Der Polizist machte ein würdevolles Gesicht und nahm das Zeichen seines Amtes, den Knüppel, aus der Kaminecke, wo er unbeachtet gelegen hatte, in die Hand.

„Die Frage behandelt die Identität der Person, das haben Sie wohl schon gemerkt?“ sagte der Doktor.

„Allerdings, darüber war ich mir klar“, erwiderte der Polizist mit heftigem Husten, denn er hatte sein Bier so hastig ausgetrunken, daß ihm davon etwas in die Luftröhre gekommen war.

„Es wird in ein Haus eingebrochen“, sprach der Doktor, „und ein paar Menschen sehen für einen Augenblick, mitten im Pulverdampf und im Dunkel der Nacht, die Gestalt eines Knaben. Am nächsten Morgen kommt ein Junge in dasselbe Haus, und weil er zufällig den Arm verbunden hat, legen diese Menschen gewaltsam Hand an ihn. Sie bringen sein Leben durch ihr rohes Zugreifen in Gefahr – und schwören darauf, daß er der Dieb sei. Nun fragt es sich, ob diese Menschen ihr Verhalten rechtfertigen können und, wenn dies nicht der Fall ist, in welche Lage sie sich gebracht haben.“

Der Polizist nickte tiefsinnig mit dem Kopf und meinte, wenn der Herr Doktor sich nicht auf das Recht verstehe, so möchte er wissen, wer es sonst täte.

„Ich frage euch also noch einmal“, brüllte der Doktor, „wollt ihr mit einem feierlichen Eide beschwören, daß dieser Junge mit dem Diebe identisch ist?“

Brittles sah verlegen Herrn Giles an, und dieser blickte zweifelnd auf Brittles. Der Polizist legte die Hand ans Ohr, damit ihm kein Wort der Erwiderung entgehe. Der Doktor sah sich stolz im Kreise um, als man einen Wagen vorfahren und gleich darauf die Haustürklingel ertönen hörte.

„Das sind die Kriminalbeamten“, rief Brittles, anscheinend mächtig erleichtert.

„Wer?“ fragte der Doktor, an den jetzt die Reihe des Erschreckens kam.

„Die Beamten aus Scotland-Yard“, erwiderte Brittles, eine Kerze anzündend, „ich und Herr Giles haben heute früh nach ihnen geschickt.“

„Was?“ brüllte der Doktor.

„Ja“, antwortete Brittles, „ich habe durch den Postkutscher Botschaft gesandt und wundere mich nur, daß sie nicht schon früher gekommen sind.“

„Das tatest du? Dann hole der Teufel – die Dummköpfe in diesem Haus. Das wollte ich nur sagen“, schimpfte der Doktor und stiefelte hinaus.

172

Behandelt einen kritischen Fall

„Wer da?“ fragte Brittles und öffnete die Tür ein wenig, ohne jedoch die Sicherheitskette abzumachen. Die Kerze verdeckte er mit seiner Hand.

„Aufgemacht!“ tönte es von draußen. „Es ist die Kriminalpolizei von Scotland-Yard, nach der heute geschickt wurde.“

Durch diese Antwort beruhigt, öffnete Brittles die Tür weit und sah sich einem stattlichen Manne im Mantel gegenüber, der sofort nähertrat und seine Stiefel ruhig an der Matte reinigte, als ob er hier zuhause sei.

„Schicken Sie doch jemand hinaus, junger Mann, der meinem Kollegen hilft, Pferd und Wagen unterzustellen. Sie haben doch eine Remise hier?“

Brittles bejahte und zeigte nach dem Gebäude, worauf der Beamte selbst zu seinem Kollegen ging, um ihm behilflich zu sein, wobei Brittles ihm achtungsvoll mit der Kerze leuchtete. Nachdem dies erledigt war, führte man die beiden Kriminalpolizisten in ein Zimmer, wo sie die Mäntel ablegten. Der Mann, der an die Tür geklopft hatte, war von Mittelgröße und kräftig gebaut. Er konnte wohl fünfzig Jahre alt sein, trug einen Backenbart und hatte scharfe, durchdringende Augen. Der andere war ein rotköpfiger, hagerer Mann in Stulpenstiefeln mit einem häßlichen Gesicht, in dem eine aufgestülpte Nase saß.

„Sagen Sie Ihrer Herrschaft, daß Blathers und Duff gekommen wären“, begann der ältere, indem er sich ins Haar faßte und dann ein paar Handschellen auf den Tisch legte. „Ah! guten Abend, mein Herr, kann ich einige Worte mit Ihnen allein sprechen?“

Diese Anrede galt Herrn Losberne, der gerade mit den beiden Damen ins Zimmer trat. Dieser winkte Brittles, sich zu entfernen und schloß dann die Tür.

„Dies ist die Dame des Hauses sagte der Doktor mit einer Handbewegung gegen Frau Maylie.

Herr Blathers verbeugte sich, stellte, als man ihn zum Platznehmen aufforderte, seinen Hut auf den Fußboden, nahm einen Stuhl und winkte Duff, das gleiche zu tun. Dieser, anscheinend nicht gewöhnt, sich in guter Gesellschaft zu bewegen, ließ sich erst nach ziemlich vielen Kratzfüßen nieder und steckte dann den Knopf seines Stockes aus Verlegenheit in den Mund.

„Um gleich auf den Einbruchsversuch zu kommen, wie war der Hergang?“ fragte Blathers.

Herr Losberne wollte Zeit gewinnen und erzählte weitschweifig und umständlich die Geschichte. Die Detektive machten dazu pfiffige Gesichter und nickten sich von Zeit zu Zeit zu.

„Ich kann natürlich nichts Bestimmtes sagen, bevor ich den Tatort in Augenschein genommen habe“, sagte Blathers, „meiner unmaßgeblichen Meinung nach, scheint der Versuch nicht von einem Kaffer gemacht worden zu sein. Was hältst du von der Sache, Duff?“

„Ich bin ganz deiner Ansicht“, versetzte dieser.

„Um den Damen die Bedeutung des Wortes Kaffer klar zu machen, darf ich wohl annehmen, daß dieser Einbruchsversuch von keinem, der nicht zur Londoner Einbrecherzunft gehört, gemacht wurde?“ versetzte der Doktor lächelnd.

„Ganz recht, mein Herr“, sagte Blathers. „Ist dies alles, was Sie über den Vorfall zu berichten haben?“

„Ja, alles.“

„Was hat das nun für eine Bewandtnis mit dem Jungen, von dem die Dienerschaft spricht?“

„Gar keine“, entgegnete Herr Losborne. „Einer der bestürzten Diener hat es sich in den Kopf gesetzt, der Junge sei an dem Einbruch beteiligt gewesen. Das ist natürlich Unsinn, eine alberne Einbildung des Dieners.“

„Hm, so leicht darf man die Sache aber doch nicht nehmen“, bemerkte Duff.

„Sehr richtig“, meinte Blathers und nickte zustimmend mit dem Kopf. Er spielte mit den Handschellen, als wenn es ein paar Kastagnetten wären. „Wer ist der Junge? Was erzählt er von sich? Woher kommt er? Er ist doch nicht vom Himmel gefallen, nicht wahr?“

„Natürlich nicht“, versetzte der Doktor, den Damen einen unruhigen Blick zuwerfend. „Ich kenne seine ganze Geschichte – wir können ja nachher davon sprechen. Ich dachte, Sie wollten erst den Tatort besichtigen?“

„Allerdings“, erwiderte Blathers. „Das machen wir zuerst, und dann vernehmen wir die Dienstboten. So ist der gewöhnliche Geschäftsgang.“

Man brachte nun Lichter herbei, und die Herren Blathers und Duff, begleitet von dem Ortspolizisten, Giles, Brittles – kurz allen Anwesenden – begaben sich zu dem kleinen Fenster und sahen hinaus; dann ging man über den Rasenplatz und guckte durch das Fenster hinein. Darauf wurde der Fensterladen besichtigt und der Erdboden auf Fußspuren untersucht. Mit einer Heugabel stach man in die Büsche. Die Zuschauer folgten diesem Verfahren mit gespanntem Interesse; dann ging man wieder ins Haus, wo Herr Giles und Brittles ihre Aussagen machten. Nach Beendigung dieses Verhörs verließen Blathers und Duff das Zimmer und hielten eine lange Beratung ab, gegen die eine Besprechung großer Ärzte über einen schwierigen Krankheitsfall – was das Feierliche und Geheimnisvolle anbelangt – ein reines Kinderspiel war.

Unterdessen ging Losberne im anstoßenden Zimmer auf und ab, und Frau Maylie und Rosa zeigten auch ängstliche Mienen.

„Auf mein Wort“, sprach er nach einer Weile plötzlich stehenbleibend, „ich weiß wirklich nicht, was hier zu tun ist.“

„Gewiß wird eine wahrheitsgetreue Erzählung der Geschichte des armen Jungen genügen, um ihn bei den Kriminalbeamten zu entlasten“, meinte Rosa.

„Das bezweifle ich“, entgegnete der Doktor mit dem Kopfe schüttelnd. „Ich glaube nicht, daß ihm das, weder bei den Detektiven noch bei den höheren Polizeibeamten, zum Vorteil gereichen würde. Sie würden sagen, in jedem Fall ist er ein aus der Lehre entlaufener Bursche. Und außerdem ist seine Geschichte, vom Wahrscheinlichkeitsstandpunkt betrachtet, eine höchst zweifelhafte.“

„Sie schenken ihr doch aber Glauben?“ fiel Rosa hastig ein.

„Ja, das tue ich, so seltsam sie auch ist, vielleicht bin ich aber deshalb auch ein alter Esel“, erwiderte der Doktor. „Nichtsdestoweniger halte ich sie nicht für eine Geschichte, die einen erfahrenen Polizeibeamten zufriedenstellen kann.“

„Warum denn nicht?“ fragte Rosa.

„Aus dem einfachen Grunde, mein liebes Fräulein Rosa, weil für die Auffassung dieser Herren soviel böse Punkte darin vorkommen. Der Junge kann nur das, was gegen ihn, aber nicht das, was für ihn spricht, beweisen. Der Teufel hole die Gesellen, aber sie wollen stets das ‚Weshalb‘ und ‚Warum‘ wissen und glauben Sachen nicht, die nicht bewiesen sind. Er gesteht selbst, daß er einige Zeit mit Dieben zusammen gehaust hat, und daß er wegen Taschendiebstahls angeklagt vor dem Polizeirichter gestanden hat. Dann ist er gewaltsam aus dem Hause des Herrn, der ihn aufnahm, nach einem Ort entführt worden, den er nicht beschreiben kann, ja, von dessen Lage er nicht die geringste Ahnung hat. Er wird von Menschen, die ganz gewaltig auf ihn versessen zu sein scheinen, zwangsweise nach Chertsey gebracht und zum Zwecke der Plünderung eines Hauses durch ein Fenster gesteckt. Als er Lärm machen und etwas tun will, das seine Absichten in ein günstiges Licht stellen könnte, verrennt ihm ein verwünschter Hausmeister den Weg und schießt auf ihn. Grade als wäre alles darauf abgesehen, das zu verhindern, was ihm nützen könnte. Sehen Sie das nicht ein?“

„Doch“, sagte Rosa und mußte über des Doktors Aufregung lächeln. „Aber das beweist doch nicht, daß der Junge ein Verbrecher ist!“

„Natürlich nicht!“ erwiderte Herr Losberne etwas ironisch. „Der Herr segne den Scharfblick des weiblichen Geschlechts. Die Frauen sehen im Guten wie im Bösen immer nur die eine Seite einer Sache, und zwar immer die, welche sich ihnen zuerst gezeigt hat.“

Nachdem der gute Doktor diesen Erfahrungssatz von sich gegeben hatte, steckte er die Hände in die Taschen und nahm sein Hin- und Herlaufen im beschleunigten Zeitmaß wieder auf.

„Je mehr ich darüber nachdenke“, fuhr er nach einer Weile fort, „desto zahlreichere und größere Schwierigkeiten und Scherereien sehe ich voraus, wenn wir diesen Leuten die wahre Geschichte des Jungen erzählen. Ich bin überzeugt, daß sie sie nicht glauben werden; und selbst wenn man ihm am Ende nichts anhaben kann, so muß doch das ganze Untersuchungsverfahren mit dem damit verbundenen Schmutzaufrühren Ihren wohlwollenden Plan, den Jungen seiner elenden Lage zu entreißen, stark beeinträchtigen.“

„Ach, was ist da zu tun?“ rief Rosa. „Warum hat man nur nach der Kriminalpolizei geschickt?“

„Ich gäbe wer weiß was darum, wenn man das ungeschehen machen könnte“, sagte Frau Maylie.

„Das einzige, was wir tun können“, meinte der Doktor und setzte sich ergeben auf einen Stuhl, „ist, daß wir die Kerle durch Unverschämtheit zu verblüffen suchen. Da der Zweck ein guter ist, sind die Mittel geheiligt. Der Junge hat Fieber und ist nicht vernehmungsfähig; das ist ein Trost. Wir müssen diesen Umstand ausnutzen, hoffentlich gelingt’s – Herein!“

„Nun, mein Herr“, sagte Blathers, der jetzt mit seinem Kollegen ins Zimmer trat, aber bevor er zu sprechen begann, die Tür sorgfältig schloß, „das ist kein geschobenes Ding.“

„Zum Teufel, was meinen Sie mit geschobenem Ding?“ fragte der Doktor ungeduldig.

„Wir nennen das ein geschobenes Ding“, sagte der Polizist zu den Damen gewandt, als ob er sie um ihre Unwissenheit bemitleide, den Doktor aber aus demselben Grunde verachte, „wenn die Dienerschaft bei dem Einbruch beteiligt ist.“

„Wir hatten sie auch nicht in Verdacht“, sagte Frau Maylie.

„Schon möglich, gnädige Frau“, erwiderte Blathers, „das Personal hätte aber trotzdem die Hand mit im Spiel haben können. Es ist übrigens meisterhafte Arbeit, hier war sicher einer von der Londoner Einbrecherzunft am Werk!“

„Wirklich, prächtige Arbeit“, fügte Duff leise hinzu.

„Es waren zwei Einbrecher, die einen Jungen bei sich hatten, der durch das kleine Fenster mußte. Mehr läßt sich für den Augenblick nicht sagen. Wir möchten uns den Jungen oben doch einmal ansehen!“

„Darf ich den Herren zuerst etwas zu trinken anbieten?“ sagte der Doktor, und sein Gesicht glänzte vor Freude über seinen Einfall.

„Gewiß“, rief Rosa eifrig, „sie sollen im Augenblick bedient werden.“

„Wir nehmen dankend an, gnädiges Fräulein“, sagte Blathers und fuhr sich mit dem Rockärmel über den Mund. „Solche Verhöre machen die Kehle trocken. Bitte, keine Umstände unsertwegen, was gerade zur Hand ist.“

„Was wäre Ihnen am liebsten?“ fragte der Doktor, der jungen Dame zum Büfett folgend.

„Einen Tropfen Brandy, Herr, wenn es Ihnen gleich ist. Es war kalt auf dem Wege von London hierher, und ich finde immer, ein Gläschen Brandy wärmt das Herz so angenehm!“

Diese interessante Feststellung war an Frau Maylie gerichtet, die sie sehr freundlich aufnahm. Der Doktor schlüpfte inzwischen aus dem Zimmer.

„Ja, meine Damen“, sagte Blathers und hob das Glas hoch, „ich habe während meiner Dienstzeit eine ganze Anzahl solcher Fälle bearbeitet.“

„Zum Beispiel den Einbruch in Edmonton“, sagte Duff, dem Gedächtnisse seines Kollegen nachhelfend.

„Ja, das war ein ganz ähnlicher Fall, nicht wahr?“ meinte Herr Blathers. „Conkey Chickweed war der Täter!“

„Das hast du immer gesagt“, erwiderte Duff, „aber ich behaupte, es war die Familie Pet, und Conkey hatte daran keinen größeren Anteil als ich selber.“

„Ach geh“, entgegnete Blathers, „ich weiß das besser. Erinnerst du dich, daß damals auch Conkey sein Geld gestohlen wurde? Was das für ein Aufsehen machte! Mehr als der neuste Sensationsroman!“

„Wie war das?“ fragte Rosa, ängstlich besorgt, die unwillkommenen Gäste bei guter Laune zu erhalten.

„Das war ein Spitzbubenstreich, gnädiges Fräulein, auf den kaum irgendein anderer verfallen wäre“, antwortete Blathers. „Der Conkey Chickweed also hatte ein Wirtshaus, der Battlebrücke gegenüber, und einen Keller, wo viele junge Lords hinkamen, um den Hahnenkämpfen, Dachshetzen und dergleichen zuzuschauen. Er gehörte damals noch nicht zur Diebeszunft; da wurden ihm einmal mitten in der Nacht dreihundertsiebenundzwanzig Guineen, in einem Sacke befindlich, von einem großen Mann mit einem schwarzen Pflaster über dem Auge aus seiner Schlafstube gestohlen. Der Dieb, der sich unter dem Bette versteckt hatte, sprang nach der Tat aus dem Fenster. Aber Conkey war nicht weniger flink, durch das Geräusch geweckt, fuhr er schnell aus seinem Bett heraus, und schoß eine Kugel auf den Flüchtling ab; er brachte durch den Knall die ganze Nachbarschaft auf die Beine. Bei näherer Untersuchung ergab sich, daß Conkey den Dieb getroffen hatte, denn man konnte auf einer ziemlichen Strecke Blutspuren verfolgen, die sich schließlich verloren. Das Geld aber war weg, und Herr Chickweed machte Bankerott. Man eröffnete Subskriptionen für den armen Mann und ließ Sammellisten und, weiß der Henker, was noch alles für ihn herumgehen. Dieser lief mit gerauftem Haar wie ein Verrückter durch die Straßen, und man befürchtete, er würde sich ein Leid antun. Eines Tages kam er in fliegender Eile auf die Polizei und hatte eine geheime Unterredung mit dem Polizeirichter, der am Schluß derselben nach Jem Spyers klingelte und diesen, einen unserer tüchtigsten Detektive, beauftragte, Herrn Chickweed bei der Ergreifung des Diebes zu helfen. ‚Ich sah ihn gestern morgen an meinem Hause vorbeigehen‘, sagte Chickweed. ‚Warum haben Sie ihn nicht gleich am Kragen gepackt?‘ fragte Spyers. – ‚Ich war so bestürzt, daß man mir den Schädel mit einem Zahnstocher hätte einschlagen können. Wir werden ihn aber bestimmt erwischen, denn zwischen zehn und elf Uhr abends kam er wieder vorbei.‘ Spyers hatte dies kaum gehört, als er seine Reisetasche packte und mit Conkey fortging. Er setzte sich in Conkeys Wirtshaus hinter einen Fenstervorhang, den Hut auf dem Kopf, um jederzeit zur Verfolgung bereit zu sein. Plötzlich, in später Nacht, fing Chickweed zu schreien an: ‚Da ist er! Haltet den Dieb!‘ Jem Spyers stürzt hinaus und sieht Chickweed, in einem fort rufend, durch die Straßen rennen. Von allen Seiten eilen Leute herbei, und überall schallt der Ruf ‚Diebe!‘, wobei Chickweed am lautesten schreit. Spyers verliert ihn an einer Ecke eine Minute aus dem Gesicht – schießt herum – sieht eine kleine Gruppe – dringt hinein. ‚Welches ist der Dieb?‘ – ‚Verflucht‘, sagt Chickweed, ‚ich hab‘ ihn wieder verloren!'“

„Das war merkwürdig, aber da man keinen Dieb fand, so gingen sie wieder ins Wirtshaus zurück. Am nächsten Morgen saß Spyers wieder auf seinem Posten hinter dem Fenstervorhang und guckte sich nach einem großen Mann mit einem schwarzen Pflaster schier die Augen aus. Endlich konnte er sich nicht enthalten, sie für eine Minute zu schließen, und im Augenblick hörte er Chickweed brüllen: ‚Da ist er!‘ Er rannte abermals hinaus, Chickweed die halbe Straßenlänge voraus, und nach einem zweimal so langen Rennen als gestern hatte man den Dieb wieder aus dem Gesicht verloren. Dies wiederholte sich noch verschiedene Male, bis die eine Hälfte der Nachbarn meinte, Herr Chickweed sei vom Teufel bestohlen worden, der ihn außerdem noch nachträglich foppe, während die andere Hälfte sagte, der arme Herr Chickweed sei vor Kummer närrisch geworden.“

„Und was sagte Jem Spyers?“ fxagte der Doktor, der kurz nach Geschichtsanfang wieder ins Zimmer getreten war.

„Der sagte zuerst gar nichts“ fuhr Blathers fort, „horchte aber auf alles, ohne daß man es merkte. Ein deutlicher Beweis, daß er sein Geschäft verstand. Eines Morgens aber trat er an den Schenktisch, zog seine Schnupftabaksdose heraus und sagte: ‚Chickweed, ich hab’s heraus, wer diesen Diebstahl begangen hat.‘ – ‚Wirklich?‘ versetzte Chickweed, ‚ach, lieber Spyers, ich will zufrieden sterben, wenn ich an diesem Spitzbuben gerächt bin! Wo ist er?‘ – ‚Ach‘, sagte Spyers und bot ihm eine Prise an, ‚lassen Sie doch diese faulen Witze – Sie haben es selbst getan.‘ – Und so war’s auch, und er hatte ein schönes Stück Geld damit gemacht. Wäre er nicht so ängstlich bemüht gewesen, allen bösen Schein zu vermeiden, so wäre die Geschichte nie ans Licht gekommen!“ schloß Herr Blathers. Er setzte sein Glas auf den Tisch und spielte wieder mit den Handschellen.

„In der Tat, ein merkwürdiger Fall“, meinte der Doktor. „Wenn es Ihnen recht ist, können wir jetzt zu dem Jungen hinaufgehen.“

Herr Giles leuchtete den beiden Beamten und Herrn Losberne nach Olivers Zimmer.

Dieser hatte geschlafen, aber er sah kränker und fiebriger aus als vorher. Er richtete sich mit des Doktors Hilfe im Bette auf, blickte verständnislos auf die Fremden und schien keine Ahnung davon zu haben, wo er sich befand.

„Das“, sagte Herr Losberne lebhaft, aber mit leiser Stimme, „ist der Junge, der auf eines Nachbarn Grundstück durch Selbstschuß verwundet wurde und heute morgen hier um Hilfe anklopfte. Er wurde dann sogleich von diesem schlauen Herrn da, der die Kerze in der Hand hat, ergriffen und in einer Weise mißhandelt, die lebensgefährlich genannt zu werden verdient. Ich sage das als Sachverständiger.“

Herr Giles blickte verdutzt auf die Polizeibeamten und den Doktor.

„Ich nehme an, Sie wollen das nicht ableugnen“, sagte der Doktor und legte Oliver wieder in die Kissen zurück.

„Es geschah alles in der besten Absicht“, antwortete Giles. Gewiß – ich dachte, es wäre der Junge, sonst hätte ich mich nicht in der Weise an ihm vergriffen. Icb bin doch kein brutaler Kerl, Herr Doktor.“

„Sie dachten, es wäre wessen Junge?“ fragte Blathers.

„Des Einbrechers Junge“, antwortete Giles. „Sie hatten einen Jungen bei sich.“

„Glauben Sie das noch?“

„Was, glauben?“ fragte Giles mit leerem Blick.

„Daß es derselbe Junge ist, den die Einbrecher bei sich hatten, Idiot!“ sagte Blathers ungeduldig.

„Ich weiß nicht, weiß es wirklich nicht“, sprach Giles mit Jammermiene. „Drauf schwören, daß er es ist, kann ich nicht.“

„Nun, wofür halten Sie ihn denn?“

„Ich weiß nicht, wofür ich ihn halten soll. Ich glaube nicht, daß es der Junge ist, ich möchte sagen, ich weiß es fast gewiß, daß er es nicht sein kann. Sie wissen, es ist nicht möglich.“

„Hat der Mann getrunken?“ fragte Blathers den Doktor.

„Sie sind wirklich ein richtiger Konfusionsrat“, sagte Duff zu Giles mit verächtlicher Miene.

Der Doktor hatte währenddessen Olivers Puls gefühlt, er bemerkte nun, daß, wenn die Herren noch Zweifel hätten, so möchten sie so gut sein und in das anstoßende Zimmer gehen und dort Brittles verhören.

Die beiden Beamten begaben sich nun in das nächste Gemach und vernahmen Brittles. Dieser verwickelte sich in so viele Widersprüche, daß daraus nur seine eigene Unklatheit deutlich wurde. Er erklärte, daß er den Jungen des Einbrechers, wenn man ihm denselben vorführen würde, nicht wiedererkennen würde. Er habe Oliver nur für diesen Jungen gehalten, weil Herr Giles sagte, er wäre es. In der Küche habe eben Herr Giles aber gesagt, er fürchtete, in der Sache ein wenig voreilig gewesen zu sein.

Es wurde nun die Frage aufgeworfen, ob Herr Giles überhaupt jemand getroffen habe. Als man die zweite Pistole untersuchte, stellte sich heraus, daß sie nur mit Pulver geladen war. Diese Entdeckung machte auf alle einen tiefen Eindruck – nur auf den Doktor nicht, der einige Minuten vorher die Kugel herausgezogen hatte. Nun überließen die Kriminalbeamten, ohne sich weiter um Oliver zu kümmern, das Haus der Obhut des Ortspolizisten und nahmen ihr Nachtlager in der Stadt. Am nächsten Morgen wollten sie wiederkommen.

Des anderen Tages verbreitete sich das Gerücht, daß sich im Gefängnis von Kingston zwei Männer und ein Junge befänden, die in der Nacht unter verdächtigen Umständen aufgegriffen worden seien. Blathers und Duff begaben sich sofort dorthin. Eine genaue Untersuchung stellte fest, daß die Männer schlafend in einer Scheune gefunden waren. Obgleich dies nun ein „großes“ Verbrechen war, konnte es doch nur mit Gefängnis bestraft werden. In Ermangelung aller weiteren Zeugnisse vermochte man es aber nicht als einen genügenden Beweis zu betrachten, daß die Schläfer einen mit Gewalttat verbundenen Einbruch begangen hätten und damit der Todesstrafe verfallen wären. Die beiden Detektive kehrten also ebenso klug zurück, wie sie hingegangen waren.

Um uns kurz zu fassen – nach einigem Hin und Her ließ sich der benachbarte Friedensrichter leicht bewegen, Frau Maylies und Herrn Losbernes Bürgschaft dafür anzunehmen, daß Oliver, falls verlangt, vor Gericht erscheine. Blathers und Duff, mit einigen Guineen von Frau Maylie belohnt, kehrten mit grundverschiedenen Ansichten von der Sache nach London zurück. Der letztere neigte nach reiflicher Erwägung aller Umstände zu dem Glauben, daß der Einbruch von der Familie Pet verübt sei, während ersterer zu dem Schlusse kam, daß einzig und allein der große Herr Conkey Chickweed die Tat ausgeführt haben könnte.

Inzwischen erholte sich Oliver allmählich unter Frau Maylies, Rosas und des guten Doktors Pflege.

Von dem glücklichen Leben, das Oliver bei seinen gütigen Beschützerinnen zu führen anfing

Oliver hatte viel Schmerzen auszustehen. Die Wunde tat arg weh, und dazu gesellte sich noch ein heftiges Fieber, das viele Wochen anhielt und ihn sehr herunterbrachte. Endlich fing es an mit ihm besser zu werden, und er konnte unter Tränen seinen Dank abstatten und sagen, wie tief er die Güte der Damen empfinde. Er wünschte und hoffte, ihnen nach seiner Genesung Beweise seiner Dankbarkeit geben zu können. Er sehne sich danach, ihnen irgendwie dienen zu können, damit sie sähen, daß sie ihre Güte nicht an einen Unwürdigen verschwendet hätten.

„Liebes Kind“, sagte Rosa, „du wirst manche Gelegenheit dazu haben. Wir gehen aufs Land, und meine Tante will dich mitnehmen. Die ländliche Ruhe und die reine Luft werden dich in kurzer Zeit wieder ganz gesund machen, dann wollen wir dich auf hunderterlei Art beschäftigen, sobald du der Mühe gewachsen bist.“

„Mühe?“ rief Oliver. „Ach, liebes Fräulein, wenn ich nur für Sie arbeiten oder Ihnen eine Freude machen könnte, indem ich Ihre Blumen begösse, Ihre Vögel pflegte oder Gänge für Sie machte. Ich würde wer weiß was darum geben!“

„Gar nichts sollst du darum geben“, versetzte Rosa lächelnd, „denn wie ich schon vorhin sagte, wirst du dich auf vielerlei Art nützlich machen können. Wenn du nur die Hälfte davon hältst, was du jetzt versprichst, so wirst du mich sehr glücklich machen.“

„Glücklich?“ rief Oliver aus. „Wie lieb sind Sie!“

„Du wirst mich glücklicher machen, als ich dir sagen kann“, entgegnete die junge Dame. „Schon der Gedanke, daß meine liebe Tante das Werkzeug Gottes gewesen ist, jemand aus einer so unglücklichen Lage, wie du sie beschrieben hast, zu erretten, gewährt mir eine unaussprechliche Freude. Aber die Überzeugung, daß ihr Schützling in aufrichtigem Danke ihr zugetan ist, macht mich überglücklich. Verstehst du mich?“ fragte sie, Olivers nachdenkliches Gesicht betrachtend.

„O ja, Fräulein“, antwortete Oliver hastig. „Aber es fiel mir eben ein, daß ich jetzt schon undankbar bin.“

„Gegen wen?“ fragte Rosa.

„Gegen den gütigen Herrn und die liebe alte Dame, die sich meiner so herzlich angenommen haben. Ich weiß bestimmt, sie würden sich freuen, wenn sie erführen, daß ich hier so glücklich bin.“

„Das glaube ich auch, und Herr Losberne hat sich bereits vorgenommen, mit dir dort einen Besuch zu machen, sobald es dein Zustand erlaubt.“

„Wirklich, Fräulein?“ rief Oliver, und sein Gesicht strahlte. „Ach, ich wüßte mich vor Freude nicht zu lassen, wenn ich die lieben Menschen wiedersehen würde.“

Nach ziemlich kurzer Zeit war Oliver so weit wiederhergestellt“ daß er die kleine Reise zu Herrn Brownlow wagen durfte. In einem kleinen Wagen der Frau Maylie fuhr er zusammen mit Herrn Losberne nach Pentonville. Als sie an die Chertseybrücke kamen, erblaßte Oliver und stieß einen lauten Schrei aus.

„Was ist los?“ fragte der Doktor mit seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit. „Siehst du etwas? Hörst du etwas? Fühlst du etwas – wie?“

„Dort, Herr Doktor, jenes Haus!“

„Ja – was ist damit? Halt, Kutscher! – Was ist mit dem Hause, Junge, he?“

„Die Diebe – in jenes Haus haben sie mich mitgenommen“, flüsterte Oliver.

„Donnerwetter! Halt, Kutscher, ich will aussteigen!“

Aber ehe noch der Kutscher halten konnte, war der Doktor schon aus dem Wagen gesprungen. Er lief auf das Haus zu und begann wie toll an die Tür zu klopfen.

„Hallo, was soll der Lärm?“ schrie ein kleiner, buckliger Mann und öffnete die Tür so plötzlich, daß Losberne beinahe ins Haus gefallen wäre.

„Was das soll?“ brüllte er und packte das Männchen am Kragen. „Gar viel. Es ist von Raub und Einbruch die Rede.“

„Und auch bald von Mord“, versetzte der Bucklige kaltblütig, „wenn Sie mich nicht sofort loslassen, verstanden?“

„Ich verstehe sehr gut“, entgegnete der Doktor und schüttelte ihn kräftig. „Wo ist – Donnerwetter, wie heißt doch gleich der verdammte Spitzbube – Sikes – richtig. – Wo ist Sikes, Halunke?“

Der Bucklige starrte ihn entrüstet und wütend an, entwand sich dann durch eine geschickte Bewegung den Händen des Doktors und zog sich in das Haus zurück, schreckliche Flüche ausstoßend. Ehe er jedoch die Tür zumachen konnte, war Herr Losberne, ohne ein Wort zu sprechen, ins Zimmer eingedrungen. Er sah sich schnell um, aber nichts entsprach Olivers Beschreibung vom Hause.

„Nun“, sagte das Männchen, „was soll das bedeuten, daß Sie so gewaltsam in mein Haus eindringen? Wollen Sie mich berauben – oder ermorden?“

„Hast du jemals gehört, daß man in dieser Absicht im Wagen vorgefahren kommt und sich Zeugen mitbringt, du alter Idiot?“ brüllte der nervöse Doktor.

„Zum Teufel, was wollen Sie denn sonst?“ fragte der Bucklige heftig. „Wenn Sie sich nicht augenblicklich ‚rausscheren, gibt’s ein Unglück.“

„Ich werde gehen, wenn es mir paßt“, sagte Losberne und guckte in ein anderes Zimmer. Es hatte aber auch keine Ähnlichkeit mit dem von Oliver beschriebenen. „Ich werde schon einmal dahinterkommen, Freundchen!“

„So – wirklich?“ höhnte der bucklige Krüppel. „Ich bin immer hier zu finden, wenn Sie mich suchen. Ich habe in diesem Hause fünfundzwanzig Jahre lang, und von den Leuten als Verrückter gemieden, gelebt. Ich laß mich von Ihnen nicht schikanieren. Dafür sollen Sie mir büßen.“ Er schrie und brüllte in höchster Wut wie ein Wahnsinniger.

„Dumme Sache“, murmelte der Doktor, „der Junge muß sich getäuscht haben. – Hier – steckt das ein und haltet’s Maul.“ Er warf dem Buckligen ein Geldstück zu und ging zum Wagen zurück.

Das kleine Männchen folgte ihm unter gräßlichen Flüchen und Verwünschungen an den Wagenschlag und warf auf Oliver voller Haß und Wut einen Blick, der den armen Jungen im Wachen und Träumen noch monatelang verfolgte. Das Herumtoben hörte gar nicht auf, und noch aus der Entfernung konnte man das kleine Scheusal schreien hören und sich die Haare raufen sehen.

„Ich bin ein Esel“, sagte der Doktor nach einer langen Pause. „Wußtest du das schon vorher, Oliver“

„Nein, Herr Doktor!“

„Dann merke es dir für ein andermal.“

„Ein Esel!“ wiederholte Herr Losberne nach einer weiteren Pause. „Selbst wenn es das richtige Haus war und die Verbrecher drin, was hätte ich als einzelner machen können? Und hätte ich auch ausreichenden Beistand gehabt, hätte es mir doch nichts genützt. Im Gegenteil, die ganze Geschichte, welche ich vertuschen wollte, wäre ans Tageslicht gekommen. Wäre mir aber ganz recht geschehen, ich bringe mich immer von einer Patsche in die andere durch mein unbeherrschtes Wesen. So hätte es nur als Warnung dienen können.“

Der treffliche Doktor hatte sein ganzes Leben lang nie anders als nach den Eingebungen des Augenblicks gehandelt. Es gereichte aber seinem Herzen, aus dem sie kamen, nicht zur Unehre, daß er sich dadurch die Liebe und Achtung aller derjenigen erwarb, die ihn kannten. Um die Wahrheit zu gestehen, er war darüber ärgerlich, daß es ihm bei dieser Gelegenheit nicht gelungen war, einen überzeugenden Beweis für die Richtigkeit von Olivers Erzählungen zu erhalten. Doch die Verstimmung währte nicht lange, und da Olivers Antworten auf seine Fragen klar und bestimmt gegeben wurden und den früheren auch nicht widersprachen, so nahm er sich vor, ihnen in Zukunft vollen Glauben zu schenken.

Da Oliver den Namen der Straße kannte, in der Herr Brownlow wohnte, so bedurfte es keiner weiteren Nachfrage. Als die Kutsche um die Ecke bog, und Oliver das Haus sah, schlug sein Herz zum Zerspringen.

„Nun, wo ist’s?“ fragte Herr Losberne.

„Dort, das weiße Gebäude“, erwiderte der Junge, hastig aus dem Fenster zeigend. „Ach, lassen Sie schnell fahren, es ist mir, als müßte ich vergehen. Ich zittere am ganzen Leibe.“

„Beruhige dich, Junge“, sagte der Doktor und klopfte Oliver beschwichtigend auf die Schultern. „Gleich bist du da, und sie werden mächtig erfreut sein, dich gesund und munter wiederzusehen.“

„Ach, das hoffe ich auch. Sie waren so gut, so furchtbar gut zu mir.“

Die Kutsche rollte weiter. Sie hielt nun. – Nein, das war nicht das rechte Haus – das nächste. Man fuhr weiter und machte abermals halt. Oliver sah aus dem Fenster, und Tränen der Freude rollten ihm über die Backen.

Aber ach, das Haus war leer. Am Fenster klebte ein Zettel mit der Aufschrift. Zu vermieten!

„Wir wollen im nächsten Haus fragen“, rief der Doktor, Oliver am Arm nehmend. – „Können Sie uns nicht sagen, was aus Herrn Brownlow geworden ist, der nebenan gewohnt hat?“

Das Dienstmädchen wußte es nicht, wollte aber fragen gehen. Sie kam schnell wieder zurück und sagte, Herr Brownlow hätte alle seine Besitzungen verkauft und wäre vor sechs Wochen nach Westindien gegangen. Oliver rang die Hände und taumelte zurück.

„Hat er seine Hausdame auch mitgenommen?“ fragte Herr Losberne nach kurzer Pause.

„Ja“, antwortete das Mädchen. „Der alte Herr, die Hausdame und ein Freund von Herrn Brownlow – alle reisten miteinander.“

„Also wieder nach Hause“, rief der Doktor dem Kutscher zu. „Die Pferde können Sie füttern, wenn wir dieses verfluchte London erst mal im Rücken haben!“

„Wollen wir nicht zu dem Buchhändler, ich kenne den Weg. Besuchen Sie ihn doch“, bat Oliver.

„Lieber Junge, wir haben heute genug Enttäuschungen erlebt“, sagte der Doktor. „Für uns beide gerade hinreichend. Wenn wir zu dem Buchhändler führen, würden wir sicher hören, er sei tot oder weggelaufen oder hätte sein Haus angezündet. Nein, nein wir fahren nach Hause.“

Dieses Mißgeschick verursachte Oliver inmitten seines Glückes vielen Kummer. Hatte es ihm doch während seiner Krankheit manche frohe Stunde bereitet, wenn er sich ausmalte, wie sich Herr Brownlow und Frau Bedwin freuen würden, ihn wiederzusehen. Auch hatte die Hoffnung, sich ihnen gegenüber rechtfertigen zu können, ihn in seinen neuen ihm auferlegten Prüfungen aufrecht erhalten. Er erlag fast dem Gedanken, daß sie so weit fortgezogen seien mit dem Glauben, er wäre ein Betrüger und Dieb – einem Glauben, den ihnen zu nehmen, er vielleicht bis zu seinem Tode nicht imstande war.

Das Benehmen seiner Wohltäter gegen ihn blieb unverändert freundlich. Als nach vierzehn Tagen schönes, warmes Wetter einzutreten begann, und Sträucher und Bäume sich in frisches Grün kleideten, traf man Anstalten, die Villa in Chertsey auf einige Monate zu verlassen. Das Silberzeug, welches die Habgier des Juden so erregt hatte, wurde der Bank in Verwahrung gegeben, und die Bewachung des Hauses Giles und einem anderen Diener anvertraut. Dann reisten die Damen aufs Land und nahmen Oliver mit.

Der neue Aufenthalt unserer Familie war ein ungemein liebliches Fleckchen Erde, und für Oliver, der bisher seine Tage fast immer in dumpfigen Räumen zugebracht hatte, schien ein neues Leben zu erblühen. Rosen und Geißblatt umrankten die Wände des Häuschens. Efeu kroch um die Stämme der Bäume, und die Blumen des Gartens erfüllten die Luft mit ihrem Duft. In der Nähe befand sich ein kleiner Gottesacker, unter dessen niedrigen Rasenhügeln die alten Leute des Dorfes ihren letzten Schlaf schliefen. Oliver machte hierher oft seinen Spaziergang, setzte sich manchmal, wenn er des ärmlichen Grabes seiner Mutter gedachte, an einem der Hügel nieder und schaffte seinem Herzen durch Tränen Erleichterung.

Es war eine glückliche Zeit. Froh und heiter entschwanden ihm die Tage, und die Nächte brachten ihm nur freundliche Träume. Alle Morgen besuchte er einen in der Nähe der kleinen Kirche wohnenden alten Herrn im Silberhaar, der ihn besser lesen und schreiben lehrte und sich so große Mühe mit ihm gab, daß Oliver alles aufbot, um ihm recht viel Freude zu machen. Dann ging er mit Frau Maylie oder Rosa spazieren, oder saß neben ihnen im Garten und hörte aufmerksam zu, wenn die junge Dame vorlas. Nachher hatte er für den nächsten Tag seine Aufgaben zu lernen, mit denen er in einem kleinen Gartenzimmer eifrig beschäftigt war, bis der Abend herankam, und die Damen ihn abermals auf ihre Spaziergänge mitnahmen. Wenn es ganz dunkel geworden war, und sie nach Hause zurückkehrten, setzte sich Rosa gewöhnlich ans Klavier und spielte irgendeine sanfte Weise oder sang mit lieblicher Stimme ein altes Lied, das die Tante zu hören wünschte.

Wenn dann erst der Sonntag kam – wie ganz anders wurde der zugebracht, als er ihn bisher zu verleben gewohnt war. Morgens war er in der Kirche, wo die grünen Blätter um die Fenster rankten. Dann kamen wieder Spaziergänge, und abends las Oliver einige Kapitel aus der Bibel.

Morgens ganz früh war Oliver auf den Beinen, streifte durch die Wiesen und Felder und brachte mächtige Sträuße wildwachsender Blumen nach Hause. Er schmückte damit den Frühstückstisch.

So entschwanden drei Monate, die für Oliver wahre Tage der Seligkeit waren.

In dem das Glück Olivers und seiner Freunde plötzlich einen argen Stoß erleidet

Der Frühling ging schnell dahin, und der Sommer kam. Das ruhige Leben in dem kleinen Häuschen ging unverändert fort, und Frohsinn und Heiterkeit herrschten dort. Oliver war schon lange gesund und kräftig geworden, aber er blieb stets der sanfte, stille, liebevolle Junge, der er in den Tagen war, als er noch der Pflege und Wartung bedurfte.

An einem schönen Sommerabend hatten die Damen einen ungewöhnlich langen Spaziergang gemacht, denn der Tag war sehr heiß gewesen, und der Abendwind hatte etwas Kühlung gebracht. Da man im heiteren Gespräch den Ausflug länger als sonst ausgedehnt hatte, fühlte sich Frau Maylie ziemlich ermüdet, und man kehrte nun langsam nach Hause zurück. Rosa nahm ihren Strohhut ab, setzte sich wie gewöhnlich ans Klavier, und nach einem langen Vorspiel ging sie in eine gehaltene, feierliche Melodie über, während deren man sie auf einmal laut schluchzen hörte.

„Was ist dir, liebes Kind?“ fragte Frau Maylie.

Rosa erwiderte nichts, sondern spielte etwas schneller, als ob die Frage sie aus einem schmerzlichen Gedankengang geweckt hätte.

„Rosa, Liebling!“ rief die alte Dame und eilte zu dem jungen Mädchen, sie umarmend, „was ist mit dir? In Tränen gebadet? Was drückt dich?“

„Nichts, Tante, nichts“, versetzte Rosa. „Ich weiß nicht, was es ist, kann es nicht beschreiben, aber –“

„Du bist doch nicht krank, Liebling?“ unterbrach sie Frau Maylie.

„Ach nein, ich glaube nicht“, erwiderte das junge Mädchen, zusammenschauernd, als wenn ein Fieber sie schüttelte. „Wenigstens wird mir bald wieder besser sein. Bitte schließe das Fenster.“

Oliver beeilte sich, ihrem Wunsche nachzukommen. Das junge Mädchen suchte nun ihre Heiterkeit wiederzugewinnen und fing an, eine lustige Weise zu spielen. Die Finger versagten ihr aber bald den Dienst und fielen kraftlos auf die Tasten. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, sank aufs Sofa und ließ ihren jetzt hervorquellenden Tränen freien Lauf.

„Mein Kind“, sagte Frau Maylie und schloß sie in die Arme, „so habe ich dich noch nie gesehen!“

„Ich wollte Sie nicht gern in Unruhe versetzen“, sagte Rosa, „aber ich konnte die Tränen nicht aufhalten, soviel Mühe ich mir auch gab. Ich glaube jetzt selbst, Tante, ich bin krank.“

Sie war es auch tatsächlich, denn als Licht hereingebracht wurde, bemerkte man, daß sich ihre gesunde Gesichtsfarbe in der kurzen Zeit seit ihrer Heimkehr in Marmorblässe verwandelt hatte.

Oliver blickte die alte Dame ängstlich an, und sein Herz war beklommen. Als er aber sah, daß die Tante ihre Besorgnis zu verbergen suchte, so bemühte er sich, ein gleiches zu tun. Rosa erklärte nun zu Bett gehen zu wollen und entfernte sich mit der Versicherung, daß sie sich schon besser fühle und hoffe, morgen wieder ganz gesund zu erwachen.

„Fräulein Rosa wird doch nicht ernstlich krank sein, gnädige Frau“, sagte Oliver, als Frau Maylie, die Rosa beigleitet hatte, wieder ins Zimmer trat.

Die alte Dame winkte ihm zu schweigen, setzte sich in eine dunkle Ecke des Raumes und blieb selbst eine Weile stumm. Endlich begann sie mit bebender Stimme:

„Ich hoffe nicht, Oliver. Ich bin mit ihr verschiedene Jahre sehr glücklich gewesen – zu glücklich vielleicht, und es könnte Zeit sein, daß mich wieder ein Unglück trifft. Lieber Gott, bloß das nicht.“

„Was für ein Unglück, gnädige Frau?“

„Das Unglück, das liebe Mädchen zu verlieren“, erwiderte die Dame mit tonloser Stimme. „Sie war so lange mein Trost und mein Glück.“

„Das wolle Gott verhüten!“ rief Oliver hastig.

„Ich sage dazu Amen“, sprach darauf die alte Dame und faltete fromm die Hände.

„Ach, ich glaube, wir haben so etwas Schreckliches nicht zu befürchten, vor zwei Stunden war sie ja noch ganz munter.“

„Aber jetzt ist sie sehr krank, und ich habe Angst, daß es noch schlimmer werden wird. Meine liebe, liebe Rosa, was soll ich anfangen ohne dich!“

Die alte Dame erlag fast ihren trostlosen Vorstellungen und gab sich so sehr ihrem Kummer hin, daß Oliver, seine eigene Herzensangst unterdrückend, sie bat, um des lieben Fräuleins willen gefaßter zu sein.

„Bedenken Sie doch, gnädige Frau“, sagte Oliver und suchte vergebens seine Tränen zurückzudrängen, „wie jung und gut sie ist. Ich bin überzeugt, daß sie um Ihretwillen, die Sie selbst so gut sind, und um unser allerl willen, die sie so glücklich macht, nicht sterben wird. Unmöglich kann Gott sie jetzt schon hinübergehen lassen, so grausam ist er nicht!“

„Still, du denkst und sprichst wie ein Kind“, sagte Frau Maylie und streichelte Oliver das Gesicht. „Aber du hast mir eben eine Lehre gegeben, denn ich hatte meine Pflicht vergessen. Ich hoffe jedoch Vergebung zu finden, denn ich bin alt und habe genug Krankheiten und Tod gesehen, um den Schmerz zu kennen, die sie den Angehörigen zufügen, denen sie das Liebste rauben!“

Es folgte eine bange Nacht, und als der Morgen graute, zeigte es sich nur zu sehr, wie recht Frau Maylie mit ihrer Voraussagung hatte. Rosa lag im ersten Stadium eines heftigen und gefährlichen Fiebers.

„Wir müssen uns tummeln, Oliver, und uns keinem nutzlosen Kummer hingeben“, sagte Frau Maylie, dem Jungen mit tapferer Miene ins Gesicht guckend. „Dieser Brief muß so schnell wie möglich an Herrn Losberne befördert werden. Am besten durch reitenden Boten. Du sorgst dafür, daß es geschieht. Und dann ist hier noch ein anderes Schreiben“, fuhr Frau Maylie nach kurzem Besinnen fort, „ich weiß aber nicht, ob ich es jetzt schon absenden soll. Ich möchte es nur abgehen lassen, wenn das Schlimmste zu befürchten wäre.“

„Soll es auch nach Chertsey, gnädige Frau?“ fragte Oliver und streckte die Hand danach aus.

„Nein“, erwiderte die Dame, indem sie ihn mechanisch hinreichte.

Oliver las die Adresse: Herrn Harry Maylie, in dem Hause eines Lords auf dem Lande, dessen Namen ihm fremd war.

„Soll er abgehen, gnädige Frau?“ fragte Oliver.

„Nein, ich will bis morgen warten.“ Mit diesen Worten gab Frau Maylie Oliver ihre Börse und dieser eilte fort, um den Brief an Herrn Losberne auf die Post zu bringen. Er jagte über die Felder und erreichte bald den Marktplatz des kleinen Fleckens. Vor dem Gasthof mit Namen „Der Georg“ redete Oliver einen Postillion an, der auf einer Bank dahindöste. Er wies ihn an den Wirt, der an einem Brunnen beim Stall lehnte und einen fleißigen Gebrauch von einem silbernen Zahnstocher machte. Dieser Herr schritt bedächtig nach seinem Kontor, um die Posttaxe auszurechnen, was ziemlich lange dauerte. Als dies geschehen und die Bezahlung geleistet war, mußte der Reitknecht sich anziehen und das Pferd satteln. Dadurch vergingen wieder zehn Minuten. Oliver wurde ungeduldig, er wäre am liebsten aufs Pferd gesprungen und selbst mit dem Briefe weggeritten. Endlich war alles bereit, und der Bote gab dem Gaul die Sporen und jagte davon.

Es ist schon etwas, zu wissen, daß keine Zeit verloren gegangen ist, wenn man nach Hilfe geschickt hat. Oliver eilte daher mit erleichtertem Herzen über den Hof und wollte gerade durch den Torweg gehen, als er gegen einen großen Mann rannte, der in einen Mantel gehüllt aus dem Gasthaus trat.

„Donnerwetter, was ist das?“ schrie dieser und prallte zurück.

„Verzeihung, ich wollte schnell nach Hause und habe Sie nicht kommen sehen.“

„Tjod und Teufel!“ brummte der Mann vor sich hin und stierte Oliver mit seinen großen schwarzen Augen an. „Wer hätte das gedacht! Selbst, wenn man ihn zu Staub mahlen würde, stünde er aus seinem Felsengrabe wieder auf und käme mir in die Quere.“

„Es tut mir leid“, stammelte Oliver, betroffen von dem wilden Blick des Mannes. „Es ist Ihnen doch nichts passiert?“

„Krepiere!“ zischte der Fremde wütend durch die zusammengebissenen Zähne. „Hätte ich nur den Mut gehabt, das einzige Wort auszusprechen, so wäre ich ihn in einer Nacht losgeworden. Fluch auf dein Haupt und die Pest in deinen Leib, du Teufelsbraten. Was hast du hier zu schaffen?“

Der Unbekannte drohte mit der Faust, als er diese unzusammenhängenden Worte sprach. Wie er sich jedoch auf Oliver stürzen wollte, um ihn zu schlagen, fiel er plötzlich mit Krämpfen auf die Erde, und dicker Schaum trat ihm auf die Lippen.

Oliver eilte ins Haus, um Hilfe für den Wahnsinnigen herbeizuholen, denn dafür hielt er ihn. Als er ihn in guter Obhut wußte, verlor er keine Zeit und begann mit großer Hast nach Hause zu rennen, dabei nicht ohne Bangigkeit an das merkwürdige Benehmen des Fremden zurückdenkend.

Mit Rosa Maylie war es schlimmer geworden, das Fieber hatte einen hohen Grad erreicht, und sie phantasierte. Ein im Dorfe wohnender Mediziner, der nicht von ihrem Bette wich, hatte Frau Maylie beiseite genommen und ihr erklärt, daß es ein schwerer Fall wäre. Ein Wunder würde es sein, wenn sie wieder aufkäme.

Wie oft sprang in der Nacht Oliver aus dem Bette, um ängstlich und besorgt an der Zimmertür der Kranken zu horchen. Wie heiß und innig betete er für das Leben und die Gesundheit des edlen Midchens.

Der Morgen kam, und das kleine Landhaus war still und öde. Man sprach nur im Flüsterton. Losterne langte erst spät in der Nacht an.

„Es ist furchtbar traurig“, sagte der Doktor, indem er sein Gesicht abwandte, „so jung – von allen geliebt – und so wenig Hoffnung.“

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne so herrlich, als ob sie keinen Schmerz zu bescheinen hätte. Oliver schlich nach dem Gottesacker, setzte sich auf einen Grabhügel und weinte bittere Tränen um Rosa. Seine traurigen Gedanken unterbrach das Läuten der Kirchenglocke. Sie rief zu einem Leichenbegängnis. Eine Gruppe Leidtragender trat durch das Friedhofstor – mit weißen Bändern geschmückt, denn es sollte ein Jüngling begraben werden. Sie standen mit entblößten Häuptern um das Grab und weinten. Aber die Sonne schien heiter vom Himmel, und die Vögel sangen lustig in den Zweigen.

Oliver kehrte heim, und als er zu Hause anlangte, saß Frau Maylie in dem kleinen Wohnzimmer. Sein Mut sank, als er sie sah, denn sie hatte das Krankenlager ihrer Nichte nie verlassen. Er erfuhr, daß Rosa in einen tiefen Schlaf verfallen sei, aus dem sie entweder zum Leben oder zum letzten Abschied erwachen würde.

Sie saßen stundenlang, ohne zu sprechen, in Erwartung beieinander und rührten keine Speisen an. Schließlich erfaßten ihre lauschenden Ohren das Geräusch näher kommender Tritte und sie eilten beide zugleich an die Tür, als Herr Losberne eintrat.

„Wie geht es Rosa?“ fragte Frau Maylie. „Schnell, sagen Sie es mir! Ich kann alles, nur nicht diese peinvolle Ungewißheit vertragen! Sprechen Sie, reden Sie, um Himmels willen!“

„Fassen Sie sich“, sagte der Doktor, sie stützend. „Ich bitte, bleiben Sie ruhig, liebe, gnädige Frau!“

„um Gottes Willen, lassen Sie mich! Mein armes Kind! Sie ist tot! Sie liegt im Sterben!“

„Nein!“ sagte der Doktor bewegt. „Da ER gütig und barmherzig ist, wird sie leben, um uns noch viele Jahre zu beglücken.“

Die alte Dame fiel auf die Knie und versuchte, ihre Hände zu falten. Die Willenskraft aber, die sie so lange aufrecht erhalten hatte, versagte mit dem ersten Dankgebet, das sie zum Himmel sandte, und sie sank ohnmächtig in die Arme des herbeieilenden Doktors.

Enthält einige einleitende Bemerkungen über einen jungen Herrn, der jetzt auf der Bildfläche erscheint, und ein neues Abenteuer, das Oliver erlebt

Es war fast des Glückes zuviel, um ertragen werden zu können. Oliver war durch diese unerwartete Nachricht ganz betäubt. Er vermochte weder zu weinen, noch zu sprechen. Ein langer Spaziergang in der weichen Abendluft, auf dem er reichlich Tränen vergoß, brachte ihm Erleichtemng. Jetzt erst schien er auf einmal zum vollen Bewußtsein der glücklichen Wendung gekommen zu sein, und seine Brust fühlte sich von einem Alp befreit.

Die Nacht war bereits hereingebrochen, als er nach Hause ging, beladen mit Blumen, die er mit besonderer Sorgfalt für die Kranke gepflückt hatte. Plötzlich hörte er hinter sich eine Postkutsche in rasender Fahrt herankommen. Als der Wagen an ihm vorbeijagte, konnte Oliver im Innern einen Mann mit weißer Nachtmütze erkennen, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam. Im nächsten Augenblick fuhr die Nachtmütze durch das Fenster heraus und befahl dem Postillon mit mächtiger Stimme haltzumachen. Als die Pferde standen, kam der Kopf mit der Nachtmütze wieder zum Vorschein, und eine bekannte Stimme rief Oliver an.

„Hallo, wie steht’s? Was macht Fräulein Rosa?“

„Ach, Sie sind es, Giles!“ schrie Oliver und eilte an den Wagenschlag.

Giles wollte gerade etwas erwidern, als er durch einen jungen Mann beiseitegedrängt wurde, der in einer Ecke des Wagens saß. Hastig fragte er Oliver nach dem Stand der Dinge zu Hause.

„Mit einem Wort“, rief der junge Herr „geht es besser oder schlechter?“

„Besser – viel besser“, sagte Oliver schnell.

„Gott sei Dank!“ rief der Herr. „Weißt du es auch ganz gewiß?“

„Ganz gewiß“, entgegnete Oliver. „Die Wendung zum Besseren trat erst vor ein paar Stunden ein, und Herr Losberne meint, alle Gefahr wäre nun vorüber.“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, sprang der junge Herr aus dem Wagen und zog Oliver zur Seite.

„Du bist ganz sicher, mein Junge, ein Irrtum deinerseits ist ausgeschlossen?“ fragte der Herr mit bebender Stimme. „Erwecke nicht unnötigerweise Hoffnungen in mir, die vielleicht nie in Erfüllung gehen.“

„Um keinen Preis würde ich das tun. Sie dürfen mir schon glauben. Es sind des Doktors eigene Worte, daß sie leben werde, um uns alle noch viele Jahre zu beglücken. Ich selbst hab‘ es so von ihm gehört.“

Die Tränen standen Oliver in den Augen, und der junge Herr wandte sein Gesicht ab, ohne etwas zu erwidern. Der Junge glaubte ihn ein paar Mal schluchzen zu hören. Endlich sagte der Herr zu Giles:

„Es ist wohl besser, Sie fahren mit der Kutsche vorab, während ich zu Fuß nachkomme. Ich muß mich erst sammeln, bevor ich sie sehe. Sie können meiner Mutter schon immer bestellen, daß ich bald da sein werde.“

„Verzeihung, Herr Harry, ich würde Ihnen aber sehr zu Danke verpflichtet sein, wenn Sie sich durch den Postillion anmelden ließen. Ich kann mich so nicht zeigen, ich würde bei der Dienerschaft allen Respekt verlieren!“

„Nun“, entgegnete Harry Maylie lächelnd, „handeln Sie nach Gutdünken. Soll also der Postillion vorfahren und uns anmelden, und Sie gehen mit uns. Aber vertauschen Sie die Nachtmütze mit einer anderen Kopfbedeckung, damit man uns nicht für Verrückte hält.“

Herr Giles riß die Nachtmütze vom Kopfe, steckte sie in die Tasche und setzte sich einen Hut auf, den er seinem Gepäck entnahm. Der Postillion fuhr nun weiter, und die drei folgten gemächlich nach.

Als sie so dahinschritten, blickte Oliver von Zeit zu Zeit den neuen Ankömmling verstohlen an. Er war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und von mittlerer Größe; er hatte ein hübsches, offenes Gesicht und gewinnende Manieren. Trotz dem großen Altersunterschied war die Ähnlichkeit mit Frau Maylie so auffallend, daß Oliver mühelos die Verwandtschaft herausgefunden haben würde, hätte der junge Herr auch nicht von ihr als von seiner Mutter gesprochen.

Diese erwartete ihn bereits mit großer Sehnsucht, und als er endlich anlangte, war sie ganz gerührt und zerfloß in Tränen.

„Ach, Mutter“, sagte der junge Mann, „warum hast du mir nicht früher geschrieben?“

„Ich hatte geschrieben, aber nach reiflicher Überlegung entschloß ich mich, den Brief zurückzuhalten, bis ich Herrn Losbernes Meinung gehört hätte!“

„Aber warum? Warum ließest du es darauf ankommen, was beinahe eingetreten wäre? Wenn Rosa – wenn diese Krankheit eine andere Wendung genommen hätte, hättest du dir das je verzeihen können? Niemals im Leben wäre ich wieder froh geworden.“

„Wenn es so gekommen wäre, wäre dein Glück für immer vernichtet worden und es von keiner Bedeutung gewesen, ob du einen Tag früher oder später gekommen wärst.“

„Und wer kann sich darüber wundern, wenn es so wäre, Mutter? Aber was rede ich von wenn. Es ist so, du weißt es, Mutter – du mußt es wissen!“

„Ich weiß, daß sie die innigste und reinste Liebe verdient, die ein Mann ihr bieten kann, und ich weiß auch, daß ihre zärtliche Hingebung eine nicht gewöhnliche, sondern eine tiefe und dauernde Gegenliebe fordert. Wüßte ich nicht, daß ein verändertes Benehmen desjenigen, den sie liebt, ihr Herz brechen müßte, so würde mir meine Aufgabe nicht so schwierig vorkommen.“

„Mutter, hältst du mich denn noch immer für einen Knaben, der sich selbst nicht kennt?“

„Ich glaube, lieber Harry, daß die Jugend viele edle Gefühle hegt, die aber häufig nicht von Dauer sind und ganz schwinden, wenn sie befriedigt sind. Und dann glaube ich, daß ein feuriger, ehrgeiziger, junger Mann, wenn er im Besitze eines Weibes ist, auf deren Namen – wenn auch ohne ihre Schuld – ein Makel haftet, eines Tages die eingegangene Verbindung bereuen dürfte, besonders wenn er eine glänzende Laufbahn erfolgreich eingeschlagen hat, und die Welt seiner Frau und ihm den Makel zum Vorwurf und Gegenstand ihres Spottes macht.“

„Mutter, nur ein erbärmlicher Egoist könnte so handeln!“

„So denkst du jetzt, Harry!“

„Und werde immer so denken. Die Herzensnot, welche ich während der beiden letzten Tage erlitten habe, ringt mir das Geständnis einer Liebe ab, die, wie du wohl weißt, nicht von gestern stammt und nicht leichtfertig und vorübergehend ist. An Rosa, dem süßen, holden Mädchen hängt mein Herz so innig, wie nur je das Herz eines Mannes an dem eines Weibes. Ich habe keine Gedanken, keine Zukunft, keine Lebenshoffnung außer ihr; und wenn du mir zu diesem heißersehnten Ziele in den Weg trittst, so zerstörst du mein Glück für immer. Mutter, denke besser von mir und überlege noch einmal, verkenne die heiße Liebe nicht, die du so gering anzuschlagen scheinst!“

„Harry, weil ich so hoch von edlen und gefühlvollen Herzen denke, möchte ich ihnen Enttäuschungen und Wunden ersparen. Doch wir haben jetzt genug und übergenug von der Sache gesprochen.“

„So laß Rosa entscheiden. Du wirst mir doch mit deinen überstrengen Ansichten nicht Hindernisse in den Weg legen?“

„Gewiß nicht, aber ich möchte, daß du gut überlegst.“

„Ich habe überlegt – jahrelang – seit ich überhaupt zu denken und überlegen fähig war. Meine Gefühle sind unverändert geblieben und werden es auch bleiben. Und warum soll ich die Qual des Aufschiebens erdulden, ohne daß es einen vernünftigen Sinn hat. Nein, Rosa muß mich anhören, ehe ich wieder abreise.“

„Sie soll es!“

„Du sprichst in einer Weise, Mutter, als ob du andeuten wolltest, daß sie mich kalt anhören wird.“

„Gewiß nicht kalt, weit entfernt davon.“

„Sie liebt doch keinen anderen?“

„Nein, ich müßte mich sehr täuschen, wenn du nicht bereits einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hast. – Ich wollte dir aber noch das eine sagen, ehe du dein Schicksal herausforderst, das dich auf den Gipfel des Glückes tragen soll – denke, lieber Harry, einige Augenblicke über Rosas Lebensgeschichte nach und erwäge reiflich, welchen Eindruck das Bewußtsein ihrer zweifelhaften Herkunft auf ihre Entscheidung üben muß. Ziehe dabei ihr edles, aufopferndes Herz in Betracht, wie sie es bei allen Gelegenheiten gezeigt hat.“

„Was willst du damit sagen?“

„Das mußt du selbst herausfinden. – Doch ich muß jetzt zu Rosa zurück!“

„Ich sehe dich doch heute abend noch?“

„Wenn ich von Rosa abkommen kann!“

„Wirst du ihr sagen, daß ich hier bin?“

»Natürlich!“

„Und ihr sagen, welche Angst ich um sie ausgestanden hätte, und wie ich mich sehne, sie zu sehen? Das kannst du mir nicht abschlagen, Mutter?“

„Nein, ich will’s ihr sagen.“

Die alte Dame drückte ihrem Sohne zärtlich die Hand und eilte aus dem Zimmer.

Während dieses flüchtigen Gespräches standen Herr Losberne und Oliver an der anderen Seite des Gemachs.

Der Doktor begrüßte jetzt Harry durch Handschlag und erstattete ihm einen ausführlichen Bericht über die Krankheit und das Befinden der Patientin. Herr Giles, der sich an dem Gepäck zu schaffen machte, hörte gespannt zu.

„Haben Sie in der letzten Zeit nichts Besonderes geschossen, Giles?“ fragte der Doktor, nachdem er Harry alles erzählt hatte.

„Nein, Herr Doktor, nichts Besonderes“, erwiderte Giles und wurde bis über die Ohren rot.

„Auch keine Einbrecher gefangen oder Diebe erwischt?“ fuhr Herr Losberne boshaft fort.

„Keins von beiden“, versetzte Giles mit vieler Würde.

„Nun, das tut mir leid; in derartigen Dingen besitzen Sie doch eine große Geschicklichkeit. Was macht denn Brittles?“

„Dem Jungen geht’s gut und läßt sich Ihnen gehorsamst empfehlen, Herr Doktor.“

„Danke. übrigens, da fällt mir ein, daß ich Ihnen noch etwas von Ihrer Herrschaft zu bestellen habe, was ich am Tage, als ich so schnell fort mußte, nicht mehr ausführen konnte. Kommen Sie mal bitte mit mir in jene Ecke!“

Herr Giles begab sich mit dem Doktor dahin und nach einem kurzen Geflüster ging er unter vielen Verbeugungen aus dem Zimmer. Der Gegenstand des Gespräches wurde im Zimmer weiter nicht erörtert, aber ohne Verzug in der Küche ausposaunt. Denn Herr Giles begab sich sofort dahin, ließ sich ein Glas Bier geben und verkündete mit großer Feierlichkeit, die ihren Eindruck nicht verfehlte, daß es der gnädigen Frau gefallen habe, die Summe von fünfundzwanzig Pfund für ihn bei der städtischem Sparkasse einzuzahlen. Als Anerkennung für sein mutiges Benehmen bei dem Einbruch. Auf diese Mitteilung erhoben die Köchin und das Dienstmädchen Augen und Hände und meinten, Herr Giles werde wohl nun anfangen, mächtig stolz zu werden, worauf dieser, an seiner Halsschleife zupfend, erwiderte, das sei ausgeschlossen. Er würde ihnen danken, wenn sie ihn dann darauf aufmerksam machten, falls er sich einmal hochmütig gegen Untergebene gäbe.

Oben verging der Abend in heiterster Stimmung, denn Herr Losberne war äußerst gut gelaunt; und wie ermüdet und nachdenklich Harry Maylie auch anfangs sein mochte, so konnte er doch dem Humor des Doktors nicht widerstehen. Dieser gab eine Anzahl von lustigen Erlebnissen aus seiner Praxis zum besten, und Oliver glaubte, nie etwas Drolligeres gehört zu haben. So mußte er zur großen Freude des Doktors fortwährend lachen, und dieser lachte mit. Da Lachen ansteckend wirkt, so stimmte schließlich auch Harry in das allgemeine Gelächter ein. Kurz, die Gesellschaft war so vergnügt, als sie den Umständen nach sein konnte. Es war bereits spät, als man sich trennte und zur Ruhe ging, deren sie alle nach den Aufregungen der letzten Tage so sehr bedurften.

Oliver stand am anderen Morgen viel fröhlicher auf und ging mit größerer Lust an seine gewöhnliche Beschäftigung als sonst. Er pflückte die schönsten Blumen des Feldes, um Rosa eine Freude zu bereiten. Die Melancholie, die von ihm Besitz genommen hatte, war wie durch Zauberei verschwunden. Der Tau schien ihm blendender im Grase zu funkeln und der Himmel im herrlicheren Blau zu leuchten. Solchen Einfluß übt unsere Stimmung auf Außendinge. Die Menschen, die in der Natur und an ihren Nächsten alles trübe und düster sehen, haben recht; aber diese dunklen Farben sind nur der Widerschein ihrer kranken Seele.

Oliver brauchte seine Morgenspaziergänge nicht mehr allein zu machen. Nachdem Harry Maylie ihn am ersten Tage mit seiner Ladung hatte heimkehren sehen, faßte der junge Mann eine solche Leidenschaft für Blumen und entwickelte einen so feinen Geschmack in der Anordnung derselben, daß er seinen jungen Freund weit hinter sich ließ. Mochte aber Oliver in dieser Hinsicht im Nachteil sein, so wußte er dafür die Stellen, wo die schönsten zu finden waren. Alle Morgen durchstreiften sie miteinander die Umgegend und brachten stets das Schönste, was auf den Feldern und Wiesen stand, nach Hause.

Die Fenster in Rosas Zimmer wurden jetzt weit geöffnet, denn die duftige Sonnenluft tat der Patientin wohl. In einem Fenster stand jeden Morgen ein frischer Blumenstrauß, und es entging Oliver nicht, daß die welken Blumen nie weggeworfen wurden. Er bemerkte auch, daß der Doktor, wenn er in den Garten kam, stets nach dem Fenster guckte und bedeutsam mit dem Kopfe nickte. So verflossen die Tage schnell, und Rosa erholte sich wieder vollständig.

Auch auf Oliver lastete die Zeit nicht schwer, obgleich die junge Dame noch immer das Zimmer nicht verlassen durfte und von Abendspaziergängen keine Rede war, ausgenommen dann und wann ganz kurze mit Frau Maylie. Er verdoppelte seinen Fleiß in den Unterrichtsstunden des silberlockigen alten Herrn und war über seine schnellen Fortschritte selbst erstaunt. Da wurde er eines Tages durch einen unerwarteten Vorfall aufs äußerste erschreckt.

Das kleine Zimmer, in dem er bei seinen Schularbeiten saß, war im Erdgeschoß, nach hinten hinaus. Man hatte von ihm die Aussicht auf den Garten, aus dem ein Pförtchen nach einem eingezäunten Rasenplatz führte. Jenseits war alles Wiesenland und Buschwerk und so hatte man eine ziemliche weite Rundsicht.

An einem schönen Abend, in der Dämmerung, saß Oliver am Fenster, noch eifrig in einem Buche lesend. Da der Tag ziemlich schwül war, überfiel ihn plötzlich eine Müdigkeit, und er schlief über dem Buch ein.

Zuweilen beschleicht uns eine Art Schlummer, die zwar den Leib gefangen hält, aber der Seele die Empfindung für die Außenwelt nicht nimmt. Oliver wußte daher recht gut, daß er in seinem eigenen kleinen Zimmer war – und doch schlief er. Plötzlich trat eine Umwandlung seiner Umgebung ein, die Luft wurde schwül, und er glaubte mit Angst und Schrecken, wieder im Hause des Juden zu sein. Dort saß der abscheuliche Alte in seiner gewohnten Ecke, zeigte auf ihn und flüsterte leise mit einem anderen Mann, der mit abgewandtem Gesicht neben ihm auf einem Stuhle Platz genommen hatte.

„Pst, Freundchen“, glaubte er den alten Juden sagen zu hören, „er ist es, gewiß und wahrhaftig. Komm weg!“

„Glaubt Ihr, ich erkannte ihn nicht?“ schien der andere zu antworten. „Wenn eine Legion von Teufeln seine Gestalt annähme, und er stände mitten unter ihnen, ich würde ihn herausfinden. Verscharrt ihn fünfzig Fuß tief und führt mich über sein Grab, ich würde es wissen, daß er drunten läge, wenn auch kein Merkmal oder sonst ein Zeichen es andeutete!“

Der Mann schien diese Worte in einem so fürchterlichen Tone des Hasses zu sagen, daß Oliver entsetzt auffuhr und erwachte.

Guter Gott! was trieb ihm da auf einmal das Blut so stürmisch zum Herzen und raubte ihm Sprache und Bewegungsfreiheit? Dort – dort – am Fenster – dicht vor ihm, so dicht, daß er ihn fast hätte berühren können, ehe er zurückprallte – mit durchdringenden Blicken ins Zimmer sehend und den seinigen begegnend – dort stand der Jude. Und neben ihm, blaß vor Furcht oder Wut, oder vielleicht beidem, der Mann mit wild verzerrtem Gesicht, mit dem er im Gasthaus des Posthalters zusammengestoßen war.

Doch nur einen Augenblick – dann waren sie verschwunden. Aber er hatte sie und sie ihn erkannt. Er stand eine Sekunde wie vom Blitz getroffen da. Dann sprang er aus dem Fenster in den Garten und rief laut um Hilfe.

Enthält das unbefriedigende Ergebnis von Olivers Abenteuern und ein ziemlich wichtiges Gespräch zwischen Harry Maylie und Rosa

Als man auf Olivers Rufen herbeieilte, fand man ihn blaß und zitternd dastehen. Er zeigte nach der Wiese hinter dem Garten und konnte nur mühsam die Worte hervorbringen: „Der Jude – der Jude!“

Herr Giles konnte aus diesem Ausruf nicht klug werden. Aber Harry Maylie, dessen Auffassungsgabe schneller war und der obendrein Olivers Geschichte von seiner Mutter gehört hatte, begriff sofort.

„Welche Richtung hat er eingeschlagen?“ fragte er und nahm einen Knüppel auf, der zufällig da herumlag.

„Dorthin“, erwiderte Oliver, den Weg andeutend, den die Männer genommen hatten. „Ich habe sie eben erst aus den Augen verloren.“

„Dann sind sie im Graben“, sagte Harry. „Folgt und haltet euch dicht an mir!“

Mit diesen Worten sprang er über die Hecke und schoß wie ein Pfeil dahin, so daß die anderen Mühe hatten nachzukommen.

Giles und Oliver rannten ihm nach, so schnell sie konnten, und einige Minuten später setzte Herr Losberne, der gerade von einem Spaziergange heimkehrte – allerdings etwas ungeschickt – ebenfalls über die Hecke und strauchelte. Er raffte sich aber schneller, als man von ihm erwartet hätte, wieder auf und stürmte den übrigen mit langen Schritten nach. Dabei brüllte er mit mächtiger Stimme, fragend, was denn los sei. So ging’s immer weiter, und keiner hielt inne, um neuen Atem zu schöpfen, bis der Anführer an den Graben gelangte und diesen sorgfältig zu untersuchen begann. Dadurch gewannen die übrigen Zeit heranzukommen, und Oliver konnte dem Dokter die Veranlassung zu dieser wilden Jagd mitteilen.

Aber alles Suchen war vergeblich. Nicht einmal frische Fußspuren ließen sich entdecken.

„Du mußt geträumt haben, Oliver“, sagte Harry, ihn beiseitenehmend.

„Nein, nein, gewiß nicht. Ich habe ihn ganz deutlich gesehen. Sie standen so bestimmt vor mir wie Sie jetzt.“

„Wer war der andere?“ fragten Harry und der Doktor zu gleicher Zeit.

„Derselbe Mensch, der mich, wie ich Ihnen erzählte, im Gasthaus des Posthalters so ausschimpfte. Er sah mir gerade in die Augen, und ich könnte darauf schwören, daß er es wäre.“

„Und weißt du auch ganz gewiß, daß sie diesen Weg einschlugen?“

„So gewiß, wie ich weiß, daß sie vor dem Fenster standen.“

Die beiden Herren sahen Olivers ernstes Gesicht und guckten dann einander an, sie schienen sich durch seine bestimmten Antworten überzeugen zu lassen. Aber nirgends ließen sich Spuren finden. Das Gras war lang und nur da niedergetreten, wo sie selbst gelaufen waren.

„Das ist merkwürdig“, meinte Harry.

„Sehr merkwürdig!“ bestätigte Herr Losberne. „Selbst Blathers und Duff vermöchten nicht klug daraus zu werden.“

Trotz der anscheinenden Erfolglosigkeit ihres Suchens, setzten sie es bis zum Einbruch der Nacht fort, erst dann ließen sie, wenn auch ungern, davon ab.

Am nächsten Morgen wurden die Nachsuchungen wieder aufgenommen, aber mit keinem günstigeren Erfolge. Tags darauf gingen Harry und Oliver nach dem Marktflecken in der Hoffnung, vielleicht dort etwas über die Männer zu erfahren, aber vergebens; und nach einigen Tagen fing man an, die Geschichte zu vergessen, nachdem der Reiz des Seltsamen aus Mangel an neuer Nahrung erstorben war.

Inzwischen ging es mit Rosas Genesung schnell vorwärts. Sie durfte das Zimmer verlassen, konnte ausgehen und brachte, als sie dem Familienkreise wieder zurückgegeben war, Sonne und neues Leben in aller Herzen.

Aber obgleich sich in den Räumen des kleinen Landhauses wieder heiteres Geplauder und frohes Lachen vernehmen ließ, entging es Oliver nicht, daß sich manchmal eine ungewohnte Zurückhaltung bei den beiden jungen Leuten geltend machte. Frau Maylie und ihr Sohn waren oft lange Zeit miteinander eingeschlossen, und mehr als einmal zeigten sich Tränenspuren auf Rosas Gesicht. Als der Doktor den Tag seiner Abreise nach Chertsey festgesetzt hatte, trat es klar zutage, daß etwas vorging, was den Seelenfrieden der jungen Dame und noch eines anderen Menschen beeinträchtigte.

Als endlich Rosa eines Morgens im Wohnzimmer allein war, trat Harry ein und bat mit stockender Stimme um die Erlaubnis, sie einige Augenblicke ungestört sprechen zu dürfen.

“ Wenige – sehr wenige – werden genügen, Rosa. Was ich dir zu sagen habe, weißt du bereits. Die größten Hoffnungen meines Lebens sind dir nicht unbekannt, obgleich sie noch nie über meine Lippen gekommen sind.“

Rosa war bei seinem Eintreten blaß geworden, was vielleicht noch eine Nachwirkung der Krankheit war. Sie nickte zustimmend, beugte sich über einige Blumen, die in ihrer Nähe standen, und wartete schweigend darauf, daß er anfangen würde.

„Ich – ich hätte schon früher abreisen sollen.“

„Gewiß, Harry. Verzeihe, daß ich so rede, aber ich wünschte, du hättest es getan.“

„Die Angst, das einzige Wesen zu verlieren, das mein ein und mein alles ist, hat mich hierhergetrieben. Du warst dem Tode nahe – schwanktest auf der Scheidelinie zwischen Himmel und Erde.“

Bei diesen Worten perlten Tränen in den Augen des holden Mädchens.

„Ein Engel“, fuhr Harry leidenschaftlich fort, „ein Wesen so schön und unschuldig, wie einer von Gottes Engeln, schwebte zwischen Tod und Leben. Rosa! Rosa! zu wissen, daß du entschwändest, keine Hoffnung zu haben, daß du den hienieden Weilenden erhalten bliebest – das waren Gedanken, fast zu schwer, um ertragen werden zu können. Aber sie lasteten Tag und Nacht auf meiner Seele, und denken zu müssen, du könntest dahinscheiden, ohne zu erfahren, wie innig ich dich liebe, das brachte mich dem Wahnsinn nahe. Du genasest wieder, und ich habe dich vom Tode zum Leben zurückkehren sehen, Dank gegen Gott im Herzen.“

„Ach, wärest du doch abgereist, um dich deinen edlen Bestrebungen, die deiner so würdig sind, wieder ganz zu widmen“, erwiderte Rosa unter Tränen.

„Es gibt kein Streben, das meiner würdiger wäre als das Ringen um ein Herz wie das deinige.“ Er ergriff ihre Hand und fuhr leidenschaftlich fort: „Rosa, liebe Rosa, ich habe dich seit Jahren geliebt. Ich hoffte mir Ruhm zu gewinnen, um dann stolz heimzukehren und dir zu sagen, daß ich ihm nur nachjagte, um ihn mit dir zu teilen. Die Blütenträume meiner Liebe gaukelten mir diesen glücklichen Augenblick vor. Ich erinnere dich an die stummen Andeutungen, in denen dir schon der Knabe sein Herz geoffenbart hat, und an das Erröten, mit dem du sie aufnahmst. Ich dachte dann auf deine Hand Anspruch zu machen und damit einen längst zwischen uns schweigend geschlossenen Vertrag zu besiegeln. Die Zeit ist noch nicht gekommen, kein Ruhm geerntet, keiner meiner Jugendträume hat sich verwirklicht. Trotzdem biete ich dir mein Herz an – so lange schon das deine – und setze mein alles auf die Antwort, die meinem Antrag von dir zuteil wird!“

„Dein Handeln war immer gut und edel“, sagte Rosa, den Sturm ihrer Gefühle niederkämpfend, „damit du aber nicht glaubst, ich sei undankbar und gefühllos, so höre meine Antwort.“

„Wird sie mich auffordern, daß ich mich bemühen soll, dich zu verdienen, teuerste Rosa?“

„Nein, sie will dich bloß bitten, mich zu vergessen, das heißt nur als Gegenstand deiner Liebe, nicht aber als deine alte, dir herzlich zugetane Gespielin, denn das würde mich sehr kränken. Schau hinaus in die Welt, wieviele Herzen gibt es zu gewinnen, auf die du ebenso stolz sein kannst. Mache mich bei einer anderen Liebe zu deiner Vertrauten, und ich will dir die aufrichtigste und zuverlässigste Freundin sein.“

Eine Pause folgte, während der Rosa ihr Gesicht mit der einen Hand bedeckte und ihren Tränen freien Lauf ließ. Die andere Hand hielt Harry immer noch fest.

„Und deine Gründe, Rosa –“ fragte er endlich leise. „Deine Gründe für diese Entscheidung, darf ich sie wissen?“

„Du hast ein Recht darauf, sie zu erfahren“, erwiderte Rosa, „kannst ihnen aber nichts entgegenhalten, was meinen Entschluß zu ändern vermöchte. Es ist eine Pflicht, die ich erfüllen muß. Ich schulde es anderen und mir.“

„Dir?“

„Ja, Harry, ich bin es mir selbst schuldig. Ein Mädchen ohne Eltern und Vermögen, mit einem Flecken auf seinem Namen, darf der Welt keinen Anlaß zu der Annahme geben, sie hätte aus niedrigen Beweggründen deiner ersten Leidenschaft nachgegeben und dadurch wie ein Bleigewicht deinen Aufstieg gehemmt. Ich habe gegen dich und die Deinen die Verpflichtung, es zu verhindern, daß du, durch dein edles Herz getrieben, deiner Laufbahn eine solche Belastung aussetzt.“

„Wenn deine Neigungen mit diesem Pflichtgefühle im Einklang stehen –-“ sagte Harry.

„Das ist nicht der Fall“, versetzte Rosa, tief errötend.

„So erwiderst du also meine Liebe?“ rief Harry, „sage nur das, Rosa, sage nur das, und lindere meinen Schmerz und meine Enttäuschung!“

„Wenn ich es hätte tun können, ohne gegen ihn, den ich liebe, ein großes Unrecht zu begehen“, antwortete Rosa, „so würde ich –“

„Die Erklärung meiner Liebe ganz anders aufgenommen haben?“ fiel Harry ein. „Verhehle mir wenigstens das nicht, Rosa!“

„Ja“, bestätigte sie, „doch“, fuhr sie fort und zog ihre Hand aus der seinigen, „warum wollen wir dieses peinliche Gespräch fortsetzen? Peinlich, und mich doch so beseligend. Ja, zu wissen, daß ich von dir geliebt wurde, wird mir stets eine Quelle hohen Glückes sein. Lebe wohl, Harry, denn so wie wir uns heute gegenüberstanden, wird es nie mehr der Fall sein; und so möge dich mein Segen begleiten.“

„Noch ein Wort, Rosa! Deine Gründe – ich möchte sie aus deinem eigenen Munde hören.“

„Die schönsten Aussichten stehen dir offen, alle Ehren sind dir erreichbar, die durch Talent und einflußreiche Verbindungen errungen werden können. Aber deine Verwandten und Gönner sind stolz, und ich will mich nicht in ihre Kreise drängen, zumal sie meine Mutter verachten, die mir das Leben gab. Ich will auch nicht Unehre über den Sohn derjenigen bringen, die an mir Mutterstelle vertreten hat. Mit einem Worte“, – und dabei wandte sie sich ab, um ihre Rührung zu verbergen – „es haftet ein Makel auf meinem Namen, und der soll nicht auf einen anderen übergehen. Der Fluch soll mich allein treffen.“

„Ach, nur noch ein – nur noch ein einziges Wort, teuerste Rosa!“ rief Harry und warf sich ihr zu Füßen. „Wäre ich – im Sinne der Welt – weniger vom Glück begünstigt – wäre kein glänzendes, sondern ein unbeachtetes Leben mein Los – wäre ich arm, krank, hilflos – würdest du mich auch dann abweisen, oder kommen dir die Bedenken nur wegen meiner vermuteten Aussicht auf eine ehrenreiche Laufbahn?“

„Dränge mich nicht zu einer Antwort. Von einer solchen Frage ist – und wird nie die Rede sein. Es ist nicht hübsch von dir, mir solche Gewissensfragen zu stellen!“

„Wenn deine Antwort lautete, wie ich fast zu hoffen wage, so wird sie einen beglückenden Hoffnungsstrahl auf meinen einsamen Weg werfen und die düstere Bahn vor mir erhellen. Hältst du es denn nicht der Mühe für wert, durch das Aussprechen einiger weniger Worte soviel für einen zu tun, der dich über alles liebt? Ach, Rosa, ich beschwöre dich bei meiner heißen, unvergänglichen Liebe, bei allem, was ich für dich gelitten habe, und was ich um deiner Entscheidung willen noch leiden soll – beantworte mir nur diese einzige Frage!“

„Nun denn, wenn dir ein anderes Los beschieden gewesen wäre – wenn du nur ein wenig und nicht gar so hoch über mir ständest, wenn ich dir in einer bescheidenen, zufriedenen und unabhängigen Stellung eine Kameradin sein könnte und nicht befürchten müßte, stets als ein Hindernis für dein Streben angesehen zu werden, so wäre uns wohl diese harte Prüfung erspart geblieben. Ich habe jetzt alle Ursache glücklich, ja, sehr glücklich zu sein; aber dann, Harry – ich gestehe es – dann hätte mein Glück keine Grenzen gekannt.“

Mächtige Erinnerungsbilder tauchten vor Rosa auf, während sie dies Eingeständnis machte, aber sie brachten auch Tränen mit sich, in denen sie jedoch Erleichterung fand.

„Ich kann meiner Schwäche nicht wehren, aber sie wird mich in meinem Entschluß nicht wankend machen“, sagte Rosa und reichte ihm ihre Hand hin. „Doch jetzt muß ich dich verlassen.“

„Versprich mir eines“, erwiderte Harry, „gestatte mir noch ein einziges Mal – in einem Jahre oder lieber noch früher – ein letztes Mal über diese Sache mit dir zu sprechen!“

„Willst du mich etwa dann drängen, meinen unabänderlichen Entschluß umzustoßen?“ sagte sie mit wehmütigem Lächeln. „Es würde nutzlos sein.“

„Nein, um dich ihn wiederholen zu hören, falls es dir beliebt. Ich will dir meine Stellung und alles, was ich dann habe, zu Füßen legen, und wenn du bei deiner heutigen Abweisung beharrst, so will ich mich fügen.“

„Gut, es sei so. Es ist nur ein Schmerz mehr, und ich bin vielleicht dann imstande, ihn leichter zu tragen!“

Sie reichte ihm noch einmal die Hand. Harry aber schloß das Mädchen in seine Arme und drückte einen Kuß auf ihre reine Stirn, dann eilte er hinaus.

Ist zwar sehr kurz und erscheint hier vielleicht als nicht besonders wichtig, sollte aber doch gelesen werden, weil es eine Ergänzung des vorhergehenden ist und ein Schlüssel zu einem späteren

„Sie sind also entschlossen, heute mein Reisegefährte zu sein, wie?“ fragte der Doktor, als er mit Harry und Oliver beim Frühstück saß. Es scheint, ihre Entschlüsse wechseln mit jeder halben Stunde!“

„Sie werden bald anders von mir denken“, entgegnete Harry, ohne erkennbaren Grund rot werdend.

„Das würde mir lieb sein“, sagte Herr Losberne, „obgleich ich gestehen muß, daß ich es bezweifle. Gestern morgen setzten Sie sich in den Kopf, hierzubleiben und als gehorsamer Sohn Ihre Mutter an die See zu begleiten. Es war noch nicht Mittag, als Sie mir mitteilten, Sie wollten mir die Ehre Ihrer Gesellschaft bis London schenken. Abends dringen Sie ganz geheimnisvoll in mich, ich solle abreisen, ehe die Damen aufständen. Die Folge davon ist, daß der kleine Oliver am Frühstückstisch sitzen muß, anstatt botanisieren gehen zu können. Das ist doch arg – nicht wahr, Oliver?“

„Es hätte mir sehr leid getan, Herr Doktor, wenn Ich bei Ihrer und Herrn Maylies Abreise nicht zugegen gewesen wäre“, erwiderte Oliver.

„Du bist ein guter Junge. Mußt mich auch mal besuchen, wenn ihr wieder zurück seid. Aber Spaß beiseite, hat irgendeine Mitteilung der Bonzen in der Regierung Sie zu dieser schleunigen Abreise veranlaßt?“

„Die Bonzen, zu denen Sie wohl auch meinen Onkel zählen, haben mir nichts sagen lassen, solange ich hier bin. Es ist auch nicht wahrscheinlich, daß sich in dieser Jahreszeit etwas ereignet, was meine dortige Anwesenheit erforderlich macht!“

„Sie sind ein schnurriger Kerl“, meinte Herr Losberne. „Man wird Sie aber wahrscheinlich bei der Weihnachtswahl ins Parlament bringen wollen, und dieses plötzliche Ändern der Entschlüsse ist keine schlechte Vorbereitung für das politische Leben.“

Harry machte Miene, ihm eine schlagfertige Antwort zu geben, er begnügte sich jedoch mit der Bemerkung: „Wir werden sehen!“ und ließ den Gegenstand fallen. Die Postkutsche fuhr kurz darauf vor, und als Giles kam, um das Gepäck zu holen, eilte der Doktor hinaus, um die Unterbringung desselben zu überwachen.

„Oliver“, sagte Harry leise, „ich muß noch ein paar Worte mit dir reden.“

Der Junge trat zu ihm ans Fenster, verwundert über Harrys Traurigkeit und Unruhe.

„Du kannst jetzt gut schreiben“, sagte Harry und legte die Hand auf Olivers Arm.

„Ich denke doch.“

„Ich komme vielleicht auf einige Zeit nicht wieder nach Hause und wünsche, daß du mir schreibst – so alle vierzehn Tage. Willst du das?“ fragte Herr Maylie.

„Gern, ich bin stolz darauf, daß ich es tun darf“, sagte der Junge, ganz erfreut über diesen Auftrag.

„Es wäre mir lieb, zu erfahren, wie – wie es meiner Mutter und Fräulein Rosa geht. Du kannst daher einen ganzen Bogen voll schreiben und mir erzählen, was ihr für Spaziergänge macht, wovon ihr sprecht, und ob sie – ja, ich meine sie beide –, ob sie heiter und zufrieden sind. Verstehst du?“

„Vollkommen“, antwortete Oliver.

„Du brauchst ihnen übrigens nichts davon zu sagen“, fügte Harry schnell, wie beiläufig, hinzu. „Es könnte meine Mutter beunruhigen, und sie würde mir dann häufiger schreiben, was ihr in ihren Jahren ein wenig schwer fällt. Es soll daher ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben, aber vergiß ja nicht, mir alles mitzuteilen. Ich verlasse mich auf dich!“

Oliver fühlte sich mächtig geehrt und wichtig und versprach, seine Berichte auf das ausführlichste abzufassen. Herr Maylie sagte ihm nun unter der Versicherung seines Wohlwollens Lebewohl.

Der Doktor saß bereits im Wagen, Giles hielt den geöffneten Kutschenschlag, und Harry sprang in den Wagen, nachdem er noch zuvor einen Blick nach Rosas Fenster geworfen hatte.

„Los!“ rief er dem Postillion zu, fahre so schnell du kannst, heute muß es wie im Fluge gehen!“

„Hallo!“ brüllte der Doktor durchs Vorderfenster zum Kutscher, „ich will nichts vom Fliegen wissen, verstanden?“

Rasselnd rollte der Wagen davon, und lange noch schauten die Augen einer jungen Dame ihm nach. Rosa stand nämlich hinter den weißen Vorhängen ihres Fensters verborgen und hatte von dort aus Harrys letzten Blick aufgefangen.

„Er scheint ganz heiter und glücklich zu sein“, murmelte sie. „Ich hatte schon Angst, daß es anders sein könnte, aber ich habe mich getäuscht und bin froh darüber!“

Tränen sind ebensogut Zeichen der Freude wie des Schmerzes, aber die, welche über Rosas Wangen perlten, als sie in Gedanken verloren am Fenster saß und immer noch in dieselbe Richtung schaute, schienen mehr aus Herzeleid als aus Freude vergossen zu sein.

In welchem der Leser einen im ehelichen Leben nicht selten sich zeigenden Gegensatz beobachten kann

Herr Bumble saß in seinem Wohnzimmer im Armenhause und blickte mit schwermütigen Augen in den Kamin, von dem aber kein heller Glanz ausging, da es Sommer war und kein Feuer brannte. Ein Streifen Leimpapier hing als Fliegenfänger von der Decke hinunter, um den die Fliegen lustig herumgaukelten, ahnten sie doch nicht, daß er ihnen Verderben brachte. Schwere Seufzer entrangen sich Herrn Bumbles Brust, wenn er seine Augen zur Decke hob, riefen ihm doch die dort sorglos spielenden Fliegen ein schmerzliches Ereignis seines vergangenen Lebens ins Gedächtnis. Es war jedoch nicht allein Herrn Bumbles melancholische Stimmung, die des Lesers Mitleid erregen mußte, es fehlte auch nicht an anderen Anzeichen, die bekundeten, daß eine große Veränderung in der Lage der Dinge stattgefunden haben müsse. Die schöne Uniform des Gemeindedieners mit dem dazugehörigen Dreispitz – wo waren sie hingekommen? Der Rock, den er jetzt trug, war von dem Uniformrock ach, so sehr verschieden, und der pompöse Dreispitz hatte einem bescheidenen runden Hute Platz machen müssen. Herr Bumble war nicht mehr Gemeindediener.

Es gibt Beförderungen im Leben, die, abgesehen von den damit verbundenen geldlichen Vorteilen, noch eine besondere Bedeutung und Würde durch die dazugehörige Tracht erhalten. Ein Feldmarschall hat seine Uniform, ein Bischof seinen Ornat, ein Ratsherr seinen Talar und ein Amts- und Gemeindediener seinen dreieckigen Hut. Nimm dem Bischof seinen Ornat oder dem Amtsdiener seinen Hut und Rock – was bleibt? Menschen – bloße Menschen. Würde, und bisweilen sogar Heiligkeit, hängen weit mehr von Uniform und Ornat ab, als viele Leute ahnen.

Herr Bumble hatte Frau Corney geheiratet und war Armenhausvater geworden. Ein anderer Gemeindediener war zur Macht gelangt, und der Dreispitz, die Uniform und der Stock waren auf ihn übergegangen.

„Morgen werden’s zwei Monate!“ seufzte Herr Bumble. Es scheint ein Menschenalter zu sein.“

Er wollte vielleicht damit sagen, daß das Glück eines ganzen Lebens sich in den kurzen Zeitraum von acht Wochen zusammengedrängt hätte – aber die Seufzer! Es lag so viel darin.

„Ich verkaufte mich“, fuhr er, seine Gedanken weiterd spinnend, fort, „für sechs Teelöffel, eine Zuckerzange, einen Milchtopf, etliche alte Möbel und zwanzig Pfund in bar. Ach, ich habe mich viel zu billig fortgegeben“

„Billig?“ kreischte eine grelle Stimme in Herrn Bumbles Ohr. „Du bist noch umsonst zu teuer, und Gott im Himmel weiß, daß ich dich teuer genug bezahlt habe.“

Herr Bumble drehte sich um und sah seine Ehehälfte streng an. Diese hatte seine Seufzer nur unvollständig verstanden und ihre Bemerkungen auf gut Glück hingeworfen.

„Frau Bumble!“ sagte der Ehegemahl vorwurfsvoll.

„Nun?“ schrie die Dame.

„Bitte, sieh mich an!“ („Wenn sie einen solchen Blick aushalten kann, so ist sie zu allem fähig. Er hat meines Wissens bei den Armen nie seine Wirkung verfehlt, und sollte er hier versagen, so ist’s mit meiner Macht aus.“)

Ob nun ein strenger Blick hinreichend ist, Armenhäusler, die freilich der spärlichen Nahrung wegen keine besonders kräftigen Nerven haben, in Schrecken zu versetzen, oder ob die vormalige Frau Corney sogar gegen Adlerblicke gefeit war – wir wissen es nicht. Tatsache aber war, daß die Dame sich keineswegs durch Herrn Bumbles finsteren Blick und Stirnrunzeln einschüchtern ließ. Sie nahm ihn mit Verachtung auf und lachte nur geringschätzig.

Als Herrn Bumble diese unerwarteten Lachtöne ans Ohr schlugen, machte er zuerst ein ungläubiges, dann aber ein bestürztes Gesicht. Er versank darauf wieder in sein trostloses Brüten, aus dem er aber bald durch die Stimme seiner holden Gattin geweckt wurde.

„Willst du den ganzen Tag dasitzen und schnarchen?“ fragte Frau Bumble.

„Solange, wie es mir beliebt“, entgegnete Herr Bumble, „und obgleich ich nicht schnarchte, werde ich es aber doch tun, auch gähnen, niesen, lachen oder weinen, gerade, wie es mir paßt. Denn ich habe das Recht dazu.“

„Das Recht?“ höhnte sie mit unaussprechlicher Verachtung.

„Jawohl Frau Bumble. Der Mann hat die Kommandogewalt.“

„Und was wäre denn, beim Himmel, das Recht der Frau?“ schrie die Hinterbliebene des seligen Herrn Corney.

„Sie muß gehorchen“, donnerte Herr Bumble. „Das hätte dich dein unglückseliger seliger Mann schon lehren sollen, dann wäre er vielleicht noch am Leben. Ach, wie sehr wünschte ich, daß er es wäre.“

Frau Bumble sah jetzt, daß der entscheidende Augenblick gekommen war. Es galt jetzt die Herrschaft an sich zu reißen oder endgültig darauf zu verzichten. Bei der Anspielung auf ihren ersten Gatten sank sie auf einen Stuhl und erklärte Herrn Bumble für ein hartherziges Scheusal, dabei brach sie in einen Strom von Tränen aus.

Doch Tränen waren nicht der Weg, auf dem Herrn Bumble beizukommen war. Sein Herz war wasserdicht. Wie die waschbaren Filzhüte, die durch Regen immer besser werden, wurden seine Nerven durch Tränen kräftiger. Diese schienen ihm ein Zeugnis der Schwäche zu sein und somit eine Unterwerfung unter seine Oberherrlichkeit. Er blickte daher mit großer Zufriedenheit auf sein holdes Ehegespons und ermunterte sie, aus Leibeskräften zu weinen, da es nach Ansicht der Ärzte eine ganz gesunde und körperlich wohltätige Übung sei.

„Es lüftet die Lungen, wäscht das Gesicht rein, stärkt die Augen und beruhigt das Gemüt, also weine nur“, sagte Herr Bumble trocken.

Nachdem Herr Bumble diesen Witz angebracht hatte, nahm er seinen Hut und setzte ihn verwegen aufs Ohr, wie ein Mann, der die Überzeugung hat, seine Herrschaft auf geeignete Weise behauptet zu haben. Die Hände in den Taschen ging er triumphierend auf die Tür zu.

Aber dieses Experiment auf nassem Wege hatte Frau Bumble nur angestellt, weil sie es weniger anstrengend hielt als einen Boxkampf. Sie war aber auch bereit, diesen zu wagen, was Herr Bumble bald spüren sollte.

Die erste Probe davon bestand in einem hohlen Tone, dessen unmittelbare Folge war, daß sein Hut nach der entgegengesetzten Ecke des Zimmers flog. Dieses einleitende Verfahren gab sein Haupt jedem Angriff preis, und während die erfahrene Dame die Kehle ihres teuren Ehegatten umkrallte, ließ sie einen Hagel kräftiger Faustschläge auf seinen Kopf niederhageln. Dann brachte sie ein wenig Abwechslung in die Sache und zerkratzte Herrn Bumble erst mal tüchtig das Gesicht, und dann riß sie ihm ordentliche Büschel Haare aus. Nachdem sie sein Vergehen nun genügend gestraft zu haben glaubte, warf sie ihn über einen Stuhl, der nicht bequemer dafür hätte stehen können und forderte ihn höhnisch auf, noch einmal von seinem Recht zu sprechen, wenn er den Mut dazu hätte.

„Jetzt steh auf“, sagte Frau Bumble im Befehlstone, „und mach, daß du mir aus den Augen kommst, wenn du nicht willst, daß ich etwas ganz Desperates tue!“

Herr Bumble erhob sich mit kläglicher Miene und überlegte, was dieses Desperate wohl sein möge. Dann hob er seinen Hut auf und sah nach der Tür.

„Willst du gehen?“ fragte Frau Bumble drohend.

„Gewiß, mein Schatz, ich gehe schon“, erwiderte er, seine Schritte beschleunigend. „Es war nicht meine Absicht, dich – ich gehe schon, meine Liebe – du bist aber auch gar zu heftig, daß ich wirklich –“

In diesem Augenblick trat Frau Bumble eilig vor, um den Teppich wieder zurechtzurücken, der sich während der letzten Viertelstunde etwas verschoben hatte. Herr Bumble benutzte das, um hastig aus dem Zimmer zu stürzen, ohne daran zu denken, seinen Satz zu vollenden, und ließ die frühere Frau Corney im unbestrittenen Besitz des Schlachtfeldes.

Herr Bumble war überrumpelt worden und hatte eine entscheidende Niederlage erlitten. Aber das Maß seiner Erniedrigung war noch nicht voll. Nachdem er einen Gang durch das ganze Haus gemacht und zum erstenmal darüber nachgedacht hatte, daß die Armengesetze doch wirklich zu hart wären, und daß Männer, die ihren Frauen fortliefen und die Erhaltung derselben der Gemeinde überließen, von Rechts wegen nicht bestraft, sondern vielmehr als verdienstvolle Märtyrer belohnt werden sollten – kam er in eine Waschküche, wo die weiblichen Armen beschäftigt zu werden pflegten, das Leinenzeug der Anstalt zu reinigen, und aus dem ihm lautes Geplauder entgegenschallte.

„Hm“, sagte Bumble, seine ganze Würde zusammennehmend, „zum wenigsten sollen diese Weiber auch künftig mich anerkennen. – Hallo, zum Donnerwetter! Was soll dieser Radau, verwünschte Hexen?“

Mit diesen Worten öffnete Herr Bumble die Tür und trat mit hochfahrender, finsterer Miene ein; sie verwandelte sich aber sehr bald in eine demütige, als seine Augen seine bessere Ehehälfte entdeckten.

„Schatz“, sagte Herr Bumble, „ich wußte nicht, daß du hier wärest.“

„Wußtest nicht, daß ich hier wäre?“ äffte ihm sein Weib nach. „Was hast du hier zu suchen?“

„Es kam mir vor, man schwatzte zu viel, als daß die Arbeit gehörig getan werden könnte, Schatz“, erwiderte er, zerstreut nach ein paar alten Weibern am Waschfaß blickend, die sich nicht wenig über das demütigende Benehmen des Armenhausvaters wunderten.

„Du glaubst, man schwatze zu viel?“ fragte Frau Bumble. „Was geht denn dich das an?“

„Ja, lieber Schatz –“ stotterte er demutsvoll.

„Ich will wissen, was es dich angeht!“

„Es ist allerdings richtig, daß du hier zu befehlen hast, liebe Frau, aber ich glaubte, du seiest gerade nicht anwesend!“

„Ich will dir mal was sagen, Bumble, wir brauchen deine Aufsicht nicht. Du steckst deine Nase immer in Dinge, die dich nichts angehen und machst dich lächerlich. Scher dich ‚raus!“

Bumble gewahrte mit Wut im Herzen, wie die beiden alten Weiber am Waschfaß einander zukicherten und zögerte einen Augenblick. Aber Frau Bumble, deren Geduld schon erschöpft war, nahm einen Topf mit Seifenwasser und drohte den Inhalt über ihn auszuschütten, wenn er sich nicht augenblicklich entferne.

Was konnte er anders tun? Er blickte niedergeschlagen um sich und schlich von dannen. Als er die Tür erreicht hatte, verwandelte sich das Kichern der Weiber in ein schrilles Gelächter. Das war zu viel. Er war in ihren Augen herabgewürdigt, er hatte Ansehen und Achtung sogar bei den Armenhäuslern verloren. Von der Höhe eines Gemeindedieners war er zur tiefsten Tiefe eines Pantoffelhelden herabgestürzt.

„Und das alles in zwei Monaten“, klagte Bumble sich selber. „Vor nicht mehr als zwei Monaten war ich nicht nur mein eigener Herr, sondern auch Herr über das ganze Armenhaus, – und nun?“

Es war zuviel. Er gab dem Jungen eine Ohrfeige, der ihm die Tür öffnete und trat zerstreut auf die Straße. Er ging zuerst planlos straßauf, straßab, bis sich sein erster Kummer gelegt hatte, dadurch war er aber durstig geworden. Er kam an einer Anzahl von Wirtshäusern vorbei und blieb endlich bei einer Kneipe stehen, deren Gastzimmer mit Ausnahme eines Gastes leer war, wie er sich vorher durch einen Blick durchs Fenster überzeugt hatte. Es fing gerade tüchtig zu regnen an, und dies bestimmte ihn, hier einzukehren. Er forderte ein Glas Branntwein.

Der einzige Gast außer ihm war groß, von dunkler Gesichtsfarbe, und hatte einen langen Mantel umgehängt. Er schien fremd zu sein, und den bestaubten Kleidern nach zu schließen, von weit herzukommen. Er sah den eintretenden Bumble von der Seite an, erwiderte jedoch dessen Begrüßung nur mit einem Kopfnicken. Bumble besaß Würde genug für zwei, und so trank er seinen Schnaps schweigend. Dabei las er mit wichtiger Miene die Zeitung.

Wie es aber oft zu geschehen pflegt, wenn Menschen unter ähnlichen Umständen zusammentreffen, so kam es, daß Bumble sich gewaltig versucht fühlte, mal einen verstohlenen Blick auf den Fremden zu werfen. Er mußte aber seine Augen verlegen abwenden, als er seinem Gelüste nachgab, denn er bemerkte, daß der Fremde im selben Augenblicke nach ihm hinsah. Bumbles Verlegenheit wurde durch den höchst merkwürdigen Ausdruck im Auge des Fremden noch gesteigert. Denn der stechende Blick des fremden Mannes schweifte argwöhnisch und mißtrauisch umher und gaben seinen Mienen etwas Abstoßendes.

Als sie sich in dieser Weise mehrere Male angesehen hatten, brach schließlich der Fremde das Schweigen.

„Haben Sie nach mir gesehen, als Sie durch das Fenster guckten?“

„Nicht, daß ich wüßte, wenn Sie nicht der Herr –“

Hier hielt Bumble inne, denn er war neugierig, den Namen des Fremden zu erfahren und hoffte, dieser würde seine Redelücke ausfüllen.

„Ach, ich merke schon“, sagte der Fremde spöttisch, „Sie haben nicht nach mir gesehen, sonst würden Sie meinen Namen wissen. Ich möchte Ihnen auch nicht raten, danach zu fragen.“

„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, bemerkte Bumble würdevoll.

„Und haben es auch nicht getan“, entgegnete der Fremde.

Es folgte nun wieder ein Schweigen, das der Fremde nach einer Weile abermals unterbrach.

„Ich habe Sie früher schon mal gesehen, glaube ich“, fing er an. „Sie waren damals jedoch anders gekleidet. Ich begegnete Ihnen zwar nur auf der Straße, aber ich meine doch, Sie wiederzuerkennen. Sie waren früher hier der Gemeindediener, nicht wahr?“

„Stimmt“, erwiderte Bumble etwas überrascht.

„Was sind Sie jetzt?“

„Armenhausvater“, antwortete Herr Bumble langsam und mit Betonung, er wollte eine plumpe Vertraulichkeit des Fremden von vornherein zurückweisen. „Verwalter des Armenhauses, junger Mann.“

„Sie sind zweifellos noch ebenso auf Ihren Vorteil bedacht wie sonst?“ fuhr der Fremde fort, indem er Herrn Bumble scharf anblickte, der bei dieser Frage verwundert die Augen erhoben hatte. „Sie brauchen sich nicht zu schämen, mir offen zu antworten, denn Sie sehen, ich kenne Sie genau!‘

„Ich bin der Ansicht, daß ein verheirateter Mann ebenso dazu berechtigt ist, wenn ihm die Gelegenheit geboten wird, ein Stück Geld zu verdienen, wie ein lediger. Gemeindebeamten sind nicht so glänzend bezahlt, daß sie einen kleinen Nebenverdienst ausschlagen sollten, wenn er sich ihnen in einer schicklichen Weise bietet.“

Der Fremde nickte lächelnd mit dem Kopfe, als wenn er sagen wollte, daß er sich in seinem Manne nicht getäuscht hätte. Dann zog er die Klingel.

„Füllen Sie das Glas noch einmal“, befahl er dem Wirte und händigte ihm Herrn Bumbles leeres Glas ein. „Machen Sie es aber stark und recht heiß. So lieben Sie es doch?“

„Nicht zu stark“, versetzte Herr Bumble und hüstelte verlegen.

„Sie wissen, was das sagen soll, Herr Wirt“, sagte der Fremde trocken.

Der Wirt lächelte und verschwand. Nach einer kleinen Weile kam er mit einem dampfenden Glas wieder, von dem der erste Schluck Herrn Bumble das Wasser in die Augen trieb.

„Hören Sie mich mal aufmerksam an“, sagte der fremde Mann, nachdem er vorher die Tür und Fenster geschlossen hatte. „Ich kam heute mit der Absicht hierher, Sie zu treffen. Durch einen der Zufälle, die der Teufel manchmal herbeiführt, mußten Sie in dieses Zimmer treten, gerade als ich mich in Gedanken mit Ihnen beschäftigte. Ich möchte eine Auskunft von Ihnen haben und verlange sie, so unbedeutend sie ist, nicht umsonst. Nehmen Sie das als Anzahlung.“

Mit diesen Worten schob er behutsam Herrn Bumble ein paar Goldstücke über den Tisch hin, als wünsche er nicht, daß man draußen das Geld klimpern höre. Herr Bumble prüfte die Münzen auf ihre Echtheit und steckte sie vergnügt in seine Tasche, als er sich davon die nötige Überzeugung verschafft hatte.

„Denken Sie mal zurück – warten Sie – an den Winter vor zwölf Jahren!“

„Das ist lange her“, meinte Herr Bumble. „Aber schön, ich hab’s getan.“

„Der Schauplatz – das Armenhaus.“

„Gut.“

„Zeit – die Nacht“

„Ja.“

„Und der Ort – das elende Loch, wo liederliche Frauenzimmer piepsende Kinder in die Welt setzen, die der Gemeinde zur Last fallen, während sie ihre Schande im Grabe verbergen.“

„Das wird, denke ich, das Wöchnerinnenzimmer sein“, sagte Herr Bumble, der des Fremden aufgeregter Schilderung nicht ganz zu folgen imstande war.

„Ja, dort wurde ein Knabe geboren.“

„Sehr viele“, bemerkte Herr Bumble.

„Hol der Teufel die Höllenbrut“, schrie der Fremde. „Ich spreche von einem – einem schmächtig aussehenden, blaßgesichtigen Bengel, der zu einem Leichenbestatter in die Lehre gegeben wurde (ich wünschte, er hätte da seinen eigenen Sarg gemacht und sein Körper faulte darin) und nachher nach London entlief.“

„Ach, Sie meinen Oliver – den Oliver Twist, an den kann ich mich natürlich noch ganz gut erinnern“, versetzte Herr Bumble. „Das war ein eigensinniger Racker –-„

„Ich brauche nichts von ihm zu hören, hab‘ schon genug von ihm vernommen“, fiel ihm der Fremde ins Wort. Es handelt sich um die alte Hexe, die seiner Mutter bei der Entbindung beistand. Wo ist sie?“

„Wo sie ist?“ sagte Herr Bumble, den der starke Grog witzig zu machen schien. „Das ist schwer zu sagen. jedenfalls Hebammen werden da nicht gebraucht, und so wird sie wohl außer Dienst sein!“

„Wie muß ich das verstehen?“

„Daß sie den letzten Winter starb!“

Der Unbekannte sah ihn bei dieser Mitteilung scharf an. Eine Weile schien es zweifelhaft, ob ihm die Nachricht erfreulich oder unerfreulich sei. Schließlich stand er auf und schickte sich zum Gehen an; er bemerkte dabei, es käme wenig darauf an.

Bumble war schlau genug, um eine Gelegenheit zu wittern, aus dem Geheimnisse seiner besseren Hälfte Geld zu machen. Er erinnerte sich noch genau der Nacht, in der die alte Sally starb. Der Tag war ihm durch seinen Heiratsantrag, den er Frau Corney damals machte, unvergeßlich geworden. Und obgleich ihm seine Frau niemals anvertraute, was sie damals erfahren hatte, so hatte er doch genug gehört, um zu wissen, daß die Beichte der Sterbenden sich auf etwas bezog, das mit Oliver Twists Mutter im Zusammenhang stand. Er eröffnete daher dem Fremden mit geheimnisvoller Miene, die Hebamme hätte sich kurz vor ihrem Tode eine andere Frau rufen lassen, die wahrscheinlich Licht in die Sache bringen könnte.

„Wo kann ich die Frau treffen?“ fragte der Fremde mit unvorsichtiger Hast. Er zeigte, daß ihn die Mitteilungen stark erregten.

„Nur durch mich“, versetzte Herr Bumble.

„Wann?“

„Morgen!“

„Abends neun Uhr“, sagte der Fremde und schrieb auf ein Stück Papier mit zitternder Hand eine Adresse, die Herrn Bumble in ein abgelegenes Haus am Flusse hinbeschied. „Bringen Sie sie um neun Uhr zu mir. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß es im Geheimen geschehen muß. Es ist Ihr Vorteil.“

Mit diesen Worten ging er zur Tür und bezahlte die Zeche. Von Bumble verabschiedete er sich ohne weitere Förmlichkeit mit dem Bemerken, daß sich jetzt ihre Wege trennten, und er ihn morgen pünktlich erwarte.

Bumble sah, daß die Adresse keinen Namen enthielt, und so folgte er dem Unbekannten, um ihn danach zu fragen.

„Was ist los“, rief der Mann und drehte sich rasch um, als der Armenhausvater seinen Arm berührte.“Warum schleichen Sie mir nach?“

„Ich wollte nur wissen, nach wem ich zu fragen habe; wollen Sie mir nicht Ihren Namen sagen?“

„Monks!“ versetzte der Mann und eilte hastig weiter.

Berichtet, was sich zwischen dem Ehepaar Bumble und Monks bei ihrer nächtlichen Zusammenkunft zutrug

Es war ein schwüler, dumpfer Sommerabend. Die dunklen Wolken, welche den ganzen Tag über mit Regen gedroht hatten, ließen einige Tropfen fallen und schienen ein schweres Gewitter zu verkünden. Herr und Frau Bumble kamen die Hauptstraße hinunter und bogen in eine Seitengasse, die auf einige halbverfallene Häuser am Flußufer führte. Beide waren in schäbige Mäntel gehüllt, die nicht nur den Zweck hatten, sie gegen den Regen zu schützen, sondern auch um sie unkenntlich zu machen. Herr Bumble trug eine Laterne, deren Licht aber noch nicht brannte, und ging voraus. Er bahnte dadurch mit seinen breiten Schuhen seiner Frau in dem Schmutz einen Weg.

Schweigend zogen sie dahin; hin und wieder hielt er an, als wolle er sich überzeugen, ob seine Ehehälfte auch folge. Wenn er feststellte, daß sie ihm dicht auf den Fersen war, beschleunigte er seine Schritte wieder.

Die Gegend war dafür bekannt, daß dort hauptsächlich Leute wohnten, die unter dem Deckmantel eines ehrlichen Gewerbes in Wirklichkeit von Raub und Diebstahl lebten. Hart am Flusse stand ein großes Gebäude, das früher eine Fabrik gewesen zu sein schien, aber jetzt nur eine Ruine war. Vor diesem Hause machte das würdige Paar halt, als das Rollen eines fernen Donners zum erstenmal die Luft erschütterte, und der Regen in Strömen herunterzukommen anfing.

„Hier herum muß es sein“, sagte Herr Bumble, auf das Papier mit der Adresse blickend.

„Hallo“, rief eine Stimme von oben.

Bumble guckte hinauf und gewahrte einen Mann, der aus einem Fenster des zweiten Stockes hinaussah.

„Einen Augenblick, ich komme sofort hinunter“, rief die Stimme.

„Ist das der Mann?“ fragte Frau Bumble.

Ihr Gatte nickte bejahend.

„Nun, so vergiß nicht, was ich dir gesagt habe“, fuhr die würdige Dame fort, „und sprich so wenig wie möglich, sonst verrätst du uns gleich.“

Monks hatte inzwischen die Tür geöffnet und rief mit ungeduldiger Gebärde:

„Kommt schnell herein, haltet mich hier nicht unnötig auf.“

Frau Bumble, die zuerst gezögert hatte, trat jetzt mutig ins Haus, und Herr Bumble, der sich schämte oder fürchtete zurückzubleiben, folgte ihr auf dem Fuße. Man konnte ihm jedoch anmerken, daß ihm nicht besonders wohl zumute war, und daß ihn die ihm eigene Würde fast ganz verlassen hatte.

„Zum Donnerwetter, warum blieben Sie draußen im Regen stehen?“ sagte Monks, als er die Tür verschloß.

„Wir – wir wollten uns nur ein bißchen abkühlen“, stammelte Bumble und sah sich furchtsam um.

„Abkühlen?“ meinte Monks. „Aller Regen, der je fiel oder noch fallen wird, vermag nicht das Höllenfeuer zu löschen, das der Mensch in seinem Innern mit sich herumtragen kann. Denken Sie nur nicht, sich so leicht abzukühlen.“

Mit diesen liebenswürdigen Worten und einem finsteren Blick wandte sich Monks zu Frau Bumble, die sonst nicht schüchtern, doch vor den wilden Augen des Mannes die ihrigen zu Boden schlug.

„Das ist die Frau, nicht wahr?“ fing Monks an.

„Ja“, sagte Bumble kurz, eingedenk der Warnung seiner Frau.

„Sie denken wohl, Frauen können keine Geheimnisse für sich behalten?“ nahm Frau Bumble das Wort und begegnete fest den beobachtenden Blicken Monks‘.

„Jedenfalls verschweigen sie immer eins so lange, bis es ans Licht kommt“, entgegnete dieser.

„Und was wäre das?“ fragte die Dame.

„Den Verlust ihres guten Namens. Ebensowenig fürchte ich, daß ein Weib ein Geheimnis ausplaudert, dessen Ausschwatzen ihr den Strick oder das Zuchthaus eintragen kann. Verstehen Sie?“

„Nein“, erwiderte Frau Bumble, sich verfärbend.

„Begreiflich, wie sollten Sie auch?“ sagte Monks ironisch.

Nachdem er dem würdigen Paar einen höhnischen Blick zugeworfen hatte, winkte er ihnen, ihm zu folgen. Als sie gerade eine steile Treppe hinaufstiegen, fuhr ein Blitzstrahl vom Himmel, dem ein so mächtiger Donnerschlag folgte, daß das ganze Gebäude bebte.

„Hört!“ rief er zurückschreckend. „Hört, als ob die Hölle losgelassen ist, ich hasse den Lärm.“

Er schwieg einige Augenblicke und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Als er sie entfernte, schaute Herr Bumble in ein wachsbleiches, verzerrtes Gesicht.

„Ich bin manchmal solchen Anfällen unterworfen“, sagte Monks, die Bestürzung Bumbles bemerkend, „besonders bei Gewittern. Beachten Sie das nicht, es ist schon vorüber!“

Mit diesen Worten führte er sie nun eine Leiter hinauf, und oben angekommen, schloß er gleich die Fensterläden des Zimmers, in dem sie Platz genommen hatten. Er ließ eine Laterne, die an der Decke an einem Strick hing, herunter und begann:

„Je schneller wir zu Sache kommen, desto besser ist’s für uns alle. Die Frau weiß, um was es sich handelt, nicht wahr?“

Die Frage war an Herrn Bumble gerichtet, aber seine Frau kam ihm mit der Antwort zuvor und erklärte, daß sie vollkommen im Bilde wäre.

„Ist es so, wie er sagt, daß die alte Hexe Ihnen auf ihrem Totenbette etwas anvertraute –“

„In betreff der Mutter des von Ihnen benannten Knabens?“ unterbrach ihn Frau Bumbie. „Ja!“

„Es fragt sich also zunächst, worin ihre Mitteilung bestand“, sagte Monks.

„Nein, das kommt erst später“, bemerkte Frau Bumble trocken. „Zuerst handelt es sich darum, was ist die Mitteilung wert.“

„Wer, Teufel nochmal, kann das sagen, ohne zu wissen, was zur Sprache kam?“

„Ich glaube, niemand besser als Sie“, antwortete Frau Bumble, der es, wie ihr Mann aus Erfahrung bestätigen konnte, nicht an Mut gebrach.

„Hm“, meinte Monks. „Man kann wohl Geld damit herausschlagen, wie?“

„Vielleicht!“

„Man hat ihr wohl etwas fortgenommen – etwas was sie trug – etwas –“

„Nun bieten Sie schon! Ich habe bereits genug gehört und bin der Überzeugung, daß für Sie das Geheimnis von großem Wert ist.“

Herr Bumble, den seine bessere Hälfte nicht weiter in das Geheimnis eingeweiht hatte, hörte dem Gespräch mit aufgerissenen Augen zu. Er guckte mal Monks, mal seine Frau an. Groß war sein Erstaunen, als er die Summe hörte, die diese für ihre Mitteilung von Monks verlangte.

„Was ist Ihnen also die Geschichte wert?“ fragte Frau Bumble ruhig.

„Vielleicht nichts, vielleicht zwanzig Pfund“, sagte Herr Monks. „Lassen Sie hören.“

„Legen Sie noch fünf Pfund zu, geben Sie mir fünfundzwanzig Goldstücke und Sie sollen alles erfahren, was ich weiß. Eher nicht!“

„Fünfundzwanzig Pfund?“ rief Monks zurückprallend aus.

„Ich habe so offen und deutlich wie nur möglich gesprochen. Es ist nicht einmal viel“

„Nicht viel für ein lumpiges Geheimnis, das vielleicht keinen Pfennig wert und schon zwölf Jahre alt ist!“

„Solche Dinge halten sich und steigen wie gute Weine mit der Zeit oft um das Doppelte ihres Wertes“, sagte Frau Bumble mit gutgespieltem Gleichmut.

„Wie aber, wenn ich das Geld für nichts ausgebe“, sagte Monks bedenklich.

„Sie können es mir leicht wieder abnehmen“, entgegnete Frau Bumble. „Ich bin nur ein Weib, allein und ohne Schutz hier.“

„Weder allein, Schatz, noch unbeschützt“, sagte nun Herr Bumble, dabei zitterte seine Stimme vor Furcht. „Ich bin auch noch hier, Liebling. Aber“, fuhr er zähneklappernd fort, „außerdem ist Herr Monks zu sehr Ehrenmann, als,daß er eine Gewalttat gegen Gemeindebeamte begehen würde! Herr Monks weiß zwar, daß ich kein junger Mann bin und nicht mehr in der Vollkraft der Jahre stehe, aber er hat sicher auch gehört, daß ich ein energischer Beamter bin mit ungeheurer Stärke, sobald es notwendig ist. Man braucht mir nur einen Anlaß zum Einschreiten zu geben.“

„Du bist ein Idiot und tätest besser, deinen Mund zu halten“, war Frau Bumbles Antwort.

„Da haben Sie recht, wenn er nicht leiser reden kann“, sagte Monks wütend. „Das ist also Ihr Mann?“

„Er, mein Mann?!“ kicherte Frau Bumble ausweichend.

„Ich dachte es mir gleich, als Sie beide hereinkamen“, meinte Monks, als er den zornigen Blick gewahrte, den die Dame ihrem Ehegemahl zuwarf. „Desto besser; es macht mir gar nichts aus, mit zwei Menschen zu verhandeln, wenn ich nur sehe, daß sie gleichen guten Willens sind. Es ist mir ernst – sehen Sie her.“

Er holte einen Geldbeutel aus der Tasche und entnahm ihm fünfundzwanzig Goldstücke, die er Frau Bumble hinreichte.

„Nehmen Sie das Geld, und wenn das verdammte Gewitter vorüber ist, das jetzt gerade über dem Hause losbricht, erzählen Sie die Geschichte.“

Sobald das Unwetter sich gelegt hatte, hob Monks seinen Kopf von dem Tische auf und hörte aufmerksam Frau Bumble zu. Die Köpfe der drei Personen berührten sich beinahe, da die beiden Männer in ihrer Neugierde sich über den kleinen Tisch beugten, und die Frau, um ihr Flüstern vernehmlich zu machen, das gleiche tat.

„Als dieses Weib, die man die alte Sally nannte, starb“, erzählte Frau Bumble, „war ich mit ihr allein.“

„Also sonst war niemand dabei?“ fragte Monks im Flüsterton. „Keine Kranke oder Verrückte in einem anderen Bette. Niemand, der etwas hören oder verstehen konnte?“

„Keine Menschenseele! Wir waren ganz allein. Niemand außer mir war bei ihr, als der Tod über sie kam.“

„Gut, weiter.“

„Sie sprach von einem jungen Weibe“, fuhr Frau Bumble fort, „die vor einer Reihe von Jahren ein Kind zur Welt brachte – nicht nur im selben Zimmer, sondern sogar im gleichen Bette, auf dem die Alte jetzt mit dem Tode rang.“

„Wirklich?“ sagte Monks, an den Lippen nagend. „Donnerwetter! Wie doch die Dinge zuletzt kommen können.“

„Das Kind war dasselbe, das Sie ihm gestern abend nannten“, erzählte die Matrone weiter und machte eine nachlässige Kopfbewegung zu ihrem Manne hin. „Und die alte Sally bestahl das junge Weib.“

„Als sie noch lebte?“ fragte Monks.

„Nein, als sie gestorben war“, antwortete Frau Bumble, und ein Schauder überflog sie. „Sie stahl der Toten (sie war noch nicht kalt) das, was diese mit ihren letzten Atemzügen gebeten hatte, für das Kind in Verwahrung nehmen zu wollen.“

„Sie verkaufte es?“ rief Monks gespannt. „Nicht wahr, sie verkaufte es. – Wo? – wann? – an wen? – wie lange ist es schon her?“

„Als sie mir dies mit letzter Kraftanstrengung gebeichtet hatte, fiel sie zurück und starb.“

„Weiter hat sie nichts gesagt?“ rief Monks mit einer Stimme, die sich um so wütender anhörte, je mehr er sie zu dämpfen versuchte. „Das ist eine Lüge. Ich lasse mir nichts weißmachen. Sie sagte mehr. Ich erwürge euch beide, wenn ich nicht herauskriege, was es war.“

„Sie sagte weiter kein Wort“, fuhr die Matrone ruhig fort, „aber sie faßte krampfhaft mit der einen Hand mein Kleid, und als ich nach ihrem Hinscheiden die Hand losmachen wollte, fand ich darin ein Stückchen schmutzigen Papiers.“

„Was enthielt es?“ fragte Monks schnell, sich wieder vorbeugend.

„Nichts, es war ein Pfandschein.“

„Über was?“

„Darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Ich vermute, sie hat den Schmuck eine Zeitlang aufgehoben in der Hoffnung, ihn einst besser verwerten zu können, ihn aber dann doch verpfändet. Sie hat dem Pfandleiher jedes Jahr die Zinsen bezahlt, um es sofort wieder einlösen zu können, wenn es ihr notwendig erschien. Sie starb mit dem Pfandschein in der Hand, wie ich bereits erzählte. Das Pfand wäre nach einigen Tagen verfallen, und ich löste es ein, da ich glaubte, dereinst nochmal daraus Nutzen ziehen zu können.“

„Wo ist es jetzt?“ fragte Monks rasch.

„Hier“, rief Frau Bumble und warf hastig ein kleines, ledernes Beutelchen auf den Tisch, als ob sie froh sei, es loszuwerden. Monks griff mit zitternden Händen danach und öffnete es. Es enthielt einen einfachen goldenen Trauring und ein Medaillon, in dem sich zwei Haarlocken befanden.

„Innen ist der Name Agnes eingegraben“, ergänzte Frau Bumble ihre Erzählung. „Für den Zunamen hat man Raum gelassen, und dann folgt ein Datum, welches in das Jahr vor der Geburt des Kindes fällt. Das habe ich herausgefunden!“

„Und das ist alles?“ fragte Monks, nachdem er den Inhalt des Beutelchens festgestellt hatte.

„Ja, alles“, antwortete die Matrone.

Herr Bumble holte tief Atem, als freue er sich, daß die Geschichte zu Ende sei, ohne daß von einer Zurückgabe der fünfundzwanzig Pfund gesprochen wurde.

„Ich weiß von der Sache nichts weiter, als was ich mutmaßen kann“, sagte Frau Bumble nach kurzem Schweigen zu Monks. „Und will auch nicht mehr davon wissen, das ist sicherer. – Aber darf ich zwei Fragen an Sie richten?“

„Das können Sie“, versetzte Monks, überrascht. „Ob ich sie aber beantworten werde, ist eine andere Frage.“

„Macht zusammen drei Fragen“, meinte Bumble und wollte damit einen Witz machen.

„War es das, was Sie von mir zu hören erwarteten?“ fragte Frau Bumble.

„Ja“, antwortete Monks. „Und die andere Frage?“

„Was gedenken Sie zu tun? Kann es gegen mich gebraucht werden, kann ich Schaden dadurch haben?“

„Nie, weder gegen Sie noch gegen mich“, sagte Monks. „Schaut her, aber tut keinen Schritt vorwärts, sonst ist euer Leben keinen Pfifferling wert!“

Mit diesen Worten schob er plötzlich den Tisch beiseite und öffnete vor Herrn Bumbles Füßen eine Falltür, so daß dieser eiligst ein paar Schritte zurücktrat.

„Gucken Sie da hinunter“, sagte Monks und ließ die Laterne hinab. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Wenn ich die Absicht gehabt hätte, Sie verschwinden zu lassen, so hätte ich es vorhin gekonnt, als Sie über der Falle saßen.“

So ermutigt, näherte sich Frau Bumble dem Rande, und sogar ihr Gatte wagte es, von Neugierde getrieben, dasselbe zu tun. Das trübe, vom Regen angeschwollene Wasser rauschte unten so ungestüm, daß alle anderen Laute sich in dem Geräusch der brausenden gegen die grünen Pfeiler anschlagenden Wogen verloren.

„Wo würde wohl morgen früh der Leichnam des Menschen sein, den man jetzt hier hinunterwürfe“, fragte Monks und ließ die Laterne in dem dunklen Schlunde hin und her schwingen.

„Zwölf Meilen weiter unten im Flusse und obendrein in Stücke zerrissen“, meinte Bumble, bei dem bloßen Gedanken schon zitternd.

Monks holte nun das Beutelchen mit dem Medaillon und Trauring aus seiner Tasche und befestigte ein Bleistück von einem alten Flaschenzug daran, der zerbrochen in einer Ecke lag. Dann ließ er es hinunterfallen, und man hörte ein schwaches Plätschern, als es ins Wasser glitt.

Alle drei blickten einander an und schienen freier zu atmen.

„So!“ sagte Monks, indem er die Falltür wieder schloß. „Wenn die See auch wieder ihre Toten herausgibt, wie in den Büchern steht, Gold und Silber – und daher auch diesen Plunder wird sie wohl für sich behalten. – Wir haben uns nichts mehr zu sagen und können die Sitzung aufheben. Aber daß Sie mir reinen Mund halten“, fuhr er mit drohender Gebärde gegen Bumble fort. „Wegen Ihres Weibes bin ich unbesorgt.“

„Sie können sich auf mich verlassen, junger Mann“, entgegnete Herr Bumble, der sich allmählich unter vielen höflichen Verbeugungen der Leiter näherte. „Um unser aller willen. Sie wissen ja, es könnte mir ebenso nachteilig werden wie den anderen.“

„Das ist mir für Sie lieb zu hören. Nun zünden Sie Ihre Laterne an und machen Sie, daß Sie so schnell als möglich von hier fortkommen.“

Es war ein Glück, daß die Unterhaltung hier endete, sonst wäre Herr Bumble, der sich bereits bis auf die Ent,fernung von sechs Zoll nach der Leiter hinkomplimentiert hatte, kopfüber in den unteren Raum hinabgestürzt. Er zündete eine Laterne an und stieg stillschweigend hinunter, während Frau Bumble nachfolgte. Monks kam hinterdrein, nachdem er noch einige Augenblicke gehorcht hatte. Sie gingen langsam und vorsichtig über den Hausflur, und Monks entriegelte und öffnete leise die Tür. Mit einem einfachen Kopfnicken verabschiedete sich das wackere Ehepaar von ihrem geheimnisvollen Bekannten und trat in die Nacht und den Regen hinaus.

Sie hatten sich kaum entfernt, als Monks einen Jungen rief, der irgendwo versteckt gewesen sein mußte, ihn mit dem Licht vorangehen hieß und nach dem Gemach zurückkehrte, das er eben verlassen hatte.

In dem wieder alte Bekannte erscheinen, und das zeigt, wie Monks und der Jude ihre würdigen Köpfe zusammenstecken

Am Abend des folgenden Tages erwachte Herr William Sikes aus seinem Schlummer und fragte noch schlaftrunken, wieviel Uhr es sei.

Die Stube, in der er lag, war keine von denen, die er vor dem Einbruch bewohnt hatte, aber sie befand sich in demselben Stadtviertel und war nicht weit von seiner früheren Wohnung. Es war ein kümmerliches, kleines Gemach, das nur durch ein einziges kleines Dachfenster Licht erhielt. Auch fehlte es nicht an anderen Zeichen, daß der Ehrenmann in letzter Zeit ziemlich heruntergekommen war. Das wenige Hausgerät, der Mangel aller Bequemlichkeit und sein abgemagertes Aussehen bestätigten es.

Der Räuber lag in einen weißen Mantel gehüllt auf dem Bette und zeigte ein Gesicht, dessen krankhafte Blässe durch den eine Woche alten, schwarzen Stoppelbart nicht verschönert wurde. Der Hund lag neben dem Bette, bald aufmerksam seinen Herrn anblickend, bald die Ohren spitzend und knurrend, wenn irgendein Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte. Am Fenster saß mit der Ausbesserung einer dem Einbrecher gehörigen Weste beschäftigt, eine blasse, durch Entbehrungen und Nachtwachen so heruntergekommene Frauensperson, daß man in ihr nicht leicht die frühere Nancy wiedererkannt haben würde, wenn nicht ihre Stimme gewesen wäre, die den alten Klang hatte.

„Es hat vor kurzem sieben geschlagen“, sagte das Mädchen. „Wie geht es dir heute abend, Bill?“

„So schwach wie Wasser“ erwiderte er mit einem kräftigen Fluch. „Reich mir mal die Hand, damit ich aus diesem verwünschten Bette komme.“

Die Krankheit hatte Sikes nicht milder gestimmt, denn als ihm das Mädchen aufhalf und ihn nach einem Stuhl geleitete, fluchte er über ihre Ungeschicklichkeit und prügelte sie.

„Heulst du schon wieder!“ fuhr Sikes sie an. „Laß bloß das Geplärre bleiben. Schere dich zum Teufel, wenn du nichts Besseres tun kannst. Verstanden?“

Jawohl“, sagte das Mädchen, das Gesicht zur Seite wendend, und zwang sich zu einem Lächeln. „Was hast du nur wieder?“

„Hast dich eines Besseren besonnen“, brummte Sikes, als er noch eine in ihrem Auge hängende Träne gewahrte.

„Um so besser für dich.“

„Ach, du kannst heute abend nicht schlecht zu mir sein“, sagte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter.

„Warum nicht?“ brüllte er.

„So viele Nächte“, sagte das Mädchen mit einem Anflug von weiblicher Zärtlichkeit, die ihrer Stimme eine gewisse Weichheit verlieh, „so viele Nächte habe ich dich wie ein Kind geduldig gewartet und gepflegt und sehe dich heute zum ersten Male wieder bei Besinnung. Du würdest mich nicht so behandelt haben wie eben, wenn du daran gedacht hättest, nicht wahr? Bitte sage, du hättest es nicht getan!“

„Nun ja, ich hätte es wahrscheinlich nicht getan, aber, zum Donnerwetter, da fängt sie schon wieder zu heulen an.“

„Es ist nichts“, sagte Nancy und warf sich in einen Stuhl. „Laß mir einen Augenblick Ruhe, und es ist gleich vorüber.“

„Was wird vorüber sein?“ fragte Sikes wütend. „Was ist das wieder für ein Blödsinn. Steh auf und tue etwas, aber bleib mir mit deinem Weiberquatsch vom Leibe!“

Zu jeder anderen Zeit würde diese Aufforderung und der Ton, in dem sie gesprochen wurde, die gewünschte Wirkung gehabt haben. Aber das Mädchen war in der Tat abgespannt und ganz erschöpft, ließ den Kopf auf die Stuhllehne fallen und wurde ohnmächtig, ehe noch Herr Sikes einige passende Flüche ausstoßen konnte, mit denen er bei ähnlichen Gelegenheiten seine Drohungen auszuschmücken pflegte. Da er nicht wußte, was in diesem Falle zu tun sei, denn Nancys hysterische Anfälle waren meistens von jener heftigen Art, die der Kranke gewöhnlich ohne sonderlichen Beistand selbst durchkämpft – so versuchte er es zuerst mit ein bißchen Gotteslästerung, und als sich diese Behandlungsweise als ganz unwirksam erwies, rief er nach Hilfe.

„Was ist los, Freundchen?“ fragte der Jude, in die Stube tretend.

„Da, hilf dem Mädchen gefälligst“, schrie Sikes ungeduldig. „Steh nicht da, um zu quatschen und mich anzugrinsen!“

Mit einem Ausruf der Überraschung beeilte sich Fagin, dem Mädchen Beistand zu leisten, während Herr Jack Dawkins (sonst auch der Gannef genannt), welcher nach seinem würdigen Freunde ins Zimmer getreten war, schnell ein Bündel, das er in der Hand trug, auf die Erde warf und Herrn Karl Bates, der ihm auf dem Fuße folgte, eine Flasche aus der Hand riß. In einem Augenblick entkorkte er sie mit den Zähnen und goß der Kranken einen Teil ihres Inhalts in den Mund, nachdem er denselben vorher selbst gekostet hatte, um eine etwaige Verwechslung zu verhüten.

„Bring ihr mit dem Blasebalg etwas frische Luft unter die Nase“, sagte der Gannef zu Karl Bates. „Und Sie, Fagin, reiben ihr die Handflächen, während Bill ihr das Mieder aufmacht!“

Diese vereint angewandten Belebungsmittel übten bald die gewünschte Wirkung aus. Das Mädchen kam allmählich wieder zu sich, wankte nach einem Stuhl am Bett, verbarg ihr Gesicht in den Kissen und überließ es Herrn Sikes, die Neuankömmlinge gebührend zu empfangen.

„Donnerwetter, welch böser Wind hat dich hierher verschlagen?“ fragte er Fagin.

„Kein böser Wind, mein Lieber“, antwortete der Jude, „denn schlimme Winde blasen niemand etwas Gutes zu. Ich habe Euch aber etwas Gutes mitgebracht, das Euer Herz erfreuen wird. Gannef, mach doch mal das Bündel auf und gib Bill die Kleinigkeiten, wofür wir heute morgen unser ganzes Geld ausgegeben haben.“

Der Gannef öffnete nun das ziemlich große Bündel, das aus einem zusammengeschlagenen alten Tischtuch bestand, und händigte den Inhalt desselben, Stück für Stück, Karl Bates aus. Dieser legte die Gegenstände unter Lobsprüchen über ihre Vortrefflichkeit auf den Tisch.

„Seht, die Kaninchenpastete, Bill. Köstliche, zarte Tierchen, daß einem sogar ihre Knochen auf der Zunge zergehen, und man sie nicht erst abzunagen braucht; – und hier den Tee, so stark, daß er beinahe den Deckel der Teekanne in die Luft wirft; – und den Zucker – den herrlichen Chesterkäse – und dann, was sagt Ihr nun?“

Hier brachte Herr Bates aus einer seiner umfangreichen Taschen eine ziemlich große, sorgfältig verkorkte Weinflasche zum Vorschein.

„Ja!“ sagte Fagin, mit zufriedenem Lächeln sich die Hände reibend. „Das wird Euch schmecken, das wird Euch bekommen, Bill.“

„Bekommen?“ schrie Sikes. „Ich hätte zehnmal umkommen können, ohne daß du für mich auch nur einen Finger krümmtest. Was soll das heißen, daß du mich über drei Wochen in dieser Patsche sitzen ließest, du falscher Hund, du!“

„Nun hört bloß mal an, Jungens“, sagte der Jude achselzuckend; „und wir kommen her, um ihm alle diese wundervollen Sachen zu bringen.“

„Die Sachen sind ja schön und gut“, meinte Sikes etwas besänftigt, als er den Tisch überblickte, „aber was hast du zu deiner Entschuldigung anzuführen, daß du mich hier krank und ohne alle Mittel liegen ließest, als wäre ich ein Hund wie dieser da. Still, Köter!“ brüllte er seinen Hund an, als dieser knurrte. „Also womit kannst du dich ausreden, du altes Gerippe?“

„Ich war über eine Woche von London weg, lieber Freund – in Geschäften.“

„Und die anderen vierzehn Tage? Warum hast du dich da nicht um mich gekümmert, ich hätte krepieren können wie eine kranke Ratte in ihrem Loche!“

„Ich konnt’s nicht anders, Bill. Vor so vielen Zuhörern kann ich mich jedoch nicht auf eine lange Erörterung einlassen. Es war mir aber unmöglich. Auf Ehre!“

„Auf – was?“ fragte Sikes mit dem Ausdruck höchster Verachtung im Gesicht. „Jungens, schneidet einer mir mal ein Stück von der Pastete ab, damit ich den üblen Geschmack von seiner Ehre aus dem Munde kriege, oder ich ersticke dran!“

„Nicht so hitzig, lieber Freund“, sprach der Jude unterwürfig. „Ich habe Euch nicht vergessen, – niemals, Bill.“

„Nein, ich will meinen Kopf verwetten, daß du es nicht tatest“, meinte Sikes höhnisch. „Die ganze Zeit über, als ich hier im Fieber lag, hast du Pläne ausgeheckt. Bill sollte dies und Bill sollte das tun. Und alles sollte Bill spottbillig machen, sobald er wieder gesund und arm genug wäre, um von dir ausgenutzt werden zu können. Hätte ich das Mädchen nicht gehabt, so wäre ich wahrscheinlich verreckt!“

„Das ist’s ja gerade, Bill“, sagte der Jude, der begierig den letzten Satz auffaßte. „Wenn Ihr das Mädchen nicht gehabt hättet! Aber war es nicht der arme alte Fagin, der Euch das Mädchen zuführte, und hättet Ihr sie gehabt ohne mich?“

„Weiß Gott, da hat er recht“, meinte Nancy, hastig hervortretend. „Laß ihn, Bill, laß ihn.“

Nancys Einmischung gab dem Gespräch eine andere Wendung, denn die Jungen begannen auf einen Wink des schlauen alten Juden, sie mit Schnaps zu traktieren, von dem sie jedoch nur sparsam genoß. Fagin, der eine große Lustigkeit zur Schau trug, brachte allmählich Herrn Sikes in eine bessere Laune. Er tat so, als betrachte er dessen Drohungen nur als Scherz und belachte den einen oder den anderen derben Witz des Einbrechers recht geräuschvoll. Herr Sikes, der der Schnapsflasche wiederholt in reichlichem Maße zugesprochen hatte, sagte:

„Das ist alles ganz schön und gut, aber ich muß heute noch Draht von dir haben.“

„Ich habe nicht einen Pfennig bei mir“, sagte Fagin.

„Aber haufenweise zu Hause“, entgegnete Sikes.jedenfalls mußt du Draht heranschaffen.“

„Haufenweise?“ rief der Jude in komischem Entsetzen. „Ich habe nicht so viel, wie – -„

„Ich weiß nicht, wieviel Zaster du hast, und ich wette, es ist dir selbst nicht einmal bekannt, da eine ziemliche Zeit dazu gehören würde, alle die Goldfüchse zu zählen. Aber ich muß noch heute abend Geld haben – und damit basta!“

„Schon gut“, sagte der Jude mit einem Seufzer, „ich werde den Gannef schicken.“

„Das laß man, der würde vielleicht das Wiederkommen vergessen oder den Weg verlieren oder die Greifer würden ihn fassen, so daß er nicht. hätte kommen können – um Ausreden ist der ja nicht verlegen. Nancy soll in deine Lasterhöhle mitgehen und den Draht holen. Das ist sicherer; inzwischen werde ich noch ein bißchen pennen!“

Nach vielem Feilschen handelte Fagin die geforderte Summe von fünf Pfund auf drei Pfund vier Schilling und sechs Pence herunter, wobei er wiederholt feierlich beteuerte, daß ihm nur noch achtzehn Pence zum Leben übrigblieben. Herr Sikes meinte mürrisch, das wäre auch genug, worauf Nancy sich zum Fortgehen fertig machte. Fagin nahm nun Abschied von seinem ehrenwerten Freunde und trat, von Nancy und den beiden Jungen begleitet, den Rückweg an, während sich Sikes aufs Bett warf.

Als sie in der Wohnung des Juden ankamen, fanden sie dort Toby Crackit und Herrn Chitling eifrig beim fünfzehnten Spiel Cribbage, das der letztere natürlich mit seinem fünfzehnten und letzten Sixpencestück verlor – zur großen Erheiterung seiner jungen Freunde. Herr Crackit schien sich etwas zu schämen, in einer derartigen Unterhaltung mit einem Menschen betroffen worden zu sein, der hinsichtlich seiner Stellung und Geistesgaben so weit unter ihm den Rang einnahm. Er gähnte und fragte so beiläufig nach Sikes, dann nahm er seinen Hut, um zu gehen.

„Ist niemand hier gewesen, Toby?“ fragte der Jude.

„Kein Bein. Es war hier so langweilig wie in der Kirche. Ihr müßt eigentlich mit einer Belohnung herausrücken, daß ich Euch das Haus solange gehütet habe. Weiß der Teufel, mir ist im Kopf so dumm wie einem Geschwornen. Ich wäre glatt eingeschlafen, wenn mich meine Gutmütigkeit nicht bewogen hätte, diesen jungen Menschen da zu unterhalten. Es war furchtbar stumpfsinnig, hol mich der Teufel, wenn’s nicht wahr ist.“

Er steckte mit hochmütiger Miene seinen Gewinn in die Westentasche, als wären solche kleinen Silberstücke der Beachtung eines Mannes von seiner Bedeutung gar nicht wert, und verließ das Zimmer in seiner gewohnten vornehmen Haltung. Herr Chitling schickte ihm bewundernde Blicke nach und versicherte, daß er die Bekanntschaft dieses Herrn für fünfzehn Sixpences nicht zu teuer erkauft zu haben glaube.

„Du bist ein schnurriger Kerl, Tom“, sagte Herr Bates, den diese Erklärung höchlich ergötzte.

„Nicht im mindesten“, versetzte Herr Chitling. „Nicht wahr, Fagin?“

„Du bist ein ganz gescheiter Bursche“, sagte der Jude, ihm auf die Schulter klopfend, während er den beiden anderen Jungen einen bezeichnenden Blick zuwarf.

„Und Herr Crackit ist ein großer Stutzer, nicht wahr, Fagin?“ fragte Tom.

„Ohne Zweifel, mein Lieber“, erwiderte der Jude.

„Und es gereicht einem zur Ehre, sich seiner Bekanntschaft erfreuen zu dürfen, nicht wahr, Fagin?“ fuhr Tom fort.

„Allerdings, sehr. Sie sind nur eifersüchtig, weil er sich mit ihnen nicht abgeben mag.“

„Also da liegt der Hase im Pfeffer“, rief Tom triumphierend. Er hat mich zwar kahl ausgeplündert, aber ich kann ja hingehen und mir wieder neues Geld verschaffen, sobald ich Lust habe – stimmt’s, Fagin?“

„Sicher kannst du’s“, versetzte der Jude, „und je eher du es tust, desto besser ist’s. Sieh zu, daß du deinen Verlust schnell wieder gutmachst, und vertrödle keine Zeit. Gannef, Karl, für euch ist es auch Zeit, an die Arbeit zu gehen, es ist schon zehn Uhr und noch nichts getan.“

Die beiden Jungen nahmen ihre Hüte, nickten Nancy zu und verließen das Zimmer. Sie machten sich unterwegs über Herrn Chitling lustig, obgleich dessen Benehmen, wenn man gerecht sein will, gar nicht so besonders auffallend oder ungewöhnlich gewesen war. Gibt es doch überall viele vortreffliche junge Herren, die weit höhere Summen aufwenden als Herr Chitling, um in guter Gesellschaft gesehen zu werden.

„Nun will ich Ihnen das Geld holen, Nancy. Dieser Schlüssel gehört zu einem kleinen Schrank, wo ich die Sachen aufbewahre, die die Jungen bringen. Ich schließe mein Geld nämlich nie ein, weil ich keins einzuschließen habe, meine Liebe. Ha! ha! ha! Es ist ein kümmerliches Geschäft, Nancy, und man hat keinen Dank davon. Aber ich habe die jungen Leute gern um mich, und so hält man eben aus. – Pst!“ unterbrach er sich und verbarg hastig den Schlüssel in seiner Brusttasche. „Wer mag das sein? Horch!“

Nancy saß mit gekreuzten Armen am Tisch und schien sich für den Besuch nicht sonderlich zu interessieren, als das Geflüster einer Männerstimme an ihr Ohr schlug. Sofort riß sie ihren Hut und Schal ab und warf beides unter den Tisch. Wie sich der Jude umwandte, klagte sie mit matter Stimme über Hitze.

„Ach“, murmelte der Jude, „es ist der Mann, den ich vorhin erwartete. Er kommt die Treppe herab. Sprechen Sie, wenn er da ist, nicht von dem Gelde, Nancy. Er wird nicht lange bleiben – keine zehn Minuten!“

Den Zeigefinger an die Lippen legend, ging der Jude mit der Kerze an die Tür und erreichte sie gleichzeitig mit dem Besucher, der rasch ins Zimmer trat und dicht vor dem Mädchen stand, ehe er es bemerkte.

Es war Monks.

„Eine von meinen Schülerinnen“, erklärte Fagin, als er sah, daß Monks beim Anblick des fremden Gesichts zurückfuhr. „Bleiben Sie ruhig sitzen, Nancy.“

Diese rückte näher an den Tisch und blickte mit gleiche gültiger Miene nach Monks hin, dann wandte sie die Augen ab. Als sich Monks aber zu dem Juden umdrehte, schielte sie beobachtend zu ihm hin, daß ein dritter kaum geglaubt hätte, daß diese beiden Blicke von derselben Person wären.

„Neuigkeiten?“ fragte der Jude.

„Große.“

„Und – und – gute?“ fragte Fagin mit langsamer Stimme, als fürchtete er, den anderen durch große zur Schau getragene Zuversicht zu reizen.

„Jedenfalls keine schlechten“, versetzte Monks lächelnd. „Diesmal war ich fix genug. Doch ich möchte mit Euch allein sprechen.“

Das Mädchen rückte noch näher an den Tisch heran und tat so, als ob sie den Wink nicht verstand. Fagin, der wohl fürchtete, sie möge von dem Geld sprechen, wenn er sie hinausgehen ließ, zeigte nach oben und ging mit Monks aus dem Zimmer.

„Nur nicht wieder in das verfluchte Loch, wo wir neulich waren“, hörte Nancy noch den Mann sagen, als beide die Treppe hinaufstiegen. Fagin lachte und gab eine Antwort, die sie nicht mehr vernehmen konnte. Aus dem Knarren der Dielen schloß sie, daß er seinen würdigen Freund nach dem zweiten Stocke hinaufgeführt hatte.

Kaum waren die Fußtritte der beiden verhallt, als das Mädchen seine Schuhe auszog, aus dem Zimmer eilte und mit unglaublicher Geschwindigkeit geräuschlos die Treppe hinaufflog. Oben verlor sie sich im Dunkel.

Das Zimmer blieb über eine Viertelstunde leer. Dann kam Nancy mit gespensterhaften Schritten wieder zurück, und gleich darauf hörte man auch die beiden Männer herunterkommen. Monks verließ sogleich das Haus, und der Jude holte das Geld. Als er zurückkam, rückte sich das Mädchen gerade ihren Hut zurecht, als ob sie sich zum Gehen vorbereite.

„Donnerwetter, Nancy“, rief Fagin erschrocken, als er das Licht auf den Tisch setzte, „wie blaß Sie aussehen!“

„Blaß?“ sagte das Mädchen, ihn fest ansehend.

„Ganz furchtbar. Was ist denn los?“

„Nichts. Aber die dumpfe Luft hier im Zimmer ist angreifend. – Gebt schon das Geld, damit ich fort kann.“

Fagin zählte ihr, mit einem Seufzer bei jedem Stück, das Geld in die Hand, worauf sie sich mit einem einfachen „Gute Nacht!“ trennten.

Als sie auf der Straße war, setzte sie sich auf eine Türschwelle nieder und schien ganz erschöpft zu sein, als ob sie unfähig wäre, ihren Weg fortzusetzen. Plötzlich erhob sie sich aber und lief in entgegengesetzter Richtung von Sikes‘ Wohnung davon. Endlich hielt sie atemlos inne, um neu Luft zu schöpfen. Mit einemmal schien ihr die Besinnung zu kommen, daß sie unfähig war, das, was sie vorhatte, auszuführen. Sie brach in Tränen aus und rang die Hände.

Möglich, daß die Tränen ihr Erleichterung verschafften, oder daß sie die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage erkannte – genug, sie kehrte wieder um und eilte, um die verlorene Zeit wieder einzubringen, mit großer Hast nach Sikes‘ Wohnung.

Herr Sikes bemerkte ihre Aufregung nicht und fragte bloß, ob sie das Geld hätte. Auf ihre bejahende Antwort setzte er den unterbrochenen Schlaf fort.

Es war ein Glück für Nancy, daß das Geld Herrn Sikes in den Stand setzte, sich am andern Tage ganz mit Essen und Trinken zu beschäftigen. Das hatte eine so wohltätige Wirkung auf seine Stimmung, daß er weder Lust noch Neigung spürte, sich um ihr Benehmen zu bekümmern. Sein luchsäugiger Freund Fagin würde aber wahrscheinlich ihre Unrast auf den ersten Blick entdeckt haben und auf die Vermutung gekommen sein, daß ihr Aufgeregtsein auf irgendeinen gefährlichen Schritt hindeutete, zu dessen Ausführung sie sich erst nach einem inneren harten Kampf entschließen konnte. Freilich – Herr Sikes hatte nicht diesen scharfen Blick, wie denn auch einem so rauhen Burschen zartere Gefühlsäußerungen nicht leicht auffallen konnten.

Je näher der Abend heranrückte, desto mehr wuchs die Unruhe des Mädchens. Als sie am Bette des Einbrechers saß und wartete, daß er sich in den Schlaf trinken möge, lag eine so ungewöhnliche Blässe auf ihren Wangen, und in ihren Augen blitzte ein solches Feuer, daß es selbst Sikes auffallen mußte.

Dieser, durch das Fieber geschwächt, trank den Schnaps mit heißem Wasser vermischt, damit er weniger aufregend wirke. Er hatte Nancy gerade sein Glas gereicht, damit sie es zum dritten oder vierten Male wieder fülle, als er des Mädchens Blässe gewahrte.

„Zum Henker!“ schrie er und richtete sich im Bette auf, „du siehst ja wie eine wandelnde Leiche aus. Was ist dir?“

„Was mir ist?“ sagte das Mädchen. „Nichts! Warum starrst du mich so an?“

„Was ist das wieder für ein Blödsinn?“ tobte Sikes, dabei faßte er sie am Arm und schüttelte sie derb. „Was ist los? Was bedeutet das? Wo sind deine Gedanken?“

„Bei gar manchem, Bill“, versetzte sie schaudernd und preßte die Hände an die Augen. „Aber, lieber Gott, wäs ist da komisch dran?“

Der Ton erzwungener Heiterkeit, in dem sie die letzten Worte sprach, schien auf den Einbrecher einen tieferen Eindruck zu machen als ihr starrer Blick vorher.

„Ich will dir mal sagen, was es ist“, sagte Sikes.

„Falls du nicht vom Fieber angesteckt bist und es jetzt selbst kriegst, so führst du etwas Schlimmes im Schilde. Du wirst doch nicht hingehen – nein, Gott verdamm mich, so etwas kannst du nicht tun!“

„Was tun?“ fragte das Mädchen.

„Es gibt“, murmelte Sikes vor sich hin und richtete seinen Blick fest auf sie, „es gibt auf der ganzen Welt kein treueres und zuverlässigeres Mädel, sonst hätte ich ihr schon vor drei Monaten den Hals abgeschnitten. Sie hat das Fieber – das ist alles.“

Nachdem er sich so selbst beruhigt hatte, leerte Sikes das Glas und verlangte unter dem üblichen Gefluche seine Arznei. Das Mädchen sprang schnell auf und goß, ihm den Rücken zukehrend, die Medizin in eine Tasse, die er sogleich austrank.

„Nun“, sagte der Räuber, „komm, setze dich zu mir, zeige mir aber dein gewöhnliches Gesicht, wenn du nicht willst, daß ich es dir in einer Weise verändere, die dir das Wiedererkennen schwer macht.“

Nancy gehorchte, und Sikes, der ihre Hand fest umklammerte, legte sich auf die Kissen zurück und heftete den Blick auf sie. Nachdem er sich einigemal unruhig hin und her gewälzt hatte, fielen ihm schließlich die Augen zu, und seine Hand öffnete sich; der Arm fiel schlaff an seiner Seite nieder, und der Einbrecher lag wie in tiefer Betäubung da.

„Der Schlaftrunk hat endlich gewirkt“, murmelte sie, „doch vielleicht ist es jetzt schon zu spät.“

Sie nahm rasch ihren Hut und Schal, sah sich aber alle Augenblicke ängstlich um, als ob sie trotz des Schlaftrunks jede Sekunde den Druck von Sikes‘ schwerer Hand zu fühlen fürchte. Dann beugte sie sich langsam über den Schläfer und küßte seine Lippen, worauf sie schnell das Zimmer verließ und aus dem Hause schlüpfte.

Ein Nachtwächter rief halb zehn, und sie fragte, ob es schon lange nach dieser Zeit wäre.

„In einer Viertelstunde wird es voll schlagen“, erwiderte der Mann, ihr mit der Laterne ins Gesicht leuchtend.

„Vor einer Stunde kann ich nicht dort sein“, flüsterte Nancy und rannte eilig die Straße hinunter. Sie jagte auf dem schmalen Pflaster nur so dahin, stieß rücksichtslos die Vorübergehenden in ihrem tollen Lauf an und drängte sich mit Gewalt durch Haufen von Menschen, die ihr im Wege waren.

Es war elf Uhr abends, als sie sich dem Orte ihrer Bestimmung näherte. Dieser war ein Haus in einer ruhigen, aber schönen Straße unweit des Hydeparks. Mit einem raschen Entschlusse trat sie in den Hausflur. Die Pförtnerstube war leer. Sie blickte unsicher umher und ging auf die Treppe zu.

„Nun, junge Frau“, rief ein adrett gekleidetes Dienstmädchen aus einer Tür ihr zu, „zu wem wollen Sie denn?“

„Zu einer Dame, die in diesem Hause wohnt“, antwortete Nancy.

„Zu einer Dame?“ fragte das Mädchen und musterte Nancy unverschämt von oben bis unten. „Bitte, zu welcher Dame?“

„Zu Fräulein Maylie!“

Das Dienstmädchen forderte nun einen Diener auf, Nancy die nötige Auskunft zu geben, worauf sich dieser das Gesuch vortragen ließ.

„Wen soll ich melden?“ fragte er.

„Der Name tut nichts zur Sache!“

„Und was ist Ihr Anliegen?“ fuhr der Bediente fort.

„Das kommt auch nicht in Betracht. Ich muß die Dame selbst sprechen!“

„Da wird nichts draus“, damit schob er sie zur Haustür. „Scheren Sie sich weg!“

„Man kann mich nur mit Gewalt hinausbringen, und dazu dürften wohl zwei wie Sie nötig sein“, schrie Nancy laut. „Ist denn keiner hier“, sagte sie, sich umblickend, „der für ein armes Mädchen eine einfache Botschaft ausrichten will?“

Das machte auf einen gutmütigen Koch, der mit der anderen Dienerschaft dem Auftritte zusah, Eindruck, und er legte sich ins Mittel.

„Weißt du, Joe, tue ihr doch den Gefallen.“

„Hat doch keinen Zweck!“ versetzte der Bediente. „Die junge Dame wird doch solche Person nicht annehmen. Das glaubst du wohl selbst nicht!“

Diese Anspielung auf Nancys zweideutiges Aussehen weckte ein gewaltiges Maß tugendhafter Entrüstung in den Herzen der vier Dienstmädchen. Sie erklärten mit großer Geschwätzigkeit, dieses Geschöpf sei eine Schande ihres Geschlechts, und man könne nichts Besseres tun, als sie ohne Gnade auf die Straße zu setzen.

„Fangt mit mir an, was ihr wollt“, sagte Nancy zu den Männern, „aber tut zuerst, um was ich euch bat. Um Gottes willen, richtet meine Botschaft an die junge Dame aus.“

Der gutmütige Koch unterstützte ihre Bitte und erreichte damit, daß der zuerst erschienene Diener die Meldung übernahm.

„Also was soll ich der Herrschaft sagen?“ fragte er, mit einem Fuß auf der Treppe.

„Daß ein junges Mädchen dringend um eine Unterredung mit Fräulein Maylie unter vier Augen bittet. Die Dame wird nach meinen ersten Worten schon urteilen können, ob sie mich weiter anhören will oder mich hinauswerfen lassen muß.“

„Ich meine, das ist ein starkes Stück“, sagte einer der Diener.

„Richten Sie das aus“, versetzte Nancy bestimmt, „und lassen Sie mich die Antwort wissen.“

Der Diener eilte die Treppe hinauf. Nancy stand bleich und mit zuckenden Lippen da, als dauernd abfällige Bemerkungen über sie, in denen die züchtigen Dienstmädchen sich gar nicht genugtun konnten, an ihr Ohr drangen. Ihre Beklommenheit nahm noch zu, als der Diener zurückkam und ihr sagte, sie möge hinaufgehen.

„Was hat man eigentlich in der Welt davon, wenn man anständig bleibt?“ meinte das eine Dienstmädchen.

„Messing gilt mehr als das im Feuer erprobte Gold“, sagte das zweite.

Das dritte begnügte sich mit der Frage, aus welchem besseren Stoffe wohl Damen sein mögen.

Und das vierte übernahm den Sopran in dem harmonischen Quartett: „Es ist ’ne Sünd‘ und Schande“, womit die vier keuschen Dianen schlossen.

Ohne auf diese Redensarten zu achten – denn sie hatte wichtigere Dinge auf dem Herzen –, folgte Nancy mit zitternden Knien dem Diener in ein kleines, durch eine Hängelampe erleuchtetes Zimmer. Hier verschwand er, und sie blieb allein.

Eine denkwürdige Zusammenkunft, die gewissermaßen die Fortsetzung des vorigen Kapitels ist

Nancy hatte ihr Leben lang auf den Straßen der Hauptstadt und in den scheußlichsten Lasterhöhlen zugebracht, aber trotzdem hatte sie sich einen Rest von der Natur des Weibes bewahrt. Als sie hinter der Tür leichte sich nähernde Schritte vernahm und des großen Gegensatzes gedachte, den das kleine Gemach im nächsten Augenblick umschließen sollte, da fühlte sie sich von dem Gewicht ihrer eigenen tiefen Erniedrigung fast zu Boden gedrückt. Sie schrak zusammen, als könne sie die Gegenwart der Dame, die sie so dringend zu sprechen verlangt hatte, kaum ertragen.

Doch gegen diese besseren Gefühle kämpft der Stolz – eine Eigenschaft, die die niedrigsten und verworfensten Geschöpfe mit den Höchststehenden und sich ihres Wertes Bewußten gemein haben. Die elende Genossin von Dieben und Halunken aller Art, die tiefgesunkene Bewohnerin der gemeinsten Schlupfwinkel, die Verbündete des Auswurfs der Zuchthäuser und Galeeren, die bildlich gesprochen mit dem Strick des Henkers um den Hals lebte – selbst dieses so tief herabgewürdigte Geschöpf fühlte sich zu stolz, um auch nur die geringste Regung des weiblichen Gefühls zu verraten. Es kam ihr wie eine Schwäche vor, obgleich sie doch nur durch dieses einzige Band mit der edleren Menschheit verknüpft war, deren äußere Spuren ein wüstes Leben schon in den Tagen ihrer Kindheit verwischt hatte.

Nancy erhob die Augen so weit, um gewahren zu können, daß die Gestalt, die jetzt ins Zimmer trat, die eines zarten und schönen Mädchens war. Dann schlug sie die Augen wieder nieder und sprach mit angenommener Gleichmütigkeit:

„Es hält schwer, Sie zu Gesicht zu bekommen, Fräulein! Wäre ich empfindlich gewesen und wieder fortgegangen, wie es wohl die meisten getan hätten, so würden Sie wohl eines Tages Grund gehabt haben, es zu bereuen.“

„Es tut mir leid, wenn man Sie unhöflich behandelt hat“, sagte Rosa. „Doch denken Sie nicht mehr daran, und sagen Sie mir, warum Sie mich zu sprechen wünschen. Ich bin Fräulein Maylie.“

Der freundliche Ton dieser Antwort, die liebliche Stimme und das sanfte Benehmen, in dem keine Spur von Hochmut oder Verachtung war, überraschten Nancy derart, daß sie in Tränen ausbrach.

„Ach, Fräulein – Fräulein“, sagte Nancy, indem sie die Hände leidenschaftlich rang, „gäbe es mehr Ihresgleichen, so würden weniger sein wie ich – o gewiß.“

„Setzen Sie sich“, sprach Rosa, „Sie bringen mich in Verlegenheit. Sind Sie arm oder unglücklich, so will ich Ihnen gern helfen, soweit es in meiner Macht steht. Glauben Sie mir. – Bitte, setzen Sie sich!“

„Lassen Sie mich nur stehen, Fräulein“, sagte Nancy, immer noch Tränen vergießend, „und sprechen Sie nicht in solchem gütigen Ton zu mir, bis Sie mich besser kennen. Doch es ist spät. Ist – die – Tür verschlossen?“

„Ja“, erwiderte Rosa, einige Schritte zurücktretend, „warum ?“

„Weil ich im Begriff bin“, antwortete Nancy, „mein Leben und das Leben anderer in Ihre Hände zu legen. Ich bin das Mädchen, das den kleinen Oliver an jenem Abend, als er das Haus in Pentonville verfieß, zu Fagin, dem alten Juden, zurückschleppte.“

„Sie?“ rief Rosa erstaunt.

„Ja, ich, mein Fräulein“, sagte Nancy. „Ich bin die schlechte Person, von der Sie gehört haben, die unter Dieben lebt, und, soweit ihre Erinnerung reicht, keine bessere Heimat gekannt hat als die Straßen von London, und die keine freundlicheren Worte hörte, als wie sie der Auswurf der Menschheit von sich geben kann. Gott ist mein Zeuge, so ist’s! Ja, schrecken Sie nur vor mir zurück, Fräulein. Ich bin zwar jünger, als Sie nach meinem Außern wohl glauben mögen, allein ich bin daran gewöhnt. Die ärmsten Weiber wenden sich ab, wenn ich ihnen auf der Straße begegne.“

„Das ist ja schrecklich!“ rief Rosa, unwillkürlich einen weiteren Schritt zurückweichend.

„Danken Sie Gott auf den Knien, Fräulein“, fuhr Nancy fort, „daß Sie Freunde hatten, die über Ihre schutzlose Kindheit wachten. Daß Sie niemals Kälte und Hunger, Völlerei und Trunkenheit – und noch Schlimmeres gekannt haben, wie es bei mir von Anfang an der Fall war. Ich darf von diesen Dingen reden, da ich ein Gassenmädel bin, und die Gosse wird wohl auch dereinst mein Sterbebett sein.“

„Gott, wie ich Sie beklage“, sagte Rosa mit zitternder Stimme. „Ihre Worte schneiden mir ins Herz.“

„Gott lohne Ihnen Ihre Güte! Ach, wie würden Sie mich erst bedauern, wenn Sie wüßten, was ich manchmal bin! Aber ich habe mich von denen fortgestohlen, die mich ohne Erbarmen mordeten, wenn sie erführen, daß ich hier gewesen bin, um Ihnen mitzuteilen, was ich gehört habe. – Kennen Sie einen Mann namens Monks?“

Rosa verneinte.

„Aber er kennt Sie und weiß, daß Sie hier sind. Ich hörte ihn nämlich den Ort nennen, wo Sie wohnen, und daher gelang es mir, zu Ihnen vorzudringen.“

„Der Name ist mir vollkommen fremd.“

„Dann ist er angenommen, wie ich früher schon vermutete. Vor einiger Zeit, kurz nachdem Oliver in der Nacht des Einbruchs in Ihr Haus geschickt wurde, belauschte ich eine Unterredung, die dieser Mensch im Finstern mit dem alten Juden Fagin hatte. Ich erfuhr, daß Monks – der Mann, nach dem ich Sie vorhin fragte –“

„Ja, ich verstehe.“

„daß Monks Oliver zufällig an dem Tage, als wir ihn verloren, mit zweien von unsern Jungens gesehen hatte. Er erkannte ihn augenblicklich als das Kind, auf das er es abgesehen hatte, weshalb, konnte ich nicht herauskriegen. Es wurde eine Vereinbarung getroffen, daß Fagin eine gewisse Summe kriegen sollte, wenn Oliver wieder zurückgebracht würde. Wenn es dem Juden gelingen sollte, Oliver zum Diebe abzurichten, was Monks zu irgendeinem Zwecke wünschte, sollte er noch mehr erhalten.“

„Zu welchem Zwecke wohl?“

„In der Hoffnung, das zu erfahren, trat ich etwas näher, und da gewahrte Monks meinen Schatten an der Wand. Nur wenige außer mir wären damals wohl imstande gewesen, einer Entdeckung zu entgehen. Mir gelang es jedoch, und ich sah bis gestern abend nichts mehr von ihm.“

„Und was geschah?“

„Ich will es Ihnen sagen, Fräulein. Gestern abend kam er also wieder. Sie gingen wieder die Treppe hinauf, und ich horchte wieder an der Tür, aber so, daß mich mein Schatten nicht verraten konnte. Die ersten Worte, die ich Monks sagen hörte: waren: ‚So liegen denn die einzigen Beweise, durch die sich Oliver hätte legitimieren können, auf dem Boden des Flusses, und die alte Hexe, die sie von der Mutter erhielt, modert in ihrem Sarge.‘ Sie lachten und freuten sich, daß der Streich so gut gelungen war. Monks, der immer aufgeregter wurde, sprach noch weiter über Oliver und sagte, obwohl ihm das Geld des Jungen Teufels jetzt sicher sei, hätte er doch lieber den anderen Weg eingeschlagen. Ein Hauptspaß wäre es gewesen, das prahlerische Testament des Vaters dadurch Lügen zu strafen, daß man den Jungen durch alle Gefängnisse der Stadt hetzte und ihn dann wegen irgendeines Kapitalverbrechens aufknüpfte. Das zu bewerkstelligen, hätte Fagin ein leichtes sein müssen, und er hätte ihn zuvor noch ordentlich ausnutzen können.“

„Was bedeutet das alles?“

„Es ist die reine Wahrheit, obgleich sie von meinen Lippen kommt. Dann sagte Monks unter Verwünschungen, an die meine Ohren gewöhnt, die aber den Ihrigen fremd sind, er würde seinen Haß durch Ermordung Ofivers befriedigen, wenn er es tun könnte, ohne seinen Hals zu gefährden. Er würde aber dem Jungen sein ganzes Leben über auflauern und versuchen, ihm durch Enthüllung seiner Herkunft und durch das Erzählen seiner Geschichte auf jede Weise zu schaden. ‚Kurz und gut, Fagin‘, sagte er, ’so sehr du auch Jude bist, du hast noch nie solche Fallstricke gelegt, wie ich sie jetzt meinem Bruder Oliver legen werde.'“

„Sein Bruder?!“ rief Rosa, die Hände zusammenschlagend.

„Dies waren seine Worte“, erwiderte Nancy und sah sich wieder unruhig um. Sie hatte es die ganze Zeit über getan, denn der Gedanke an Sikes regte sie etwas auf. „Und noch mehr. Als er von Ihnen und der anderen Dame sprach, sagte er, Gott und der Teufel scheine gegen ihn im Bunde zu sein, daß Oliver gerade in Ihre Hände kommen mußte. Aber es läge auch einiger Trost darin, fuhr er höhnisch lächelnd fort, daß Sie nicht wüßten, wer Ihr zweibeiniger Schoßhund sei. Denn Sie würden tausende und hunderttausende Pfund geben, falls Sie sie hätten, wenn Sie es erführen.“

„Sie wollen mich doch nicht glauben machen“, sagte Rosa erblassend, „daß er das im Ernst sagte.“

„Wenn je ein Mensch im Ernst gesprochen hat, so tat er es. Er pflegt nicht zu scherzen, wenn der Haß in ihm wach wird. Ich kenne viele, die noch schlimmere Dinge tun, aber ich wollte sie alle lieber ein dutzendmal davon sprechen hören als diesen Monks nur ein einziges Mal. – Doch es ist schon spät, und zu Hause darf man nicht ahnen, daß ich hier gewesen bin. Ich muß eilen, um wieder heimzukommen.“

„Aber was kann ich tun?“ fragte Rosa. „Was kann ich mit Ihren Mitteilungen ohne Sie anfangen? Sie wollen wieder zurück? Warum wollen Sie wieder zu Leuten, die sie in so schrecklichen Farben gezeichnet haben? Wenn Sie Ihre Aussage in Gegenwart eines Herrn wiederholen wollen, den ich sofort aus dem nächsten Zimmer rufen kann, so können wir Sie, ehe eine halbe Stunde um ist, an einem sicheren Orte unterbringen.“

„Ich wünsche zurückzukehren“, entgegnete Nancy. „Ja, ich muß zurückkehren, weil – doch wie kann ich über solche Dinge mit einer so unschuldigen Dame wie Sie sprechen – weil unter den Menschen, von denen ich Ihnen erzählte, einer ist – und zwar einer der fürchterlichsten – den ich nicht verlassen kann. Nicht einmal, wenn ich von meinem gegenwärtigen Leben erlöst würde.“

„Sie haben sich schon früher Olivers angenommen, Sie sind unter großer Gefahr hierhergekommen, um mir mitzuteilen, was Sie gehört haben, Ihr ganzes Benehmen ist mir Bürge für die Wahrheit Ihrer Worte; und dann Ihre augenscheinliche Zerknirschung – alles das gibt mir die Überzeugung, daß Sie noch gerettet werden können. Ach“, fuhr Rosa tiefernst fort und faltete die Hände, während ihr die Tränen über die Backen liefen, „verschließen Sie Ihr Ohr nicht den Bitten einer Angehörigen Ihres eigenen Geschlechts – der ersten vielleicht, die jemals mitleidend und mitfühlend zu Ihnen gesprochen hat. Hören Sie auf mich und lassen Sie sich durch mich zu einem besseren Leben rettcnl“

„Fräulein!“ rief Nancy und sank auf die Knie, „teures, süßes, engelisches Fräulein! Sie sind die erste, die mich mit solchen Worten beglückt. Würde ich sie vor Jahren vernommen haben, so hätten sie mich wohl einem Leben voll Sünde entreißen können. jetzt ist es zu spät!“

„Reue und Buße kommen nie zu spät.“

„Doch, es ist zu spät“, schrie Nancy im höchsten Seelen-, schmerz, „ich kann von ihm jetzt nicht fort, unmöglich kann ich ihn dem Tode verfallen lassen.“

„Wieso sollte das sein?“

„Nichts könnte ihn retten; wenn ich anderen erzählte, was ich Ihnen beichtete, und dadurch die Verhaftung der in der Sache Verwickelten herbeiführte, so wäre sein Tod gewiß. Er ist der Verwegenste von allen gewesen und hat schreckliche Dinge begangen!“

„lst’s möglich, daß Sie eines solchen Menschen wegen auf jede Hoffnung für die Zukunft und die Gewißheit einer sofortigen Rettung verzichten? Das ist doch Wahno sinn!“

„Ich weiß nicht, was es ist, ich weiß nur, daß es so ist, und nicht nur bei mir allein, sondern auch bei hundert anderen, die eben so schlecht und verkommen sind wie ich. Ich muß zurück! Vielleicht ist es die Strafe Gottes für das viele Böse, was ich getan habe. Es zieht mich zu ihm hin, trotz aller Leiden und Mißhandlungen, die ich zu erdulden habe, und ich kann nicht von ihm lassen, selbst wern ich wüßte, daß ich mal durch seine Hand sterben soll!“

„Was ist da nur zu tun? Ich sollte Sie so nicht fortlassen.“

„Sie müssen es, Fräulein, und ich weiß, Sie werden es. Sie werden mich nicht zurückhalten, weil ich Ihrer Güte vertraute und Ihnen, wie ich eigentlich hätte tun sollen, kein Versprechen abverlangte.“

„Was kann mir dann aber Ihre Erzählung nutzen? Man muß doch diesem Geheimnis auf den Grund gehen. Wie können wir denn sonst Oliver helfen, dem zu nützen Ihnen doch so viel am Herzen liegt?“

„Sie kennen vielleicht irgendeinen Ihnen wohlwollenden Herrn, dem Sie das Geheimnis anvertrauen können und der Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen will“, sagte Nancy.

„Aber wo kann ich Sie wiedersehen, wenn es nötig sein sollte. Ich will nicht wissen, wo diese schrecklichen Menschen hausen, aber wo wird man Sie zu einer bestimmten Zeit wieder treffen können, etwa auf einem Spaziergange?“

„Wollen Sie mir versprechen, daß mein Geheimnis bei Ihnen aufs strengste bewahrt wird, und daß Sie allein oder nur mit dem Herrn, dem Sie Ihr Vertrauen geschenkt haben, kommen wollen, und daß ich in keiner Weise beobachtet oder verfolgt werde?“ fragte Nancy.

„Ich verspreche es Ihnen feierlichst“ , antwortete Rosa.

‚“So will ich, wenn ich am Leben bleibe, jeden Sonntag zwischen elf und zwölf Uhr nachts auf der Londoner Brücke auf und ab gehen!“

„Bleiben Sie noch einen Augenblick“, bat Rosa, als Nancy rasch zur Tür ging. „Denken Sie noch einmal über Ihre Lage nach und erwägen Sie, welche günstige Gelegenheit Ihnen geboten wird, sie hoffnungsvoll zu ändern. Sie haben einen Anspruch auf meinen Dank nicht nur als Überbringerin so wichtiger Nachrichten, sondern auch als eine Unglückliche, die sich selbst verloren hat. Sie wollen zu diesem Diebesgesindel und diesem Verbrecher zurückgehen, trotzdem ein einziges Wort Sie retten kann? Ach, ist denn in Ihrem Herzen keine Saite, die ich zum Klingen bringen kann? Gibt es gar nichts, was gegen diese Verblendung mir zur Hilfe kommen kann?“

„Wenn junge Damen, so schön und gut und liebenswürdig wie Sie, ihr Herz verschenken“, versetzte Nancy mit fester Stimme, „so macht die Liebe sie zu Opfern fähig – selbst wenn sie eine Heimat, Freunde, Anbeter haben – kurz alles, was sie sich nur wünschen können. Wenn aber solche wie ich, die kein sichereres Dach als den Deckel ihres Sarges und in der Stunde der Krankheit und des Todes keinen anderen Freund haben als die Krankenhauswärterin, ihr liebebedürftiges Herz an einen Mann hängen und ihm darin die Stelle der Eltern, der Heimat und der Freunde einräumen – wer kann da hoffen, solche Geschöpfe zu heilen? Bemitleiden Sie uns, daß uns nur dieses einzige weibliche Gefühl geblieben ist und daß es, statt unser Stolz und Trost zu sein, durch Gottes schwere Richterhand eine Quelle neuer Leiden und neuen Fluches geworden ist.“

„Sie werden aber doch etwas Geld von mir annehmen“, sagte Rosa nach einer Pause, „daß Sie bis zu der Zeit wenigstens, wo wir uns wiedersehen, ohne Schande leben können.“

„Keinen Pfennig!“ erwiderte Nancy und hob die Hand abwehrend.

„Verschließen Sie Ihr Herz doch nicht gegen alle meine Bemühungen, Ihnen zu helfen“, sagte Rosa näher tretend. „Ich möchte Ihnen gern dienlich sein.“

„Sie könnten mir den größten Dienst erweisen, Fräulein“, versetzte Nancy und rang die Hände, „wenn Sie mir mit einemmal das Leben nehmen würden, denn der Gedanke an das, was ich bin, ist mir heute nacht mehr und schmerzlicher zum Bewußtsein gekommen als je. Auch wäre es ein Trost, nicht in derselben Hölle zu sterben, in der ich gelebt habe. Gott segne Sie, mein liebes Fräulein, und er möge Ihnen so viel Glück spenden, als ich Schande auf mein Haupt geladen habe!“

Mit diesen Worten und laut schluchzend verließ die Unglückliche das Zimmer. Aufs höchste ergriffen sank Rosa Maylie auf einen Stuhl und versuchte ihre wirren Gedanken zu sammeln. Die Unterredung erschien ihr mehr ein flüchtiger Traum zu sein als Wirklichkeit.

Enthält neue Entdeckungen und zeigt, daß Überraschungen gleich Unglücksfällen selten allein kommen

Rosas Lage war in der Tat eine ungemein schwierige, denn während sie glühend wünschte, das Geheimnis zu lüften, das Olivers Geschichte umgab, durfte sie das Vertrauen nicht mißbrauchen, welches ihr das unglückliche Geschöpf geschenkt hatte. Nancys Benehmen und ihre Worte hatten Rosas Herz gerührt und zu der Liebe für ihren jungen Schützling gesellte sich der kaum weniger heiße Wunsch, die Verlorene einem besseren Leben wieder zu gewinnen.

Die Damen hatten die Absicht, nur drei Tage in London zu bleiben und dann auf einige Wochen nach einem Seebad abzureisen. Heute war der erste Tag um. Was konnte man in den nächsten achtundvierzig Stunden erreichen? Und wie konnte sie einen Aufschub der Reise erlangen, ohne Verdacht zu erregen?

Herr Losberne war bei ihnen auf Besuch und wollte auch noch die beiden nächsten Tage bleiben. Aber Rosa kannte die Heftigkeit dieses Ehrenmannes zu gut und sah seinen Zorn deutlich voraus, den er über die Person ergießen würde, die das Werkzeug zu Olivers Entführung war. Sie konnte ihm deshalb ihr Geheimnis nicht anvertrauen, wenigstens nicht so lange, bis ihre Fürsprache zugunsten Nancys von einer anderen Seite unterstützt würde.

Aus denselben Gründen beobachtete sie auch gegen Frau Maylie die größte Vorsicht, da deren erster Schritt sicher eine Besprechung der Angelegenheit mit dem würdigen Doktor gewesen wäre. Ebenso war auch nicht daran zu denken, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen, selbst wenn sie gewußt hätte, wie man das anzustellen hat. Einmal kam ihr der Gedanke, Harry um Beistand zu ersuchen, aber in der Erinnerung an den letzten Abschied schien es ihr unwürdig, ihn herzubitten, da er es vielleicht über sich gewonnen hatte, sie zu vergessen und sich in der Ferne glücklich fühlte. Die Tränen schossen ihr in die Augen, als sie daran dachte.

Rosa brachte eine schlaflose Nacht zu, da sie nicht wußte, wie sie handeln sollte und zu keinem Entschluß kommen konnte. Als sie am anderen Morgen aufs neue mit sich zu Rate gegangen war, beschloß sie in ihrer Verzweiflung, doch Harry Maylie in ihr Geheimnis einzuweihen.

„Es ist ihm vielleicht schmerzlich, wieder zurückzukommen“, dachte sie, „aber wie schmerzlich wird es erst für mich sein! Vielleicht kommt er aber gar nicht und macht die Sache schriftlich ab. Oder er kommt und meidet mich ängstlich, wie er es tat, als er abreiste. Ich hatte es damals nicht erwartet, aber es war für uns beide besser.“

Rosa ließ die Feder fallen und wandte sich ab, als sollte selbst das Papier, dem sie ihre Botschaft anzuvertrauen gedachte, nicht Zeuge ihrer Tränen sein.

Sie hatte die Feder wohl fünfzigmal ergriffen und ebensooft wieder weggelegt, und ohne eine Zeile zu schreiben, hin und her überlegt, wie sie ihren Brief anfangen sollte, als Oliver, der, mit Herrn Giles als Leibwächter, in der Stadt spazieren gegangen war, in großer Aufregung ins Zimmer stürzte.

„Warum siehst du so verstört aus?“ fragte Rosa, ihm entgegengehend.

„Ich weiß nicht warum, mir ist die Kehle wie zugeschnürt“, antwortete der Junge. „Lieber Gott, denken zu dürfen, daß ich ihn doch noch sehen soll und Ihnen nun beweisen kann, wie ich in allem die Wahrheit gesprochen habe!“

„Ich zweifelte nie, daß du uns etwas anderes als die Wahrheit sagtest, liebes Kind. Aber was ist? Von wem sprichst du?“

„Ich habe den Herrn wiedergesehen“, antwortete Oliver ganz aufgeregt, so daß er kaum die Worte herausbringen konnte, Den Herrn, der so gut zu mir war. Herrn Brownlow, von dem wir so oft gesprochen haben.“

„Wo?“

„Er stieg aus einer Kutsche und ging in ein Haus“, erwiderte Oliver, und Tränen der Freude rannen ihm über die Backen. „Ich habe nicht mit ihm gesprochen – ich konnte nicht mit ihm reden, denn er sah mich nicht. Ich zitterte so, daß ich nicht imstande war, auf ihn zuzueilen. Aber Giles hatte sich erkundigt, ob er dort wohne, und man bejahte es. Sehen Sie hier –“, damit holte er ein Stück Papier aus der Tasche – „hier wohnt er, ich will sogleich hingehen. Ach, wie werde ich mich freuen, wenn ich ihn wiedersehe und seine Stimme höre.“

Rosa nahm das Papier und las Cravenstraße, Strand. Sie entschloß sich sofort, diese Entdeckung auszunutzen.

„Schnell“, sagte sie, „laß eine Droschke kommen und mache dich fertig, um mich zu begleiten. Ich will sofort mit dir Herrn Brownlow besuchen und nur noch vorher der Tante sagen, daß wir auf eine Stunde ausgehen wollen. Ich werde ebenso rasch angezogen sein wie du.“

Oliver ließ sich das nicht zweimal sagen, und ehe fünf Minuten um waren, befanden sie sich auf dem Wege nach der Cravenstraße. Als sie dort angekommen waren, ließ Rosa Oliver im Wagen unter dem Vorwande, daß sie den alten Herrn erst auf seinen Besuch vorbereiten wolle.

Sie schickte durch den Diener Herrn Brownlow ihre Karte mit der Bitte, ihn in einer wichtigen Angelegenheit sprechen zu dürfen. Der Bediente kehrte bald mit der Nachricht zurück, daß sie erwartet würde und führte Fräulein Maylie in ein Zimmer des Oberstocks, wo ihr ein ältlicher Herr mit gutmütigen Gesichtszügen im grünen Anzug zuerst ins Auge fiel. Neben ihm saß ein anderer alter Herr in Nankingbeinkleidern, der nicht besonders freundlich aussah und die Hände über dem Knauf eines dicken Stockes verschlungen hielt, worauf er sein Kinn gelegt hatte.

„Ach“, sagte der Herr im grünen Anzug und sprang schnell auf, „ich bitte um Verzeihung, gnädiges Fräulein, – ich glaubte, es wäre irgendeine zudringliche Person, die – bitte entschuldigen Sie mich. Aber nehmen Sie doch Platz!“

„Sie sind Herr Brownlow, nicht wahr?“ fragte Rosa und wandte ihren Blick von dem anderen Herrn ab und dem Sprecher zu.

„Der bin ich“, antwortete der Herr. „Und hier mein Freund, Herr Grimwig. – Grimwig, wollen Sie uns auf ein paar Minuten allein lassen?“

„Ich glaube nicht“, fiel Rosa ein, „daß es nötig ist, den Herrn zu bemühen. Wenn ich recht berichtet bin, so ist ihm die Angelegenheit nicht unbekannt, die mich zu Ihnen führt.“

Herr Brownlow stimmte durch ein Kopfnicken zu, und Herr Grimwig, der eine sehr steife Verneigung gemacht und sich erhoben hatte, machte eine zweite ebenso steife Verbeugung und nahm wieder Platz.

„Ich glaube, daß ich Sie mit meinen Mitteilungen sehr überraschen werde“, sagte Rosa in einiger Verlegenheit. „Sie haben einmal einem mir sehr teuern, jungen Freunde viel Güte und Wohlwollen erwiesen, und ich bin deshalb davon überzeugt, daß Sie es freuen wird, wieder von ihm zu hören.“

„So?“ sagte Herr Brownlow.

„Sie kennen ihn als Oliver Twist“, versetzte Rosa.

Diese Worte waren kaum ihrem Munde entflohen, als Grimwig, der so getan hatte, als lese er in einem auf dem Tische liegenden großen Buch, dasselbe mit großem Geräusch zuschlug, sich im Stuhl zurücklehnte und Rosa ganz erstaunt und mit großen, starren Augen ansah. Dann schnellte er sich mit einer krampfhaften Anstrengung in seine vorherige Stellung wieder zurück, als ob er sich schäme, soviel Überraschung gezeigt zu haben.

Er guckte gerade vor sich hin und ließ ein langes und tiefes Pfeifen vernehmen, das jedoch nicht in der Luft, sondern in den innersten Winkeln seines Magens zu ersterben schien.

Herr Brownlow war nicht weniger erstaunt, doch gab sich seine Überraschung nicht in der gleichen seltsamen Art kund. Er rückte mit seinem Stuhle Fräulein Maylie näher und sprach:

„Tun Sie mir den Gefallen, gnädiges Fräulein, die Güte und das Wohlwollen, von denen Sie sprachen und von denen außer Ihnen niemand etwas weiß, mal ganz aus dem Spiele zu lassen. Wenn es Ihnen aber möglich ist, etwas anzuführen, das geeignet ist, die ungünstige Meinung, die ich über den Jungen mir bilden mußte, zu ändern, so bitte ich Sie inständig darum.“

„Ein schlechter Junge – ich will meinen Kopf aufessen, wenn er nicht ein schlechter Junge ist“, brummte Herr Grimwig wie ein Bauchredner, denn er verzog dabei keine Muskel seines Gesichts.

„Der Knabe besitzt ein edles und warmes Herz“, sagte Rosa errötend, „und Gott, dem es gefallen hat, ihm Prüfungen, die über seine Jahre hinausgingen, aufzuerlegen, hat in seine Brust Gefühle gepflanzt, die vielen Ehre machen würden, die sechs mal so alt sind als er.“

„Ich bin erst einundsechzig“, meinte Herr Grimwig mit demselben unbeweglichen Gesicht, „und da es mit dem Teufel zugehen müßte, wenn dieser Oliver nicht mindestens zwölf Jahre alt ist, so finde ich nichts Zutreffendes in dieser Bemerkung.“

„Hören Sie nicht darauf, was mein Freund sagt, Fräulein Maylie, er meint es nicht so schlimm, wie es sich anhört“, sprach Herr Brownlow.

„Doch meint er es so“, brummte Herr Grimwig.

„Nein, er meint es nicht so“, entgegnete Herr Brownlow, ärgerlich werdend.

„Er will seinen Kopf aufessen, wenn er es nicht so meint“, versicherte Herr Grimwig.

„Er verdiente, daß man ihm denselben abschlüge, wenn er es täte“, sagte Herr Brownlow.

„Und er möchte den Mann sehen, der es versuchen wollte“, versetzte Herr Grimwig und stieß seinen Stock heftig auf den Boden.

Nachdem es soweit gekommen war, nahm jeder von den beiden alten Herren eine Prise, worauf sie sich, wie gewöhnlich, zum Zeichen der Versöhnung die Hände schüttelten.

„Nun, gnädiges Fräulein“, sagte Herr Brownlow, „kehren wir wieder zu der Angelegenheit zurück, an der Ihre Menschenfreundlichkeit so regen Anteil nimmt. Darf ich fragen, welche Nachrichten Sie von dem armen Kinde haben? Erlauben Sie mir vorauszuschicken, daß ich alle mir zu Gebote stehenden Mittel erschöpfte, ihn ausfindig zu machen. Auch meine erste Ansicht, von Oliver betrogen und auf Anraten seiner früheren Diebesgenossen bestohlen worden zu sein, hat seit meiner Auslandreise einen beträchtlichen Stoß erlitten!“

Rosa, die inzwischen Zeit gehabt hatte, ihre Gedanken zu sammeln, berichtete nun in kurzen Worten, was sich mit Oliver zugetragen hatte, seit er Herrn Brownlows Haus verließ. Nur für die Mitteilungen Nancys behielt sie sich eine Unterredung unter vier Augen vor. Sie schloß mit der Versicherung, sein einziger Kummer seit mehreren Monaten sei nur immer gewesen, daß er seinen ehemaligen Freund und Wohltäter nirgends habe finden können.

„Gottlob!“ rief der alte Herr. „Diese Nachricht macht mich über die Maßen glücklich. Sie haben mir aber noch nicht gesagt, wo er sich gegenwärtig befindet. Verzeihen Sie, wenn ich es Ihnen zum Vorwurf mache, ihn nicht gleich mitgebracht zu haben.“

„Er wartet im Wagen vor der Haustür“, sagte Rosa.

„Vor meiner Haustür?“ rief der alte Herr und rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und an den Wagen.

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hob Herr Grimwig seinen Kopf hoch und ließ mit Hilfe seines Stockes und des Tisches seinen Stuhl auf einem Hinterbein drei Kreise beschreiben, ohne dabei seinen Sitz zu verlassen. Nachdem er das Kunststück ohne Unfall fertiggebracht hatte, stand er auf und hinkte wohl ein dutzendmal, so schnell er konnte, im Zimmer auf und ab, machte dann plötzlich vor Rosa halt und gab ihr ohne weitere Umstände einen Kuß.

„Pst!“ flüsterte er, als die junge Dame ob dieses uns gewöhnlichen Beginnens bestürzt aufstand. „Haben Sie keine Angst! Ich bin alt genug, um Ihr Großvater sein zu können. Sie sind ein prächtiges Mädel – Sie gefallen mir. – Doch da kommen sie schon!“

Durch eine geschickte Wendung brachte er sich wieder in seine frühere Stellung auf dem Stuhle, und gleich darauf trat Herr Brownlow mit Oliver ins Zimmer, der von Herrn Grimwig sehr gnädig empfangen wurde. Wäre die Freude, die Rosa in diesem Augenblick empfand, die einzige Entschädigung für alle Ängste und Sorgen gewesen, die sie Olivers wegen schon gehabt hatte, sie würde sich reich belohnt gefühlt haben.

„Es ist noch jemand da, den wir nicht vergessen dürfen“, sprach Herr Brownlow, den Klingelzug ergreifend. „Ich lasse Frau Bedwin bitten“, rief er dem eintretenden Diener zu.

Die betagte Hausdame kam sogleich und, einen Knicks machend, harrte sie der Befehle.

„Mein Gott, Sie werden alle Tage blinder“, sagte Herr Brownlow ärgerlich.

„Das stimmt“, erwiderte die gute Alte. „Ich habe aber nie gehört, daß die Augen mit dem Alter besser werden.“

„Das hätte ich Ihnen auch sagen können“, entgegnete Herr Brownlow, „aber setzen Sie Ihre Brille auf und sehen Sie zu, ob Sie nicht selbst herauskriegen, weshalb ich Sie rufen ließ!“