Ich erriet nur zu gut, daß er nicht allein gehen würde. Selbst gegen mich, seinen alten Jugendfreund, war er mit weiteren Bekenntnissen zurückhaltend. Er versprach mir alles brieflich mitzuteilen und mich dann noch einmal zu besuchen. Ach, es war damals schon sein letzter Besuch! Ich erhielt keinen Brief und sah ihn nie wieder!“

„Ich ging“, fuhr Herr Brownlow nach einer kurzen Pause fort, „ich ging, als alles vorüber war, nach dem Schauplatz seiner sündigen Liebe, wie die Welt es nennen würde, fest entschlossen, wenn sich meine Befürchtungen bewahrheiten sollten, dem verirrten Mädchen Schutz und eine Heimat anzubieten. Die Familie hatte jedoch die Gegend eine Woche vorher, nach Regelung ihrer Angelegenheiten, bei Nacht und Nebel verlassen. Warum und wohin konnte mir niemand sagen.“

Monks atmete sichtlich auf und konnte ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken.

„Als Ihr Bruder –“ sagte der alte Herr und rückte seinen Stuhl näher an Monks heran, „als Ihr Bruder, ein elendes, vernachlässigtes, in Lumpen gehülltes Kind, mir durch eine mächtigere Hand, als es der Zufall ist, in den Weg geführt wurde und durch mich einem Leben der Schande und des Lasters entrissen werden sollte –“

„Was?“ schrie Monks auf.

„Durch mich“, wiederholte Herr Brownlow. „Ich sagte ja, die Sache würde Sie interessieren. Ich sage: durch mich – denn ich sehe, daß Ihr schlauer Kumpan Ihnen meinen Namen verschwiegen hat, obgleich er sich nicht denken konnte, daß er Ihnen bekannt wäre. Als Ihr Bruder bei mir Zuflucht fand und krank in meinem Hause lag, setzte mich seine Ähnlichkeit mit dem erwähnten Gemälde in Erstaunen. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, daß er mir wieder weggefangen wurde, ehe ich seine Geschichte erfuhr –“

„Warum nicht?“ fragte Monks hastig.

„Weil Sie es selbst sehr gut wissen!“

„Ich?“

„Das Leugnen nützt Ihnen nichts, ich werde Ihnen beweisen, daß ich noch mehr weiß.“

„Sie – Sie können mir nichts beweisen“, stotterte Monks. „Ich fordere Sie auf, es zu tun.“

„Wir werden sehen“, sagte der alte Herr mit einem prüfenden Blick. „Ich verlor den Knaben und vermochte ihn trotz aller Anstrengungen nicht wiederzufinden. Da Ihre Mutter tot ist, so konnten Sie nur das Geheimnis aufklären. Als ich das letztemal von Ihnen hörte, hieß es, Sie wären auf Ihrer Besitzung in Westindien. Dorthin hatten Sie sich zurückgezogen. um den Folgen Ihres verbrecherischen Lebens in London zu entgehen. Ich reiste Ihnen nach, aber Sie hatten Ihren Zufluchtsort schon vor Monaten verlassen. Man glaubte, Sie wären in London, aber niemand konnte mir etwas Näheres mitteilen. Ich kehrte zurück. Ihre Geschäftsfreunde wußten auch Ihre Adresse nicht, sie sagten, Sie kämen ebenso unregelmäßig wie früher, manchmal alle Tage, dann wieder monatelang nicht. Man glaubte, daß Sie wieder in den zweideutigen Kreisen verkehrten, wo Sie sich schon als nicht zu bändigender Knabe Ihre Freunde suchten. Ich durchs wanderte die Straßen bei Tag und bei Nacht, doch waren meine Mühen bis vor zwei Stunden vergeblich.“

„Und nun, da Sie mich gefunden haben, was weiter?“ fragte Monks dreist und stand auf. „Betrug und Raub sind starke Worte – und gerechtfertigt, wie Sie glauben, durch die eingebildete Ähnlichkeit eines jungen Landstreichers mit der elenden Kleckserei eines längst Verstorbenen. Sie wissen nicht einmal, ob der Umgang dieses Pärchens ein Kind zur Folge hatte. Selbst das wissen Sie nicht!“

„Ich wußte es nicht“, sagte Herr Brownlow, gleichfalls aufstehend, „aber ich habe in den letzten vierzehn Tagen alles erfahren. Sie haben einen Bruder – Sie wissen es und kennen ihn. Es war ein Testament vorhanden, Ihre Mutter vernichtete es und hinterließ Ihnen nach ihrem Tode das Geheimnis nebst dem dadurch erzielten Gewinn. Es enthielt einen Hinweis auf ein Kind – der wahrscheinlichen Folge dieser traurigen Verbindung. – Das Kind wurde geboren und kam Ihnen zufällig in die Quere, wobei seine Ähnlichkeit mit Ihrem Vater zuerst Ihren Verdacht erregte. Sie begaben sich nach seinem Geburtsorte. Dort befanden sich Beweise – lang unterdrückte Beweise seiner Geburt und Herkunft. Sie vernichteten sie und erzählten es Ihrem Mitschuldigen, dem Juden, mit den Worten: ‚Der einzige Beweis, der den Jungen legitimieren könnte, liegt auf dem Grunde des Flusses, und die alte Hexe, die ihn von der Mutter empfing, modert in ihrem Sarge!‘ Unwürdiger Sohn, Feigling, Lügner, du Genosse von Dieben und Mördern, Eduard Leeford, du willst mir noch Trotz bieten?“

„Nein, nein, nein!“ schrie der Feigling, überwältigt von der wuchtigen Anklage.

„Jedes Wort, das zwischen dir und diesem nichtswürdigen Schurken gewechselt wurde, ist mir bekannt. Schatten an der Wand haben dein Geflüster aufgefangen und es mir hinterbracht. Der Anblick des verfolgten Kindes hat selbst auf das Laster Eindruck gemacht und ihm Mut und die Eigenschaften der Tugend verliehen. Ein Mord ist begangen, für den du moralisch mit verantwortlich bist.“

„Nein – nein!“ fiel Monks ein. „Ich wußte nichts davon. Ich war im Begriff, Erkundigungen über die Mordtat einzuziehen, als Sie mich wegführten. Den Anlaß zur Tat kannte ich nicht und glaubte, sie sei die Folge eines gewöhnlichen Streites gewesen!“

„Sie war die Folge einer teilweisen Enthüllung Ihrer Geheimnisse. Wollen Sie diese nun ganz offenbaren?“

„Ja, ich will’s.“

„Und Ihre Angaben mit Ihrer Unterschrift beglaubigen und sie vor Zeugen wiederholen?“

„Auch das verspreche ich.“

„Und ruhig hierbleiben, bis ein solches Dokument aufgesetzt ist, und mit mir sich an den Ort begeben, wo es rechtsgültig gemacht wird?“

„Wenn Sie darauf bestehen, will ich auch das tun , antwortete Monks.

„Sie müssen noch mehr tun“, fuhr Herr Brownlow fort, „Sie müssen dem unschuldigen Kinde Schadenersatz leisten. Wenn er auch die Frucht einer sündigen Liebe ist, so bleibt er doch Ihr Bruder. Sie haben die hierauf bezüglichen Paragraphen des Testaments nicht vergessen. Bringen Sie dieselben, soweit sie Ihren Bruder betreffen, zur Ausführung und gehen Sie dann, wohin es Ihnen beliebt. Sie dürfen ihm in dieser Welt nicht wieder begegnen!“

Während Monks mit finsterem Blick im Zimmer auf und ab ging und über diesen Vorschlag und die Möglichkeit, ihm auszuweichen, nachsann, wurde die Tür hastig aufgeschlossen, und Herr Losberne trat aufgeregt ins Zimmer.

„Der Mann wird bald ergriffen werden. Man wird ihn heute nacht noch verhaften“, rief er.

„Den Mörder?“ fragte der alte Herr.

„Ja, ja!“ antwortete der Doktor. „Man hat seinen Hund um einen seiner Schlupfwinkel herumschleichen sehen, und man nimmt an, daß der Verbrecher diesen unter dem Schutz der Nacht aufsuchen wird. Allenthalben sind Detektive aufgestellt. Eine Belohnung von hundert Pfund ist vom Staatsanwalt für seine Festnahme ausgesetzt!“

„Ich lege noch fünfzig Pfund zu und will es selbst an Ort und Stelle verkünden“, rief Herr Brownlow. „Wo ist Herr Maylie?“

„Harry? – Als er Sie mit Ihrem Freund hier wohlbehalten in der Droschke sah, schwang er sich aufs Pferd und schloß sich den Verfolgern des Mörders an.“

„Und was ist mit dem Juden?“ fragte Brownlow weiter.

„Als ich das letztemal von ihm hörte, war er noch nicht festgenommen, doch ist man seiner sicher!“

„Haben Sie Ihren Entschluß gefaßt?“ fragte Herr Brownlow Monks leise.

„Ja“, antwortete dieser, „aber – Sie – werden mich doch nicht bloßstellen?“

„Nein. Bleiben Sie jetzt hier, bis ich wieder zurückkomme. Das ist Ihre einzige Rettung!“

Die beiden alten Herren verließen das Zimmer, dessen Tür wieder von außen verschlossen wurde.

„Was haben Sie erreicht?“ fragte der Doktor flüsternd.

„Alles, was ich erhoffen konnte, und mehr. Schreiben Sie unsern Freunden, daß die Zusammenkunft übermorgen abend um sieben Uhr stattfinden soll. Wir werden aber ein paar Stunden früher da sein. – Doch mir kocht das Blut in den Adern, das arme ermordete Mädchen zu rächen. Wohin muß ich gehen?“

„Wenn Sie sofort auf das Polizeiamt gehen, werden Sie noch zeitig genug kommen“, entgegnete Losberne.

Die beiden Herren verabschiedeten sich nun hastig und in ziemlicher Aufregung.

Verfolgung und Flucht

Einer der schmutzigsten Winkel Londons ist Southwark, an der Themse gelegen, mit der Jakobsinsel, die von einem acht Fuß tiefen und zwanzig Fuß breiten, sumpfigen Graben umgeben ist, der jetzt unter dem Namen Folly Ditch bekannt ist. Er ist eine Einbuchtung des Flusses und kann durch Öffnen von Schleusen ganz mit Wasser gefüllt werden. Dann kann man von einer der hölzernen Brücken aus, die bei der Mühlengasse über den Graben geschlagen sind, sehen, wie die Bewohner der Häuser aus ihren Fenstern und Türen Eimer und Geschirr aller Art herunterlassen, um Wasser zu schöpfen. Die Häuser stehen hier auf versinkenden Fundamenten, und ihre Wände sind mit Kot beschmiert. Die Fenster zerbrochen, die Stuben eng und schmutzig, überall Dreck, Unflat und abstoßende Armut. Auf der Jakobsinsel Warenhäuser, die leerstehen und kein Dach mehr haben. Die Wände dem Einstürzen nahe, die Fenster ausgebrochen, und die Türen auf der Straße umherliegend. Die Häuser sind ohne Eigentümer und werden nur von denen bewohnt, die gewichtige Gründe haben, sich zu verbergen, oder ganz verarmt sind.

In einem oberen Gemache eines dieser Häuser, das mit der Rückwand gegen den Folly Ditch stand, saßen drei Männer in düsterm Schweigen. Der eine davon war Toby Crackit, der andere Herr Chitling und der dritte ein Kerl von etwa fünfzig Jahren, dessen Gesicht eine furchtbare Narbe aufwies, wohl die Folge einer Schlägerei. Er war ein entlaufener Sträfling namens Kags.

„Ich wollte“, sagte Toby zu Herrn Chitling, „du hättest eine andere Bleibe ausgesucht, als die zwei andern zu warm wurden, und wärst nicht hierhergekommen.“

„Ja, du Dussel, warum tatest du es nicht?“ fragte Kags.

„Ich glaubte, ihr würdet erfreuter sein, mich zu sehen“, versetzte Herr Chitling mit melancholischer Miene.

„Sieh bloß mal an!“ sagte Toby ironisch. Nach einer kleinen Pause fragte er Chitling, wann man Fagin festgenommen hätte.

„Gerade zur Essenszeit – nachmittags zwei Uhr. Karl Bates und ich entwischten durch den Waschhausschornstein, aber Bolter, der sich im leeren Wasserfaß mit dem Kopf nach unten versteckt hatte, wurde bei seinen langen Hammelbeinen gefaßt und mitgenommen!“

„Und Betsy?“

„Die arme Bet!“ sagte Chitling mit trübseligem Gesicht. „Sie ging, um sich die Leiche anzusehen, fing bei ihrem Anblick zu toben an und wollte mit dem Kopf gegen die Wand. Man mußte sie in eine Zwangsjacke stecken und nach dem Krankenhaus bringen. Da ist sie noch.“

„Was ist denn aus dem jungen Bates geworden?“ fragte Kags.

„Er stromert bis zum Dunkelwerden umher, wird also bald hier sein. Die Leute in den ‚Drei Krüppeln‘ sind auch alle verhaftet, ich sah, als ich dort vorbeiging, eine Menge Kriminalpolizisten im Gastzimmer.“

„Das ist schlimm. Wird wohl noch mancher dran, glauben müssen“, bemerkte Toby, sich auf die Lippen beißend.

„Es ist gerade Schwurgerichtsperiode“, sagte Kags, „und wenn Bolter als Kronzeuge gegen Fagin auftritt, was er aller Wahrscheinlichkeit nach tun wird, so kann man dem Juden am Freitag sein Urteil sprechen. Drei Tage darauf baumelt er! Hol mich der Teufel, wenn’s nicht stimmt!“

„Ihr hättet nur sehen sollen, wie das Volk tobte“, fuhr Chitling fort. „Die Polizisten kämpften wie die Teufel, sonst hätte die Menge den Juden in Stücke zerrissen. Sie hatte ihn schon mal in den Händen, aber die Polizei befreite ihn rasch wieder. Er war ganz mit Blut und Dreck bedeckt und hängte sich an die Kriminalbeamten, als wenn sie seine besten Freunde wären. Die Leute hatten ihn mit den Füßen getreten, und die Weiber drohten ihm, das Herz aus dem Leibe zu reißen. Ich kann die Greifer noch sehen, wie sie in dem Gedränge der Menge kaum aufrecht zu stehen vermochten und ihn so zwischen sich hinschleppten!“

Entsetzt saßen die Männer eine Weile schweigend da. Da hörten sie plötzlich auf der Treppe ein Trappeln, und gleich darauf sprang Sikes‘ Hund ins Zimmer. Von seinem Herrn war jedoch nichts zu sehen.

„Was bedeutet das?“ sagte Toby. „Er wird doch nicht hierherkommen wollen? Ich – ich hoffe nicht!“

„Wenn das seine Absicht wäre, so würde er mit dem Hunde gekommen sein“, meinte Kags und gab dem Hunde Wasser.

„Er“ – keiner nannte den Mörder bei seinem Namen – „er wird sich doch nichts angetan haben? Was meint ihr?“ fragte Chitling.

Toby schüttelte den Kopf.

„Wenn das wäre“, sprach Kags, „so würde uns der Hund an die Stelle führen wollen, wo er liegt. Nein, ich denke mir, er ist ins Ausland geflüchtet und hat den Hund zurückgelassen, sonst wäre das Tier nicht so ruhig.“

Der Hund kroch unter einen Stuhl, kauerte sich zusammen und begann zu schlafen.

Da es dunkel geworden war, so wurde der Fensterladen geschlossen und eine Kerze angezündet. Die schrecklichen Ereignisse der zwei letzten Tage hatten auf sie einen mächtigen Eindruck gemacht, und die Unsicherheit ihrer eigenen Lage machte sie ängstlich. Bei jedem Laut fuhren sie auf und sprachen nur im Flüstertone. Sie hatten schon eine Weile ganz stumm dagesessen, als sich plötzlich ein lautes Klopfen an der Haustür vernehmen ließ.

„Der junge Bates“, meinte Kags.

Das Klopfen wiederholte sich. Bates war es nicht, der hatte nie so gepocht. Crackit ging aus Fenster und steckte zitternd den Kopf hinaus. Er brauchte den andern nicht zu sagen, wer unten sei. Sein blaßgewordenes Gesicht sprach deutlich genug. Der Hund war im Augenblick wach und lief winselnd an die Tür.

„Wir müssen ihn hereinlassen“, sagte Crackit, nach dem Kerzenleuchter greifend.

„Läßt sich’s nicht anders machen?“ fragte Kags mit heiserer Stimme.

„Nein, wir müssen ihm öffnen.“

Crackit ging hinunter und kam mit einem vermummten Mann zurück. Es war Sikes. Er hatte tiefliegende Augen im erdfahlen Gesicht, eingefallene Backen und atmete kurz und schwer. Er griff nach einem Stuhl und setzte sich dicht an die Wand, so dicht, als es gehen wollte.

Alle schwiegen, endlich fragte Sikes mit hohler Stimme:

„Wie kam der Hund hierher?“

„Allein. Vor drei Stunden.“

„Die Abendzeitungen schreiben, Fagin sei verhaftet. Ist es wahr oder gelogen?“

„Wahr.“

Es folgte abermals eine Pause.

„Geht zum Teufel alle miteinander!“ schrie Sikes und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Habt ihr mir nichts zu sagen?“

Sie wurden unruhig, aber keiner sprach.

„Du, der du hier den Hausherrn spielst“, sagte Sikes zu Crackit, „hast du die Absicht, dir die Belohnung zu verdienen, oder darf ich mich hier verstecken, bis die Verfolgung vorüber ist?“

„Du kannst hierbleiben, wenn du es für richtig hältst“, antwortete der Angeredete nach einigem Zögern.

„Ist sie – sie – ist die Leiche – schon begraben?“ fragte Sikes mit stockender Stimme.

Sie schüttelten die Köpfe.

„Warum nicht? Warum behält man so etwas Häßliches über der Erde? – Wer klopft da?“

Crackit meinte, es wäre nichts zu befürchten. Er ging, um zu öffnen, und kam bald mit Karl Bates wieder. Sikes saß gerade der Tür gegenüber, so daß er dem eintretenden Jungen sofort ins Auge fallen mußte.

„Toby“, sagte Karl zurückprallend, als Sikes ihn anguckte, „warum habt Ihr mir das nicht vorher gesagt?“

Der Mörder wollte den Jungen für sich günstig stimmen und streckte ihm die Hand entgegen.

„Laßt mich in eine andere Stube gehen“, sagte Bates zurückweichend.

„Warum, Karl?“ fragte Sikes, auf ihn zugehend. „Kennst du – kennst du mich denn nicht?“

„Komm mir nicht zu nahe!“ schrie der Junge und wich wieder einige Schritte zurück. „Scheusal! Ungeheuer!“

Der Mörder blieb stehen, und sie sahen sich gegenseitig an, doch Sikes konnte den Blick nicht aushalten und schlug zuletzt die Augen nieder.

„Ich nehme euch drei zu Zeugen“, schrie der Junge, die geballte Faust schüttelnd, in mächtiger Aufregung, „ich nehme euch drei zu Zeugen – ich habe keine Angst vor ihm – ich verrate ihn, wenn man ihn hier sucht. Das tue ich! Ich sage es frei heraus und mag er mich kalt machen, falls er den Mut dazu hat, wenn ich hier bin, verrate ich den Unmenschen. Ich würde ihn auch angeben, wenn er lebendig verbrannt werden sollte. Hilfe! Mörder! Wenn ihr noch richtige Kerle wäret und keine feigen Memmen, so würdet ihr mir jetzt helfen. Hilfe! Mörder! Schlagt ihn nieder!“

Mit diesen Worten stürzte sich der Junge allein auf den großen, kräftigen Mann und brachte ihn durch die überraschende Schnelle und Heftigkeit des Angriffs zu Fall. Die drei Zuschauer waren wie vom Donner gerührt machten aber keine Miene einzugreifen. Der Junge wälzte sich mit dem Mörder auf dem Boden herum und schrie laut um Hilfe, doch war der Kampf zu ungleich, um lange zu währen. Sikes hatte Bates unter sich gebracht und setzte ihm das Knie auf die Kehle, als Crackit ihn zurückriß und bestürzt nach dem Fenster zeigte. Man sah unten auf der Straße Lichter schimmern und hörte laute Stimmen. Von der nächsten Brücke erscholl der Klang zahlloser Fußtritte. Unter der Menge, die über die Brücke quoll, schien sich auch ein Reiter zu befinden, denn der Schall von Huftritten ertönte auf dem holprigen Pflaster. Der Tumult wurde immer größer, schließlich wurde an die Haustür geklopft.

„Hilfe!“ schrie Karl Bates mit gellender Stimme. „Der Mörder ist hier! Schlagt die Tür ein!“

„Im Namen des Königs!“ wurde von draußen gerufen und gleich darauf erhob sich neuer Lärm.

„Schlagt die Tür ein!“ brüllte der Junge. „Man macht euch doch nicht auf. Kommt herauf ins Zimmer, wo Licht ist. Brecht die Tür auf!“

Wuchtige Schläge donnerten gegen die Tür und die Fensterläden des Erdgeschosses, und ein lautes Hurra gab den Halunken im Hause zum erstenmal einen richtigen Begriff von der Anzahl der Verfolger.

„Wo kann ich den schreienden Teufelsbraten einsperren?“ schrie Sikes wütend und warf den zappelnden Jungen in eine kleine Kammer, die Toby aufgeschlossen hatte. Er schob den Riegel vor und fragte:

„Ist die Haustür gut fest?“

„Doppelt verschlossen und dreifach verriegelt“, sagte Crackit, der wie betäubt dastand.

„Und die Fensterläden?“

„Gut gesichert.“

„Der Teufel soll euch holen!“, brüllte der Verbrecher aus dem Fenster zur Menge hinab. „Strengt euch an, so viel ihr wollt, ich pfeife darauf, ihr kriegt mich doch nicht!“

Ein Wutgeschrei der Volksmasse war die Antwort. Einige riefen, man solle Feuer an das Haus legen, andere schrien den Polizisten zu, den Mörder doch totzuschießen. Der Reiter schwang sich aus dem Sattel und rief mit Stentorstimme: „Zwanzig Guineen demjenigen, der mir eine Leiter bringt.“

Hunderte riefen nunmehr nach Leitern, und die Aufregung der immer größer werdenden Volksmasse wuchs zusehends. Einige der Kühnsten versuchten an der Wasserrinne und der zerbröckelten Wand hinaufzuklimmen.

„Ich kam an, als es Flutzeit war“, sagte der Mörder, nachdem er das Fenster wieder geschlossen hatte. „Gebt mir ein Seil – ein langes Seil. Ich werde mich hinten in den Graben hinunterlassen und entwischen. Sie sind ja alle vorn. Schnell ein Seil, oder ich begehe noch drei Morde und hänge mich dann auf!“

Toby wies nach einer Ecke, wo Stricke lagen, und Sikes suchte sich hastig den längsten und stärksten heraus. Er ging damit nach dem Dach.

Alle Fenster an der Hinterseite des Hauses waren zugemauert, mit Ausnahme eines Loches in der Kammer, wo Karl Bates eingesperrt war. Es war aber zu klein, als daß er hätte durchkriechen können. Durch diese Öffnung rief jedoch der Junge unaufhörlich den Außenstehenden zu, auch die Rückseite des Gebäudes zu bewachen. Als der Mörder aus dem Dachfenster stieg, wurde es sogleich bemerkt. Er kroch über die Ziegel und beugte sich über den Dachrand. Das Wasser war infolge der Ebbe abgelaufen und der Graben ein Schlammbett.

Die Menge sah lautlos und gespannt zu, was der Mörder nun wohl beginnen würde. Als sie gewahrte, daß er sich in der Flucht verrechnet hatte, erhob sie ein mächtiges Triumphgeschrei, gegen das alle früheren nur ein Flüstern waren.

„Jetzt hat man ihn!“ rief ein Mann auf der nächsten Brücke. „Hurra!“

Ein tausendfaches Echo folgte.

„Ich verspreche fünfzig Pfund demjenigen, der den Mörder lebend ergreift!“ rief ein alter Herr auf der Brücke. „Ich bleibe hier stehen, um die Summe sofort auszuzahlen.“

Neues Gebrüll. In diesem Augenblick verbreitete sich das Gerücht, daß die Haustür aufgebrochen und der Mann, der zuerst nach der Leiter gerufen, in das Zimmer eingedrungen sei. jeder wollte nun sehen, wie der Mörder von den Polizisten abgeführt würde. Es entstand ein furchtbares Gedränge, und die Aufmerksamkeit wurde von dem Dache abgelenkt.

Sikes beschloß jetzt, den letzten Rettungsversuch zu wagen und sich in den Graben hinunterzulassen, selbst auf die Gefahr hin, im Schlamme zu ersticken. Er schlang das eine Ende des Seiles fest um den Schornstein und machte an dem anderen Ende unter Zuhilfenahme der Zähne im Nu eine starke Laufschlinge. Er konnte sich mit dem Strick fast bis auf Manneslänge vom Boden hinunterlassen und hielt sein Messer bereit, um ihn rechtzeitig durchzuschneiden und sich fallen zu lassen.

Er hatte sich eben die Schlinge über den Kopf geworfen und war im Begriff mit den Armen gleichfalls durchzuschlüpfen, als der alte Herr die Leute darauf aufmerksam machte, daß der Verbrecher sich vom Dache hinunterlassen wolle. Im selben Augenblick sah sich Sikes um, stieß einen Schrei des Entsetzens aus und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen.

„Da sind die Augen wieder!“ rief er mit Grabesstimme und taumelte wie vom Blitz getroffen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel über den Rand des Daches. Die Schlinge am Halse, sauste er fünfunddreißig Fuß hinab. Ein plötzlicher Ruck, ein krampfartiges Zucken der Glieder – und da hing er, entseelt, das Messer in der erstarrten Hand!

Der alte Schornstein hatte der Erschütterung standgehalten. Sikes‘ Hund lief heulend auf dem Dache hin und her und nahm endlich einen Ansatz, um auf die Schultern des toten Mannes zu springen. Er verfehlte jedoch sein Ziel, fiel in den Graben, in dem er sich überkugelte. Mit dem Kopf auf einen Stein schlagend, verspritzte er sein Gehirn.

Enthüllt verschiedene Geheimnisse und enthält einen Heiratsantrag ohne ein Wort von Ausstattung und Nadelgeld

Zwei Tage nach den im letzten Kapitel erzählten Ereignissen befand sich Oliver nachmittags um drei Uhr In einem Reisewagen, der rasch dem Geburtsorte des Knaben zurollte. Frau Maylie, Rosa, Frau Bedwin und der gute Doktor waren bei ihm. Herr Brownlow folgte in einer Postkutsche, noch von jemand begleitet, dessen Name nicht erwähnt wurde.

Sie sprachen unterwegs wenig. Herr BrownIow hatte den beiden Damen und Oliver die Geständnisse, die er Monks abgerungen hatte, vorsichtig mitgeteilt. Jeder hing nun seinen Gedanken nach.

Als sie sich der Stadt näherten und endlich durch ihre engen Straßen fuhren, war der Junge ganz außer sich. Da stand Sowerberrys Haus gerade noch so wie früher. Er gewahrte Gamfields Karren vor einem Wirtshause. Das Armenhaus, das traurige Gefängnis seiner Kinderjahre, mit den düsteren Fenstern nach der Straße hinaus und demselben dürren Pförtner am Eingang. Es war ihm, als wenn er die Stadt erst gestern verlassen hätte, und sein neues Leben nur ein glücklicher Traum gewesen wäre.

Sie fuhren am ersten Gasthof vor, den Oliver nur mit Ehrfurcht anzusehen und für einen ganz gewaltigen Palast zu halten pflegte. Hier wurden sie von Herrn Grimwig empfangen, der eitel Freude und Sonnenschein war. Er küßte Rosa und auch die alte Dame, wie sie aus dem Wagen stiegen, als wäre er der Großvater der ganzen Gesellschaft. Er erbot sich nicht einmal, seinen Kopf aufzuessen – nicht einmal, als er einem sehr alten Postillion wegen des nächsten Weges nach London widersprach und es besser zu wissen behauptete, obgleich er ihn nur ein einziges Mal, und zwar im festen Schlaf gemacht hatte. Das Mittagessen und die Zimmer standen bereit alles war aufs beste angeordnet.

Herr Brownlow erschien nicht beim Essen, sondern blieb auf seinem Zimmer. Die beiden anderen Herren gingen mit wichtigen Mienen ein und aus und flüsterten geheimnisvoll, wenn sie im Zimmer waren. Einmal wurde Frau Maylie abgerufen und kam erst nach einer Stunde mit rotgeweinten Augen wieder zurück. Alles dies versetzte Rosa und Oliver in große Unruhe. Sie saßen stumm da und flüsterten nur, wenn sie sprachen, als fürchteten sie sich vor dem Ton ihrer eigenen Stimme.

Endlich, als die Uhr neun schlug, traten die Herren Losberne und Grimwig ins Zimmer, denen Herr Brownlow und ein Mann folgte, bei dessen Anblick Oliver laut aufschrie. Es war derselbe Mann, den er damals im Hofe des Gasthauses getroffen und dann an Fagins Seite vor dem Fenster seines kleinen Studierzimmers hatte stehen sehen. Monks warf einen haßerfüllten Blick auf den Jungen und setzte sich unweit der Tür. Herr Brownlow hatte einige Papiere in der Hand und trat an den Tisch, an dem Rosa und Oliver waren.

„Es ist zwar eine peinliche Sache begann er, „aber diese Erklärungen, die ich in London vor Zeugen niederschreiben und beglaubigen ließ, müssen der Hauptsache nach hier von Ihnen noch einmal persönlich abgegeben werden. Ich hätte Ihnen diese Demütigung gern erspart, aber Sie kennen die Gründe, warum wir sie aus Ihrem eigenen Munde abermals hören müssen, ehe wir uns trennen.“

„Los!“ sagte der Angeredete mit abgewandtem Gesicht, „machen Sie schnell. Ich habe genug getan. Halten Sie mich hier nicht unnötig auf.“

„Dieses Kind“, fuhr Herr Brownlow fort und zog Oliver an sich, „ist Ihr Halbbruder, der illegitime Sohn Ihres Vaters, meines teuren Freundes Edwin Leeford, und der unglücklichen Agnes Flemming, der die Geburt des Knaben das Leben kostete.“

„Ja“, sagte Monks, Oliver zornig anblickend, dessen Herz hörbar klopfte, „es ist ihr Bastard!“

„Der Ausdruck, dessen Sie sich bedienen“, sagte Herr BrownIow ernst, „enthält einen beleidigenden Vorwurf gegen Verstorbene, die dem Urteil dieser Welt längst entrückt sind, und beschimpft keine Lebenden außer dem, der ihn gebrauchte. Doch lassen wir das. Er wurde in dieser Stadt geboren?“

„In dem Armenhause dieser Stadt“, war die mürrische Antwort. „Sie haben die Geschichte doch in den Papieren dort aufgeschrieben.“

„Sie muß auch hier zur Sprache kommen.“

„Also hören Sie“, begann Monks. „Als sein Vater in Rom erkrankte, begab sich seine Frau, meine Mutter, von der er lange getrennt gelebt hatte, von Paris aus mit meiner Wenigkeit zu ihm – soviel ich weiß, um sich sein Vermögen zu sichern, denn sie hegte keine besondere Liebe für ihn, wie auch er nicht für sie. Er wußte nichts von unserer Anwesenheit, denn er war bereits besinnungslos und starb am folgenden Tag. Unter den Papieren, die sich in seinem Pulte vorfanden, waren zwei mit dem Datum des Tages, an dem er erkrankte. Sie waren nebst einigen kurzen Zeilen an Sie, Herr Brownlow, adressiert und trugen auf dem Umschlag die Weisung, daß sie erst nach seinem Tode abgeschickt werden sollten. Das eine dieser Papiere war ein Brief an jenes Mädchen Agnes und das andere ein Testament.“

„Und der Brief?“ fragte Herr Brownlow.

„Der Brief? Ein ganzer Bogen voll reuiger Selbstanklagen und Bitten, daß Gott ihr helfen möge. Er sagte darin dem Mädchen, daß ein Geheimnis, das sich eines Tages aufklären werde, ihn verhindert hätte, sich mit ihr zu vermählen. Sie hätte ihm hingebend vertraut, bis sie das verloren, was er ihr nicht mehr zurückgeben könnte. Sie hatte damals nur noch einige Monate bis zu ihrer Entbindung, und so teilte er ihr mit, was er zu tun beabsichtigte, um ihre Schande zu verdecken, wenn er am Leben bliebe. Er bat sie, wenn er sterben müßte, weder seinem Andenken zu fluchen, noch zu glauben, daß seine Sünde, an ihr oder seinem Kinde heimgesucht werden würde, da die ganze Schuld seine wäre. Er erinnerte sie an den Tag, an dem er ihr das Medaillon und den Ring schenkte, in dem ihr Taufname mit einer Lücke eingegraben war, die er eines Tages mit seinem Familiennamen auszufüllen gehofft hätte. Er flehte sie an, seine kleinen Geschenke an ihrem Herzen zu tragen, und kam dann immer wieder auf dieselben Worte zurück, als ob er schon nicht mehr klaren Geistes gewesen, was, wie ich vermute, auch der Fall war.“

„Das Testament“, sagte Herr Brownlow, während Oliver still vor sich hin weinte, „war in demselben Geiste abgefaßt wie der Brief. Ei sprach von dem Elend, das sein Weib über ihn gebracht hatte, und von dem störrischen Charakter, der Bosheit und den frühzeitigen lasterhaften Neigungen seines einzigen Sohnes, dem gelehrt worden war, den Vater zu hassen. Er vermachte Ihrer Mutter und Ihnen Jahresrenten von je achthundert Pfund. Sein Gesamtvermögen teilte er in zwei gleiche Teile und bestimmte den einen für Agnes Flemming und den andern für sein und ihr Kind, wenn es lebend zur Welt kommen und heranwachsen sollte. Für den Fall, daß es ein Mädchen wäre, sollte ihm die Erbschaft ohne weiteres zufallen. Wäre es jedoch ein Junge, so hafte die Bedingung daran, daß er während seiner Minderjährigkeit seinen Namen durch keine entehrende oder schlechte Tat befleckt habe, die das Einschreiten des Gerichts zur Folge gehabt hätte. Wie er ausführte, machte er diese Klausel, um dadurch sein Vertrauen zu der Mutter zu bekunden, daß das Kind der Erbe ihres schönen Herzens und ihres edlen Charakters werden würde. Sollte diese Erwartung trügen, so waren Sie zum Erben bestimmt; denn nur, wenn beide Kinder einander gleich wären – aber auch nur dann –, wollte er Ihren früheren Anspruch auf sein Vermögen anerkennen, obgleich Sie keinen auf sein Herz zu machen und ihn von früher Jugend an durch Kälte und Abneigung zurückgestoßen hätten.“

„Meine Mutter“, nahm nun Monks wieder das Wort, „tat, was jede Mutter getan hätte – sie verbrannte das Testament. Der Brief gelangte nie an seine Adresse. Aber sie bewahrte ihn und noch andere Schriftstücke für den Fall auf, daß man versuchen würde, den Fehltritt abzuleugnen. Sie berichtete dem Vater des Mädchens die Wahrheit mit Übertreibungen, die ihr der Haß eingab -ich liebe sie jetzt darum. Diese Nachricht bewog den alten Flemming, sich mit seinen Kindern in einen Winkel von Wales zurückzuziehen, wobei er zugleich seinen Namen änderte, damit seine Freunde ihn nicht entdeckten. Er wurde einige Zeit darauf tot in seinem Bette gefunden. Die Tochter hatte einige Wochen zuvor heimlich sein Haus verlassen. Er suchte sie in jedem Dorf und jeder Stadt der Umgegend. In der Nacht, als er mit der Überzeugung nach Hause kam, sie hätte sich das Leben genommen, um ihre Schande nicht zu überleben, brach das Herz des alten Mannes.“

Nach einem kurzen Schweigen fuhr Herr Brownlow in der Erzählung fort:

„Nach Jahren kam die Mutter dieses Menschen – dieses Eduard Leeford – zu mir. Er hatte sie verlassen, als er achtzehn Jahr alt war, und ihr Geld und Juwelen gestohlen. Das Gestohlene verspielt, Fälschungen begangen und war dann nach London geflüchtet, wo er in Verbrecherkreisen verkehrte. Sie siechte an einer unheilbaren Krankheit dahin und wünschte ihn vor ihrem Tode noch einmal zu sehen. Man forschte lange vergeblich nach ihm, endlich aber fand man ihn. Sie fuhren dann beide nach Frankreich zurück.“

„Nach einem langen Krankenlager“, erzählte Monks weiter, „starb sie dort. Auf ihrem Totenbette vermachte sie mir mit diesen Geheimnissen ihren tödlichen Haß gegen alle, die in die Angelegenheit verwickelt waren. Sie wollte nicht glauben, daß das Mädchen sich selbst und dem Kinde ein Leid angetan hätte, sie war vielmehr der festen Überzeugung, daß ein Knabe geboren und am Leben wäre. Ich schwur ihr, wenn der Junge je meinen Weg kreuzen würde, ihn mit unversöhnlicher Feindschaft zu verfolgen und ihn, den prahlerischen Redensarten des beleidigenden Testaments zum Trotz, an den Galgen zu bringen. Sie hatte recht. Er kam mir endlich in den Weg. Der Anfang ließ sich gut an, und wenn dieses verdammte Frauenzimmer nicht geschwatzt hätte, wäre dem guten Anfang auch ein dementsprechender Schluß gefolgt.“

Der Halunke verwünschte laut sich selbst, daß sein bösartiger Plan mißlungen war. Inzwischen erzählte Herr Brownlow den entsetzten Zuhörern, daß der Jude, Monks‘ Helfershelfer, eine große Belohnung für Olivers Verführung zum Schlechten erhalten hätte. Als der Junge entwich, sollte ein Teil der Summe wieder zurückerstattet werden, und der daraus entstandene Streit sei die Veranlassung gewesen, daß beide jenen Besuch in dem Landhause machten, der Olivers Identität feststellen sollte und diesen so erschreckte.

„Und was wurde aus dem Medaillon und dem Ringe?“ fragte Herr BrownIow Monks.

„Ich kaufte sie dem Manne und der Frau ab, die sie der Wärterin gestohlen hatten. Sie wissen, was daraus wurde“, sagte Monks, ohne die Augen zu erheben.

Herr Brownlow gab Grimwig einen Wink, der darauf plötzlich verschwand, aber bald wieder zurückkehrte, Frau Bumble ins Zimmer schob und deren widerstrebenden Eheherrn nach sich zerrte.

„Trügen mich meine Augen?“ rief Herr Bumble mit schlechtgespielter Freude, „oder ist dies wirklich der kleine Oliver? Ach, O-Ii-ver, wenn Sie wüßten, wie ich mich um Sie gegrämt habe!“

„Halt’s Maul, Dummkopf!“ murmelte Frau Bumble.

„Frau, ist’s nicht natürlich, ganz natürlich“, entgegnete Bumble, „muß mir nicht das Herz aufgehen, mir, der ich ihn als Gemeindekind erzogen habe – wenn ich ihn hier sitzen sehe zwischen so feinen Damen und Herren? Ich habe den Knaben immer geliebt wie meinen – meinen – meinen eigenen Großvater“, sagte endlich Herr Bumble, nachdem er einen passenderen Vergleich nicht gleich gefunden hatte,

„Ach bitte“, fiel Herr Grimwig ein, „unterdrücken Sie Ihre Gefühle!“

„Ich will mir Mühe geben“, sagte Herr Bumble. „Wie geht es Ihnen, mein Herr? Ich hoffe gut.“

Diese Begrüßung war an Herrn Brownlow gerichtet, der sich dem würdigen Ehepaar genähert hatte und nun, auf Monks zeigend, fragte:

„Kennen Sie diesen Mann?“

„Nein!“ antwortete Frau Bumble ohne Zögern.

„Aber Sie vielleicht, Herr Bumble?“

„Hab‘ ihn nie in meinem Leben gesehen!“

„Auch nichts verkauft?“

„Nein!“ entgegnete Frau Bumble.

„Sie haben auch nie ein gewisses goldenes Medaillon und einen Ring gehabt?“

„Allerdings nicht. Hat man uns bloß deshalb hierhergeholt, um uns derartig törichte Fragen beantworten zu lassen?“

Herr Brownlow winkte Herrn Grimwig abermals zu, und dieser verschwand wieder, um gleich darauf mit zwei gichtbrüchigen alten Weibern zurückzukehren.

„Sie haben zwar in der Nacht, als die alte Sally starb, die Tür verschlossen“, sagte die eine und hob ihre vertrocknete Hand hoch, „aber Sie konnten weder unsere Ohren noch die Ritzen in der Wand verstopfen.“

„Nein, nein, nein“, fügte die andere kopfwackelnd hinzu.

„Wir hörten, wie die Sterbende versuchte, Ihnen zu sagen, was sie getan, und sahen auch, wie Sie ein Papier aus ihrer Hand nahmen und am andern Tage ins Leihhaus gingen.“

„Haben Sie vielleicht Lust, den Pfandleiher selbst zu sehen?“ fragte Herr Grimwig und ging zur Tür.

„Nein“, sagte Frau Bumble, „weil er“, sie deutete auf Monks, „augenscheinlich Memme genug gewesen ist zu beichten, und da Sie unter allen diesen alten Hexen gerade die richtigen herausgefunden haben, so bleibt mir nicht mehr viel zu sagen. Ja, ich verkaufte ihm das Medaillon und den Ring, und der ganze Plunder liegt an einem Orte, wo Sie ihn nie wieder finden können. Und was weiter?“

„Nichts weiter“, antwortete Herr Brownlow, „als daß wir dafür sorgen werden, daß man euch aus euren Beamtenstellungen als unzuverlässig entfernt. Ihr könnt gehen.“

„Ich hoffe“, meinte Herr Bumble bestürzt, als Herr Grimwig mit den beiden alten Weibern wieder verschwunden war, „ich hoffe, daß dieser kleine Zwischenfall mir nicht mein Amt kosten wird.“

„Das wird er allerdings, darauf dürfen Sie sich gefaßt machen und noch froh sein, daß Sie so davonkommen.“

„Es war ausschließlich das Werk meiner Frau, sie wollte es so“, wandte Herr Bumble ein, nachdem er sich vorher mit einem schnellen Blick überzeugt hatte, daß seine Gattin nicht mehr im Zimmer war.

„Das ist keine Entschuldigung. Im Gegenteil, Sie sind für das Gesetz der schuldigere Teil, da in solchen Fällen angenommen wird, Ihr Weib hätte nach Ihrer Anweisung gehandelt.“

„Wenn das Gesetz so etwas annimmt“, erwiderte Herr Bumble und zerknüllte seinen Hut mit den Händen, „so ist das Gesetz ein Esel – ein Dummkopf. Wenn das Gesetz mit solchen Augen sieht, so ist es ein Junggeselle, und ich wünsche ihm das Ärgste, nämlich daß ihm die Augen durch Erfahrung aufgehen mögen – ja, durch Erfahrung.“

Nach diesen mit großem Nachdruck gesprochenen Worten stülpte Herr Bumble seinen Hut auf den Kopf, steckte die Hände in die Taschen und folgte seinem trauten Weib.

„Mein liebes Fräulein“, sagte Herr Brownlow, sich zu Rosa wendend, „geben Sie mir mal Ihre Hand. Zittern Sie nicht! Sie brauchen sich vor den paar Worten nicht zu fürchten, die noch zu sagen bleiben.“

„Wenn sie – ich weiß zwar nicht, wie das möglich wäre – doch wenn sie irgendwie mich betreffen, so lassen Sie sie mich ein andermal hören. Ich habe jetzt weder die Kraft noch den Mut dazu.“

„Ach“, sagte der alte Herr, ihren Arm durch seinen ziehend, „Sie sind mutiger, als Sie denken. – Kennen Sie diese junge Dame?“

„Ja,“ erwiderte Monks.

„Ich habe Sie nie gesehen“, sagte Rosa leise.

„Aber ich Sie oft“, versetzte Monks.

„Der Vater der unglücklichen Agnes hatte zwei Töchter. Was war das Schicksal der zweiten – des Kindes?“ fragte Herr Brownlow.

„Das Mädchen wurde, als der Vater an einem fremden Ort unter einem angenommenen Namen starb, von armen Leuten als eigenes Kind aufgezogen. Der Haß findet jedoch oft den Weg, wo die Liebe fehlgeht, denn meine Mutter entdeckte es nach Jahresfrist. Die Leute waren sehr arm und fingen an, wenigstens der Mann, ihrer Menschenfreundlichkeit müde zu werden. Sie ließ es deshalb da und machte ihnen ein kleines Geldgeschenk, womit sie jedoch keine großen Sprünge machen konnten. Meine Mutter versprach auch weitere Unterstützung, die zu schicken sie jedoch nicht im Sinne hatte. Sie hielt jedoch die Armut der Leute nicht für ausreichend, um das Kind recht unglücklich zu machen. Deshalb erzählte sie den Pflegeeltern noch die Geschichte von der ehrvergessenen Schwester und bat sie, auf das Kind recht acht zu haben. Es wäre doch ein uneheliches aus schlechter Familie, an dem man sicher wenig Gutes erleben würde. Die Umstände schienen dem recht zu geben, und die Leute glaubten alles. Das Mädchen wurde daher übel genug behandelt, so daß selbst wir damit zufrieden sein konnten. Da wollte es der Zufall, daß eine verwitwete Dame aus Chester das Kind sah und es aus Mitleid zu sich nahm. Der Teufel war gegen uns im Bunde, denn trotz aller unserer Bemühungen blieb es bei der Dame und war glücklich.“ Ich verlor es vor drei Jahren aus den Augen und sah es erst vor einigen Monaten wieder.“

„Sehen Sie es jetzt?“

„Ja – an Ihrem Arm.“

„Aber trotzdem meine Nichte –“ rief Frau Maylie, das beinahe ohnmächtig werdende Mädchen mit den Armen auffangend. „Du bleibst mein liebes Kind. Nicht für alle Schätze der Welt würde ich dich hergeben.“

„Sie sind die einzige Freundin, die ich hatte“, schluchzte Rosa an ihrem Busen, „die gütigste, die beste aller Freundinnen. Ich kann soviel auf einmal nicht ertragen, das Herz will mir brechen.“

„Du hast mehr getragen und bist trotzdem immer das gute, edle Mädchen geblieben, das Glück und Sonnenschein überall verbreitete. Komm zu dir, Liebling, sieh, wer es ist, der in deine Arme fliegen will, das arme Kind.“

„Ach, ich werde sie nie Tante nennen“, rief Oliver, seinen Arm um ihren Nacken schlingend, „Schwester, meine liebe Schwester. Meine Herzensrosa!“

Mögen die Tränen, die jetzt flossen, und die abgebrochenen Worte, die in den Umarmungen der beiden Waisen gewechselt wurden, geheiligt sein! – Sie blieben lange – lange allein. Ein leises Pochen an die Tür kündigte endlich an, daß jemand draußen sei. Oliver öffnete und ließ Harry Maylie ein, während er selbst hinausschlüpfte.

„Ich weiß alles“, sagte Harry, sich an der Seite des holden Mädchens niederlassend, „ich weiß alles, teuerste Rosa! Ich bin nicht aus Zufall hier, ich habe alles gestern schon gewußt. Errätst du wohl, daß ich komme, um dich an dein Versprechen zu erinnern?“

„Halt!“ sagte Rosa. „Du weißt wirklich alles?“

„Alles! Du gabst mir die Erlaubnis, innerhalb eines Jahres auf den Gegenstand unseres letzten Gesprächs wieder zurückzukommen.“

„Nicht um dich zu drängen, deinen Entschluß zu ändern, sondern nur, dich ihn wiederholen zu hören, wenn du noch derselben Ansicht wärest.“

„Dieselben Beweggründe, die mich damals bestimmten, werden mich auch jetzt leiten.“

„Die Aufklärungen heute abend –“ begann Harry.

„Diese Aufklärungen“, fiel ihm Rosa sanft ins Wort, „lassen mich dir gegenüber in derselben Lage, in der ich mich vorher befand.“

„Du verhärtest dein Herz gegen mich, Rosa!“

„Ach, Harry! Harry!“ sagte Rosa, in Tränen ausbrechend, „ich wollte, ich könnte es! Wieviele Schmerzen würde es mir ersparen!“

„Aber warum willst du dir selbst Schmerzen bereiten“, sagte Harry, ihre Hand ergreifend. „Denk doch an das, was du heute abend gehört hast, liebe Rosa!“

„Und was habe ich vernommen?“ schluchzte Rosa. „Daß das Gefühl, entehrt zu sein, so stark auf meinem Vater lastete, daß er sich von der Welt scheu zurückzog – wir haben genug über die Angelegenheit gesprochen, Harry, mehr als genug.“

„Noch nicht, noch nicht!“ entgegnete der junge Mann, das Mädchen, das aufstehen wollte, zurückhaltend. „Meine Hoffnungen, Wünsche, Aussichten – jeder Gedanke meines Lebens ist anders geworden, nur nicht meine Liebe zu dir. Ich biete dir jetzt keine hohe Stellung in der lärmenden Welt, sondern nur einen stillen Herd, ein Herz und einen Herd, ja, teuerste Rosa, nur diese beiden sind es, die ich dir anzubieten habe.“

„Was willst du damit sagen?“ stammelte das Mädchen.

„Nur, daß ich dich nach unserm letzten Abschied mit dem festen Entschluß verließ, alle eingebildeten Schranken zwischen mir und dir niederzureißen. Da meine Welt nicht die deinige sein konnte, so wollte ich deine zu der meinigen machen. Der Geburtsdünkel sollte nicht über dich die Nase rümpfen, deshalb habe ich ihm für immer Lebewohl gesagt. Die Gönner und die hochgestellten Verwandten blicken mich jetzt kaum an. Aber es gibt lächelnde Auen und rauschende Bäume in Englands schönster Provinz, und bei einer Dorfkirche – der meinigen, Rosa, der meinigen – steht ein kleines Landhaus, auf das du mich stolzer machen kannst, als mich alle Aussichten auf eine glänzende Laufbahn gemacht hätten. Das ist jetzt mein Rang und meine Stellung in der Welt – und ich lege sie dir hier zu Füßen.“

„Es ist eine harte Geduldsprobe, wenn man mit dem Essen auf ein Liebespaar warten soll“, meinte Herr Grimwig im Lehnstuhl aus einem kleinen Schlaf aufwachend. „Ich hatte ernstlich im Sinne“, sagte er zu den eintretenden Damen und Harry, „heute abend meinen Kopf aufzuessen, denn es kam mir nachgerade so vor, als sollte ich nichts anderes bekommen. übrigens nehme ich mir, mit Ihrer Erlaubnis die Freiheit, die Braut mit einem Kusse zu begrüßen.“

Herr Grimwig verlor keine Zeit, der erbetenen Freiheit die Tat folgen zu lassen, und da Beispiele ansteckend wirken, so taten es ihm der Doktor und Herr BrownIow nach. Gewisse Leute behaupten zwar, daß der Anfang in einem anstoßenden Zimmer von Harry Maylie gemacht wurde, aber die besten Autoritäten erklären das für eine Verleumdung, da an derartiges bei einem jungen Manne, der ein Geistlicher wäre, nicht zu denken sei.

Fagins letzte Stunden

Der Schwurgerichtssaal war brechend voll, aller Augen waren auf den Juden gerichtet. Dieser stand mit der Hand am Ohre, den Kopf vorgestreckt, in der Anklagebank, um kein Wort des Staatsanwalts zu verlieren, als dieser die Anklage dem Gerichtshof vortrug. Bisweilen sah Fagin scharf zu den Geschworenen hinüber, um den Eindruck auch nur des geringsten zu seinen Gunsten sprechenden Wortes zu erspähen, dann blickte er mit stummer Bitte auf seinen Verteidiger, doch etwas für ihn vorzubringen, wenn der Ankläger streng mit ihm ins Gericht ging. Seit dem Beginn der Verhandlung hatte er weder Hand noch Fuß bewegt, und als der Staatsanwalt jetzt zu sprechen auf, hörte, blieb er noch in derselben Stellung des angstvoll Horchenden, als höre er ihn immer noch reden.

Ein kleines Geräusch im Gerichtssaal brachte ihn wieder zu sich, und als er sich umsah, sah er die Geschworenen zu einer Beratung zusammentreten. Ein Blick in den Zuhörerraum zeigte ihm, daß sich die Leute auf die Zehenspitzen stellten, um sein Gesicht zu sehen. Aber auch nicht in einem Antlitz, nicht einmal unter den Weibern, konnte er die leiseste Spur von Mitleid oder von einem anderen Gefühl lesen als den Wunsch, ihn verurteilt zu sehen.

Wieder trat Totenstille ein – die Geschworenen hatten sich an den Richter gewandt. Horch! Sie baten um die Erlaubnis, sich ins Beratungszimmer zurückziehen zu dürfen.

Er sah ihnen forschend ins Gesicht, als sie abtraten. Wohin wohl die Stimmung der Mehrheit neige, aber er konnte nichts feststellen. Der Gerichtsdiener berührte ihn an der Schulter. Er folgte ihm mechanisch in den Hintergrund der Anklagebank und setzte sich auf einen Stuhl nieder.

Er blickte wieder in den Zuhörerraum. Einige der Leute aßen, während andere sich mit den Taschentüchern Kühlung zufächelten, denn es war im Saal drückend heiß. Da war ein junger Mann, der sein Gesicht auf einen Block zeichnete, er hätte wissen mögen, ob er ähnlich würde. Dann begann sich sein Geist mit dem Anzuge des Richters zu beschäftigen, was er wohl gekostet haben möchte. Auf der Richterbank hatte auch ein dicker alter Herr gesessen, der vor einer halben Stunde hinausgegangen und nun wieder zurückgekommen war. Fagin überlegte, ob dieser Mann wohl in der Zwischenzeit zu Mittag gespeist, und was er wohl gegessen hätte.

Er war allerdings die ganze Zeit über keinen Augenblick von dem drückenden Gefühle frei, daß das Grab zu seinen Füßen gähnte. Er fing nun an, die Stäbe des Gitters zu zählen, das die Anklagebank umgab. Er überlegte, wie es wohl zugegangen sein möchte, daß die Spitze des einen abgebrochen war, und ob man sie wohl wieder ersetzen würde. Dann dachte er an alle Schrecken des Galgens und Schafotts, bis ein Mann, der den Boden des Saales mit Wasser besprengte, ihn wieder von diesem Gedanken ablenkte.

Endlich wurde Schweigen geboten und alles blickte erwartungsvoll nach der Tür. Die Geschworenen kehrten zurück und kamen dicht an dem Angeklagten vorbei. Er konnte in ihren Gesichtern nichts lesen, sie waren wie von Stein. Es trat Totenstille ein – keine Bewegung – Stocken des Atems. – Schuldig!

Das Gebäude erbebte von Beifallsrufen, die sich verschiedenemal wiederholten. Dann hallte ein dumpfes, schweres, stets zunehmendes Getöse, einem zürnenden Donner gleich, von außen nach. Es war das Freudengeschrei des Volkes draußen, womit es die Nachricht begrüßte, daß der Jude am Montag sterben werde.

Nachdem sich der Lärm gelegt hatte, wurde Fagin gefragt, ob er etwas vorzubringen hätte, was der Vollstreckung des Todesurteils Einhalt gebieten könne. Er hatte seine horchende Stellung wieder eingenommen und sah den Richter gespannt an. Dieser mußte die Frage wiederholen, ehe sie der Jude zu verstehen schien. Fagin murmelte bloß, er wäre ein alter Mann – ein alter Mann, wobei sich seine Stimme in ein leises Flüstern verlor, bis sie schließlich ganz erstarb.

Der Richter setzte die schwarze Mütze auf, während der Gefangene noch immer in der gleichen Haltung dastand. Der Urteilsspruch war schauerlich anzuhören, aber der Verurteilte stand wie eine Bildsäule da, ohne daß ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Als ihn der Gerichtsdiener beim Arm nahm und ihm winkte, sah er ihn zuerst stumpfsinnig an, gehorchte aber dann.

Man führte ihn durch einen gepflasterten Gang in das Innere des Gefängnisgebäudes. Hier wurde er untersucht, ob er nicht vielleicht Mittel bei sich träge, dem Gesetze vorzugreifen. Dann brachte man ihn in eine der für die zum Tode Verurteilten bestimmten Zellen und ließ ihn

allein.

Er setzte sich der Tür gegenüber auf eine steinerne Bank, die als Stuhl und Bett dienen mußte, heftete seine blutunterlaufenen Augen auf den Boden und wollte seine Gedanken sammeln. Nach einer Weile begann er sich einiger zusammenhängender Bruchstücke von dem, was der Richter gesprochen, zu entsinnen. Er brachte sie in die richtige Ordnung und suchte das Fehlende zu ergänzen; in kurzer Zeit stand das Ganze fast so, wie er es angehört hatte, vor ihm. Aufgehängt zu werden am Halse, bis er tot wäre – lautete der Schluß. Aufgehängt zu werden am Halse, bis er tot wäre.

Als es immer dunkler und dunkler wurde, begann er sich aller seiner Bekannten, die am Galgen geendet -einige sogar durch seine Schuld –, zu entsinnen. Er hatte manche von ihnen sterben sehen und ihrer gespottet, weil sie mit Gebeten auf den Lippen hinübergingen. Wie plötzlich waren sie aus gesunden, kräftigen Männern in baumelnde, bekleidete Fleischklumpen verwandelt worden!

Einige von ihnen hatten vielleicht dieselbe Zelle bewohnt – hatten auf derselben Stelle gesessen. Es war sehr dunkel – warum brachte man kein Licht? Die Zelle war vor vielen Jahren erbaut – Dutzende von Verbrechern mußten hier ihre letzten Stunden zugebracht haben! Es war ihm, als sitze er in einem mit Leichen angefüllten Gewölbe – der Strick – die gefesselten Arme – die Armesünderkappe – die Gesichter, die er selbst unter diesem gräßlichen Schleier erkannte – Licht! Licht!

Endlich erschienen zwei Männer, von denen der eine ein Licht brachte, das er in einen eisernen, in der Mauer befindlichen Leuchter steckte, während der andere eine Matratze hereinschleppte, um die Nacht darauf zu schlafen; denn der Gefangene sollte fortan nicht mehr allein gelassen werden.

Die Nacht kam, die finstere, schauerliche, schweigende Nacht. Andere Wachende freuen sich, wenn sie die Uhren von den Kirchtürmen schlagen hören, verkünden sie doch den kommenden Tag und neues Leben. Dem Juden brachten sie Verzweiflung. jeder Glockenschlag rief ihm im hohlen Tone zu – Tod!

Der Tag entschwand – Tag? Es war kein Tag! Er war so schnell dahin, als er gekommen war. Und abermals brach die Nacht herein – eine Nacht, so lang und doch so kurz. Lang in ihrem schrecklichen Schweigen, und kurz in ihren flüchtigen Stunden. Das eine Mal raste er und lästerte Gott – dann heulte er wieder und raufte sich die Haare. Rabbiner waren gekommen, um mit ihm zu beten, er hatte sie jedoch mit Flüchen fortgejagt. Sie erneuerten ihre gutgemeinten Versuche, aber er schlug nach ihnen.

Sonnabend nacht – er hatte nur noch eine Nacht zu leben. Unter solchen Gedanken graute der Morgen

Sonntag!

Erst am Abend dieses letzten schrecklichen Tages bemächtigte sich seiner ein zu Boden drückendes Gefühl seiner hoffnungslosen Lage. Er sprang alle Augenblicke auf und raste mit keuchendem Atem auf und nieder. Dann kauerte er sich ermüdet auf sein Steinlager nieder und gedachte der Vergangenheit. Er war am Tage seiner Verhaftung durch die Steinwürfe des Volkes verwundet worden und hatte daher den Kopf mit einem Tuche verbunden. Sein rotes Haar hing über ein blutleeres Gesicht, in seinen Augen brannte ein schreckliches Feuer. Acht -neun – zehn. Wenn es nicht Absicht war, ihn so zu schrecken, wenn die Stunden wirklich so eilten, wo mußte er sein, wenn sie abermals schlugen? Elf! Um acht Uhr sollte er der einzige Leidtragende bei seinem eigenen Leichenbegängnis sein. Wenn es aber wieder elf Uhr schlug – –

Vom frühen Abend bis um Mitternacht erschienen unaufhörlich Leute am Gefängnistor und fragten mit besorgtem Gesicht, ob ein Aufschub der Hinrichtung verfügt sei. Auf die verneinende Antwort des Pförtners teilten sie die willkommene Botschaft den auf der Straße Wartenden mit. Diese zeigten einander die Tür, aus der der Verurteilte kommen mußte, und die Stelle, wo der Galgen errichtet werden würde. Nach und nach verliefen sich die Massen und um Mitternacht lag der Platz im Dunkeln.

Um diese Zeit erschien Herr Brownlow mit Oliver am Gefängnistor und wies eine vom Sheriff ausgestellte Erlaubniskarte vor, den Gefangenen besuchen zu dürfen. Sie wurden unverzüglich eingelassen.

„Will der junge Herr da auch mit?“ fragte der Schließer. „Es ist kein Anblick für Kinder.“

„Allerdings nicht, lieber Freund, aber was ich mit dein Verbrecher abzumachen habe, hat Bezug auf den Knaben. Er hat ihn als erfolgreichen Spitzbuben gekannt, und ich halte es für ganz gut, wenn er ihn auch jetzt sieht, mag es ihm immerhin peinlich sein.“

Diese Worte wurden so leise gesprochen, daß sie Oliver nicht hören konnte. Der Schließer berührte seinen Hut und blickte neugierig nach dem jungen hin, dann öffnete er eine Tür und führte sie durch dunkle Gänge nach der Armensünderzelle.

Der Jude saß auf seiner Steinbank und wiegte sich mit einem Gesicht, das mehr dem eines eingesperrten Tieres als dem eines Menschen ähnlich sah, hin und her. Sein Geist beschäftigte sich augenscheinlich mit seinem früheren Leben, denn er murmelte, ohne sich durch den Eintritt der beiden stören zu lassen, unaufhörlich vor sich hin.

„Guter Junge, Karl – brav gemacht! Oliver auch, ha! ha! ha! Oliver auch – ganz Herr jetzt – bringt ihn zu Bett! Ins Bett mit ihm! – Hört denn keiner von euch? – Er – er – ist gewissermaßen an allem schuld. Um des Geldes willen lohnt es sich, ihn dazu aufzuziehen – Bolters Hals, Bill. – Laßt doch das Mädchen laufen Schneid in Bolters Hals, so tief du kannst. Hau ihm den Kopf ab!“

„Fagin!“ sagte der Schließer.

„Hier!“ rief der Jude, plötzlich in die horchende Stellung verfallend, die er vor Gericht eingenommen hatte. „Ein alter Mann, Euer Gnaden. Ein sehr alter Mann.“

„Hier ist jemand“, sagte der Schließer, „der Euch etwas fragen will. Fagin, Fagin, seid Ihr ein Mann?“

„Werd’s nicht mehr lange sein!“ schrie der Jude mit schreckenerregender Stimme. „Schlagt alle tot. Was haben sie für ein Recht, mich abzumurksen?“

Jetzt erst bemerkte er Oliver und Herrn Brownlow und fragte, nach dem hintersten Winkel seiner Bank zurückweichend, was sie hier wollten.

„Ihr seid im Besitz einiger Papiere“, sagte Herr Brownlow nähertretend, „die Euch ein gewisser Monks zur Aufbewahrung übergeben hat.“

„Alles gelogen“, schrie Fagin. „Ich habe keine – keine.“

„Um Gotteswillen, sprecht nicht so am Rande des Grabes, sondern sagt, wo sie sind! Ihr wißt Sikes ist tot, und Monks hat gestanden. Es ist für Euch keine Hoffnung mehr vorhanden, daraus einen Gewinn zu erzielen. Also, wo sind die Papiere?“

„Oliver“, rief der Jude, ihm winkend. „Komm her, ich will es dir sagen.“

Ohne Furcht ging der Junge zu ihm und Fagin flüsterte ihm, ihn an sich ziehend, ins Ohr:

„Sie sind in einem Leinenbeutel in einem Loch des Schornsteins, oben in der Vorderstube. Ich möchte gern mit dir noch sprechen, Liebling.“

„Ja, ja“, entgegnete Oliver. „Lassen Sie mich beten und beten Sie mit mir. Und wenn es nur ein Gebet ist. Ich bleibe dann bei Ihnen bis zum Morgen.“

„Draußen, draußen“, sagte Fagin und drängte den Jungen vor sich her nach der Tür. „sage, ich schlafe, dir wird man glauben. Du kannst mich retten. Los! Jetzt!“

„Lieber Gott, vergib diesem Unglücklichen“, schrie Oliver, in Tränen ausbrechend.

„So ist’s recht“, sagte der Jude. „Das wird uns helfen! Diese Tür zuerst. Nur schnell! Komm!“

„Haben Sie ihn noch etwas zu fragen?“ erkundigte sich der Schließer bei Herrn Brownlow. Dieser verneinte. Man öffnete die Zellentür, und die Gefangenenwächter befreiten Oliver aus Fagins Griff. Er kämpfte mit einer Kraft, die ihm die Verzweiflung verlieh und stieß dabei schreckliche Jammertöne aus.

Oliver wurde bei diesem schrecklichen Auftritt fast ohnmächtig und es dauerte eine Stunde, ehe er sich so weit erholt hatte, daß sie den Heimweg antreten konnten. Der Tag brach an, und es wimmelte auf dem Platz bereits von Menschen. Die Fenster waren von Leuten besetzt, die sich mit Rauchen und Kartenspielen die Zeit vertrieben. Die Menge auf der Straße drängte sich, scherzte und lachte. Alles atmete Heiterkeit und Leben, mit Ausnahme eines schwarzen Gerüstes in der Mitte des Platzes. Der Querbalken und der Strick waren grauenvolle Wahrzeichen des Todes in häßlichster Gestalt.

Es waren noch keine drei Monate ins Land gegangen, als Rosa Flemmings und Harry Maylies Ehebund in der Dorfkirche geschlossen wurde, die fortan der Schauplatz der Tätigkeit des jungen Geistlichen sein sollte. An demselben Tage zogen sie in ihr neues Heim. Frau Maylie die sich für den Rest ihrer Tage an dem Glücke ihrer Kinder erfreuen wollte, schlug ihren Wohnsitz bei dem jungen Paare auf.

Monks und seine Mutter hatten den größten Teil des Leefordschen Vermögens verwirtschaftet. Es blieben noch für ihn und Oliver je dreitausend Pfund übrig. Dem letzten Willen des Vaters zufolge hätte Oliver Anspruch auf das Ganze gehabt. Herr Brownlow aber hatte diese Teilung vorgeschlagen, um den älteren Sohn in den Stand zu setzen, ein neues Leben zu beginnen. Und Oliver hatte gern zugestimmt. Monks behielt seinen angenommenen Namen bei und wanderte nach Amerika aus. Hier brachte er in kurzer Zeit sein Geld durch und beging verschiedene Betrügereien, die ihn ins Gefängnis führten, in dem er auch bald starb. Ebenso fern von der Heimat starben die noch übriggebliebenen Mitglieder der Bande seines gehenkten Freundes Fagin.

Herr BrownIow nahm Oliver an Kindesstatt an und bezog mit ihm und Frau Bedwin eine Wohnung, die nur zehn Minuten vom Maylieschen Pfarrhaus entfernt lag. Er erfüllte damit einen Herzenswunsch des Jungen.

Bald nach der Vermählung des jungen Paares kehrte der würdige Doktor nach Chertsey zurück. Er fühlte sich aber dort nicht mehr glücklich, da seine alten Freunde doch alle fortgezogen waren. Er übertrug daher seine Praxis seinem Assistenten und kaufte sich ganz in der Nähe des Dorfes, wo Harry Maylie Pfarrer war, ebenfalls ein kleines Häuschen. Er legte sich nun auf Ackerbau und Viehzucht und wurde bald von den Nachbarn als Autorität darin anerkannt. Mit Grimwig hatte er eine herzliche Freundschaft geschlossen. Dieser besuchte daher den Doktor häufig. An Sonntagen verfehlte Herr Grimwig nie, dem jungen Geistlichen seine Predigt ins Gesicht zu kritisieren, versicherte jedoch Herrn Losberne nachher im strengsten Vertrauen, daß sie ausgezeichnet gewesen sei; er halte es jedoch für richtig, es nicht zu sagen. Es machte ihm auch immer Vergnügen, Herrn Brownlow mit seiner alten Prophezeiung über Oliver zu necken und ihn an den Abend zu erinnern, an dem sie, die Uhr mitten zwischen sich, seine Rückkehr erwarteten. Herr Grimwig meinte dann, daß er in der Hauptsache doch recht hatte, denn Oliver sei eben nicht zurückgekommen. Dann lacht er vergnügt und ist in bester Stimmung.

Herr Noah Claypole wurde begnadigt, da er gegen den Juden als Kronzeuge aufgetreten war. Das Diebesgewerbe hielt er nach seinen Erfahrungen nicht für ganz sicher und wandte sich daher einem anderen Berufe zu, nämlich dem eines Denunzianten. Er geht alle Sonntage während der Kirchzeit mit Charlotte, fein angezogen, spazieren. Vor der Tür eines Wirtshauses fällt die Dame in Ohnmacht; um sie wieder zu sich zu bringen, kauft der Herr für einige Pence Kognak. Am anderen Tage erstattet er Anzeige gegen den menschenfreundlichen Gastwirt wegen Sabbatschändung und streicht die halbe Strafe ein. Manchmal wird auch Herr Claypole ohnmächtig, aber das Resultat ist dasselbe.

Herr und Frau Bumble verloren ihre Stellen, versanken allmählich in das größte Elend und kamen zuletzt als Arme in dieselbe Anstalt, in der sie einst geherrscht hatten.

Was Herrn Giles und Brittles anbelangt, so versehen sie noch immer ihre alten Posten, nur ist ersterer kahl und der junge Brittles grau geworden.

Herr Karl Bates war durch das Entsetzen, das ihm Sikes Verbrechen eingeflößt hatte, auf den Gedanken gekommen, daß ein anständiges Leben am Ende doch das beste wäre. Er wandte deshalb dem Schauplatz seiner Vergangenheit den Rücken und nahm sich vor, einen ehrlichen Beruf zu ergreifen. Es kam ihm zwar anfangs hart an, aber nachdem er bei einem Bauern und einem Fuhrmann seine Lehrjahre bestanden, hat er sich auf den Viehhandel gelegt und ist einer der gewandtesten und lustigsten jungen Viehhändler von ganz Northamptonshire geworden.

An dem Altar der alten Dorfkirche befindet sich eine weiße Marmortafel, auf der nur das einzige Wort – Agnes – eingegraben ist. Sie bezeichnet keinen Sarg, der darunter liegt. Doch wenn die Geister der Toten auf die Erde zurückkehren, um Stellen zu besuchen, die durch die Liebe geheiligt sind – die über das Grab hinaus, reichende Liebe derjenigen, die sie im Leben kannten – so glaube ich, daß der Geist der armen Dulderin oft diese feierliche Stätte umschwebt, trotzdem die Stätte in einer Kirche ist und sie selbst schwach war und sündig.