54. Kapitel

Macht dem Autor große Sorge, da es das letzte in diesem Buche ist

Bei Todgers‘ herrschte große Aufregung, denn es galt, gewaltige Vorbereitungen für ein opulentes Frühstück zu treffen. Der segensreiche Tag war gekommen, an dem Miss Pecksniff mit Mr. Augustus Moddle durch das Band des heiligen Ehestandes für immer vereinigt werden sollte. Miss Pecksniff befand sich in einem Gemütszustand, der nicht nur der großen Veranlassung, sondern auch ihrer selbst vollständig würdig war. Sie troff förmlich vor Sanftmut und Versöhnlichkeit und hatte mehrere Kübel voll glühender Kohlen bereit, um sie auf die Häupter ihrer Feinde zu »sammeln«. Auch nicht die Spur von Groll oder Bosheit wohnte in ihrem Herzen.

Streitigkeiten in der Familie, betonte sie immer wieder, seien etwas Schreckliches, und wenn sie auch ihrem teuern Papa niemals verzeihen könne, so wolle sie doch ihre übrigen Verwandten empfangen. Sie sei viel zu lange getrennt gewesen, bemerkte sie, viel zu lange, als daß nicht der Himmel die schwersten Strafen über die Familie habe verhängen müssen. Daß Jonas‘ Tod eine Strafe Gottes für alle diese Zwistigkeiten war, davon war sie fest überzeugt, und in diesem Glauben wurde sie noch durch die Leichtigkeit bestärkt, mit der sie diese Heimsuchung zu ertragen wußte.

Um jetzt ein Opfer zu bringen – nicht etwa aus Triumph, sondern aus reiner Demut heraus –, schrieb sie daher an ihre starkgeistige Verwandte und teilte ihr mit, wann die Trauung stattfinden werde. Ihr und ihrer Töchter hochfahrendes Betragen sei zwar sehr verletzend gewesen, aber sie hoffe, daß sie von Gewissensbissen verschont geblieben wären. Sie wünsche nunmehr ihrerseits ihren Feinden zu vergeben und Frieden mit der ganzen Welt zu schließen, ehe sie zu der feierlichen Zeremonie schreite und den Lebensbund eingehe mit dem edelsten der Männer, und biete ihnen jetzt in Freundschaft die Hand. Wenn besagte starkgeistige Dame darauf eingehe, so lade sie (Miss Pecksniff) ihre sämtlichen Verwandten ein, der Trauung beizuwohnen, und bitte zugleich ihre drei rotnasigen Töchter (die Anspielung auf die Nasen ließ Miss Pecksniff natürlich weg), als Brautjungfern zu fungieren.

Die starkgeistige Dame antwortete darauf, daß sie und ihre Töchter, was das Gewissen anbeträfe, sich einer robusten Gesundheit erfreuten, was, wie sie überzeugt sei, Miss Pecksniff gewiß mit Freuden hören werde. Sie habe Miss Pecksniffs Schreiben mit größter Freude empfangen, um so mehr, als sie die armseligen Eifersüchteleien, mit denen sie und die ihrigen seinerzeit angegriffen worden wären, niemals ernst genommen, sondern stets als eine harmlose Quelle unschuldiger Erheiterung angesehen habe. Sie werde mit Freuden Miss Pecksniffs Trauung beiwohnen, und auch ihre lieben drei Töchter schätzten sich glücklich an einer so spannenden – und so überraschend kommenden – diese Worte hatte die starkgeistige Dame unterstrichen – Gelegenheit teilzunehmen.

Nach Erhalt dieser hoheitsvollen Zusage dehnte Miss Pecksniff ihre Amnestie und Einladung auch auf Mr. und Mrs. Spottletoe, auf Mr. George Chuzzlewit, den ledigen Vetter, auf das unverheiratete alte Fräulein, das stets Zahnweh hatte, auf den behaarten jungen Gentleman mit der unterexponierten Visage – kurz, auf sämtliche noch am Leben befindlichen Überbleibsel jener Gesellschaft, die sich dereinst in ihres Vaters Wohnstube versammelt hatte, aus. – In der Erfüllung der Pflichten läge eine Süßigkeit, bemerkte sie, als sie sämtliche Briefe zugeklebt und in den Postkasten geworfen hatte, die die Bitternisse des menschlichen Lebens mehr als ausglichen.

Die Hochzeitsgäste hatten sich noch nicht versammelt, und es war noch so früh am Morgen, daß Miss Pecksniff sich mit aller Muße ankleiden konnte, als in der Nähe des Monumentes ein Wagen vorfuhr und Mark, vom Bock springend, Mr. Chuzzlewit beim Aussteigen half. Der Wagen hielt und wartete. Ebenso Mr. Tapley. Mr. Chuzzlewit begab sich zu Todgers‘!

Die entartete Nachfolgerin Mr. Baileys geleitete ihn zum Speisesaal, wo gleich darauf – man hatte seinen Besuch erwartet – Mrs. Todgers erschien.

»Sie sind, wie ich sehe, zur Hochzeit angekleidet«, sagte Mr. Chuzzlewit.

Mrs. Todgers bejahte. Vor lauter Vorbereitungen war sie so wirr im Kopf, daß sie kaum wußte, was man sie gefragt hatte.

»Es stimmt durchaus nicht mit meinen Wünschen überein, daß sie gerade jetzt stattfinden soll, das kann ich Ihnen versichern, Sir«, sagte sie. »Aber Miss Pecksniff hat sich’s nun mal in den Kopf gesetzt, und Zeit ist es schließlich auch, daß sie sich verheiratet. Das ist nun mal nicht zu leugnen, Sir.«

»Nein«, gab Mr. Chuzzlewit zur Antwort. »Allerdings nicht. – Und ihre Schwester ist nicht mit dabei?«

»Ach Gott, nein. Das arme Ding!« seufzte Mrs. Todgers und schüttelte wehmütig den Kopf. »Seit sie das Entsetzliche erfahren hat, ist sie nicht aus meinem Zimmer gekommen – dem Zimmer nebenan, Sir.«

»Glauben Sie, daß sie gefaßt genug ist, mich zu sehen?« fragte Mr. Chuzzlewit.

»O sicherlich, Sir.«

»So will ich keine Zeit verlieren.«

Mrs. Todgers führte Mr. Chuzzlewit in die kleine Hinterstube mit der Aussicht auf die Zisterne, und da saß die arme Gratia in Trauerkleidern – ach, wie so ganz anders, als damals, als sie das erstemal hier gewohnt hatte. Das Zimmer sah so düster und kummervoll aus wie sie selbst, aber sie hatte wenigstens einen treuen Freund an ihrer Seite – den alten Chuffey.

Als Mr. Chuzzlewit neben ihr Platz nahm, ergriff sie seine Hand und drückte sie an die Lippen. Die Tränen standen ihr in den Augen. Seit ihrem Abschied auf dem Kirchhof hatte sie ihn nicht wiedergesehen.

»Ich habe vorschnell über Sie geurteilt«, begann Mr. Chuzzlewit nach einer Weile mit leiser Stimme. »Es war grausam von mir. – Sagen Sie mir, daß Sie mir verzeihen.«

Sie küßte ihm abermals die Hand und behielt sie in der ihrigen, dabei dankte sie ihm schluchzend für alle die Güte, die er ihr erwiesen.

»Tom Pinch«, fuhr Mr. Chuzzlewit fort, »hat mir getreulich alles berichtet, was Sie ihm für mich auftrugen, obschon er es damals für sehr unwahrscheinlich hielt, je Gelegenheit zu haben, Ihrem Wunsche entsprechen zu können. Glauben Sie mir, wenn ich je wieder mit einem übelberatenen und unentschlossenen Wesen zu tun haben sollte, das seine Stärke als vermeintliche Schwäche verbirgt, so will ich lange und barmherzig Nachsicht haben.«

»Ach, die hatten Sie mit mir«, antwortete Gratia, »bitte, reden Sie nicht so. Ich sagte mir Ihre Worte immer wieder vor, als mein Unglück kaum mehr erträglich war, und will sie jetzt für andere gebrauchen als Rat, wenn man dessen bedarf. Sie haben zu mir gesprochen, nachdem Sie mich Tag für Tag gesehen und lange beobachtet haben. Sie haben es wirklich gut mit mir gemeint. Sie hätten vielleicht freundlicher zu mir sprechen können und mein Vertrauen durch größere Milde zu gewinnen suchen sollen; aber der Ausgang wäre immer derselbe geblieben.«

Mr. Chuzzlewit schüttelte schmerzlich das Haupt und, wie es schien, nicht ohne Selbstvorwürfe.

»Wie kann ich annehmen«, fuhr Gratia fort, »daß Ihre Dazwischenkunft etwas genützt hätte, wo ich doch weiß, wie halsstarrig ich war! Damals dachte ich nicht an die Zukunft, mein lieber, guter Mr. Chuzzlewit – ich dachte überhaupt nicht – Überlegung war mir fremd, Herz hatte ich auch nicht, und ob er mich liebte, war mir ebenfalls gleichgültig. Erst die Not hat mich zur Besinnung gebracht, und ich würde meine Leiden nicht ungeschehen machen, selbst wenn ich könnte. Weiß ich doch, daß sie immer noch leicht sind, verglichen mit den Qualen, die hundert bessere Menschen als ich jeden Tag durchzumachen haben. Das Unglück ist mir wie ein Freund gewesen, ohne den ich immer dieselbe geblieben wäre, und nichts sonst hätte mich wohl so umzuwandeln vermocht. Mißtrauen Sie mir nicht, weil ich weine, aber ich kann meine Tränen nicht zurückhalten. Ja, ich bin dem Himmel dankbar für mein Unglück.

»Das ist sie, weiß Gott!« bekräftigte Mrs. Todgers. »Sie können es ihr glauben, Sir.«

»Ich glaube es auch«, sagte Mr. Chuzzlewit. »Aber jetzt hören Sie mich an, mein Kind. Das Vermögen Ihres verstorbenen Gatten wird vom Gericht mit Beschlag belegt werden, wenn es nicht schon aufgezehrt ist durch die große Schuldverschreibung an die bankerotte Versicherungsanstalt, die die Spitzbuben, da sie ihnen auf dem Kontinent drüben nichts nützte, hergeschickt haben – weniger um der Gläubiger willen, die sie geschädigt, als um ihren Haß gegen Jonas zu befriedigen; sie glauben, er sei noch am Leben. Das Vermögen Ihres Mannes ist daher wohl bis auf den letzten Penny verloren. Der Besitz Ihres Vaters ist in ähnlicher Weise herangezogen, und was vielleicht noch übrig bleibt, wird bestimmt auf dem Prozeßweg durch die Advokatenkosten drauf gehen. Von dieser Seite aus könnten Sie also auf keine Aufnahme rechnen.«

»Ich könnte es auch nicht über mich bringen, zu meinem Vater zurückzukehren«, rief Gratia, denn unwillkürlich drängte sich ihr der Gedanke auf, daß er mit schuld daran war, daß sie Jonas geheiratet hatte. »Ich könnte es nicht über mich bringen.«

»Ich weiß das«, sagte Mr. Chuzzlewit, »und eben weil ich es weiß, bin ich zu Ihnen gekommen. Kommen Sie mit mir. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß alle, die um mich sind, Sie herzlich willkommen heißen werden. Wenn Ihre Gesundheit wiederhergestellt sein wird und Sie sich erholt haben werden, um mit Ruhe diesen Empfang zu ertragen, so können Sie sich in der Nähe von London nach Belieben einen ruhigen Aufenthalt wählen – nicht gar zu weit entfernt, damit diese gute Frau, sooft es ihr gefällt, Sie besuchen kann. Sie haben viel gelitten, aber Sie sind noch jung, und eine bessere Zukunft erwartet Sie. Kommen Sie mit mir. Sagen Sie zu, denn ich weiß, daß Ihre Schwester Ihnen nicht helfen wird. Sie betreibt diese Heirat mit einer Hast und einer Ostentation, die, gelinde gesagt, kaum anständig ist und überdies unschwesterlich und schlecht. Verlassen Sie das Haus, bevor die Gäste ankommen, denn man hat vor, Ihnen wehe zu tun. Ersparen Sie Ihrer Schwester die Sünde und kommen Sie mit mir.«

Mrs. Todgers redete Gratia ebenfalls zu, obschon sie sich nur sehr ungern von ihr trennte. Sogar der alte Chuffey, der natürlich in den Plan mit eingeschlossen war, redete Mr. Chuzzlewits Vorschlag das Wort. Hastig kleidete sich Gratia an und war eben im Begriff, zu gehen, als ihre Schwester in das Zimmer stürzte.

Sie hatte nur Gratia zu finden gehofft und war daher in nicht geringer Verlegenheit, als sie auch Mr. Chuzzlewit erblickte. Ihre Frisur war zwar bereits herrlich aufgebaut, und sie hatte einen Hut mit Orangenblüten auf, um durch dessen Anblick ihre Schwester zu verletzen, aber sonst war sie noch im Unterrock.

»Sie wollen also heute Hochzeit machen, Miss?« fragte der alte Herr und musterte sie mit einem nicht sehr freundlichen Blick.

»Allerdings, Sir«, versetzte Charitas bescheiden. »Aber – o Gott der Aufzug – nein wirklich, Mrs. Todgers –«

»Ich sehe«, schnitt ihr Mr. Chuzzlewit das Wort ab, »Ihr Zartgefühl ist verletzt. Das überrascht mich nicht. Sie haben die Zeit zu Ihrer Vermählung eben ein wenig unglücklich gewählt.«

»Ich muß um Entschuldigung bitten, Mr. Chuzzlewit«, fuhr Charitas schnippisch auf, »aber wenn Sie diesbezüglich etwas einzuwenden haben, so muß ich Sie schon ersuchen, sich mit Augustus verständigen zu wollen. Es kommt mir nicht sehr gentlemanlike vor, daß Sie mir Vorstellungen machen, wo Augustus jederzeit besser mit Ihnen verhandeln könnte. Ich stehe den Betrügereien fern, die man an meinem Vater verübt hat, und da ich ausdrücklich wünsche, bei dem jetzigen feierlichen Anlaß mit jedermann aufs beste auszukommen, so hätte es mich gefreut, wenn Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beim Frühstück beehrt hätten. Aber so, wie die Sachen stehen, will ich Sie natürlich nicht weiter belästigen. Ich sehe, daß Sie bereits von gewisser andrer Seite gegen mich eingenommen worden sind. Ich empfinde nun zwar eine natürliche Zuneigung zu dieser gewissen andern Seite und ein wohlangebrachtes Mitleid für ebendieselbe Seite, aber von Aufopferung meinerseits kann nicht mehr länger die Rede sein, Mr. Chuzzlewit. Das hieße zu große Anforderungen an mich stellen. Da habe ich denn doch zu viel Selbstachtung vor mir – schon als Braut des Mannes, der mich zum Altar führt.«

»Ihre Schwester hat sich durchaus nicht über Sie beklagt«, sagte Mr. Chuzzlewit; »übrigens steht sie jetzt im Begriff, mit mir zu gehen.«

»Es soll mich nur freuen, wenn es ihr endlich einmal nach Wunsch geht«; rief Miss Pecksniff und warf den Kopf zurück, »da kann man ihr ja von Herzen gratulieren. Ich wundere mich schließlich auch nicht, daß der heutige Tag ein schmerzliches Ereignis für sie bedeutet, aber meine Schuld ist es nicht, Mr. Chuzzlewit.«

»Miss Pecksniff«, sagte der alte Mann ruhig, »ich hätte es lieber gesehen, wenn Sie Ihrer Schwester ein herzlicheres Lebewohl gesagt hätten. Es hätte mich vielleicht mit Ihnen versöhnt. Früher oder später werden Sie gewiß einen Freund brauchen können.«

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Chuzzlewit«, unterbrach ihn Miss Pecksniff mit Würde, »aber alle meine Freundschaftsgefühle im Leben sind jetzt auf Augustus konzentriert. Solange Augustus mir gehört, brauche ich keinen Freund. Wenn Sie von Freundschaft sprechen, Sir, so muß ich Sie ein für allemal bitten, sich darüber mit Augustus zu verständigen. Das ist mein Begriff von der religiösen Feier, der ich in kurzer Frist mit Augustus am Altar beiwohnen werde. Ich trage zu keiner Zeit irgend jemandem Groll nach, und am allerwenigsten gebe ich solchen Gedanken in diesem Augenblick des Triumphs meiner Schwester gegenüber Raum. Ich wünsche ihr im Gegenteil alles Glück. Übrigens, da ich Augustus schuldig bin, bei einem Anlasse pünktlich zu sein, bei dem sich von ihm eine begreifliche Ungeduld voraussetzen läßt – ja wahrhaftig, Mrs. Todgers –, so muß ich jetzt um die Erlaubnis bitten, Sir, mich entfernen zu dürfen.«

Mit diesen Worten verschwand der Brauthut mit so viel Glanz und Würde, als es angesichts des Piqueunterrockes noch möglich war.

Mr. Chuzzlewit reichte Gratia seinen Arm, ohne ein Wort zu sagen, und führte sie hinaus. Mrs. Todgers mit im Winde rauschendem Sonntagsstaat begleitete sie an den Wagen, fiel Gratia beim Abschied um den Hals und lief dann schluchzend in ihr schmutziges Heim zurück. Äußerlich war die Brave mager und unscheinbar, aber ihr Herz war treu wie Gold. Vielleicht war der Samariter auch mager und unscheinbar – vielleicht fiel es auch ihm schwer, sich seinen Unterhalt zu erwerben.

Mr. Chuzzlewit folgte ihr mit den Blicken, bis sie die Haustüre hinter sich zugemacht hatte. Dann erst bemerkte er Mr. Tapley.

»Oh, Mark«, rief er, »ich habe Sie ja gar nicht gesehen. Nun, was gibt’s?«

»Das Allerwunderbarste, das man sich nur denken kann, Sir«, rief Mark ganz außer Atem, »ein Zusammentreffen ohnegleichen. Ich will hellblau anlaufen, wenn das da drüben nicht unsre beiden alten Nachbarn sind.«

»Was für Nachbarn?« rief der alte Herr und spähte zum Wagenfenster hinaus. »Wo denn?«

»Ich ging gerade auf und ab, und keine zehn Schritte von hier«, berichtete Mr. Tapley, »da kamen sie auf mich zu wie ihre eigenen Gespenster – für die ich sie übrigens auch hielt. Es ist das wundervollste Ereignis, das sich jemals zugetragen hat. Da hol mich doch gleich dieser und jener –«

»Von was reden Sie denn?« rief Mr. Chuzzlewit, von Marks Aufregung angesteckt. »Wo sind denn die Nachbarn?«

»Dort, Sir«, rief Mr. Tapley, »hier mitten in der City von London. Dort auf dem Stein. Dort sind sie, Sir. Ich werde sie doch kennen. Gott segne ihre braven Gesichter.«

Dabei deutete Mr. Tapley auf einen Mann und eine Frau in dem Monumenthof, eilte auf sie zu und umarmte sie abwechselnd wohl hundertmal.

»Nachbarn in Amerika, Nachbarn in Eden«, rief er dabei. »Nachbarn im Sumpf, Nachbarn im Busch, Nachbarn im Fieber. Wir beiden wären ohne sie gestorben.«

Mr. Chuzzlewit hatte kaum erfahren, wer die Leute waren, als er den Kutschenschlag weiß Gott wie aufsprengte, fast herausfiel und unter sie humpelte, als ob er, wie Mr. Tapley wahnsinnig geworden sei. Dann schüttelte er ihnen gleichfalls die Hände und legte auf jede nur mögliche Weise seine lebhafteste Freude an den Tag.

»Steigen Sie hinten auf!« rief er. »Steigen Sie auf, fahren Sie mit mir! Und Sie müssen sich auf den Bock setzen, Mark! Nach Hause, nach Hause!«

»Nach Hause, nach Hause!« jubelte Mr. Tapley und ergriff in einem Anfall von Begeisterung die Hand des alten Mannes. »Ganz meine Ansicht, Sir. Die Heimat soll leben. – Entschuldigen Sie, daß ich mir solche Freiheiten herausnehme, Sir, aber ich kann mir nicht helfen. Es blühe und gedeihe der ›Fidele Tapley‹! Alles sollen Sie bekommen, was im Hause zu kriegen ist, nur keine Rechnung nicht. – Also, nach Hause, nach Hause! Hurra!«

Und vorwärts ging’s, als der alte Herr wieder eingestiegen war. Und Marks Begeisterung verflog durchaus nicht auf dem Wege, sondern machte sich so zügellos und rücksichtslos Luft, als wären sie mitten in den Wiesen von Salisbury.

Die Hochzeitsgäste bei Todgers‘ begannen sich zu versammeln.

Mr. Jinkins, der einzige von den Kostgängern, der eingeladen war, fand sich zuerst an Ort und Stelle ein. Er trug einen funkelnagelneuen Anzug mit allerlei gewundenen Verzierungen um die Taschen herum, die der Kleiderkünstler extra zu Ehren des Tages erfunden hatte. Der unglückliche Augustus war selbst in bezug auf Mr. Jinkins nachsichtig geworden. Er hatte nicht genug Willenskraft mehr gehabt, sich seiner Einladung, die Miss Pecksniff so dringend befürwortet, zu widersetzen. »Meinetwegen soll er also kommen«, hatte er Miss Pecksniff gesagt. »Er war von jeher meine Todesklippe; soll er nur kommen. Haha! Jinkins soll nur kommen.«

Und Mr. Jinkins hatte sich mit tausend Freuden eingestellt; er war jetzt, wie gesagt, der erste am Platze. Einige Minuten lang hatte er keine andere Gesellschaft als das Frühstück, das im Empfangszimmer ungemein geschmackvoll aufgebaut war. Bald fand sich jedoch auch Mrs. Todgers ein, und dann folgten rasch aufeinander der ledige Vetter, der stark behaarte junge Gentleman und schließlich auch Mr. Spottletoe samt Gemahlin.

Mr. Spottletoe beehrte Mr. Jinkins mit großer Herablassung und Leutseligkeit. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er, »und viel Glück und Segen.« Er war nämlich der Meinung, Mr. Jinkins sei der Glückliche.

Mr. Jinkins klärte sofort das Mißverständnis auf und verständigte die Herrschaften, daß er lediglich die Honneurs für seinen Freund Moddle mache, der nicht mehr im Hause wohne und noch nicht zugegen sei.

»Noch nicht da?« rief Mr. Spottletoe sehr erregt.

»Nein, noch nicht.«

»No Servus«, rief Mr. Spottletoe, »der fängt ja gut an. Scheint ein recht netter junger Mann zu sein! Möchte nur gerne wissen, wie’s kommt, daß jeder, der mit dieser Familie in Berührung kommt, sich eine grobe Ungebührlichkeit zuschulden kommen läßt. Tod und Teufel! Noch nicht da! Noch nicht da, um uns zu empfangen!«

Der Neffe mit der unterexponierten Visage meinte, der Herr warte vielleicht auf ein Paar neue Stiefel.

»Reden Sie nicht von Stiefeln, Sir!« verwies Mr. Spottletoe mit nicht zu hemmender Entrüstung. »Und wenn er in Pantoffeln oder barfuß kommen müßte, so gehörte es sich, daß er käme. Bringen Sie keine so dummen Entschuldigungen für Ihren Freund vor, Sir!«

»Er ist doch gar nicht mein Freund!« entschuldigte sich der Neffe. »Hab ihn doch gar nie gesehen.«

»Also, dann reden Sie nicht!« rief Mr. Spottletoe.

In diesem Augenblick ging die Türe auf, und Miss Pecksniff wankte, von ihren drei Brautjungfern gestützt, herein. Die starkgeistige Dame bildete die Nachhut. Sie hatte bisher draußen gewartet, um im richtigen Moment den Effekt zu verderben.

»Wie befinden Sie sich, Madame?« wendete sich Mr. Spottletoe im Tone feindseliger Herausforderung zu ihr. »Ich glaube, die Anwesenheit meiner Gattin dürfte Ihnen doch nicht entgangen sein? Oder?«

Die starkgeistige Dame bedauerte mit der Miene des größten Interesses Mrs. Spottletoes Gesundheitszustand, da die liebe Frau so schmal geworden sei, daß man sie de facto übersehen müsse.

»Na, sie ist wenigstens eher zu sehen als der Bräutigam, Madame«, entgegnete Mr. Spottletoe gereizt. »Das heißt, wenn er nicht gerade seine Aufmerksamkeit einem besonderen Zweige dieser Familie widmet, was übrigens ganz im Einklang mit seinem gewöhnlichen Benehmen stehen würde.«

»Wenn Sie mich meinen, Sir«, fing die Dame mit dem männlichen Geiste an –

»Bitte, bitte«, fiel ihr Miss Pecksniff ins Wort, »lassen Sie Augustus in diesem feierlichen Moment meines und seines Lebens nicht zum Anlaß der Störung jener Harmonie werden, die er und ich stets aufrechtzuerhalten wünschen. Augustus ist bisher noch keinem von meinen Verwandten vorgestellt worden. Er wünschte es nicht.«

»Nun, dann erlauben Sie mir die Bemerkung«, rief Mr. Spottletoe wütend, »daß der Mann, der nach der Ehre trachtet, sich dieser Familie anzuschließen, und nicht ›haben will‹, daß er ihren Mitgliedern vorgestellt werde – ein unverschämter Laffe ist. Das ist meine Ansicht von ihm.«

Die starkgeistige Dame gab mit größter Sanftmut zu, sie sei beinahe derselben Meinung, und ihre drei Töchter erklärten laut, es sei »eine Schändlichkeit«.

»Sie kennen Augustus nicht!« rief Miss Pecksniff unter Tränen. »Nein, wirklich, Sie kennen ihn nicht. Er ist die Demut und Milde selbst. Warten Sie nur, bis Sie ihn sehen, und ich bin überzeugt, er wird sich sofort Ihrer aller Herzen gewinnen.«

»Es handelt sich hier nur um die Frage«, rief Mr. Spottletoe dazwischen und verschränkte die Arme, »wie lange wir hier noch warten sollen! Ich bin an so etwas nicht gewöhnt! Ich verlange allen Ernstes zu wissen, wie lange man uns noch zumutet, hier zu warten.«

»Mrs. Todgers! Mr. Jinkins!« rief Charitas. »Ich fürchte, es liegt hier ein Mißverständnis vor. Wahrscheinlich ist Augustus direkt in die Kirche gegangen.«

Das war allerdings möglich, und da die Kirche sich in der Nähe befand, eilte Mr. Jinkins fort, um Mr. Moddle zu suchen. Mr. George Chuzzlewit, der ledige Vetter, begleitete ihn, da ihm alles lieber war, als in der Nähe eines Frühstücks zu sitzen, ohne zugreifen zu dürfen. Aber sie kamen beide zurück und brachten keine andere Nachricht mit, als daß der Küster sagen lasse, wenn sie diesen Morgen noch getraut werden wollten, würden sie gut tun, sich zu beeilen, da der Pfarrer durchaus keine Lust habe, den ganzen Tag zu vertrödeln. Die Braut wurde jetzt sehr unruhig – allen Ernstes unruhig. »Gott im Himmel, was konnte vorgefallen sein. Augustus! Geliebter Augustus!«

Mr. Jinkins machte sich erbötig, eine Droschke zu nehmen und in der neu möblierten Wohnung nachzusehn. Auch die starkgeistige Dame sprang Miss Pecksniff mit Trost bei. Es sei das ein kleines Pröbchen von dem, was ihrer in der Ehe harre, sagte sie. Das sei ganz gut und treibe ihr die Rosinen aus dem Kopf. Auch die rotnasigen drei Töchter sparten nicht mit Trostesworten. Vielleicht komme er schließlich doch noch, sagten sie, und der Neffe mit dem unterexponierten Gesicht warf etwas hin, was so klang wie: Augustus sei schon »vorzeitig ins Wasser gesprungen«. Mr. Spottletoes Wut trotzte allen Bitten und Vorstellungen seiner Gattin. Alle sprachen zugleich, und überall suchte sich Miss Pecksniff mit gerungenen Händen Trost, ohne welchen zu finden, als endlich Mr. Jinkins, der unter der Türe dem Postboten begegnet war, mit einem Brief zurückkehrte und ihn ihr aushändigte.

Miss Pecksniff riß das Kuvert auf, warf einen Blick auf das Schreiben, stieß einen durchdringenden Schrei aus, warf es auf den Boden und fiel in Ohnmacht.

Man hob den Brief auf. Die Anwesenden drängten sich wie eine Herde Schafe zusammen, sahen einander über die Achsel und lasen, wie folgt:

Gravesend, Schoner »Cupido«. Mittwoch abend.

Ewig gekränkte Miss Pecksniff!

Ehe diese Zeilen Sie erreichen, ist der Unterzeichnete, wenn nicht tot – so doch direkt auf dem Wege nach Van Diemens Land.

Es hat keinen Zweck, mich zu verfolgen. Lebendig wird man mich nicht bekommen.

Die Last – dreihundert Registertonnen, verzeihen Sie, daß ich in meiner Betäubung von dem Schiff spreche –, die auf meinem Herzen gelegen hat, war fürchterlich. Oft, wenn Sie meine Stirne mit Küssen bedeckten, um mich zu beschwichtigen, haben Selbstmordgedanken mein Gehirn durchzuckt, und ebensooft – so unglaublich es auch scheinen mag – habe ich die Idee wieder verworfen.

Ich liebe eine andre. Aber die gehört jetzt einem andern. Alles, was ich liebe, scheint überhaupt einem andern zu gehören. Nichts in der Welt habe ich mehr, nicht einmal meine Stelle, die ich mir verscherzte – indem ich übereilterweise so auf und davon gelaufen bin.

Wenn Sie mich je geliebt haben, so hören Sie jetzt meine letzte Bitte – die letzte Bitte eines elenden, vernichteten Flüchtlings: Schicken Sie beiliegenden Schlüssel – es ist der Schlüssel zu meinem Pult – aufs Kontor, und zwar expreß. Adresse: Bobb & Cholberry – pardon, ich wollte schreiben: Chobb & Bolberry – aber mein Geist ist bereits vollkommen umnachtet. Ich habe ein Federmesser – mit einem Hirschhornheft in Ihrem Nähetui gelassen, bezahlen Sie damit den Boten. Möge es ihn glücklicher machen, als ich gewesen bin.

Ach, Miss Pecksniff, warum haben Sie mich nicht in Ruhe gelassen! War es nicht grausam – grausam von Ihnen? O mein Gott, waren Sie denn nicht Zeuge meiner Empfindungen – haben Sie denn nicht die Tränen in meinen Augen gesehen – haben Sie mir nicht selbst vorgeworfen, daß ich an jenem schrecklichen Abend, als wir uns zum letzten Male sahen, mehr als gewöhnlich geweint hätte? Es war in demselben Hause wo ich einst friedlich wohnte – in Mrs. Todgers‘ Gesellschaft.

Aber es war bestimmt – im Talmud steht’s geschrieben –, daß Sie sich selbst in das unerforschliche und düstre Schicksal verstricken sollten, das zu erfüllen meine Sendung ist, und das sich sogar jetzt um meine Schläfen windet. Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen, denn ich habe Ihnen viel Leid zugefügt. Möge das angeschaffte Mobiliar Ihnen als Schadenersatz dienen.

Leben Sie wohl! Werden Sie die stolze Braut eines Herzogs und vergessen Sie mich! Möge es lange dauern, bis Sie das Leid und den Schmerz kennenlernen, mit dem ich mich unterschreibe – mitten unter dem rohen Geheul – der Matrosen – als Ihr unveränderlicher, jedoch niemals der Ihrige gewesene

Augustus.

Die Herrschaften lasen so gierig den Brief und dachten so wenig an Miss Pecksniff, als ob sie die allerletzte auf Erden sei, die sein Inhalt etwas angehe. Aber Miss Pecksniff war allen Ernstes ohnmächtig geworden.

Die bittere Kränkung, das entsetzliche Gefühl, Zeugen – und noch obendrein solche Zeugen – selbst dazu eingeladen zu haben, der Gedanke, daß die starkgeistige Dame und die rotnasigen Töchter gerade in der Stunde, in der sie sie hatte demütigen wollen, triumphieren sollten! nein, das war unerträglich. Miss Pecksniff war allen Ernstes in Ohnmacht gefallen.

Was dröhnen da für erhabene Töne durch die Luft? Was ist das für eine dämmrige Stube?

Und wer ist die freundliche Gestalt, die dort vor der Orgel sitzt? Tom ist’s, der gute alte Freund! Sein Haar ist frühzeitig grau geworden, trotzdem er seine Tage sorglos und friedvoll inmitten seiner alten Freunde verbracht hat. Aus den Tönen, mit denen er das Zwielicht zu begrüßen pflegt, spricht die Musik seines Herzens und erzählt sich die Geschichte seines Lebens von selbst.

Dein Leben verläuft still, ruhig und glücklich, Tom. In deinen sanften Melodien mag so etwas durchklingen wie das Gedenken an deine alte Liebe, aber es ist eine angenehme, milde, süßflüsternde Erinnerung, ähnlich der, mit der wir hin und wieder der Toten gedenken. Sie quält und schmerzt dich nicht.

Rühre die Tasten leise, Tom, so leise, wie du willst, und doch wird deine Hand nicht halb so leicht auf das Instrument niederfallen, wie sie gegen deinen alten Tyrannen ist, der jetzt so tief, tief gesunken ist. Und nie wird das Instrument deinem Anschlage mit so hohlem heiserm Tone antworten, wie er es immer zu tun pflegt.

Ein betrunkener, bettelhafter Winkelschreiber namens Pecksniff mit seiner zänkischen, altjüngferlichen Tochter verfolgt dich und lauert auf dich, Tom, bettelt dich an und erinnert dich, daß er dein Glück besser begründet habe als sein eigenes. Dann versäuft er das Geld und erzählt den Zechkumpanen von seiner früheren Freigebigkeit gegen dich und deiner jetzigen Undankbarkeit. Und dann zeigt er auf die abgeschabten Ellbogen in seinen Ärmeln, legt seine sohlenlosen Schuhe auf die Bank und bittet seine Zuhörer, sich selbst zu überzeugen, wie es ihm ergehe, während du dahinlebest in Saus und Braus. Alles das weißt du, Tom. Und doch hast du Nachsicht mit ihm.

Mit lächelnder Miene gehst du jetzt allmählich in eine andere Tonart über, zu einem raschern, fröhlichen Takt, und kleine Füßchen fliegen bei dieser Musik, dich zu umtanzen, und leuchtende junge Augen blicken in dein Antlitz, und von allen am meisten liebst du ein kleines Geschöpfchen, Tom – ihr Kind, nicht Ruths –, du blickst ihm nach, wie es dich umtanzt und umhüpft; und wer ist bisweilen verwundert, dich so gedankenschwer zu sehen, und klettert auf dein Knie, um seine kleine Wange an die deine zu legen? – Wer liebt dich, Tom, mehr als alle übrigen, wenn das möglich ist? Wer wollte einmal in kranken Tagen von niemandem als von dir gepflegt sein und war sofort still und nicht mehr ungeduldig, Tom, als du neben seinem Bettchen saßest?

Und jetzt gehst du zu einer feierlichen Melodie über – zu einer Melodie, die alten Freunden und verklungenen Zeiten gewidmet ist. Und während deine Hand zögernd die Tasten berührt und die weichen Harmonien anschwellen, steigen Gesichte von Freunden und alten Zeiten vor dir auf. Der Geist jenes toten alten Mannes, der dir deine Wünsche von den Augen ablas, und dich nie hochzuhalten aufgehört hat, ist darunter. Und mit ruhigem Antlitz wiederholt er die Worte, die er auf seinem Totenbett zu dir sprach, und segnet dich.

Und aus dem Garten, Tom, den Kinderhände mit Blumen bestreut haben, kommt deine Schwester, die kleine Ruth, so leichtfüßig und leichtherzig wie in alten Tagen, um an deiner Seite Platz zu nehmen. Von der Gegenwart und der Vergangenheit, mit der sie in allen deinen Gedanken so zärtlich verbunden ist, schwingen sich deine Melodien zur Zukunft auf. Und wie es in und außer dir widerhallt, so blickt dein leuchtendes Gesicht auf sie mit einer Liebe und einem Vertrauen nieder, die über das Grab hinausgehen. Die erhabene Musik umgibt sie mit einer Wolke von Melodien, hilft jeden Gedanken an irdische Trennung tilgen und hebt euch beide, Tom, zum Himmel empor.