Die alte Frau fing an, in ihrer Tasche nach der Brille zu suchen, aber Oliver vermochte diese neue Geduldsprobe nicht zu bestehen, sondern eilte, dem Drange seines Herzens folgend, in ihre Arme.

„Gott sei mir gnädig“, rief die alte Frau, ihn zärtlich umarmend, „es ist mein lieber, guter Junge!“

„Meine liebe alte Pflegemutter!“ rief Oliver.

„Ich sagte ja immer, daß er wiederkommen würde, und wie gut er aussieht und so fein angezogen. Wo bist du denn diese ganze lange Zeit gewesen? Ach, es ist noch dasselbe sanfte Gesicht, nur nicht so bleich – dasselbe sanfte Auge, nur nicht so traurig. Oh, ich weiß alles noch ganz genau.“

So redete sie endlos weiter und lachte und weinte zu gleicher Zeit, indem sie Oliver mal in Armlänge von sich hielt, um zu sehen, wie groß er geworden sei, dann ihn wieder an sich zog und ihm zärtlich die Haare streichelte. Herr Brownlow überließ die beiden ihren Gefühlen und führte Rosa in ein anderes Zimmer, woselbst ihm diese zu seiner größten Überraschung ihre Unterredung mit Nancy erzählte. Rosa setzte ihm auch ihre Gründe auseinander, warum sie sich nicht gleich Herrn Losberne, ihrem Freunde, anvertraut hätte, was der alte Herr billigte. Er erklärte sich bereit, mit dem würdigen Doktor die Sache angelegentlich zu besprechen. Um dies bald ausführen zu können, wurde abgemacht, Herr Brownlow solle abends acht Uhr bei ihnen vorsprechen, damit man Frau Maylie inzwischen mit allen Vorgängen bekannt machen könne. Nachdem man diese Verabredungen getroffen hatte, kehrten Rosa und Oliver nach Hause zurück.

Rosa hatte das Maß von des guten Doktors Zorn keineswegs überschätzt, denn kaum waren ihm Nancys Mitteilungen erzählt worden, als er sich in eine Flut von Drohungen und Verwünschungen erging. Er beteuerte, er wolle die Dirne zum Opfer des vereinten Scharfsinns der Herren Blathers und Duff machen, und setzte sich auch wirklich den Hut auf, um sich ungesäumt des Beistandes dieser Ehrenmänner zu versichern. Er würde auch höchstwahrscheinlich, ohne die Folgen zu bedenken, im ersten Eifer seinen Entschluß ausgeführt haben, wäre er nicht zurückgehalten worden durch eine entsprechende Heftigkeit des Herrn Brownlow, der selbst ziemlich temperamentvoll war, aber auch durch Gründe und Gegenvorstellungen, denen sich Losberne nicht verschließen konnte.

„Ja, zum Donnerwetter, was sollen wir denn tun?“ tobte der hitzige Doktor, als sie wieder zu den beiden Damen zurückgekehrt waren. „Wir sollen wohl diesem Spitzbubengesindel, Männern sowohl als Weibern, eine Dankadresse überreichen und sie bitten, hundert Pfund oder mehr anzunehmen als ein bescheidenes Zeichen unserer Achtung und unserer Erkenntlichkeit für die Güte und Liebe, die sie Oliver erwiesen haben?“

„Das gerade nicht“, sagte Herr Brownlow lachend. „Aber wir müssen sachte und mit großer Behutsamkeit vorgehen!“

„Sachte und behutsam“, schrie der Doktor. „Ich möchte sie alle samt und sonders zum – -„

„Es ist gleichgültig, wohin Sie sie schicken möchten“, fiel Herr Brownlow ein. „Ich bitte Sie nur, dabei zu bedenken, ob wir dadurch auch zum Ziel kommen!“

„Zu welchem Ziel?“ fragte der Doktor.

„Einfach zu dem, herauszukriegen, wer Olivers Eltern gewesen sind, und ihm zu seinem Erbe zu verhelfen, das ihm so schändlich geraubt wurde.“

„Ach“, sagte Herr Losberne, sich mit dem Taschentuche Kühlung fächelnd, Aas hatte ich ganz vergessen!“

„Angenommen“, fuhr Herr Brownlow fort, „von dem Mädchen kann ja ohnehin keine Rede sein, angenommen, es wäre möglich, alle andern Halunken dem Gerichte zu überliefern, was könnte wohl Gutes dabei herauskommen?“

„Daß aller Wahrscheinlichkeit einige davon gehenkt und die übrigen ins Zuchthaus kommen würden“, erwiderte der Doktor.

„Schön“, sagte Herr Brovrnlow lächelnd. „Dahin wird es mit ihnen sowieso kommen, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Greifen wir ihnen vor, so begehen wir meines Erachtens einen Don-Quichotte-Streich, der in geradem Widerspruch zu unserm oder doch Olivers Interesse steht, was so ziemlich ein und dasselbe ist.“

„Wieso?“ fragte der Doktor.

„Es ist doch klar, daß es schwierig genug sein wird, diesem Geheimnis auf den Grund zu kommen, wenn wir diesen Monks nicht zu einem Geständnis bringen können. Das ist nur durch eine Kriegslist möglich, indem wir ihn abfangen, wenn er nicht von seinen Kumpanen umgeben ist. Denn, lassen wir ihn auch festnehmen, was haben wir für Beweise gegen ihn? Soviel wir wissen oder aus den Tatsachen schließen können, ist er nicht einmal bei den Diebereien der Bande beteiligt. Wenn er auch nicht glatt freigesprochen werden würde, so könnte man ihn höchstens nur als Landstreicher für kurze Zeit einsperren, und nachher wäre aus ihm ebensowenig herauszubringen, als wenn er taubstumm oder blödsinnig wäre!“

„Ich muß nochmals die Frage stellen“, fiel der Doktor heftig ein, „Ob Sie es wohl für vernünftig halten, daß man sich durch das dieser Dirne gegebene Versprechen binden läßt? Es ist allerdings ein Versprechen, in der besten und wohlwollendsten Absicht gegeben, aber in Wirklicho keit –“

„Ich bitte, lassen Sie sich auf keine Erörterung dieses Punktes ein“, sagte Herr Brownlow zu Rosa, die eben reden wollte. „Ihr Versprechen soll gehalten werden. Ich glaube, daß wir dadurch keinen Nachteil haben. Aber bevor wir uns zu einem wirksamen Schritt entschließen können, ist es nötig, daß wir mit dem Mädchen Rücksprache nehmen und es fragen, ob es uns den Monks zeigen will, wenn wir ihm versichern, daß er nur mit uns und nicht mit dem Gericht zu tun haben soll. Will oder kann es das nicht, so müssen wir von ihm eine Beschreibung seiner Person und seines Aufenthaltsortes herauszubekommen versuchen, damit wir den Burschen fassen können. Man kann es erst Sonntag wieder sprechen, und heute ist Dienstag. Ich rate daher, vorderhand uns ganz ruhig zu verhalten und auch Oliver von der Angelegenheit nichts wissen zu lassen.“

Obgleich Herr Losberne zu dem Vorschlag, fünf volle Tage zu warten, ein scheeles Gesicht machte, so mußte er doch zugeben, augenblicklich keinen besseren Rat zu wissen. Rosa und Frau Maylie waren ganz auf seiten des Herrn Brownlow, und so fand dessen Vorschlag einstimmige Billigung.

„Es wäre mir lieb“, sagte letzterer, „meinen Freund Grimwig ins Vertrauen zu ziehen. Er ist zwar ein schnurriger Kauz, besitzt aber einen scharfen Verstand und könnte uns von erheblichem Nutzen sein. Er war Rechtsanwalt und gab seine Laufbahn aus Unmut darüber auf, daß ihm in zwanzig Jahren nur zwei Klagesachen übertragen worden waren. Sie mögen aber selbst urteilen, ob dies eine Empfehlung ist oder nicht.“

„Ich habe nichts dagegen, wenn Sie Ihren Freund zuziehen wollen, vorausgesetzt, daß ich mich auch mit dem meinigen beraten darf“, versetzte der Doktor.

„Darüber muß abgestimmt werden“, entgegnete Herr Brownlow. „Wer ist es?“

„Der Sohn dieser Dame und Fräulein Rosas – langjähriger Freund“, antwortete der Doktor mit einer Kopfwendung zu den beiden Damen.

Rosa wurde feuerrot im Gesicht, aber sie machte keine Einwendungen (weil sie wohl erkannte, sie würde in einer hoffnungslosen Minderheit bleiben), und so wurden Harry Maylie und Herr Grimwig in den Ausschuß aufgenommen.

„Wir bleiben natürlich so lange in der Stadt“, sagte Frau Maylie, „als noch die geringste Aussicht vorhanden ist, die Nachforschungen mit Erfolg weiter zu betreiben. Ich werde bei einer Sache, die uns alle so nahegeht, weder Mühe noch Kosten sparen und gern hierbleiben, selbst, wenn es ein Jahr dauern sollte, um sie zu einem guten Ende zu bringen.“

„Gut“, Versetzte Herr Brownlow, „und da ich in Ihren Gesichtern lese, daß Sie gern wissen möchten, wie es kam, damals nicht dagewesen zu sein, um Olivers Angaben zu bestätigen, so bitte ich Sie, mir deshalb keine Fragen vorzulegen. Zur gegebenen Zeit werde ich durch Erzählung meiner eigenen Geschichte alle heute unausgesprochenen Fragen beantworten. Sie dürfen überzeugt sein, daß ich für meine Forderung Gründe habe. Ich will nämlich keine Hoffnungen erwecken, die vielleicht nie in Erfüllung gehen und nur die zahlreichen Schwierigkeiten vermehren würden. – Doch man hat zum Abendessen gerufen, und der arme Oliver, welcher ganz allein im nächsten Zimmer sitzt, denkt vielleicht, wir sind seiner überdrüssig geworden und hätten uns hier verschworen, ihn wieder in die Welt hinauszustoßen.

Mit diesen Worten bot der alte Herr Frau Maylie den Arm und führte sie in das Speisezimmer, während Herr Losberne Rosa geleitete. Die Beratung hatte damit ein Ende.

Ein alter Bekannter Olivers, der entschiedene Spuren von Genie blicken läßt, wird eine öffentliche Persönlichkeit in der Hauptstadt

In derselben Nacht, in der Nancy ihre Botschaft bei Fräulein Rosa Maylie ausgerichtet hatte, wanderten auf der großen, nach dem Norden führenden Straße zwei Personen nach London, denen unsere Erzählung einige Aufmerksamkeit schenken muß.

Die eine davon gehörte dem männlichen Geschlechte an und war eine jener knöchernen Gestalten mit langen Gliedern und schlotternden Knien, deren Alter sich nur schwer erraten läßt. Die andere – ein Frauenzimmer – war jung, aber von starkem und kräftigem Bau, was ihr allerdings auch zustatten kam, da sie die Last eines mächtigen Bündels auf dem Rücken zu schleppen hatte. Ihr Begleiter war nicht sonderlich mit Gepäck beschwert, denn er trug weiter nichts als ein zusammengeknotetes Taschentuch, mit ein paar kümmerlichen Habseligkeiten drin, an einem Stock über den Schultern.

So zogen sie den staubigen Weg dahin, bis sie an das Tor von Highgate kamen. Hier blieb der schnellere Wanderer stehen und rief seiner Gefährtin ungeduldig zu:

„So komm doch! Du bist so langsam, Charlotte, kaum zum Aushalten.“

„Du hast gut reden, trag nur mal solche schwere Last“, sagte das Frauenzimmer atemlos.

„Schwer? Ach, rede doch nicht – wozu habe ich dich denn?“ entgegnete er und warf sein kleines Bündel auf die andere Schulter. „Nun willst du schon wieder ausruhen. Wenn man bei dir nicht die Geduld verliert, dann weiß ich nicht, wo man sie verlieren sollte.“

„Ist es noch weit?“ fragte sie und setzte sich auf eine Bank, ganz in Schweiß gebadet.

„Noch weit? Wir sind so gut wie da!“ sagte der langbeinige Bursche und zeigte mit der Hand geradeaus. „Siehst du jene Lichter? Das ist London.“

„Die sind wenigstens noch zwei gute Meilen entfernt“, sagte das Weib verzweiflungsvoll.

„Was macht es, ob es zwei oder zwanzig sind“, erwiderte Noah Claypole (denn dieser war es). „Steh jetzt auf und komm, oder ich will dir Beine machen! Paß auf, dann geht’s schneller!“

Auf diese Drohung hin erhob sich Charlotte ohne weitere Bemerkung und ging an seiner Seite weiter.

„Wo gedenkst du zu übernachten, Noah?“ fragte sie, nachdem sie wohl eine halbe Meile gegangen waren.

„Was weiß ich!“ sagte dieser mürrisch.

„Hoffentlich in der Nähe?“

„Nein, nicht in der Nähe. Da ist gar nicht dran zu denken.“

„Warum nicht?“

„Wenn ich einmal sage, ich will das nicht tun, so muß dir das genügen, und du hast nicht nach den Gründen zu fragen“, entgegnete Herr Claypole würdevoll.

„Brauchst nicht gleich so böse zu sein“, sagte Charlotte.

„So wäre es richtig, irn ersten besten Gasthaus vor der Stadt einzukehren, damit Sowerberry, falls er uns nachsetzt, uns sofort findet und mit Handschellen an den Armen gleich wieder mit nach Hause nimmt“, meinte Noah ironisch. „Nein, ich werde im entlegensten Gasthaus der entlegensten Gasse Rast machen. Du kannst deinem Herrgott danken, daß du mich zum Führer hast, denn wenn wir anfangs nicht absichtlich einen falschen Weg gegangen wären, so säßest du schon seit acht Tagen hinter Schloß und Riegel. Und es wäre dir deiner Dummheit wegen nur recht geschehen!“

„Ich weiß, daß ich nicht so pfiffig bin wie du, aber wälze nur nicht alle Schuld auf mich. Denn du würdest ebensogut eingesperrt werden, wenn man mich festsetzte.“

„Wer hat das Geld aus der Schublade genommen, du oder ich?“ fragte Herr Claypole.

„Ich nahm es für dich, lieber Noah“, erwiderte sie.

„Habe ich es etwa behalten?“

„Nein, du vertrautest es mir an und ließest es mich tragen, Liebling“, damit klopfte sie ihm unter das Kinn und legte ihren Arm in den seinigen.

Es verhielt sich wirklich so. Er hatte ihr das Geld aber nur gelassen, damit es bei ihr gefunden würde, falls man sie verfolgte. Er konnte dann seine völlige Unschuld an dem Diebstahl beteuern und der Verhaftung entgehen. Natürlich ließ er sich bei dem jetzigen Anlaß in keine Erörterung seiner Beweggründe ein, und so wanderten sie in schönstem Einvernehmen weiter.

Durch allerhand schmutzige Straßen schleppte der Jüngling nun Charlotte und blieb endlich vor dem elendesten Gasthaus stehen, das ihm bis jetzt zu Gesicht gekommen war. Hier beschloß er zu übernachten.

„Gib mir jetzt das Bündel“, sagte Noah, „und rede nur, wenn du gefragt wirst. Wie heißt das Wirtshaus? D-r-e-i, drei was?“

„Krüppel“, las Charlotte.

„Drei Krüppel“, wiederholte Noah. „Kein übler Name! – Bleib immer dicht bei mir, und nun los!“ Nach diesen Worten stieß er die knarrende Tür auf, und sie traten ein.

.In der Gaststube war nur ein Judenjüngling, der mit beiden Ellbogen sich auf den Schanktisch stützte und in einer schmutzigen Zeitung las. Er starrte Noah an und dieser ihn.

„Sind dies die ‚Drei Krüppel‘?“ fragte Noah.

„Das ist der Name des Hauses“, erwiderte der Jude, er sprach etwas durch die Nase.

„Ein Herr, den wir draußen trafen, hat uns hierher empfohlen. Wir möchten hier übernachten.“

„Ich weiß nicht, ob es gehen wird, aber ich will fragen“, sagte Barney, denn dieser war der dienstbare Geist.

„Geben Sie uns inzwischen etwas kaltes Fleisch und ’nen Schluck Bier.“

Barney führte sie in ein kleines Hinterzimmer und brachte das Verlangte. Nach ein paar Minuten kam er mit der Nachricht zurück, daß sie über Nacht bleiben könnten. Dann ließ er das Pärchen allein. – Das Zimmer konnte von der Gaststube aus durch ein kleines Fenster, das sich unter der Stubendecke befand, beobachtet werden, auch konnte man gut hören, was in ihm gesprochen wurde. Als Barney wieder an den Schanktisch zurückkehrte, trat Fagin ein, um nach einem seiner jungen Freunde zu fragen.

„Pst!“ machte Barney, „es sind Fremde im kleinem Zimmer.“

„Fremde?“ wiederholte der Alte leise.

„Ja, komisches Volk“, meinte Barney. „Sie kommen aus der Provinz, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn sie nicht etwas für Euch wären.“

Fagin hörte diese Mitteilung mit großem Interesse und stieg sofort auf einen Stuhl, um das Paar durchs Fenster zu beobachten. Er sah, wie Herr Claypole dem Fleisch und Bier tüchtig zusprach und an Charlotte nur homöopathische Gaben verteilte.

„Aha!“ flüsterte Fagin, sich zu Bamey wendend. „Die Miene des Jünglings gefällt mir. Den können wir gebrauchen, er versteht es, mit dem Mädel richtig umzugehen. Sei jetzt mal mäuschenstille, Freundchen, damit ich hören kann, was sie sprechen.“ Er lauschte und hörte Noah sagen:

„Ich denke von jetzt ab den Herrn zu spielen und will nichts mehr von alten Särgen wissen. Und du, Charlotte, kannst eine Dame werden, wenn du Lust hast.“

„Ich möchte wohl, mein Lieber“, antwortete das Mädchen, „aber es gibt nicht alle Tage Schubladen zu leeren.“

„Hol der Teufel die Schubladen!“ entgegnete Herr Claypole. „Es gibt noch andere Dinge, die geleert werden können.“

„Und das wäre?“

„Taschen, Häuser, Postwagen, Banken“, meinte Noah, den das Bier mutig machte.

„Aber das kannst du doch nicht alles allein machen, Liebling“, sagte Charlotte.

„Ich werde mich nach Kameraden umsehen, die es können. Man wird uns auch brauchen können. Du selbst bist fünfzig Weiber wert, denn ich habe nie ein gerisseneres, spitzbübischeres Geschöpf gesehen als dich, sobald ich dich nur gewähren ließ.“

„Mein Gott, wie du schmeicheln kannst“, rief das Mädchen und drückte einen Kuß auf seine Lippen.

„Na, ’s ist schon gut! Sei nicht zu zärtlich, wenn ich Grund habe, mit dir böse zu sein“, sagte Noah, sehr würdig. „Ich möchte der Hauptmann einer Bande sein, ich würde gern die Zwanzigpfundnote, die du hast, darum geben – besonders, da wir doch nicht recht wissen, wie wir sie loswerden sollen.“

Nachdem Herr Claypole seinen Gedanken in dieser Weise Form gegeben hatte, öffnete sich plötzlich die Tür, und Herr Fagin trat ins Zimmer. Er hatte seine freundlichste Miene aufgesteckt, näherte sich mit einer tiefen Verbeugung und setzte sich an einen Tisch ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nieder. Den grinsenden Barney beauftragte er, ihm etwas zu trinken zu bringen.

„Ein herrlicher Abend, aber etwas zu kalt für diese Jahreszeit“, sagte Fagin, sich die Hände reibend. „Vom Lande, wie ich sehe?“

„Woran sehen Sie das?“ fragte Noah.

„Wir haben in London nicht so viel Staub wie Sie mitschleppen“, erwiderte der Jude und zeigte auf ihre Schuhe.

„Sie sind ein schlauer Kerl“, sagte Noah. „Ha! ha! hör nur, was er sagt, Charlotte.“

„Ja, Freundchen, hier in London muß man gerissen sein“, meinte der Jude; er sagte das in einem vertraulichen Flüstertone und schlug mit seinem rechten Zeigefinger an die Nase. Noah versuchte die Bewegung nachzuahmen, es gelang ihm nur unvollständig, da sein Gesichtserker dazu nicht groß genug war. Fagin schien diesen Versuch als eine Zustimmung seiner Ansicht zu deuten und bot ihm in der liebenswürdigsten Weise sein Glas mit Schnaps an, das Barney gerade brachte.

„Das ist ein guter Stoff“, bemerkte Herr Claypole und schnalzte wohlbehaglich mit den Lippen.

„Aber teuer“, sagte Fagin, „wer ihn immer trinken will – muß immer etwas leeren. Eine Schublade, eine Tasche, ein Haus, eine Postkutsche oder eine Bank.“

Herr Claypole hatte kaum die Wiederholung seiner eigenen Worte gehört, als er auf seinen Stuhl zurücksank und mit aschfahlem Gesicht von dem Juden zu Charlotte hin blickte.

„Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Lieber. Ha! ha! ha! Glücklicherweise habe ich es nur gehört. Das war wirklich ein Glück!“

„Ich hab’s nicht genommen“, stotterte Noah. „Sie hat’s ganz allein getan und hat das Geld auch noch. Du weißt das, Charlotte.“

„Es ist ganz gleich, wer es hat oder tat, Freundchen“, versetzte Fagin, der aber trotzdem einen lauernden Blick auf das Mädchen warf. „Ich bin in derselben Branche, und Sie gefallen mir deshalb.“

„In welcher Branche?“ fragte Noah aufatmend.

„Nun, derartige Geschäftchen zu machen wie Sie. Alle hier im Hause treiben dasselbe Gewerbe. Sie sind hier in die richtige Schmiede gekommen und so sicher, wie man es nur sein kann, das heißt, wenn ich will. Aber ich habe Sie und das junge Mädchen da in mein Herz geschlossen, und Sie können nun ganz ruhig sein.“

Trotz dieser Worte guckte ihn Noah immer noch ein wenig argwöhnisch an, so daß der Jude sich veranlaßt fühlte, in seiner Rede fortzufahren:

„Ich habe einen Freund, der Ihren Lieblingswunsch befriedigen kann und Ihnen gern den richtigen Weg zeigen wird zu dem Geschäftszweig, der Ihnen am meisten zusagt, wie er Ihnen auch in allen anderen Branchen Unterricht zu erteilen vermag!“

„Sie sprechen, als ob es Ihr Ernst wäre!“

„Was hätte ich davon, wenn ich hier scherzen wollte“, sagte der Jude achselzuckend. – „Doch ich möchte gern einige Worte mit Ihnen allein draußen sprechen.“

„Das ist nicht nötig, die Mühe können wir uns sparen. Sie kann das Gepäck hinauftragen. Charlotte, bring die Bündel hinauf!“

Diesen, mit viel Majestät gegebenen Befehl Noahs führte das Mädchen eilfertig aus, und befriedigt fragte er Fagin im Tone eines Tierbändigers:

„Halte ich sie nicht ordentlich in Zucht?“

„Großartig“, antwortete dieser und klopfte ihm auf die Schulter. „Sie sind ein Genie, mein Bester.“

„Wäre auch sonst nicht hier in London“, versetzte der Jüngling geschmeichelt. „Doch verlieren wir keine Zeit, sie wird bald wieder hier sein.“

„Nun, wie denken Sie darüber?“ fragte der Jude. „Wenn Ihnen mein Freund gefällt, gibt es dann etwas Besseres, als sich ihm anzuschließen?“

„Es kommt darauf an, ob sein Geschäft gut geht“, erwiderte Noah und zwinkerte mit einem Auge.

„Großartig geht’s, und er beschäftigt eine Masse Leute“, sprach der Jude. „Sie finden dort die beste Gesellschaft der Branche.“

„Alle aus der Stadt?“ fragte Herr Claypole.

„Kein Provinzler darunter, und er würde Sie selbst auf meine Empfehlung hin nicht annehmen, wenn es ihm nicht augenblicklich an Gehilfen fehlte.“

„Muß ich dann wohl mit diesem da ‚rausrücken?“ fragte Noah, auf seine Hosentasche klopfend.

„Läßt sich unmöglich anders machen“, sagte Fagin bestimmt.

„Aber zwanzig Pfund sind eine Masse Geld!“

„Nicht, wenn es eine Banknote ist, die Sie nicht los werden können. Man wird sich wohl Nummer und Datum gemerkt und sie bei der Bank gesperrt haben. Sie hat keinen großen Wert für ihn, denn er wird sie auswärts anbringen müssen und sicher viel daran verlieren.“

„Wann kann ich Ihren Freund sehen?“

„Morgen früh.“

„Wo?“

„Hier!“

„Hm! – Und der Lohn?“

„Ein Herrenleben – Kost, Wohnung, Tabak und Schnaps frei – und die Hälfte von allem, was Sie und die junge Frau erobern.“

Es ist zweifelhaft, ob Herr Noah Claypole, trotz seiner Habsucht, dieses lockende Angebot angenommen hätte, wenn er völlig frei hätte handeln können. Da er aber befürchtete, in der Gewalt Fagins zu sein, der ihn hätte den Gerichten übergeben können, so sagte er schließlich, daß ihm der Vorschlag annehmbar schiene.

„Aber sehen Sie“, bemerkte Noah, „daß mir recht Leichtes übertragen wird, denn Charlotte kann dafür desto mehr arbeiten!“

„Wie wäre es mit Ausbaldowern? Mein Freund braucht jemand, der dazu Talent hat.“

„Würde ich ganz gerne tun, es fällt aber bei dem Geschäft nicht viel für einen ab“, meinte Noah.

„Das ist wahr, viel zu verdienen ist dabei nicht.“

„Fällt Ihnen sonst nichts ein, eine ungefährliche Sache?“

„Was halten Sie von alten Damen? Wenn man ihnen die Handtaschen und Pakete aus der Hand reißt und um die nächste Ecke verschwindet – damit läßt sich ein schönes Stück Geld machen.“

„Schreien und kratzen die nicht zuweilen mächtig?“ fragte Noah, den Kopf schüttelnd. „Das sagt mir nicht besonders zu. Ist nichts Besseres für mich da?“

„Halt!“ rief der Jude, die Hand auf Noahs, Knie legend. „Ich hab’s, das Görenlausen!“

„Was ist das?“

„Die Gören“, sagte der Jude, „sind die kleinen Kinder, die von ihren Müttern mit Geld ausgeschickt werden, um allerhand einzuholen. Man laust sie, das heißt, nimmt ihnen das Geld weg und stößt sie in den Rinnstein. Wenn sie weinen, geht man langsam davon und tut, als ob weiter nichts passiert sei; die Leute denken, nur ein Kind sei hingefallen und habe sich wehgetan. Ha! ha! ha!“

„Ha! ha!“ brüllte Herr Claypole vor Lachen und trampelte mit den Füßen. „Das ist das Richtige für mich.“

„Glaub’s auch“, meinte Fagin. „Sie können ein paar feine Bezirke kriegen – zum Beispiel Camden Town und Battle Bridge, wo immer Kinder mit derartigen Aufträgen umherlaufen, und man zu jeder Tagesstunde Gören lausen kann. Ha! Ha!“

Mit diesen Worten stieß er ihm kitzelnd seinen Zeigefinger in die Seite, worauf beide abermals in ein langes Gelächter ausbrachen.

„Nun gut“, sagte Noah, als er sich von seinem Lachkrampf etwas erholt hatte und Charlotte wieder zurückgekehrt war. „Also um welche Zeit morgen?“

„Ist Ihnen zehn Uhr recht?“ fragte der Jude, und als Herr Claypole bejahte, fuhr er fort, „welchen Namen soll ich meinem Freunde nennen?“

„Bolter“, antwortete Noah, der sich auf eine solche Frage vorbereitet hatte. „Herr Morris Bolter und Frau Bolter.“

„Frau Bolter, ich empfehle mich Ihnen ergebenst“, sagte Fagin und verbeugte sich mit grotesker Höflichkeit. „Ich hoffe, Sie bald noch näher kennenzulernen.“

„Hörst du, was der Herr sagt, Charlotte?“ brüllte sie Herr Claypole an.

„Ja, lieber Noah“, erwiderte Frau Bolter, ihre Hand Fagin hinreichend.

„Noah ist ein Schmeichelname“, erklärte Herr Morris Bolter alias Claypole dem Juden. „Sie verstehen mich?“

„Vollkommen!“ antwortete Herr Fagin, der damit diesmal die Wahrheit sprach. „Gute Nacht. Gute Nacht.“

In dem gezeigt wird, wie der Gannef in die Patsche kommt

„So sind Sie also selbst der gute Freund gewesen?“ fragte Herr Claypole, sonst Bolter, als er am nächsten Vormittag das Haus des Juden betrat, wohin er bestellt worden war. „Ich Schafskopf hätte es mir gestern schon denken können.“

„Jedermann ist sein eigener Freund, mein Lieber“, versetzte Fagin mit bezeichnendem Grinsen, „er kann keinen besseren finden.“

„Mit Ausnahmen“, erwiderte Morris Bolter im Tone eines welterfahrenen Mannes. „Manche Menschen sind ihre eigenen größten Feinde, wissen Sie!“

„Glauben Sie das ja nicht“, sagte Fagin. „Ist ein Mensch sein eigener Feind, so nur deshalb, weil er zu sehr sein eigener Freund ist, und nicht, weil er andere mehr in sein Herz geschlossen hat. Das wäre gegen die Menschennatur.“

„Und käme es vor, so wäre es nicht in der Ordnung“, meinte Herr Bolter.

„Das liegt klar auf der Hand“, sprach Fagin. „Von den Magiern halten einige die 3 und andere die 7 für die Zauberzahl. Aber das stimmt nicht. Nummer eins ist’s!“

„Ha! ha!“ lachte Herr Bolter. „Hoch die Nummer eins.“

„In einer so kleinen Vereinigung wie die unsrige, mein Lieber“, sagte der Jude, „haben wir eine allgemeine Nummer eins. Das heißt, Sie können sich nicht selber als Nummer eins betrachten, ohne mich und all die anderen mit einzuschließen.“

„Teufel auch!“ rief Herr Bolter.

„Sie sehen“, fuhr Fagin fort und tat so, als ob er die Unterbrechung nicht gehört hätte, „unsere Interessen sind so miteinander verwachsen, daß es gar nicht anders sein kann. Zum Beispiel, Sie sorgen für Nummer eins – das heißt für sich selbst.“

„Ganz recht, gewiß!“

„Schön, Sie können aber nicht für sich als Nummer eins sorgen, ohne auch für mich zu sorgen, der ich gleiche falls Nummer eins bin.“

„Nummer zwei wollten Sie sagen“, meinte Herr Bolter.

„Nein, nicht doch“, erwiderte Fagin. „Ich bin für Sie ebenso wichtig, wie Sie es sich selbst sind.“

„Wissen Sie“, sagte Herr Bolter, „Sie sind ja ein netter Kerl, und ich habe Sie auch ganz gern, aber so dicke Freunde sind wir denn doch nicht.“

„Aber überlegt mal“, sagte der Jude, heftig gestikulierend, „bedenkt, Sie haben da einen Streich vollführt, der mir sehr gefällt. jedoch könnte er Ihnen leicht zu einer Krawatte verhelfen, die sich leichter knüpfen als aufmachen läßt – nämlich zum Strick.“

Herr Bolter fühlte sich an den Hals, als ob ihm der Kragen zu eng wäre, und murmelte etwas, das wie Zustimmung klang.

„Der Galgen“, fuhr Fagin fort, „ist ein häßlicher Wegweiser, der auf eine gefährliche Ecke zeigt, die der Laufbahn manches verwegenen Burschen ein plötzliches Ziel gesetzt hat. Sich von ihm fern zu halten, ist für Sie Nummer eins.“

„Selbstverständlich, doch warum reden Sie von solchen Dingen.“

„Nur, um Ihnen offen meine Meinung zu sagen“, entgegnete der Jude, die Augenbrauen hochziehend. „Sie hängen von mir ab, und ich hänge von Ihnen ab, wenn mein Geschäft gehen soll. Das erstere ist Ihre Nummer eins, das letztere die meinige. Je mehr Sie für Ihre Nummer eins sorgen, desto besorgter müssen Sie auf die meinige sein. So kommen wir zuletzt wieder auf das, was ich von Anfang an gesagt habe, daß nämlich die Rücksicht auf Nummer eins uns alle zusammenhält und zusammenhalten muß, wenn unsere Gemeinschaft nicht in die Brüche gehen soll!“

„Das ist richtig, ich merke schon, Sie sind ein schlauer alter Fuchs!“

„Ja, nur wenn wir fest zusammenstehen, kommt man über schwere Verluste weg“, sagte Fagin. „Gestern morgen habe ich meinen besten Mitarbeiter verloren.“

„Durch den Tod?“

„Nein, nein, so schlimm ist’s nicht!“

„Er ist wohl –“

„Abhanden gekommen“, ergänzte der Jude, „ja, ab, handen gekommen ist er!“

„Wie das?“ fragte Herr Bolter.

„Er wurde wegen versuchten Taschendiebstahls verhaftet, und man fand eine silberne Tabaksdose bei ihm – seine eigene, mein Lieber, denn er schnupft selbst gern. Ach, er war fünfzig silberne Dosen wert, und ich ließe mich’s gern das Geld dafür kosten, wenn ich ihn wieder hätte. Sie sollten den Gannef gekannt haben!“

„Nun, ich hoffe ihn wohl noch kennenzulernen, meinen Sie nicht auch?“

„Schwerlich“, sagte der Jude seufzend. „Man wird ihn wohl auf Lebenszeit in die Strafkolonie schicken.“

Das Gespräch wurde hier durch Herrn Karl Bates unterbrochen, der mit betrübtem Gesicht eintrat.

„Es ist mit ihm aus, Fagin“, sagte Karl, nachdem er und sein neuer Gefährte sich vorgestellt hatten.

„Was soll das heißen?“

„Man hat den Besitzer der Dose gefunden und auch noch einige andere Zeugen aufgetrieben. Der Gannef erhält freie Ausreise“, berichtete Karl Bates.

„Wir müssen herauskriegen, was er macht. Laß mich mal nachdenken“, sagte Fagin.

„Soll ich’mal gehen?“ fragte Karl.

„Bist du verrückt? Es ist vorläufig genug, einen verloren zu haben“, versetzte der Jude.

„Sie denken doch nicht etwa selbst hinzugehen?“

„Das wäre untunlich“, meinte Fagin kopfschüttelnd.

„Warum schicken Sie nicht das Grünhorn?“ fragte Herr Bates und legte seine Hand auf Noahs Arm. „Kein Mensch kennt ihn!“

„Wenn er nichts dagegen hat –“, meinte Fagin zögernd.

„Was soll er dagegen haben?“ fiel Karl ein.

„Es ist wirklich nichts zu befürchten“, sagte der Jude, sich an Noah wendend.

„Sie haben gut reden“, versetzte dieser. „Nein, ausgeschlossen, es schlägt nicht in mein Fach!“

„Was hat er denn für ein Fach gekriegt, Fagin?“ fragte Herr Bates mit einem verächtlichen Blick auf Noahs schlottrige Gestalt. „Vielleicht das Ausreißen, wenn’s nicht ganz geheuer ist, und das Fressen und Saufen, wenn alles geklappt hat. – Gehört das zu seinem Fach?“

„Geht dich gar nichts an!“ schnaubte Herr Bolter. „Nimm dir keine Frechheiten heraus gegen Leute, die mehr als du sind, Knirps. Bei mir kommst du an den Unrechten!“

Herr Bates lachte unbändig über die prahlerische Drohung, und es dauerte einige Zeit, ehe sich Fagin ins Mittel legen und Herrn Bolter klarmachen konnte, daß bei einem Gange nach der Polizei von einer Gefahr für ihn keine Rede sein konnte. Besonders, wenn er verkleidet sei. Herr Bolter ließ sich durch diese Ausführungen, mehr aber noch durch seine Furcht vor dem Juden bewegen, den Auftrag auszuführen. Er vertauschte auf Fagins Geheiß seinen eigenen Anzug mit einem Fuhrmannskittel, Manchesterhosen und Gamaschen, die der Jude gerade zur Hand hatte, und bekam eine Kärrnerpeitsche in die Hand.

Er stellte einen Bauernjungen mit großem Geschick dar (da er von Natur ein unbeholfener Bursche war), der aus Neugierde eine Verhandlung vor dem Polizeirichter mitanhören wollte. Nachdem ihm der Gannef genau beschrieben worden war, führte ihn Herr Bates in die Nähe des Polizeigebäudes und hieß ihn eilen. Er versprach, ihn an dem Orte, wo sie sich trennten, wieder zu erwarten.

Noah befolgte gewissenhaft die erhaltenen Anweisungen und gelangte auch richtig in den Gerichtssaal. Er kam hier in ein großes Gedränge von Menschen, zumeist Frauen, die Kopf an Kopf den muffigen Saal füllten. Auf der Anklagebank saßen ein paar Weiber, die ihren sie bewundernden Bekannten zunickten, während der Gerichtsschreiber einigen Polizisten und einem bürgerlich gekleideten Manne, der sich über den Tisch beugte, die Zeugenaussagen vorlas.

Noah sah sich neugierig nach dem Gannef um, konnte ihn aber nicht entdecken. Er erwartete daher ungeduldig das Urteil, welches über die Weiber gefällt wurde, die darauf mit stolzer Miene abgingen. Der Gefangene, der jetzt vorgeführt wurde, mußte nach der Beschreibung der Gannef sein. Und es war tatsächlich Jack Dawkins. Er setzte sich auf die Anklagebank mit der lauten Frage, warum man ihn hierherbringe.

„Willst du wohl den Mund halten“, sagte der Gerichtsdiener.

„Bin ich nicht ein Engländer?“ versetzte der Gannef. „wo sind meine Rechte?“

„Wirst sie bald genug bekommen und gepfeffert noch dazu“, erwiderte der Gerichtsdiener.

„Wollen mal sehen, was der Justizminister den Kadis sagen wird, wenn man meine Rechte nicht achtet“, brüllte der Gannef. „Aber nun man los. Ich bitte die Herren Richter, mich nicht mit ihrem Zeitungslesen aufzuhalten, sondern meine kleine Sache gleich zu erledigen. Ich habe mich nämlich mit einem Herrn in der City verabredet, und da ich ein Mann von Wort bin und in Geschäftssachen äußerst pünktlich, so könnte es leicht eine Schadenersatzklage gegen die geben, welche mich hier aufgehalten haben. Und das werden die Herren Richter nicht wollen.“

Da diese die Redensarten des Gannefs überhörten, so fragte der freche Junge den Gerichtsdiener „nach den Namen der beiden Hampelmänner auf der Richterbank“. Durch diese Frage fühlten sich die Zuhörer so gekitzelt, daß sie fast ebenso herzlich lachten, als es sicher Herr Karl Bates getan hätte, wenn er dagewesen wäre.

„Ruhe!“ brüllte der Gerichtsdiener.

„Was liegt vor?“ fragte einer der Polizeirichter.

„Ein Taschendiebstahl, Euer Gnaden.“

„Ist der Junge schon mal hier gewesen?“

„Hätte er schon oft sein sollen, aber solche Burschen trifft man eher woanders. Ich kenne ihn aber, Euer Gnaden“, sagte der Gerichtsdiener.

„So, Sie kennen mich, wirklich?“ rief der Gannef und tat so, als ob er sich eine Notiz machte. „Gut, das gibt eine Klage wegen Ehrabschneidung.“

Es entstand abermals ein großes Gelächter. Nachdem wieder Ruhe geboten war, fragte der Gerichtsschreiber:

„Nun, wo sind die Zeugen?“

„Richtig, wo sind sie, möchte sie auch gern sehen“, meinte der Gannef.

Seinem Wunsche wurde sofort willfahrt, denn ein Polizist trat vor und sagte aus, der Angeklagte hätte im Gedränge einem unbekannten Herrn das Schnupftuch aus derTasche gezogen, da es aber sehr alt gewesen, wieder in die Tasche zurückgesteckt, nachdem der Dieb es vorher an seiner eigenen Nase probiert. Er wäre deshalb zur Verhaftung geschritten und hätte bei der Durchsuchung des Festgenommenen eine silberne Schnupftabaksdose gefunden, auf deren Deckel der Name des Eigentümers eingegraben war. Die Wohnung desselben hätte man im Adreßbuch gefunden, und der Herr wäre als Zeuge anwesend. Dieser beschwor, daß die Dose sein Eigentum sei, und sie, als er aus dem Gedränge heraus war, sofort vermißte. Er fügte noch hinzu, daß im Gewühl sich ein junger Mensch auffallend viel um ihn zu schaffen gemacht habe, und daß dieser kein anderer als der vor ihm stehende Angeklagte sei.

„Hast du den Zeugen etwas zu fragen, Junge?“ sagte der Richter.

„Ich mag mich nicht so weit erniedrigen, eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen“, war die Antwort.

„Hast du überhaupt noch etwas vorzubringen?“

„Hörst du nicht, Seine richterliche Gnaden fragen, ob du noch etwas zu sagen hättest“, wiederholte der Gerichtsdiener und stieß den stummen Gannef mit dem Ellenbogen an.

„Verzeihung, haben Sie mit mir gesprochen?“ fragte der Junge zerstreut.

„Ich habe nie einen durchtriebeneren Spitzbuben gesehen, Euer Gnaden“, sagte der Gerichtsdiener grinsend.

„Beabsichtigst du noch etwas zu bemerken, Halunke?“

„Nein“, entgegnete der Gannef, „hier nicht, denn das ist wirklich nicht der richtige Laden für Gerechtigkeit. Außerdem frühstückt mein Rechtsanwalt heute vormittag mit dem Vizepräsidenten des Parlaments. Aber anderswo werde ich reden, ebenso mein Anwalt und eine Masse anderer Bekannten, und zwar so, daß die Kadis wünschen werden, nie geboren zu sein. Daß es ihnen lieber gewesen wäre, wenn sie sich von ihren Bedienten an ihren eigenen Kleiderständern hätten aufhängen lassen, als daß sie heute mir ein Urteil gesprochen hätten. Ich – -„

„Er ist vollständig überführt!“ unterbrach der Gerichtsschreiber die Rede. „Führen Sie ihn ab.“

„Komm, Junge“, sagte der Gerichtsdiener.

„Ja, ich komme schon“, sagte der Gannef, seinen Hut mit der Hand glattstreichend. „Und mit Ihnen“, zur Richterbank gewandt, „werde ich kein Erbarmen haben, wenn Sie auch noch so ängstliche Mienen zeigen. Ihr Kerle sollt mir dafür büßen! Ich möchte nicht in eurer Haut stecken. Ich würde jetzt meine Freilassung nicht annehmen, und wenn Ihr mich auf den Knien darum bätet. Führt mich ab!“

Der Gerichtsdiener packte ihn am Kragen und der Gannef drohte noch, die Sache vors Parlament zu bringen. Dann grinste er dem Gerichtsdiener mit großer Frechheit ins Gesicht.

Herr Bolter eilte nun, so schnell er konnte, zu der Stelle, wo er Karl Bates verlassen hatte. Dieser zeigte sich erst, nachdem er sich vergewissert hatte, daß keine naseweise Person Noah folge, und die Luft rein sei.

Beide begaben sich nun schleunigst nach Hause, um Herrn Fagin die erfreuliche Kunde zu bringen, daß der Gannef seiner Erziehung alle Ehre und sich selbst einen glänzenden Namen gemacht habe.

Die Zeit kommt, da Nancy ihr Rosa gegebenes Versprechen halten soll. Sie wird verhindert

So schlau und erfahren auch Nancy in allen Verstellungskünsten war, so konnte sie doch die Zerrissenheit ihrer Seele nicht ganz verbergen, die ihr gewagter Schritt erzeugt hatte. Sie dachte daran, daß beide, sowohl der verschmitzte Jude als auch der rohe Sikes, sie ohne Argwohn in Pläne eingeweiht hatten, die allen anderen Diebesgenossen unbekannt waren. Aber trotz der Schändlichkeit dieser Pläne, der Verworfenheit ihrer Urheber und ihrer Erbitterung gegen den Juden, der sie immer tiefer in Verderben und Elend geführt hatte, fühlte sie doch manchmal sogar für ihn eine weiche Regung. Sie hätte ihn nur ungern den unerbittlichen Händen überantwortet, denen er so lange entgangen war und doch am Ende anheimfallen mußte – so sehr er auch ein solches Schicksal verdient haben mochte.

Es war Sonntagabend, die Uhr der nächsten Kirche verkündete die Stunde. Sikes und der Jude unterbrachen ihre Unterhaltung, um die Schläge zu zählen. Nancy horchte gleichfalls gespannt – Elf!

„Eine Stunde vor Mitternacht“, sagte Sikes, indem er das Fenster öffnete und hinaussah. Als er wieder zu seinem Stuhl ging, meinte er: „Eine herrliche Nacht fürs Geschäft – es ist rabenschwarz draußen.“

„Schade, Bill, daß wir sie nicht ausnutzen können“, versetzte der Jude.

„Daran dachte ich auch gerade“, entgegnete Sikes mürrisch. „Es ist jammerschade, ich wäre heute gerade in Stimmung.“

Der Jude seufzte und schüttelte betrübt den Kopf.

„Wir müssen die verlorene Zeit wieder einbringen, wenn wir etwas Gutes ausbaldowert haben“, sagte Sikes.

„So ist’s recht, das ist ein Wort, lieber Freund“, rief der Jude und wagte es, dem Einbrecher auf die Schulter zu klopfen. „Es freut mich wirklich, Euch so sprechen zu hören.“

„So – freut’s dich? Meinetwegen.“

„Ha! ha! ha!“ lachte der Jude, als ob ihm sogar dieses geringe Zugeständnis Freude machte. „Ihr seid heute abend wieder ganz der Alte, Bill!“

„Mir ist’s aber nicht so, solange deine dreckige alte Pfote auf meiner Schulter liegt – weg damit!“ schrie Sikes und stieß die Hand des Juden fort.

„Macht sie Euch nervös, Bill – erinnert sie Euch ans Gefaßtwerden“, fragte der Jude, der sich vorgenommen hatte, keine Empfindlichkeit zu zeigen.

„Sie erinnert mich an die Klaue des Teufels, nicht an die eines Häschers“, erwiderte Sikes. „Es hat nie einen Menschen gegeben mit einem Gesicht wie deines, höchstens deinen Vater. Ich glaube aber, dem wird jetzt sein ergrauter roter Bart in der Hölle gesengt, wenn nicht etwa Beelzebub selbst dein Vater ist. Wundern würde mich das weiter nicht.“

Fagin schwieg zu dieser Schmeichelei, zupfte aber Sikes am Ärmel und zeigte auf Nancy, die sich während der Unterhaltung der beiden Ehrenmänner den Hut aufgesetzt hatte und im Begriff war, das Zimmer zu verlassen.

„Hallo, Nancy!“ rief Sikes. „Donnerwetter, wohin willst du zu so später Stunde.“

„Nicht weit.“

„Was ist das für eine Antwort! Wohin gehst du?“

„Ich sage, nicht weit.“

„Und ich sage, wohin?“ schrie Sikes barsch. „Hörst du?“

„Ich weiß selbst nicht, wohin.“

„Dann weiß ich es“, sagte Sikes, mehr aus Widerspruchsgeist, als weil er etwas gegen Nancys Ausgang einzuwenden hatte. „Du gehst nirgends hin. Setz dich!“

„Ich fühle mich nicht wohl. Ich muß an die frische Luft, habe es dir vorhin schon gesagt.“

„Stecke den Kopf zum Fenster hinaus, das ist ebenso gut“, schrie Sikes.

„Das genügt mir nicht, ich muß mir Bewegung machen.“

„Daraus wird nichts“, brummte Sikes, der bei diesen Worten aufstand, die Tür abschloß, den Schlüssel herauszog und dem Mädchen den Hut vom Kopf riß, den er auf einen alten Schrank warf. „So“, sagte der Einbrecher, „willst du jetzt hierbleiben oder nicht?“

„Ich gehe auch ohne Hut“, sagte Nancy blaß werdend „Was soll das heißen, Bill? Du weißt wohl nicht, was du tust?“

„Ob ich es weiß, zum Donnerwetter“, schrie Sikes und drehte sich nach Fagin um. „Sie ist verrückt geworden, sonst würde sie sich nicht trauen, so mit mir zu reden.“

„Du wirst mich noch zur Verzweiflung bringen“, murmelte Nancy dumpf, mit Gewalt ihre Wut unterdrückend. „Laß mich sofort gehen – sofort!“

„Nein“, brüllte Sikes.

„Sagt Ihr es ihm, daß er mich gehen läßt, Fagin. Es ist besser für ihn. Hört Ihr?“ schrie das Mädchen und stampfte mit dem Fuß auf.

„Ich höre dich ganz gut“, sagte Sikes, seinen Stuhl umdrehend, um Nancy scharf ansehen zu können. „Wenn ich dich noch eine halbe Sekunde länger höre, so wird dir der Hund deine kreischende Stimme aus dem Halse reißen, verlaß dich darauf. Was fällt dir ein, dummes Frauenzimmer?“

„Laß mich gehen“, sagte Nancy bittend und setzte sich auf den Fußboden dicht bei der Tür. „Bitte laß mich gehen. Du weißt nicht, was du tust. Nur eine einzige Stunde – bitte, laß mich.“

„Ich laß mich hängen“, schrie der Einbrecher, sie rauh am Arm packend, „wenn das Mädchen nicht toll geworden ist! Steh auf!“

„Nicht eher, als bis du mich gehen läßt – nicht eher!“ kreischte Nancy.

Sikes faßte sie bei den Händen und schleppte die sich heftig Sträubende in ein anstoßendes, kleines Gemach. Er drückte sie auf einen Stuhl nieder und hielt sie fest. Die Uhr schlug zwölf, und müde und erschöpft ließ Nancy vom Kampfe ab.

„Donnerwetter“, sagte der Verbrecher, als er wieder zu Fagin zurückgekehrt war, sich den Schweiß von der Stirn wischend: „Ein ganz verrücktes Mädel!“

„In der Tat, Bill“, erwiderte der Jude nachdenklich.

„Was mag ihr wohl in die Krone gestiegen sein, daß sie durchaus heute nacht ausgehen wollte?“ fragte Sikes. „Du mußt sie besser kennen als ich, was meinst du wohl?“

„Weibereigensinn und Halsstarrigkeit, glaube ich“, sagte Fagin und zuckte mit den Achseln.

„Hm! ’s kommt mir auch so vor“, brummte der Räuber. „Ich glaubte schon, ich hätte sie klein gekriegt, aber sie ist so schlimm wie je.“

„Schlimmer, Bill“, sagte Fagin. „Ich habe sie nie so gesehen und noch dazu wegen eines so unbedeutenden Grundes.“

„Ich auch nicht. Ich glaube, es steckt ihr noch etwas Fieber im Blut, und es will nicht heraus. Was meinst du?“

„Schon möglich.“

„Ich will ihr ein bißchen zur Ader lassen, ohne den Doktor darum zu bemühen, wenn Sie mir wieder so kommt!“

Fagin nickte zustimmend.

„Sie war Tag und Nacht um mich, als ich krank daniederlag, während du falscher Hund dich nicht sehen ließest. Wir waren die ganze Zeit über im mächtigen Dalles, und das hat sie so mitgenommen. Und dann das Immer-im-Hause-bleiben-müssen – wie?“

„Das wird’s sein, mein Lieber. – Pst!“

Nancy trat jetzt ins Zimmer und nahm ihren alten Platz wieder ein. Ihre Augen waren vom Weinen ganz rot und geschwollen. Nach einer Weile brach sie in ein lautes Lachen aus.

„Nanu, jetzt kommt’s ja ganz anders“, schrie Sikes und sah Fagin verwundert an.

Der Jude bedeutete ihm, sie nicht weiter zu beachten, und nach einigen Minuten war sie wieder ganz die alte. Fagin nahm nun seinen Hut und bat, es möchte ihm jemand die Treppe hinunterleuchten. „Gute Nacht, Bill.“

„Tu das, Nancy“, sagte Sikes, der sich gerade eine Pfeife stopfte. „Es wäre schade, wenn er sich hier den Hals bräche und die schaulustige Menge um das Schauspiel seines Gehängtwerdens betröge. Da, nimm die Funzel!“

Nancy folgte dem Alten mit der Kerze die Treppe hinunter. Als sie unten im Hausflur waren, legte er den Finger an die Lippen und flüsterte Nancy zu:

„Was war los, liebes Kind?“

„Was meint Ihr“ flüsterte sie zurück.

„Was war der Grund, auszugehen?“ entgegnete der Jude. „Wenn er –“ er zeigte nach oben, „wenn er so gemein zu Ihnen ist – solch ein Vieh! Ein richtiges wildes Tier! Warum wollen Sie nicht –?“

„Nun?“ fragte Nancy, als er innehielt.

„Lassen wir’s für heute! Reden wir ein andermal darüber. Sie haben einen Freund an mir, Nancy, einen treuen, zuverlässigen Freund. Seien Sie nicht ängstlich, ich habe ihn in der Hand. Wenn Sie sich an ihm rächen wollen, der Sie wie einen Hund behandelt – ja, noch schlechter, denn seinen Hund streichelt er doch manchmal –, so kommen Sie zu mir. Ihn kennen Sie erst seit kurzer Zeit – mich aber von alters her, Nancy.“

„Euch kenne ich allerdings“, sagte sie, ohne die geringste Bewegung zu zeigen. „Gute Nacht!“

Sie fuhr zurück, als Fagin ihr die Hand bot, sagte aber nochmals mit ruhiger Stimme gute Nacht und schloß die Tür.

Der Jude ging sinnend heim. Er war nicht gerade durch den letzten Vorfall auf den Gedanken gekommen, daß Nancy, der Roheit des Verbrechers müde, eine Neigung zu einem neuen Freunde gefaßt hätte – er schien aber seine Ansicht zu bestätigen. Ihr verändertes Wesen, der Umstand, daß sie oft allein das Haus verließ, ihre Gleichgültigkeit gegen die Interessen der Bande und ihr heftiges Verlangen, gerade zu einer bestimmten Stunde heute ausgehen zu wollen – alles trug dazu bei, ihn in seiner Meinung zu bestärken. Der Gegenstand ihrer neuen Herzensfreundschaft war keiner von seinem Anhang. Er mußte mit einer Gehilfin wie Nancy eine wertvolle Erwerbung sein, die man sich ohne Verzug sichern müßte.

Auch war damit noch etwas anderes zu erreichen. Sikes wußte zuviel, und seine höhnischen Redensarten hatten den Juden tief verletzt, obgleich er sich nichts merken ließ. Nancy mußte sich klar sein, daß, wenn sie sich von Sikes trennte, sie nie vor seiner Wut sicher sein konnte, auch daß ihr neuer Liebhaber gefährdet war. „Mit ein bißchen Überredungskunst“, dachte Fagin, „läßt sie sich vielleicht bewegen, ihn zu vergiften. Weiber haben solche Sachen und noch schlimmere schon oft getan, um sich ihre Liebhaber zu sichern. Dadurch würde der Halunke, den ich hasse, beseitigt, und ein anderer träte an seine Stelle als guter Ersatz. Mein Mitwissen um dieses Verbrechen aber verschafft mir einen unbegrenzten Einfluß auf das Mädchen.“

Aber vielleicht bebte sie doch vor dem Vorschlag zurück, Sikes um die Ecke zu bringen, und das war doch das Hauptziel, nach dem er trachtete. „Wie kann ich wohl meinen Einfluß auf sie vergrößern und neue Macht über sie gewinnen?“ grübelte der Jude, als er nach Hause schlich.

Ein Gehirn wie das seinige ist fruchtbar in Plänen. Wenn er sie mit Spionen umstellte und auf diesem Wege den Gegenstand ihrer neuen Leidenschaft entdeckte und dann drohte, Sikes alles zu verraten – konnte er nicht da ihrer Willfährigkeit gewiß sein?

„So mache ich’s“, sagte Fagin fast laut. „Sie darf mir dann nichts abschlagen, wenn ihr das Leben lieb ist. Die Mittel zum Zweck stehen mir zur Verfügung. Ich kriege sie alle beide, Nancy sowohl als Sikes.“

Er sah sich mit einem finsteren Blick um und ballte die Faust nach der Richtung, wo Sikes‘ Wohnung lag.

Noah Claypole wird von Fagin in geheimer Mission verwandt

Der alte Jude stand am nächsten Tage zeitig auf und erwartete ungeduldig das neue Mitglied seiner Bande. Endlich kam es und fiel sofort gierig über das Frühstück her.

„Bolter!“ sagte Fagin, sich ihm gegenübersetzend.

„Ja? Was soll’s?“ antwortete Noah. „Verlangen Sie nur nichts von mir, ehe ich gegessen habe. Das ist ein großer Fehler hier, es wird einem nie ordentlich Zeit zum Essen gelassen.“

„Na, beim Essen kann man doch auch sprechen, nicht wahr?“ meinte Fagin, die Gefräßigkeit seines jungen Freundes aus dem Grund seines Herzens verwünschend.

„Ja, das ist richtig. Das Essen rutscht sogar besser, wenn man dabei plaudert“, erwiderte Noah und säbelte sich ein mächtiges Stück Brot ab. „Wo ist übrigens Charlotte?«‘

„Ausgegangen“, sagte der Jude. „Ich habe sie mit dem andern Mädel fortgeschickt, weil ich mit dir allein sein wollte.“

„So!“ versetzte Noah. „Hättet Ihr ihr nur aufgetragen, vorher noch die Brotschnitte zu rösten. Doch nun schießt los, ich werde mich nicht stören lassen!“

„Du hast gestern deine Sache gut gemacht, mein Freund, ganz großartig. Sechs Schillinge und zehn Pence am allerersten Tage! Du wirst durch das Görenlausen zum reichen Manne werden!“

„Sie müssen die drei Bierkannen und den Milchtopf nicht vergessen“, sagte Herr Bolter.

„Nein, nein, mein Lieber. Die Bierkannen waren Geniestreiche, doch der Milchtopf, das war ein Meisterstück.“

„Wohl für ’nen Anfänger nicht übel?“ bemerkte Herr Bolter selbstgefällig. „Die Bierkannen nahm ich von einem Kellerhals herunter, und der Milchtopf stand vor einem Gasthofe. Ich dachte, er möchte im Regen rostig werden oder sich erkälten, wißt Ihr? Ha! ha! ha!“

Der Jude stimmte in das Gelächter ein und sagte dann:

„Du mußt für mich eine Sache ausführen, bei der große Vorsicht nötig ist.“

„Nur nichts, wobei Gefahr ist“, meinte Bolter, „Oder mich wieder zum Polizeigericht schicken. So was behagt mir nicht und ich will davon nichts mehr wissen.“

„’s ist gar keine Gefahr damit verbunden, nicht die geringste. Es handelt sich nur darum, ein Frauenzimmer zu beobachten!‘

„Ist’s ein altes?“

„Nein, ein junges.“

„Nun, das verstehe ich ziemlich gut“, meinte Bolter. „Das war schon immer meine Lieblingsbeschäftigung, als ich noch zur Schule ging. Was soll ich bei dem Frauenzimmer ausbaldowern, doch nicht –?“

„Du sollst herauskriegen, wohin sie geht, mit wem sie verkehrt und womöglich, was sie spricht.“

„Was verdiene ich dabei?“ fragte Noah neugierig.

„Wenn du es gut machst, ein Pfund. Ein Pfund! Ich habe noch nie so viel für eine Arbeit gegeben, die mir eigentlich nichts einbringt!“

„Wer ist sie?“

„Eine der Unsrigen!“

„Soso“, sagte Noah, die Nase rümpfend. „Ihr mißtraut ihr?“

„Sie hat einige neue Bekanntschaften angeknüpft, und ich muß wissen, was das für Menschen sind.“

„Ich verstehe, bloß um das Vergnügen zu haben, sie kennenzulernen, wenn es respektable Leute sind, nicht wahr? Ha! ha! ha! Werde es schon machen.“

„Ich wußte das vorher!“ rief Fagin, vergnügt über die Bereitwilligkeit des anderen.

„Natürlich, natürlich. Wo ist sie? Wo muß ich ihr auflauern? Wann soll ich gehen?“

„Das wirst du von mir noch zur Zeit erfahren. Bei Gelegenheit zeige ich sie dir. Du hast weiter nichts zu tun, als dich bereitzuhalten, alles andere überlasse mir!“

Sechs Nächte gingen um, in denen Herr Bolter vergeblich in seinem Fuhrmannsanzug sich bereit hielt. In der siebenten Nacht kehrte Fagin früher nach Hause zurück, freudestrahlend. Es war Sonntag.

„Heute abend geht sie aus“, sagte der Jude. „Komm mit – rasch!“

Noah sprang, ohne ein Wort zu sagen, auf. Sie schlichen aus dem Hause, eilten durch ein Labyrinth von Straßen und langten endlich bei einem Wirtshause an, das Noah als die „Drei Krüppel“ wiedererkannte.

Es war elf Uhr und die Tür geschlossen. Auf ein leises Pfeifen Fagins öffnete sie sich langsam. Sie traten geräuschlos ein, und die Tür tat sich wieder hinter ihnen zu.

Fagin und der Judenjüngling, der sie eingelassen hatte, wagten kaum zu flüstern, sondern gaben Noah nur durch Zeichen zu verstehen, daß er durch das bekannte kleine Fenster die Person im anstoßenden Zimmer sich ansehen solle.

„Ist das das Frauenzimmer?“ fragte er ganz leise.

Der Jude nickte bejahend.

„Ich kann das Gesicht nicht gut sehen. Das Mädchen sieht zu Boden, und das Licht steht hinter ihr.“

„Einen Augenblick!“ flüsterte Fagin und machte Barney ein Zeichen, worauf sich dieser entfernte. Eine Minute später trat er in das benachbarte Gemach, brachte den Leuchter unter dem Vorwand, das Licht zu putzen, in die richtige Stellung und sprach Nancy an. Dadurch war sie gezwungen, den Kopf hochzuheben.

„Jetzt kann ich sie sehen“, sagte Bolter.

„Deutlich?“ fragte Fagin.

„So, daß ich sie unter Tausenden herauskennen würde.“

Nancy ging jetzt fort, und Barney hielt hinter ihr die Haustür offen. „Nun los!“

Noah wechselte mit Fagin einen Blick und huschte durch die offene Tür hinaus.

„Links!“ flüsterte Barney, „- halten Sie sich links auf der anderen Straßenseite!“

Noah sah das Mädchen schon in einiger Entfernung. Er eilte ihr nach. Sie blickte sich zwei- oder dreimal ängstlich um und blieb auch einmal stehen, um zwei Männer vorbeizulassen, die hinter ihr herkamen. Je weiter sie ging, desto mutiger schien sie zu werden; denn ihr Schritt klang immer fester. Noah hielt sich in angemessener Entfernung, aber ließ sie nicht aus den Augen.

Nancy hält ihr Versprechen

Die Turmuhren schlugen dreiviertel zwölf, als an der Londoner Brücke zwei Gestalten auftauchten. Die eine davon, ein rasch vorwärtseilendes Mädchen, sah sich wiederholt aufmerksam um, als suche sie jemand. Die andere Gestalt, ein Mann, der im dunkelsten Schatten, den er finden konnte, dem Mädchen nachschlich und sofort stilistand, wenn sie haltmachte, und heimlich wieder folgte, wenn sie weiterging. Mitten auf der Brücke blieb sie längere Zeit stehen. Es war eine dunkle Nacht, und nur wenige Menschen ließen sich um diese Zeit auf der Brücke sehen. Und diese wenigen liefen schnell vorüber, ohne sich um das Mädchen und dessen Beobachter zu kümmern. Über der Themse hing ein dichter Nebel. Doch waren die Türme der alten Erlöserkirche und der St. Magnuskirche durch die Dunkelheit sichtbar. Dagegen blieb der Mastenwald der Schiffe den Augen verhüllt.

Mitternacht war inzwischen herangekommen, als eine junge Dame, von einem grauhaarigen Herrn begleitet, in der Uferstraße aus einer Droschke stieg, den Kutscher entlohnte und auf die Brücke zuging.

Sobald die beiden dort angelangt waren, eilte ihnen das Mädchen rasch entgegen. Als sie sich trafen, kam an ihnen ein Mann in Fuhrmannstracht so dicht vorbei, daß er Nancys Kleider streifte.

„Nicht hier“, sagte diese zu der jungen Dame hastig. „Ich fürchte mich, hier mit Ihnen zu sprechen. Wir wollen dort die Treppe hinuntergehen.“

Diese Treppe bildet einen Teil der Brücke und besteht aus drei Absätzen. Am Ende des zweiten geht die Steinwand in einen verzierten Pfeiler über, der dem Flusse zugekehrt ist. Von diesem Punkte aus werden die unteren Stufen breiter, so daß eine Person, wenn sie um die Ecke der Mauer geht, notwendig denen verborgen sein muß, die sich weiter oben auf der Treppe befinden. Hier versteckte sich der Fuhrmann. Die Zeit entschwand an dieser einsamen Stelle ungemein langsam, so daß er schon im Begriff war, sein Versteck zu verlassen, als er Schritte und den Ton von Stimmen vernahm. Er drückte sich dicht an die Mauer und horchte mit verhaltenem Atem.

„Das ist weit genug“, sagte der Herr, „ich gebe nicht zu, daß die Dame weitergeht. Viele würden sich nicht darauf eingelassen haben. Sie sehen, daß wir uns nach Ihnen gerichtet haben.“

„Nach mir gerichtet?“ rief Nancy. „Wirklich?! – Aber das hat nichts zu sagen. Sie sind sehr vorsichtig.“

„Warum führen Sie uns aber auch an solchen Ort“, sagte der Herr in einem etwas freundlicheren Ton. „Warum wollten Sie mich nicht lieber da oben sprechen lassen, wo es doch hell ist und Menschen in der Nähe. Nun bringen Sie uns nach diesem finsteren Loche.“

„Ich sagte Ihnen schon vorhin“, versetzte Nancy, „daß ich mich fürchtete, dort mit Ihnen zu reden. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist mir so bange, und ich zittere derart, daß ich nicht auf den Füßen stehen kann.“

„Vor was sind Sie denn bange?“ fragte der Herr im Tone des Mitleids.

„Ich weiß es selbst nicht; den ganzen Tag haben mich furchtbare Gedanken von Tod und Hölle gequält!“

„Einbildungen“, sagte der Herr tröstend.

„Reden Sie freundlich mit ihr“, sagte die junge Dame zu ihrem Begleiter, „Die Arme scheint es zu bedürfen.“

Man ließ Nancy sich etwas beruhigen, dann fragte sie der Herr:

„Sie waren vorigen Sonntag nicht hier?“

„Ich konnte nicht kommen, ich wurde mit Gewalt zurückgehalten.“

„Von wem?“

„Von Bill – von dem ich Fräulein Maylie schon neulich erzählte.“

„Man wird doch keinen Verdacht gegen Sie hegen, daß Sie mit uns verkehren?“

„Nein“, erwiderte Nancy, den Kopf schüttelnd. „Es ist aber für mich nicht leicht, von ihm wegzukommen, ohne daß er weiß, wohin ich gehe. Ich hätte auch das erstemal die Dame nicht besuchen können, wenn ich ihm nicht einen Schlaftrunk beigebracht hätte!“

„Erwachte er, ehe Sie zurückkehrten?“

„Nein, auch hat weder er, noch jemand anders auf mich irgendeinen Verdacht.“

„Gut!“ sagte der Herr, „nun hören Sie mich mal an!“

„Ich bin ganz Ohr“, erwiderte Nancy.

„Diese junge Dame hat mir und einigen Freunden, denen man vollkommen vertrauen kann, alles, was Sie ihr vor vierzehn Tagen erzählten, mitgeteilt. Ich gestehe, anfangs Zweifel gehabt zu haben, ob man sich unbedingt auf Sie verlassen könne. jetzt glaube ich, daß man’s kann!“

„Sie dürfen es“, versetzte Nancy ernst.

„Ich wiederhole, daß ich Ihnen vollkommen traue. Zum Beweise dafür verrate ich Ihnen unsern Plan, nämlich, daß wir entschlossen sind, dem Manne, den Sie Monks nennen, durch Einschüchterung das Geheimnis zu entreißen. Wenn – wenn uns das nicht gelingen sollte, so müssen Sie uns den Juden in die Hände spielen.“

„Fagin?“ rief das Mädchen aus und prallte unwillkürlich zurück.

„Ja, dieser Mensch muß uns ausgeliefert werden.“

„Das tue ich nicht und werde ich nie tun. Solch ein Teufel er auch ist, und trotzdem er noch schlimmer als ein Teufel zu mir war, aber das mache ich nicht.“

„Sie wollen nicht?“ fragte der Herr, der das erwartet hatte.

„Niemals!“

„Und warum nicht?“

„Aus dem Grunde, den das Fräulein kennt. Mag er immerhin ein schlechtes Leben geführt haben – das meinige ist auch kein gutes gewesen. Ich will keine verraten, die mich auch hätten verraten können.“

„Dann –“ sagte der Herr lebhaft, anscheinend mit dem Erreichten zufrieden, „dann liefern Sie uns diesen Monks in die Hände!“

„Wenn er aber die anderen verrät?“

„Ich verspreche Ihnen für den Fall, daß er uns reinen Wein einschenkt, daß wir die Sache auf sich beruhen lassen wollen. In Olivers kleiner Geschichte gibt es vielleicht Punkte, die man nicht gern in die Öffentlichkeit bringt. Haben wir nur erst die Wahrheit herausgebracht, so liegt uns an der Bestrafung der Schuldigen nichts.“

„Wenn Sie aber nichts aus Monks herausbringen können?“ fragte Nancy.

„Dann soll ohne Ihre Einwilligung der Jude nicht dem Gerichte überliefert werden. Ich hoffe jedoch, diese von Ihnen zu bekommen, da ich Ihnen Gründe angeben kann, die Sie überzeugen werden.“

„Habe ich dafür das Wort der Dame?“

„Ja“, sagte Rosa, „ich verspreche es Ihnen feierlich!“

„Monks wird also nie erfahren, woher Sie Kunde kriegten?“ fragte Nancy nach kurzer Pause.

„Nie!“ antwortete der Herr. „Wir gehen dann in einer Weise vor, daß er es nicht einmal vermuten kann!“

„Ich bin eine Lügnerin gewesen und habe von Kindheit an unter Lügnern gelebt“, entgegnete das Mädchen nach abermaligem kurzen Schweigen. „Aber ich will Ihren Worten glauben!“

Beide versicherten ihr, daß sie das getrost könne, worauf Nancy mit so leiser Stimme, daß es dem Horcher oft schwer wurde, ihre Worte zu verstehen, die Lage des Wirtshauses zu den drei Krüppeln zu beschreiben begann. Der Herr schien sich einiges von ihren Mitteilungen aufzuschreiben. Als sie noch gesagt hatte, zu welchen Stunden Monks gewöhnlich dort einzukehren pflegte, hielt sie inne, um sich das Gesicht und das sonstige Äußere des Mannes genau ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie begann:

„Er ist groß und kräftig gebaut, aber nicht dick und hat einen schlürfenden Gang, bei dem er beständig bald über die eine und dann über die andere Achsel schielt. Vergessen Sie das nicht, denn seine Augen liegen so viel tiefer als bei anderen Leuten, daß Sie ihn schon daran erkennen können. Er hat ein dunkles Gesicht und schwarze Augen und Haare. Und obgleich er erst sieben, oder achtundzwanzig Jahre alt ist, sieht er abgelebt und ältlich aus. Seine Lippen sind oft blaß und durch Bisse entstellt, denn er leidet an Krampfanfällen, wobei er sich häufig schrecklich in die Hände beißt – warum stutzen Sie?“ unterbrach sich Nancy, plötzlich innehaltend.

Der Herr erwiderte hastig, daß er sich dessen nicht bewußt sei, und bat sie fortzufahren.

„Einen Teil dieser Angaben habe ich aus den Gästen des genannten Wirtshauses herausgelockt, denn ich selbst sah ihn nur zweimal, und dann war er stets in einen großen Mantel gehüllt. Das ist wohl alles, was ich Ihnen von Monks sagen kann, doch halt – an seinem Halse, so hoch, daß man noch etwas davon über seinem Kragen sehen kann, wenn er den Kopf etwas dreht, ist –“

„Ein breites, rotes Brandmal?“ rief der Herr.

„Wie – Sie kennen ihn?“

Rosa entfuhr ein Ausruf höchsten Erstaunens, und alle drei schwiegen plötzlich. Der Lauscher konnte sie ganz deutlich atmen hören.

„Ich glaube es“, unterbrach der Herr das Schweigen, „wenigstens Ihrer Beschreibung nach. Wir werden ja sehen. Es gibt Leute, die sich auffallend ähneln. Vielleicht ist es doch nicht der nämliche.“

Der Horcher hörte ihn aber flüstern: „Er muß es sein“, laut fuhr er wieder fort:

„Sie haben uns einen großen Dienst geleistet, Fräulein, und wir möchten uns gern erkenntlich zeigen. Was kann ich für Sie tun?“

„Nichts“, erwiderte Nancy.

„Bitte, reden Sie nicht so“, sagte der Herr in so gütigem Tone, daß davon das härteste Herz hätte gerührt werden müssen. „überlegen Sie erst mal, und sprechen Sie dann.“

„Sie können mir nicht helfen“, entgegnete Nancy und fing zu weinen an. Für mich gibt’s keine Rettung mehr!“

„Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben“, sagte der Herr, „setzen Sie sie auf die Zukunft! Ich sage nicht, daß es in unserer Macht steht, Ihnen den Frieden der Seele wiederzugeben, da Sie ihn nur finden können, wenn Sie ihn suchen. Es übersteigt aber nicht unser Vermögen und ist auch unser sehnlichster Wunsch, Sie in Sicherheit zu bringen und Ihnen eine ruhige Freistätte entweder hier in England oder, wenn Sie sich zu bleiben scheuen, im Auslande zu verschaffen. Noch ehe der Morgen graut, sollen Sie sich außer dem Bereich Ihrer Genossen befinden und so wenige Spuren hinterlassen, als wenn Sie plötzlich von der Erde verschwunden wären. Verlassen Sie diese Elenden, solange Sie noch können!“

„Ich kann nicht“, versetzte Nancy nach einem kurzen Kampfe mit sich. „Ich bin mit ehernen Banden an mein früheres Leben gekettet, das mir jetzt verhaßt ist. Ich bin zu weit gegangen, um umkehren zu können. Wenn Sie vor einiger Zeit so zu mir gesprochen hätten, wäre ich wahrscheinlich mit Freuden darauf eingegangen. Doch – mich packt wieder die Angst“, sagte sie, sich scheu umsehend, „ich muß nach Hause.“

„Nach Hause?“ wiederholte Rosa, großen Nachdruck auf die Worte legend.

„Nach Hause“, entgegnete Nancy, „nach einem solchen Heim, wie ich es mir durch die Arbeit eines ganzen schlechten Lebens geschaffen habe. Lassen Sie uns scheiden. Man könnte mich sehen oder beobachten. Gehen Sie! Gehen Sie! Wenn ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, so wünsche ich dafür nur, daß Sie mich jetzt allein meines Weges ziehen lassen.“

„Es ist alles vergeblich“, seufzte der Herr. „Wir gefährden sie vielleicht, wenn wir noch bleiben, und haben sie wohl schon länger aufgehalten, als sie erwartet hatte.“

„Ja, so ist’s“, sagte Nancy.

„Was kann wohl das Ende dieser Armen sein?“ rief Rosa aus.

„Das Ende?“ wiederholte das Mädchen. Blicken Sie hinunter in das dunkle Wasser, Fräulein. Wie oft liest man von meinesgleichen, die sich in die Flut hinunterstürzen und kein lebendes Wesen zurücklassen, das sich um sie bangt oder beweint. Es können Jahre darüber hingehen oder auch nur Monate – aber schließlich wird das mein Ende sein.“

„Um Gotteswillen, reden Sie nicht so“, schluchzte Rosa.

Der Herr wandte sich ab.

„Nehmen Sie – um meinetwillen“, rief Rosa der sich entfernenwollenden Nancy zu. „Nehmen Sie diese Börse! Sie kann Ihnen in der Stunde der Not von Vorteil sein.“

„Nein, nein“, antwortete Nancy. „Was ich tat, habe ich nicht für Geld getan. Lassen Sie mir wenigstens diesen Trost. Doch – geben Sie mir ein Andenken, etwas, was Sie getragen haben. Nein – keinen Ring! Ihre Handschuhe oder Ihr Taschentuch. So! Gott segne Sie! Gute Nacht!“

Man vernahm sich entfernende Schritte, und die Stimmen schwiegen. Die Gestalten der jungen Dame und ihres Begleiters Herrn Brownlow erschienen bald nachher auf der Brücke.

Der Horcher blieb noch einige Minuten regungslos auf seinem Posten und kroch dann aus seinem Versteck hervor, nachdem er sich vorher überzeugt hatte, daß er wieder allein sei. Auf dem oberen Treppenabsatz schaute sich Noah Claypole noch einmal vorsichtig um und rannte dann, so schnell wie seine Beine konnten, dem Hause des Juden zu.

Unglückliche Folgen

Es war ungefähr zwei Stunden vor Tagesanbruch, als der Jude wachend in seiner Höhle mit bleichem Gesicht und blutrot unterlaufenen Augen dasaß, daß er nicht einem Menschen, sondern eher einem aus dem Grabe gestiegenen Gespenste glich.

Er kauerte, in eine alte zerrissene Bettdecke gehüllt, an einem kalten Herd und richtete seinen Blick auf ein dem Erlöschen nahes Licht, das neben ihm auf dem Tische stand.

Auf einer Matratze am Boden lag ausgestreckt Noah Claypole in tiefem Schlafe. Der alte Mann ließ zerstreut seinen Blick zwischen ihm und der Kerze schweifen, deren überhängender Docht den heißen Talg auf das Tischtuch träufeln ließ. Die Gedanken des Juden waren mit anderen Dingen beschäftigt. Der Verdruß über die Vereitlung seines Plans, der Haß gegen das Mädchen, das gewagt hatte, ihn an Fremde zu verraten, das Mißtrauen gegen die Aufrichtigkeit ihrer Weigerung, ihn auszuliefern, die Wut, sich an Sikes nicht rächen zu können, die Furcht vor der Entdeckung und dem Galgen – alles dies ging ihm durch den Kopf und brütete in seinem Hirn neue Pläne schwärzester Bosheit aus.

Er saß regungslos da und kümmerte sich nicht im geringsten um das Entschwinden der Zeit. „Endlich“, murmelte er, als er Schritte auf der Straße hörte. „Endlich!“

Die Klingel ertönte leise. Er schlich zur Haustür und kehrte bald mit einem vermummten Manne zurück, der einen Packen unter dem Arme trug. Es war Sikes.

„Da!“ sagte er, das Bündel auf den Tisch werfend. „Verwerte es, so gut du kannst. Es hat mir Mühe genug gemacht, es zu kriegen. Ich wollte schon vor drei Stunden hier sein.“

Fagin nahm den Packen und schloß ihn in den Schrank. Ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich wieder, starrte aber den Verbrecher unverwandt mit zitternden Lippen an.

„Was ist los?“ schrie Sikes. „Warum siehst du mich so an? Sprich!“

Der Jude hob seine rechte Hand hoch und bewegte den Zeigefinger hin und her. Er versuchte zu sprechen, konnte aber nicht.

„Zum Teufel!“ schrie Sikes und faßte in seine Brusttasche. „Er ist wahnsinnig geworden – ich muß mich vorsehen.“

„Nein –. nein!“ sagte Fagin, der endlich seine Sprache wiederfand. „Es ist nicht – Ihr seid es nicht, Bill. Ich habe nichts gegen Euch, gar nichts.“

„Hast nichts gegen mich, wirklich?“ entgegnete Sikes und warf ihm einen wilden Blick zu. Er holte seine Pistole aus der Brusttasche. „Das ist ein Glück – für einen von uns. Für welchen, ist gleichgültig.“

„Ich habe Euch etwas zu sagen, Bill“, versetzte Fagin, seinen Stuhl näher rückend, „was Euch stark aufregen wird.“

„So?“ sagte der Verbrecher mit ungläubiger Miene.

„Rede, aber mach schnell, sonst denkt Nancy, mir ist ein Unglück zugestoßen.“

„Ein Unglück zugestoßen?“ rief Fagin. „Sie hat Euch selber eins zugedacht.“

Sikes blickte dem Juden betroffen ins Gesicht, und da er darin nichts lesen konnte, faßte er den Juden am Rockkragen und schüttelte ihn tüchtig mit derber Faust.

„Heraus mit der Sprache oder ich drück‘ dir die Kehle zu. Mach das Maul auf und rede, du alter Schurke, du!“

„Denkt Euch, der Junge, der hier liegt –“ begann Fagin.

Sikes drehte sich nach dem schlafenden Noah um, ließ den Juden los und sagte: „Weiter!“

„Nehmt mal an, fuhr Fagin fort, „dieser Bursche plauderte aus, verpfiff uns alle – suchte zu diesem Zweck zuerst die rechten Leute und träfe mit ihnen dann auf der Straße zusammen, um ihnen Beschreibungen von uns und unsern Schlupfwinkeln zu geben.“ Die Augen des Juden blitzten vor Wut. „Wenn er dies täte, was dann?“

„Was dann?“ sagte Sikes mit einem schrecklichen Fluche. „Den Schädel würde ich ihm in so viele Stücke zertreten, als er Haare auf dem Kopfe hat.“

„Aber wie, wenn ich es täte?“ rief der Jude mit kreischender Stimme. „Ich, der ich so viel weiß und so viele an den Galgen bringen könnte!“

„Ich weiß nicht“, entgegnete Sikes zähneknirschend und bei dem bloßen Gedanken schon erblassend. „Aber ich täte im Gefängnis etwas, daß man mich in Ketten legen müßte. Und stünde ich mit dir vor Gericht, würde ich vor den Richtern und allen Menschen dir im Gerichtssaal den Kopf einschlagen. Dein Schädel würde aussehen, als ob ein beladener Wagen darübergegangen wäre.“

„Das würdet Ihr tun?“

„Ob ich’s tun würde. Stelle mich mal auf die Probe!“

„Wenn’s aber Karl Bates oder der Gannef oder Betsy oder –“

„Mir gleichgültig“, sagte der Einbrecher ungeduldig. „Wer es auch sein mag, ich würde ihm in dieser Weise dienen.“

Fagin sah den Räuber fest an und bückte sich dann über den Jüngling, um ihn aus dem Schlafe zu rütteln. Sikes sah neugierig zu.

„Bolter! Bolter! – Der arme Junge!“ meinte Fagin, indem er im Vorgefühl einer höllischen Schadenfreude aufblickte und mit starker Betonung fortfuhr: „Er ist müde, weil er ihretwegen so lange wachen mußte – ihretwegen, Bill!“

„Was soll das heißen?“ fragte Sikes, sich im Stuhl aufrichtend.

Der Jude gab keine Antwort, sondern brachte den schlaftrunkenen Noah in eine sitzende Stellung. Dieser gähnte, rieb sich die Augen und guckte sich verwirrt um.

„Erzähle es noch einmal, daß der es auch hört“, sprach Fagin, auf Sikes deutend.

„Was soll ich erzählen?“ fragte Noah, sich rekelnd.

„Die Geschichte von – Nancy!“ erwiderte der Jude, Sikes‘ Handgelenk fest umklammernd, als wollte er verhindern, daß er das Haus verließe, ehe er genug gehört hätte. „Du folgtest ihr?“

„Ja.“

„Nach der Londoner Brücke?“

„Ja.“

„Wo sie mit zwei Personen zusammentraf?“

„Ja.“

„Einem Herrn und einer Dame, zu der sie früher schon aus freien Stücken gegangen war. Der Herr forderte sie auf, alle ihre Genossen anzugeben, besonders aber Monks, was sie tat – und ihn zu beschreiben, was sie tat – und zu verraten, in welchem Gasthause wir verkehrten, was sie tat – und zu welcher Zeit man unsere Leute dort treffen könne, was sie tat. Sie beichtete alles, ohne durch eine Drohung dazu gezwungen zu sein. Nicht wahr, das tat sie – das tat sie?“ rief der Jude halb verrückt vor Wut.

„Stimmt, genau so verhält sich die Sache“, sagte Noah, sich den Kopf kratzend.

„Und was sprach man vom letzten Sonntag?“ fragte der Jude.

„Vom letzten Sonntag?“ fragte Noah, sich besinnend. „Na, das habe ich Ihnen doch schon vorhin erzählt.“

„Erzähle es noch einmal, schnell“, schrie Fagin mit wutschäumenden Lippen.

„Man fragte sie“, sagte Noah, dem es jetzt zu dämmern schien, wer Sikes sein möchte, „warum sie letzten Sonntag nicht wie verabredet gekommen sei. Sie erwiderte darauf, sie hätte nicht können.“

„Sag ihm, warum sie nicht hätte können!“

„Weil sie mit Gewalt zurückgehalten worden sei – von Bill, dem Manne, von dem sie der jungen Dame schon früher erzählt hätte!“

„Was sagte sie weiter von ihm?“ schrie Fagin.

„Nun, sie sagte, es sei schwer, von ihm fortzukommen, ohne daß er wisse, wohin sie gehe. Sie hätte ihm daher das erstemal, als sie die Dame besuchte, einen Schlaftrunk gegeben. Ha! ha! ha! Ich mußte lachen, als ich sie so reden hörte.“

„Tod und Teufel!“ brüllte Sikes, den Juden zurückstoßend. „Laß mich los.“ Er schleuderte den Alten von sich und rannte aus dem Zimmer.

„Bill! Bill!“ rief der Jude ihm nacheilend. „Auf ein Wort, nur ein Wort!“

Es wäre zu diesem Worte nicht gekommen, wenn der Verbrecher imstande gewesen wäre, die Haustür zu öffnen, an der er vergebens unter mächtigem Fluchen seine Wut ausließ, als Fagin keuchend anlangte.

„Laß mich hinaus!“ tobte Sikes. „Laß mich hinaus, sag‘ ich dir. Will nichts mehr hören!“

„Nur ein Wort“, sagte der Jude und legte die Hand aufs Türschloß. „Ihr werdet doch nicht –“

„Was?“

„Ihr werdet doch – keine Gewalttat begehen, Bill?“

Der Tag brach an, und es war hell genug, daß die Männer ihre Gesichter erkennen konnten. Sie wechselten einen einzigen Blick; in beider Augen glühte ein Feuer, das sich nicht mißdeuten ließ.

„Ich meine“, fuhr der Jude fort, der erkannte, daß Verstellung nutzlos sei, „ich meine, der eigenen Sicherheit wegen, kein Blutvergießen. Seid schlau, Bill, und nicht zu gewalttätig.“

Sikes gab keine Antwort, sondern stürzte sofort aus dem Hause, sobald Fagin geöffnet hatte.

Ohne anzuhalten, mit zusammengebissenen Zähnen stürmte der Räuber nach seiner Wohnung. Er öffnete sie sachte mit dem Schlüssel und ging in sein Zimmer hinauf, dessen Tür er hinter sich zweimal abschloß. Nun schob er die Vorhänge des Bettes zurück.

Auf demselben lag halb angekleidet Nancy. Er rüttelte sie aus dem Schlafe, und sie fuhr mit erschrockenem Gesicht auf.

„Erheb dich!“ sagte Sikes.

„Ach, du bist’s, Bill?“ sprach das Mädchen, erfreut über sein Kommen.

„Ja“, war die Erwiderung. „Steh auf!“

Es brannte ein Licht, aber der Räuber riß es aus dem Leuchter und warf es in den Kamin. Nancy erhob sich und gewahrte, daß der Morgen graute. Sie wollte zum Fenster, um die Vorhänge zurückzuziehen.

„Laß das“, fuhr Sikes sie an und hielt sie mit der Hand zurück. „Für das, was ich vorhabe, ist’s hell genug.“

„Bill!“ sagte das Mädchen ängstlich, „was guckst du mich so an?“

Er sah sie eine Weile mit weit aufgerissenen Augen und keuchender Brust an. Dann packte er sie an die Kehle, schleppte sie in die Mitte des Zimmers und mit einem Blick nach der Tür legte er seine schwere Hand auf ihren Mund.

„Bill! Bill!“ keuchte das Mädchen in Todesangst, „ich will nicht schreien oder weinen – nicht ein einziges Mal – höre mich an – sprich mit mir – sage mir, was ich getan habe!“

„Du weißt’s selbst am besten, du weiblicher Satan, man hat dich heute nacht belauscht und jedes deiner Worte gehört!“

„Dann, um Himmelswillen, schone mein Leben, wie ich deines schonte“, rief Nancy, sich fest an ihn klammernd. „Bill, lieber Bill, du kannst mich doch nicht töten wollen. Bedenkt, was ich heute nacht alles deinetwegen aufgegeben habe. Komm wieder zu Sinnen und erspare dir dies Verbrechen. Ich laß dich nicht los, und du kannst mich nicht abschütteln. Bill, Bill, um Gotteswillen, komm zu dir, ehe du mein Blut vergießt! Ich bin dir treu gewesen, bei meiner sündigen Seele, ich war dir treu!“

Der Einbrecher kämpfte vergebens, um seine Arme freizukriegen, die Nancy mit der Kraft der Verzweiflung fest umklammert hielt.

„Bill!“ rief das Mädchen, indem sie sich bemühte, ihren Kopf an seine Brust zu legen. „Der alte Herr und die liebe Dame sprachen von einem fernen Lande, wo ich meine Tage in Frieden beschließen könnte. Laß mich noch einmal zu ihnen gehen und sie bitten, dir dieselbe Wohltat zu erweisen. Dann wollen wir beide diesen schrecklichen Ort verlassen und weit von hier ein neues Leben beginnen und uns niemals wiedersehen. Sie sagten mir, Reue komme nie zu spät – ich fühle es jetzt – aber wir müssen Zeit haben – nur ein wenig Zeit.“

Sikes hatte einen Arm freigekriegt und ergriff seine Pistole. Doch mitten in seiner Wut kam ihm der Gedanke, daß der Mord sogleich entdeckt werden würde, wenn er Feuer gäbe; so schlug er Nancy aus Leibeskräften mit dem Kolben zweimal auf das zu ihm emporgehobene, das seine fast berührende Gesicht.

Sie wankte und fiel, fast blind von dem Blut, das aus einer tiefen Stirnwunde ihr Gesicht überströmte. Mit aller Gewalt erhob sie sich mühsam auf die Knie und zog aus ihrem Busen ein weißes Taschentuch – es war Rosas -hielt es mit gefalteten Händen so hoch gen Himmel, als es ihre entschwindenden Kräfte erlaubten und stammelte ein Gebet um Gnade und Erbarmen zu ihrem Schöpfer.

Es war ein gräßlicher Anblick. Der Mörder wankte zurück bis zur Wand und ergriff einen schweren Knüttel. Er bedeckte mit einer Hand sein Gesicht und schlug die Kniende nieder.

Sikes‘ Flucht

Von allen Verbrechen, die in jener Nacht in dem großen London begangen wurden, war dieses das größte. Die Sonne ging über die menschenreiche Stadt in voller Pracht auf und schien auch in das Zimmer, wo das ermordete Mädchen lag. Sikes versuchte das Eindringen des Lichtes zu verhindern, aber vergebens. Der Mörder rührte sich nicht – Furcht hatte alle seine Glieder gelähmt. Noch ein Stöhnen war ihrem Munde entwichen und ihre Hand hatte noch einmal gezuckt, aber immer wieder und wieder hatte er auf sie eingeschlagen. Schließlich warf er eine zerrissene Decke über sie, aber es war ihm so, als ob sie die Augen auf ihn richtete, deshalb nahm er die Decke wieder fort. Und da lag die Leiche – weiter nichts als Blut und zerfetztes Fleisch.

Er machte Licht, zündete im Kamin ein Feuer an und verbrannte den Knüttel. Dann wusch er sich und reinigte seine Kleider, aber es waren Flecke da, die nicht weggehen wollten. Er schnitt sie deshalb heraus und verbrannte sie. Wie war das Zimmer mit Blut bespritzt! Sogar die Füße des Hundes waren blutig. – Nachdem er mit allem fertig war, ging er, den Hund mit sich fortziehend, aus dem Zimmer und verschloß die Tür. Eine Minute später hatte er das Haus verlassen. Er ging auf die andere Straßenseite und guckte nach dem Fenster hinauf, um sich zu überzeugen, daß von außen nichts zu sehen wäre. Der Vorhang, den Nancy wegziehen wollte, um das Licht einzulassen, das sie nie wieder sehen sollte, war noch vorgezogen. Er wußte, daß die Leiche ganz in der Nähe lag. Gott! wie strahlend die Sonne darauf schien.

Er wandte den Kopf rasch ab und fühlte sich erleichtert, das Zimmer verlassen zu haben. Er pfiff dem Hunde und eilte fort. Er kam durch Islington nach der Hampsteader Heide und wanderte kreuz und quer ohne Plan darin herum. Er war hungrig und durstig geworden und wollte in Hendon eine Erfrischung einnehmen. Als er dort anlangte, schienen ihn alle Leute, selbst die Kinder auf den Straßen, mit Argwohn zu betrachten. Er kehrte daher wieder um, ohne den Mut zu haben, einen Trunk Wasser oder einen Bissen Brot zu fordern, obgleich er seit Stunden nichts über die Lippen gebracht hatte.

So lief er stundenlang durch die Heide und kam doch immer wieder auf denselben Fleck zurück. Endlich ging er auf Hatfield zu, es war inzwischen wieder Abend geworden. Um neun Uhr erreichte er das kleine Gasthaus des Dorfes. Es brannte Feuer im Kamin der Gaststube, um den einige Bauern mit ihren Bier- und Schnapsgläsern saßen. Sie machten für den Fremden Platz, aber er ließ sich in der äußersten Ecke nieder und aß allein, oder vielmehr mit seinem Hund, dem er hin und wieder einen Bissen zuwarf.

Nachdem der Mörder seine Zeche bezahlt hatte, saß er stumm da und war fast eingeschlafen, als ihn der lärmende Eintritt eines neuen Gastes weckte.

Dieser war ein alter Bursche, halb Hausierer, halb Quacksalber, der im Lande umherzog, um Wetzsteine, Streichriemen, Rasiermesser, Seifen, Putzpulver, Arzneien für Hunde und Pferde, billige Parfüms, Schönheitsmittel und ähnliche Waren zu verkaufen, die er in einem Kasten auf dem Rücken trug. Sein Kommen war für die Bauern das Zeichen für allerhand derbe Witze.

„Was ist denn das für ein Ding da? Ist’s gut zum Essen, Heinrich?“ fragte ein grinsender Bauer, indem er auf eine in Tafeln geschnittene Masse deutete.

„Das –“ sagte der Händler, die Ware zeigend, „ist ein untrügliches und unbezahlbares Mittel, um alle Arten von Flecke, Rost-, Schmutz-, Öl-, Fett- und andere Flecke aus Seide, Atlas, Leinwand, Battist, Tuch, Flor, Teppiche, Musselin oder sonstigen Wollstoffen herauszumachen. Hat ein Mädchen seine Ehre befleckt, so braucht es nur ein Täfelchen zu verschlucken und ist dann ein für allemal kuriert – denn es ist Gift. Will ein Herr seine Ehre beweisen, so braucht er ebenfalls nur solch Täfelchen zu kaufen, denn es ist jedenfalls so gut wie eine Pistolenkugel, und um vieles ekliger im Geschmack. – Ein Penny das Täfelchen! Trotz dieser vielen Vorzüge, nur ein Penny das Täfelchen!“

Es meldeten sich sofort ein paar Käufer, doch eine ganze Masse war noch unschlüssig. Der Verkäufer steigerte deshalb seine Beredsamkeit:

„Sie gehen reißend ab, so daß man nicht genug machen kann. Vierzehn Wasserwerke, sechs Dampfmaschinen und eine galvanische Batterie sind Tag und Nacht in Tätigkeit und doch kann man nicht genug fertigstellen. Also ein Penny für das Täfelchen – zwei Halbpennys tun’s übrigens auch, und vier Viertelpennys werden gleichfalls mit Vergnügen angenommen. Wein-, Obst-, Bier-, Schmutz-, Teer-, Blutflecke! Hier ist ein Fleck am Hute eines Herrn, den ich heraushabe, ehe er mir ein Glas Bier bestellen kann!“

„Donnerwetter“, brüllte Sikes, „laßt meinen Hut liegen!“

„Ich will ihn rein haben“, versetzte der Hausierer, den übrigen zunickend, „ehe Sie durch das Zimmer kommen können, um ihn zu holen. Meine Herren, bemerken Sie den dunklen Fleck auf dem Hut? Nicht größer als ein Schilling, aber dicker als eine halbe Krone. Mag es nun ein Obstfleck, Bierfleck, Teerfleck oder ein Blutfleck –“

Der Mann kam nicht weiter, denn Sikes warf mit einem gräßlichen Fluche den Tisch um, riß ihm den Hut aus der Hand und stürzte aus dem Hause. Vor dem kleinen Postgebäude stand die Londoner Postkutsche, und Sikes ging über die Straße, um auf die Gespräche der Leute zu horchen.

„Nichts Neues aus der Stadt, Ben?“ fragte der Wildhüter den Postbegleiter.

„Das Korn ist ein wenig gestiegen“, sagte dieser und zog sich seine Handschuhe an. „Auch hörte ich von einem Morde in Spitalfields sprechen, aber wer weiß, ob das stimmt.“

„Doch, es hat seine Richtigkeit“, sagte ein Herr, aus dem Fenster der Postkutsche blickend. „Eine gräßliche Tat!“

„So? Ein Mann oder eine Frau“, fragte der Postbegleiter, seine Hand an den Hut legend.

„Ein Weib“, sagte der Herr. „Man glaubt –“

Die Kutsche zog an, und der Begleiter schwang sich drauf. Das Posthorn tönte in lustiger Weise.

Sikes blieb in der Straße stehen, scheinbar unbewegt von dem, was er gehört hatte. Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Endlich schlug er den Weg nach St. Albans ein. Als er den Ort hinter sich hatte, bemächtigte sich seiner in der Dunkelheit eine Angst, die ihm das Innerste erbeben machte. Wenn der Wind durch die Blätter der Bäume fuhr, glaubte er das Stöhnen der Sterbenden zu hören. Er vermeinte, die Ermordete folge ihm auf Schritt und Tritt. Man rede ja nicht, daß Mörder ihrem Strafgericht entgehen, und die Vorsehung zu schlafen scheine. In einer einzigen Minute der Verbrecherangst liegt oft die hundertfache Pein und Not des gewaltsamen Todes.

Er kam zu einer leeren Hütte auf freiem Felde, die ihm Obdach für die Nacht bot. Er streckte sich dicht an der Wand nieder, konnte aber nicht schlafen, denn ein schreckliches Gesicht trat vor seine Seele. Zwei starre, weit aufgerissene Augen, glanzlos und gläsern, erschienen ihm mitten in der Dunkelheit und leuchteten, gaben aber kein Licht von sich. Es waren nur zwei, aber sie waren überall. Wenn er seine Augen mit der Hand bedeckte, so sah er sein Zimmer im Geiste vor sich. Auch die Leiche lag noch auf derselben Stelle – es waren dieselben Augen, die ihn zu verfolgen schienen, als er aus dem Mordzimmer schlich. – Er sprang auf und eilte wieder ins Freie. Die Gestalt war gespenstisch hinter ihm. Er ging wieder in die Hütte und versuchte zu schlafen, aber die Augen waren da, noch ehe er sich hingestreckt hatte. An allen Gliedern zitternd lag er da, während ihm ein kalter Schweiß aus allen Poren drang. Da trug ihm plötzlich der Nachtwind den Lärm entfernter Stimmen zu. Er eilte ins Freie und rannte querfeldein.

Der ganze Himmel schien in Flammen zu stehen. Das Geschrei wurde lauter, da stets neue Stimmen den Lärm vergrößerten. Die Sturmglocke heulte, und er konnte ganz deutlich den Ruf „Feuer“ verstehen. Es waren Leute da, – Männer und Frauen – Licht und Tätigkeit. Neues Leben kam über ihn. Er sprang über Hecken und Zäune, der Hund laut bellend immer mit.

Er war endlich zur Stelle. Halbangekleidete Menschen rannten jammernd hin und her. Einige bemühten sich, die scheugewordenen Pferde aus den Ställen herauszujagen, während andere das Rindvieh in Sicherheit zu bringen suchten. Andere kamen mit Habseligkeiten beladen aus den brennenden Häusern. Frauen und Kinder weinten, während die Männer sich durch Zurufe gegenseitig Mut zu machen suchten. Sikes schrie gleichfalls, bis er heiser wurde und stürzte sich in das dichteste Gedränge, um der Erinnerung zu entfliehen. Er arbeitete an den Spritzen, stieg Leitern auf, Leitern ab, auf die Dächer der Häuser – er war allerorten. Allein er schien ein gefeites Leben zu haben, denn bei Tagesgrauen, als nur noch geschwärzte Trümmer übriggeblieben waren, hatte er auch nicht eine Beule oder Schramme erhalten; er fühlte sich nicht einmal müde.

Als jedoch die wahnsinnige Aufregung vorüber war, kehrte ihm mit zehnfacher Gewalt das schreckliche Bewußtsein seiner verbrecherischen Tat zurück. Er sah sich mißtrauisch um, denn die Leute standen in Gruppen beieinander, und er fürchtete, der Gegenstand ihrer Unterhaltung zu sein. Er wollte mit seinem Hunde wegschleichen, als ihm einige Spritzenmänner zuriefen, an ihrem Frühstück teilzunehmen. Er nahm etwas Fleisch und Brot an, und als er einen Schluck Bier trank, hörte er die Leute von dem Morde sprechen.

„Man sagt, der Mörder sei nach Birmingham geflüchtet, aber man wird ihn schon kriegen. Die Kriminalpolizei ist bereits hinter ihm her, und morgen ist sein Steckbrief im ganzen Lande bekannt!“

Sikes sprang auf und rannte fort. Er wanderte, in steter Furcht vor einer zweiten schlaflosen Nacht, planlos weiter.

Plötzlich faßte er den verzweifelten Entschluß, wieder nach London zurückzukehren.

„Jedenfalls kann ich doch dort mit jemand reden“, dachte er, „und finde ein gutes Versteck. Da vermutet mich die Polizei am wenigsten. Ich verhalte mich acht Tage ganz still, und Fagin muß Geld ausspucken, damit flüchte ich nach Frankreich. Teufel auch, ich wag’s.“

Er machte sich auch gleich auf den Weg. Aber der Hund! Wenn ein Steckbrief hinter ihn erlassen war, hatte man sicher auch den Hund nicht vergessen. Dieser konnte ihn auf seinem Wege durch die Straßen verraten. Er entschloß sich daher, ihn zu ersäufen und sah sich nach einem Gewässer um. Im Gehen nahm er einen schweren Stein auf und band ihn in sein Taschentuch.

Der Hund sah diese Vorbereitungen und blieb aus Instinkt etwas weiter zurück. Als der Mörder am Rande eines Weihers haltmachte und sich umsah, um ihn zu rufen, legte sich der Hund auf den Bauch und rührte sich nicht von der Stelle.

„Hörst du nicht? Komm her!“ schrie Sikes und pfiff.

Langsam kam der Hund endlich näher. Als aber sein Herr sich bückte, um das Schnupftuch an seinem Halse zu befestigen, knurrte er und rannte zurück.

„Wirst du herkommen!“ schrie der Mörder wütend.

Doch der Hund wedelte nur mit dem Schwanze, aber rührte sich nicht. Plötzlich wandte er sich um und jagte davon. Der Verbrecher pfiff zu wiederholten Malen, aber kein Hund kam. So mußte er allein weiterwandern.

Monks und Herr Brownlow treffen endlich zusammen. Ihre Unterhaltung und die Nachricht, die sie unterbricht

Es war bereits dunkel, als Herr Brownlow vor seinem Hause aus einer Droschke kletterte und leise an die Tür klopfte. Sobald die Haustür geöffnet war, entstiegen dem Wagen zwei Männer mit einem dritten in ihrer Mitte und gingen schleunigst in das Haus. Dieser dritte war Monks.

Ohne ein Wort zu sprechen, klommen sie, Herr Brownlow an der Spitze, die Treppe hinauf nach einem kleinen Hinterzimmer. Vor dessen Tür machte Monks, der nur widerstrebend mitgegangen war, halt. Die beiden stämmigen Männer blickten den alten Herrn fragend an.

„Wenn er irgendwelche Schwierigkeiten macht, so schleppen Sie ihn auf die Straße, rufen nach der Polizei und beschuldigen ihn in meinem Namen eines schweren Verbrechens.“

„Wie können Sie sich erkühnen, so etwas von mir zu sagen?“ fragte Monks.

„Wie können Sie es wagen, mich dazu zu drängen, junger Mann?“ erwiderte Herr Brownlow und sah ihn streng an. „Wären Sie töricht genug, dieses Haus zu verlassen? Lassen Sie ihn los! So, mein Herr. Sie können ungehindert fortgehen, aber niemand kann uns auch hindern, Ihnen zu folgen. Doch ich warne Sie! Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, daß ich Sie wegen Raubes und Betruges verhaften lasse, sobald Sie den Fuß auf die Straße setzen. Ich bin dazu fest entschlossen. Sind Sie es auch, so kommt Ihr Blut auf Ihr eigenes Haupt.“

„Auf wessen Veranlassung bin ich von diesen Halunken aufgegriffen und hierher geschleppt worden?“ fragte Monks, die Männer dabei verächtlich ansehend.

„Auf meine Verantwortung hin. Wenn Sie sich wegen Freiheitsberaubung hätten beklagen wollen, unterwegs hatten Sie genügend Gelegenheit dazu. Sie hielten es aber für richtiger ruhig zu sein. Ich wiederhole, Sie können den Schutz des Gesetzes anrufen, aber ich werde dann gleich, falls die Gerichte in Anspruch nehmen. Ist die Sache aber erst vor den Richter gekommen, so haben Sie von mir keine Nachsicht mehr zu erwarten und dürfen dann nicht sagen, ich hätte Sie ins Verderben gestürzt.“

Monks zögerte, er wußte nicht, was tun.

„Sie müssen sich schnell entschließen“, fuhr Herr BrownIow mit Festigkeit fort. „Wollen Sie, daß ich Sie bei der Staatsanwaltschaft anzeige und Sie einer Strafe zuführe, deren Schwere ich wohl ahnen, aber nicht verhindern kann, so wissen Sie, was Sie zu tun haben. Wünschen Sie aber Nachsicht und die Vergebung derjenigen, die Sie so schwer geschädigt haben, so setzen Sie sich ohne Widerrede auf diesen Stuhl – er wartet auf Sie schon zwei Tage!“

„Gibt es –“ fragte Monks stotternd, „gibt es – keinen Mittelweg?“

„Nein, keinen!“

Monks setzte sich.

„Schließen Sie von außen die Tür“, sprach Herr Brownlow zu den beiden Männern, „und wenn ich klingele, kommen Sie herein!“

„Das ist eine nette Behandlung von dem ältesten Freunde meines Vaters.“

„Gerade weil ich Ihres Vaters ältester Freund war, junger Mann. Weil die Hoffnungen einer glücklichen Jugendzeit sich an ihn und das holde Wesen von seinem Blute knüpften, das zu früh zu Gott zurückkehrte und mich einsam und verlassen hier zurückließ. Weil er, noch ein Knabe, mit mir an dem Sterbebette seiner einzigen Schwester kniete und zwar an dem Tage, der sie zu meiner Frau gemacht hätte, wenn es der Wille Gottes gewesen wäre. Weil von jener Zeit an mein wundes Herz bis zu seinem Ende an ihm hing. Weil schöne Rückerinnerungen noch immer in meinem Herzen leben, und selbst Ihr Anblick mir ihn wieder ins Gedächtnis zurückruft. Das sind die Gründe, die mich veranlassen, Sie mit Nachsicht und Milde zu behandeln, obgleich Sie erröten müssen, Eduard Leeford, wie unwürdig Sie des Namens sind, den Sie tragen!“

„Was hat der Name mit dieser Sache zu tun?“ fragte Monks verstockt. „Was kümmert mich der Name?“

„Ihnen ist er nichts. Er war aber der Name des von mir geliebten Wesens und mir teuer. Ich bin froh, daß Sie einen anderen angenommen haben. Wirklich sehr froh.“

„Das ist alles recht schön“, sagte Monks trotzig nach einer ziemlich langen Pause, „aber was wollen Sie eigentlich von mir?“

„Sie haben einen Bruder, dessen leise ausgesprochener Name fast allein schon ausreichte, um Sie zu veranlassen, mich hierher zu begleiten.“

„Ich habe keinen Bruder. Sie wissen, daß ich der einzige Sohn meines Vaters bin.“

„Hören Sie, was ich weiß und Sie vielleicht nicht wissen. Es wird Sie interessieren. Es ist mir bekannt, daß Sie der einzige und unnatürliche Sprößling des unseligen Ehebundes sind, zu dem Familienstolz und schmutzigster Ehrgeiz seiner Verwandten Ihren Vater gezwungen haben, als er fast noch ein Knabe war!“

„Es ist mir gleichgültig, wie starke Ausdrücke Sie gebrauchen“, unterbrach ihn Monks mit höhnischem Lachen. „Sie kennen die Tatsache, und das genügt.“

„Aber ich kenne auch das Elend und die Qual dieser unpassenden Verbindung. Ich weiß, wie schwer die Unglücklichen die Kette trugen und sie durch die Welt schleppten. Ich weiß, wie der Gleichgültigkeit Abneigung, der Abneigung Haß und dem Hasse Abscheu folgte, bis sie zuletzt das Band zerrissen. Ihrer Mutter gelang es, die Vergangenheit bald zu vergessen, aber an Ihres Vaters Herzen fraß sie noch jahrelang.“

„Nun, sie haben sich getrennt“, versetzte Monks, „doch was hat das auf sich?“

„Zur Zeit ihrer Trennung hatte Ihre Mutter, während des lustigen Lebens auf dem Festland, ihren um zehn Jahre jüngeren Gatten ganz vergessen, der mit zerstörten Hoffnungen in der Heimat blieb und neue Freunde fand. Diesen Umstand wenigstens kennen Sie?“

„Nein“, antwortete Monks, die Augen abwendend und mit dem Fuß auf die Erde stampfend, wie ein Mann, der entschlossen ist, alles abzuleugnen.

„Ihr Benehmen wie Ihre Handlungen beweisen mir, daß Sie es nie vergessen und nie aufgehört haben, mit Bitterkeit daran zu denken. Ich spreche von der Zeit vor fünfzehn Jahren, wo Sie erst elf Jahre und Ihr Vater einunddreißig Jahre alt war; ich muß wiederholen, daß er beinahe noch ein Knabe war, als sein Vater ihm befahl, sich zu verheiraten. Muß ich auf Dinge zurückkommen, die einen Schatten auf das Andenken Ihres Erzeugers werfen, oder wollen Sie es mir ersparen und die Wahrheit enthüllen?“

„Ich habe nichts zu enthüllen“, versetzte Monks verwirrt. „Reden Sie nur ruhig weiter.“

„Nun denn“, fuhr Herr Brownlow fort, „zu Ihres Vaters neuen Freunden gehörte ein im Ruhestand lebender Seeoffizier, dessen Frau ein halbes Jahr zuvor gestorben war. Von seinen vielen Kindern waren ihm nur zwei Töchter geblieben, die eine ein schönes Mädchen von neunzehn, die andere noch ein Kind von drei Jahren.“

„Was geht mich das an?“ fragte Monks.

„Sie wohnten“, sprach Herr Brownlow weiter, ohne auf die Unterbrechung zu achten, „in einem Landesteil, den Ihr Vater auf seinen Reisen häufiger besucht und wo er auch später dauernden Aufenthalt genommen hatte. Die Bekanntschaft ging schnell in Vertraulichkeit und Freundschaft über. Ihr Vater war begabt wie wenige Männer – er hatte seiner Schwester Herz und Äußeres. Je mehr der alte Offizier ihn kennenlernte, desto inniger liebte er ihn. Ich wünschte, es hätte dabei sein Bewenden gehabt, aber seine Tochter tat dasselbe.“

Der alte Herr hielt inne. Monks biß sich in die Lippen und schlug die Augen nieder. Herr Brownlow bemerkte das und fuhr weiter fort:

„Am Ende des ersten Jahres war er verlobt, feierlich verlobt mit jener Tochter. Ihr Vater der Gegenstand der ersten, wahren, glühenden und einzigen Liebe eines arglosen, unerfahrenen Mädchens.“

„Ihre Erzählung wird lang“, bemerkte Monks, unruhig auf seinem Stuhl hin- und herrückend.

„Es ist eine wahrheitsgetreue Erzählung von Kummer, Prüfungen und Leiden, junger Mann“, versetzte der alte Herr, „und derartige Geschichten sind gewöhnlich lang, während die von ungetrübtem Glück gar kurz zu sein pflegen. Endlich starb einer der reichsten Verwandten und hinterließ ihm sein großes Vermögen. Ihr Vater mußte schleunigst nach Rom reisen, wo jener Verwandte gestorben war, ohne vorher seine eigenen Angelegenheiten ordnen zu können. Als er dort ankam, wurde er von einer tödlichen Krankheit befallen, worauf Ihre Mutter, als sie in Paris davon Kenntnis erhielt, zusammen mit Ihnen Ihrem Vater nachreiste. Er starb den Tag nach ihrer Ankunft in Rom – ohne Testament, so daß sein ganzes Vermögen Ihnen und ihr zufiel.“

Monks hörte bei diesem Teil der Geschichte atemlos zu.

„Ehe er abreiste“, sagte Herr Brownlow langsam, „kam er zu mir, da er auf seinem Wege nach Rom London berühren mußte.“

„Hiervon habe ich nie gehört!“ unterbrach ihn Monks, anscheinend unangenehm überrascht.

„Er kam zu mir und übergab mir unter anderm ein von ihm selbst gemaltes Bildnis jenes armen Mädchens, das er zwar ungern zurückließ, aber auf seiner eiligen Reise nicht mitnehmen konnte. Er war durch Kummer und Gewissensbisse zu einem Schatten abgezehrt und sprach in unzusammenhängender Weise von Schande und Verderben, die sein Werk wären. Er vertraute mir seine Absicht an, sein ganzes Vermögen zu barem Gelde zu machen, auch wenn es mit Verlust geschähe. Er gedachte, Ihre Mutter und Sie durch einen Teil des ihm durch die Erbschaft zugefallenen Vermögens abzufinden und wollte dann für immer England verlassen. Ich erriet nur zu gut, daß er nicht allein gehen würde. Selbst gegen mich, seinen alten Jugendfreund, war er mit weiteren Bekenntnissen zurückhaltend. Er versprach mir alles brieflich mitzuteilen und mich dann noch einmal zu besuchen. Ach, es war damals schon sein letzter Besuch! Ich erhielt keinen Brief und sah ihn nie wieder!“

„Ich ging“, fuhr Herr Brownlow nach einer kurzen Pause fort, „ich ging, als alles vorüber war, nach dem Schauplatz seiner sündigen Liebe, wie die Welt es nennen würde, fest entschlossen, wenn sich meine Befürchtungen bewahrheiten sollten, dem verirrten Mädchen Schutz und eine Heimat anzubieten. Die Familie hatte jedoch die Gegend eine Woche vorher, nach Regelung ihrer Angelegenheiten, bei Nacht und Nebel verlassen. Warum und wohin konnte mir niemand sagen.“

Monks atmete sichtlich auf und konnte ein triumphierendes Lächeln nicht unterdrücken.

„Als Ihr Bruder –“ sagte der alte Herr und rückte seinen Stuhl näher an Monks heran, „als Ihr Bruder, ein elendes, vernachlässigtes, in Lumpen gehülltes Kind, mir durch eine mächtigere Hand, als es der Zufall ist, in den Weg geführt wurde und durch mich einem Leben der Schande und des Lasters entrissen werden sollte –“

„Was?“ schrie Monks auf.

„Durch mich“, wiederholte Herr Brownlow. „Ich sagte ja, die Sache würde Sie interessieren. Ich sage: durch mich – denn ich sehe, daß Ihr schlauer Kumpan Ihnen meinen Namen verschwiegen hat, obgleich er sich nicht denken konnte, daß er Ihnen bekannt wäre. Als Ihr Bruder bei mir Zuflucht fand und krank in meinem Hause lag, setzte mich seine Ähnlichkeit mit dem erwähnten Gemälde in Erstaunen. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, daß er mir wieder weggefangen wurde, ehe ich seine Geschichte erfuhr –“

„Warum nicht?“ fragte Monks hastig.

„Weil Sie es selbst sehr gut wissen!“

„Ich?“

„Das Leugnen nützt Ihnen nichts, ich werde Ihnen beweisen, daß ich noch mehr weiß.“

„Sie – Sie können mir nichts beweisen“, stotterte Monks. „Ich fordere Sie auf, es zu tun.“

„Wir werden sehen“, sagte der alte Herr mit einem prüfenden Blick. „Ich verlor den Knaben und vermochte ihn trotz aller Anstrengungen nicht wiederzufinden. Da Ihre Mutter tot ist, so konnten Sie nur das Geheimnis aufklären. Als ich das letztemal von Ihnen hörte, hieß es, Sie wären auf Ihrer Besitzung in Westindien. Dorthin hatten Sie sich zurückgezogen. um den Folgen Ihres verbrecherischen Lebens in London zu entgehen. Ich reiste Ihnen nach, aber Sie hatten Ihren Zufluchtsort schon vor Monaten verlassen. Man glaubte, Sie wären in London, aber niemand konnte mir etwas Näheres mitteilen. Ich kehrte zurück. Ihre Geschäftsfreunde wußten auch Ihre Adresse nicht, sie sagten, Sie kämen ebenso unregelmäßig wie früher, manchmal alle Tage, dann wieder monatelang nicht. Man glaubte, daß Sie wieder in den zweideutigen Kreisen verkehrten, wo Sie sich schon als nicht zu bändigender Knabe Ihre Freunde suchten. Ich durchs wanderte die Straßen bei Tag und bei Nacht, doch waren meine Mühen bis vor zwei Stunden vergeblich.“

„Und nun, da Sie mich gefunden haben, was weiter?“ fragte Monks dreist und stand auf. „Betrug und Raub sind starke Worte – und gerechtfertigt, wie Sie glauben, durch die eingebildete Ähnlichkeit eines jungen Landstreichers mit der elenden Kleckserei eines längst Verstorbenen. Sie wissen nicht einmal, ob der Umgang dieses Pärchens ein Kind zur Folge hatte. Selbst das wissen Sie nicht!“

„Ich wußte es nicht“, sagte Herr Brownlow, gleichfalls aufstehend, „aber ich habe in den letzten vierzehn Tagen alles erfahren. Sie haben einen Bruder – Sie wissen es und kennen ihn. Es war ein Testament vorhanden, Ihre Mutter vernichtete es und hinterließ Ihnen nach ihrem Tode das Geheimnis nebst dem dadurch erzielten Gewinn. Es enthielt einen Hinweis auf ein Kind – der wahrscheinlichen Folge dieser traurigen Verbindung. – Das Kind wurde geboren und kam Ihnen zufällig in die Quere, wobei seine Ähnlichkeit mit Ihrem Vater zuerst Ihren Verdacht erregte. Sie begaben sich nach seinem Geburtsorte. Dort befanden sich Beweise – lang unterdrückte Beweise seiner Geburt und Herkunft. Sie vernichteten sie und erzählten es Ihrem Mitschuldigen, dem Juden, mit den Worten: ‚Der einzige Beweis, der den Jungen legitimieren könnte, liegt auf dem Grunde des Flusses, und die alte Hexe, die ihn von der Mutter empfing, modert in ihrem Sarge!‘ Unwürdiger Sohn, Feigling, Lügner, du Genosse von Dieben und Mördern, Eduard Leeford, du willst mir noch Trotz bieten?“

„Nein, nein, nein!“ schrie der Feigling, überwältigt von der wuchtigen Anklage.

„Jedes Wort, das zwischen dir und diesem nichtswürdigen Schurken gewechselt wurde, ist mir bekannt. Schatten an der Wand haben dein Geflüster aufgefangen und es mir hinterbracht. Der Anblick des verfolgten Kindes hat selbst auf das Laster Eindruck gemacht und ihm Mut und die Eigenschaften der Tugend verliehen. Ein Mord ist begangen, für den du moralisch mit verantwortlich bist.“

„Nein – nein!“ fiel Monks ein. „Ich wußte nichts davon. Ich war im Begriff, Erkundigungen über die Mordtat einzuziehen, als Sie mich wegführten. Den Anlaß zur Tat kannte ich nicht und glaubte, sie sei die Folge eines gewöhnlichen Streites gewesen!“

„Sie war die Folge einer teilweisen Enthüllung Ihrer Geheimnisse. Wollen Sie diese nun ganz offenbaren?“

„Ja, ich will’s.“

„Und Ihre Angaben mit Ihrer Unterschrift beglaubigen und sie vor Zeugen wiederholen?“

„Auch das verspreche ich.“

„Und ruhig hierbleiben, bis ein solches Dokument aufgesetzt ist, und mit mir sich an den Ort begeben, wo es rechtsgültig gemacht wird?“

„Wenn Sie darauf bestehen, will ich auch das tun , antwortete Monks.

„Sie müssen noch mehr tun“, fuhr Herr Brownlow fort, „Sie müssen dem unschuldigen Kinde Schadenersatz leisten. Wenn er auch die Frucht einer sündigen Liebe ist, so bleibt er doch Ihr Bruder. Sie haben die hierauf bezüglichen Paragraphen des Testaments nicht vergessen. Bringen Sie dieselben, soweit sie Ihren Bruder betreffen, zur Ausführung und gehen Sie dann, wohin es Ihnen beliebt. Sie dürfen ihm in dieser Welt nicht wieder begegnen!“

Während Monks mit finsterem Blick im Zimmer auf und ab ging und über diesen Vorschlag und die Möglichkeit, ihm auszuweichen, nachsann, wurde die Tür hastig aufgeschlossen, und Herr Losberne trat aufgeregt ins Zimmer.

„Der Mann wird bald ergriffen werden. Man wird ihn heute nacht noch verhaften“, rief er.

„Den Mörder?“ fragte der alte Herr.

„Ja, ja!“ antwortete der Doktor. „Man hat seinen Hund um einen seiner Schlupfwinkel herumschleichen sehen, und man nimmt an, daß der Verbrecher diesen unter dem Schutz der Nacht aufsuchen wird. Allenthalben sind Detektive aufgestellt. Eine Belohnung von hundert Pfund ist vom Staatsanwalt für seine Festnahme ausgesetzt!“

„Ich lege noch fünfzig Pfund zu und will es selbst an Ort und Stelle verkünden“, rief Herr Brownlow. „Wo ist Herr Maylie?“

„Harry? – Als er Sie mit Ihrem Freund hier wohlbehalten in der Droschke sah, schwang er sich aufs Pferd und schloß sich den Verfolgern des Mörders an.“

„Und was ist mit dem Juden?“ fragte Brownlow weiter.

„Als ich das letztemal von ihm hörte, war er noch nicht festgenommen, doch ist man seiner sicher!“

„Haben Sie Ihren Entschluß gefaßt?“ fragte Herr Brownlow Monks leise.

„Ja“, antwortete dieser, „aber – Sie – werden mich doch nicht bloßstellen?“

„Nein. Bleiben Sie jetzt hier, bis ich wieder zurückkomme. Das ist Ihre einzige Rettung!“

Die beiden alten Herren verließen das Zimmer, dessen Tür wieder von außen verschlossen wurde.

„Was haben Sie erreicht?“ fragte der Doktor flüsternd.

„Alles, was ich erhoffen konnte, und mehr. Schreiben Sie unsern Freunden, daß die Zusammenkunft übermorgen abend um sieben Uhr stattfinden soll. Wir werden aber ein paar Stunden früher da sein. – Doch mir kocht das Blut in den Adern, das arme ermordete Mädchen zu rächen. Wohin muß ich gehen?“

„Wenn Sie sofort auf das Polizeiamt gehen, werden Sie noch zeitig genug kommen“, entgegnete Losberne.

Die beiden Herren verabschiedeten sich nun hastig und in ziemlicher Aufregung.

Verfolgung und Flucht

Einer der schmutzigsten Winkel Londons ist Southwark, an der Themse gelegen, mit der Jakobsinsel, die von einem acht Fuß tiefen und zwanzig Fuß breiten, sumpfigen Graben umgeben ist, der jetzt unter dem Namen Folly Ditch bekannt ist. Er ist eine Einbuchtung des Flusses und kann durch Öffnen von Schleusen ganz mit Wasser gefüllt werden. Dann kann man von einer der hölzernen Brücken aus, die bei der Mühlengasse über den Graben geschlagen sind, sehen, wie die Bewohner der Häuser aus ihren Fenstern und Türen Eimer und Geschirr aller Art herunterlassen, um Wasser zu schöpfen. Die Häuser stehen hier auf versinkenden Fundamenten, und ihre Wände sind mit Kot beschmiert. Die Fenster zerbrochen, die Stuben eng und schmutzig, überall Dreck, Unflat und abstoßende Armut. Auf der Jakobsinsel Warenhäuser, die leerstehen und kein Dach mehr haben. Die Wände dem Einstürzen nahe, die Fenster ausgebrochen, und die Türen auf der Straße umherliegend. Die Häuser sind ohne Eigentümer und werden nur von denen bewohnt, die gewichtige Gründe haben, sich zu verbergen, oder ganz verarmt sind.

In einem oberen Gemache eines dieser Häuser, das mit der Rückwand gegen den Folly Ditch stand, saßen drei Männer in düsterm Schweigen. Der eine davon war Toby Crackit, der andere Herr Chitling und der dritte ein Kerl von etwa fünfzig Jahren, dessen Gesicht eine furchtbare Narbe aufwies, wohl die Folge einer Schlägerei. Er war ein entlaufener Sträfling namens Kags.

„Ich wollte“, sagte Toby zu Herrn Chitling, „du hättest eine andere Bleibe ausgesucht, als die zwei andern zu warm wurden, und wärst nicht hierhergekommen.“

„Ja, du Dussel, warum tatest du es nicht?“ fragte Kags.

„Ich glaubte, ihr würdet erfreuter sein, mich zu sehen“, versetzte Herr Chitling mit melancholischer Miene.

„Sieh bloß mal an!“ sagte Toby ironisch. Nach einer kleinen Pause fragte er Chitling, wann man Fagin festgenommen hätte.

„Gerade zur Essenszeit – nachmittags zwei Uhr. Karl Bates und ich entwischten durch den Waschhausschornstein, aber Bolter, der sich im leeren Wasserfaß mit dem Kopf nach unten versteckt hatte, wurde bei seinen langen Hammelbeinen gefaßt und mitgenommen!“

„Und Betsy?“

„Die arme Bet!“ sagte Chitling mit trübseligem Gesicht. „Sie ging, um sich die Leiche anzusehen, fing bei ihrem Anblick zu toben an und wollte mit dem Kopf gegen die Wand. Man mußte sie in eine Zwangsjacke stecken und nach dem Krankenhaus bringen. Da ist sie noch.“

„Was ist denn aus dem jungen Bates geworden?“ fragte Kags.

„Er stromert bis zum Dunkelwerden umher, wird also bald hier sein. Die Leute in den ‚Drei Krüppeln‘ sind auch alle verhaftet, ich sah, als ich dort vorbeiging, eine Menge Kriminalpolizisten im Gastzimmer.“

„Das ist schlimm. Wird wohl noch mancher dran, glauben müssen“, bemerkte Toby, sich auf die Lippen beißend.

„Es ist gerade Schwurgerichtsperiode“, sagte Kags, „und wenn Bolter als Kronzeuge gegen Fagin auftritt, was er aller Wahrscheinlichkeit nach tun wird, so kann man dem Juden am Freitag sein Urteil sprechen. Drei Tage darauf baumelt er! Hol mich der Teufel, wenn’s nicht stimmt!“

„Ihr hättet nur sehen sollen, wie das Volk tobte“, fuhr Chitling fort. „Die Polizisten kämpften wie die Teufel, sonst hätte die Menge den Juden in Stücke zerrissen. Sie hatte ihn schon mal in den Händen, aber die Polizei befreite ihn rasch wieder. Er war ganz mit Blut und Dreck bedeckt und hängte sich an die Kriminalbeamten, als wenn sie seine besten Freunde wären. Die Leute hatten ihn mit den Füßen getreten, und die Weiber drohten ihm, das Herz aus dem Leibe zu reißen. Ich kann die Greifer noch sehen, wie sie in dem Gedränge der Menge kaum aufrecht zu stehen vermochten und ihn so zwischen sich hinschleppten!“

Entsetzt saßen die Männer eine Weile schweigend da. Da hörten sie plötzlich auf der Treppe ein Trappeln, und gleich darauf sprang Sikes‘ Hund ins Zimmer. Von seinem Herrn war jedoch nichts zu sehen.

„Was bedeutet das?“ sagte Toby. „Er wird doch nicht hierherkommen wollen? Ich – ich hoffe nicht!“

„Wenn das seine Absicht wäre, so würde er mit dem Hunde gekommen sein“, meinte Kags und gab dem Hunde Wasser.

„Er“ – keiner nannte den Mörder bei seinem Namen – „er wird sich doch nichts angetan haben? Was meint ihr?“ fragte Chitling.

Toby schüttelte den Kopf.

„Wenn das wäre“, sprach Kags, „so würde uns der Hund an die Stelle führen wollen, wo er liegt. Nein, ich denke mir, er ist ins Ausland geflüchtet und hat den Hund zurückgelassen, sonst wäre das Tier nicht so ruhig.“

Der Hund kroch unter einen Stuhl, kauerte sich zusammen und begann zu schlafen.

Da es dunkel geworden war, so wurde der Fensterladen geschlossen und eine Kerze angezündet. Die schrecklichen Ereignisse der zwei letzten Tage hatten auf sie einen mächtigen Eindruck gemacht, und die Unsicherheit ihrer eigenen Lage machte sie ängstlich. Bei jedem Laut fuhren sie auf und sprachen nur im Flüstertone. Sie hatten schon eine Weile ganz stumm dagesessen, als sich plötzlich ein lautes Klopfen an der Haustür vernehmen ließ.

„Der junge Bates“, meinte Kags.

Das Klopfen wiederholte sich. Bates war es nicht, der hatte nie so gepocht. Crackit ging aus Fenster und steckte zitternd den Kopf hinaus. Er brauchte den andern nicht zu sagen, wer unten sei. Sein blaßgewordenes Gesicht sprach deutlich genug. Der Hund war im Augenblick wach und lief winselnd an die Tür.

„Wir müssen ihn hereinlassen“, sagte Crackit, nach dem Kerzenleuchter greifend.

„Läßt sich’s nicht anders machen?“ fragte Kags mit heiserer Stimme.

„Nein, wir müssen ihm öffnen.“

Crackit ging hinunter und kam mit einem vermummten Mann zurück. Es war Sikes. Er hatte tiefliegende Augen im erdfahlen Gesicht, eingefallene Backen und atmete kurz und schwer. Er griff nach einem Stuhl und setzte sich dicht an die Wand, so dicht, als es gehen wollte.

Alle schwiegen, endlich fragte Sikes mit hohler Stimme:

„Wie kam der Hund hierher?“

„Allein. Vor drei Stunden.“

„Die Abendzeitungen schreiben, Fagin sei verhaftet. Ist es wahr oder gelogen?“

„Wahr.“

Es folgte abermals eine Pause.

„Geht zum Teufel alle miteinander!“ schrie Sikes und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Habt ihr mir nichts zu sagen?“

Sie wurden unruhig, aber keiner sprach.

„Du, der du hier den Hausherrn spielst“, sagte Sikes zu Crackit, „hast du die Absicht, dir die Belohnung zu verdienen, oder darf ich mich hier verstecken, bis die Verfolgung vorüber ist?“

„Du kannst hierbleiben, wenn du es für richtig hältst“, antwortete der Angeredete nach einigem Zögern.

„Ist sie – sie – ist die Leiche – schon begraben?“ fragte Sikes mit stockender Stimme.

Sie schüttelten die Köpfe.

„Warum nicht? Warum behält man so etwas Häßliches über der Erde? – Wer klopft da?“

Crackit meinte, es wäre nichts zu befürchten. Er ging, um zu öffnen, und kam bald mit Karl Bates wieder. Sikes saß gerade der Tür gegenüber, so daß er dem eintretenden Jungen sofort ins Auge fallen mußte.

„Toby“, sagte Karl zurückprallend, als Sikes ihn anguckte, „warum habt Ihr mir das nicht vorher gesagt?“

Der Mörder wollte den Jungen für sich günstig stimmen und streckte ihm die Hand entgegen.

„Laßt mich in eine andere Stube gehen“, sagte Bates zurückweichend.

„Warum, Karl?“ fragte Sikes, auf ihn zugehend. „Kennst du – kennst du mich denn nicht?“

„Komm mir nicht zu nahe!“ schrie der Junge und wich wieder einige Schritte zurück. „Scheusal! Ungeheuer!“

Der Mörder blieb stehen, und sie sahen sich gegenseitig an, doch Sikes konnte den Blick nicht aushalten und schlug zuletzt die Augen nieder.

„Ich nehme euch drei zu Zeugen“, schrie der Junge, die geballte Faust schüttelnd, in mächtiger Aufregung, „ich nehme euch drei zu Zeugen – ich habe keine Angst vor ihm – ich verrate ihn, wenn man ihn hier sucht. Das tue ich! Ich sage es frei heraus und mag er mich kalt machen, falls er den Mut dazu hat, wenn ich hier bin, verrate ich den Unmenschen. Ich würde ihn auch angeben, wenn er lebendig verbrannt werden sollte. Hilfe! Mörder! Wenn ihr noch richtige Kerle wäret und keine feigen Memmen, so würdet ihr mir jetzt helfen. Hilfe! Mörder! Schlagt ihn nieder!“

Mit diesen Worten stürzte sich der Junge allein auf den großen, kräftigen Mann und brachte ihn durch die überraschende Schnelle und Heftigkeit des Angriffs zu Fall. Die drei Zuschauer waren wie vom Donner gerührt machten aber keine Miene einzugreifen. Der Junge wälzte sich mit dem Mörder auf dem Boden herum und schrie laut um Hilfe, doch war der Kampf zu ungleich, um lange zu währen. Sikes hatte Bates unter sich gebracht und setzte ihm das Knie auf die Kehle, als Crackit ihn zurückriß und bestürzt nach dem Fenster zeigte. Man sah unten auf der Straße Lichter schimmern und hörte laute Stimmen. Von der nächsten Brücke erscholl der Klang zahlloser Fußtritte. Unter der Menge, die über die Brücke quoll, schien sich auch ein Reiter zu befinden, denn der Schall von Huftritten ertönte auf dem holprigen Pflaster. Der Tumult wurde immer größer, schließlich wurde an die Haustür geklopft.

„Hilfe!“ schrie Karl Bates mit gellender Stimme. „Der Mörder ist hier! Schlagt die Tür ein!“

„Im Namen des Königs!“ wurde von draußen gerufen und gleich darauf erhob sich neuer Lärm.

„Schlagt die Tür ein!“ brüllte der Junge. „Man macht euch doch nicht auf. Kommt herauf ins Zimmer, wo Licht ist. Brecht die Tür auf!“

Wuchtige Schläge donnerten gegen die Tür und die Fensterläden des Erdgeschosses, und ein lautes Hurra gab den Halunken im Hause zum erstenmal einen richtigen Begriff von der Anzahl der Verfolger.

„Wo kann ich den schreienden Teufelsbraten einsperren?“ schrie Sikes wütend und warf den zappelnden Jungen in eine kleine Kammer, die Toby aufgeschlossen hatte. Er schob den Riegel vor und fragte:

„Ist die Haustür gut fest?“

„Doppelt verschlossen und dreifach verriegelt“, sagte Crackit, der wie betäubt dastand.

„Und die Fensterläden?“

„Gut gesichert.“

„Der Teufel soll euch holen!“, brüllte der Verbrecher aus dem Fenster zur Menge hinab. „Strengt euch an, so viel ihr wollt, ich pfeife darauf, ihr kriegt mich doch nicht!“

Ein Wutgeschrei der Volksmasse war die Antwort. Einige riefen, man solle Feuer an das Haus legen, andere schrien den Polizisten zu, den Mörder doch totzuschießen. Der Reiter schwang sich aus dem Sattel und rief mit Stentorstimme: „Zwanzig Guineen demjenigen, der mir eine Leiter bringt.“

Hunderte riefen nunmehr nach Leitern, und die Aufregung der immer größer werdenden Volksmasse wuchs zusehends. Einige der Kühnsten versuchten an der Wasserrinne und der zerbröckelten Wand hinaufzuklimmen.

„Ich kam an, als es Flutzeit war“, sagte der Mörder, nachdem er das Fenster wieder geschlossen hatte. „Gebt mir ein Seil – ein langes Seil. Ich werde mich hinten in den Graben hinunterlassen und entwischen. Sie sind ja alle vorn. Schnell ein Seil, oder ich begehe noch drei Morde und hänge mich dann auf!“

Toby wies nach einer Ecke, wo Stricke lagen, und Sikes suchte sich hastig den längsten und stärksten heraus. Er ging damit nach dem Dach.

Alle Fenster an der Hinterseite des Hauses waren zugemauert, mit Ausnahme eines Loches in der Kammer, wo Karl Bates eingesperrt war. Es war aber zu klein, als daß er hätte durchkriechen können. Durch diese Öffnung rief jedoch der Junge unaufhörlich den Außenstehenden zu, auch die Rückseite des Gebäudes zu bewachen. Als der Mörder aus dem Dachfenster stieg, wurde es sogleich bemerkt. Er kroch über die Ziegel und beugte sich über den Dachrand. Das Wasser war infolge der Ebbe abgelaufen und der Graben ein Schlammbett.

Die Menge sah lautlos und gespannt zu, was der Mörder nun wohl beginnen würde. Als sie gewahrte, daß er sich in der Flucht verrechnet hatte, erhob sie ein mächtiges Triumphgeschrei, gegen das alle früheren nur ein Flüstern waren.

„Jetzt hat man ihn!“ rief ein Mann auf der nächsten Brücke. „Hurra!“

Ein tausendfaches Echo folgte.

„Ich verspreche fünfzig Pfund demjenigen, der den Mörder lebend ergreift!“ rief ein alter Herr auf der Brücke. „Ich bleibe hier stehen, um die Summe sofort auszuzahlen.“

Neues Gebrüll. In diesem Augenblick verbreitete sich das Gerücht, daß die Haustür aufgebrochen und der Mann, der zuerst nach der Leiter gerufen, in das Zimmer eingedrungen sei. jeder wollte nun sehen, wie der Mörder von den Polizisten abgeführt würde. Es entstand ein furchtbares Gedränge, und die Aufmerksamkeit wurde von dem Dache abgelenkt.

Sikes beschloß jetzt, den letzten Rettungsversuch zu wagen und sich in den Graben hinunterzulassen, selbst auf die Gefahr hin, im Schlamme zu ersticken. Er schlang das eine Ende des Seiles fest um den Schornstein und machte an dem anderen Ende unter Zuhilfenahme der Zähne im Nu eine starke Laufschlinge. Er konnte sich mit dem Strick fast bis auf Manneslänge vom Boden hinunterlassen und hielt sein Messer bereit, um ihn rechtzeitig durchzuschneiden und sich fallen zu lassen.

Er hatte sich eben die Schlinge über den Kopf geworfen und war im Begriff mit den Armen gleichfalls durchzuschlüpfen, als der alte Herr die Leute darauf aufmerksam machte, daß der Verbrecher sich vom Dache hinunterlassen wolle. Im selben Augenblick sah sich Sikes um, stieß einen Schrei des Entsetzens aus und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen.

„Da sind die Augen wieder!“ rief er mit Grabesstimme und taumelte wie vom Blitz getroffen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel über den Rand des Daches. Die Schlinge am Halse, sauste er fünfunddreißig Fuß hinab. Ein plötzlicher Ruck, ein krampfartiges Zucken der Glieder – und da hing er, entseelt, das Messer in der erstarrten Hand!

Der alte Schornstein hatte der Erschütterung standgehalten. Sikes‘ Hund lief heulend auf dem Dache hin und her und nahm endlich einen Ansatz, um auf die Schultern des toten Mannes zu springen. Er verfehlte jedoch sein Ziel, fiel in den Graben, in dem er sich überkugelte. Mit dem Kopf auf einen Stein schlagend, verspritzte er sein Gehirn.

Enthüllt verschiedene Geheimnisse und enthält einen Heiratsantrag ohne ein Wort von Ausstattung und Nadelgeld

Zwei Tage nach den im letzten Kapitel erzählten Ereignissen befand sich Oliver nachmittags um drei Uhr In einem Reisewagen, der rasch dem Geburtsorte des Knaben zurollte. Frau Maylie, Rosa, Frau Bedwin und der gute Doktor waren bei ihm. Herr Brownlow folgte in einer Postkutsche, noch von jemand begleitet, dessen Name nicht erwähnt wurde.

Sie sprachen unterwegs wenig. Herr BrownIow hatte den beiden Damen und Oliver die Geständnisse, die er Monks abgerungen hatte, vorsichtig mitgeteilt. Jeder hing nun seinen Gedanken nach.

Als sie sich der Stadt näherten und endlich durch ihre engen Straßen fuhren, war der Junge ganz außer sich. Da stand Sowerberrys Haus gerade noch so wie früher. Er gewahrte Gamfields Karren vor einem Wirtshause. Das Armenhaus, das traurige Gefängnis seiner Kinderjahre, mit den düsteren Fenstern nach der Straße hinaus und demselben dürren Pförtner am Eingang. Es war ihm, als wenn er die Stadt erst gestern verlassen hätte, und sein neues Leben nur ein glücklicher Traum gewesen wäre.

Sie fuhren am ersten Gasthof vor, den Oliver nur mit Ehrfurcht anzusehen und für einen ganz gewaltigen Palast zu halten pflegte. Hier wurden sie von Herrn Grimwig empfangen, der eitel Freude und Sonnenschein war. Er küßte Rosa und auch die alte Dame, wie sie aus dem Wagen stiegen, als wäre er der Großvater der ganzen Gesellschaft. Er erbot sich nicht einmal, seinen Kopf aufzuessen – nicht einmal, als er einem sehr alten Postillion wegen des nächsten Weges nach London widersprach und es besser zu wissen behauptete, obgleich er ihn nur ein einziges Mal, und zwar im festen Schlaf gemacht hatte. Das Mittagessen und die Zimmer standen bereit alles war aufs beste angeordnet.

Herr Brownlow erschien nicht beim Essen, sondern blieb auf seinem Zimmer. Die beiden anderen Herren gingen mit wichtigen Mienen ein und aus und flüsterten geheimnisvoll, wenn sie im Zimmer waren. Einmal wurde Frau Maylie abgerufen und kam erst nach einer Stunde mit rotgeweinten Augen wieder zurück. Alles dies versetzte Rosa und Oliver in große Unruhe. Sie saßen stumm da und flüsterten nur, wenn sie sprachen, als fürchteten sie sich vor dem Ton ihrer eigenen Stimme.

Endlich, als die Uhr neun schlug, traten die Herren Losberne und Grimwig ins Zimmer, denen Herr Brownlow und ein Mann folgte, bei dessen Anblick Oliver laut aufschrie. Es war derselbe Mann, den er damals im Hofe des Gasthauses getroffen und dann an Fagins Seite vor dem Fenster seines kleinen Studierzimmers hatte stehen sehen. Monks warf einen haßerfüllten Blick auf den Jungen und setzte sich unweit der Tür. Herr Brownlow hatte einige Papiere in der Hand und trat an den Tisch, an dem Rosa und Oliver waren.

„Es ist zwar eine peinliche Sache begann er, „aber diese Erklärungen, die ich in London vor Zeugen niederschreiben und beglaubigen ließ, müssen der Hauptsache nach hier von Ihnen noch einmal persönlich abgegeben werden. Ich hätte Ihnen diese Demütigung gern erspart, aber Sie kennen die Gründe, warum wir sie aus Ihrem eigenen Munde abermals hören müssen, ehe wir uns trennen.“

„Los!“ sagte der Angeredete mit abgewandtem Gesicht, „machen Sie schnell. Ich habe genug getan. Halten Sie mich hier nicht unnötig auf.“

„Dieses Kind“, fuhr Herr Brownlow fort und zog Oliver an sich, „ist Ihr Halbbruder, der illegitime Sohn Ihres Vaters, meines teuren Freundes Edwin Leeford, und der unglücklichen Agnes Flemming, der die Geburt des Knaben das Leben kostete.“

„Ja“, sagte Monks, Oliver zornig anblickend, dessen Herz hörbar klopfte, „es ist ihr Bastard!“

„Der Ausdruck, dessen Sie sich bedienen“, sagte Herr BrownIow ernst, „enthält einen beleidigenden Vorwurf gegen Verstorbene, die dem Urteil dieser Welt längst entrückt sind, und beschimpft keine Lebenden außer dem, der ihn gebrauchte. Doch lassen wir das. Er wurde in dieser Stadt geboren?“

„In dem Armenhause dieser Stadt“, war die mürrische Antwort. „Sie haben die Geschichte doch in den Papieren dort aufgeschrieben.“

„Sie muß auch hier zur Sprache kommen.“

„Also hören Sie“, begann Monks. „Als sein Vater in Rom erkrankte, begab sich seine Frau, meine Mutter, von der er lange getrennt gelebt hatte, von Paris aus mit meiner Wenigkeit zu ihm – soviel ich weiß, um sich sein Vermögen zu sichern, denn sie hegte keine besondere Liebe für ihn, wie auch er nicht für sie. Er wußte nichts von unserer Anwesenheit, denn er war bereits besinnungslos und starb am folgenden Tag. Unter den Papieren, die sich in seinem Pulte vorfanden, waren zwei mit dem Datum des Tages, an dem er erkrankte. Sie waren nebst einigen kurzen Zeilen an Sie, Herr Brownlow, adressiert und trugen auf dem Umschlag die Weisung, daß sie erst nach seinem Tode abgeschickt werden sollten. Das eine dieser Papiere war ein Brief an jenes Mädchen Agnes und das andere ein Testament.“

„Und der Brief?“ fragte Herr Brownlow.

„Der Brief? Ein ganzer Bogen voll reuiger Selbstanklagen und Bitten, daß Gott ihr helfen möge. Er sagte darin dem Mädchen, daß ein Geheimnis, das sich eines Tages aufklären werde, ihn verhindert hätte, sich mit ihr zu vermählen. Sie hätte ihm hingebend vertraut, bis sie das verloren, was er ihr nicht mehr zurückgeben könnte. Sie hatte damals nur noch einige Monate bis zu ihrer Entbindung, und so teilte er ihr mit, was er zu tun beabsichtigte, um ihre Schande zu verdecken, wenn er am Leben bliebe. Er bat sie, wenn er sterben müßte, weder seinem Andenken zu fluchen, noch zu glauben, daß seine Sünde, an ihr oder seinem Kinde heimgesucht werden würde, da die ganze Schuld seine wäre. Er erinnerte sie an den Tag, an dem er ihr das Medaillon und den Ring schenkte, in dem ihr Taufname mit einer Lücke eingegraben war, die er eines Tages mit seinem Familiennamen auszufüllen gehofft hätte. Er flehte sie an, seine kleinen Geschenke an ihrem Herzen zu tragen, und kam dann immer wieder auf dieselben Worte zurück, als ob er schon nicht mehr klaren Geistes gewesen, was, wie ich vermute, auch der Fall war.“

„Das Testament“, sagte Herr Brownlow, während Oliver still vor sich hin weinte, „war in demselben Geiste abgefaßt wie der Brief. Ei sprach von dem Elend, das sein Weib über ihn gebracht hatte, und von dem störrischen Charakter, der Bosheit und den frühzeitigen lasterhaften Neigungen seines einzigen Sohnes, dem gelehrt worden war, den Vater zu hassen. Er vermachte Ihrer Mutter und Ihnen Jahresrenten von je achthundert Pfund. Sein Gesamtvermögen teilte er in zwei gleiche Teile und bestimmte den einen für Agnes Flemming und den andern für sein und ihr Kind, wenn es lebend zur Welt kommen und heranwachsen sollte. Für den Fall, daß es ein Mädchen wäre, sollte ihm die Erbschaft ohne weiteres zufallen. Wäre es jedoch ein Junge, so hafte die Bedingung daran, daß er während seiner Minderjährigkeit seinen Namen durch keine entehrende oder schlechte Tat befleckt habe, die das Einschreiten des Gerichts zur Folge gehabt hätte. Wie er ausführte, machte er diese Klausel, um dadurch sein Vertrauen zu der Mutter zu bekunden, daß das Kind der Erbe ihres schönen Herzens und ihres edlen Charakters werden würde. Sollte diese Erwartung trügen, so waren Sie zum Erben bestimmt; denn nur, wenn beide Kinder einander gleich wären – aber auch nur dann –, wollte er Ihren früheren Anspruch auf sein Vermögen anerkennen, obgleich Sie keinen auf sein Herz zu machen und ihn von früher Jugend an durch Kälte und Abneigung zurückgestoßen hätten.“

„Meine Mutter“, nahm nun Monks wieder das Wort, „tat, was jede Mutter getan hätte – sie verbrannte das Testament. Der Brief gelangte nie an seine Adresse. Aber sie bewahrte ihn und noch andere Schriftstücke für den Fall auf, daß man versuchen würde, den Fehltritt abzuleugnen. Sie berichtete dem Vater des Mädchens die Wahrheit mit Übertreibungen, die ihr der Haß eingab -ich liebe sie jetzt darum. Diese Nachricht bewog den alten Flemming, sich mit seinen Kindern in einen Winkel von Wales zurückzuziehen, wobei er zugleich seinen Namen änderte, damit seine Freunde ihn nicht entdeckten. Er wurde einige Zeit darauf tot in seinem Bette gefunden. Die Tochter hatte einige Wochen zuvor heimlich sein Haus verlassen. Er suchte sie in jedem Dorf und jeder Stadt der Umgegend. In der Nacht, als er mit der Überzeugung nach Hause kam, sie hätte sich das Leben genommen, um ihre Schande nicht zu überleben, brach das Herz des alten Mannes.“

Nach einem kurzen Schweigen fuhr Herr Brownlow in der Erzählung fort:

„Nach Jahren kam die Mutter dieses Menschen – dieses Eduard Leeford – zu mir. Er hatte sie verlassen, als er achtzehn Jahr alt war, und ihr Geld und Juwelen gestohlen. Das Gestohlene verspielt, Fälschungen begangen und war dann nach London geflüchtet, wo er in Verbrecherkreisen verkehrte. Sie siechte an einer unheilbaren Krankheit dahin und wünschte ihn vor ihrem Tode noch einmal zu sehen. Man forschte lange vergeblich nach ihm, endlich aber fand man ihn. Sie fuhren dann beide nach Frankreich zurück.“

„Nach einem langen Krankenlager“, erzählte Monks weiter, „starb sie dort. Auf ihrem Totenbette vermachte sie mir mit diesen Geheimnissen ihren tödlichen Haß gegen alle, die in die Angelegenheit verwickelt waren. Sie wollte nicht glauben, daß das Mädchen sich selbst und dem Kinde ein Leid angetan hätte, sie war vielmehr der festen Überzeugung, daß ein Knabe geboren und am Leben wäre. Ich schwur ihr, wenn der Junge je meinen Weg kreuzen würde, ihn mit unversöhnlicher Feindschaft zu verfolgen und ihn, den prahlerischen Redensarten des beleidigenden Testaments zum Trotz, an den Galgen zu bringen. Sie hatte recht. Er kam mir endlich in den Weg. Der Anfang ließ sich gut an, und wenn dieses verdammte Frauenzimmer nicht geschwatzt hätte, wäre dem guten Anfang auch ein dementsprechender Schluß gefolgt.“

Der Halunke verwünschte laut sich selbst, daß sein bösartiger Plan mißlungen war. Inzwischen erzählte Herr Brownlow den entsetzten Zuhörern, daß der Jude, Monks‘ Helfershelfer, eine große Belohnung für Olivers Verführung zum Schlechten erhalten hätte. Als der Junge entwich, sollte ein Teil der Summe wieder zurückerstattet werden, und der daraus entstandene Streit sei die Veranlassung gewesen, daß beide jenen Besuch in dem Landhause machten, der Olivers Identität feststellen sollte und diesen so erschreckte.

„Und was wurde aus dem Medaillon und dem Ringe?“ fragte Herr BrownIow Monks.

„Ich kaufte sie dem Manne und der Frau ab, die sie der Wärterin gestohlen hatten. Sie wissen, was daraus wurde“, sagte Monks, ohne die Augen zu erheben.

Herr Brownlow gab Grimwig einen Wink, der darauf plötzlich verschwand, aber bald wieder zurückkehrte, Frau Bumble ins Zimmer schob und deren widerstrebenden Eheherrn nach sich zerrte.

„Trügen mich meine Augen?“ rief Herr Bumble mit schlechtgespielter Freude, „oder ist dies wirklich der kleine Oliver? Ach, O-Ii-ver, wenn Sie wüßten, wie ich mich um Sie gegrämt habe!“

„Halt’s Maul, Dummkopf!“ murmelte Frau Bumble.

„Frau, ist’s nicht natürlich, ganz natürlich“, entgegnete Bumble, „muß mir nicht das Herz aufgehen, mir, der ich ihn als Gemeindekind erzogen habe – wenn ich ihn hier sitzen sehe zwischen so feinen Damen und Herren? Ich habe den Knaben immer geliebt wie meinen – meinen – meinen eigenen Großvater“, sagte endlich Herr Bumble, nachdem er einen passenderen Vergleich nicht gleich gefunden hatte,

„Ach bitte“, fiel Herr Grimwig ein, „unterdrücken Sie Ihre Gefühle!“

„Ich will mir Mühe geben“, sagte Herr Bumble. „Wie geht es Ihnen, mein Herr? Ich hoffe gut.“

Diese Begrüßung war an Herrn Brownlow gerichtet, der sich dem würdigen Ehepaar genähert hatte und nun, auf Monks zeigend, fragte:

„Kennen Sie diesen Mann?“

„Nein!“ antwortete Frau Bumble ohne Zögern.

„Aber Sie vielleicht, Herr Bumble?“

„Hab‘ ihn nie in meinem Leben gesehen!“

„Auch nichts verkauft?“

„Nein!“ entgegnete Frau Bumble.

„Sie haben auch nie ein gewisses goldenes Medaillon und einen Ring gehabt?“

„Allerdings nicht. Hat man uns bloß deshalb hierhergeholt, um uns derartig törichte Fragen beantworten zu lassen?“

Herr Brownlow winkte Herrn Grimwig abermals zu, und dieser verschwand wieder, um gleich darauf mit zwei gichtbrüchigen alten Weibern zurückzukehren.

„Sie haben zwar in der Nacht, als die alte Sally starb, die Tür verschlossen“, sagte die eine und hob ihre vertrocknete Hand hoch, „aber Sie konnten weder unsere Ohren noch die Ritzen in der Wand verstopfen.“

„Nein, nein, nein“, fügte die andere kopfwackelnd hinzu.

„Wir hörten, wie die Sterbende versuchte, Ihnen zu sagen, was sie getan, und sahen auch, wie Sie ein Papier aus ihrer Hand nahmen und am andern Tage ins Leihhaus gingen.“

„Haben Sie vielleicht Lust, den Pfandleiher selbst zu sehen?“ fragte Herr Grimwig und ging zur Tür.

„Nein“, sagte Frau Bumble, „weil er“, sie deutete auf Monks, „augenscheinlich Memme genug gewesen ist zu beichten, und da Sie unter allen diesen alten Hexen gerade die richtigen herausgefunden haben, so bleibt mir nicht mehr viel zu sagen. Ja, ich verkaufte ihm das Medaillon und den Ring, und der ganze Plunder liegt an einem Orte, wo Sie ihn nie wieder finden können. Und was weiter?“

„Nichts weiter“, antwortete Herr Brownlow, „als daß wir dafür sorgen werden, daß man euch aus euren Beamtenstellungen als unzuverlässig entfernt. Ihr könnt gehen.“

„Ich hoffe“, meinte Herr Bumble bestürzt, als Herr Grimwig mit den beiden alten Weibern wieder verschwunden war, „ich hoffe, daß dieser kleine Zwischenfall mir nicht mein Amt kosten wird.“

„Das wird er allerdings, darauf dürfen Sie sich gefaßt machen und noch froh sein, daß Sie so davonkommen.“

„Es war ausschließlich das Werk meiner Frau, sie wollte es so“, wandte Herr Bumble ein, nachdem er sich vorher mit einem schnellen Blick überzeugt hatte, daß seine Gattin nicht mehr im Zimmer war.

„Das ist keine Entschuldigung. Im Gegenteil, Sie sind für das Gesetz der schuldigere Teil, da in solchen Fällen angenommen wird, Ihr Weib hätte nach Ihrer Anweisung gehandelt.“

„Wenn das Gesetz so etwas annimmt“, erwiderte Herr Bumble und zerknüllte seinen Hut mit den Händen, „so ist das Gesetz ein Esel – ein Dummkopf. Wenn das Gesetz mit solchen Augen sieht, so ist es ein Junggeselle, und ich wünsche ihm das Ärgste, nämlich daß ihm die Augen durch Erfahrung aufgehen mögen – ja, durch Erfahrung.“

Nach diesen mit großem Nachdruck gesprochenen Worten stülpte Herr Bumble seinen Hut auf den Kopf, steckte die Hände in die Taschen und folgte seinem trauten Weib.

„Mein liebes Fräulein“, sagte Herr Brownlow, sich zu Rosa wendend, „geben Sie mir mal Ihre Hand. Zittern Sie nicht! Sie brauchen sich vor den paar Worten nicht zu fürchten, die noch zu sagen bleiben.“

„Wenn sie – ich weiß zwar nicht, wie das möglich wäre – doch wenn sie irgendwie mich betreffen, so lassen Sie sie mich ein andermal hören. Ich habe jetzt weder die Kraft noch den Mut dazu.“

„Ach“, sagte der alte Herr, ihren Arm durch seinen ziehend, „Sie sind mutiger, als Sie denken. – Kennen Sie diese junge Dame?“

„Ja,“ erwiderte Monks.

„Ich habe Sie nie gesehen“, sagte Rosa leise.

„Aber ich Sie oft“, versetzte Monks.

„Der Vater der unglücklichen Agnes hatte zwei Töchter. Was war das Schicksal der zweiten – des Kindes?“ fragte Herr Brownlow.

„Das Mädchen wurde, als der Vater an einem fremden Ort unter einem angenommenen Namen starb, von armen Leuten als eigenes Kind aufgezogen. Der Haß findet jedoch oft den Weg, wo die Liebe fehlgeht, denn meine Mutter entdeckte es nach Jahresfrist. Die Leute waren sehr arm und fingen an, wenigstens der Mann, ihrer Menschenfreundlichkeit müde zu werden. Sie ließ es deshalb da und machte ihnen ein kleines Geldgeschenk, womit sie jedoch keine großen Sprünge machen konnten. Meine Mutter versprach auch weitere Unterstützung, die zu schicken sie jedoch nicht im Sinne hatte. Sie hielt jedoch die Armut der Leute nicht für ausreichend, um das Kind recht unglücklich zu machen. Deshalb erzählte sie den Pflegeeltern noch die Geschichte von der ehrvergessenen Schwester und bat sie, auf das Kind recht acht zu haben. Es wäre doch ein uneheliches aus schlechter Familie, an dem man sicher wenig Gutes erleben würde. Die Umstände schienen dem recht zu geben, und die Leute glaubten alles. Das Mädchen wurde daher übel genug behandelt, so daß selbst wir damit zufrieden sein konnten. Da wollte es der Zufall, daß eine verwitwete Dame aus Chester das Kind sah und es aus Mitleid zu sich nahm. Der Teufel war gegen uns im Bunde, denn trotz aller unserer Bemühungen blieb es bei der Dame und war glücklich.“ Ich verlor es vor drei Jahren aus den Augen und sah es erst vor einigen Monaten wieder.“

„Sehen Sie es jetzt?“

„Ja – an Ihrem Arm.“

„Aber trotzdem meine Nichte –“ rief Frau Maylie, das beinahe ohnmächtig werdende Mädchen mit den Armen auffangend. „Du bleibst mein liebes Kind. Nicht für alle Schätze der Welt würde ich dich hergeben.“

„Sie sind die einzige Freundin, die ich hatte“, schluchzte Rosa an ihrem Busen, „die gütigste, die beste aller Freundinnen. Ich kann soviel auf einmal nicht ertragen, das Herz will mir brechen.“

„Du hast mehr getragen und bist trotzdem immer das gute, edle Mädchen geblieben, das Glück und Sonnenschein überall verbreitete. Komm zu dir, Liebling, sieh, wer es ist, der in deine Arme fliegen will, das arme Kind.“

„Ach, ich werde sie nie Tante nennen“, rief Oliver, seinen Arm um ihren Nacken schlingend, „Schwester, meine liebe Schwester. Meine Herzensrosa!“

Mögen die Tränen, die jetzt flossen, und die abgebrochenen Worte, die in den Umarmungen der beiden Waisen gewechselt wurden, geheiligt sein! – Sie blieben lange – lange allein. Ein leises Pochen an die Tür kündigte endlich an, daß jemand draußen sei. Oliver öffnete und ließ Harry Maylie ein, während er selbst hinausschlüpfte.

„Ich weiß alles“, sagte Harry, sich an der Seite des holden Mädchens niederlassend, „ich weiß alles, teuerste Rosa! Ich bin nicht aus Zufall hier, ich habe alles gestern schon gewußt. Errätst du wohl, daß ich komme, um dich an dein Versprechen zu erinnern?“

„Halt!“ sagte Rosa. „Du weißt wirklich alles?“

„Alles! Du gabst mir die Erlaubnis, innerhalb eines Jahres auf den Gegenstand unseres letzten Gesprächs wieder zurückzukommen.“

„Nicht um dich zu drängen, deinen Entschluß zu ändern, sondern nur, dich ihn wiederholen zu hören, wenn du noch derselben Ansicht wärest.“

„Dieselben Beweggründe, die mich damals bestimmten, werden mich auch jetzt leiten.“

„Die Aufklärungen heute abend –“ begann Harry.

„Diese Aufklärungen“, fiel ihm Rosa sanft ins Wort, „lassen mich dir gegenüber in derselben Lage, in der ich mich vorher befand.“

„Du verhärtest dein Herz gegen mich, Rosa!“

„Ach, Harry! Harry!“ sagte Rosa, in Tränen ausbrechend, „ich wollte, ich könnte es! Wieviele Schmerzen würde es mir ersparen!“

„Aber warum willst du dir selbst Schmerzen bereiten“, sagte Harry, ihre Hand ergreifend. „Denk doch an das, was du heute abend gehört hast, liebe Rosa!“

„Und was habe ich vernommen?“ schluchzte Rosa. „Daß das Gefühl, entehrt zu sein, so stark auf meinem Vater lastete, daß er sich von der Welt scheu zurückzog – wir haben genug über die Angelegenheit gesprochen, Harry, mehr als genug.“

„Noch nicht, noch nicht!“ entgegnete der junge Mann, das Mädchen, das aufstehen wollte, zurückhaltend. „Meine Hoffnungen, Wünsche, Aussichten – jeder Gedanke meines Lebens ist anders geworden, nur nicht meine Liebe zu dir. Ich biete dir jetzt keine hohe Stellung in der lärmenden Welt, sondern nur einen stillen Herd, ein Herz und einen Herd, ja, teuerste Rosa, nur diese beiden sind es, die ich dir anzubieten habe.“

„Was willst du damit sagen?“ stammelte das Mädchen.

„Nur, daß ich dich nach unserm letzten Abschied mit dem festen Entschluß verließ, alle eingebildeten Schranken zwischen mir und dir niederzureißen. Da meine Welt nicht die deinige sein konnte, so wollte ich deine zu der meinigen machen. Der Geburtsdünkel sollte nicht über dich die Nase rümpfen, deshalb habe ich ihm für immer Lebewohl gesagt. Die Gönner und die hochgestellten Verwandten blicken mich jetzt kaum an. Aber es gibt lächelnde Auen und rauschende Bäume in Englands schönster Provinz, und bei einer Dorfkirche – der meinigen, Rosa, der meinigen – steht ein kleines Landhaus, auf das du mich stolzer machen kannst, als mich alle Aussichten auf eine glänzende Laufbahn gemacht hätten. Das ist jetzt mein Rang und meine Stellung in der Welt – und ich lege sie dir hier zu Füßen.“

„Es ist eine harte Geduldsprobe, wenn man mit dem Essen auf ein Liebespaar warten soll“, meinte Herr Grimwig im Lehnstuhl aus einem kleinen Schlaf aufwachend. „Ich hatte ernstlich im Sinne“, sagte er zu den eintretenden Damen und Harry, „heute abend meinen Kopf aufzuessen, denn es kam mir nachgerade so vor, als sollte ich nichts anderes bekommen. übrigens nehme ich mir, mit Ihrer Erlaubnis die Freiheit, die Braut mit einem Kusse zu begrüßen.“

Herr Grimwig verlor keine Zeit, der erbetenen Freiheit die Tat folgen zu lassen, und da Beispiele ansteckend wirken, so taten es ihm der Doktor und Herr BrownIow nach. Gewisse Leute behaupten zwar, daß der Anfang in einem anstoßenden Zimmer von Harry Maylie gemacht wurde, aber die besten Autoritäten erklären das für eine Verleumdung, da an derartiges bei einem jungen Manne, der ein Geistlicher wäre, nicht zu denken sei.

Fagins letzte Stunden

Der Schwurgerichtssaal war brechend voll, aller Augen waren auf den Juden gerichtet. Dieser stand mit der Hand am Ohre, den Kopf vorgestreckt, in der Anklagebank, um kein Wort des Staatsanwalts zu verlieren, als dieser die Anklage dem Gerichtshof vortrug. Bisweilen sah Fagin scharf zu den Geschworenen hinüber, um den Eindruck auch nur des geringsten zu seinen Gunsten sprechenden Wortes zu erspähen, dann blickte er mit stummer Bitte auf seinen Verteidiger, doch etwas für ihn vorzubringen, wenn der Ankläger streng mit ihm ins Gericht ging. Seit dem Beginn der Verhandlung hatte er weder Hand noch Fuß bewegt, und als der Staatsanwalt jetzt zu sprechen auf, hörte, blieb er noch in derselben Stellung des angstvoll Horchenden, als höre er ihn immer noch reden.

Ein kleines Geräusch im Gerichtssaal brachte ihn wieder zu sich, und als er sich umsah, sah er die Geschworenen zu einer Beratung zusammentreten. Ein Blick in den Zuhörerraum zeigte ihm, daß sich die Leute auf die Zehenspitzen stellten, um sein Gesicht zu sehen. Aber auch nicht in einem Antlitz, nicht einmal unter den Weibern, konnte er die leiseste Spur von Mitleid oder von einem anderen Gefühl lesen als den Wunsch, ihn verurteilt zu sehen.

Wieder trat Totenstille ein – die Geschworenen hatten sich an den Richter gewandt. Horch! Sie baten um die Erlaubnis, sich ins Beratungszimmer zurückziehen zu dürfen.

Er sah ihnen forschend ins Gesicht, als sie abtraten. Wohin wohl die Stimmung der Mehrheit neige, aber er konnte nichts feststellen. Der Gerichtsdiener berührte ihn an der Schulter. Er folgte ihm mechanisch in den Hintergrund der Anklagebank und setzte sich auf einen Stuhl nieder.

Er blickte wieder in den Zuhörerraum. Einige der Leute aßen, während andere sich mit den Taschentüchern Kühlung zufächelten, denn es war im Saal drückend heiß. Da war ein junger Mann, der sein Gesicht auf einen Block zeichnete, er hätte wissen mögen, ob er ähnlich würde. Dann begann sich sein Geist mit dem Anzuge des Richters zu beschäftigen, was er wohl gekostet haben möchte. Auf der Richterbank hatte auch ein dicker alter Herr gesessen, der vor einer halben Stunde hinausgegangen und nun wieder zurückgekommen war. Fagin überlegte, ob dieser Mann wohl in der Zwischenzeit zu Mittag gespeist, und was er wohl gegessen hätte.

Er war allerdings die ganze Zeit über keinen Augenblick von dem drückenden Gefühle frei, daß das Grab zu seinen Füßen gähnte. Er fing nun an, die Stäbe des Gitters zu zählen, das die Anklagebank umgab. Er überlegte, wie es wohl zugegangen sein möchte, daß die Spitze des einen abgebrochen war, und ob man sie wohl wieder ersetzen würde. Dann dachte er an alle Schrecken des Galgens und Schafotts, bis ein Mann, der den Boden des Saales mit Wasser besprengte, ihn wieder von diesem Gedanken ablenkte.

Endlich wurde Schweigen geboten und alles blickte erwartungsvoll nach der Tür. Die Geschworenen kehrten zurück und kamen dicht an dem Angeklagten vorbei. Er konnte in ihren Gesichtern nichts lesen, sie waren wie von Stein. Es trat Totenstille ein – keine Bewegung – Stocken des Atems. – Schuldig!

Das Gebäude erbebte von Beifallsrufen, die sich verschiedenemal wiederholten. Dann hallte ein dumpfes, schweres, stets zunehmendes Getöse, einem zürnenden Donner gleich, von außen nach. Es war das Freudengeschrei des Volkes draußen, womit es die Nachricht begrüßte, daß der Jude am Montag sterben werde.

Nachdem sich der Lärm gelegt hatte, wurde Fagin gefragt, ob er etwas vorzubringen hätte, was der Vollstreckung des Todesurteils Einhalt gebieten könne. Er hatte seine horchende Stellung wieder eingenommen und sah den Richter gespannt an. Dieser mußte die Frage wiederholen, ehe sie der Jude zu verstehen schien. Fagin murmelte bloß, er wäre ein alter Mann – ein alter Mann, wobei sich seine Stimme in ein leises Flüstern verlor, bis sie schließlich ganz erstarb.

Der Richter setzte die schwarze Mütze auf, während der Gefangene noch immer in der gleichen Haltung dastand. Der Urteilsspruch war schauerlich anzuhören, aber der Verurteilte stand wie eine Bildsäule da, ohne daß ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Als ihn der Gerichtsdiener beim Arm nahm und ihm winkte, sah er ihn zuerst stumpfsinnig an, gehorchte aber dann.

Man führte ihn durch einen gepflasterten Gang in das Innere des Gefängnisgebäudes. Hier wurde er untersucht, ob er nicht vielleicht Mittel bei sich träge, dem Gesetze vorzugreifen. Dann brachte man ihn in eine der für die zum Tode Verurteilten bestimmten Zellen und ließ ihn

allein.

Er setzte sich der Tür gegenüber auf eine steinerne Bank, die als Stuhl und Bett dienen mußte, heftete seine blutunterlaufenen Augen auf den Boden und wollte seine Gedanken sammeln. Nach einer Weile begann er sich einiger zusammenhängender Bruchstücke von dem, was der Richter gesprochen, zu entsinnen. Er brachte sie in die richtige Ordnung und suchte das Fehlende zu ergänzen; in kurzer Zeit stand das Ganze fast so, wie er es angehört hatte, vor ihm. Aufgehängt zu werden am Halse, bis er tot wäre – lautete der Schluß. Aufgehängt zu werden am Halse, bis er tot wäre.

Als es immer dunkler und dunkler wurde, begann er sich aller seiner Bekannten, die am Galgen geendet -einige sogar durch seine Schuld –, zu entsinnen. Er hatte manche von ihnen sterben sehen und ihrer gespottet, weil sie mit Gebeten auf den Lippen hinübergingen. Wie plötzlich waren sie aus gesunden, kräftigen Männern in baumelnde, bekleidete Fleischklumpen verwandelt worden!

Einige von ihnen hatten vielleicht dieselbe Zelle bewohnt – hatten auf derselben Stelle gesessen. Es war sehr dunkel – warum brachte man kein Licht? Die Zelle war vor vielen Jahren erbaut – Dutzende von Verbrechern mußten hier ihre letzten Stunden zugebracht haben! Es war ihm, als sitze er in einem mit Leichen angefüllten Gewölbe – der Strick – die gefesselten Arme – die Armesünderkappe – die Gesichter, die er selbst unter diesem gräßlichen Schleier erkannte – Licht! Licht!

Endlich erschienen zwei Männer, von denen der eine ein Licht brachte, das er in einen eisernen, in der Mauer befindlichen Leuchter steckte, während der andere eine Matratze hereinschleppte, um die Nacht darauf zu schlafen; denn der Gefangene sollte fortan nicht mehr allein gelassen werden.

Die Nacht kam, die finstere, schauerliche, schweigende Nacht. Andere Wachende freuen sich, wenn sie die Uhren von den Kirchtürmen schlagen hören, verkünden sie doch den kommenden Tag und neues Leben. Dem Juden brachten sie Verzweiflung. jeder Glockenschlag rief ihm im hohlen Tone zu – Tod!

Der Tag entschwand – Tag? Es war kein Tag! Er war so schnell dahin, als er gekommen war. Und abermals brach die Nacht herein – eine Nacht, so lang und doch so kurz. Lang in ihrem schrecklichen Schweigen, und kurz in ihren flüchtigen Stunden. Das eine Mal raste er und lästerte Gott – dann heulte er wieder und raufte sich die Haare. Rabbiner waren gekommen, um mit ihm zu beten, er hatte sie jedoch mit Flüchen fortgejagt. Sie erneuerten ihre gutgemeinten Versuche, aber er schlug nach ihnen.

Sonnabend nacht – er hatte nur noch eine Nacht zu leben. Unter solchen Gedanken graute der Morgen

Sonntag!

Erst am Abend dieses letzten schrecklichen Tages bemächtigte sich seiner ein zu Boden drückendes Gefühl seiner hoffnungslosen Lage. Er sprang alle Augenblicke auf und raste mit keuchendem Atem auf und nieder. Dann kauerte er sich ermüdet auf sein Steinlager nieder und gedachte der Vergangenheit. Er war am Tage seiner Verhaftung durch die Steinwürfe des Volkes verwundet worden und hatte daher den Kopf mit einem Tuche verbunden. Sein rotes Haar hing über ein blutleeres Gesicht, in seinen Augen brannte ein schreckliches Feuer. Acht -neun – zehn. Wenn es nicht Absicht war, ihn so zu schrecken, wenn die Stunden wirklich so eilten, wo mußte er sein, wenn sie abermals schlugen? Elf! Um acht Uhr sollte er der einzige Leidtragende bei seinem eigenen Leichenbegängnis sein. Wenn es aber wieder elf Uhr schlug – –

Vom frühen Abend bis um Mitternacht erschienen unaufhörlich Leute am Gefängnistor und fragten mit besorgtem Gesicht, ob ein Aufschub der Hinrichtung verfügt sei. Auf die verneinende Antwort des Pförtners teilten sie die willkommene Botschaft den auf der Straße Wartenden mit. Diese zeigten einander die Tür, aus der der Verurteilte kommen mußte, und die Stelle, wo der Galgen errichtet werden würde. Nach und nach verliefen sich die Massen und um Mitternacht lag der Platz im Dunkeln.

Um diese Zeit erschien Herr Brownlow mit Oliver am Gefängnistor und wies eine vom Sheriff ausgestellte Erlaubniskarte vor, den Gefangenen besuchen zu dürfen. Sie wurden unverzüglich eingelassen.

„Will der junge Herr da auch mit?“ fragte der Schließer. „Es ist kein Anblick für Kinder.“

„Allerdings nicht, lieber Freund, aber was ich mit dein Verbrecher abzumachen habe, hat Bezug auf den Knaben. Er hat ihn als erfolgreichen Spitzbuben gekannt, und ich halte es für ganz gut, wenn er ihn auch jetzt sieht, mag es ihm immerhin peinlich sein.“

Diese Worte wurden so leise gesprochen, daß sie Oliver nicht hören konnte. Der Schließer berührte seinen Hut und blickte neugierig nach dem jungen hin, dann öffnete er eine Tür und führte sie durch dunkle Gänge nach der Armensünderzelle.

Der Jude saß auf seiner Steinbank und wiegte sich mit einem Gesicht, das mehr dem eines eingesperrten Tieres als dem eines Menschen ähnlich sah, hin und her. Sein Geist beschäftigte sich augenscheinlich mit seinem früheren Leben, denn er murmelte, ohne sich durch den Eintritt der beiden stören zu lassen, unaufhörlich vor sich hin.

„Guter Junge, Karl – brav gemacht! Oliver auch, ha! ha! ha! Oliver auch – ganz Herr jetzt – bringt ihn zu Bett! Ins Bett mit ihm! – Hört denn keiner von euch? – Er – er – ist gewissermaßen an allem schuld. Um des Geldes willen lohnt es sich, ihn dazu aufzuziehen – Bolters Hals, Bill. – Laßt doch das Mädchen laufen Schneid in Bolters Hals, so tief du kannst. Hau ihm den Kopf ab!“

„Fagin!“ sagte der Schließer.

„Hier!“ rief der Jude, plötzlich in die horchende Stellung verfallend, die er vor Gericht eingenommen hatte. „Ein alter Mann, Euer Gnaden. Ein sehr alter Mann.“

„Hier ist jemand“, sagte der Schließer, „der Euch etwas fragen will. Fagin, Fagin, seid Ihr ein Mann?“

„Werd’s nicht mehr lange sein!“ schrie der Jude mit schreckenerregender Stimme. „Schlagt alle tot. Was haben sie für ein Recht, mich abzumurksen?“

Jetzt erst bemerkte er Oliver und Herrn Brownlow und fragte, nach dem hintersten Winkel seiner Bank zurückweichend, was sie hier wollten.

„Ihr seid im Besitz einiger Papiere“, sagte Herr Brownlow nähertretend, „die Euch ein gewisser Monks zur Aufbewahrung übergeben hat.“

„Alles gelogen“, schrie Fagin. „Ich habe keine – keine.“

„Um Gotteswillen, sprecht nicht so am Rande des Grabes, sondern sagt, wo sie sind! Ihr wißt Sikes ist tot, und Monks hat gestanden. Es ist für Euch keine Hoffnung mehr vorhanden, daraus einen Gewinn zu erzielen. Also, wo sind die Papiere?“

„Oliver“, rief der Jude, ihm winkend. „Komm her, ich will es dir sagen.“

Ohne Furcht ging der Junge zu ihm und Fagin flüsterte ihm, ihn an sich ziehend, ins Ohr:

„Sie sind in einem Leinenbeutel in einem Loch des Schornsteins, oben in der Vorderstube. Ich möchte gern mit dir noch sprechen, Liebling.“

„Ja, ja“, entgegnete Oliver. „Lassen Sie mich beten und beten Sie mit mir. Und wenn es nur ein Gebet ist. Ich bleibe dann bei Ihnen bis zum Morgen.“

„Draußen, draußen“, sagte Fagin und drängte den Jungen vor sich her nach der Tür. „sage, ich schlafe, dir wird man glauben. Du kannst mich retten. Los! Jetzt!“

„Lieber Gott, vergib diesem Unglücklichen“, schrie Oliver, in Tränen ausbrechend.

„So ist’s recht“, sagte der Jude. „Das wird uns helfen! Diese Tür zuerst. Nur schnell! Komm!“

„Haben Sie ihn noch etwas zu fragen?“ erkundigte sich der Schließer bei Herrn Brownlow. Dieser verneinte. Man öffnete die Zellentür, und die Gefangenenwächter befreiten Oliver aus Fagins Griff. Er kämpfte mit einer Kraft, die ihm die Verzweiflung verlieh und stieß dabei schreckliche Jammertöne aus.

Oliver wurde bei diesem schrecklichen Auftritt fast ohnmächtig und es dauerte eine Stunde, ehe er sich so weit erholt hatte, daß sie den Heimweg antreten konnten. Der Tag brach an, und es wimmelte auf dem Platz bereits von Menschen. Die Fenster waren von Leuten besetzt, die sich mit Rauchen und Kartenspielen die Zeit vertrieben. Die Menge auf der Straße drängte sich, scherzte und lachte. Alles atmete Heiterkeit und Leben, mit Ausnahme eines schwarzen Gerüstes in der Mitte des Platzes. Der Querbalken und der Strick waren grauenvolle Wahrzeichen des Todes in häßlichster Gestalt.

Es waren noch keine drei Monate ins Land gegangen, als Rosa Flemmings und Harry Maylies Ehebund in der Dorfkirche geschlossen wurde, die fortan der Schauplatz der Tätigkeit des jungen Geistlichen sein sollte. An demselben Tage zogen sie in ihr neues Heim. Frau Maylie die sich für den Rest ihrer Tage an dem Glücke ihrer Kinder erfreuen wollte, schlug ihren Wohnsitz bei dem jungen Paare auf.

Monks und seine Mutter hatten den größten Teil des Leefordschen Vermögens verwirtschaftet. Es blieben noch für ihn und Oliver je dreitausend Pfund übrig. Dem letzten Willen des Vaters zufolge hätte Oliver Anspruch auf das Ganze gehabt. Herr Brownlow aber hatte diese Teilung vorgeschlagen, um den älteren Sohn in den Stand zu setzen, ein neues Leben zu beginnen. Und Oliver hatte gern zugestimmt. Monks behielt seinen angenommenen Namen bei und wanderte nach Amerika aus. Hier brachte er in kurzer Zeit sein Geld durch und beging verschiedene Betrügereien, die ihn ins Gefängnis führten, in dem er auch bald starb. Ebenso fern von der Heimat starben die noch übriggebliebenen Mitglieder der Bande seines gehenkten Freundes Fagin.

Herr BrownIow nahm Oliver an Kindesstatt an und bezog mit ihm und Frau Bedwin eine Wohnung, die nur zehn Minuten vom Maylieschen Pfarrhaus entfernt lag. Er erfüllte damit einen Herzenswunsch des Jungen.

Bald nach der Vermählung des jungen Paares kehrte der würdige Doktor nach Chertsey zurück. Er fühlte sich aber dort nicht mehr glücklich, da seine alten Freunde doch alle fortgezogen waren. Er übertrug daher seine Praxis seinem Assistenten und kaufte sich ganz in der Nähe des Dorfes, wo Harry Maylie Pfarrer war, ebenfalls ein kleines Häuschen. Er legte sich nun auf Ackerbau und Viehzucht und wurde bald von den Nachbarn als Autorität darin anerkannt. Mit Grimwig hatte er eine herzliche Freundschaft geschlossen. Dieser besuchte daher den Doktor häufig. An Sonntagen verfehlte Herr Grimwig nie, dem jungen Geistlichen seine Predigt ins Gesicht zu kritisieren, versicherte jedoch Herrn Losberne nachher im strengsten Vertrauen, daß sie ausgezeichnet gewesen sei; er halte es jedoch für richtig, es nicht zu sagen. Es machte ihm auch immer Vergnügen, Herrn Brownlow mit seiner alten Prophezeiung über Oliver zu necken und ihn an den Abend zu erinnern, an dem sie, die Uhr mitten zwischen sich, seine Rückkehr erwarteten. Herr Grimwig meinte dann, daß er in der Hauptsache doch recht hatte, denn Oliver sei eben nicht zurückgekommen. Dann lacht er vergnügt und ist in bester Stimmung.

Herr Noah Claypole wurde begnadigt, da er gegen den Juden als Kronzeuge aufgetreten war. Das Diebesgewerbe hielt er nach seinen Erfahrungen nicht für ganz sicher und wandte sich daher einem anderen Berufe zu, nämlich dem eines Denunzianten. Er geht alle Sonntage während der Kirchzeit mit Charlotte, fein angezogen, spazieren. Vor der Tür eines Wirtshauses fällt die Dame in Ohnmacht; um sie wieder zu sich zu bringen, kauft der Herr für einige Pence Kognak. Am anderen Tage erstattet er Anzeige gegen den menschenfreundlichen Gastwirt wegen Sabbatschändung und streicht die halbe Strafe ein. Manchmal wird auch Herr Claypole ohnmächtig, aber das Resultat ist dasselbe.

Herr und Frau Bumble verloren ihre Stellen, versanken allmählich in das größte Elend und kamen zuletzt als Arme in dieselbe Anstalt, in der sie einst geherrscht hatten.

Was Herrn Giles und Brittles anbelangt, so versehen sie noch immer ihre alten Posten, nur ist ersterer kahl und der junge Brittles grau geworden.

Herr Karl Bates war durch das Entsetzen, das ihm Sikes Verbrechen eingeflößt hatte, auf den Gedanken gekommen, daß ein anständiges Leben am Ende doch das beste wäre. Er wandte deshalb dem Schauplatz seiner Vergangenheit den Rücken und nahm sich vor, einen ehrlichen Beruf zu ergreifen. Es kam ihm zwar anfangs hart an, aber nachdem er bei einem Bauern und einem Fuhrmann seine Lehrjahre bestanden, hat er sich auf den Viehhandel gelegt und ist einer der gewandtesten und lustigsten jungen Viehhändler von ganz Northamptonshire geworden.

An dem Altar der alten Dorfkirche befindet sich eine weiße Marmortafel, auf der nur das einzige Wort – Agnes – eingegraben ist. Sie bezeichnet keinen Sarg, der darunter liegt. Doch wenn die Geister der Toten auf die Erde zurückkehren, um Stellen zu besuchen, die durch die Liebe geheiligt sind – die über das Grab hinaus, reichende Liebe derjenigen, die sie im Leben kannten – so glaube ich, daß der Geist der armen Dulderin oft diese feierliche Stätte umschwebt, trotzdem die Stätte in einer Kirche ist und sie selbst schwach war und sündig.