Achtundzwanzigstes Kapitel.


Achtundzwanzigstes Kapitel.

Niemands Verschwinden.

Nicht zufrieden mit seinen Bemühungen, wieder zu seiner verlorenen Pflegbefohlenen zu kommen, richtete Mr. Meagles einen Brief voll der freundlichsten Vorstellungen nicht nur an sie, sondern auch an Miß Wade. Als keine Antwort auf diese Briefe und auf einen andern kam, der von der Hand ihrer ehemaligen jungen Herrin an das starrköpfige Mädchen gerichtet war, und der sie hätte vor Rührung vergehen machen müssen, wenn irgend etwas das noch vermocht hätte (alle drei Briefe kamen einige Wochen später, als an der Haustür abgewiesen, zurück), veranlaßte er Mrs. Meagles, den Versuch einer persönlichen Unterredung zu machen. Als diese würdige Dame außerstande war, eine solche zu erhalten, und die Zulassung hartnäckig verweigert wurde, bat Mr. Meagels Arthur, noch einmal zu versuchen, was er tun könne. Das ganze Resultat der Erfüllung dieses Wunsches war, daß er entdeckte, daß das leere Haus der Obhut der alten Frau anvertraut worden, daß Miß Wade fort war, daß das Gewirr und Durcheinander von Möbeln fort war, und daß die alte Frau jede Summe von halben Kronen annehme und dem Geber freundlich danke, aber nicht die geringste weitere Auskunft als Ersatz für diese Münze zu geben vermochte, als daß sie beständig ein Verzeichnis von nagelfestem Hausgerät zur Schau bot, das der Schreiber des Hausvermieters in dem Flur gelassen.

Da Mr. Meagles trotz dieser Niederlage nicht auf die Undankbare verzichten und sie der Hoffnungslosigkeit preisgeben wollte, im Fall daß ihre besseren Gesinnungen die Oberhand über die dunklere Seite ihres Charakters gewännen, ließ er sechs Tage hintereinander eine sehr zart andeutende Anzeige in die Morgenzeitungen einrücken, die besagte, daß, wenn eine gewisse junge Person, die kürzlich unüberlegterweise die Heimat verlassen, sich irgendwann an seine Adresse in Twickenham wenden wollte, alles wieder wie früher sein würde und sie keine Vorwürfe zu erwarten hätte. Die unerwarteten Folgen dieser Anzeige belehrten den erschrockenen Mr. Meagles zum ersten Male, daß täglich einige hundert junger Leute ihre Heimat unüberlegterweise verlassen. Es kamen nämlich Haufen von ungeratenen jungen Leuten nach Twickenham, die, als sie sich nicht mit Enthusiasmus aufgenommen sahen, gewöhnlich eine Entschädigung außer der Wagenmiete für hin und zurück verlangten. Und dies waren nicht mal die einzigen uneingeladenen Klienten, die die Anzeige herbeiführte. Der Schwarm von Bettelbriefschreibern, die immer gierig nach jedem Haken, er mag noch so klein sein, suchen, um einen Brief daran aufzuhängen, machte ihm die schriftliche Mitteilung, daß sie nach Lesung der Anzeige sich veranlaßt sähen, mit Zuversicht um verschiedene Summen, von zehn Schillingen an bis zu zehn Pfund, nachzusuchen, nicht weil sie irgend etwas von der jungen Person wüßten, sondern weil sie fühlten, daß es das Gefühl dessen, der die Anzeige eingerückt, erleichtern würde, wenn er sich von diesen Gaben trennte. Verschiedene Erfinder benutzten gleichfalls die Gelegenheit, mit Mr. Meagles zu korrespondieren, um ihn zum Beispiel davon in Kenntnis zu setzen, daß sie von einem Freunde auf die Anzeige aufmerksam gemacht worden wären. Sie wollten ihm versichern, sie würden, wenn sie etwas von der jungen Person erfahren, nichts unterlassen, das ihm augenblicklich kundzutun. Wenn er sie in der Zwischenzeit mit dem nötigen Scheck zur Vollendung einer gewissen gänzlich neuen Art von Brunnenpumpen unterstützen wollte, so würde dies die glücklichsten Resultate für die ganze Menschheit haben.

Mr. Meagles und seine Familie hatten bei diesen sich häufenden Entmutigungen mit Widerstreben begonnen, Tattycoram als unwiederbringlich verloren zu betrachten, als die neue tätige Firma von Doyce und Clennam in ihrer Privateigenschaft als Freunde sich eines Samstags hinausbegab, um bis zum Montag auf dem Landhaus zu verweilen. Der ältere Geschäftsteilhaber nahm einen Wagen, und der jüngere Geschäftsteilhaber nahm seinen Spazierstock.

Ein ruhiger Sommersonnenuntergang beleuchtete die Gegend, als er sich dem Ende seines Weges näherte und am Ufer hin durch die Wiesen ging. Er hatte das Gefühl des Friedens und der Freiheit von Sorgen, die das ruhige Land in der Brust der Stadtbewohner erweckt. Alles, was sein Blick umfaßte, war anmutig und freundlich. Das volle Laub der Bäume, das üppige Gras mit der bunten Abwechslung von wilden Blumen, die kleinen grünen Inseln im Flusse; die Beete von Schilf, die Wasserlilien, die auf der Oberfläche des Stromes schwammen, die fernen Stimmen in den Booten, die, bis sie durch das Rauschen des Wassers und die Abendluft zu ihm drangen, etwas Harmonisches bekamen. Alles drückte Ruhe aus. In dem zufälligen Sprung eines Fisches oder dem Brüllen einer Kuh, in allen diesen Tönen sprach sich der vorherrschende Atem der Ruhe aus, die in jedem Duft wiederzukehren schien, der die üppige Luft durchwürzte. Die langen Linien von Rot und Gold in den Wolken und die herrliche Bahn der untergehenden Sonne waren alle göttlich ruhig. Auf den purpurnen Baumwipfeln in der Ferne und auf der grünen Höhe in der Nähe, an der die Schatten langsam hinzogen, herrschte eine ähnliche Stille. Zwischen der wirklichen Landschaft und ihrem Schatten im Wasser war kein Unterschied. Beide waren so unbewegt und klar, so voll des feierlichen Geheimnisses von Leben und Tod und doch so hoffnungsvoll beruhigend für des Beschauers besänftigtes Herz, weil so sanft und gnadenvoll schön!

Clennam war nicht einmal, sondern oftmals stehengeblieben, um sich umzuschauen und die Eindrücke der Umgebung in seiner Seele tief aufzunehmen, wie die Schatten, auf die seine Blicke fielen, immer tiefer und tiefer in das Wasser zu sinken schienen. Er setzte eben langsam seinen Weg fort, als er eine Gestalt auf dem Pfade vor sich sah, die sich ihm vielleicht bereits mit dem Abend und seinen Eindrücken vermischt hatte.

Minnie war da, allein. Sie hatte einige Rosen in ihrer Hand und schien stehengeblieben zu sein, als sie ihn sah, um auf ihn zu warten. Ihr Gesicht war ihm zugewandt, und sie schien von der entgegengesetzten Richtung her zu kommen. Es war etwas Unruhiges in ihrem Wesen, das Clennam nie zuvor bemerkt hatte; und als er ihr nahe kam, stieg plötzlich der Gedanke in ihm auf, daß sie in der Absicht hier sei, um mit ihm zu sprechen.

Sie gab ihm ihre Hand und sagte: »Sie wundern sich, daß Sie mich hier ganz allein sehen? Aber der Abend ist so angenehm, daß ich weiter fortgeschlendert bin, als ich anfangs im Sinne hatte. Ich hielt es für wahrscheinlich, daß ich Ihnen begegnen würde, und das machte mich zuversichtlicher. Sie kommen doch immer diesen Weg, nicht wahr?«

Als Clennam sagte, es sei sein Lieblingsweg, fühlte er ihre Hand auf seinem Arme erbeben und sah die Rosen zittern.

»Wollen Sie mir erlauben, daß ich Ihnen eine gebe, Mr. Clennam? Ich sammelte sie, als ich aus dem Garten kam. Wahrhaftig, ich sammelte sie für Sie, da ich es für sehr wahrscheinlich hielt, daß ich Ihnen begegnen würde. Mr. Doyce ist vor mehr als einer Stunde angekommen und sagte uns, Sie seien auf dem Weg hierher.«

Seine eigne Hand zitterte, als er eine oder zwei Rosen von ihr empfing und ihr dankte. Sie waren nun bei einer Baumallee. Ob sie auf seine oder ihre Veranlassung hin in dieselbe einbogen, hat wenig zu sagen. Er wußte nie, wie das kam.

»Es ist sehr dunkel hier«, sagte Clennam, »aber sehr angenehm zu dieser Stunde. Wenn wir durch diesen tiefen Schatten gehen und durch den Lichtbogen am andern Ende hinausschreiten, so kommen wir, glaube ich, auf dem besten Weg zu der Fähre und dem Landhaus.«

In ihrem einfachen Gartenhut und ihrem leichten Sommerkleid, mit ihrem reichen braunen Haar, das in natürlichen Locken herabrollte, und die wundervollen Augen für einen Augenblick zu den seinen erhoben, mit einem Blick, in dem Achtung vor ihm und Zutrauen zu ihm auffallend mit einer Art ängstlicher Besorgtheit für ihn verbunden waren, erschien sie so schön, daß es gut für seinen Frieden war – oder schlimm für seinen Frieden, er wußte selbst nicht genau, was –, daß er jenen entscheidenden Entschluß gefaßt hatte, über den er so oft nachgedacht.

Sie brach ein momentanes Schweigen, indem sie fragte, ob er wisse, daß Papa wieder an eine Reise ins Ausland gedacht habe? Er sagte, er habe davon sprechen hören. Sie brach ein abermaliges momentanes Schweigen, indem sie mit einigem Zögern hinzufügte, daß Papa die Idee aufgegeben hätte.

Er dachte sogleich, »sie werden sich also heiraten.«

»Mr. Clennam«, sagte sie, noch ängstlicher zögernd und so leise sprechend, daß er seinen Kopf herabbeugte, um sie zu hören. »Ich möchte Ihnen sehr gern mein Vertrauen schenken, wenn Sie die Güte haben wollten, es anzunehmen. Ich hätte es Ihnen schon längst gern geschenkt, weil – ich fühlte, daß Sie unser aufrichtiger Freund sind.«

»Wie kann ich je anders als stolz darauf sein! Bitte, schenken Sie es mir. Bitte, vertrauen Sie mir.«

»Ich hätte nie Anstand genommen, Ihnen zu vertrauen«, versetzte sie und erhob ihre Augen offen zu ihm. »Ich glaube, ich hätte es schon längst getan, wenn ich gewußt, wie. Und ich weiß selbst kaum jetzt, wie.«

»Mr. Gowan«, sagte Arthur Clennam, »hat Grund, sehr glücklich zu sein. Gott segne sein Weib und ihn!«

Sie weinte, als sie ihm zu danken versuchte. Er beruhigte sie, ergriff ihre Hand, die mit den zitternden Rosen darin auf seinem Arme lag, nahm die übrigen Rosen aus derselben und brachte sie an seine Lippen. In diesem Augenblick war es ihm, als ob er jetzt ganz auf die schwindende Hoffnung verzichtete, die in Niemandes Herz geflackert, so sehr zu seiner Pein und Qual; und von dieser Zeit an wurde er in seinen Augen, in bezug auf jede ähnliche Hoffnung oder Aussicht, ein sehr viel älterer Mann, der mit diesem Teil des Lebens abgeschlossen.

Er steckte die Rosen an seine Brust, und sie gingen kurze Zeit langsam und schweigend unter den schattigen Bäumen weiter. Dann fragte er sie mit einer Stimme voll inniger Freundlichkeit: ob sie ihm, als ihrem Freund und ihres Vaters Freund, der manches Jahr älter als sie sei, noch etwas mitzuteilen habe; ob sie auf irgend etwas in ihm ihr Vertrauen setzen wolle, ob er ihr irgendeinen Dienst zu leisten, irgendeine kleine Unterstützung zu ihrem Glück zu bieten imstande wäre; sie würde ihm ein dauerndes Vergnügen bereiten, wenn er glauben dürfte, daß irgend etwas davon in seiner Macht stünde?

Sie war im Begriff zu antworten, als sie durch irgendeinen kleinen verborgenen Kummer oder ein Mitleid – was konnte es sein? – so gerührt wurde, daß sie in Tränen ausbrechend wieder sagte: »Oh, Mr. Clennam! guter, edler Mr. Clennam, bitte, sagen Sie mir, daß Sie mich nicht tadeln.«

»Ich Sie tadeln?« sagte Clennam. »Mein liebstes Kind, ich Sie tadeln? Nein.«

Nachdem sie ihre beiden Hände auf seinem Arme gefaltet und vertrauensvoll zu ihm aufgeblickt hatte, während sie in einigen raschen Worten sagte, daß sie ihm von Herzen danke (wie sie es wirklich tat), beruhigte sie sich nach und nach. Er sprach nun dann und wann ein Wort der Ermutigung, während sie langsam und beinahe schweigend unter den dunkelnden Bäumen hinschritten.

»Und nun, Minnie Gowan«, sagte Clennam endlich lächelnd, »wollen Sie mich nicht um etwas bitten?«

»Oh, ich habe sehr viel von Ihnen zu bitten.«

»Das ist gut. Ich hoffte es; ich bin nicht enttäuscht.«

»Sie wissen, wie man mich zu Hause liebt und wie ich meine Familie liebe. Sie können es sich vielleicht kaum denken, lieber Mr. Clennam«, sagte sie in sehr bewegtem Ton, »wenn sie mich aus freiem Willen aus demselben scheiden sehen, aber ich liebe sie doch so herzlich.« »Ich bin davon überzeugt«, sagte Clennam. »Können Sie glauben, ich zweifle daran?«

»Nein, nein. Aber es ist seltsam, und es erscheint mir selbst so, daß, während ich meine Familie so sehr liebe und so sehr von ihr geliebt werde, ich es über mich vermag, sie von mir zu stoßen. Es erscheint so hart, so undankbar.«

»Nein, liebes Kind«, sagte Clennam, »es liegt das in dem natürlichen Gang und Wechsel der Zeit. Alle Heimat muß man endlich verlassen.«

»Ja, ich weiß; aber nicht in jeder Familie bleibt eine solche Lücke wie in der meinen, wenn ich fort bin. Nicht, daß es an weit besseren, weit liebenswerteren und weit vollkommeneren Mädchen, als ich es bin, mangelte; nicht, daß ich etwas Bedeutendes bin; aber sie haben sich so ungemein an mich angeschlossen.«

Pets liebevolles Herz war von Gefühlen überwältigt, und sie schluchzte, während sie sich ausmalte, was geschehen würde.

»Ich weiß, welche Veränderung Papa anfangs fühlen wird, und ich weiß, daß ich anfangs ihm nichts von dem sein kann, was ich ihm seit vielen Jahren gewesen. Deshalb bitte und ersuche ich Sie jetzt, Mr. Clennam, jetzt mehr als je, seiner zu gedenken und ihm bisweilen Gesellschaft zu leisten, wenn Sie sich etwas Zeit absparen können, und ihm zu sagen, Sie wüßten, ich habe ihn noch mehr lieb, seitdem ich fort sei, als je in meinem ganzen Leben. Denn niemanden – er sagte es mir selbst, als er noch heute mit mir sprach – niemandem hat er so lieb wie Sie, und auf niemand setzt er so großes Vertrauen wie auf Sie.«

Ein Schlüssel zu dem, was zwischen Vater und Tochter vorgegangen, fiel wie ein schwerer Stein in den Born von Clennams Herz und trieb das Wasser in seine Augen. Er sagte heiter, aber nicht so heiter, wie es in seiner Absicht lag, daß das geschehen solle, und daß er ihr sein feierliches Versprechen gebe.

»Wenn ich nicht von Mama spreche«, sagte Pet bewegter und stolzer auf ihren unschuldigen Kummer, als daß Clennam selbst jetzt noch daran zu denken sich gestatten konnte, – aus welchem Grunde er die Bäume zwischen ihnen zählte, derer durch das verschwindende Licht langsam immer weniger wurden – »so geschieht es, weil Mama mich bei dieser Handlung besser verstehen und meinen Verlust auf eine andere Weise fühlen und auf andere Art in die Zukunft blicken wird. Aber Sie wissen, welch eine liebe, hingebende Mutter sie ist, und Sie werden auch ihrer gedenken, nicht wahr?«

Minnie möge ihm vertrauen, sagte Clennam; Minnie möge zuversichtlich hoffen, daß er alles tun werde, was sie wünsche.

»Und, mein lieber Mr. Clennam«, sagte Minnie, »weil Papa und jemand, den ich nicht zu nennen brauche, sich noch nicht ganz zu schätzen und zu verstehen vermögen, wie dies nach und nach geschehen wird; und weil es die Pflicht und der Stolz und die Freude meines neuen Lebens sein wird, ein besseres Verständnis zwischen ihnen anzubahnen, damit sie glücklich durch einander werden, und stolz auf einander seien und einander lieben, da sie beide mich so innig lieben; oh, so suchen Sie, als gütiger, redlicher Mann, wenn ich erst von Hause weg bin (ich gehe weit fort), Papa etwas mehr mit ihm zu versöhnen und Ihren großen Einfluß aufzuwenden, um ihn Papa frei von Vorurteil und in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Wollen Sie das als edelmütiger Freund für mich tun?«

Arme Pet! Betrogenes, getäuschtes Kind! Wann wurde je eine solche Veränderung in den natürlichen Beziehungen von Menschen zueinander, wann je eine solche Versöhnung tief innerlicher Gegensätze zustande gebracht! Es ist schon oft von andern Töchtern versucht worden, Minnie; und niemals ist es gelungen; Fehlschläge waren immer die Folge.

So dachte Clennam. Er sagte es aber nicht; es war zu spät. Er verpflichtete sich, alles zu tun, was sie verlangte, und sie war überzeugt, daß er es tun werde.

Sie waren jetzt bei dem letzten Baume der Allee angekommen. Sie blieb stehen und entzog ihm ihren Arm. Die Augen zu ihm erhoben und mit der Hand, die noch kürzlich auf seinem Arme geruht, zitternd eine von den Rosen an seiner Brust als Verstärkung der Bitte berührend, sagte sie:

»Lieber Mr. Clennam, in meinem Glück – denn ich bin glücklich, obgleich Sie mich haben weinen sehen – kann ich keine Wolke zwischen uns schweben sehen. Wenn Sie mir irgend etwas zu vergeben haben – nicht etwas, was ich mit Absicht getan, sondern irgendein Leid, das ich Ihnen ohne meinen Willen zugefügt habe oder dem abzuhelfen in meiner Macht stand, so vergeben Sie mir heute abend aus der Fülle Ihres edlen Herzens.«

Er beugte sich, um in das schuldlose Gesicht zu blicken, das ihn ohne Scheu ansah. Er küßte es und antwortete, der Himmel wisse, daß er nichts zu vergeben habe. Als er sich herabbeugte, um noch einmal in das unschuldige Gesicht zu blicken, flüsterte sie: »Leben Sie wohl!« und er wiederholte es. Es war ein Abschiednehmen von allen seinen alten Hoffnungen – allen alten ruhelosen Zweifeln jenes Niemand. Sie traten im nächsten Augenblick Arm in Arm aus der Allee, wie sie darin eingetreten waren; und die Bäume schienen sich hinter ihnen in der Dunkelheit zu schließen, wie ihr eigener Ausblick auf die Vergangenheit.

Die Stimmen von Mr. und Mrs. Meagles und Doyce wurden alsbald hörbar, da sie in der Nähe der Gartentür sprachen. Als er Pets Namen unter ihnen nennen hörte, rief Clennam: »Sie ist hier, bei mir.« Man wunderte sich und lachte, bis sie näher kamen; aber sobald sie alle beisammen waren, hörte das Lachen auf, und Pet schlüpfte weg.

Mr. Meagles, Doyce und Clennam gingen, ohne zu sprechen, am Ufer des Flusses im Lichte des aufsteigenden Mondes einige Minuten auf und ab; dann blieb Doyce zurück und ging in das Haus. Mr. Meagles und Clennam gingen zusammen noch einige Minuten, ohne zu sprechen, auf und ab, bis endlich der erstere sein Schweigen brach.

»Arthur«, sagte er, indem er zum ersten Male seit ihrer Bekanntschaft diese vertrauliche Anrede gebrauchte, »erinnern Sie sich, daß ich, als wir an einem heißen Morgen über den Hafen von Marseille hinblickend auf und ab gingen, zu Ihnen sagte: es sei Mutter und mir, als ob Pets Zwillingsschwester, die gestorben, gewachsen, wie diese gewachsen, und sich verändert hätte, wie diese sich verändert?«

»Allerdings.«

»Sie erinnern sich, daß ich Ihnen gesagt, wir hätten die Zwillingsschwestern in unsren Gedanken nie trennen können, und in unsrer Phantasie sei, was Pet war, die andere immer auch?«

»Ja, ganz richtig.«

»Arthur«, sagte Mr. Meagles sehr gebeugt, »ich spinne diese Phantasie heute abend weiter. Mir ist es heute abend, mein lieber Freund, als ob Sie mein teures Kind zärtlich geliebt und es verloren hätten, als es so alt war, wie Pet jetzt ist.«

»Ich danke Ihnen«, murmelte Clennam, »danke Ihnen!« Dabei drückte er ihm die Hand.

»Wollen Sie hereinkommen?« sagte Mr. Meagles darauf.

»Bald, sehr bald.«

Mr. Meagles ging, und er war allein. Als er ungefähr eine halbe Stunde im friedlichen Mondlicht am Ufer des Flusses auf und ab gegangen, steckte er die Hand in seine Brust und nahm sanft die Handvoll Rosen heraus. Vielleicht drückte er sie an sein Herz, vielleicht brachte er sie an seine Lippen, gewiß ist nur, daß er sich über das Ufer hinabbeugte und sie langsam in den Fluß fallen ließ. Bleich und nebelhaft im Schein des Mondlichtes führte sie der Fluß mit sich fort.

Die Lichter brannten hell, als er in das Haus trat, und die Gesichter, auf die sie schienen, das seinige nicht ausgenommen, waren bald ruhig und heiter. Sie sprachen von mancherlei Dingen; sein Geschäftsteilhaber hatte noch nie einen solchen Vorrat von Geschichten gehabt, aus dem man nur schöpfen durfte, um die Zeit angenehm zu verbringen. Dann ging es zu Bett und in die Arme des Schlafes. Indessen schwammen die Blumen bleich und nebelhaft in dem Mondlicht auf dem Flusse fort. So schwimmen noch größere Dinge, die einst unsrer Brust und unsrem Herzen nahe waren, von uns auf das Meer der Ewigkeit hinaus.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Die Maschinerie in Bewegung.

Mr. Meagles betrieb die Unterhaltung mit Daniel Doyce, die Clennam ihm übertragen, mit so tätigem Eifer, daß er die Sache ehestens in Gang brachte und eines Morgens um neun Uhr bei Clennam vorsprach, um ihm seinen Bericht zu erstatten.

»Doyce ist höchlich erfreut über Ihre gute Meinung«, sagte er, »und wünscht nichts so sehr, als daß Sie die Sachen selbst untersuchen und sich genau von dem Stande derselben unterrichten. Er hat mir die Schlüssel zu allen seinen Papieren und Büchern eingehändigt – hier in dieser Tasche rasseln sie –, und der einzige Auftrag, den er mir gegeben, ist: ›Verschaffen Sie Mr. Clennam die Mittel, sich ganz auf den gleichen Standpunkt mit mir zu stellen, daß er alles wisse, was ich weiß. Wenn es am Ende zu nichts kommen sollte, wird er mein Vertrauen achten. Wenn ich dessen nicht zum voraus gewiß wäre, möchte ich nichts mit ihm zu tun haben.‹ Und damit«, sagte Mr. Meagles, »haben Sie Daniel Doyce, wie er ist.« »Ein sehr achtungswerter Charakter.« »O ja, gewiß. Kein Zweifel. Wunderlich, aber sehr achtungswert. Freilich sehr wunderlich. Sollten Sie es glauben, Clennam«, sagte Mr. Meagles mit herzlicher Freude über seines Freundes Enthusiasmus, »daß ich einen ganzen Morgen auf dem, wie heißt er nur, Yard –« »Bleeding Heart14« »Einen ganzen Morgen auf dem Bleeding Heart Yard zubrachte, ehe ich ihn überreden konnte, sich nur auf die Sache einzulassen?« »Wieso das?« »Wieso das kam, mein Freund? Ich hatte kaum Ihren Namen in Verbindung mit der Sache genannt, als er erklärte, nichts davon wissen zu wollen.« »Nichts davon wissen zu wollen, meinetwegen?« »Ich hatte kaum Ihren Namen genannt, Clennam, als er sagte: ›Das wird nicht gehen!‹ Was er damit meine? fragte ich ihn. ›Nichts, Meagles; das wird nicht gehen.‹ Warum würde es nicht gehen? Sie werden es kaum glauben, Clennam«, sagte Mr. Meagles innerlich lachend, »aber es kam endlich heraus, es werde nicht gehen, weil Sie und er auf dem Wege nach Twickenham in ein freundliches Gespräch sich miteinander eingelassen hätten, in dessen Verlauf er auf seine Absicht, einen Kompagnon anzunehmen, zu sprechen gekommen, da er damals angenommen, daß Sie so fest und dauernd etabliert seien wie die Paulskirche. ›Nun könnte Mr. Clennam‹, sagte er, ›vielleicht glauben, wenn ich auf seinen Vorschlag einginge, ich hätte bei dem, was ein offenes, ehrliches Wort war, ein absichtsvolles und schlaues Motiv gehabt. Das kann ich nicht ertragen‹, sagte er, ›ich bin wirklich zu stolz, das zu ertragen.‹« »Ich könnte ebensogut glauben –« »Natürlich«, unterbrach ihn Mr. Meagles, »das sagt‘ ich ihm auch. Aber es bedurfte eines ganzen Morgens, bis ich diese Mauer erstiegen, und ich zweifle, ob es irgend jemandem außer mir (er liebt mich seit langer Zeit) gelungen wäre, seinen Fuß hinüberzusetzen. Nun, Clennam, nachdem dieses geschäftliche Hindernis überwunden, bedingte er, daß, ehe ich die Sache mit Ihnen wieder aufnehmen würde, ich die Bücher durchsähe und mir eine Ansicht bilde. Ich sah die Bücher durch und bildete mir eine Ansicht. ›Ist sie im ganzen dafür und dagegen?‹ sagte er. ›Für‹ sagte ich. ›Dann‹, sagte er, ›mögen Sie, mein guter Freund, Mr. Clennam die Mittel an die Hand geben, sich selbst eine Ansicht zu bilden. Um ihn in den Stand zu setzen, dies ohne alle Parteilichkeit und mit vollkommener Freiheit tun zu können, werde ich auf eine Woche die Stadt verlassen.‹ Und er ist fort«, sagte Mr. Meagles, „das ist der glückliche Ausgang der Sache.«

»Er gibt mir dadurch«, sagte Clennam, »einen hohen Begriff, ich muß gestehen, von seiner Redlichkeit und seiner –“

»Wunderlichkeit«, warf Mr. Meagles ein. »Das will ich glauben.«

Es war nicht gerade das Wort auf Clennams Lippen; er unterließ es jedoch, seinen gut aufgelegten Freund zu unterbrechen.

»Und jetzt«, fügte Mr. Meagles hinzu, »können Sie, sobald es Ihnen beliebt, einen Blick in die Sachen werfen. Ich habe es übernommen, Aufklärung zu geben, wo Sie solcher bedürfen sollten, jedoch streng unparteiisch zu sein und nicht darüber hinauszugehen.«

Sie begannen ihre Untersuchungen noch am selben Vormittag im Bleeding Heart Yard. Kleine Seltsamkeiten ließen sich von erfahrenen Augen leicht in der Art, wie Mr. Doyce seine Sachen besorgte, entdecken, aber sie bargen beinahe immer eine sinnige Vereinfachung einer Schwierigkeit und einen ebenen Weg zu dem gewünschten Ziel in sich. Daß er mit seinen Büchern im Rückstande und einer Unterstützung benötigt war, um die Ertragfähigkeit seines Geschäfts zu entwickeln, war klar genug; alle Resultate seiner Unternehmungen während vieler Jahre jedoch lagen offen zu Tage und waren leicht nachzuweisen. Nichts war im Hinblick auf eine schwebende Untersuchung getan, alles trug das ursprüngliche Arbeiterkleid und war in einer gewissen holperigen Ordnung. Die Berechnungen und Einträge von seiner eignen Hand, und deren war eine große Zahl, waren plump geschrieben und ohne besonders große Genauigkeit, aber immer einfach und erfüllten vollständig den Zweck. Es kam Arthur vor, als ob eine weit ausgearbeitetere und hübscher in die Augen fallende Geschäftsführung – wie sie die Bücher der Circumlocution Office vielleicht auswiesen – weit weniger den Zweck erfüllten, da ihre Art und Weise weit weniger verständlich gemacht wäre.

Drei bis vier Tage angestrengten Fleißes ließen ihn all der Tatsachen Herr werden, deren Kenntnis wesentlich für ihn war. Mr. Meagles war immer zur Hand, stets bereit, jeden dunklen Punkt mit der hellen kleinen Sicherheitslampe zu beleuchten, die zu den Wagschalen und Geldschaufeln gehörte. Sie kamen unter sich über die Summe überein, die sie für die Hälfte Anteil an dem Geschäft anzubieten für recht und billig hielten; dann entsiegelte Mr. Meagles ein Papier, in dem Daniel Doyce notiert hatte, wie hoch er den Betrag schätze, welche Summe sogar etwas geringer war. So fand Daniel, als er zurückkam, die Sache so gut wie abgeschlossen.

»Und ich darf nun gestehen, Mr. Clennam«, sagte er und schüttelte ihm herzlich die Hand, »daß, wenn ich mich rechts und links nach einem Geschäftsteilhaber umgesehen, ich kaum glaube, daß ich einen hätte finden können, der mehr nach meinem Sinn gewesen wäre.«

»Ich sage das gleiche«, versetzte Clennam.

»Und ich sage von Ihnen beiden«, fügte Mr. Meagles hinzu, »daß Sie vortrefflich füreinander taugen. Sie halten ihn mit Ihrem klaren Verstand im Schach, Clennam, und Sie betreiben die Arbeit, dann, mit Ihrem –«

»Unklaren Verstand?« ergänzte Daniel mit sanftem Lächeln.

»Sie mögen es so nennen, wenn Sie wollen – und jeder von Ihnen wird dem andern eine rechte Hand sein. Hier gebe ich, als ein praktischer Mann, darauf meine eigne rechte Hand jedem von Ihnen.«

Der Handel war in einem Monat abgeschlossen. Arthur blieb dadurch im Besitze von persönlichen Mitteln, die einige hundert Pfund nicht überschritten; aber das Geschäft eröffnete ihm eine tätige und vielversprechende Karriere. Die drei Freunde dinierten aus diesem glücklichen Anlaß, die Arbeiter und die Frauen und Kinder der Arbeiter machten einen Feiertag und speisten gleichfalls; sogar der Bleeding Heart Yard speiste und war voll Essen. Kaum waren im ganzen zwei Monate verflossen, als der Hof wieder so an gewöhnliche Hausmannskost gewöhnt war, daß niemand mehr an das Traktament dachte, und nichts schien an der Genossenschaft mehr neu als die gemalte Inschrift auf dem Türpfosten: Doyce und Clennam; ja selbst Clennam glaubte, die Angelegenheiten der Firma seit Jahren im Kopfe mit sich herumgetragen zu haben.

Das kleine Kontor, das für ihn eingerichtet worden, bestand aus einem Zimmer aus Holz und Glas am Ende einer langen, niedern Werkstatt, die mit Werktischen, Schraubstöcken, Werkzeugen, Riemen und Rädern angefüllt war, die, wenn sie mit der Dampfmaschine in Verbindung gebracht wurden, zerrten und rissen, als hätten sie die selbstmörderische Mission, das Geschäft zu Staub zu zermalmen und die Manufaktur in Stücke zu zerreißen. Große Falltüren im Boden und an der Decke, die die Werkstätte oben und die Werkstätte unten in Verbindung setzten, brachten ein Streiflicht in diese Perspektive, das Clennam an das alte Kinderbilderbuch erinnerte, wo ähnliche Strahlen die Zeugen von Abels Mord waren. Das Geräusch war entfernt genug von dem Kontor, um wie ein geschäftiges Summen zu klingen, das ab und zu durch ein Geklirr oder einen Schlag unterbrochen wurde. Die geduldigen Gestalten an der Arbeit waren durch die Eisen- und Stahlfeilspäne geschwärzt, die auf jedem Werktisch tanzten und durch jede Ritze in den Bohlen wirbelten. Zur Werkstätte gelangte man aus dem äußern Hof unten über eine Stufenleiter, die als Dach für einen großen Schleifstein diente, an dem die Werkzeuge geschärft wurden. Das Ganze hatte in Clennams Augen zu gleicher Zeit ein phantastisches und praktisches Aussehen, was eine willkommene Abwechslung war; und sooft er seinen Blick von dem ersten Versuch, die große Reihe von Geschäftspapieren vollständig in Ordnung zu bringen, erhob, sah er mit einem gewissen behaglichen Gefühl auf diese Dinge, die ihm neu waren.

Als er so eines Tages seine Augen aufschlug, war er erstaunt, einen Damenhut sich an der Treppenleiter heraufarbeiten zu sehen. Der ungewöhnlichen Erscheinung folgte ein zweiter Hut. Er gewahrte dann, daß der erste auf dem Kopfe von Mr. Finchings Tante saß, und daß der zweite Floras Kopf angehörte, die ihr Legat mit beträchtlicher Schwierigkeit die steilen Stufen heraufgebracht zu haben schien.

Obgleich nicht besonders entzückt von dem Anblick dieses Besuches, verlor Clennam keine Zeit, die Kontortür zu öffnen und sie aus der Werkstätte loszuwickeln; eine Rettung, die um so notwendiger war, als Mr. Finchings Tante bereits über ein Hindernis stolperte und die Dampfkraft als Institut mit einem steinharten Ridikül bedrohte, das sie trug.

»Mein Gott, Arthur, – wollte sagen Mr. Clennam, weit passender – was war das für ein beschwerliches Heraufklettern, und wie da wieder hinabkommen ohne eine Feuerleiter, und Mr. Finchings Tante, die beständig auf den Stufen ausgleitet und am ganzen Leibe zerquetscht ist, und Sie in einer Maschinenfabrik und Gießerei, wer hätte sich das gedacht, und Sie ließen uns auch nicht das geringste davon wissen!«

So sagte Flora außer Atem. Mr. Finchings Tante rieb indes ihr beschädigtes Schienbein mit dem Sonnenschirm und glühte vor Rache.

»Sehr unfreundlich, daß Sie uns seit jenem Tage nicht mehr besucht haben, obgleich wir natürlich durchaus nicht erwarten konnten, daß irgend etwas Anziehendes in unsrem Hause sein werde, und Sie sicherlich weit angenehmer beschäftigt waren, und ich möchte wissen, ob sie blond oder dunkel ist; hat sie blaue Augen oder schwarze, nicht daß ich erwartete, sie werde etwas anderes sein als der vollständige Gegensatz zu mir in allen Einzelheiten, denn ich bin eine Enttäuschung, wie ich ganz wohl weiß, und Sie haben ohne Zweifel ganz recht, ihr ergeben zu sein, und lassen Sie sich das gleichgültig sein, Arthur, was ich da sage, ich weiß es ja selbst kaum, lieber Gott!«

Während dieser Zeit hatte er ihnen im Kontor Stühle hingestellt. Als Flora sich niederließ, warf sie ihm den alten Blick zu.

»Und dann Doyce und Clennam, wer kann dieser Doyce sein?« sagte Flora: »ohne Zweifel ein herrlicher Mann und vielleicht verheiratet, und er hat vielleicht eine Tochter, wirklich? Dann versteht man die Genossenschaft und weiß alles, sagen Sie mir nichts davon, denn ich weiß, ich habe keinen Anspruch, diese Frage zu stellen, nachdem die goldene Kette, die einst geschmiedet worden, entzweigesprungen, was ganz natürlich.«

Flora legte ihre Hand zärtlich auf die seine und warf ihm einen zweiten Blick aus ihrer Jugend zu.

»Lieber Arthur – Macht der Gewohnheit, Mr. Clennam wäre immerhin zarter und für die obwaltenden Umstände passender – ich muß um Entschuldigung bitten, daß ich mir die Freiheit nehme, so bei Ihnen einzudringen, aber ich dachte, ich dürfte mir auf die vergangenen Zeiten hin, die für immer verschwunden, um nie wieder zu blühen, herausnehmen, mit Mr. Finchings Tante bei Ihnen vorzusprechen, um zu gratulieren und Ihnen meine besten Wünsche auszusprechen. Um ein bedeutendes besser als China, nicht zu leugnen, und weit näher, obgleich höher hinauf!«

»Ich freue mich außerordentlich, Sie zu sehen«, sagte Clennam, »und ich danke Ihnen, Flora, herzlich für Ihre gütige Erinnerung.«

»Mehr als ich jedenfalls selbst sagen kann«, versetzte Flora, »denn ich hätte zwanzig verschiedene Male hintereinander tot und begraben sein können, und kein Zweifel, was auch früher der Fall gewesen war, Sie hätten sich kaum meiner oder irgend etwas dergleichen erinnert, dessenungeachtet möchte ich eine letzte Bemerkung machen, eine letzte Erklärung abgeben –«

»Meine liebe Mrs. Finching«, warf Arthur in der Verlegenheit ein.

»Oh, nicht diesen unangenehmen Namen, sagen Sie Flora!«

»Flora, ist es der Mühe wert, sich aufs neue durch Erklärungen zu quälen? Ich versichere Ihnen, es sind keine nötig. Ich bin zufrieden – ich bin vollkommen zufrieden.«

Hier wurden sie von dem Gegenstand abgelenkt, denn Mr. Finchings Tante machte folgende unerbittliche und schreckliche Bemerkung:

»Es gibt Meilensteine auf dem Wege nach Dover!«

Mit solch tödlicher Feindschaft gegen das Menschengeschlecht schoß sie diesen Pfeil ab, daß Clennam gar nicht wußte, wie er sich verteidigen sollte; um so mehr, als er bereits durch die Ehre des Besuchs dieser ehrwürdigen Dame in Verlegenheit war, denn sie hatte offenbar den größten Widerwillen gegen ihn. Er konnte sie nur mit der äußersten Verwirrung ansehen, wie sie so dasaß mit Bitterkeit und Zorn auf den Lippen und meilenweit fortstierte. Flora jedoch nahm die Bemerkung hin, als wäre sie von der passendsten und angenehmsten Art, indem sie laut billigend bemerkte, Mr. Finchings Tante habe sehr viel Geist. Sei es nun durch dieses Kompliment, oder durch die glühende Entrüstung gereizt, fügte diese herrliche Frau hinzu: »Er soll ihn ansehen, wenn er kann.« Und mit einer heftigen Bewegung ihres Ridiküls (ein Anhängsel von großem Umfang und versteinertem Aussehen) gab sie zu verstehen, daß Clennam der Mann sei, an den die Herausforderung gerichtet war.

»Eine letzte Bemerkung«, fuhr Flora fort, »sagte ich, wünsche ich zu machen, eine letzte Erklärung abzugeben. Mr. Finchings Tante und ich würden uns nicht zur Geschäftsstunde in das Kontor gedrängt haben, da Mr. Finching auch Geschäftsmann war, und obgleich der Weinhandel ein stilles Geschäft ist, ist er wie jedes andere, und Geschäftsgewohnheiten sind immer dieselben, wovon, Mr. Finching selbst ein Zeugnis ist – da er seine Pantoffel immer zehn Minuten vor sechs Uhr nachmittags auf der Matte hatte und seine Stiefel innerhalb des Kamingitters zehn Minuten vor acht Uhr morgens auf den Punkt bei jeder Witterung, schön oder regnerisch –, wir würden nicht hier eingedrungen sein ohne einen Beweggrund, der freundlich gemeint, hoffentlich auch freundlich aufgenommen wird, Arthur, Mr. Clennam weit passender gesagt, oder geschäftlicher Doyce und Clennam.“

»Bitte, sagen Sie nichts zu Ihrer Entschuldigung«, bat Arthur. »Sie sind stets willkommen.«

»Sehr höflich von Ihnen so zu sprechen, Arthur – kann mich des Worts Mr. Clennam nicht erinnern, bis es heraus ist, so stark ist die Gewohnheit der für immer verrauschten Zeit und so wahr ist es, daß oft in der stillen Nacht, ehe die Kette des Schlummers die Menschen fesselt, die Erinnerung das Licht vergangener Tage über sie ergießt – sehr höflich, aber höflicher als wahr, fürchte ich, denn, wenn man in ein Maschinengeschäft eintritt, ohne auch nur eine Zeile oder eine Karte an Papa zu senden, – ich mag nicht mir sagen, obgleich es eine Zeit gab, aber diese ist vorbei, und strenge Wirklichkeit, mein Gott, hat jetzt, ich schweige davon – das sieht wirklich nicht danach aus, das müssen Sie zugestehen.“

Sogar Floras Kommata schienen bei dieser Gelegenheit entflohen zu sein; um so viel unzusammenhängender und gesprächiger war sie als bei der ersten Begegnung.

»Freilich«, fuhr sie unaufhaltsam fort, »es war nichts anderes zu erwarten, und warum sollte es zu erwarten gewesen sein, und wenn es nicht zu erwarten war, warum sollte es sein, und ich bin weit entfernt, Ihnen oder irgend jemandem einen Vorwurf zu machen. Als Ihre Mama und mein Papa uns zu Tode quälten und die goldene Kelle – wollte sagen Kette zerbrachen, aber ich hoffe, Sie wissen, was ich meine, und wenn Sie’s nicht wissen, verlieren Sie nicht viel und werden sich wenig darum kümmern, wage ich hinzuzusetzen – als sie die goldene Kette zerbrochen, die uns verband, und uns in eine Stimmung versetzten, daß wir auf dem Sofa beinahe vor Weinen erstickten, zum mindesten ich, da war alles verändert, und als ich meine Hand Mr. Finching reichte, weiß ich, daß ich es mit offenen Augen tat, aber es war ein so schwankender Charakter und von so niedergedrücktem Geiste, daß er in der Zerstreuung auf den Fluß anspielte, wenn nicht gar auf Öl oder etwas dergleichen vom Chemiker, und ich tat mein Bestes.«

»Meine gute Flora, wir hatten das zuvor schon abgemacht. Es war ganz gut.«

»Es ist ganz klar. Sie denken so«, versetzte Flora, »denn Sie fassen die Sache sehr kalt auf; wenn ich nicht gewußt, es wäre China, ich hätte die Polarregionen vermutet, lieber Mr. Clennam, Sie haben ganz recht, und ich kann Sie nicht tadeln, aber was Doyce und Clennam betrifft, so hörten wir davon, da der Hof Papas Eigentum ist, durch Pancks, und ohne ihn würden wir, davon bin ich überzeugt, nie ein Wort vernommen haben.«

»Nein, nein, sagen Sie das nicht.«

»Warum soll ich es nicht sagen, Arthur – Doyce und Clennam – leichter und weniger peinlich für mich, als Mr. Clennam –, da ich es doch weiß, und Sie wissen es auch und können es nicht leugnen.«

»Aber ich leugne es, Flora. Ich würde Ihnen ehestens einen freundschaftlichen Besuch gemacht haben.«

»Ah!« sagte Flora, ihren Kopf schüttelnd. »Wirklich!« und sie warf ihm wieder einen von ihren alten Blicken zu. »Als uns Pancks jedoch davon sagte, entschloß ich mich, mit Mr. Finchings Tante Sie zu besuchen, weil, als Papa – was vordem geschah – zufällig ihren Namen mir gegenüber erwähnte und sagte, Sie interessierten sich für sie, ich augenblicklich erwiderte: Mein Gott, warum sie nicht zu uns nehmen, wenn irgend etwas zu tun ist, statt es aus dem Hause zu geben.«

»Wenn Sie sagen ›sie‹«, bemerkte Clennam, der indessen sehr stark verwirrt geworden, »meinen Sie Mr. Finchings –«

»Du meine Güte, Arthur – Doyce und Clennam wirklich leichter für mich bei den alten Erinnerungen –, wer hörte je von Mr Finchings Tante, daß sie Näherin sei und im Tagelohn arbeite?«

»Im Tagelohn arbeite? Sprechen Sie von Klein-Dorrit?«

»Nun natürlich!« versetzte Flora; »von allen seltsamen Namen, die ich je gehört, der seltsamste, der klingt, wie der Name eines Ortes auf dem Lande mit einem Schlagbaum, oder eines Lieblingsponys, oder eines Jungen, oder eines Vogels, oder etwas aus einem Samenladen, das man in einen Garten oder Blumentopf steckt und das dann gefleckt aufgeht.«

»Liebe Flora«, sagte Arthur, der plötzlich ein Interesse für die Unterhaltung bekam, »so war Mr. Casby denn so freundlich, Klein-Dorrit bei Ihnen zu erwähnen, wirklich? Was sagte er?«

»Oh, Sie wissen, wie Papa ist«, erwiderte Flora, »und wie schwerfällig er dasitzt, ein herrlicher Anblick, und seine Daumen umeinander dreht, bis man schwindlig wird, wenn man seine Augen auf ihn heftet, er sagte, als wir von Ihnen sprachen – ich weiß nicht, wer Arthur (Doyce und Clennam) zur Sprache brachte, aber ich bin gewiß, daß ich es nicht war, wenigstens hoffe ich es nicht, aber Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich nicht mehr über diesen Punkt sage.«

»Gewiß«, sagte Arthur. »Jedenfalls.«

»Sie sind sehr bereitwillig«, schmollte Flora, die in gewinnender Schüchternheit plötzlich innehielt,«das muß ich einräumen, Papa sagte, Sie hätten sehr ernst von ihr gesprochen, und ich sagte, was ich Ihnen erzählte und das ist alles.“ 272 »Das ist alles?« sagte Arthur etwas enttäuscht.

»Ausgenommen daß, als Pancks uns sagte, Sie hätten sich in dieses Geschäft eingelassen, und nur mit Mühe uns überzeugen konnte, Sie seien es wirklich, ich zu Mr. Finchings Tante sagte, dann wollten wir hierher gehen und Sie fragen, ob es für alle Teile angenehm wäre, daß wir sie bei uns beschäftigten, wenn wir sie brauchen, denn ich weiß, sie kommt oft zu Ihrer Mama, und ich weiß, daß Ihre Mama ein reizbares Temperament hat, Arthur – Doyce und Clennam – sonst hätte ich niemals Mr. Finching geheiratet und wäre in diesem Augenblicke – aber ich schwatze da Unsinn.«

»Es war sehr freundlich von Ihnen, Flora, daran zu denken.«

Die arme Flora erwiderte mit offener Aufrichtigkeit, die ihr weit besser stand als ihre jüngsten Blicke, sie sei sehr erfreut, daß er so dächte. Sie sagte es mit so viel Herz, daß Clennam viel gegeben, wenn er seine alte Ansicht von ihr auf der Stelle hätte zurückhaben und sie und die Sirene auf immer hätte fortwerfen können.

»Ich denke, Flora«, sagte er, »daß die Beschäftigung, die Sie Klein-Dorrit geben, und die Güte, die Sie ihr beweisen können –«

»Ja, ich will es«, sagte Flora lebhaft.

»Ich bin überzeugt – es wird ihr eine große Stütze und Erleichterung sein. Ich glaube nicht das Recht zu haben, Ihnen zu sagen, was ich von ihr weiß, denn diese Kenntnis ist mir im Vertrauen geworden und unter Umständen, die mich zu schweigen zwingen. Aber ich habe ein Interesse für die kleine Kreatur und einen Respekt vor ihr, den ich Ihnen nicht auszudrücken vermag. Ihr Leben war so voll Prüfungen und Hingebung und von solch ruhiger Güte, daß Sie keine Vorstellung davon haben können. Ich kann kaum an sie denken, noch viel weniger von ihr sprechen, ohne gerührt zu sein. Lassen Sie dies Gefühl ersetzen, was ich Ihnen sagen könnte, und sie an Ihre Güte mit meinem Dank empfehlen.«

Noch einmal bot er der armen Flora offen seine Hand; noch einmal konnte die arme Flora sie nicht offen annehmen, fand es auch nicht der Mühe wert und mußte die alte Intrige, das alte Geheimnis daraus machen. Ebensosehr zu ihrer eigenen Befriedigung als zu seinem Verdruß bedeckte sie sie mit einer Ecke ihres Schals, als sie dieselbe nahm. Dann rief sie, als sie nach der Glasfront des Kontors blickte und zwei Gestalten nahen sah, mit unendlicher Freude: »Papa! St! Arthur, um’s Himmels Willen!« und taumelte in ihren Stuhl zurück, indem sie mit staunenswürdigem Talent eine herannahende Ohnmacht heuchelte, die eine Folge von heftiger Überraschung und mädchenhafter Verwirrung sein sollte.

Der Patriarch steuerte indessen in Pancks‘ Kielwasser mit nichtssagendem Strahlen des Gesichts auf das Kontor zu. Pancks öffnete die Tür für ihn, schleppte ihn hinein und ging selbst in einer Ecke vor Anker. »Ich hörte von Flora«, sagte der Patriarch mit seinem wohlwollenden Lächeln, »daß sie Besuch machen wollte, Besuch machen wollte. Und da ich gerade aus war, dacht‘ ich, ich wollte auch Besuch machen, dacht‘ ich, ich wollte auch Besuch machen.«

Die wohlwollende Weisheit, die er durch seine blauen Augen, seine langen, weißen Haare und sein leuchtendes Haupt in diese Erklärung ausströmte (die an und für sich nicht tief war), machte großen Eindruck. Sie schien würdig, unter die edelsten Gefühle, die die besten Männer ausgesprochen, gestellt zu werden. Auch als er zu Clennam sagte, indem er sich in den dargebotenen Stuhl setzte: »Und Sie sind in einem neuen Geschäfte, Mr. Clennam? Ich wünsche Ihnen Glück, Sir, ich wünsche Ihnen Glück!« schien er Wunder von Wohlwollen verrichtet zu haben.

»Mrs. Finchings hat mir gesagt, Sir«, versetzte Arthur, nachdem er die Tatsache zugegeben, während die Hinterlassene des verstorbenen Mr. Finching mit einer Gebärde gegen den Gebrauch dieses ehrenwerten Namens protestierte, »sie werde bei Gelegenheit die Dienste der jungen Näherin, die Sie meiner Mutter empfohlen, in Anspruch nehmen, wofür ich ihr meinen Dank ausgesprochen.«

Der Patriarch dreht schwankend den Kopf nach Pancks um; der Begleiter steckte das Notizbuch ein, in das er vertieft gewesen, und nahm ihn ins Schlepptau.

»Sie haben sie nicht empfohlen«, sagte Pancks, »wie konnten Sie auch? Sie wußten ja nichts von ihr, nein, wirklich nicht. Der Name wurde vor Ihnen genannt, und Sie gingen darüber hinweg. Das ist’s, was Sie taten.«

»Nun«, sagte Clennam, »da sie jede Empfehlung rechtfertigt, ist es ja eins.«

»Sie freuen sich, daß sie sich so gut anläßt«, sagte Pancks, »aber es wäre ja nicht Ihre Schuld gewesen, wenn sie sich schlecht angelassen. Der gute Ruf ist, wie die Sachen stehen, nicht Ihre Schuld, und die Schande ebenfalls wäre Ihre Schuld nicht gewesen, wenn es anders stände. Sie haben ja keine Garantie zu leisten. Sie wußten nichts von ihr.«

»So sind Sie also mit keinem Gliede der Familie bekannt?« sagte Arthur, eine Frage aufs Geratewohl wagend.

»Mit keinem Gliede der Familie bekannt?« versetzte Pancks. »Wie sollten Sie mit einem Gliede der Familie bekannt sein? Sie hörten ja nie von ihnen. Sie können nicht mit Leuten bekannt sein, von denen Sie niemals hörten, nicht wahr? Sie sind meiner Ansicht?«

Die ganze Zeit über saß der Patriarch feierlich lächelnd da, indem er mit dem Kopf wohlwollend schüttelte und nickte, je nachdem es der Fall erforderte.

»Was die Verweisung an einen Schiedsrichter betrifft«, sagte Pancks, »so wissen Sie – im allgemeinen, was das heißen will. Ihr eignes Auge ist’s! Sehen Sie auf Ihre Mietsleute in dem

Hofe hinab. Sie würden alle einer für den andern stehen, wenn Sie’s annähmen. Aber was würde die Folge davon sein? Zwei statt eines können keine Befriedigung gewähren, einer genügt. Ein Mann, der nicht bezahlen kann, treibt einen andern auf, der nicht bezahlen kann, um dafür zu garantieren, daß er bezahlen kann. Wie ein Mensch mit zwei hölzernen Beinen, der einen andern Menschen mit zwei hölzernen Beinen auftreibt, um dafür zu garantieren, daß er zwei natürliche Beine bekomme. Es setzt keinen von beiden in den Stand, einen Wettlauf zu machen. Und vier hölzerne Beine setzen mehr in Verlegenheit als zwei, wenn man gar keines braucht.« Mr. Pancks schloß, indem er seinen bekannten Dampf ausblies.

Ein augenblickliches Schweigen, das eingetreten war, wurde von Mr. Finchings Tante unterbrochen, die seit ihrer letzten öffentlichen Bemerkung in einem Zustand von Starrsucht aufrecht dasaß. Sie bekam einen neuen heftigen Stoß, der darauf berechnet war, eine bestürzende Wirkung auf die Nerven der Uneingeweihten zu machen, und sie bemerkte mit der fürchterlichsten Feindschaft:

»Sie können nicht einen Kopf und Hirn aus einem Messingknopf machen, in dem nichts ist. Sie könnten es selbst dann nicht tun, wenn Ihr Onkel George am Leben wäre; um so weniger, da er tot ist.«

Mr. Pancks antwortete sogleich mit seiner gewöhnlichen Ruhe: »Wirklich, Ma’am? Gott schütze mich! Ich bin erstaunt, das zu hören.« Trotz seiner Geistesgegenwart jedoch brachten die Worte von Mr. Finchings Tante einen peinlichen Eindruck auf die kleine Gesellschaft hervor; erstlich, weil es unmöglich war, sich zu verhehlen, daß Clennams harmloser Kopf dieser verachtete Tempel der Vernunft sei, und zweitens, weil niemand bei all diesen Gelegenheiten wußte, auf welchen Onkel George angespielt wurde, oder welche Gespenstererscheinung unter diesem Namen zitiert wurde.

Deshalb sagte Flora, obgleich nicht ohne ein gewisses Prahlen und einen Stolz auf ihr Legat, Mr. Finchings Tante sei heute sehr aufgeregt und sie denke, es sei besser, wenn sie gehen. Aber Mr. Finchings Tante gab äußerst lebhaft zu erkennen, daß sie diesen Wink übel aufnehme, und erklärte nicht gehen zu wollen, indem sie mit verschiedenen beleidigenden Ausdrücken hinzufügte, daß wenn »er«, womit sie offenbar Clennam meinte, – sie los sein wolle, so möge er sie die Wendeltreppe hinabstoßen; indem sie dringend den Wunsch hinzufügte, »ihn« diesen Akt vollziehen zu sehen.

In diesem Dilemma ergriff Mr. Pancks, dessen Rettungsmittel für jedes Ereignis in den patriarchalischen Wassern auszureichen schienen, seinen Hut, schlüpfte zur Kontortür hinaus und schlüpfte einen Augenblick später mit einer künstlichen Frische in seinem Wesen, als wenn er einige Wochen auf dem Lande gewesen, wieder herein. »Nun, Gott schütze mich, Ma’am!« sagte Pancks, sein Haar vor Erstaunen in die Höhe richtend, »sind Sie da? Wie befinden Sie sich, Ma’am? Sie sehen heute reizend aus! Es freut mich ungemein, Sie zu sehen. Vergönnen Sie mir Ihren Arm, Ma’am, wir wollen etwas miteinander spazierengehen, wenn Sie mir die Ehre Ihrer Gesellschaft gönnen wollen.« Damit geleitete er Mr. Finchings Tante die Privattreppe des Kontors mit großer Galanterie und vielem Erfolg hinab. Der patriarchalische Mr. Casby erhob sich dann mit der Miene, als hätte er es selbst getan, und folgte lächelnd, indem er seiner Tochter Zeit ließ, während sie ihrerseits folgte, ihrem früheren Liebhaber in verwirrtem Flüstern (was ihr große Freude machte) zu bemerken, daß sie den Becher des Lebens bis zur Hefe geleert; und ihm ferner den geheimnisvollen Wink zu geben, daß der verstorbene Mr. Finching auf dem Boden desselben sitze.

Als sich Clennam wieder allein sah, wurde er abermals eine Beute seiner alten Zweifel in Beziehung auf seine Mutter und Klein-Dorrit, und er erwog die alten Gedanken und Verdachtsgründe wieder und wieder. Sie waren ihm alle lebendig vor die Seele getreten, indem sie sich mit den Pflichten, die er mechanisch erfüllte, vermischten, als ein Schatten, der auf seine Papiere fiel, ihn veranlaßte, nach der Ursache aufzusehen. Diese war Mr. Pancks. Den Hut auf das Ohr zurückgezogen, als ob seine Drahtspitzen von Haaren wie Springfedern emporgeschnellt wären und ihn abgeworfen, mit seinen achatschwarzen, neugierig scharfen Augenkügelchen, die Finger seiner rechten Hand im Munde, um die Nägel abzubeißen, und die Finger seiner Linken in der Tasche als Reserve zu einem neuen Gang, warf Mr. Pancks seinen Schatten durch die Scheibe auf Bücher und Papiere.

Mr. Pancks fragte mit einer kleinen fragenden Wendung des Kopfes, ob er hereinkommen dürfe? Clennam antwortete mit einem Nicken des Kopfes bejahend. Mr. Pancks arbeitete sich hinein, legte an der Seite des Pultes an, warf Anker, indem er seine Arme darauf lehnte und begann das Gespräch mit Pusten und Schnauben.

»Mr. Finchings Tante ist hoffentlich beruhigt?« sagte Clennam.

»Gewiß, Sir«, sagte Pancks.

»Ich bin so unglücklich, eine große Animosität in der Brust dieser Dame erweckt zu haben« , sagte Clennam. »Wissen Sie weshalb?«

»Weiß sie, weshalb?« sagte Pancks.

»Ich vermute, nein.«

»Ich vermute auch nicht« , sagte Pancks.

Er zog sein Notizbuch heraus, öffnete es, ließ es in seinen Hut fallen, der neben ihm auf dem Pulte stand, und sah hinein, während es auf dem Boden des Hutes lag: alles mit großer Wichtigkeit.

»Mr. Clennam«, begann er dann, »ich brauche eine Notiz, Sir.«

»Die mit der Firma in Beziehung steht?« fragte Clennam.

»Nein« , sagte Pancks.

»Womit denn, Mr. Pancks? Das heißt, vorausgesetzt, daß Sie sie von mir wollen.«

»Ja, Sir; ja, ich wünsche sie von Ihnen« , sagte Pancks, »wenn ich Sie veranlassen kann, sie mir zu geben. A, B, C, D. Da, De, Di, Do. Nach der Wörterbuchfolge. Dorit. Das ist der Name, Sir.« Mr. Pancks ließ wieder sein eigentümliches Geräusch hören und fiel über seine Nägel von der rechten Hand her. Arthur sah ihn forschend an; er erwiderte den Blick.

»Ich verstehe Sie nicht, Mr. Pancks.«

»Das ist der Name, über den ich die Notiz wünschte.«

»Und was wünschen Sie zu wissen?«

»Was Sie mir nur immer sagen können und wollen.« Dieser umfassende Inbegriff seiner Wünsche wurde nicht ohne schwere Arbeit von Mr. Pancks‘ Maschine zutage gefördert.

»Das ist ein eigentümlicher Besuch, Mr. Pancks, Es fällt mir außerordentlich auf, daß Sie mit solch einer Angelegenheit zu mir kommen.«

»Es mag ganz außerordentlich sein«, versetzte Mr. Pancks, »es mag ganz außer dem gewöhnlichen Lauf der Dinge liegen und doch ein Geschäft sein. Kurz, es ist ein Geschäft. Ich bin ein Geschäftsmann. Welches Geschäft habe ich in dieser Welt, als mich an das Geschäft zu halten? Kein anderes Geschäft.«

Mit seinem früheren Zweifel, ob dieser trockene, harte Mensch die Sache ernstlich meine, richtete Clennam seinen Blick wieder aufmerksam auf sein Gesicht. Es war so ruppig und schmutzig wie je, und so ungestüm und lebhaft wie je, und er konnte nichts Lauerndes in demselben sehen, das einen verborgenen Spott verraten, den er aus dem Ton seiner Worte vernehmen zu müssen glaubte.

»Nun«, sagte Pancks, »um dieses Geschäft ins richtige Geleise zu bringen, sage ich im voraus, daß es nicht das meines Herrn ist.«

»Verstehen Sie unter diesem Herrn Mr. Casby?«

Pancks nickte. »Mein Herr. Setzen Sie einen Fall. Gesetzt, ich höre bei meinem Herrn den Namen – einer jungen Person, der Mr. Clennam zu dienen wünscht. Gesetzt, der Name würde bei meinem Herrn zuerst von Plornish, der im Hofe wohnt, erwähnt. Gesetzt, ich gehe zu Plornish. Gesetzt, ich bitte Plornish geschäftlich um Auskunft. Gesetzt, Plornish, obgleich mit der Bezahlung meines Herrn sechs Wochen im Rückstand, weigert sich. Gesetzt, auch Mrs. Plornish weigert sich. Gesetzt, beide beziehen sich auf Mr. Clennam. Setzen Sie den Fall.«

»Nun?«

»Nun, Sir«, versetzte Pancks. »Gesetzt, ich komme zu ihm. Gesetzt ich bin hier.«

Während die Haarzinken an seinem ganzen Kopfe emporstanden und sein Atem schwer und kurz kam und ging, trat der geschäftige Pancks einen Schritt zurück (in der Schleppermetapher gesprochen, machte eine halbe Wendung mit dem Stern), als wollte er seinen schmutzigen Rumpf ganz zeigen, steuerte dann wieder vorwärts und warf seinen lebhaften Blick bald in seinen Hut, wo sein Notizbuch lag, bald auf Clennam.

»Mr. Pancks, um nicht auf Ihren geheimnisvollen Ton einzugehen, will ich so offen gegen Sie sein, wie ich kann. Lassen Sie mich zwei Fragen an Sie richten. Erstens –«

»Schon gut!« sagte Pancks, indem er seinen schmutzigen Zeigefinger mit dem zerbrochenen Nagel emporhielt. »Ich merke schon! ›Was ist Ihr Beweggrund?‹«

»Ganz recht!«

»Beweggrund«, sagte Pancks, »gut. Nichts zu schaffen mit meinem Herrn. Im Augenblick nicht auseinanderzusetzen: wäre lächerlich, wenn ich’s im Augenblick auseinandersetzen wollte; aber gut. Ich wünsche einer jungen Person, namens Dorrit, zu dienen«, sagte Pancks, den Zeigefinger noch immer als eine Bürgschaft emporhaltend. »Besser, wir nehmen den Beweggrund als gut an.«

»Zweitens und letztens, was wünschen Sie zu wissen?«

Mr. Pancks fischte sein Notizbuch auf, ehe diese Frage gestellt war, und indem er dasselbe sorgfältig in einer inneren Brusttasche festknüpfte und die ganze Zeit Clennam starr ansah, antwortete er nach einer Pause pustend: »Ich wünsche irgendeine ergänzende Notiz.«

Clennam konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als der schnaubende kleine Dampfschlepper, der dem schwerfälligen Schiff »der Casby« so nützlich war, ihn ins Auge faßte und beobachtete, als harrte er auf seine Gelegenheit hineinzusteuern und alles bei ihm zu plündern, was er brauchte, ehe er seinen Manövern Widerstand leisten könnte; obgleich auch wieder in Mr. Pancks‘ Ungestüm etwas war, was manchen wunderbaren Gedanken in ihm wachrief. Nach kurzem Bedenken beschloß er, Mr. Pancks allgemeine Auskunft zu liefern, soweit es in seiner Macht stand, sie ihm an die Hand zu geben; wohl wissend, daß Mr. Pancks, wenn er bei seiner gegenwärtigen Nachforschung fehlging, sicher andere Mittel zu finden imstande sein würde, um sich die nötigen Notizen zu verschaffen.

Nachdem er deshalb zuerst Mr. Pancks aufgefordert, sich seiner freiwilligen Erklärung zu erinnern, daß sein Herr kein Teil an dieser Sache habe und daß seine eigenen Absichten gut seien (zwei Erklärungen, die dieser kohlige, kleine Mann mit dem größten Eifer wiederholte), sagte er ihm offen, daß er bezüglich des Geschlechtes der Dorrit und ihres früheren Aufenthaltes keinen Aufschluß geben könne und seine Kenntnis von der Familie sich nicht über das Faktum hinaus erstrecke, daß sie jetzt auf fünf Glieder reduziert zu sein scheinen; nämlich zwei Brüder, von denen der eine ledig, der andere ein Witwer mit drei Kindern sei. Das Alter der ganzen Familie teilte er Mr. Pancks mit, soweit er es wenigstens vermuten konnte; und endlich beschrieb er ihm die Lage des Vaters des Marschallgefängnisses und den Gang der Dinge und Ereignisse, durch die er mit diesem Mann näher bekannt geworden. Auf all dies horchte Mr. Pancks, der immer unglücksschwangerer blies und schnaubte, je mehr die Sache sein Interesse fesselte, mit großer Aufmerksamkeit; indem er die angenehmsten Empfindungen aus den peinlichsten Teilen der Erzählung zu ziehen und besonders durch die Schilderung der langen Gefangenschaft William Dorrits ergötzt zu sein schien.

»Zum Schluß, Mr. Pancks«, sagte Arthur, »habe ich Ihnen nur so viel zu sagen. Ich habe mehr als persönliche Gründe, so wenig wie möglich von der Familie Dorrit zu sprechen, besonders in meiner Mutter Haus« (Mr. Pancks nickte) »und so viel zu erfahren, wie ich kann. Ein so eifriger Geschäftsmann wie Sie – hm?«

Denn Mr. Pancks hatte plötzlich mit ungewöhnlicher Kraft jene Anstrengung mit Blasen gemacht.

»Nichts«, sagte Pancks.

»Ein so eifriger Geschäftsmann wie Sie versteht ganz wohl, was ein guter Handel ist. Ich möchte einen guten Handel mit Ihnen machen, nämlich, daß Sie mir bezüglich der Familie Dorrit Aufklärungen verschaffen, wenn es in Ihrer Macht liegt, wie ich Ihnen Aufklärungen gegeben. Es wird Ihnen keinen besonders schmeichelhaften Begriff von meinem Geschäftsverfahren geben, daß ich meine Bedingungen vorher zu stellen versäumte«, fuhr Clennam fort, »aber ich ziehe es vor, eine Ehrensache daraus zu machen. Ich habe so viele Geschäfte nach scharfbegrenzten Grundsätzen machen sehen, daß ich, offen gesagt, Mr. Pancks, derselben müde bin.«

Mr. Pancks lachte. »Es ist abgemacht, Sir«, sagte er. »Sie sollen mich fest daran halten sehen.«

Nach diesen Worten sah er Clennam einige Zeit an und biß an allen zehn Nägeln herum, während er offenbar in seinen Gedanken fixierte, was man ihm erzählt, und fuhr dann sorgfältig darüber hin, ehe die Mittel, eine Kluft in seinem Gedächtnis auszufüllen, nicht mehr zur Hand wären. »So ist’s recht«, sagte er endlich, »und nun will ich Ihnen guten Tag wünschen, da heute Sammeltag im Hofe ist. Im Vorbeigehen jedoch. Ein lahmer Fremder mit einem Stock.«

»Ah, ah, Sie nehmen, wie ich sehe, bisweilen eine Bürgschaft an?« sagte Clennam.

»Wenn dieser Bürge bezahlen kann«, versetzte Panck«. »Nimm alles, was du bekommen kannst, und behalte alles, was du nicht genötigt werden kannst, aufzugeben. Das ist Geschäft. Der lahme Fremde mit dem Stock wünscht ein oberes Zimmer in dem Hofe. Ist er gut dafür?«

»Ich bin es«, sagte Clennam. »Ich sage für ihn gut.«

»Das genügt. Was ich vom Bleeding Heart Yard haben muß, ist mein Schein«, sagte Pancks, indem er eine Notiz über die Sache in sein Buch machte. »Ich brauche, wie Sie sehen, meinen Schein. Bezahle oder zeige deinen Besitz! Das ist die Losung im Hofe drunten. Der lahme Fremde mit dem Stock behauptete, Sie schickten ihn; aber er könnte ebensogut behaupten (soweit es geht), daß der Großmogul ihn schickt. Er war, glaube ich, im Spital?«

»Ja. Es ist ihm ein Unglück begegnet. Er wurde soeben entlassen.«

»Der wird ein armer Teufel, Sir, wurde mir gesagt, den man in ein Hospital bringt«, sagte Pancks. Und stieß wieder jenen merkwürdigen Ton aus.

»Dasselbe ist bei mir der Fall«, sagte Clennam kalt.

Mr. Pancks, der sich indes zum Fortgehen fertiggemacht, ging einen Augenblick später unter Segel und schnaubte ohne weiteres Signal oder irgendwelche Zeremonie die Stufenleiter hinab und war bereits in voller Tätigkeit im Bleeding Heart Yard, ehe er noch recht aus dem Kontor zu sein schien.

Den übrigen Teil des Tages war Bleeding Heart Yard in Bestürzung, da der mürrische Pancks darin kreuzte; er fuhr die Bewohner an, wenn sie Ausflüchte wegen des Bezahlens machten, forderte, daß sie ihren Verpflichtungen nachkämen, ließ Bemerkungen von Ausziehen oder Exekution fallen, bohrte Wortbrüchige in den Boden, schickte eine Brandung von Schrecken vor sich her und ließ den Hof in seinem Kielwasser. Knäuel von Menschen, durch eine schlimme Anziehungskraft getrieben, lauerten vor jedem Hause, von dem man wußte, daß er sich darin befand, und lauschten, um Bruchstücke seiner Gespräche mit den Inwohnern zu erhaschen; und konnten sich, wenn es hieß, er komme, häufig nicht rasch genug zerstreuen, so daß er, ehe man sich’s versah, mitten unter ihnen stand und ihre eignen Rückstände forderte, und sie wie an den Boden gefesselt dastanden. Den ganzen übrigen Tag klang Pancks‘: »Wozu sie gesonnen seien?« und »Was sie damit wollten?« durch den Hof. Mr. Pancks wollte nichts von Entschuldigungen hören, nichts von Klagen hören, nichts von Ersatz hören, nichts als von unbedingter Bezahlung hören. Schwitzend und pustend und in exzentrischen Richtungen umherstürmend und immer heißer und schmutziger werdend, peitschte er den Strom des Hofes, daß er immer wilder und aufgeregter wurde. Volle zwei Stunden, nachdem man ihn auf der Höhe der Treppe an dem Horizonte wegdampfen gesehen, hatten sich die Wellen des Stromes noch nicht wieder geglättet.

Es fanden in jener Nacht mehrere kleine Versammlungen von blutenden Herzen an den gewöhnlichen Zusammenkunftsorten auf dem Hofe statt, bei denen die Ansicht herrschend war, mit Mr. Pancks sei sehr schwer zu tun zu haben und es sei sehr zu bedauern, wirklich sehr zu bedauern, daß ein Mann wie Mr. Casby die Eintreibung seiner Einkünfte in die Hände dieses Menschen gebe und ihn nicht in seinem wahren Lichte kenne. Denn (sagten die blutenden Herzen), wenn ein Mann mit diesem weißen Haupte und diesen Augen seine Einkünfte selbst verwaltete, so hätte man nichts von diesen Quälereien und Zerrereien zu dulden, und die Sachen stünden ganz anders.

Am selben Abend zur gleichen Stunde und Minute zappelte der Patriarch – der am Vormittag vor der Plünderung feierlich durch den Hof gesegelt, mit der ausdrücklichen Absicht, die volle Zuversicht zu seinem glänzenden Schädel und seidenen Haaren zu wecken – zur gleichen Stunde und Minute zappelte dieser Humbug erster Klasse von tausend Kanonen heftig in das kleine Dock seines erschöpften Schleppers und sagte, indem er die Daumen umeinander drehte:

»Ein sehr schlechtes Geschäft für einen Tag, Pancks, ein sehr schlechtes Geschäft für einen Tag. Es scheint mir, Sir, und ich muß, um mir selbst gerecht zu werden, die Bemerkung nachdrücklich wiederholen, daß Sie weit mehr Geld hätten heimbringen müssen, weit mehr Geld.«

  1. Die englischen Ortsnamen (Straßen, Plätze usw.) können der Originalität halber nicht immer verdeutscht werden.

Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Wahrsagerei.

Klein-Dorrit erhielt am selben Abend einen Besuch von Mr. Plornish, der, nachdem er seinen Wunsch, im geheimen mit ihr zu sprechen, durch so vieles und so deutliches Räuspern zu verstehen gegeben, daß er den Gedanken bestätigte, ihr Vater sei bezüglich ihrer Näherinnenbeschäftigung eine Illustration des Grundsatzes, es gebe keine so stockblinden Menschen als die, die nicht sehen wollen, eine Audienz von ihr vor der Tür auf der großen Treppe erhielt.

»Es war heute eine Dame bei uns, Miß Dorrit«, brummte Plornish, »und noch eine andere war bei ihr, eine alte Hexe, wie mir nur je eine zu Gesicht gekommen. Und die Art, wie sie einen anschrie, puh!«

Der sanfte Plornish war anfangs gar nicht imstande, seine Gedanken von Mr. Finchings Tante loszureißen. »Denn«, sagte er, um sich selbst zu entschuldigen, »ich versichere Sie, sie ist die kratzbürstigste Person, die man sich denken kann.«

Endlich machte er sich mit der größten Anstrengung so weit von diesem Gegenstand los, um zu bemerken: »Aber sie ist im Augenblick weder hier noch dort. Die andere Dame ist Mr. Casbys Tochter; und wenn es Mr. Casby nicht gut geht, so ist das nicht Pancks‘ Schuld. Denn Pancks gibt sich alle Mühe, wirklich alle Mühe, wahrhaftig alle Mühe!«

Mr. Plornish war nach seiner gewöhnlichen Manier etwas dunkel, aber gewissenhaft emphatisch.

»Und weshalb sie zu uns kam«, fuhr er fort, »war zu hinterlassen, daß, wenn Miß Dorrit zu dieser Adresse kommen wolle – nämlich Mr. Casbys Haus, Pancks hat ein Bureau hinten hinaus, wo er mehr, als man glaubt, arbeitet –, so würde sie sie mit Vergnügen beschäftigen. Sie sei eine alte und intime Freundin von Mr. Clennam – sagte sie ganz ausdrücklich – und hoffe sich seiner Freundin als eine nützliche Freundin zu erweisen. Das waren ihre Worte. Da sie zu wissen wünschte, ob Sie morgen früh kommen könnten, sagte ich, ich wolle Sie besuchen, Miß, und fragen und heute abend Bescheid sagen, daß, oder wenn Sie bereits versagt sind, wann Sie kommen könnten.«

»Ich kann morgen kommen, ich danke Ihnen«, sagte Klein-Dorrit. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, aber so sind Sie immer.«

Mr. Plornish öffnete, mit einer bescheidenen Ablehnung seiner Verdienste, die Zimmertür, um sie wieder einzulassen, und folgte ihr mit so ungemein keckem Anschein, als ob er gar nicht draußen gewesen, daß ihr Vater es hätte bemerken müssen, auch wenn er nicht mißtrauisch gewesen wäre. Der aber in seiner liebenswürdigen Gleichgültigkeit achtete nicht darauf. Nach einem kleinen Gespräch, in dem Plornish seine frühere Stellung als Kollege mit seinem gegenwärtigen Privilegium als ergebener Freund vermischte, das durch seine niedrige Stellung als Gipser eingeschränkt war, nahm er Abschied; ehe er jedoch ging, machte er noch die Tour durch das Gefängnis und sah einen Kegelspiel zu, mit den gemischten Gefühlen eines alten Insassen, der seine Privatgründe hatte zu glauben, daß es seine Bestimmung sei, wieder hierherzukommen.

Frühzeitig am Morgen begab sich Klein-Dorrit, Maggy bei ihren wichtigen häuslichen Beschäftigungen zurücklassend, nach dem Zelt des Patriarchen. Sie ging über die Iron Bridge, obgleich es ihr einen Penny kostete, und legte einen Teil ihres Weges langsamer zurück als alle andern. Fünf Minuten vor acht ruhte ihre Hand auf dem Klopfer des Patriarchen, der gerade so hoch war, daß sie ihn erreichen konnte.

Sie gab Mrs. Finchings Karte dem jungen Mädchen, das die Tür öffnete, und das junge Mädchen sagte ihr, daß »Miß Flora« – Flora hatte bei ihrer Rückkehr unter das väterliche Dach den Titel wieder angenommen, unter dem sie dort gelebt, – ihr Schlafzimmer noch nicht verlassen habe, aber es sei ihr vielleicht gefällig, sich in Miß Floras Arbeitszimmer zu begeben. Sie ging in Miß Floras Arbeitszimmer, als zur Arbeit bestellt, und fand dort einen Frühstückstisch behaglich für zwei hergerichtet, mit einem weiteren Gedeck für eine dritte Person. Das junge Mädchen, das für einige Augenblicke verschwand, kehrte zurück und sagte, sie möchte gefälligst einen Stuhl ans Feuer rücken, ihren Hut abnehmen und es sich bequem machen. Aber Klein-Dorrit, die sehr schüchtern und nicht gewohnt war, sich’s bei solchen Gelegenheiten bequem zu machen, wußte nicht, wie das anfangen; so saß sie noch in der Nähe der Tür, den Hut auf dem Kopf, als Flora eine halbe Stunde später in großer Eile erschien.

Flora bedauerte so sehr, sie habe warten zu lassen und, du liebe Zeit, warum sie in der Kälte sitze, während sie erwartet hatte, daß sie sie beim Kamin mit der Zeitung finden würde und ob das vergeßliche Mädchen ihr die Botschaft nicht überbracht und ob sie die ganze Zeit den Hut aufbehalten und »bitte um aller Güte willen, lassen Sie Flora denselben abnehmen!« Als Flora ihn in der freundlichsten Art von der Welt abnahm, war sie so erstaunt über das Gesicht, das sie enthüllte, daß sie sagte: »Was ein gutes kleines Geschöpf Sie sind, meine Liebe!« und drückte ihr Gesicht zwischen ihre beiden Hände, wie es nur die liebenswürdigste Frau tun kann.

Es war das Wort und die Tat eines Augenblicks. Klein-Dorrit hatte kaum Zeit zu denken, wie freundlich das sei, als Flora voll Geschäftigkeit auf den Frühstückstisch zueilte und sich Hals über Kopf in das Schwatzen stürzte.

»Wirklich sehr leid, daß ich zufälligerweise heute morgen später daran bin als sonst je, weil es meine Absicht und mein Wunsch war, bereit zu sein, Sie zu empfangen, wenn Sie kämen, und Ihnen zu sagen, daß jedermann, den Arthur Clennam auch nur halb soviel interessierte, mich gleichfalls interessieren müsse, und daß ich Sie aufs herzlichste willkommen heiße und so froh sei, statt dessen haben sie mich nicht gerufen und ich schnarchte wahrhaftig noch immer darf ich sagen und wünschen Sie nicht gern kaltes Geflügel oder warmen gekochten Schinken was viele Leute nicht mögen wie die Juden, das sind Gewissensskrupel die wir alle achten müssen, obwohl ich sagen möchte, ich wünschte, sie hätten ein ebenso zartes Gewissen, wenn sie uns falsche Artikel für echte verkaufen die sicherlich das Geld nicht wert sind, es würde mir leid tun«, sagte Flora.

Klein-Dorrit dankte ihr und sagte schüchtern, Brot und Butter und Tee sei alles, was sie gewöhnlich –

»Oh, Possen, mein liebes Kind, ich kann das nicht hören«, sagte Flora, die Teemaschine in der sorglosesten Weise umdrehend, während sie blinzeln mußte, da ihr das heiße Wasser in die Augen spritzte, als sie sich herabbeugte, um in den Teetopf zu blicken. »Sie wissen, Sie sind in der Stellung einer Freundin, Gesellschafterin hierhergekommen, wenn Sie erlauben, daß ich mir diese Freiheit nehme und ich würde mich wirklich vor mir selber schämen, wenn Sie in irgendeiner andern Stellung hierherkämen auch sprach Arthur Clennam in solchen Ausdrücken von Ihnen – Sie sind müde meine Liebe?«

»Nein, Ma’am.«

»Sie werden so blaß, Sie sind zu weit gegangen vor dem Frühstück und wohnen wahrscheinlich weit entfernt und hätten fahren sollen«, sagte Flora, »mein liebes, liebes Kind, könnte ich Ihnen mit irgend etwas dienen?«

»Ich bin wirklich ganz wohl, Ma’am. Ich danke Ihnen vielmals, aber ich bin ganz wohl.«

»Dann nehmen Sie wenigstens gleich Ihren Tee, ich bitte«, sagte Flora, »und diesen Flügel von einem Huhn und ein Stück Schinken, achten Sie nicht auf mich und warten Sie nicht auf mich, denn ich bringe immer selbst Mr. Finchings Tante das Frühstück weil sie es im Bett nimmt, eine liebenswürdige alte Dame und sehr gescheit, Porträt von Mr. Finching hinter der Tür und sehr ähnlich obgleich zu viel Stirn und was den Pfeiler mit dem Marmorboden und der Balustrade und den Bergen betrifft so sah ich ihn nie in solcher Umgebung auch ist die Situation für ein Weingeschäft unwahrscheinlich, ein ausgezeichneter Mann, aber durchaus nicht in solcher Stellung.«

Klein-Dorrit sah das Porträt an, folgte aber nur flüchtig den Andeutungen über dieses Kunstwerk.

»Mr. Finching war mir so ergeben, daß er mich nie aus seinen Augen lassen wollte«, sagte Flora. »Freilich bin ich nicht imstande zu sagen wie lange das gedauert haben würde wenn er nicht plötzlich vom Tode abberufen wäre während ich noch ein neuer Besen war, ein würdiger Mann aber unpoetisch und männliche Prosa aber keine Romantik.«

Klein-Dorrit sah das Porträt wieder an. Der Künstler hatte ihm einen Kopf gegeben, dessen oberer Teil in intellektueller Richtung, selbst für Shakespeare, zu bedeutend gegenüber dem unteren gewesen wäre.

»Die Romantik jedoch«, fuhr Flora fort, das Frühstück für Mr. Finchings Tante geschäftig arrangierend, »wie ich offen zu Mr. Finching sagte als er mir seinen Antrag machte und Sie werden staunen wenn ich Ihnen sage, daß er mir siebenmal seinen Antrag machte einmal in einer Mietkutsche einmal in einem Boot einmal in einem Kirchstuhl einmal auf einem Esel in Tunbridge Wells (Badeort) und die übrigen Male auf den Knien, die Romantik war mit den frühen Tagen Arthur Clennam’s entflohen, unsere Eltern rissen uns auseinander, wir wurden Marmor und strenge Wirklichkeit usurpierte den Thron, Mr. Finching sagte sehr zu seinem Vorteil, daß er das ganz wohl wisse und diesen Stand der Dinge sogar vorziehe, demzufolge wurde das Fiat ausgesprochen und das ist nun das Leben wie Sie sehen und doch brechen wir nicht sondern biegen nur, bitte lassen Sie sich das Frühstück schmecken während ich mit dem Teebrett hineingehe.«

Sie verschwand und Klein-Dorrit konnte nun über die Bedeutung ihrer zerstreuten Worte nachdenken. Sie kam bald wieder zurück und begann endlich selbst ihr Frühstück zu verzehren, indem sie die ganze Zeit über sprach.

»Sie sehen, meine Liebe«, sagte Flora, indem sie einen bis zwei Löffel von einer braunen Flüssigkeit, die wie Branntwein roch, in den Tee goß, »ich muß genau den Anordnungen meines Arztes folgen, obgleich der Geruch nichts weniger als angenehm ist; ich bin ein armes Geschöpf und habe mich vielleicht nicht mehr von dem Schlage erholt, den ich in der Jugend erlitt, indem ich mich im nächsten Zimmer zu sehr dem Weinen hingab als ich von Arthur getrennt wurde, kennen Sie ihn schon lange?«

Sobald Klein-Dorrit merkte, daß diese Frage an sie gerichtet sei – wozu Zeit nötig war, da der galoppierende Schritt ihrer neuen Gönnerin sie weit hinter sich gelassen –, antwortete sie, sie kenne Mr. Clennam seit seiner Rückkehr.

»Allerdings konnten Sie ihn nicht früher gekannt haben, da Sie sonst hätten in China gewesen sein oder mit ihm korrespondiert hätten, wovon weder das eine noch das andere wahrscheinlich«, versetzte Flora. »Denn Reisende werden gewöhnlich mehr oder weniger mahagonibraun und das sind Sie durchaus nicht und was das Korrespondieren betrifft worüber sollten Sie? Wirklich, außer Tee, so war’s also bei seiner Mutter, daß Sie ihn zuerst kennenlernten, – sehr gescheit und fest, aber fürchterlich streng – sollte die Mutter des Mannes mit der eisernen Maske sein.«

»Mrs. Clennam war sehr freundlich gegen mich«, sagte Klein-Dorrit.

»Wirklich? Es freut mich in der Tat sehr das zu hören weil es natürlich angenehm für mein Gefühl ist, von Arthurs Mutter eine bessere Meinung zu haben als ich früher hatte, obgleich ich, was sie von mir denkt, wenn ich so fortschwatze, was ich sicher stets tun werde, und sie mich wie das Fatum in einem Rollwagen anglotzt – wirklich ein seltsamer Vergleich – daß sie gebrechlich ist nicht ihre Schuld – nicht weiß und mir auch nicht denken kann.«

»Werde ich meine Arbeit irgendwo finden, Ma’am?« fragte Klein-Dorrit, schüchtern um sich her sehend; »kann ich sie bekommen?«

»Sie fleißige kleine Fee«, versetzte Flora, indem sie in eine zweite Tasse Tee eine zweite der vom Arzte vorgeschriebenen Dosen goß, »es hat nicht die geringste Eile und es ist besser, daß wir damit beginnen, uns vertrauliche Mitteilungen über unsern gemeinschaftlichen Freund zu machen – ein zu kaltes Wort für mich wenigstens ich meine das nicht, sehr passender Ausdruck gemeinschaftlicher Freund – statt daß ich, nicht Sie durch lauter Formalitäten wie der Spartanische Knabe mit dem Fuchs werde, der ihn biß. Sie werden entschuldigen, daß ich das auf das Tapet bringe, aber vor allen langweiligen Jungen, die in alle Arten von Gesellschaften hineinstolpern, ist dieser Junge der langweiligste.«

Klein-Dorrit setzte sich mit sehr blassem Gesichte wieder nieder, um zu lauschen. »Könnte ich nicht besser indessen arbeiten?« fragte sie. »Ich kann arbeiten und doch zuhören. Ich möchte es lieber, wenn ich dürfte.«

Es sprach sich in ihrem ernsten Tone so deutlich das Gefühl aus, daß ihr nicht wohl sei, wenn sie nicht arbeite, daß Flora antwortete: »Nun, meine Liebe, wie es Ihnen beliebt«, und einen Korb voll weißer Taschentücher brachte. Klein-Dorrit stellte ihn vergnügt neben sich, zog ihr kleines Taschenetui heraus, fädelte ihre Nadel ein und begann zu nähen.

»Was für flinke Finger Sie haben«, sagte Flora, »aber fühlen Sie sich auch gewiß wohl?«

»Oh, ja, gewiß!«

Flora stellte ihren Fuß auf den Schemel und bereitete sich auf eine durch und durch romantische Enthüllung vor. Sie fuhr bisweilen zusammen, schüttelte den Kopf, seufzte höchst ausdrucksvoll, machte häufigen Gebrauch von ihren Augenbrauen und sah dann und wann, aber nicht oft, in das ruhige Gesicht, das über die Arbeit herabgebeugt war.

»Sie müssen wissen, meine Liebe«, sagte Flora, »und ich zweifle nicht, daß Sie es bereits wissen, nicht nur weil ich die Sache obenhin erwähnt, sondern weil ich fühle, daß mir sein Name mit glühenden Lettern auf der Stirn geschrieben steht, daß ehe ich mit dem verstorbenen Mr. Finching bekannt wurde, ich ein Verhältnis mit Arthur Clennam hatte – Mr. Clennam vor den Leuten wo Zurückhaltung notwendig, Arthur hier – wir waren einander alles es war der Morgen des Lebens es war eine Seligkeit es war Wahnsinn es war alles andere der Art in der höchsten Steigerung, als wir auseinandergerissen und zu Stein wurden in welchem Zustande Arthur nach China ging und ich die Marmorbraut des verstorbenen Mr. Finching wurde.«

Flora, die diese Worte mit tiefer Stimme sprach, freute sich ungemein darüber.

»Die Gemütsbewegungen jenes Morgens zu schildern«, sagte sie, »als alles Marmor war und Mr. Finchings Tante in einem Glaswagen folgte der wie zu vermuten steht sich in schändlichem Zustande befunden sonst hatte er nicht zwei Straßen von dem Hause zerbrechen können, weshalb man Mr. Finchings Tante wie den fünften November15 in einem Binsenstuhl heimbringen mußte will ich nicht zu schildern suchen, es genüge zu sagen, daß die leere Form des Frühstücks in dem Speisezimmer drunten stattfand, daß Papa zuviel gesalzenen Salm aß wovon er wochenlang krank wurde und daß Mr. Finching und ich uns auf eine Reise nach dem Kontinent über Calais begaben, wo die Leute auf dem Damm sich um uns stritten, bis sie uns getrennt hatten, obgleich nicht für immer das sollte noch nicht geschehen.«

Die Marmorbraut, die sich kaum Zeit zum Atemholen ließ, fuhr mit der größten Wohlgefälligkeit in wildem Durcheinander der Gedanken, die zuweilen nach Fleisch und Blut schmeckten, fort:

»Ich will einen Schleier über dieses traumartige Leben werfen, Mr. Finching war gut aufgeräumt sein Appetit war vortrefflich er schätzte die Kocherei er hielt den Wein für schmackhaft und alles ging gut, wir kehrten in die unmittelbare Nachbarschaft zurück Nummer dreißig Little Gosling Street London Docks und ließen uns dort häuslich nieder, ehe wir aber noch sicher herausgebracht, daß das Stubenmädchen die Federn aus dem Reservebett verkaufte, schwang sich die in den Kopf getretene Gicht mit Mr. Finching aufwärts in eine andere Sphäre.«

Seine Hinterlassene schüttelte mit einem Blick auf sein Bild den Kopf und wischte ihre Augen.

»Ich ehre das Andenken Mr. Finchings als eines achtungswerten Mannes und höchst entgegenkommenden Gatten, man durfte nur Spargel erwähnen und sie erschienen augenblicklich oder irgendein kleines delikates Getränk und es kam wie durch einen Zauber in einer Schoppenflasche, es war nichts Begeisterndes, aber es war Komfort, ich kehrte unter Papas Dach zurück und lebte abgeschlossen wenn nicht glücklich einige Jahre lang bis Papa eines Tages sanft hereinkam und sagte Arthur Clennam erwarte mich unten, ich ging hinab und fand ihn, fragen Sie mich nicht wie ich ihn gefunden, außer daß er noch unverheiratet, noch unverändert war.«

Das dunkle Geheimnis, in das sich Flora hüllte, würde andre Finger als die geschäftigen, die neben ihr arbeiteten, zur Ruhe gebracht haben. Diese arbeiteten jedoch unausgesetzt fort, und der geschäftige Kopf, der über sie herabgebeugt war, betrachtete die Stiche.

»Fragen Sie mich nicht«, sagte Flora, »ob ich ihn noch liebe oder ob er mich noch liebt oder was daraus werden soll oder wann das Ende davon sein wird, wir sind von Späheraugen umgeben und es kann der Fall sein, daß wir bestimmt sind uns getrennt voneinander abzuhärmen, wir sollen vielleicht nie wieder vereinigt werden, nicht ein Wort nicht ein Atemzug nicht ein Blick soll uns verraten, alles soll ein Geheimnis bleiben wie das Grab, wundern Sie sich deshalb nicht, daß selbst wenn ich verhältnismäßig kalt gegen Arthur und Arthur verhältnismäßig kalt gegen mich scheinen sollte, wir haben schlimme Gründe dazu, es genügt, wenn wir sie kennen. Pst!«

All dies sagte Flora mit so ungestümer Heftigkeit, als glaubte sie wirklich daran. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß, wenn sie sich sogar in die Situation einer Sirene hineingearbeitet, sie wirklich geglaubt hätte, was sie als solche gesagt.

»Pst!« wiederholte Flora, »ich habe Ihnen jetzt alles gesagt, Vertrauen ist zwischen uns gegründet. Pst! um Arthurs willen werde ich stets eine Freundin für Sie sein, mein liebes Mädchen, und um Arthurs willen mögen Sie immer auf mich vertrauen.«

Die emsigen Finger legten die Arbeit beiseite und die kleine Gestalt erhob sich und küßte Floras Hand. »Sie sind sehr kalt«, sagte Flora, in den ihr eigenen natürlichen und herzlichen Ton verfallend und durch diesen Wechsel bedeutend gewinnend. »Arbeiten Sie heute nicht, ich bin überzeugt, Sie sind nicht wohl, ich bin überzeugt, Sie sind nicht stark.«

»Ich fühle mich nur etwas überwältigt durch Ihre Güte und durch die Güte Mr. Clennams, der mich einem Wesen anempfohlen, das er so lange gekannt und geliebt.«

»Ja, wirklich mein Kind«, sagte Flora, die die entschiedene Absicht hatte, ehrlich zu sein, wenn sie sich die Zeit ließ, darüber nachzudenken, »wir wollen das jedoch lieber unberührt lassen, da ich jetzt doch nicht imstande wäre, Ihnen die Sache auseinanderzusetzen, aber es hat nichts zu bedeuten, legen Sie sich ein wenig nieder.«

»Ich war immer stark genug, zu tun, was meine Pflicht war, und ich werde mich bald wieder gefaßt haben«, versetzte Klein-Dorrit mit einem flüchtigen Lächeln. »Sie haben mich mit Güte überwältigt, das ist alles. Wenn ich einen Augenblick am Fenster stehe, werde ich sogleich wieder bei voller Kraft sein.«

Flora öffnete ein Fenster, setzte sie in einen Stuhl daneben und begab sich bedächtig wieder an ihren früheren Platz. Es war ein windiger Tag, und die Luft, die über Klein-Dorrits Gesicht hinstrich, rief rasch wieder die frühere Röte auf demselben hervor. Wenige Minuten später kehrte sie zu ihrem Arbeitskorb zurück, und ihre emsigen Finger waren so emsig wie je.

Ruhig fortarbeitend fragte sie Flora, ob Mr. Clennam ihr gesagt, wo sie wohne? Als Flora verneinend antwortete, sagte Klein-Dorrit, sie verstehe, weshalb er so zartfühlend gewesen, sie sei jedoch überzeugt, er würde es billigen, wenn sie Flora ihr Geheimnis anvertraue, und daß sie es deshalb mit Floras Erlaubnis tun wolle. Sie erhielt eine ermutigende Antwort und drängte die Erzählung ihres Lebens auf wenige dürftige Worte von sich und eine glühende Lobrede auf ihren Vater zusammen, und Flora nahm alles mit einem natürlichen Zartgefühl auf, das die Sache wohl verstand, und in dem nichts Unzusammenhängendes war.

Als die Essenszeit kam, schlang Flora den Arm ihres neu anvertrauten Gutes durch den ihren, führte sie die Treppe hinab und stellte sie dem Patriarchen und Mr. Pancks vor, die bereits im Speisezimmer auf den Beginn des Mahles warteten. (Mr. Finchings Tante mußte für den Augenblick gewöhnlich das Zimmer hüten.) Sie wurde von den beiden Herren je nach dem Charakter jedes einzelnen empfangen; der Patriarch gab sich das Ansehen, als ob er ihr einen unschätzbaren Dienst erweise, indem er sagte, er freue sich, sie zu sehen, freue sich, sie zu sehen; und Mr. Pancks stieß seinen Lieblingston als Willkomm aus.

In dieser neuen Gesellschaft wäre sie unter allen Umständen schon schüchtern genug gewesen, namentlich, als Flora sie drängte, daß sie ein Glas Wein trinken und von dem Besten, was da sei, essen solle; ihr Unbehagen wurde jedoch durch Mr. Pancks noch bedeutend vermehrt. Das Benehmen dieses Mannes flößte ihr anfangs die Vermutung ein, daß er ein Porträtmaler sei, so aufmerksam betrachtete er sie und so häufig blickte er in das kleine Notizbuch, das er neben sich hatte. Als sie jedoch bemerkte, daß er keine Skizze machte und daß er nur von Geschäften sprach, begann der Verdacht in ihr zu erwachen, es sei ein Gläubiger ihres Vaters, dessen Schuld in jenem Taschenbuche stehe. Von diesem Gesichtspunkte aus drückte Mr. Pancks‘ Pusten Herausforderung und Ungeduld aus, und jedes lautere Schnauben wurde zu einer Zahlungsforderung.

Hierüber wurde sie jedoch durch ein anomales und ungereimtes Benehmen von seiten Mr. Pancks‘ enttäuscht. Sie hatte den Tisch bereits eine halbe Stunde verlassen und saß allein bei der Arbeit. Flora war gegangen, »um sich im nächsten Zimmer niederzulegen«, und infolge dieses Zurückziehens hatte der Geruch eines Getränks das Haus durchduftet. Der Patriarch war im Speisezimmer, den philanthropischen Mund weit geöffnet, unter einem gelben Taschentuch fest eingeschlafen. Zu dieser stillen Stunde erschien Mr. Pancks höflich nickend vor ihr.

»Finden es wohl etwas langweilig. Miß Dorrit?« fragte Pancks mit leiser Stimme.

»Nein, durchaus nicht, Sir«, sagte Klein-Dorrit.

»Beschäftigt, wie ich sehe«, bemerkte Mr. Panck«, indem er sich zollweise in das Zimmer schlich. »Was ist das, Miß Dorit?«

»Taschentücher.«

»Wirklich so!« sagte Panck«. »Ich hätte das in der Tat nicht gedacht.« Dabei sah er nicht einen Augenblick auf die Tücher, sondern beständig auf Klein-Dorrit. »Vielleicht möchten Sie wissen, wer ich bin. Soll ich es Ihnen sagen? Ich bin ein Wahrsager.«

Klein-Dorrit begann nun zu glauben, er sei toll.

»Ich gehöre mit Leib und Seele meinem Herrn«, sagte Pancks. »Sie sahen meinen Herrn beim Diner oben. Aber ich tue auch ein wenig in anderer Richtung; im stillen, sehr im stillen, Miß Dorrit.«

Klein-Dorrit sah ihn zweifelhaft und nicht ohne Unruhe an. »Ich wünschte, Sie zeigten mir das Innere Ihrer Hand. Lassen Sie sich nicht stören.«

Er störte insofern, als man ihn gar nicht hier wünschte, aber sie legte einen Augenblick ihre Arbeit in den Schoß und hielt ihm die Linke mit dem Fingerhut hin.

»Jahre voll Mühe, hm?« sagte Pancks sanft, indem er sie mit seinem plumpen Zeigefinger berührte. »Aber wozu sind wir sonst da? Nichts. Ha!« rief er, in die Linien blickend. »Was ist das mit den Eisenstäben? Es ist ein Kollege! Und was ist das mit einem grauen Rock und einer schwarzen Samtmütze? Es ist ein Vater! Und was ist das mit einer Klarinette? Es ist ein Onkel! Und was ist das in Tanzschuhen? Es ist eine Schwester! Und was ist das müßig Herumstreifende? Es ist ein Bruder! Und was ist das für sie alle Denkende? Nun, das sind Sie, Miß Dorrit!«

Ihre Blicke begegneten den seinen, als sie ihm staunend ins Gesicht sah, und sie dachte, obgleich seine Augen stechend waren, er sehe doch hübscher und gütiger aus, als er ihr beim Mittagessen vorgekommen. Seine Blicke ruhten bald wieder auf ihrer Hand, und die Gelegenheit, diesen Eindruck zu erhöhen oder zu verbessern, war vorbei.

»Jetzt ist der Henker darin«, murmelte Pancks, mit seinen plumpen Fingern eine Linie in ihrer Hand verfolgend, »wenn das in der Ecke nicht ich bin? Was tue ich hier? Was ist hinter mir?«

Er fuhr mit dem Finger langsam nach dem Handgelenk und um das Handgelenk und gab sich den Anschein, als suche er auf dem Rücken der Hand, was hinter ihm sei.

»Ist es irgend etwas Schlimmes?« fragte Klein-Dorrit lächelnd.

»Verwünscht!« sagte Pancks. »Was halten Sie davon?«

»Ich sollte das Sie fragen. Ich bin nicht der Wahrsager.«

»Allerdings,« sagte Pancks. »Was das bedeutet? Sie werden leben, um zu sehen, Miß Dorrit.«

Indem er ihre Hand langsam und stückweise losriß, strich er all seine Finger durch die Zinken seiner Haare, daß sie in ihrer ungeheuerlichsten Weise emporstarrten, und wiederholte langsam: »Vergessen Sie nicht, was ich sage, Miß Dorrit, Sie werden leben, um zu sehen.«

Sie konnte nicht umhin, ihr Staunen zu zeigen, wäre es auch nur, daß er so viel von ihr wußte.

»Ah! Das ist’s!« sagte Pancks auf sie deutend. »Miß Dorrit, nicht immer, nein!« Noch erstaunter denn zuvor und noch etwas geängstigter sah sie ihn an, als erwartete sie eine Erklärung seiner letzten Worte.

»Nicht das«, sagte Pancks, indem er mit dem größten Ernst gleichfalls sich den Schein des Erstaunens in Blick und Miene gab, was wider seine Absicht etwas grotesk aussah. »Tun Sie das nicht! Niemals, wenn Sie mich sehen, es mag sein, wann oder wo es will. Ich bin niemand, tun Sie nicht, als wenn Sie mich kennten. Nehmen Sie keine Notiz von mir. Wollen Sie das, Miß Dorrit?«

»Ich weiß kaum, was ich sagen soll«, versetzte Klein-Dorrit ganz betäubt. »Weshalb?«

»Weil ich ein Wahrsager bin, Pancks, der Zigeuner. Ich habe Ihnen noch nicht so viel von Ihrem Schicksal mitgeteilt, Miß Dorrit, daß ich Ihnen gesagt, was hinter mir auf dieser kleinen Hand ist. Ich habe Ihnen gesagt, Sie würden leben, um zu sehen. Ist es zugestanden, Miß Dorrit?«

»Zugestanden, daß ich – –«

»Keine Notiz von mir außerhalb dieses Zimmers nehmen, es sei denn, daß ich es zuerst tue. Nicht auf mich zu achten, wenn ich komme und gehe. Es ist sehr leicht. Es ist kein Verlust, ich bin nicht schön, ich bin keine gute Gesellschaft, ich bin nur meines Herrn Ausjäter. Sie dürfen nur denken: ›Ah! Pancks der Zigeuner bei seinem Wahrsagen – er wird mir einst den Nest meines Schicksals sagen – ich werde leben, um es zu erfahren.‹ Ist das zugestanden, Miß Dorrit?«

»Ja«, stammelte Klein-Dorrit, die er in große Verwirrung brachte, »ich denke, solange Sie nichts Böses tun.«

»Gut!« Mr. Pancks sah nach der Wand des anstoßenden Zimmers und trat vorwärts. »Ehrliches Geschöpf, Mädchen von großen Eigenschaften, aber auch eine ebenso unvorsichtige und leichtsinnige Plauderin, Miß Dorrit.« Damit rieb er seine Hände, als wenn die Begegnung sehr befriedigend für ihn ausgefallen, schnaubte fort nach der Tür und entfernte sich wieder mit höflichen Verbeugungen.

Wenn Klein-Dorrit durch dieses seltsame Benehmen von seiten ihrer neuen Bekanntschaft und dadurch, daß sie sich in diese eigentümliche Geschichte verwickelt sah, sich schon ungewöhnlich verwirrt fühlte, so verringerte sich keineswegs diese Verwirrung durch die nachfolgenden Umstände. Außerdem, daß Mr. Pancks jede Gelegenheit ergriff, die ihm in Mr. Casbys Haus geboten war, um sie bedeutungsvoll anzusehen und anzuschnauben – was nicht viel heißen wollte, nach dem, was er bereits getan – begann er nun auch ihr tägliches Leben zu durchkreuzen. Sie sah ihn beständig auf der Straße. Wenn sie zu Mr. Casby ging, war er immer da. Wenn sie zu Mrs. Clennam ging, kam er unter irgendeinem Vorwand, als wenn er sie nicht aus den Augen verlieren wollte. Es war noch keine Woche vergangen, so fand sie ihn immer abends im Pförtnerstübchen, mit dem diensttuenden Schließer, der allem Anschein nach zu seinen Vertrauten gehörte, im Gespräch begriffen. Ihr nächstes Erstaunen war, ihn auch ganz behaglich im Gefängnis zu finden; zu hören, daß er sich unter den Besuchen bei ihres Vaters Sonntagsempfang befunden, ihn Arm in Arm mit einem gefangenen Freund auf dem Hof gehen zu sehen; durch Hörensagen zu erfahren, daß er sich eines Abends bei dem gesellschaftlichen Klub, der seine Zusammenkünfte in der Snuggery hielt, bedeutend hervorgetan, indem er an die Mitglieder dieses Instituts eine Rede hielt, ein Lied sang und die Gesellschaft mit fünf Gallonen Ale traktierte – das Gerücht fügte verkehrterweise eine große Menge Seegarnelen hinzu. Die Wirkung, die diese Erscheinungen, von denen er bei seinen treulichen Besuchen Augenzeuge wurde, auf Mr. Plornish hatten, machte einen Eindruck auf Klein-Dorrit, der dem nachstand, den diese Erscheinungen selbst hervorbrachten. Sie schienen ihn durch eine Mundsperre am Sprechen zu hindern und zu binden. Er konnte nur starren und bisweilen leise murmeln, man würde es im Bleeding Heart Yard gar nicht glauben, daß das Pancks sei, aber er sagte nie ein Wort, noch machte er ein Zeichen, selbst nicht gegenüber von Klein-Dorrit. Mr. Pancks setzte seinem geheimnisvollen Verfahren die Krone auf, indem er sich auf eine unerklärte Art mit Tip bekannt machte und an einem Sonntag an dem Arme dieses jungen Mannes in das Kolleg schlenderte. Er nahm jedoch die ganze Zeit nicht die geringste Notiz von Klein-Dorrit, ausgenommen ein- oder zweimal, wo es ihm gelang, ganz in ihre Nähe zu kommen, und niemand dabei war; bei welcher Gelegenheit er im Vorbeigehen mit einem freundlichen Blick und einem ermutigenden Pusten zu ihr sagte: »Pancks der Zigeuner – wahrsagen.«

Klein-Dorrit arbeitete mit angestrengtem Fleiß, wie gewöhnlich, indem sie sich über all dies wunderte, aber ihr Staunen in ihrer eigenen Brust bewahrte, wie sie seit frühster Zeit schon manche schwerere Last mit sich herumgetragen. Eine Veränderung war mit dem geduldigen Herzen vorgegangen und ging noch mit ihm vor. Mit jedem Tag wurde sie zurückhaltender. Unbemerkt im Gefängnisse aus- und einzugehen und auch sonst übersehen und vergessen zu werden, waren ihre Hauptwünsche.

Es war ihre Freude, sich, sooft sie nur konnte, ohne deshalb ihre Pflicht zu versäumen, in ihr Zimmer, das für ihre zarte Jugend und ihren Charakter etwas seltsam eingerichtet war, zurückzuziehen. Es gab Nachmittagsstunden, in denen sie unbeschäftigt war, in denen Besuche zu ihrem Vater kamen, die ein Kartenspiel mit ihm machen wollten, wobei sie entbehrt werden konnte und besser fort war. Dann eilte sie durch den Hof, stieg die paar Treppen hinauf, die zu ihrem Zimmer führten, und stellte ihren Stuhl an das Fenster. Die Spitzen auf der Mauer nahmen mancherlei Gestalten an, manche leichte Formen wob das schwere Eisen, manches goldene Streiflicht fiel auf den Rost, während Klein-Dorrit sinnend dasaß. Neue Zickzacks sprangen bisweilen in das grausame Muster, wenn sie durch einen Strom von Tränen daraufblickte; aber verschönert oder verdüstert, ob darüber oder darunter oder durch dasselbe, wohl oder übel, sie mußte in ihrer Einsamkeit darauf hinblicken und alles mit jenem unverwischbaren Brandmal sehen.

Eine Dachstube, und zwar eine Marschallgefängnisdachstube ohne Vergleich, war Klein-Dorrits Zimmer. Es war schön gehalten, obgleich an und für sich noch häßlich, und hatte wenig außer Reinlichkeit und Luft, womit es glänzen konnte; denn aller Zierat, den sie je hatte kaufen können, ging nach ihres Vaters Zimmer. Wie dem aber auch sei, sie zeigte für diesen dürftigen Ort eine stets wachsende Liebe; und allein in ihrem Zimmer zu sitzen, wurde ihre Lieblingsruhe.

Und dies in solchem Grade, daß, als sie eines Nachmittags während der Pancksgeheimnisse an ihrem Fenster saß und Maggys wohlbekannten Schritt die Treppe heraufkommen hörte, sie durch die Befürchtung, abgerufen zu werden, nicht wenig in Unruhe kam. Als Maggys Schritt sich näherte, zitterte sie und schwankte; und es war alles, daß sie sprechen konnte, als Maggy endlich erschien.

»Bitte, Mütterchen«, sagte Maggy nach Luft schnappend, »du mußt herunterkommen und ihn sehen. Er ist hier.«

»Wer, Maggy?«

»Wer? Natürlich Mr. Clennam. Er ist in deines Vaters Zimmer und sagte zu mir: ›Maggy, wollen Sie so gut sein, zu gehen und ihr zu sagen, daß nur ich es bin.‹«

»Ich bin nicht ganz wohl. Es wäre besser, ich ginge nicht. Ich will mich niederlegen. Sieh! ich lege mich nieder, um meinen Kopf auszuruhen. Sage ihm mit einer dankbaren Empfehlung, daß du mich so verlassen, sonst würde ich gekommen sein.«

»Gut, aber es ist nicht besonders höflich, Mütterchen«, sagte Maggy und stierte sie an, »dein Gesicht so wegzuwenden!«

Maggy war sehr empfindlich für persönliche Hintansetzungen und sehr erfinderisch in Auffindung solcher. »Und beide Hände vor das Gesicht zu tun!« fuhr sie fort. »Wenn du die Blicke eines armen Dinges nicht ertragen kannst, wäre es besser, es ihr gleich zu sagen und sie nicht so von sich zu stoßen, indem man ihre Gefühle verletzt und ihr zehnjähriges Herz bricht, dem armen Ding!«

»Ich will ja nur meinen Kopf ausruhen, Maggy!«

»Gut, und wenn du meinst, um deinen Kopf zu erleichtern, Mütterchen, so laß mich auch weinen. Behalte nicht das Weinen für dich allein«, heischte Maggy, »du mußt nicht so gierig sein.« Und augenblicklich begann sie zu weinen, daß ihr die Backen anschwollen.

Es kostete einige Mühe, sie zu veranlassen, mit der Entschuldigung zurückzukehren; aber das Versprechen, daß sie ihr eine Geschichte erzählen werde – von je ihr größtes Vergnügen – unter der Bedingung, daß sie all ihre Geistesfähigkeit auf diese Botschaft konzentriere und ihre kleine Herrin auf eine Stunde allein lasse, in Verbindung mit der Besorgnis auf seiten Maggys, sie möchte ihren guten Humor unten an der Treppe zurückgelassen haben, überwog. So ging sie weg, die Botschaft den ganzen Weg über vor sich hinmurmelnd, um sie nicht zu vergessen, und kam zur bestimmten Stunde zurück.

»Er war sehr besorgt, kann ich dir sagen«, kündigte sie an, »und wollte zu einem Arzt schicken. Und morgen will er wiederkommen, ja, und ich glaube nicht, daß er heute nacht gut schläft, nachdem er von deinem Kopfleiden weiß, Mütterchen. O Gott! Hast du nicht geweint?«

»Ich glaube, ich habe ein wenig geweint, Maggy.«

»Ein wenig! Oh!«

»Aber es ist jetzt vorbei – ganz vorbei und wieder gut, Maggy. Und mein Kopf ist weit besser und kühler, und ich fühle mich ganz wohl. Ich bin recht froh, daß ich nicht hinunterging.«

Ihr großes, staunendes Kind umarmte sie zärtlich; und nachdem sie ihr Haar geglättet und ihre Stirn und ihre Augen mit kaltem Wasser gebadet (Dienste, in denen ihre linkischen Hände geschickt wurden), umarmte sie sie wieder, frohlockte über die freudigeren Blicke und führte sie wieder nach dem Stuhl am Fenster. Gegenüber von diesem Stuhl rückte Maggy mit krampfhaften Anstrengungen, die durchaus nicht notwendig waren, die Kiste, auf der sie gewöhnlich saß, während Geschichten erzählt wurden, setzte sich darauf, umarmte ihre eignen Knie und sagte mit Ungeduld auf Geschichten und mit weit geöffneten Augen:

»Nun, Mütterchen, jetzt aber eine gute!«

»Wovon soll sie handeln, Maggy?«

»Oh, von einer Prinzessin«, sagte Maggy, »und von einer rechten. Ganz unglaublich, du weißt schon.«

Klein-Dorrit bedachte sich einen Augenblick, und mit einem ziemlich traurigen Lächeln, das vom Sonnenuntergang mit seiner Röte übergossen wurde, begann sie:

»Maggy, es war einmal ein edler König, der hatte alles, was er nur wünschen mochte, und noch weit mehr. Er hatte Gold und Silber, Diamanten und Rubinen, Reichtümer aller Art. Er hatte Paläste und hatte –«

»Hospitäler«, unterbrach sie Maggy, noch immer ihre Knie wiegend. »Er soll auch Hospitäler haben, weil sie so angenehm sind, mit Abgaben von Hühnern.«

»Ja, er hatte eine Masse dergleichen, und er hatte eine Masse von allem.«

»Eine Masse gebratener Kartoffeln zum Beispiel?« sagte Maggy.

»Eine Masse von allem.“

»Gluck, gluck!« lockte Maggy, indem sie ihre Knie umarmte. »War das nicht herrlich!«

»Dieser König hatte eine Tochter, die die weiseste und schönste Prinzessin war, die je gelebt. Als sie noch ein Kind war, wußte sie alle ihre Lektionen, ehe die Lehrer sie dieselben lehrten; und als sie erwachsen war, war sie das Wunder der Welt. Nun stand in der Nähe des Palastes, wo die Prinzessin wohnte, eine Hütte, in der eine arme winzig kleine Frau wohnte, die ganz allein lebte.«

»Eine alte Frau«, sagte Maggy mit einem fettigen Schnalzen ihrer Lippen.

»Nein, nicht eine alte Frau. Eine ganz junge Frau.«

»Ich möchte wissen, ob sie sich nicht fürchtete«, sagte Maggy. »Bitte, fahre fort.«

»Die Prinzessin kam beinahe jeden Tag an der Hütte vorüber, und sooft sie in ihrem schönen Wagen vorbeifuhr, sah sie die arme winzig kleine Frau an ihrem Rade spinnen, und sie sah die winzig kleine Frau an, und die winzig kleine Frau sah sie an. So ließ sie den Kutscher eines Tages kurz vor der Hütte halten und stieg aus und ging näher und sah zur Tür hinein. Da war wie gewöhnlich die winzig kleine Frau, die an ihrem Rade spann, und sie sah die Prinzessin an, und die Prinzessin sah sie an.«

»Als wollten sie einander wegstarren«, sagte Maggy. »Bitte, fahre fort, Mütterchen.«

»Die Prinzessin war so eine wunderbare Prinzessin, daß sie die Kraft hatte, Geheimnisse zu wissen, und sie sagte zu der winzig kleinen Frau: ›Warum bewahrst du es hier?‹ Dies zeigte ihr augenblicklich, daß die Prinzessin wisse, warum sie an diesem Rade spinnend allein wohne, und sie fiel der Prinzessin zu Füßen und bat sie, sie nicht zu verraten. Die Prinzessin sagte: ›Ich werde dich nicht verraten. Laß mich es sehen.‹ Die winzig kleine Frau schloß den Laden des Hüttenfensters und verriegelte die Tür, und von Kopf bis zu Fuß zitternd, aus Furcht, es möchte jemand Verdacht schöpfen, öffnete sie einen sehr geheimen Platz und zeigte der Prinzessin einen Schatten.«

»Puh!« sagte Maggy.

»Es war der Schatten von jemand, der längst dahingegangen; von einem, der weit fortgegangen außer allem Bereich, um nimmer, nimmer wiederzukehren. Es war ein glänzender Anblick: und als die winzig kleine Frau es der Prinzessin zeigte, war sie von ganzem Herzen darauf stolz, als auf einen großen, großen Schatz. Als die Prinzessin es eine kurze Zeitlang betrachtet, sagte sie zu der winzig kleinen Frau: ›Und du bewachst das Tag und Nacht?‹ Und sie schlug die Augen nieder und flüsterte: ›Ja‹. Dann sagte die Prinzessin: ›Erkläre mir, warum.‹ Worauf die andere antwortete: es sei niemand so Gutes und Freundliches je diesen Weg gekommen, und das sei anfangs der Grund gewesen. Auch sagte sie, daß niemand es vermisse, daß niemand deshalb schlimmer daran sei, daß jener jemand zu denen gegangen sei, die ihn erwarteten –«

»So ist der jemand also ein Mann?« warf Maggy ein.

Klein-Dorrit sagte schüchtern Ja, sie glaube wohl, und fuhr dann fort:

»Zu denen gegangen sei, die ihn erwarteten, und daß diese Erinnerung niemandem gestohlen oder vorenthalten sei. Die Prinzessin antwortete: ›Ah! Aber wenn die Bewohnerin der Hütte stürbe, so würde man es ja finden.‹ Die winzig kleine Frau sagte ihr Nein: wenn diese Zeit käme, würde es ruhig in ihr Grab sinken und nicht mehr zu finden sein.«

»Gewiß«, sagte Maggy, »fahre fort, bitte!«

»Die Prinzessin war sehr erstaunt, das zu hören, wie du dir denken kannst, Maggy.«

»Das mußte sie auch sein«, sagte Maggy.

»Sie beschloß deshalb, die winzig kleine Frau zu beobachten und zu sehen, was daraus entstünde. Jeden Tag fuhr sie in ihrem schönen Wagen an der Tür der Hütte vorüber und sah dort die winzig kleine Frau immer allein an ihrem Spinnrade sitzen. Und sie sah die winzig kleine Frau an, und die winzig kleine Frau sah sie an. Endlich stand eines Tages das Rad still, und die winzig kleine Frau war nicht zu sehen. Als die Prinzessin fragte, warum das Rad sich nicht mehr bewege, und wo die winzig kleine Frau sei, unterrichtete man sie, daß das Rad sich nicht mehr bewege, weil niemand da sei, der es drehe, da die winzig kleine Frau gestorben.«

(»Sie hätten sie ins Hospital bringen sollen«, sagte Maggy, »dann würde sie sicherlich davongekommen sein.«)

»Nachdem die Prinzessin ganz kurze Zeit über den Verlust der winzig kleinen Frau geweint, trocknete sie ihre Augen und stieg aus dem Wagen an dem Platz, wo sie ihn hatte früher halten lassen, und ging nach der Hütte und schaute zur Tür hinein. Da war jedoch niemand, der sie angesehen hätte, und niemand, den sie hätte ansehen können; sie trat deshalb ein, um nach dem wertvollen Schatten zu sehn, aber es war nirgend eine Spur von ihm zu finden; da wußte sie, daß die winzig kleine Frau ihr die Wahrheit gesagt, und daß es niemanden mehr beunruhigen würde, und daß es ruhig in sein eignes Grab gesunken, und daß sie und der Schatten miteinander zur Ruhe gekommen.«

»Das ist alles, Maggy.«

Der Sonnenuntergang ergoß eine solche Glut auf Klein-Dorrits Gesicht, als sie an das Ende ihrer Geschichte kam, daß sie mit ihrer Hand die Augen beschattete.

»Ist sie alt geworden?« fragte Maggy.

»Die winzig kleine Frau?«

»Ja!«

»Ich weiß es nicht«, sagte Klein-Dorrit. „Aber es wäre ganz das gleiche gewesen, und wenn sie noch so alt geworden.«

»Wirklich?« sagte Maggy. „Ich vermute, es ist der Fall.« Und dabei saß sie mit stierem Sinnen da.

Sie saß so lange mit weit geöffneten Augen da, daß Klein-Dorrit am Ende, um sie von ihrer Kiste wegzulocken, aufstand und zum Fenster hinaussah. Als sie in den Hof hinabblickte, sah sie Pancks hereinkommen und mit dem Winkel seines Auges, während er vorüberging, heraufschielen. »Wer ist das, Mütterchen?« sagte Maggy. Sie war zu ihr ans Fenster getreten und lehnte an ihrer Schulter. »Ich sehe ihn oft aus- und eingehen.«

»Ich hörte draußen, er sei ein Wahrsager«, erwiderte Klein-Dorrit. »Aber ich zweifle, ob er vielen Leuten selbst ihre Vergangenheit und Gegenwart weissagen könnte.«

»Hätte er der Prinzessin nicht das ihrige sagen können?« fragte Maggy.

Klein-Dorrit, die sinnend in das dunkle Tal des Gefängnisses hinabsah, schüttelte den Kopf.

»Auch der winzig kleinen Frau nicht?« fragte Maggy.

»Nein«, sagte Klein-Dorrit, und der Sonnenuntergang beleuchtete hell ihr Gesicht. »Aber laß uns vom Fenster weggehen!«

  1. Guy Fawkes Tag, an dem eine Strohpuppe überall in England verbrannt wird zum Andenken an die Pulververschwörung 6. November 1605.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Verschworene und andere Leute.

Die Privatwohnung von Mr. Pancks war in Pentonville, wo er auf außerordentlich bescheidenem Fuß im zweiten Stock bei einem Rechtsgelehrten hauste, der eine innere Tür hinter der Straßentür hatte, die auf einer Feder ruhte und mit einem Klirren wie eine Falle aufsprang. An dem fächerartigen Fenster stand geschrieben: Rugg, Generalagent, Rechnungsführer und Schuldeneintreiber.

Dieser Streifen, majestätisch in seiner strengen Einfachheit, bestrahlte ein schmales Stück Garten vor dem Hause, der an die durstige Landstraße stieß, wo einige von den staubigsten Blättern ihre traurigen Häupter hängen ließen und ein verschmachtendes Leben führten. Ein Professor der Kalligraphie bewohnte den ersten Stock und belebte das Gartengitter durch Glaskasten, die ausgewählte Proben von dem enthielten, was seine Zöglinge vor sechs Lektionen gewesen, als seine junge Familie am Tische rüttelte, und was sie nach sechs Lektionen geworden, als die Familie sich ruhig verhielt. Der Raum, den Mr. Pancks innehatte, beschränkte sich auf ein luftiges Schlafzimmer, er war jedoch mit Mr. Rugg, seinem Hausherrn, übereingekommen, daß er gegen Entrichtung einer gewissen genau bestimmten Skala von Bezahlungen und nach zuvor gegebener mündlicher Notiz das Frühstück, Mittagessen, den Tee oder das Nachtessen, eines von diesen oder alle zusammen bei Mr. und Miß Rugg, seiner Tochter, im hintern Zimmer sollte einnehmen dürfen.

Miß Rugg war eine Dame von ein wenig Vermögen, das sie sich mit großer Auszeichnung in der Nachbarschaft dadurch erworben, daß ihr Herz schwer zerrissen und ihre Gefühle tief verletzt worden waren, und zwar durch einen in der Nähe wohnenden Bäcker von mittlerem Alter, gegen den sie durch die Vermittlung Mr. Ruggs einen Entschädigungsprozeß wegen Bruchs eines Heiratsversprechens einzuleiten für nötig befunden. Der Bäcker, der bei dieser Gelegenheit durch den Anwalt der Miß aussaugerisch auf den vollen Betrag von zwanzig Guineen angeklagt wurde, achtzehn Pence pro Titel, und zu entsprechender Entschädigung verurteilt worden, hatte von der Jugend von Pentonville auch noch gelegentlich Verfolgungen auszustehen. Miß Rugg dagegen, von der Majestät des Gesetzes umgeben und besorgt, ihr Geld in Staatspapieren anzulegen, wurde mit großer Achtung behandelt.

In der Gesellschaft von Mr. Rugg, der ein rundes, weißes Gesicht hatte, als wäre ihm längst alle Röte entzogen, und einen zerzausten, gelben Kopf wie ein alter Flederwisch, und in der Gesellschaft von Miß Rugg, die kleine Nankingflecke wie Hemdknöpfe über das ganze Gesicht verbreitet hatte, und deren gelbe Haare mehr ruppig als üppig waren, hatte Mr. Pancks seit einigen Jahren gewöhnlich Sonntags gespeist und ungefähr zweimal in der Woche ein Abendessen, bestehend aus Brot, holländischem Käse und Porter eingenommen. Mr. Pancks war einer von den sehr wenigen heiratsfähigen jungen Männern, vor denen sich Miß Rugg nicht fürchtete; die Gründe, mit denen sie sich beruhigte, waren zweierlei Art, nämlich erstlich: »daß es nicht zweimal anginge«, und zweitens: »daß er’s nicht wert wäre.« Mit dieser doppelten Waffe ausgerüstet, konnte sich Miß Rugg leicht von Mr. Pancks anschnauben lassen. Bis zu dieser Zeit hatte Mr. Pancks wenig oder kein Geschäft in seinem Quartier in Pentonville besorgt, außer dem des Schlafens; aber jetzt, da er Wahrsagerei trieb, saß er oft nach Mitternacht mit Mr. Rugg in seinem kleinen Bureau, das nach vorn ging; und sogar nach dieser späten Stunde brannte Talglicht in seinem Schlafzimmer. Obgleich seine Obliegenheiten als Ausjäter seines Herrn in keiner Weise sich vermindert hatten, und obschon dieser Dienst keine größere Ähnlichkeit mit einem Rosenbeet hatte als die, die sich in seinen vielen Dornen entdecken ließ, nahm ihn doch irgendein neuer Industriezweig beständig in Anspruch. Wenn er sich am Abend von dem Patriarchen losband, geschah es nur, um eine ungetaufte Barke ins Schlepptau zu nehmen und in andern Gewässern wieder frisch draufloszuarbeiten. Der Schritt von einer persönlichen Bekanntschaft mit dem ältern Mr. Chivery zu einer Bekanntschaft mit seiner liebenswürdigen Frau und seinem trostlosen Sohn mochte leicht gewesen sein; aber leicht oder nicht, Mr. Pancks machte ihn sehr bald. Eine Woche oder zwei nach seinem ersten Erscheinen im Kollegium nistete er bereits in dem Tabakgeschäft und suchte hauptsächlich ein gutes Einverständnis mit dem jungen John herbeizuführen. Dies gelang ihm in solchem Grade, daß er den sich abquälenden Schäfer von den Hainen weglockte und ihm geheimnisvolle Missionen gab, bei welchen Gelegenheiten dieser dann in unbestimmten Zeiträumen für zwei bis drei Tage zu verschwinden begann. Die kluge Mrs. Chivery, die über diese Veränderung höchlich erstaunt war, würde dagegen, als etwas dem Hochländlerbild an dem Türpfosten Widerstrebendes protestiert haben, wenn sie nicht zwei zwingende Gründe gehabt hätte: erstens, daß ihr Sohn lebhaftes Interesse an dem Geschäft zu nehmen gezwungen war, das diese Reisen fördern mußten, – und das hielt sie gut für seine gebeugten Geister; zweitens, daß Mr. Pancks im Vertrauen ihr das Versprechen machte, für die Zeit, die ihr Sohn ihm widme, die hübsche Summe von sieben Schillingen und sechs Pence für den Tag zu bezahlen. Der Vorschlag, der von ihm selbst kam und in die energischen Worte gekleidet wurde: »Wenn Ihr Sohn schwach genug ist, Ma’am, es nicht zu nehmen, so ist das noch kein Grund, warum Sie das auch sein sollten, nicht wahr? Somit ganz unter uns: das Geschäft ist abgemacht!«

Was Mr. Chivery von diesen Sachen dachte und wieviel oder wie wenig er von denselben wußte, war nicht zu erfahren. Es ist bereits von ihm bemerkt worden, daß er ein Mann von wenigen Worten war; und es mag hier erwähnt werden, daß er von seinem Geschäft die Gewohnheit angenommen, alles zu verschließen. Er verschloß sich selbst so sorgfältig wie die Schuldner im Marschallgefängnis. Selbst seine Gewohnheit, sein Essen zu verriegeln, mag ein Teil eines gleichförmigen Ganzen gewesen sein, aber es ist keine Frage, daß er in allen andern Dingen seinen Mund verschloß, wie er das Marschallgefängnis verschloß. Er öffnete ihn nie ohne Veranlassung. Wenn es notwendig war, sich über etwas zu äußern, öffnete er ihn ein wenig, hielt ihn so lange offen, wie für den Zweck genügte, und schloß ihn dann wieder. Gerade wie er seine Mühe an der Tür des Marschallgefängnisses sparte und einen Fremden, der hinausgehen wollte, einige Augenblicke warten ließ, wenn er einen andern Fremden den Hof herabkommen sah, so daß ein Umdrehen des Schlüssels für beide genügte, ähnlich behielt er häufig eine Bemerkung zurück, wenn er eine andere auf dem Wege zu seinen Lippen bemerkte, und entließ sie dann beide zu gleicher Zeit. Suchte man in seinem Gesicht irgendeinen Schlüssel zur Kenntnis seines Innern, so war der Marschallgefängnisschlüssel ein ebenso leserlicher Index der Charaktere und Geschichten, die er verschloß.

Daß Mr. Pancks sich veranlaßt sehen sollte, irgend jemand nach Pentonville einzuladen, war ein Fall, der in seinem Kalender noch nicht bemerkt war. Er lud jedoch den jungen John zum Mittagessen und brachte ihn in die Schußweite des gefährlichen (weil sehr verschwenderischen) Zaubers von Miß Rugg. Das Bankett war auf einen Sonntag bestimmt, und Miß Rugg füllte bei dieser Gelegenheit mit eigener Hand einen Hammelbraten mit Austern und schickte ihn zum Bäcker, nicht zu dem Bäcker, sondern zu einem Gegner desselben. Große Vorräte von Orangen, Apfel und Nüssen wurden gleichfalls aufgekauft. Auch Rum brachte Mr. Pancks Samstag abend nach Hause, um das Herz des Gastes zu erfreuen.

Dieser Überfluß an körperlichen Labsalen war nicht das Wichtigste bei dem Empfang des Fremden. Sein wesentlicher Zug war die vorhergängige Vertraulichkeit und Sympathie der Familie. Als der junge John um halb zwei Uhr ohne die Elfenbeinhand und die Weste mit den Goldzweigen erschien, wie eine Sonne, die durch tückische Wolken ihrer Strahlen beraubt ist, stellte ihn Mr. Pancks den gelbhaarigen Ruggs als den so oft erwähnten jungen Mann vor, der Miß Dorrit liebe.

»Ich freue mich«, sagte Mr. Rugg, ihn hauptsächlich in dieser Richtung anredend, »das außerordentliche Vergnügen zu haben, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir. Ihre Gefühle machen Ihnen Ehre. Sie sind jung; mögen Sie nie Ihre Gefühle überleben. Sollte ich je meine Gefühle überleben, Sir«, sagte Mr. Rugg, der ein Mann von vielen Worten war und für einen sehr gewandten Sprecher galt, »sollte ich meine Gefühle überleben, so würde ich in meinem Testament fünfzig Pfund dem Manne aussetzen, der mich aus dem Leben schaffte.«

Miß Rugg seufzte tief auf.

»Meine Tochter, Sir«, sagte Mr. Rugg. »Anastasia, dir sind die Gefühle dieses jungen Mannes nicht fremd. Meine Tochter hatte auch ihre Prüfungen« (Mr. Rugg hätte das Wort ruhig in der Einzahl brauchen sollen), »und sie kann mit Ihnen fühlen.«

Der junge John, beinahe betäubt von dieser rührenden Art des Empfangs, gab dies durch einige Worte zu erkennen.

»Um was ich Sie beneide, Sir«, sagte Mr. Rugg, »– erlauben Sie, daß ich Ihren Hut nehme, wir haben etwas wenig Haken, ich will ihn in die Ecke stellen, niemand wird dort darauf treten – um was ich Sie beneide, Sir, ist der Reichtum Ihrer Empfindungen. Ich gehöre zu einem Stande, dem dieser Reichtum bisweilen versagt ist.«

Der junge John antwortete, indem er seinen Dank aussprach, daß er die Hoffnung hege, er tue, was recht sei und was beweise, wie sehr er Miß Dorrit ergeben sei. Er wünsche, unselbstsüchtig zu sein, und hoffe es zu sein. Er wünsche, alles, was in seiner Macht stünde, zu tun, um Miß Dorrit zu dienen, indem er sich dabei ganz aus den Augen setzte; und er hoffe, daß dies der Fall sei. Es sei nur wenig, was er tun könne, über er wünsche es zu tun.

»Sir«, sagte Mr. Rugg, indem er ihn bei der Hand nahm. »Sie sind ein junger Mann, dem zu begegnen einem wohltut. Sie sind ein junger Mann, den ich auf die Zeugenbank setzen möchte, um die Herren vom Recht menschlicher zu machen. Ich hoffe, Sie haben Appetit mitgebracht und beabsichtigen, eine gute Klinge zu schlagen?«

»Ich danke, Sir«, versetzte der junge John, »ich esse gegenwärtig nicht viel.«

Mr. Rugg zog ihn ein wenig auf die Seite. »Ganz meiner Tochter Fall«, sagte er, »als sie, um ihre verletzten Gefühle und ihr Geschlecht zu rächen, in Sachen Ruggs gegen Bawkins klagbar wurde. Ich glaube, Mr. Chivery, ich hätte, wofern ich es der Mühe wert gehalten, mit Beweisen belegen können, daß das Gewicht solider Nahrungsmittel, die meine Tochter zu jener Zeit konsumierte, zehn Unzen wöchentlich nicht überstieg.«

»Ich glaube, etwas darüber hinauszugehen, Sir«, versetzte der andere zögernd, als ob er mit einer gewissen Scham dies Geständnis machte.

»Aber in Ihrem Falle ist auch kein Teufel in Menschengestalt im Spiel«, sagte Mr. Rugg, mit einem Lächeln und einer Handbewegung, die seinen Ausspruch bekräftigten. »Bemerken Sie wohl, Mr. Chivery, kein Teufel in Menschengestalt!«

»Nein, Sir, allerdings nicht«, fügte der junge John einfach hinzu, »es würde mir auch großen Kummer machen, wenn das der Fall wäre.«

»Dieses Gefühl«, sagte Mr. Rugg, »konnte ich nach Ihren bekannten Grundsätzen erwarten. Es würde meine Tochter sehr rühren, Sir, wenn sie das hörte. Da ich den Hammelbraten rieche, so bin ich froh, daß sie es nicht gehört. Mr. Pancks, bitte, setzen Sie sich bei dieser Gelegenheit mir gegenüber. Meine Liebe, nimm gegenüber von Mr. Chivery Platz. Für das, was wir zu genießen im Begriff sind, dürfen wir (und Miß Dorrit) wahrhaft dankbar sein!«

Ohne die scheinbar ernste Schalkhaftigkeit, die in Mr. Ruggs Art, das Mahl einzuleiten, lag, hätte es scheinen können, man erwarte, Miß Dorrit werde mit von der Partie sein. Pancks anerkannte den Einfall in seiner gewöhnlichen Weise und nahm seine Provisionen in der gewöhnlichen Weise. Miß Rugg, die vielleicht einige von ihren Rückständen tilgen wollte, hielt sich gleichfalls sehr freundlich an den Hammelbraten, der rasch bis auf den Knochen zusammenschwand. Ein Brot- und Butterpudding verschwand ganz und gar, und eine beträchtliche Masse Käse und Rettiche verschwanden in gleicher Weise. Dann kam das Dessert.

Bald erschien, noch ehe der Grog angegriffen worden, auch Mr. Pancks‘ Notizbuch. Die folgenden Geschäftsverhandlungen waren kurz, aber seltsam und hatten viel Ähnliches mit einer Verschwörung. Mr. Pancks beschäftigte sich eifrig mit seinem Notizbuch, das nach und nach voll wurde, und machte kleine Auszüge, die er auf einzelne Zettel auf dem Tisch schrieb. Mr. Rugg sah ihn indes mit großer Aufmerksamkeit an, während der junge John sein auf nichts Bestimmtes gerichtetes Auge in den Nebeln der Beschaulichkeit umherschweifen ließ. Als Mr. Pancks, der die Rolle eines Hauptverschwörers spielte, seine Auszüge vollendet hatte, überschaute er sie, korrigierte sie, steckte sie in sein Notizbuch und hielt sie eine Zeitlang wie ein Spiel Karten in der Hand.

»Na, da ist ein Kirchhof in Bedfordshire«, sagte Pancks. »Wer nimmt ihn?«

»Ich will ihn nehmen«, erwiderte Mr. Rugg, »wenn niemand darauf bietet.«

Mr. Pancks teilte ihm seine Karte zu und sah wieder auf seine Hand.

»Da ist eine Nachfrage in York zu machen«, sagte Pancks. »Wer übernimmt diese?«

»Ich tauge nicht für York«, sagte Mr. Rugg.

»Dann werden Sie vielleicht so gut sein, John Chivery«, fuhr Pancks fort.

Der junge John erklärte sich bereit. Pancks teilte ihm seine Karte zu und blickte wieder auf seine Hand.

»Da ist eine Kirche in London; die kann ich ebensogut übernehmen. Ferner eine Familienbibel, die kann ich auch übernehmen. Das ist zweierlei für mich. Zweierlei für mich«, wiederholte Pancks, tief aufatmend über seinen Karten. »Hier ist ein Kaufmannsdiener in Durham für Sie, John, und ein alter Seekapitän in Dunstable für Sie, Mr. Rugg. Zwei für mich, nicht wahr? Ja, zwei für mich. Hier ist ein Grabstein: drei Sachen für mich. Und ein totgeborenes Kind: vier Sachen für mich. Das ist alles für den Augenblick.«

Als er so seine Karten verteilt, was alles sehr ruhig und mit gedämpftem Tone geschah, steuerte Mr. Pancks pustend in seine Brusttasche und schleppte ein Leinwandsäckchen heraus, aus dem er mit zögernder Hand das Geld für die Reisekosten in zwei kleinen Portionen abzählte. »Die Kasse leert sich schnell«, sagte er ängstlich, indem er seinen beiden männlichen Geschäftsgenossen eine Portion zuschob, »sehr schnell.«

»Ich kann Sie nur versichern, Mr. Pancks«, sagte der junge John, »daß ich tief bedauere, in Verhältnissen zu sein, die mir nicht gestatten, meine Auslagen selbst zu bestreiten, und daß es nicht ratsam ist, mir die nötige Zeit zu nehmen, den Weg zu Fuß zu machen. Denn nichts würde mir größere Befriedigung gewähren, als mir ohne Lohn und Entschädigung die Beine abzulaufen.«

Die Uneigennützigkeit dieses jungen Mannes erschien in Miß Ruggs Augen so lächerlich, daß sie sich genötigt sah, sich eiligst aus der Gesellschaft zu entfernen und auf die Treppe zu setzen, bis sie sich ausgelacht. Indessen drehte Mr. Pancks, indem er nicht ohne Mitleid auf den jungen John sah, langsam und nachdenklich sein Leinwandsäckchen zusammen, als ob er ihm den Hals umdrehte. Die Dame, die gerade zurückkam, als er ihn in die Tasche steckte, mischte Rum und Wasser für die Gesellschaft, des eignen lieben Ichs nicht vergessend, und reichte jedem ein Glas. Als alle versehen waren, stand Mr. Rugg auf, und sein Glas armlang über die Mitte des Tisches haltend, lud er schweigend durch diese Gebärde die drei andern ein, anzustoßen und sich zu einem allgemeinen verschwörerischen Klingen zu vereinigen. Die Zeremonie war bis zu einem gewissen Grade effektvoll und wäre dies ganz und gar gewesen, wenn Miß Rugg, während sie ihr Glas, um den Schwur zu vollenden, zu den Lippen erhob, nicht zufällig auf den jungen John gesehen, dessen wirklich lächerliche Uneigennützigkeit wieder einen so überwältigend komischen Eindruck auf sie machte, daß sie einige ambrosische Tropfen Grog verschüttete und sich in Verlegenheit davonschlich. Das war das Mahl, ohne vorgängiges Beispiel, das Pancks in Pentonville gab; und dies das geschäftige und seltsame Leben, das Pancks führte. Die einzigen wachen Momente, in denen er von seinen Sorgen sich zu zerstreuen und sich zu erholen schien, indem er dahin und dorthin ging und dies und jenes schwatzte, ohne einen bestimmten Zweck im Auge zu haben, waren die, wo er ein dämmerndes Interesse für den lahmen Fremden mit dem Stock hatte, der im Hof zum blutenden Herzen wohnte.

Der Fremde, der Johann Baptist Cavaletto hieß – sie nannten ihn Mr. Baptist auf dem Hofe –, war solch ein piepsender, leichter, hoffnungsvoller kleiner Bursche, daß die Anziehungskraft, die er für Pancks hatte, wahrscheinlich in der Stärke des Kontrastes lag. Einsam, schwach und spärlich bekannt mit den notwendigsten Worten der einzigen Sprache, in der er mit den Leuten um ihn her verkehren konnte, schwamm er heiter, wie es in diesen Regionen neu war, mit dem Strome des Schicksals. Mit wenig zu essen und noch weniger zu trinken und nichts sich zu kleiden, als was er auf dem Leibe trug oder in dem kleinsten Bündel, das je gesehen worden, zusammengeschnallt mitgebracht, machte er ein so fröhliches Gesicht, als ob er sich in den glänzendsten Umständen befände, als er zum erstenmal auf dem Hofe auf- und niederhumpelte und mit seinen weißen Zähnen sich demütig das allgemeine Wohlwollen erbat.

Es war keine geringe Sache für einen Fremden, lahm oder gesund, mit den »blutenden Herzen« fortzukommen. Erstens waren sie der unklaren Überzeugung, daß jeder Fremde ein Messer bei sich habe; zweitens hielten sie es für ein gesundes konstitutionell-nationales Axiom, daß er sich in seine Heimat scheren solle. Sie dachten nicht daran, zu untersuchen, wie viele von ihren eigenen Landsleuten von den verschiedenen Teilen der Welt zurückgeschickt werden würden, wenn dieser Grundsatz allgemeine Anerkennung fände; sie betrachteten ihn als besonders und spezifisch englisch. Drittens hatten sie die Ansicht, daß es eine Art göttlicher Heimsuchung für den Fremden sei, kein Engländer zu sein, und daß sein Land von allen Arten von Unglücksfällen heimgesucht wurde, weil es Dinge tat, die England nicht tat, und Dinge unterließ, die England tat. In diesem Glauben waren sie lange von den Barnacles und Stiltstalkings erzogen worden, die ihnen immer amtlich und nichtamtlich verkündeten, daß kein Land, das versäumte, sich diesen beiden großen Familien zu unterwerfen, hoffen könne, unter dem Schutze der Vorsehung zu stehen; und die, wenn sie es glaubten, sie privatim als das vorurteilsvollste Volk unter der Sonne verschrien.

Dies konnte deshalb eine politische Stellung der blutenden Herzen genannt werden, aber sie hatten noch andere Einwürfe dagegen, daß Fremde auf dem Hofe wohnten. Sie glaubten, daß Fremde sich stets übel befänden, und obgleich sie selbst sich so übel befanden, wie sie nur wünschen konnten, so schwächte dies doch die Kraft des Einwurfes nicht ab. Sie glaubten, daß Fremde mit Dragonern und Bajonetten behandelt werden mußten, und obgleich ihre eigenen Schädel bald eingeschlagen wurden, wenn sie irgendeine üble Laune zeigten, so geschah dies doch mit einem stumpfen Instrument, und das zählte nicht. Sie glaubten, Fremde seien immer unmoralisch, und obgleich sie zuweilen einen Gerichtstag zu Hause hatten und dann und wann einen Scheidungsfall oder dergleichen, so hatte das nichts damit zu schaffen. Sie glaubten, Fremde hätten keinen Unabhängigkeitssinn, weil sie nie herdenweise von Lord Decimus Tite Barnacle mit fliegenden Fahnen und im Takt von Rule Britannia nach der Wahlurne getrieben wurden. Um nicht langweilig zu werden, sagen wir, sie hatten noch gar manche Glaubensartikel der Art.

Gegen diese Vorurteile mußte der Fremde mit dem Stock sich so gut stemmen, wie er konnte; er war dabei nicht ganz verlassen, weil Mr. Arthur Clennam ihn an die Plornishs empfohlen (er wohnte im Dachgeschoß desselben Hauses), aber immerhin war es eine schwierige Sache. Die blutenden Herzen waren indes gute Herzen; und als sie den kleinen Mann mit wohlgelauntem Gesicht heiter umhergehen sahen und merkten, daß er niemand etwas Böses zufügte, keine Messer zog, keine furchtbaren Unsittlichkeiten beging, hauptsächlich von Mehl- und Milchspeisen lebte und abends mit den Kindern von Mr. Plornish spielte, begann die Ansicht in ihnen aufzutauchen, obgleich er nie der Hoffnung sich hingeben könnte, je ein Engländer zu werden, würde es doch hart sein, dieses Unglück an ihm heimzusuchen. Sie begannen sich seinem Gesichtskreise anzubequemen, indem sie ihn Mr. Baptist nannten, ihn jedoch wie ein Wickelkind behandelten und unbändig über sein lebhaftes Mienenspiel und sein kindisches Englisch lachten – mehr vielleicht, weil er selbst sich nichts daraus machte und auch darüber lachte. Sie sprachen sehr laut mit ihm, als ob er stocktaub wäre. Sie bildeten Sätze, um ihm die Sprache in ihrer Reinheit beizubringen, wie sie die Wilden an Kapitän Cook oder Freitag an Robinson richteten.

Mrs. Plornish war besonders erfinderisch in dieser Kunst und gewann eine solche Berühmtheit, indem sie sagte: »Ik offen, daß Ihr Pein bald kesund«, daß man im Hof glaubte, das sei nur noch wenig vom Italienischen entfernt. Ja, Mrs. Plornish selbst begann zu glauben, sie habe eine natürliche Begabung für diese Sprache. Als er beliebter wurde, brachte man Haushaltungsgegenstände herbei, um ihm einen reichhaltigeren Wörterschatz zu verschaffen; und sooft er im Hofe erschien, kamen die Mädchen an ihre Türen und riefen: »Mr. Baptist – Teekanne!« – »Mr. Baptist – Kehrichtkorb!« – »Mr. Baptist – Mehlstreubüchse!« – »Mr. Baptist – Kaffeesack!« Dabei zeigten sie ihm diese Gegenstände und erfüllten ihn mit dem Gefühl der enormen Schwierigkeiten der angelsächsischen Sprache.

In diesem Stadium seiner Fortschritte und ungefähr in der dritten Woche seiner Beschäftigung mit der Sprache wurde Mr. Pancks‘ Phantasie auf den kleinen Mann gerichtet. Begleitet von Mrs. Plornish als Dolmetscherin, stieg er zu seinem Kämmerchen hinauf und fand Mr. Baptist ohne alle andern Möbel als sein Bett auf dem Boden, einen Tisch und einen Stuhl, wie er mit Hilfe einiger weniger einfache Werkzeuge in der heitersten Weise Schnitzereien machte.

»Na, alter Junge«, sagte Mr. Pancks, »bezahle.«

Er hatte sein Geld, in ein Stück Papier gewickelt, in Bereitschaft und händigte es ihm lachend ein; dann streckte er mit einer freien Aktion so viele Finger seiner rechten Hand in die Höhe, als es Schillinge waren, und machte dann einen Hieb kreuzweise in die Luft, für den Sixpence darüber.

»Oh!« sagte Pancks, indem er ihn staunend beobachtete. »Soviel ist’s, nicht wahr? Du bist ein pünktlicher Kunde. Es ist ganz recht. Ich dachte nicht, daß ich’s bekommen würde.«

Mrs. Plornish mischte sich hier mit großer Herablassung in die Sache und erklärte sie Mr. Baptist. »Er große Freude. Er froh sein Geld kriegen.«

Der kleine Mann lächelte und nickte. Sein heiteres Gesicht schien eine ungewöhnliche Anziehungskraft für Mr. Pancks zu haben. »Wie geht es ihm mit seinem Bein?« fragte er Mrs. Plornish.

»Oh, er ist viel besser, Sir«, sagte Mrs. Plornish. »Wir hoffen, daß er nächste Woche imstande sein wird, seinen Stock ganz missen zu können.« Da die Gelegenheit zu günstig war, um sie zu verlieren, so legte sie ihre große Geschicklichkeit an den Tag, indem sie mit verzeihlichem Stolz Mr. Baptist verdolmetschte: »Er offen, Ihr Pein werden bald kesund sein.«

»Er ist außerdem ein lustiger Bursche«, sagte Pancks, indem er ihn bewunderte, als wäre er eine mechanische Spielpuppe. »Wovon lebt er denn?«

»Nun, Sir«, erwiderte Mrs. Plornish, »er scheint sehr geschickt im Blumenschnitzeln, womit Sie ihn eben beschäftigt sehen.« Mr. Baptist, der ihre Gesichter beobachtet, während sie sprachen, hielt seine Arbeit in die Höhe. Mrs. Plornish verdolmetschte in ihrer italienischen Manier zugunsten Mr. Pancks‘: »Gefällt ihm. Sehr gut.«

»Kann er davon leben?« fragte Pancks.

»Er hat sehr wenig Bedürfnisse, Sir, und es ist zu erwarten, daß er mit der Zeit imstande sein wird, sich ein gutes Auskommen zu verdienen. Mr. Clennam verschaffte ihm diese Arbeit und gibt ihm noch mancherlei sonst zu tun in der Werkstätte nebenan, kurz, sorgt für ihn, wenn er weiß, daß er’s braucht.«

»Und was fängt er an, solange er noch nicht viel zu tun hat?« sagte Pancks.

»Nun, für jetzt nicht viel, Sir, vermutlich, weil er nicht imstande ist, viel zu gehen; aber er spaziert im Hofe herum und plaudert, ohne besonders viel verstanden zu werden oder die Leute zu verstehen, oder spielt mit den Kindern und sitzt in der Sonne – er würde sich überall hinsetzen, als wär’s ein Armstuhl – und singt und lacht.«

»Lacht!« wiederholte Mr. Pancks. »Er kommt mir vor, als ob jeder Zahn in seinem Munde beständig lachte.« »Aber sooft er auf die oberste Stufe am andern Ende des Hofes kommt«, sagte Plornish, »guckt er in der wunderlichsten Weise von der Welt hinaus! So daß einige von uns es sich nicht nehmen lassen, er sehe nach der Stelle, wo sein Vaterland ist; andere denken wieder, er schaue sich nach jemandem um, den er nicht zu sehen wünscht, und wiederum andere wissen nicht, was sie denken sollen.«

Baptist schien im allgemeinen zu verstehen, was sie sagte; oder vielleicht bemerkte sein Scharfblick die flüchtige Gebärde des Sichumschauens und machte sich seine Folgerungen. Genug, er schloß die Augen und warf den Kopf zurück mit der Miene eines Mannes, der genügend Gründe zu dem hat, was er tut, und sagte in seiner Muttersprache, es habe nichts zu bedeuten. Altro!

»Was ist Altro?« fragte Pancks.

»Hm! ’s ist ein Ausdruck für alles mögliche, Sir«, sagte Mrs. Plornish.

»So?« sagte Pancks. »Nun denn Altro, alter Junge. Guten Abend. Altro!«

Mr. Baptist wiederholte das Wort in seiner lebhaften Weise mehrmals. Mr. Pancks gab es ihm in seiner düsteren Art einmal zurück. Von dieser Zeit an wurde es eine stehende Gewohnheit bei Pancks dem Zigeuner, wenn er abends ermüdet heimging, den Weg an dem Bleeding Heart Yard vorüber zu nehmen, ruhig die Treppe hinaufzugehen, in Mr. Baptists Zimmer hineinzusehen und, wenn er ihn drinnen fand, zu sagen: »Holla, alter Junge, Altro!« Worauf dann Mr. Baptist mit unermüdlichem Nicken und Lächeln antwortete: »Altro, Signore, altro, altro, altro!« Nach dieser sehr gedrängten Unterhaltung ging Mr. Pancks gewöhnlich seiner Wege, wie es schien, ungemein erleichtert und erfrischt.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Niemandes Gemütszustand.

Wenn Arthur Clennam nicht zu dem klugen Entschluß gekommen wäre, sich streng von jeder Liebe zu Pet fernzuhalten, würde er in einem Zustand großer Unruhe gelebt haben, der manchen schwierigen Kampf mit seinem Herzen in sich geschlossen. Nicht der geringste von diesen wäre der beständige Kampf zwischen der Neigung, Mr. Henry Gowan nicht zu lieben, wo nicht gar ihn mit entschiedenem Widerwillen zu betrachten, und einer inneren Stimme gewesen, diese Neigung sei eine unwürdige. Eine edle Natur ist keiner starken Abneigungen fähig, ja, sie vermag sich ihnen kaum vorübergehend hinzugeben, wenn dies Uebelwollen jedoch den Sieg über eine solche Natur davonträgt und sie bisweilen findet, daß der Ursprung nicht leidenschaftslos war, so wird sie unglücklich.

Deshalb würde sich auch Clennams Gemüt umwölkt haben und Mr. Henry Gowan weit öfter ihm gegenwärtig gewesen sein als angenehmere Personen und Dinge, wenn er nicht die große Klugheit besessen, jenen früher erwähnten Entschluß zu fassen. Wie die Sachen standen, schien Mr. Gowan in Daniel Doyces Geist versetzt; jedenfalls geschah es, daß gewöhnlich Mr. Doyce und nicht Clennam in den freundschaftlichen Unterhaltungen, die sie miteinander hatten, von ihm sprach. Diese Gespräche waren jetzt an der Tagesordnung, da die beiden Handelsgenossen einen Teil eines geräumigen Hauses in den ernsten altväterischen Citystraßen miteinander bewohnten, das nicht weit von der Bank entfernt war, nämlich bei London Wall.

Mr. Doyce hatte den Tag in Twickenham zugebracht. Clennam hatte sich entschuldigt. Mr. Doyce war soeben nach Hause gekommen. Er steckte seinen Kopf in die Tür von Clennams Wohnzimmer, um gute Nacht zu sagen.

»Kommen Sie herein, kommen Sie herein!« sagte Clennam.

»Ich sah Sie lesen«, versetzte Doyce, indem er eintrat, »und glaubte, Sie wollten nicht gestört sein.«

Wenn er nicht den bekannten Entschluß gefaßt, würde Clennam wirklich nicht gewußt haben, was er gelesen; hätte wirklich nicht die ganze Stunde seine Augen in dem Buche gehabt, obgleich es offen vor ihm lag. Er schloß es ziemlich rasch.

»Sind sie wohl?« fragte er.

»Ja«, sagte Doyce: »sie sind wohl. Sie sind alle wohl!«

Daniel hatte eine alte arbeitermäßige Gewohnheit, sein Taschentuch in seinem Hut zu tragen. Er nahm es heraus, wischte sich die Stirn damit, indem er langsam wiederholte: »Sie sind alle wohl. Miß Minnie sah namentlich, wie mir schien, gut aus.«

»Keine Gesellschaft auf dem Landhause?«

»Nein, keine Gesellschaft.«

»Und was taten Sie vier?« fragte Clennam heiter.

»Wir waren unsrer fünf«, versetzte sein Associé. »Jener, wie heißt er nur, war da. Er war da.«

»Wer ist er?« sagte Clennam.

»Mr. Henry Gowan.«

»Ah, natürlich!« rief Clennam ungewöhnlich lebhaft. »Ja! – ich vergaß ihn.«

»Wie ich erwähnte, Sie werden sich erinnern«, sagte Daniel Doyce, »er ist jeden Sonntag da.«

»Ja, ja«, versetzte Clennam, »ich erinnnere mich jetzt.«

Daniel Doyce, der sich noch immer die Stirn wischte, wiederholte tiefsinnig: »Ja. Er war da, er war da. O ja, er war da. Und sein Hund. Er war auch da.«

»Miß Meagles hängt sehr an – dem – Hunde«, bemerkte Clennam.

»Allerdings«, pflichtete sein Associé bei, »sie hält mehr von dem Hund, als ich von seinem Herrn.«

»Sie meinen, Mr. –?«

»Ich meine natürlich Mr. Gowan«, sagte Daniel Doyce sehr bestimmt.

Es entstand eine Pause in dem Gespräch, die Clennam dazu benutzte, seine Uhr aufzuziehen.

»Vielleicht sind Sie etwas voreilig in Ihrem Urteil«, sagte er. »Unsre Urteile – ich setze einen allgemeinen Fall –«

»Natürlich«, sagte Doyce.

»Werden so leicht von mancherlei Rücksichten beeinflußt, die, ohne daß wir es wissen, unlauter sind, daß es notwendig wird, sehr auf der Hut zu sein. Zum Beispiel, Mr. –«

„Gowan«, sagte Doyce, auf den beinahe immer das Aussprechen des Namens gewälzt wurde, mit größter Ruhe.

»Ist jung und hübsch, ungezwungen und lebhaft, hat Talent und hat eine Menge Dinge im Leben gesehen. Es möchte schwierig sein, einen unselbstsüchtigen Grund für das Eingenommensein gegen ihn anzugeben.«

»Ich glaube, daß es für mich nicht schwierig ist, Clennam«, versetzte sein Associé. »Ich sehe, wie er schon jetzt Befürchtungen und, ich fürchte, für die Zukunft Kummer in das Haus meines alten Freundes bringen wird. Ich sehe, wie er tiefere Linien in meines Freundes Gesicht zieht, je näher er dem Gesicht seiner Tochter kommt und je öfter er hineinblickt. Kurz, ich sehe, wie er das hübsche und liebevolle Geschöpf, das er nie glücklich machen wird, mit einem Netz umgarnt.«

»Wir wissen auch nicht«, sagte sein Associé, »ob die Erde noch leidenden Mannes, ob er sie nicht glücklich machen wird.«

»Wir wissen auch nicht«, sagte sein Associe, »ob die Erde noch hundert Jahre dauern wird, aber wir halten es für ungemein wahrscheinlich.«

»Schon gut, schon gut«, sagte Clennam, »wir müssen hoffen und wenigstens versuchen, wenn nicht großmütig, doch gerecht zu sein (zum erstem ist freilich in diesem Falle kein Grund). Wir wollen diesen Gentleman nicht herabsetzen, weil er in seinen Bewerbungen bei dem schönen Gegenstand seiner Wünsche glücklich ist, und wollen ihr das natürliche Recht nicht bestreiten, ihre Liebe dem, den sie derselben würdig findet, zuzuwenden.«

»Mag sein, mein Freund«, sagte Doyce. »Mag aber auch sein, daß sie zu jung und verwöhnt, zu vertrauend und unerfahren ist, um genau unterscheiden zu können.«

»Das besser zu machen«, sagte Clennam, »würde ja doch weit über unsre Kräfte gehen.«

Daniel Doyce schüttelte ernst den Kopf und fügte hinzu: »Ich fürchte auch.«

»Deshalb, mit einem Worte«, sagte Clennam, »wir sollten einsehen, daß es unsrer nicht würdig ist, irgend etwas Schlimmes von Mr, Gowan zu sagen. Es wäre armselig, ein Vorurteil gegen ihn zu begünstigen, und ich bin entschlossen, meinesteils ihn nicht herabzusetzen.«

»Ich bin meiner nicht ganz so sicher und behalte mit deshalb das Recht vor, gegen ihn zu sprechen«, versetzte der andere. »Aber wenn ich meiner auch nicht sicher bin, so bin ich doch Ihrer sicher, Clennam, und ich weiß, welch ein aufrichtiger Mann Sie sind und wie sehr zu respektieren. Gute Nacht, mein Freund und Associé!« Er schüttelte ihm in einer Weise die Hand, indem er dies sagte, als ob ihr Gespräch einen ernsten Hintergrund gehabt; und sie trennten sich.

Sie hatten inzwischen die Familie zu verschiedenen Malen besucht und immer bemerkt, daß eine flüchtige Anspielung auf Mr. Henry Gowan, wenn er nicht unter ihnen war, die Wolke wieder heraufbeschwor, die Mr. Meagles‘ Sonnenschein an dem Morgen der zufälligen Begegnung auf der Fähre verdunkelt hatte. Wenn sich Clennams je die verbotene Leidenschaft bemächtigt hätte, so wäre diese Zeit eine Zeit wirklicher Prüfung gewesen: unter den obwaltenden Umständen war es freilich nichts – nichts.

Auch wäre, wenn sein Herz diesen verbotenen Gast beherbergt, sein stilles Kämpfen, um sich einen Weg durch die Gemütsstimmung dieser Periode zu bahnen, etwas verdienstlicher gewesen. In dem beharrlichen Ringen, sich nicht in eine neue Phase dieser bedrängenden Sünde, die er aus der Erfahrung kannte, der Verfolgung selbstsüchtiger Zwecke durch niedere und kleinliche Mittel hinreißen zu lassen, und statt dessen an dem erhabenen Prinzip der Ehre und Großherzigkeit festzuhalten, hätte etwas mehr Verdienst gelegen. In dem Entschluß, nicht mal Mr. Meagles‘ Haus zu meiden, damit er nicht in egoistischem Schonen seiner selbst den leichtesten Kummer über die Tochter bringe, indem er sie zur Ursache einer Entfremdung mache, die, wie er glaubte, den Vater schmerzen würde, – in diesem Entschlusse hätte etwas Verdienst gelegen. In der bescheidenen Wahrhaftigkeit, den größeren Vorzug von Mr. Gowans Jahren und der größeren Anziehungskraft seiner Persönlichkeit und seiner Umgangsformen beständig im Auge zu behalten, hätte ein kleines Verdienst gelegen. Wenn er all dies und noch weit mehr in vollkommen unbefangener Weise und mit einer männlichen und gefaßten Beharrlichkeit getan, während der Schmerz in seinem Innern (der eigentümlich wie sein Leben und sein Schicksal) den schärfsten Stachel angesetzt, – darin hätte sich eine ruhige Stärke des Charakters entwickelt. Aber nach dem Entschlusse, den er gefaßt, konnte er natürlich keine solchen Verdienste, wie die eben erwähnten, haben; in diesem Gemütszustand war niemand – niemand.

Mr Gowan kümmerte sich wenig darum, ob jemand oder niemand sich in diesem Gemütszustande befand. Er behielt bei allen Gelegenheiten seine vollkommene Heiterkeit und Unbefangenheit, als wäre die Möglichkeit, daß Clennam sich herausnähme, die große Frage zu verhandeln, zu fernliegend und lächerlich, um in Betracht zu kommen. Er hatte Clennam immer irgend etwas Freundliches zu sagen oder ihm eine Gefälligkeit zu erweisen, was an und für sich (in dem eingebildeten Falle, daß er diesen scharfsinnigen Weg nicht eingeschlagen) ein sehr unbehagliches Element in diesem Gemütszustände gewesen wäre.

»Ich bedaure sehr, daß Sie gestern nicht bei uns waren«, sagte Mr. Henry Gowan, als er am andern Morgen bei Clennam vorsprach. »Wir verlebten dort am Flusse einen sehr angenehmen Tag.«

Das habe er gehört, sagte Arthur.

»Von Ihrem Sozius?« versetzte Henry Gowan. »Das ist ein herrlicher alter Wann.«

»Ich schätze ihn sehr.«

»Beim Zeus, er ist der vortrefflichste Mensch!« sagte Gowan. »So frisch, so munter, glaubt an so seltsame Dinge.«

Das war einer von den vielen kleinen unangenehmen Punkten, die Clennams Ohr beleidigten. Er schob ihn deshalb einfach dadurch auf die Seite, daß er wiederholte, er schätze Mr. Doyce sehr.

»Er ist reizend. Wenn man sich ihn denkt, wie er so durch das Leben bis heutigentags fortschlendert, nichts im Vorbeigehen fallen lassend, nichts im Vorbeigehen aufhebend, das ist allerliebst. Es erwärmt einen. Solch eine unverdorbene, einfache, gute Seele! Wahrhaftig, Mr. Clennam, man fühlt sich verzweifelt weltlich und verdorben im Vergleich mit solch einer unschuldigen Natur. Ich spreche von mir, muß ich hinzufügen, ohne Sie einzuschließen. Sie sind ebenfalls echt und unverfälscht.«

»Ich danke Ihnen für das Kompliment«, sagte Clennam, der sich etwas unbehaglich fühlte: »Sie sind es hoffentlich auch?«

»Soso«, erwiderte der andere. »Um aufrichtig gegen Sie zu sein, ziemlich. Ich bin kein großer Betrüger. Kaufen Sie eines von meinen Bildern, und ich versichere Sie im Vertrauen, daß es das Geld nicht wert ist. Kaufen Sie eines von irgend jemand – von einem großen Professor, der mich über die Achsel ansieht –, und es läßt sich wetten, daß je mehr Sie ihm geben, desto mehr wird er Sie betrügen. Das tun sie alle.«

»Alle Maler?«

»Maler, Schriftsteller, Patrioten und alle, die Buden auf dem Markte haben. Geben Sie, wenn Sie wollen, jedem, den ich kenne, zehn Pfund, und er wird Sie in entsprechendem Betrage betrügen; tausend Pfund – in entsprechendem Betrage; zehntausend Pfund – in entsprechendem Betrage. So groß der Erfolg, so groß der Betrug. Es ist eine herrliche Welt!« rief Gowan mit warmem Enthusiasmus. »Eine heitere, vortreffliche, liebenswürdige Welt!«

»Ich hätte eher gedacht«, sagte Clennam, »daß nach dem Prinzip, das Sie erwähnen, mehr die –«

»Barnacles handeln?« unterbrach ihn Gowan lachend.

»Die politischen Herren, die sich herablassen, das Circumlocution Office zu unterhalten.«

»Ah! Seien Sie nicht hart gegen die Barnacles«, sagte Gowan und lachte aufs neue, »es sind liebe Jungen. Sogar der arme kleine Clarence, der Idiot der Familie, ist der angenehmste und reizendste Dummkopf. Und beim Zeus, er besitzt dabei eine Gewandtheit, die Sie in Erstaunen setzen würde.«

»Allerdings, sehr«, sagte Clennam trocken.

»Und trotz alledem«, rief Gowan mit jenem eigentümlich charakteristischen Abwägen, das alles in der weiten Welt auf dasselbe leichte Gewicht reduzierte, »obgleich ich nicht leugnen kann, daß das Circumlocution Office zuletzt alles und jeden an den Strand werfen wird, so wird das doch nicht in unserer Zeit geschehen – und es ist eine Schule für Gentlemen.«

»Es ist eine sehr gefährliche, unbefriedigende und kostbare Schule für die Leute, die ihre Kinder dorthin schicken, so fürchte ich wenigstens«, sagte Clennam, den Kopf schüttelnd.

»Ach! Sie sind ein schrecklicher Mensch«, versetzte Gowan heiter. »Ich begreife, wie Sie jenen kleinen Esel, den Clarence, das schätzenswerteste aller Mondkälber (den ich wirklich lieb habe), vor Schreck fast um den Verstand gebracht haben. Aber genug von ihm und allen übrigen. Ich möchte Sie meiner Mutter vorstellen, Mr. Clennam. Bitte, tun Sie mir die Gefälligkeit, mir die Gelegenheit dazu zu geben.«

In keiner Gemütsstimmung hätte es etwas geben können, was Clennam weniger gewünscht, aber auch nichts, dem er weniger auszuweichen vermocht.

»Meine Mutter wohnt in urväterlicher Weise in jenem traurigen Ziegelsteinkerker von Hampton Court«, sagte Gowan. »Wenn Sie wollen, so bitte ich Sie, den Tag zu nennen, an dem ich Sie dorthin zu Tisch abholen darf: Sie werden sich allerdings langweilen, aber meine Mutter wird eine außerordentlich große Freude haben. So stehen wirklich die Dinge.«

Was konnte Clennam darauf sagen? Sein zurückhaltender Charakter war zum großen Teil die reine Einfalt im besten Sinne des Wortes, weil er unbewandert und ungeübt war; und in seiner Einfachheit und Bescheidenheit konnte er nichts anderes sagen, als daß er sich glücklich fühle, sich zu Mr. Gowans Verfügung zu stellen. Deshalb sagte er es auch, und der Tag wurde festgesetzt. Es war für ihn ein Tag, vor dem er sich fürchtete, und ein sehr unwillkommener Tag, als er endlich erschien und sie miteinander nach Hampton Court gingen.

Die ehrwürdigen Bewohner jenes ehrwürdigen Gebäudes schienen sich zu jener Zeit wie eine Art zivilisierter Zigeuner hier gelagert zu haben. Ihre Wohnungen trugen das Gepräge von vorübergehenden Niederlassungen und machten den Eindruck, als ob die Insassen sie verlassen wollten, sobald sie etwas Besseres bekommen konnten: auch sie selbst hatten ein mißvergnügtes Aussehen, als ob sie es sehr übel aufnähmen, daß sie nicht bereits etwas Besseres bekommen. Vornehm aussehende Verhüllungen und Notbehelfe waren mehr oder weniger sichtbar, sobald ihre Türen geöffnet wurden; spanische Wände, nicht halb hoch genug, die Speisezimmer aus gewölbten Gängen machten und dunkle Winkel verbargen, wo des Nachts Bediente zwischen Messern und Gabeln schliefen; Vorhänge, die den Anspruch machten, man solle ihnen glauben, es werde nichts durch sie verborgen; Glasscheiben, die einen baten, sie nicht anzusehen; mancherlei Gegenstände von verschiedener Gestalt, die sich stellten, als ob sie nicht in der geringsten Verbindung mit dem verbrecherischen Geheimnis, das sie verbargen, einem Bett nämlich, stünden; verkleidete Löcher in den Wänden, die offenbar Kohlenkeller waren; künstlich verstellte Gänge, die Zugänge zu kleinen Küchen sein mußten. Geistige Vorbehalte und künstliche Geheimnisse mußten aus diesen Dingen erwachsen. Besuche, die fest in die Augen derer sahen, die den Besuch empfingen, taten, als ob sie es nicht röchen, daß drei Schritte von ihnen gekocht wurde; Leute, die zufällig offen gelassenen Zimmern gegenüberzustehen kamen, gaben sich den Anschein, als ob sie keine Flaschen sähen; Fremde, die mit dem Kopf gegen eine Scheidewand von dünnem Kanevas saßen, hinter der sich ein Bedienter und ein junges Mädchen zankten, machten glauben, daß sie von einem paradiesischem Schweigen umgeben seien. Der kleinen gesellschaftlichen Rücksichtswechsel, die diese Zigeuner der vornehmen Welt beständig aufeinander zogen und gegenseitig akzeptierten, war kein Ende.

Einige von diesen Zigeunern waren von reizbarem Temperament, da sie beständig von zwei Gegenständen des Verdrusses gepeinigt und gequält wurden: einerseits nämlich durch das Bewußtsein, daß sie nie genug vom Publikum bekommen, und anderseits durch das Bewußtsein, daß das Publikum in das Gebäude zugelassen wurde. Unter dem letzteren großen Unrecht litten einige schrecklich – besonders an Sonntagen, wo sie eine Zeitlang hofften, die Erde werde sich auftun und das Publikum verschlingen; dieses wünschenswerte Ereignis war jedoch infolge einer tadelnswerten Lässigkeit in den Einrichtungen des Weltalls noch niemals eingetreten.

An Mr. Gowans Tür stand ein Diener der Familie, der bereits verschiedene Dienstjahre zählte und sein eigenes Hühnchen mit dem Publikum zu pflücken hatte, bezüglich einer Stellung im Post Office, die er seit längerer Zeit zu bekommen hoffte und noch nicht bekommen hatte. Er wußte ganz wohl, daß das Publikum ihn nicht hineinbringen konnte, aber er wiegte sich doch mit dem peinlichen Gedanken, daß das Publikum ihn davon ausgeschlossen habe. Unter dem Einfluß dieser Kränkung (und vielleicht etwas geringer Genauigkeit und Unpünktlichkeit in Sachen des Dienstlohnes) war er nachlässig an seiner Person und mürrischen Geistes geworden. Und da er nun in Clennam ein Glied der verdorbenen Korporation seiner Unterdrücker sah, empfing er ihn höchst unfreundlich.

Mrs. Gowan jedoch nahm ihn mit großer Herablassung auf. Er fand in ihr eine vornehme alte Frau, die früher eine Schönheit gewesen sein mußte und noch hübsch genug war, um des Puders auf der Nase und einer gewissen, unmöglich von der Natur erzeugten Blüte unter jedem Auge entbehren zu können. Sie tat etwas großartig gegen ihn; ebenso benahm sich auch eine andere alte Dame mit dunklen Augbrauen und hochgebogener Nase, die jedoch etwas Reelles an sich gehabt haben mußte, sonst hätte sie nicht existieren können: wiewohl es sicher weder ihr Haar, noch ihre Zähne, noch ihr Gesicht, noch ihre Farbe waren; ebenso benahm sich endlich ein grauer alter Herr von würdevollem, finsterem Aussehen; beide waren zum Essen gekommen. Da sie jedoch alle bei der britischen Gesandtschaft in verschiedenen Teilen der Erde gewesen waren und eine britische Gesandtschaft sich bei dem Circumlocution Office nicht besser anschreiben kann, als daß sie ihre Landsleute mit unbegrenzter Verachtung behandelt (sonst würde sie ja den Gesandtschaften anderer Länder gleichen), so fühlte Clennam, daß sie ihn im ganzen leidlich behandelten.

Der würdige alte Mann war Lord Lancaster Stiltstalking, der von dem Circumlocution Office viele Jahre lang als Repräsentant der britischen Majestät an fremden Höfen verwendet worden. Diese edle Eismaschine hatte verschiedene europäische Höfe seiner Zeit gefrieren machen, und zwar mit so großem Erfolg, daß schon der bloße Name Engländer den Magen der Ausländer erkältete, die die ausgezeichnete Ehre hatten, sich seiner aus einem Vierteljahrhundert früher zu erinnern.

Er lebte jetzt von Geschäften zurückgezogen; so war er denn (in einer schweren weißen Krawatte, die wie eine steife Schneewehe aussah) so gütig, das Essen zu beschatten. Es war ein Anflug von dem vorherrschend zigeunerhaften Charakter in der exotischen Art, wie die Tafel besetzt war, in den seltsamen Arten von Platten und Speisen; aber der edle Kühler, unendlich viel besser als Silbergerät oder Porzellan, machte es prächtig. Er beschattete das Essen, kühlte die Weine, würzte die Soßen, machte die Gemüse frisch.

Es war nur noch eine weitere Person im Zimmer: ein mikroskopisch kleiner Laufbursche, der dem übelwollenden Mann, der keinen Dienst bei der Post bekommen, zur Hand ging. Auch dieser junge Mensch würde, wenn seine Weste aufgeknöpft und sein Herz bloßgelegt worden wäre, als ein entfernter Anhänger der Familie Barnacle erkannt worden sein, der bereits auf eine Stellung bei der Regierung rechnen konnte.

Mrs. Gowan, deren Stirn eine sanfte Melancholie umschleierte, die durch ihres Sohnes Stellung hervorgerufen wurde, da sie ihn zwang, dem gemeinen Publikum als Jünger der niedrigen Künste zu huldigen, statt sein Geburtsrecht geltend zu machen und als ein anerkannter Barnacle einen Ring durch die Nase des Publikums zu stecken, begann das Tischgespräch mit den schlechten Zeiten, und Clennam erfuhr jetzt zum erstenmal, um welch kleinliche Angeln diese große Welt sich dreht.

»Wenn John Barnacle«, sagte Mrs. Gowan, nachdem die Entartung der Zeiten vollkommen festgestellt war, »wenn John Barnacle nur seine unglückliche Idee aufgegeben, den Pöbel versöhnen zu wollen, alles würde gut stehen, und ich glaube, das Land wäre gerettet gewesen.«

Die alte Dame mit der hohen Nase stimmte bei, fügte jedoch hinzu, daß wenn Augustus Stiltstalking ohne weiteres die Kavallerie mit der Instruktion zu schießen beordert, sie glaube, das Land wäre gerettet gewesen.

Der edle Kühler stimmte bei, fügte jedoch hinzu, wenn William Barnacles und Stiltstalkings gerettet werden müsse; wie es jedoch ewig denkwürdige Koalition bildeten, den Zeitungen einen tüchtigen Maulkorb angelegt und für jeden Herausgeber eine Strafe festgesetzt hätten, falls er sich herausnähme, die Handlungsweise irgendeiner öffentlichen Persönlichkeit im Ausland oder in der Heimat zu besprechen, dann glaubte er, würde das Land gerettet gewesen sein.

Man erkannte an, daß das Land (ein andres Wort für die Barnacles und Stiltstalkings) gerettet werden müsse, wie es jedoch kam, daß es der Rettung bedurfte, war nicht so klar. Es war nur klar, daß die Frage sich einzig um John Barnacle, Augustus Stiltstalking, William Barnacle und Tudor Stiltstalking, Tom, Dick oder Harry Barnacle oder Stiltstalking drehe; denn alles übrige war Pöbel. Das war das Gepräge der Unterhaltung, die auf Clennam, der nicht daran gewöhnt war, einen unangenehmen Eindruck machte. Er war im Zweifel, ob es ganz recht sei, hier zu sitzen und schweigend anzuhören, wie man von einer großen Nation in so geringen Ausdrücken spreche. Da er sich jedoch erinnerte, daß in den Parlamentsdebatten, mochte es sich nun um das leibliche oder geistige Leben dieser Nation handeln, die Frage sich auch gewöhnlich nur um John Barnacle, Augustus Stiltstalking, William Barnacle und Tudor Stiltstalking, Tom, Dick oder Harry Barnacle oder Stiltstalking und niemanden sonst drehte und von diesen allein verhandelt wurde, so sagte er nichts zugunsten des Pöbels, da er bedachte, daß der Pöbel ja daran gewöhnt sei. Mr. Henry Gowan schien ein boshaftes Vergnügen daran zu finden, die drei an der Unterhaltung Beteiligten gegeneinander aufzuhetzen und Clennam durch das, was sie sagten, in Erstaunen versetzt zu sehen. Da er eine ebenso außerordentliche Verachtung gegen die Klasse besaß, die ihn verstoßen, wie die Klasse, die ihn nicht aufgenommen, so beunruhigte ihn das alles, was vorging, nicht im mindesten persönlich. Sein gesunder Gemütszustand schien im Gegenteil sogar einen Genuß in der verlegenen und isolierten Stellung Clennams unter dieser guten Gesellschaft zu finden; und wenn Clennam in jener Lage gewesen, mit der jener Niemand unaufhörlich rang, so würde er das vermutet und mit dem Verdacht als einer Gemeinheit gekämpft haben, selbst jetzt, solange er am Tisch saß.

Im Verlauf eines zweistündigen Gesprächs ging der edle Kühler, der nie weniger als hundert Jahre hinter der gegenwärtigen Periode zurück war, ungefähr um fünf Jahrhunderte zurück und ließ feierliche politische Orakel vernehmen, die auf diese Periode paßten. Er schloß damit, daß er eine Tasse Tee für seinen eignen Gebrauch gefrieren machte und sich in seine niederste Temperatur zurückzog.

Dann lud Mrs. Gowan, die in den Tagen ihres Glanzes gewohnt gewesen, einen leeren Armstuhl neben sich stehen zu haben, auf den sie die ihr ergebenen Sklaven, einen nach dem andern, zu kurzen Audienzen als Zeichen ihrer besondern Gunst berief, Clennam mit einer Bewegung ihres Fächers ein, sich ihr zu nähern. Er gehorchte und setzte sich auf den Dreifuß, den Lord Lancaster Stiltstalking soeben verlassen.

»Mr. Clennam«, sagte Mrs. Gowan, »abgesehen von dem Glück, das mir durch Ihre Bekanntschaft zuteil geworden, die ich leider in diesem abscheulich unangenehmen Ort – einer wahren Baracke – machen mußte, liegt mir unaussprechlich viel daran, mit Ihnen über eine gewisse Angelegenheit zu sprechen. Es ist nämlich der Gegenstand, in dessen Verbindung mein Sohn, wie ich glaube, zuerst das Vergnügen hatte, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Clennam verbeugte sich, als allgemein entsprechende Antwort auf das, was er noch nicht ganz verstand.

»Fürs erste«, sagte Mrs. Gowan, »ist sie denn wirklich hübsch?«

Wenn er sich in der schwierigen Lage befunden, in der sich niemand befand, so würde es ihm schwer geworden sein, zu antworten; wirklich sehr schwer, zu lächeln und zu antworten: »Wer?«

»Oh! Sie wissen ja!“ versetzte sie. »Diese Flamme Henrys. Diese unglückliche Phantasie. Da! Wenn es eine Ehrensache ist, daß ich den Namen herausbringe – Miß Mickles – Miggles.«

»Miß Meagles«, sagte Clennam, »ist sehr schön.«

»Die Männer täuschen sich oft über solche Dinge«, versetzte Mrs. Gowan, den Kopf schüttelnd, »ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich mich auch jetzt durchaus noch nicht über diesen Punkt beruhigt fühle, obgleich es etwas ist, wenn Henrys Aussage mit so viel Ernst und Nachdruck bestärkt wird. Er las diese Leute, glaube ich, in Rom auf?«

Diese Frage würde jenen Niemand schwer verletzt haben. Clennam antwortete jedoch: »Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, ob ich Sie recht verstanden.«

»Er las die Leute auf«, sagte Mrs. Gowan, indem sie mit den Stäben ihres geschlossenen Fächere (eines großen grünen, den sie als Handschirm benutzte) auf den kleinen Tisch klopfte. »Stieß auf sie. Fand sie. Stolperte über sie.«

»Die Leute?«

»Ja, die Miggles.«

»Ich weiß wirklich nicht«, sagte Clennam, »wo mein Freund, Mr. Meagles, zuerst Mr. Henry Gowan seiner Tochter vorstellte.«

»Ich bin ganz gewiß, er las sie in Rom auf: aber gleichgültig wo – irgendwo. Doch – diese Frage ganz unter uns – ist sie sehr plebejisch?«

»Wahrhaftig, Ma’am«, versetzte Clennam, »ich bin selbst so unzweifelhaft plebejisch, daß ich mich nicht imstande fühle zu antworten.«

»Sehr hübsch!« sagte Mrs. Gowan, ihren Schirm kaltblütig öffnend. »Sehr gut! Ich muß daraus schließen, daß Sie im stillen ihre Manieren ihrem Gesicht gleich schätzen.« Clennam verbeugte sich, nachdem er einen Moment steif dagesessen.

»Das ist sehr angenehm, und ich hoffe, Sie haben recht. Sagte mir nicht Henry, Sie seien mit ihnen gereist?«

»Ich reiste einige Monate lang mit meinem Freunde Mr. Meagles und seiner Frau und Tochter.« (Das Herz jenes Niemand würde wahrscheinlich durch diese Erinnerung sehr gequält worden sein.)

»Wirklich sehr angenehm, weil Sie sie auf diese Weise genau kennenlernten. Sie sehen, Mr. Clennam, diese Sache spielt schon lange, und ich finde nicht, daß sie Fortschritte macht. Deshalb ist es eine große Erleichterung für mich, die Gelegenheit zu haben, mit einem von der Sache so gut unterrichteten Manne wie Sie zu sprechen. Eine wahre Wohltat. Wahrhaftig ein Glück.«

»Verzeihen Sie«, versetzte Clennam, »aber ich genieße nicht das Vertrauen Mr. Henry Gowans. Ich bin weit entfernt, so gut davon unterrichtet zu sein, wie Sie glauben. Ihr Irrtum macht meine Stellung zu einer äußerst fatalen. Es ist nie zwischen Mr. Henry Gowan und mir von dieser Sache die Rede gewesen.«

Mrs. Gowan blickte nach dem andern Ende des Zimmers, wo ihr Sohn auf einem Sofa saß und mit der alten Dame, die für einen Kavallerieangriff war, Ecarté spielte.

»Genießen nicht sein Vertrauen? Nicht?« sagte Mrs. Gowan. »Keine Rede zwischen Ihnen davon gewesen? Nein? Das kann ich mir denken. Aber es gibt Geständnisse ohne Worte, Mr. Clennam; und da Sie sehr intim mit diesen Leuten befreundet sind, so kann ich nicht zweifeln, daß eine Vertraulichkeit dieser Art in vorliegendem Falle existiert. Vielleicht haben Sie gehört, daß es mir den größten Kummer verursacht, daß Henry einen Beruf ergriffen, der – nun!« sagte sie die Achseln zuckend, »einen sehr ehrenwerten Beruf, ich gebe es zu, und einzelne Künstler haben als Künstler eine sehr hohe Stellung: – aber wir sind in unserer Familie doch nie über den Amateur hinausgegangen, und es ist eine verzeihliche Schwäche, sich etwas –«

Als Mrs. Gowan abbrach, um tief aufzuseufzen, konnte Clennam, obwohl er entschlossen war, großherzig zu sein, den Gedanken nicht unterdrücken, daß selbst unter so bewandten Umständen außerordentlich wenig Gefahr vorhanden sei, die Familie werde je über den Amateur hinauskommen.

»Henry«, fuhr die Mutter fort, »ist eigenwilligen und entschlossenen Charakters; und da diese Leute jede Sehne anspannen, um ihn zu fangen, so kann ich wenig Hoffnung hegen, Mr. Clennam, daß die Sache abzubrechen sei. Ich fürchte, daß das Vermögen des Mädchens sehr klein ausfallen wird; Henry hätte weit bessere Partien machen können. Es ist kaum etwas da, was bei dieser Verbindung das Gleichgewicht herstellte; aber er handelt ganz für sich; und wenn ich nicht in kurzer Zeit Besserung sehe, so weiß ich nicht, was mir übrig bliebe, als zu resignieren und mich so gut es geht in diese Leute zu finden. Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, was Sie mir gesagt.«

Während sie mit den Achseln zuckte, verbeugte sich Clennam wieder steif vor ihr. Mit der Röte der Verlegenheit auf seinen Wangen und einem gewissen Zögern in seinem Benehmen sagte er dann in einem noch leiseren Ton, als er ihn schon angenommen: »Mrs. Gowan, ich weiß kaum, wie ich es aussprechen soll, und ich fühle doch, daß es meine Pflicht ist. Jedenfalls muß ich Sie um Ihre gütige Nachsicht bitten, wenn ich mir erlaube, meine Meinung an den Tag zu legen. Ein Irrtum von Ihrer Seite, ein sehr großer Irrtum, wenn ich es so nennen darf, scheint einer Berichtigung zu bedürfen. Sie sind der Meinung, Mr. Meagles und seine Familie spanne jede Sehne an – ich glaube, so sagten Sie –«

»Jede Sehne«, wiederholte Mrs. Gowan, indem sie ihn, den grünen Fächer zwischen Gesicht und Feuer haltend, mit ruhiger Hartnäckigkeit ansah.

»Um sich Mr. Henry Gowans zu versichern?«

Die Dame gab ruhig ihre Zustimmung.

»Das ist nicht im mindesten der Fall«, sagte Arthur. »Ich weiß sogar, Mr. Meagles ist sehr unglücklich über die Sache und hat ihr alle vernünftigen Hindernisse in den Weg gelegt, in der Hoffnung, ihr ein Ende zu machen.«

Mrs. Gowan schloß ihren großen grünen Fächer, schlug sich damit auf den Arm und tätschelte dann ihre lächelnden Lippen. »Nun, ja«, sagte sie, »ganz was ich meine.«

Arthur suchte in ihrem Gesicht zu lesen, was sie damit meinte.

»Ist das wirklich Ihr Ernst, Mr. Clennam? Sehen Sie denn nicht?«

Arthur sah nicht und sagte es. ‚

»Nun, ich sollte meinen Sohn nicht kennen und nicht wissen, daß das gerade die Art und Weise ist, ihn zu halten?« sagte Mrs.

»Nun, sollte ich meinen Sohn nicht kennen und nicht wissen, mindestens so gut, wie ich es weiß? Oh, es sind geriebene Leute, Mr. Clennam; ganz sicherlich Geschäftsleute! Ich glaube, Mr. Miggles war bei einer Bank angestellt. Es hätte eine sehr profitable Bank sein sollen, wenn er viel mit ihrer Leitung zu tun gehabt hätte. Das ist sehr gut angelegt.«

»Ich bitte und ersuche Sie, Ma’am –« warf Arthur ein.

»Oh, Mr. Clennam, können Sie wirklich so leichtgläubig sein?«

Es machte einen so peinlichen Eindruck auf ihn, sie in diesem hochmütigen Ton sprechen zu hören und sie ihre verachtungsvollen Lippen mit ihrem Fächer tätscheln zu sehen, daß er sehr ernst sagte: »Glauben Sie mir, Ma’am, das ist ein ungerechter, ein ganz grundloser Verdacht.«

»Verdacht?« wiederholte Mrs. Gowan. »Nicht Verdacht, Mr. Clennam, Gewißheit. Es ist wirklich sehr geschickt angezettelt, und man scheint auch Sie vollständig überlistet zu haben.« Sie lachte und tätschelte sich wieder die Lippen mit dem Fächer und schüttelte ihren Kopf, als wenn sie sagen wollte: »Sprechen Sie mir nicht davon. Ich weiß, solche Leute tun alles für die Ehre einer solchen Verbindung.« In diesem günstigen Augenblick wurden die Karten hingeworfen, und Mr. Henry Gowan kam durch das Zimmer, indem er sagte: »Mutter, wenn Sie jetzt Mr. Clennam entbehren könnten, wir haben einen weiten Weg zu machen, und es wird spät.« Mr. Clennam erhob sich, da er keine andere Wahl hatte, und Mrs. Gowan zeigte ihm bis zum letzten Moment denselben Blick und dieselben getätschelten spöttischen Lippen.

»Sie hatten ja eine schrecklich lange Audienz bei meiner Mutter«, sagte Gowan, als die Tür sich hinter ihnen schloß. »Ich hoffe von Herzen, daß sie Sie nicht gelangweilt?«

»Durchaus nicht«, sagte Clennam.

Sie hatten einen kleinen offenen Phaeton für den Tag und waren bald wieder auf dem Heimweg. Gowan, der kutschierte, zündete sich eine Zigarre an; Clennam lehnte die ihm angebotene ab. Er ließ ihn gewähren und verfiel in eine solche Geistesabwesenheit, daß Gowan wieder sagte: »Ich muß sehr fürchten, daß meine Mutter Sie gelangweilt hat?« Er riß sich aus seinen Träumen los, um zu antworten: »Durchaus nicht«, verfiel aber alsbald wieder in sein Brüten.

In diesem Gemütszustand, der niemandem zur Last fiel, richteten sich seine Gedanken vielleicht vorzüglich auf den Mann zu seiner Seite. Er dachte vielleicht an den Morgen, als er ihn zuerst die Steine mit dem Absatz hatte heraushacken sehen, und fragte sich vielleicht: »Wird er mich in derselben gleichgültigen, grausamen Weise aus dem Weg schleudern?« Er dachte vielleicht, ob diese Einführung bei seiner Mutter durch ihn veranlaßt worden sei, weil er wußte, was sie sagen würde, und so seine Stellung einem Rivalen klarmachen und ihn eindringlich warnen könnte, ohne selbst ein Wort des Vertrauens mit ihm darüber zu wechseln? Er dachte vielleicht, ob, wenn auch kein Plan der Art vorgewaltet hätte, er ihn nicht hierhergebracht, um mit seinen unterdrückten Gefühlen zu spielen und ihn zu quälen? Der Strom dieser Gedanken wurde vielleicht bisweilen durch einen plötzlichen Anlauf von Scham gehemmt, wobei sich seine eigene offne Natur vorwarf: solchen Verdacht zu hegen, heiße, selbst nur für einen vorübergehenden Augenblick, nicht den hohen neidlosen Standpunkt festzuhalten, auf den er sich zu stellen vorgenommen. In solchen Augenblicken war der Kampf vielleicht am härtesten; und wenn er aufgesehen und Gowans Blicken begegnet wäre, würde er vielleicht erschrocken sein, als wenn er ihm Unrecht getan.

Wenn er dann auf den dunklen Weg und die verschwimmenden Gegenstände sah, wurde er vielleicht wieder in den Gedanken hineingerissen: »Ich möchte wissen, wohin wir fahren, er und ich, auf dem dunkleren Weg des Lebens? Wie wird es in der dunklen Zukunft mit uns und ihr stehen?« Wenn er an sie dachte, quälte ihn vielleicht aufs neue der schwere Vorwurf, daß es nicht mal treu gegen sie handeln heiße, ihn nicht zu mögen, und daß, wenn er sich leicht zu

Vorurteilen gegen ihn geneigt zeige, er ihrer weniger würdig sei als anfangs.

»Sie sind offenbar schlechter Laune«, sagte Gowan, »ich fürchte wirklich sehr, daß meine Mutter Sie schrecklich gelangweilt hat.«

»Glauben Sie mir, durchaus nicht«, sagte Clennam, »es ist nichts – nichts!«

Siebenundzwanzigstes Kapitel.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Fünfundzwanzig

Ein häufig wiederkehrender Zweifel, ob Mr. Pancks‘ Wunsch, sich Notizen über die Familie Dorrit zu sammeln, irgendwelche Bestätigung der Besorgnisse bringen könnte, die er seiner Mutter bei seiner Rückkehr aus dem langen Exil mitgeteilt hatte, verursachte Arthur Clennam zu jener Zeit viel Unruhe. Was Mr. Pancks bereits von der Familie Dorrit wußte, was er noch weiter herausbekommen wollte, und warum er seinen vielbeschäftigten Kopf überhaupt damit abquälte, waren Fragen, die ihn oft plagten. Mr. Pancks war nicht der Mann, der seine Zeit vergeudete und sich mit Nachforschungen, die von bloßer Neugier veranlaßt waren, abquälte. Daß er einen spezifischen Zweck hatte, darüber hegte Clennam keinen Zweifel. Und ob die Erreichung dieses Zweckes durch Mr. Pancks‘ ausdauerndes Mühen auf unangenehme Weise geheime Gründe zutage bringen würde, die seine Mutter veranlaßten, sich Klein-Dorrits anzunehmen, war ein Gegenstand ernster Erwägung.

Nicht, daß er je in seinem Wunsch oder in seinem Entschluß gewankt, ein Unrecht wieder gutzumachen, das zu seines Vaters Zeiten jemandem zugefügt worden, sobald dieses Unrecht an den Tag kam und wieder gutzumachen war. Der Schatten eines vermuteten Unrechts, der seit seines Vaters Tod auf ihm ruhte, war vag und formlos. Diese Vorstellung von dem Unrecht konnte weit entfernt von den wirklichen Tatsachen sein. Wenn seine Besorgnisse jedoch sich als wohlbegründet erweisen sollten, so war er jeden Augenblick bereit, alles hinzugeben, was er hatte, und von neuem zu beginnen. Da die strenge und dunkle Lehre seiner Jugend nie in sein Herz gedrungen, so war es der erste Artikel in seinem Sittengesetz, daß er auf Erden mit praktischer Demut, den Blick zu Boden gerichtet, beginnen müsse, und daß er nicht auf den Flügeln des Wortes sich zum Himmel emporschwingen könne. Pflichterfüllung auf Erden, Vergeltung auf Erden, Tätigkeit auf Erden: diese zuerst als die ersten steilen Stufen aufwärts. Eng war die Pforte und schmal der Weg; weit enger und schmaler als die breite Heerstraße, die mit eitlen Versicherungen und Wiederholungen, Splittern aus andrer Leute Augen und bereitwilliger Auslieferung anderer an das Gericht gepflastert ist – lauter billigen Dingen, die absolut nichts kosten.

Nein. Es war kein selbstsüchtiges Fürchten oder Zögern, was ihn beunruhigte, sondern das Mißtrauen, Pancks möchte seinen Teil am Vertrage zwischen ihnen nicht erfüllen und, wenn er irgendeine Entdeckung machte, Schritte tun, ohne ihn daran teilnehmen zu lassen. Wenn er auf der andern Seite an sein Gespräch mit Pancks und den geringen Grund dachte, den er zu der Vermutung hatte, daß irgendeine Wahrscheinlichkeit vorhanden, dieser seltsame Mensch möchte überhaupt jener Spur folgen, so mußte er sich bisweilen wundern, daß er soviel Aufhebens davon machte. In dieser See sich abmühend, wie alle Barken, die auf einer stürmischen See mit einander durchkreuzenden Wellen sich abmühen, wurde er hin- und hergeworfen und gelangte in keinen Hafen.

Die Entfernung Klein-Dorrits aus ihrem gewohnten Kreise besserte die Sache nicht. Sie war so viel außer dem Haus und so viel auf ihrem eigenen Zimmer, daß er sie zu vermissen und eine Leere an ihrem Platz zu finden begann. Er hatte an sie geschrieben, um zu fragen, ob sie sich besser befinde, und sie hatte ihm sehr dankbar und ernst zurückgeschrieben, daß er ihretwegen nicht unruhig sein dürfe, denn sie sei ganz wohl. Aber er hatte sie, wie es ihm im Vergleich mit ihrem sonstigen Verkehr erschien, lange nicht gesehen.

Er kam eines Abends von einem Besuch bei ihrem Vater zurück, der ihm gesagt, daß sie zu Besuch aus sei – was er immer sagte, wenn sie auswärts angestrengt arbeitete, um sein Nachtessen zu verdienen –, und fand Mr. Meagles in aufgeregtem Zustand in seinem Zimmer auf und nieder gehend. Als er die Tür öffnete, blieb Mr. Meagles stehen, sah sich um und sagte:

»Clennam! – Tattycoram!«

»Was ist damit?«

»Verloren!«

»Wie, gerechter Gott!« rief Clennam bestürzt. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Wollte nicht fünfundzwanzig zählen, Sir; konnte nicht dazu gebracht werden, blieb bei acht stehen und machte sich auf und davon.«

»Hat Ihr Haus verlassen?«

»Um nimmer wiederzukommen«, sagte Mr. Meagles seinen Kopf schüttelnd. »Sie kennen den leidenschaftlichen und stolzen Charakter dieses Mädchens nicht. Ein Gespann Pferde würde sie nicht mehr zurückzubringen vermögen; die Querbalken und Riegel der alten Bastille könnten sie nicht halten.«

»Wie kam das? Bitte, setzen Sie sich und erzählen Sie.«

»Das ›Wie‹ das geschah, ist nicht so leicht zu erzählen, weil Sie das unglückliche Temperament dieses armen heftigen Mädchens haben müßten, um die Sache ganz zu verstehen. Aber es geschah ungefähr folgendermaßen: Pet und Mutter und ich hatten in letzter Zeit lange Verhandlungen miteinander. Ich will Ihnen nicht verhehlen, Clennam, daß diese Verhandlungen nicht gerade so freundlicher Art waren, wie Sie wohl wünschen möchten. Sie bezogen sich auf unser Wiederweggehen. Bei diesem Vorschlag hatte ich allerdings einen bestimmten Zweck.«

Niemands Herz schlug lebhaft. »Einen Zweck«, sagte Mr. Meagles nach einer kurzen Pause, »den ich Ihnen auch nicht verhehlen will, Clennam. Mein Kind hat eine Neigung, die mich sehr besorgt macht. Vielleicht ahnen Sie die Person. Henry Gowan.«

»Ich war nicht unvorbereitet, das zu hören.«

»Gut!« sagte Mr. Meagles mit einem schweren Seufzer, »ich wünschte bei Gott, Sie hätten das nie zu hören brauchen. Nun ist es aber mal so. Mutter und ich haben alles getan, was in unsern Kräften stand, um die Sache abzuwenden. Clennam, wir haben es mit zärtlichen Mahnungen versucht, wir haben es mit der heilenden Zeit versucht, wir haben es mit Entfernung versucht, alles vergeblich. Unsere letzten Gespräche drehten sich nun um eine Reise von mindestens einem Jahr, um eine vollständige Trennung und ein Abbrechen der Sache herbeizuführen. Diese Frage machte Pet unglücklich, und natürlich waren Mutter und ich gleichfalls unglücklich.«

Clennam sagte, daß er das gerne glauben wolle.

»Gut!« fuhr Mr. Meagles im Ton der Entschuldigung fort: »Ich gebe als praktischer Mann zu und bin überzeugt, Mutter wird als praktische Frau gleichfalls zugeben, daß wir in Familien unsere Besorgnisse vergrößern und Berge aus unsern Maulwurfshügeln machen und das in einer Weise, die für Leute, die zusehen, für bloße außerhalb Stehende, sehr unangenehm ist, Clennam. Aber Pets Glück oder Unglück ist eine Lebensfrage für uns, und wir werden hoffentlich entschuldigt sein, wenn wir viel Aufhebens davon machen. Jedenfalls hätte sich Tattycoram darein fügen sollen. Sind Sie nicht auch meiner Ansicht?«

»Allerdings«, versetzte Clennam, dieser äußerst bescheiden ausgesprochenen Erwartung aufs nachdrücklichste entsprechend.

»Nein, Sir«, sagte Mr. Meagles, den Kopf traurig schüttelnd. »Sie konnte es nicht ertragen. Das Toben und Sprühen des Mädchens, das Zerren und Zerfleischen der eignen Brust war der Art, daß ich, sooft ich an ihr vorüberging, leise zu ihr sagte: ›Fünfundzwanzig, Tattycoram, fünfundzwanzig!‹ Ich wünschte von Herzen, es wäre ihr gelungen, fünfundzwanzig Tag und Nacht zu zählen, es wäre alles gut gegangen.«

Mr. Meagles fuhr mit einer verzweifelten Miene, in der sich die Güte seines Herzens sogar noch mehr aussprach als in den Zeiten seines ungetrübten Glückes, von der Stirn bis zum Kinn über sein Gesicht und schüttelte abermals den Kopf.

»Ich sagte zu Mutter (nicht daß es nötig gewesen; denn sie würde es alles selbst gedacht haben), wir sind praktische Leute, meine Liebe, und wir kennen ihre Lebensgeschichte: wir sehen in diesem unglücklichen Mädchen einen Widerschein von dem, was in dem Herzen ihrer Mutter tobte, ehe eine Kreatur, wie dieses arme Ding, in der Welt war. Wir wollen ihr Temperament beschönigen, Mutter, wir wollen für den Augenblick gar nicht darauf achten, meine Liebe, wir wollen eine bessere Stimmung bei ihr abwarten. Wir sagten deshalb nichts. Aber wir mochten tun, was wir wollten, es schien so sein zu müssen, wie es war; sie brach eines Nachts heftig los.«

»Wie und warum?«

»Wenn Sie mich fragen, warum«, sagte Mr. Meagles etwas verlegen durch die Frage; denn er war weit mehr geneigt, ihre Sache als die der Familie zu mildern, »so kann ich Sie nur auf das verweisen, was ich Ihnen soeben als ziemlich dieselben Worte wiederholte, die ich zu Mutter sagte. Was das Wie betrifft, so hatten wir Pet (ich muß gestehen, sehr warm) in ihrer Gegenwart gute Nacht gesagt, und sie hatte Pet die Treppe hinaufbegleitet – Sie erinnern sich, sie war ihre Zofe. Vielleicht mag Pet, die etwas aufgeregt war, etwas rücksichtsloser als gewöhnlich Dienste von ihr verlangt haben. Aber ich weiß nicht, ob ich das der Wahrheit gemäß behaupten darf; sie war immer aufmerksam und sanft.«

»Die sanfteste Dame von der Welt.«

»Ich danke Ihnen, Clennam«, sagte Mr. Meagles, ihm die Hand schüttelnd. »Sie haben sie oft zusammen gesehen. Gut! Wir hörten bald darauf die unglückliche Tattycoram laut und zornig sprechen, und ehe wir noch fragen konnten, was es gebe, kam Pet zitternd zurück, indem sie sagte, sie fürchte sich vor ihr. Gleich hinterdrein kam Tattycoram in fürchterlicher Aufregung. ›Ich hasse Sie alle drei!‹ sagte sie, mit dem Fuße stampfend. ›Ich berste vor Haß gegen das ganze Haus.‹«

»Worauf Sie –«

»Ich?« sagte Mr. Meagles mit einer einfachen Offenheit, die selbst Mrs. Gowan zum Glauben genötigt, »ich sagte, zähle fünfundzwanzig, Tattycoram.«

Mr. Meagles strich sich wieder über das Gesicht und schüttelte den Kopf mit dem Ausdruck tiefer Trauer.

»Sie war so daran gewöhnt, Clennam, daß sie selbst in diesem Augenblick, ein Bild der Leidenschaft, wie Sie noch keines gesehen, plötzlich innehielt, mir offen ins Gesicht sah und (wie ich verstand) bis auf acht zählte. Aber es war ihr unmöglich, weiter zu zählen. Damit war’s zu Ende, und sie überließ die übrigen siebenzehn den vier Winden. Dann brach sie los. Sie verachte uns, sie sei unglücklich bei uns, sie könne es nicht aushalten, sie wollte es nicht länger ertragen, sie sei entschlossen fortzugehen. Sie sei jünger als ihre junge Herrin, und sie könne es nicht ertragen, diese beständig als das einzige Geschöpf behandelt zu sehen, das jung und interessant sei und gehätschelt und geliebt zu werden verdiene. Nein, das wolle sie nicht, wolle sie nicht, wolle sie nicht. Was wir wohl glauben, daß sie, Tattycoram, geworden, wenn man sie in ihrer Kindheit wie ihre junge Herrin gehätschelt und gepflegt? So gut wie sie. Ha! Vielleicht fünfzigmal so gut. Wenn wir behaupteten, einander so lieb zu haben, so triumphierten wir über sie: das sei es, was wir täten, wir triumphierten über sie und höhnten sie. Und alle im Hause täten dasselbe. Sie sprächen von ihren Vätern und Müttern und Brüdern und Schwestern; sie schleppten sie mit außerordentlicher Freude vor ihr Gesicht. Erst gestern habe Mrs. Tickit, als sie ihr kleines Enkelchen bei sich gehabt, sich darüber amüsiert, daß es sie (Tattycoram) bei dem verketzerten Namen rief, den wir ihr gäben, und habe über den Namen gelacht. Freilich, wer tue das nicht? und wer wir seien, daß wir ein Recht haben sollten, sie wie einen Hund oder eine Katze zu nennen? Aber es sei gleichgültig. Sie wolle keine Wohltaten mehr von uns annehmen: sie wolle uns ihren Namen wieder ins Gesicht werfen und gehen. Sie wolle uns noch in derselben Minute verlassen. Niemand solle sie aufhalten, und wir sollten nie wieder von ihr hören.«

Mr. Meagles hatte all das mit so lebhafter Erinnerung an sein Original erzählt, daß er während der Zeit beinahe ebenso rot und heiß war, wie er sie beschrieben.

»Ah, ja!« sagte er und wischte sich das Gesicht. »Es war vergebliche Mühe, diesem heftigen, keuchenden Geschöpf (der Himmel weiß, was ihrer Mutter Lebensgeschichte gewesen sein mag) Vernunft beibringen zu wollen. Ich sagte ihr deshalb einfach, daß sie nicht zu so später Stunde der Nacht gehen dürfe, und gib ihr meine Hand, führte sie nach ihrem Zimmer und schloß die Haustür. Aber heute morgen war sie fort.«

»Und Sie wissen nichts weiter von ihr?«

»Gar nichts«, erwiderte Mr. Meagles, »ich bin den ganzen Tag herumgerannt. Sie muß sehr früh und in größter Stille sich davongemacht haben. Ich fand keine Spur von ihr im Hause.«

»Halt! Sie möchten sie doch wiedersehen«, sagte Clennam nach kurzem Nachdenken. »Ich darf das wohl annehmen?«

»Ja, allerdings; ich möchte ihr eine Gelegenheit geben; Mutter und Pet möchten ihr auch noch eine Gelegenheit geben. Ja, Sie selbst«, sagte Mrs. Meagles voll Überzeugung, als ob er durchaus keine Ursache hatte, zornig zu sein, »möchten dem armen leidenschaftlichen Mädchen noch eine Gelegenheit geben, ich weiß es, Clennam.«

„Es wäre allerdings seltsam und hart, wenn ich es nicht täte«, sagte Clennam, »während Sie alle so geneigt sind zu vergeben. Was ich Sie fragen wollte, war, haben Sie an jene Miß Wade gedacht?«

»Allerdings. Ich dachte nicht an sie, bis ich unsere ganze Nachbarschaft durchstreift; und ich weiß nicht, ob sie mir auch dann eingefallen wäre, wenn ich nicht Mutter und Pet bei meinem Nachhausekommen voll von dem Gedanken gefunden, Tattycoram müsse zu ihr gegangen sein. Denn natürlich erinnerte ich mich, was sie bei Tisch sagte, als Sie zum ersten Male bei uns waren.«

»Haben Sie irgendeine Idee, wo Miß Wade zu finden ist?«

»Offen gesagt«, versetzte Mr. Meagles, »Sie finden mich hier auf Sie wartend, weil ich einen dunklen Schatten von Kunde über dieses Wesen habe. Es existiert in meinem Hause einer jener seltsamen Eindrücke, die oft auf geheimnisvolle Weise in Häuser kommen, die aber niemand in einer bestimmten Form von jemandem aufgefaßt und die doch jeder Mensch von irgend jemandem flüchtig empfangen und weitergegeben zu haben scheint, daß sie da herum wohnt oder wohnte.« Mr. Meagles übergab ihm einen Fetzen Papier, auf dem der Name einer der dunklen Nebenstraßen in der Grosvenor Region, nahe bei Park Lane, stand.

»Hier ist keine Nummer«, sagte Arthur, indem er darauf hinblickte.

»Keine Nummer, mein lieber Clennam«, versetzte sein Freund. »Nein, nichts! Der Name der Straße selbst muß in der Luft geschwebt haben: denn, wie ich Ihnen versichere, niemand von meinen Leuten kann sagen, woher sie den Namen haben. Die Sache ist jedoch einer Nachfrage wert; und da ich diese lieber in Gesellschaft als allein machen möchte, und da Sie gleichfalls mit diesem gefühllosen Frauenzimmer gereist sind, so dacht‘ ich, vielleicht –« Clennam endigte die Worte für ihn, indem er seinen Hut wieder nahm und sagte, er sei bereit.

Es war Sommer: ein grauer, heißer, staubiger Abend. Sie fuhren ans Ende der Oxford Street, wo sie ausstiegen und sich in die großen Straßen von melancholischer Pracht und in die kleinen Straßen verloren, die ebenso prachtvoll sein wollen, denen es aber nur gelingt, noch melancholischer auszusehen. Von ihrer Sorte grenzt ein ganzes Labyrinth an Park Lane. Wildnisse von Eckhäusern, mit barbarischen Toren und Zieraten, schauderhafte Figuren, die dem Kopf einer abgeschmackten Person in einer abgeschmackten Zeit entsprungen, dennoch die blinde Verwunderung aller folgenden Generationen forderten und entschlossen waren, dies solange zu tun, bis sie zusammenstürzten, sahen finster in das Zwielicht. Schmarotzerische kleine Häuser mit dem Krampf in der ganzen Gestalt von der zwerghaften Hallentür an dem Riesenmodell Seiner Gnaden auf dem Square bis zu dem gedrückten Fenster des Boudoirs, das auf die Misthaufen in den Hintergäßchen hinaussah, machten den Abend höchst traurig. Verkrüppelte Wohnungen von unzweifelhaft modischem Wesen, aber für nichts bequem als für einen häßlichen Geruch, sahen wie die letzten kränklichen Geburten der großen Adelshäuser aus. Wo ihre kleinen Altane und Balkone von dünnen eisernen Säulen getragen wurden, schienen sie skrofulös auf Krücken zu ruhen. Da und dort sah ein Wappen, das die ganze Wissenschaft der Heraldik in sich schloß, auf die Straße herab wie ein Erzbischof, der über die Eitelkeit predigt. Die Läden, wenig an Zahl, machten kein Gepränge, denn die öffentliche Meinung war ihnen gleichgültig. Der Pastetenbäcker wußte, wer in seinen Büchern stand, und konnte in diesem Bewußtsein ruhig sein: ihm genügten deshalb einige Glaszylinder mit Witwenpfefferminztropfen in seinem Fenster und ein halbes Dutzend alter Sorten gangbaren Obstgelees. Einige Orangen bildeten die ganze Konzession des Obsthändlers an die öffentliche Meinung. Ein einzelnes Körbchen von Moos, das einst Eier von einem Regenpfeifer enthalten, umfaßte alles, was der Geflügelhändler zum Pöbel zu sagen hatte. Jedermann in diesen Straßen schien zu Tisch ausgegangen zu sein (was zu dieser Stunde und Jahreszeit immer der Fall ist), und niemand schien die Diners zu geben, zu denen sie gegangen. Auf den Türstufen lungerten Lakaien mit glänzendem, buntfarbigem Gefieder und weißen Köpfen wie eine ausgestorbene Rasse von ungeheueren Vögeln und Haushofmeister, einsame Menschen von verschlossenem Wesen, die gegen jeden andern Haushofmeister mißtrauisch zu sein schienen. Das Rollen der Wagen im Park war für heute verstummt; die Straßenlampen brannten. Wichte von kleinen Grooms in knapp anliegenden und passenden Kleidern, die Beine verdreht, wie ihre Köpfe verdreht waren, standen paarweise herum, indem sie Stroh kauten und sich betrügerische Geheimnisse anvertrauten. Die gefleckten Hunde, die die Wagen begleiteten, und die wir im Geist so eng mit glänzenden Equipagen zu verbinden gewöhnt sind, daß es wie eine Herablassung von seiten dieser Tiere aussieht, ohne sie zu erscheinen, begleiteten die Stallgehilfen bei ihren Ausgängen. Da und dort war ein bescheidenes Gasthaus, das nicht verlangte, auf die Schultern des Volkes sich zu stützen, und wo man nach Herren ohne Livree nicht besonders verlangte.

Solcherlei Entdeckung machten die beiden Freunde im Verfolg ihrer Nachforschungen. Nirgends war etwas von einer Person wie Miß Wade in Verbindung mit der Straße bekannt, die sie suchten. Es war eine der Schmarotzerstraßen; lang, regelmäßig, schmal, düster und finster wie ein Backstein- und Mörtelleichenzug. Sie fragten an verschiedenen kleinen Vorhoftoren, wo ein trauriger junger Mensch stand, der sein Kinn auf die Spitzen des Geländers einer schroffen hölzernen Treppe drückte, konnten aber keine Auskunft erhalten. Sie gingen an der einen Seite der Straße hinauf und an der andern Seite herab, während zwei laut schreiende Zcitungsverkäufer ein außerordentliches Ereignis ausriefen, das sich nie begeben hat und niemals begeben wird. Sie ließen ihre rauhen Stimmen in die stillen Zimmer hineindröhnen, aber ohne Erfolg. Endlich standen sie an der Ecke, von der sie ausgegangen; es war sehr dunkel, und sie waren um nichts klüger geworden.

In der Straße waren sie zu verschiedenen Malen an einem schmutzigen Hause vorübergekommen, das augenscheinlich leer stand. An den Fenstern befanden sich Zettel, die ankündigten, daß es zu vermieten war. Die Zettel, die eine Abwechslung in dem Leichenzug bildeten, waren beinahe ein Schmuck zu nennen. Vielleicht, weil das Haus vereinzelt in ihrer Erinnerung dastand, vielleicht auch, weil Mr. Meagles und er selbst zweimal im Vorübergehen zueinander gesagt hatten: »Es ist klar, hier wohnt sie nicht« , machte Clennam jetzt den Vorschlag, sie wollten zurückgehen und es mit dem Hause probieren, ehe sie ganz weggingen. Mr. Meagles war dazu bereit, und sie gingen zurück.

Sie klopften einmal und läuteten einmal, ohne eine Antwort. »Leer« , sagte Mr. Meagles lauschend. »Noch einmal« , sagte Clennam und klopfte wieder. Nach diesem Pochen hörten sie eine Bewegung innen und glaubten jemanden nach der Tür schlürfen zu hören.

Der schmale Eingang war so dunkel, daß es unmöglich wurde, genau zu unterscheiden, was für eine Person die Tür öffnete; es schien jedoch eine alte Frau zu sein. »Entschuldigen Sie, daß wir Sie bemühen«, sagte Clennam. »Bitte, können Sie uns sagen, wo Miß Wade wohnt?« Die Stimme in der Dunkelheit antwortete unerwarteterweise: »Hier.«

»Ist sie zu Hause?«

Als keine Antwort erfolgte, sagte Mr. Meagles wieder: »Bitte, ist sie zu Hause?«

Nach einer zweiten Pause sagte die Stimme abgebrochen: »Ich glaube wohl. Sie würden besser tun einzutreten: ich will inzwischen fragen.«

Sie wurden ohne weitere Umstände in das enge schwarze Haus eingeschlossen, und die Gestalt sagte, indem sie hinwegrauschte, von einer höheren Stelle aus: »Kommen Sie gefälligst herauf. Sie können über nichts stolpern.« Sie krochen ihren Weg die Treppen hinauf nach einem matten Licht, das sich als die Straßenlaterne, die durch das Fenster schien, erwies, und die Gestalt ließ sie in einem stickigen Zimmer eingeschlossen zurück.

»Das ist seltsam, Clennam«, sagte Mr. Meagles leise.

»Sehr seltsam«, stimmte Clennam in demselben Ton bei; »aber wir haben unsern Zweck erreicht, das ist die Hauptsache. Da kommt Licht!«

Das Licht war eine Lampe, und die Trägerin war eine alte Frau: sehr schmutzig, sehr verrunzelt und welk. »Sie ist zu Hause«, sagte sie (und die Stimme war dieselbe, die zuvor gesprochen): »sie wird augenblicklich kommen.« Nachdem sie die Lampe auf den Tisch gesetzt, rieb die alte Frau ihre Hände an ihrer Schürze ab, was sie beständig hätte tun können, ohne sie deshalb rein zu machen, sah die Fremden dann mit ein paar trüben Augen an und ging rückwärts hinaus.

Die Dame, die sie zu sprechen gekommen waren, schien, wenn sie die gegenwärtige Bewohnerin dieses Hauses war, ihr Quartier hier gleichsam wie in einer orientalischen Karawanserei aufgeschlagen zu haben. Ein kleiner viereckiger Teppich in der Mitte des Zimmers, einige Möbel, die offenbar nicht zu dem Zimmer gehörten, und ein Wirrwarr von Koffern und Reiseartikeln bildeten ihre ganze Umgebung. Unter einem früheren ansässigen Bewohner hatte das erstickende Zimmer mit einem Pfeilerspiegel und einem vergoldeten Tisch geprangt. Aber die Vergoldung war so verblichen, wie Blumen vom letzten Jahre, und das Glas so trübe, daß es mit magischem Zauber all das neblige und schlechte Wetter, das es je widergegeben hatte, in sich gebannt zu haben schien. Die Fremden hatten eine Minute oder zwei Zeit gehabt, sich umzusehen, als die Tür aufging und Miß Wade eintrat.

Sie war noch ganz dieselbe wie damals, als sie voneinander geschieden. Ebenso hübsch, ebenso höhnisch, ebenso zurückhaltend. Sie bat sie, sich zu setzen, und indem sie es ablehnte, selbst einen Sitz einzunehmen, ersparte sie ihnen die Einleitung zu ihrem Anliegen, indem sie sogleich sagte:

»Ich glaube die Ursache zu wissen, die Sie mir die Ehre eines Besuches erzeigen läßt, wir können deshalb sogleich darauf eingehen.«

»Die Ursache, Ma’am«, sagte Mr. Meagles, »ist Tattycoram.«

»Das vermutete ich.«

»Miß Wade«, sagte Mr. Meagles, »wollen Sie so freundlich sein, uns zu sagen, ob Sie etwas von ihr wissen oder nicht?«

»Gewiß. Ich weiß, sie ist hier bei mir.«

»Dann, Ma’am«, sagte Mr. Meagles, »erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich glücklich sein würde, wenn sie wieder zu mir zurückkäme, und daß meine Frau und Tochter glücklich sein würden, wenn sie wieder zurückkäme. Sie war lange Zeit bei uns, wir vergessen ihre Ansprüche an uns nicht, und ich glaube, wir wissen, daß man es nicht so genau nehmen darf.«

»Sie glauben zu wissen, daß man es nicht so genau nehmen darf?« versetzte sie in gemessenem Ton. »Was?«

»Ich glaube, mein Freund wollte sagen, Miß Wade«, warf Arthur Clennam ein, der sah, daß Mr. Meagles nicht wußte, was er sagen sollte, »mit dem leidenschaftlichen Wesen, das das Mädchen bisweilen überkommt, wenn sie sich im Nachteil fühlt, was bisweilen bessere Gefühle in den Hintergrund drängt.«

Die Dame brach in ein Gelächter aus, als sie ihre Blicke auf ihn richtete. »Wirklich?« war alles, was sie darauf antwortete.

Sie stand so vollkommen ruhig und still nach dieser Antwort auf seine Bemerkung bei dem Tisch, daß Mr. Meagles sie wie verhext anstarrte und nicht mal Clennam ansehen konnte, um ihn zu einer andern Äußerung zu veranlassen. Nachdem er einige Augenblicke linkisch genug gewartet, sagte Arthur:

»Vielleicht wäre es gut, wenn Mr. Meagles sie sehen könnte, Miß Wade?«

»Das ist leicht getan«, sagte sie. »Komm‘ herein, Kind.« Sie hatte eine Tür geöffnet, während sie dies sagte, und führte nun das Mädchen an der Hand herein. Es war wirklich wunderlich, sie beieinander stehen zu sehen: das Mädchen, das mit seinen freien Fingern den Busen ihres Kleides halb unschlüssig, halb leidenschaftlich faltete; Miß Wade, die mit ihrem ruhigen Gesicht sie aufmerksam betrachtete und einem Beobachter von außerordentlichem Scharfblick gerade in ihrer Ruhe die nicht zu stillende Leidenschaftlichkeit ihres Wesens enthüllte (wie ein Schleier die Formen ahnen läßt, die er bedeckt).

»Sehen Sie«, sagte sie in derselben gemessenen Weise wie früher, »hier ist Ihr Herr, Ihr Meister. Er ist willens, Sie wieder mit sich zu nehmen, meine Liebe, wenn Sie empfänglich für diese Gunst sind und Lust zu gehen haben. Sie können wieder eine Folie für seine hübsche Tochter, eine Sklavin für ihren liebenswürdigen Eigensinn und ein Spielzeug sein, das die Güte der Familie zeigt. Sie können Ihren drolligen Namen wieder haben, der Sie mutwillig dem Spott aussetzt und Sie an den Pranger stellt. (Ihre Geburt, Sie wissen, Sie müssen nicht Ihre Geburt vergessen.) Harriet, Sie können dieses Herrn Tochter wieder als eine lebendige Erinnerung an ihren Vorrang und ihre gnädige Herablassung gezeigt und vorgehalten werden. Sie können all diese Vorteile wiedergewinnen und noch manche andere ähnlicher Art, die vermutlich in Ihrem Gedächtnis auftauchen werden, während ich spreche, und deren Sie verlustig gehen, wenn Sie Ihre Zuflucht zu mir nehmen – Sie können sie jedoch alle wiederhaben, wenn Sie diesen Herren sagen, wie demütig und bußfertig Sie seien, und mit ihnen zurückgehen, daß man Ihnen verzeihe. Was sagen Sie, Harriet? Wollen Sie gehen?«

Das Mädchen, das unter dem Einfluß dieser Worte immer zorniger geworden und dessen Wangen sich immer röter färbten, antwortete, indem sie ihre leuchtenden schwarzen Augen für einen Augenblick erhob und ihre Hand auf den Falten, die sie zusammengerunzelt, ballte: »Ich möchte lieber sterben!«

Miß Wade, die, noch immer ihre Hand haltend, neben ihr stand, blickte ruhig umher und sagte mit einem Lächeln: »Gentlemen! Was sagen Sie darauf?«

Die unaussprechliche Bestürzung des alten Meagles, als er seine Motive und Handlungen so verdrehen hörte, hatte ihn bis jetzt gehindert, ein Wort einzuwerfen: nun aber gewann er seine Macht zu sprechen wieder.

»Tattycoram«, sagte er, »denn ich will dich noch immer bei diesem Namen nennen, mein liebes Mädchen, da ich mir bewußt bin, daß ich nur Freundliches dabei im Sinne hatte, als ich ihn dir gab, und überzeugt bin, daß du es weißt.«

»Ich weiß es nicht!« sagte sie, wieder aufblickend und sich mit derselben ungestüm wühlenden Hand fast zerfleischend.

»Nein, vielleicht jetzt nicht«, sagte Mr. Meagles, »nicht, solange die Augen dieser Dame so fest auf dich gerichtet sind, Tattycoram«, sie blickte im Augenblick auf sie, »und solange diese Macht dich beherrscht, die sie auf dich ausübt. Tattycoram, ich werde diese Dame nicht fragen, ob sie das glaubt, was sie gesagt hat, selbst in dem Zorn und Unmut, in dem, wie ich und mein Freund hier gleich gut wissen, sie eben gesprochen hat, obgleich sie sich mit einer Entschlossenheit hinstellt, die jeder, der sie einmal gesehen, wohl nie wieder vergessen wird. Ich will dich nicht fragen, ob du, wenn du dich an mein Haus und alles, was dazu gehört, erinnerst, das glaubst. Ich will nur sagen, daß du weder mir noch den Meinen ein Bekenntnis abzulegen und ebensowenig um Verzeihung zu bitten hast; und daß alles in der Welt, um was ich dich bitten möchte, darin besteht, daß du fünfundzwanzig zählst, Tattycoram.«

Sie sah ihn einen Augenblick an und sagte dann, indem sie die Stirn runzelte: »Ich will nicht, führen Sie mich weg, Miß Wade, bitte.«

Der Kampf, der diesem Augenblick in ihr raste, hatte nichts Milderndes. Es war ein Kampf zwischen leidenschaftlichem Trotz und unbeugsamem Trotz. Ihre lebhafte Röte, ihr rasches Blut, ihr ungestümer Atem stemmten sich alle gegen die Gelegenheit, ihren Schritt rückgängig zu machen. »Ich will nicht. Ich will nicht. Ich will nicht!« wiederholte sie mit leiser, tiefer Stimme. »Man muß mich erst in Stücke reißen. Ich würde mich selbst vorher in Stücke reißen!«

Miß Wade, die sie losgelassen, legte ihre Hand einen Augenblick schützend auf des Mädchens Nacken und sagte dann, indem sie mit ihrem frühern Lächeln umhersah und genau in ihrem frühern Ton sprach: »Gentlemen! was wollen Sie nach dieser Erklärung noch?«

»O, Tattycoram, Tattycoram!« rief Mr. Meagles, indem er sie mit erhobener Hand beschwor: »Höre die Stimme dieser Dame, sieh dieser Dame ins Gesicht, erwäge, was in dem Herzen dieser Dame vorgeht, und bedenke, was für eine Zukunft vor dir liegt! Mein Kind, was du auch immer denken magst, solange du unter dem Einfluß dieser Dame stehst – es ist erstaunlich für uns, und ich werde wohl nicht zu weit gehen, wenn ich sage, schrecklich für uns, es zu sehen –, alles beruht auf einer Leidenschaft, die stärker als die deine, und auf einem Temperament, das heftiger als das deine. Was könnt ihr einander sein? Was kann davon kommen?«

»Ich bin hier allein, Gentlemen«, bemerkte Miß Wade, ohne ihren Ton oder ihr Wesen zu verändern. »Sagen Sie alles, was Sie wollen.«

»Die Höflichkeit nötigt mich, gegen dieses mißleitete Mädchen in ihrem gegenwärtigen Zustand nachzugeben, Ma’am«, sagte Mr. Meagles, »obgleich ich sie nicht ganz aus den Augen zu lassen gedenke, selbst bei den Beleidigungen, die Sie mir in so herbem Tone vor ihr zufügen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie, in ihrer Gegenwart, daran erinnere – ich muß es sagen – daß Sie uns allen ein Geheimnis waren und mit keinem von uns etwas gemein hatten, als sie Ihnen unglückseligerweise in den Weg kam. Ich weiß nicht, was Sie sind, aber Sie verbergen es nicht, können es nicht verbergen, was für ein finsterer Geist in Ihnen wohnt. Wenn Sie eine von den Damen sein sollten, die aus irgendwelchem Grund ein seltsames Vergnügen daran finden, eine Mitschwester so elend zu machen, wie sie selbst ist (ich bin alt genug, um schon davon gehört zu haben), so warne ich sie vor Ihnen und warne Sie vor sich selbst.«

»Gentlemen!« sagte Miß Wade ruhig. »Wenn Sie zu Ende sind – Mr. Clennam, vielleicht werden Sie Ihren Freund veranlassen –«

»Nicht ohne noch einen Versuch«, sagte Mr. Meagles standhaft. »Tattycoram, mein armes, liebes Mädchen, zähle fünfundzwanzig.«

»Weisen Sie die Hoffnung, die Gewißheit nicht von sich, die dieser freundliche Mann Ihnen bietet«, sagte Clennam mit leisem, aber eindringlichem Ton. »Kehren Sie zu den Freunden zurück, die Sie nicht vergessen. Bedenken Sie sich!«

»Ich will nicht! Miß Wade«, sagte das Mädchen, und ihr Busen schwoll, während sie beim Sprechen die Hand an ihren Hals legte, »nehmen Sie mich weg.«

»Tattycoram«, sagte Mr. Meagles, »noch einmal. Das einzige, was ich von dir in der Welt verlange, mein Kind: zähle fünfundzwanzig!«

Sie legte ihre Hand fest auf die Ohren, während ihr schönes schwarzes Haar bei der Heftigkeit, mit der sie es tat, verwirrt herabgezerrt wurde, und richtete den Blick entschlossen nach der Wand. Miß Wade, die sie während dieser letzten Aufforderung mit demselben seltsam aufmerksamen Lächeln beobachtet hatte, wie damals in Marseille, als jene in leidenschaftlichem Kampfe mit sich selbst rang, schlang jetzt den Arm um ihre Hüfte, als wollte sie von ihr für alle Zeiten Besitz ergreifen.

Es lag ein sichtbarer Triumph in ihrem Gesicht, als sie es den Fremden zuwandte, um sich zu verabschieden.

»Da es das letztemal ist, daß ich diese Ehre habe«, sagte sie, »und da Sie davon gesprochen haben, daß Sie nicht wissen, wer ich sei, und woher mein Einfluß bei diesem Mädchen stamme, so mögen Sie denn wissen, daß er sich auf eine gemeinschaftliche Ursache gründet. Was Ihr zerbrochenes Spielzeug in bezug auf Geburt ist, bin auch ich. Sie hat keinen Namen, ich habe keinen Namen. Ihre Unbill ist meine Unbill. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen.«

Diese Worte waren an Mr. Meagles gerichtet, der traurig wegging. Als Clennam ihm folgte, sagte sie mit derselben äußerlichen Fassung und demselben gemessenen Ton, aber mit einem Lächeln, das man nur auf grausamen Gesichtern sieht: einem sehr schwachen Lächeln, das die Nasenflügel hebt, die Lippen kaum berührt und nicht langsam sich verliert, sondern augenblicklich wieder aufhört, sobald es seinen Zweck erfüllt:

»Ich hoffe, die Frau Ihres lieben Freundes, Mr. Gowan, wird in dem Kontrast, in dem ihre vornehme Abkunft zu der dieses Mädchens und der meinen steht, sowie in dem großen Glück, das sie erwartet, sich wirklich glücklich fühlen.«

Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

Niemandes Schwäche.

Da es endlich Zeit war, die Bekanntschaft mit der Familie Meagles zu erneuern, richtete Clennam zufolge des Übereinkommens, das zwischen ihm und Mr. Meagles innerhalb des Hofes zum blutenden Herzen getroffen worden, an einem Sonnabend seine Schritte nach Twickenham, wo Mr. Meagles ein Landhaus bewohnte, das ihm gehörte. Da das Wetter schön und trocken war und jede englische Straße für ihn, der so lange fort gewesen, das größte Interesse bot, so schickte er sein Gepäck mit der Post voraus und machte sich auf den Weg. Ein Spaziergang war an und für sich schon ein neues Vergnügen für ihn und eines, das, soweit er auch zurückdachte, stets in sein Leben Abwechselung gebracht.

Er ging über Fulham und Putney, um sich das Vergnügen zu verschaffen, über die Heide zu streifen. Es war heiter und sonnig in der freien Natur, und als er sich so weit auf seinem Weg nach Twickenham sah, fand er, daß er eine lange Strecke auf seinem Wege zu luftigeren und weniger substanziellen Bestimmungsorten zurückgelegt. Sie waren ihm durch die gesunde Bewegung und den angenehmen Weg nahegetreten. Man kann nicht leicht allein auf dem Lande gehen, ohne über etwas nachzusinnen, und er hatte der unentschiedenen Motive genug, über die er nachdenken konnte, selbst wenn er auch bis ans Ende der Welt zu gehen gehabt hätte.

Zunächst eine Sache, die ihm selten aus dem Sinn kam, die Frage nämlich, was er künftig tun, welche Beschäftigung er ergreifen sollte, und in welcher Richtung er sie am besten suchen würde. Er war durchaus nicht reich, und jeder Tag der Unentschiedenheit und Untätigkeit machte sein Erbe zu einer Quelle größerer Besorgnis für ihn. Sooft er in Betracht zu ziehen begann, wie dieses Erbe zu vermehren wäre, oder wie er es anlegen könnte, stieg auch die Besorgnis in ihm auf, es möchte jemand mit einem unbefriedigten Anspruch auf seine Gerechtigkeit existieren, und diese Betrachtung allein hätte für den längsten Gang genügt. Dann die Beziehungen zu seiner Mutter, mit der er auf einem höflichen und friedlichen, aber keineswegs vertraulichen Fuße stand, und zu der er mehrere Male in der Woche kam. Klein-Dorrit war ein Hauptgegenstand seiner Betrachtungen, der ihm niemals aus dem Sinn kam: denn die Schicksale seines Lebens in Verbindung mit denen des ihrigen stellten ihm das kleine Geschöpf als das einzige Wesen dar, bei dem Bande unschuldigen Vertrauens ihrerseits und liebevollen Schutzes seinerseits bestanden: Bande der Teilnahme, des Respektes, des uneigennützigen Interesses, der Dankbarkeit und des Mitleids. Wenn er an sie und die Möglichkeit der Befreiung ihres Vaters aus dem Gefängnis durch die entfesselnde Hand des Todes dachte – die einzige Wendung der Dinge, die seiner Voraussicht nach ihn in die Lage setzen konnte, ihr ein Freund zu werden, wie er es wünschte, indem er ihre ganze Lebensweise änderte, ihren rauhen Pfad ebnete und ihr eine Heimat bot – dann betrachtete er sie, in solcher Perspektive, als seine Adoptivtochter, sein armes Kind aus dem Marshallsea, das endlich zur Ruhe gebracht worden. Gab es noch etwas, das seine Gedanken beschäftigte, und es lag in der Richtung von Twickenham, so hatte es eine so verschwimmende Gestalt, daß es keine festeren Umrisse annahm als die allgemeine Atmosphäre, in der diese und andere Dinge vor ihm schwebten.

Er hatte die Heide überschritten und ließ sie eben hinter sich, als er einen Menschen einholte, der ihm um einiges voraus gewesen und den er beim Näherkommen zu erkennen glaubte. Diesen Eindruck machte die Art, wie er den Kopf drehte, und die sinnende Haltung bei dem ziemlich derben Gang. Als der Mann jedoch – denn es war eine männliche Gestalt – seinen Hut hinten hinausschob und stehenblieb, um etwas vor sich zu betrachten, wußte er, daß es Daniel Doyce war.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Doyce?« sagte Clennam, ihn einholend. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen, und zwar an einem gesünderen Orte als dem Circumlocution Office.«

»Ah! Mr. Meagles‘ Freund!« rief dieser Staatsverbrecher, aus seinem Nachsinnen, womit sein Geist beschäftigt gewesen, erwachend, und bot dem Herankommenden die Hand. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Sir. Entschuldigen Sie, ich vergaß Ihren Namen.«

»Das kann leicht geschehen. Es ist kein berühmter Name. Kein Barnacle.«

»Nein, nein«, sagte Daniel lachend. »Jetzt fällt es mir ein: Clennam. Wie befinden Sie sich, Mr. Clennam?«

»Ich darf wohl hoffen«, sagte Arthur, während sie zusammen weitergingen, »daß wir dasselbe Ziel haben, Mr. Doyce?«

»Sie meinen Twickenham?« versetzte Daniel. »Ich freue mich, das zu hören.«

Sie waren bald sehr vertraut und erheiterten sich den Gang durch wechselseitige Unterhaltung. Der erfinderische Verbrecher war ein Mann von großer Bescheidenheit und klarem Geist, und obgleich ein einfacher Mann, war er doch zu sehr gewöhnt, die Originalität und Kühnheit der Auffassungsgabe mit geduldiger und pünktlicher Ausführung zu verbinden, um ein schlechthin gewöhnlicher Mann zu sein. Es war anfangs schwer, ihn zu veranlassen, von sich zu sprechen, und er wich Arthurs Aufforderungen nach dieser Richtung durch die flüchtige Einräumung aus: o ja, er habe dies und habe das getan. Das sei etwas von seiner Arbeit und jenes von seiner Erfindung, aber es sei auch sein Geschäft, sein Gewerbe, wie er wisse; bis er endlich, als er nach und nach die Gewißheit bekam, daß sein Begleiter wirkliches Interesse an ihm nehme, diesem offen entgegenkam. Da ergab es sich, daß er der Sohn eines im Norden wohnenden Grobschmiedes sei und ursprünglich von seiner verwitweten Mutter zum Schlosser bestimmt gewesen; daß er bei dem Schlosser »etwas erfunden«, weshalb er mit einem Geschenk aus der Lehre entlassen worden war. Dieses Geschenk setzte ihn in den Stand, seinen heißen Wunsch zu befriedigen, bei einem Maschinenmacher einzutreten, bei dem er sieben Jahre viel gearbeitet, viel gelernt und viel erlebt. Nachdem seine Zeit vorüber war, hatte er weitere sieben bis acht Jahre um Wochenlohn gearbeitet und sich dann an die Ufer der Clyde begeben, wo er weitere sechs bis sieben Jahre studiert, gefeilt, gehämmert und seine theoretischen und praktischen Kenntnisse erweitert hatte. Dort bekam er ein Anerbieten, nach Lyon zu gehen, das er annahm; von Lyon wurde er nach Deutschland engagiert, und in Deutschland erhielt er ein Anerbieten nach St. Petersburg. Dort war es ihm sehr gut gegangen, – nirgends besser. Er hatte jedoch eine natürliche Vorliebe für sein Vaterland und hegte den Wunsch, sich dort Auszeichnungen zu verschaffen und dort lieber als anderswo Dienste zu leisten, soweit es in seinen Kräften stand. So war er denn heimgekehrt. Er hatte sich ein Geschäft gegründet und hatte Erfindungen gemacht und ausgeführt, hatte fort und fort gearbeitet, bis er nach ungefähr zwölf Jahren angestrengten Fleißes und Mühens in die große englische Ehrenlegion, die Legion der vom Circumlocution Office Zurückgestoßenen, aufgenommen und mit dem großen englischen Verdienstorden, dem Orden der Unordnung der Barnacles und Stilstalkings, geschmückt worden war.

»Es ist sehr zu bedauern«, sagte Clennam, »daß Sie je Ihre Gedanken dahin gerichtet haben, Mr. Doyce.«

»Wahr, Sir, wahr bis auf einen gewissen Punkt. Aber was soll der Mensch tun? Wenn er das Unglück hat, etwas der Nation Nützliches zu erfinden, so muß er seinem Drange folgen.«

»Würde er nicht besser tun, wenn er es ganz sein ließe?« fragte Clennam.

»Er kann’s nicht lassen«, sagte Doyce, mit gedankenvollem Lächeln den Kopf schüttelnd. »Es ist ihm nicht in den Kopf gelegt, um begraben zu werden. Es ist ihm in den Kopf gelegt, es nutzbar zu machen. Sie haben Ihr Leben, damit Sie bis zum letzten Augenblick mit aller Kraft darum ringen. Dasselbe ist mit den Erfindungen der Fall.«

»Das heißt«, sagte Arthur mit wachsender Bewunderung seines ruhigen Begleiters: »Sie sind auch jetzt noch nicht entmutigt?«

»Wenn ich’s wäre, hätt‘ ich kein Recht dazu«, versetzte der andere. »Die Sache ist so wahr, als sie es je war.«

Als sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander hergegangen waren, fragte Clennam, um dem Hauptthema des Gespräches eine andere Wendung zu geben und doch nicht zu rasch abzubrechen, Mr. Doyce, ob er einen Geschäftsteilhaber hätte, der ihm einen Teil seiner Sorgen abnehmen könne?

»Nein«, antwortete er, »im Augenblick nicht. Ich hatte einen solchen, als ich mein Geschäft begann, und es war ein sehr guter Mann. Aber er starb vor einigen Jahren; und da ich mich nicht leicht zu einem andern entschließen konnte, als ich ihn verlor, kaufte ich seinen Anteil für mich und habe nun seit jener Zeit auf eigne Faust fortgearbeitet. Und dann noch eins«, sagte er, einen Augenblick stehenbleibend, mit einem freundlichen Lächeln im Blicke und die geschlossene Rechte mit der ihm eigenen Gewandtheit des Daumens auf Clennams Arm legend, »kein Erfinder kann, wie Sie wissen, ein guter Geschäftsmann sein.«

»Nein?« sagte Clennam.

»Nein, die Geschäftsleute sagen das«, antwortete er weitergehend und laut auflachend. »Ich weiß nicht, weshalb wir unglücklichen Geschöpfe als des gemeinen Verstandes bar angesehen werden; aber es wird allgemein als entschieden angenommen, daß es der Fall ist. Selbst der beste Freund, den ich in der Welt habe, unser ausgezeichneter Freund dort unten«, sagte Doyce, auf Twickenham deutend, »übt eine Art Protektion auf mich aus, müssen Sie wissen, gleichsam wie auf einen Mann, der nicht imstande ist, für sich selbst zu sorgen.«

Arthur Clennam mußte unwillkürlich in das gutmütige Lächeln einstimmen; denn er kannte die Wahrheit der Darstellung.

»So finde ich, daß ich einen Kompagnon haben muß, der ein Geschäftsmann, aber an keiner Erfindung schuldig ist«, sagte Daniel Doyce, indem er seinen Hut abnahm, um mit der Hand über die Stirn zu fahren, »geschähe dies auch nur, um der geläufigen Meinung nachzugeben und den Kredit der Arbeit aufrechtzuerhalten. Ich denke nicht, daß er finden wird, ich sei in der Art, sie zu leiten,

nachlässig und verwirrt gewesen, aber das ist seine Sache, wer er auch sein mag, – nicht die meine, sich darüber auszusprechen.«

»Sie haben somit noch nicht gewählt?«

»Nein, Sir, nein. Ich bin erst zu dem Entschluß gekommen, jemanden zu suchen. Die Sache ist nämlich die, es gibt jetzt mehr zu tun als je, und die Arbeit ist genug für mich, da ich immer älter werde. Die Bücher und die Korrespondenz und die Reisen ins Ausland, für die ein Chef notwendig ist, – das kann ich nicht alles besorgen. Ich will mich über die beste Art, die Sache ins reine zu bringen, mit meinem Pflegevater und meinem Beschützer beraten, wenn ich zwischen heute und Montagmorgen eine halbe Stunde finden kann«, sagte Doyce wieder mit lachendem Blicke. »Er ist ein kluger Geschäftsmann und hat eine gute Lehre genossen.«

Darauf unterhielten sie sich noch über verschiedene Gegenstände, bis sie das Ziel ihrer Wanderschaft erreichten. Daniel Doyce hatte eine ruhige und bescheidene Haltung – das sichere Bewußtsein sprach sich in seinem Wesen aus, daß, was wahr sei, wahr bleiben müsse, trotz aller Barnacles in dem Familienozean, und daß es gerade die Wahrheit sein würde und nicht weniger noch mehr, selbst wenn jener See ausgetrocknet wäre – was etwas Großartiges bedeutete, wenn auch nicht von der offiziellen Art.

Da er das Haus wohl kannte, so führte er Arthur auf dem Weg, von dem es sich am besten präsentierte, dahin. Es war ein reizender Ort (nicht um so schlechter, weil etwas außergewöhnlich), am Weg beim Flusse und ganz so, wie man sich den Aufenthalt der Meagles‘ denken mußte. Das Haus stand in einem Garten, der im Mai des Jahres ohne Zweifel so frisch und schön war, wie Pet jetzt im Mai ihres Lebens, und wurde durch eine Reihe hübscher Bäume und üppigen Immergrüns geschützt, wie Pet durch Mr. und Mrs. Meagles. Es war aus einem alten Backsteinhaus entstanden, von dem ein Teil ganz abgebrochen war. Der andere aber war in dieses Landhaus verwandelt worden; ein unverletzter, älterer Teil repräsentierte somit Mr. und Mrs. Meagles und ein junger, malerischer, sehr hübscher Teil Pet. Das später hinzugekommene Gewächshaus, das sich daran lehnte und dessen dunkles buntes Glas keine bestimmte Farbe hatte, während die durchsichtigeren Partien im Sonnenlicht bald wie Feuer, bald wie harmlose Wassertropfen glänzten, mochte Tattycoram repräsentieren. Im Hintergrund sah man den Fluß und die Fähre, die allen Bewohnern des Hauses zuzurufen schien: Ihr alle, jung und alt, leidenschaftlich und ruhig, aufgeregt und zufrieden – so fließt der Strom eures Lebens unaufhaltsam dahin. Laßt das Herz steigen, bis zu welchem Mißklang es will, das rauschende Wasser am Bug der Fähre wird immer dieselbe Melodie singen. Mag man das Boot auch Jahr für Jahr noch so wild forttreiben lassen, mag der Strom noch so viele Meilen in einer Stunde dahinrauschen, mögen hier die Binsen, dort die Lilien an diesem Wege, den stetig sein Lauf nimmt, erblühen, nichts ist ungewiß oder unruhig, während ihr auf dem flutenden Weg des Lebens so launisch und zerstreut seid.

Die Glocke an dem Tor hatte kaum geklingelt, als Mr. Meagles erschien, um sie zu empfangen. Mr. Meagles war kaum erschienen, als Mrs. Meagles erschien. Mrs. Meagles war kaum erschienen, als Pet erschien. Pet war kaum erschienen, als Tattycoram erschien. Niemals waren Fremde gastfreundlicher aufgenommen worden.

»Hier sind wir«, sagte Mr. Meagles, »in unsere vier Pfähle eingeschachtelt, wie Sie sehen, Mr. Clennam, als ob wir uns nie wieder ausbreiten – das heißt reisen – wollten. Nicht wie in Marseille, he? Nichts von Allons und Marchons?«

»Eine andere Art von Schönheit, in der Tat!« sagte Clennam sich umsehend.

»Aber, bei Gott!« rief Mr. Meagles, indem er sich behaglich die Hände rieb, »es war ein ungewöhnlich angenehmes Ding um die Quarantäne, nicht wahr? Wissen Sie, ich habe mich oft wieder dahin zurückgewünscht. Wir waren eine prächtige Gesellschaft.«

Das war Mr. Meagles‘ unabänderliche Gewohnheit. Immer auf alles zu schimpfen, solange er auf der Reise war, und sich stets darnach zurückzusehnen, wenn er nicht mehr auf der Reise war.

»Wenn es Sommer wäre«, sagte Mr. Meagles, »was ich um Ihretwillen wünschen möchte, damit Sie den Ort in seinem größten Reize sähen, würden Sie kaum vor den Vögeln Ihr eigenes Wort hören. Als praktische Leute erlauben wir niemandem, die Vögel zu verjagen; und da auch die Vögel praktische Tiere sind, so kommen sie in Myriaden zu uns. Wir sind entzückt. Sie zu sehen, Clennam (wenn Sie gestatten, so lasse ich den Mister fallen); ich versichere Sie von ganzem Herzen, wir sind entzückt.«

»Ich wurde nie so freundlich begrüßt«, sagte Clennam, – dann erinnerte er sich, was Klein-Dorrit in seinem Zimmer zu ihm gesagt, und fügte ehrlich hinzu, »ausgenommen einmal – seit wir zum letzten Male spazierengingen und auf das Mittelländische Meer hinabblickten.«

»Ah!« versetzte Mr. Meagles. »Das war eine Aussicht, nicht wahr? Ich vermisse das Militärgouvernement nicht, aber ich würde mir aus ein bißchen Allons und Marchons – nur ein ganz klein wenig – in der Nachbarschaft nichts machen. Es ist hier verdammt still.«

Diese Lobrede auf den einsamen Charakter seines Ruhesitzes mit einem zweifelhaften Kopfschütteln begleitend, führte ihn Mr. Meagles nach dem Hause. Es war gerade groß genug, und so hübsch von innen wie von außen, wohl eingerichtet und behaglich. Einige Spuren von dem Wanderleben der Familie waren in den zugedeckten Rahmen und Möbeln und den eingehüllten Vorhängen zu bemerken. Aber man konnte leicht sehen, daß es eine von Mr Meagles‘ Eigenheiten war, das Landhaus während ihrer Abwesenheit stets so gehalten zu wissen, als wenn sie immer übermorgen zurückkämen. Von Dingen, die er auf seinen verschiedenen Reisen gesammelt, war so reiches Durcheinander vorhanden, daß man sich in die Wohnung eines liebenswürdigen Korsaren versetzt glaubte. Antiquitäten von Mittelitalien, von den besten modernen Häusern in dieser Branche der Industrie verfertigt; Stücke von ägyptischen (vielleicht Birminghamer) Mumien; Gondelmodelle von Venedig; Dörfermodelle aus der Schweiz; Bruchstücke von Mosaikböden aus Herkulanum und Pompeji, die wie versteinertes, zerhacktes Kalbfleisch aussahen; Asche von Gräbern und Lava vom Vesuv; Spanische Fächer, Strohhüte von Spezzia, Maurische Pantoffel, Toskanische Haarnadeln, Karrarische Bildwerke, Trasteverinische Schärpen, Genuesische Samt- und Filigranarbeiten, Neapolitanische Korallen, Römische Kameen, Genfer Juwelen, Arabische Laternen, Rosenkränze, sämtlich vom Papst gesegnet, und eine endlose Masse Plunder. Ansichten, ähnliche und unähnliche von einer Menge von Orten; ein kleines Gemäldezimmer für einige von den gewöhnlichen, klebrigen, alten Heiligen, mit Sehnen wie Peitschenschnüre, Haaren wie Neptun, Runzeln wie bei Tätowierten und so dick gefirnißten Kleidern, daß jeder Heilige als Fliegenfalle diente, was man in der Volkssprache eine »Fang sie lebendig« nennen würde. Von diesen Bildererwerbungen sprach Mr. Meagles in seiner gewöhnlichen Weise. Er sei kein Kenner, sagte er, und urteile nur nach Gefallen. Er habe sie schändlich billig gekauft, und die Leute halten sie für etwas ziemlich Bedeutendes. Ein Mann, der jedenfalls etwas davon verstehen müsse, habe diesen »lesenden Gelehrten« (einen besonders öligen, alten Mann in einer Pferdedecke, mit einem Schwanendunenkragen statt des Bartes und mit einem Gewebe von Rissen über das ganze Bild wie eine gute Pastetenkruste) für einen schönen Guercino erklärt. Was den Sebastian del Piombo betreffe, so möge man selbst urteilen; wenn es nicht seine spätere Manier sei, so sei die Frage: von wem es sei? Das könne ein Tizian sein oder auch nicht, vielleicht habe er es nur berührt. Daniel Doyce sagte, vielleicht habe er es auch nicht berührt, aber Mr. Meagles schien die Bemerkung überhören zu wollen.

Als er seine ganze Beute gezeigt, führte sie Mr. Meagles in sein eignes, reines Zimmer, von dem man den Rasenplatz im Park übersah, und das teils als Ankleidezimmer, teils als Schreibzimmer eingerichtet war. Auf einer Art Zahltisch lagen ein paar Messingwagen, um Gold zu wägen, und eine Schaufel, um Geld herauszuschaufeln.

»Hier sind sie«, sagte Mr. Meagles. »Ich war hinter diesen beiden Artikeln fünfunddreißig Jahre unausgesetzt her, als ich so wenig ans Umherschlendern in der Welt dachte, wie ich jetzt an das Zuhausebleiben denke. Als ich die Bank für immer verließ, bat ich darum und nahm sie mit mir fort. Ich sage das sogleich, damit Sie nicht meinen, ich sitze in meinem Kontor (wie Pet behauptet) wie der König in dem Gedicht von den vierundzwanzig Amseln und zähle mein Geld.«

Clennams Augen schweiften nach einem einfachen Bild von zwei hübschen kleinen Mädchen, die die Arme ineinander geschlungen hatten. »Ja, Clennam«, sagte Mr. Meagles mit leiserer Stimme. »Da sind sie beide. Es ist vor ungefähr siebenzehn Jahren gemalt. Wie ich oft zu der Mutter sage, sie waren damals noch Puppen.«

»Ihre Namen?« sagte Arthur.

»Ach, ja! Sie haben nie einen andern Namen gehört als Pet. Pets Name ist Minnie; ihre Schwester hieß Lillie.«

»Würden Sie erkannt haben, Mr. Clennam, daß eines von den beiden Mädchen ich sein soll?« fragte Pet, die nun unter der Tür stand.

»Ich hätte beide für Sie selbst gehalten, so sehr sehen Ihnen beide ähnlich. Wahrhaftig«, sagte Clennam, von dem schönen Urbild nach dem Gemälde und wieder zurück blickend, »ich kann auch jetzt noch nicht sagen, welches Ihr Porträt nicht ist.«

»Hörst du, Mutter?« rief Mr. Meagles seiner Frau zu, die ihrer Tochter gefolgt war. »Es ist immer dasselbe, Clennam: niemand kann entscheiden. Das Kind zu Ihrer Linken ist Pet.«

Das Bild war zufällig in der Nähe eines Spiegels. Als Arthur es wieder anblickte, sah er im Spiegel Tattycoram im Vorübergehen bei der Tür stehenbleiben, lauschend, was hier vorging, und dann mit ärgerlichem und verächtlichem Zusammenziehen des Gesichtes, das ihre Schönheit in Häßlichkeit verwandelte, weggehen.

»Doch kommen Sie!« sagte Mr. Meagles. »Sie hatten einen langen Weg zu machen und werden sich freuen, die Stiefel von den Füßen zu bekommen. Daniel, dem würde es wohl nicht einfallen, seine Stiefel abzulegen, wenn wir ihm nicht einen Stiefelknecht zeigten.«

»Warum nicht?« fragte Daniel mit einem bezeichnenden Lächeln gegen Clennam.

»O, Sie haben an so vielerlei zu denken«, versetzte Clennam, ihm auf die Schulter klopfend, als wenn seine Schwäche unter keiner Bedingung sich selbst überlassen werden dürfte. »Zahlen und Räder und Zähne und Hebel und Schrauben und Zylinder und tausend andere Dinge.«

»In meinem Beruf«, sagte Daniel heiter, »schließt das Größere gewöhnlich das Geringere ein. Aber das ist gleichgültig, ganz gleichgültig. Was Ihnen recht ist, ist mir auch recht.«

Clennam mußte, als er sich in seinem Zimmer an das Feuer setzte, unwillkürlich daran denken, ob nicht in der Brust dieses ehrenwerten, liebevollen und herzlichen Mr. Meagles irgendein mikroskopischer Teil von dem Senfkorn sei, das zu dem großen Baume des Circumlocution Office emporgewachsen. Das eigentümliche Gefühl, das er von seiner Ueberlegenheit über Daniel Doyce besaß, und das nicht so sehr auf irgend etwas in Doyces persönlichem Charakter als auf dem einfachen Schein begründet war, daß dieser ein Erfinder sei und außerhalb des gebahnten Weges anderer Menschenkinder einherwandere, brachte ihn auf diesen Gedanken. Es hätte ihn wohl auch bis zum Essen beschäftigt, zu dem er sich eine Stunde später begab, wenn nicht eine andere Frage in Betracht gekommen, deren er sich, seit er in Marseille in der Quarantäne gewesen, nicht hatte entschlagen können. Keine geringere Frage als: ob er sich’s erlauben sollte, sich in Pet zu verlieben?

Er war doppelt so alt wie sie. (Er wechselte mit dem Beine, das er über das andere geschlagen, und stellte die Berechnung noch einmal an, konnte aber doch die Summe nicht geringer herausbringen.) Er war doppelt so alt wie sie. Nein! Er war jung seinem Äußern nach, jung an Gesundheit und Kraft, jung an Herz. Ein Mann ist mit vierzig Jahren noch nicht alt, und viele Männer waren nicht in den Umständen zu heiraten oder heirateten nicht, bis sie dieses Lebensalter erreichten. Auf der andern Seite war die Frage, nicht was er von der Sache denke, sondern was sie davon denke.

Er glaubte, daß Mr. Meagles ihm seine volle Achtung zu zollen geneigt sei, und wußte, daß er Mr. Meagles und seine gute Frau gleichfalls von Herzen achte. Er konnte voraussehen, daß dieses schöne, einzige Kind, das sie so innig liebten, an irgendeinen Gatten wegzugeben, eine Prüfung für ihre Liebe sein würde, die sie vielleicht noch nie den Mut gehabt hatten, in Betracht zu ziehen. Aber je schöner und gewinnender und reizender sie war, desto mehr mußten sie die Notwendigkeit einsehen, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Und warum nicht ebensogut zu seinen Gunsten wie zu denen irgendeines andern?«

Als er soweit gekommen war, trat es ihm wieder vor die Seele, daß es sich nicht darum handelte, was sie davon dächten, sondern, was die Tochter davon denke.

Arthur Clennam war ein bescheidener Mann mit dem Gefühl von mancherlei Schwächen; er übertrieb die Vorzüge der schönen Minnie in solchem Grad und setzte die seinen so tief herab, daß, wenn er sich auf diese Wertung einstellte, seine Hoffnungen in die Brüche gingen. Er kam schließlich, als er sich zu Tisch anzog, zu dem Entschluß, sich nicht zu gestatten, sich in Pet zu verlieben.

Sie waren nur zu fünf und saßen um einen runden Tisch, alle in der heitersten, besten Stimmung. Sie hatten sich an so viele Orte und Menschen zu erinnern; es herrschte ein so leichter, angenehmer Ton (Daniel Doyce saß entweder zuhörend dabei, wie ein amüsierter Zuschauer beim Kartenspiel, oder er warf einige kluge, eigene Erfahrungen, wenn es gerade paßte, ein), daß sie zwanzigmal hätten zusammengewesen sein können, ohne soviel voneinander zu erfahren.

»Und Miß Wade«, sagte Mrs. Meagles, nachdem sie sich an eine Anzahl von Reisegefährten erinnert hatte, »hat jemand Miß Wade wiedergesehen?«

»Ich«, sagte Tattycoram.

Sie hatte einen kleinen Mantel gebracht, nach dem ihre junge Herrin geschickt, und beugte sich beim Umlegen über sie herab, als sie plötzlich ihre dunklen Augen erhob und diese unerwartete Antwort gab.

»Tatty!« rief ihre junge Herrin aus. »Du hast Miß Wade gesehen? – wo?«

»Hier, Miß«, sagte Tattycoram.

»Wie das?«

Ein ungeduldiger Blick von Tattycoram schien, als Clennam ihn sah, sagen zu wollen: »Mit meinen Augen!« Aber ihre einzige Antwort in Worten war: »Ich begegnete ihr in der Nähe der Kirche.«

»Ich möchte wissen, was sie dort tat!« sagte Miß Meagles. »Hinein ging sie nicht, sollte ich denken.«

»Sie hatte mir zuerst geschrieben!« sagte Tattycoram.

»O Tatty!« murmelte die Herrin, »nimm deine Hände weg. Es ist mir, als ob mich ein anderer berührte!«

Sie sagte das rasch und unwillkürlich, aber halb scherzend und nicht mutwilliger und unangenehmer, als es ein Liebling getan, der im nächsten Augenblick lachte. Tatty preßte die vollen roten Lippen zusammen und kreuzte die Arm auf ihrer Brust.

»Wünschen Sie zu wissen, Sir«, sagte sie, Mr. Meagles anblickend, »was mir Miß Wade schrieb?«

»Nun, Tattycoram«, versetzte Mr. Meagles, »da du fragst und wir hier lauter Freunde sind, so kannst du es wohl sagen, wenn du Lust hast.«

»Sie wußte, als wir auf der Reise waren, wo wir wohnen«, sagte Tattycoram, »und sie hatte mich in etwas – in etwas –«

»Schlechtem Humor gesehen, Tattycoram?« ergänzte Mr. Meagles, den dunklen Augen mit ruhiger Warnung zunickend. »Nimm dir etwas Zeit – zähle fünfundzwanzig, Tattycoram.«

Sie preßte ihre Lippen wieder zusammen und holte tief Atem.

»Sie schrieb an mich, um mir zu sagen, daß, wenn ich mich je gekränkt fühle«, sie blickte auf ihre junge Herrin herab, »oder geplagt würde«, sie blickte wieder auf sie herab, »so möchte ich zu ihr kommen und dürfe auf gute Behandlung zählen. Ich sollte mir die Sache überlegen und könne sie bei der Kirche sprechen. Ich ging deshalb hin, um ihr zu danken.«

»Tatty«, sagte ihre junge Herrin und legte die Hand so über ihre Schulter, daß die andere sie nehmen konnte, »Miß Wade hat mich beinahe erschreckt, als wir uns trennten, und ich hätte mir nicht gern gedacht, daß ich ihr so nahe wäre, ohne es zu wissen, liebe Tatty!«

Tatty stand einen Augenblick unbeweglich da.

»He?« rief Mr. Meagles. »Zähle wieder fünfundzwanzig, Tattycoram.«

Sie mochte bis zwölf gezählt haben, als sie sich herabbeugte und die liebkosende Hand küßte. Diese tätschelte ihre Wange, als sie die schönen Locken ihrer Besitzerin berührte, und Tattycoram ging weg.

»Da sehen Sie«, sagte Mr. Meagles sanft, indem er den Drehtisch zu seiner Rechten bewegte, um den Zucker an sich zu bringen. »Das Mädchen wäre verloren und ruiniert, wenn sie sich nicht unter praktischen Leuten befände. Mutter und ich wissen, einzig und allein, weil wir praktisch sind, daß es Zeiten gibt, in denen die ganze Natur dieses Mädchens sich dagegen sträubt, uns so vernarrt in Pet zu sehen. Kein Vater freilich und keine Mutter waren vernarrt in sie, in die arme Seele. Ich mag mir nicht denken, was das unglückliche Kind bei seiner Leidenschaftlichkeit und seinem trotzigen Charakter fühlt, wenn es das fünfte Gebot am Sonntag hört. Ich möchte immer rufen: Kirche, zähle fünfundzwanzig, Tattycoram.«

Neben seinem Drehtisch hatte Mr. Meagles zwei andere nicht stumme Aufwärterinnen13 in der Person von zwei Stubenmädchen, mit rosigen Gesichtern und hübschen Augen, die eine Zierde der Tafeldekoration bildeten. »Und warum nicht?« sagte Mr. Meagles über diesen Punkt. »Wie ich immer zu Mutter sage, warum nicht etwas Hübsches zum Ansehn haben, wenn man überhaupt etwas hat.«

Eine gewisse Mrs. Tickit, die Köchin und Haushälterin war, wenn die Familie daheim, und Haushälterin allein, wenn die Familie auf Reisen war, vervollständigte den Haushalt. Mr. Meagles bedauerte, daß die Art der Pflichten, die sie zu erfüllen habe, für den Augenblick ihm nicht erlaube, Mrs. Tickit vorzustellen, er hoffe, sie jedoch morgen dem neuen Besuch vorführen zu können. Sie sei ein wichtiger Teil des Landhauses, sagte er, und alle seine Freunde kennten sie. Das dort in der Ecke sei ihr Bild. Wenn sie wegzögen, trage sie immer das seidene Kleid und die onyxdunklen Locken, die das Bild zeige (ihr Haar war in der Küche rötlich-grau), setze sich in das Frühstückszimmer, lege ihre Brille zwischen zwei besondere Blätter von Doktor Buchans »Hausarzt« und sehe die ganze Zeit aus den Fensterläden, bis sie wiederkamen. Man war der Ansicht, daß man keinen Überredungsgrund erfinden könnte, Mrs. Tickit zu vermögen, den Posten an dem Fensterladen zu verlassen, wie lange auch ihre Abwesenheit dauern möchte, oder sich der Gesellschaft Doktor Buchans zu entschlagen; obgleich Mr. Meagles blindlings glaubte, daß sie die Arbeiten dieses gelehrten Praktikers noch nicht um ein Jota befragt.

Abends spielten sie einen altväterlichen Rubber; und Pet saß dabei und sah über ihres Vaters Hand oder sang abwechselnd an dem Piano vor sich hin. Sie war ein verzogenes Kind, aber wie wäre das anders möglich gewesen? Wer konnte gegenüber einem so sanften und schönen Geschöpf stark sein und sich dem entzückenden Einfluß entziehen? Wer konnte einen Abend im Haus zubringen und sie nicht um des Reizes und der Anmut willen, die ihre bloße Gegenwart über das Zimmer verbreitete, lieben? Das waren Clennams Gedanken, trotz des endgültigen Entschlusses, zu dem er im ersten Stock gekommen war.

Mit diesem Gedanken schwor er auch seine Absicht ab.

»Nein, woran denken Sie, mein guter Herr?« fragte Mr. Meagles, der mit ihm spielte, erstaunt.

»Ich bitte um Verzeihung. Nichts«, erwiderte Mr. Clennam.

»Denken Sie ein andermal an etwas; das wäre mir ein hübscher Mitspieler«, sagte Mr. Meagles.

Pet glaubte lachend, er habe an Miß Wade gedacht.

»Warum an Miß Wade, Pet?« fragte ihr Vater.

»Warum, ja warum?« sagte Arthur Clennam.

Pet errötete leicht und ging wieder an das Piano.

Als sie aufbrachen, um zu Bett zu gehen, hörte Arthur Doyce seinen Wirt fragen, ob er ihm nicht am andern Morgen vor dem Frühstück ein halbstündiges Gespräch gewähren könnte. Der Wirt sagte es bereitwillig zu, und Arthur blieb noch einen Augenblick zurück, da er in dieser Richtung selbst etwas hinzuzufügen hatte.

»Mr. Meagles«, sagte er, als sie allein waren, »erinnern Sie sich, daß Sie mich aufforderten, direkt nach London zurückzukehren?«

»Gewiß, ganz gut.«

»Und daß Sie mir noch einen andern guten Rat gaben, dessen ich damals bedurfte?«

»Ich kann nicht sagen, wieviel er wert war«, antwortete Mr. Meagles, »aber ich erinnere mich wohl noch, daß wir sehr heiter und vertraulich zusammen waren.«

»Ich habe nach Ihrem Rat gehandelt, und nachdem ich ein Geschäft erledigt hatte, das aus mancherlei Gründen peinlich für mich war, wünsche ich, meine Kräfte und meine Mittel einem andern Geschäfte zu widmen.«

»Gut. Sie können das nicht bald genug tun«, sagte Mr. Meagles.

»Als ich nun heute hierherging, fand ich, daß Ihr Freund, Mr. Doyce, sich nach einem Geschäftsteilhaber sehnt – nicht nach einem, der mechanische Kenntnisse besitzt, sondern einem, der das Geschäft merkantilisch auf die höchste Stufe hebt.«

»Ganz richtig«, sagte Mr. Meagles, die Hände in den Taschen und mit dem alten Geschäftsausdruck des Gesichts, der zu der Goldwage und Geldschaufel gehört.

»Mr. Doyce erwähnte gelegentlich im Verlauf unseres Gesprächs, daß er sich Ihren wichtigen Rat wegen der Wahl eines solchen Geschäftsteilhabers erbitten wolle. Wenn Sie glauben sollten, daß unsere Ansichten und Verhältnisse im ganzen zusammenpassen, so würden Sie ihm vielleicht meine vorteilhafte Lage auseinandersetzen. Ich spreche natürlich vollständig der Details unkundig: diese mögen auf beiden Seiten unangemessen sein.«

»Allerdings, allerdings«, sagte Mr. Meagles mit der Vorsicht, die zu der Goldwage und Geldschaufel gehört.

»Aber sie werden eine Frage bilden, die sich durch Zahlen und Berechnungen erörtern läßt.«

»Gewiß, gewiß«, sagte Mr. Meagles mit der arithmetisch-soliden Art, die zu der Goldwage und Geldschaufel gehört.

»– und ich werde mit Vergnügen zu einer Beratung bereit sein, vorausgesetzt, daß es Mr. Doyce angenehm ist und Sie auch damit einverstanden sind. Wenn Sie mir deshalb vorderhand gestatten wollen, die Sache in Ihre Hände zu legen, so werden Sie mich sehr verbinden.«

»Ich nehme das Vertrauen bereitwillig an, Clennam«, sagte Mr. Meagles. »Und ohne irgendeinen der Punkte vorwegzunehmen, die Sie als Geschäftsmann sich natürlich vorbehalten haben, kann ich Ihnen wohl sagen, daß ich hoffe, die Sache wird sich machen. Eines Punktes können Sie vollkommen gewiß sein. Daniel ist ein Ehrenmann.«

»Ich bin so überzeugt davon, daß ich mich rasch entschloß, mit Ihnen davon zu sprechen.«

»Sie müssen ihn leiten, wissen Sie; Sie müssen ihn lenken; Sie müssen ihn regieren; er gehört zu den unbeholfenen Menschen«, sagte Mr. Meagles, offenbar nichts weiter meinend, als eröffne er damit neue Perspektiven; »aber er ist so ehrenhaft wie die Sonne, und damit gute Nacht!«

Clennam ging in sein Zimmer, setzte sich wieder vor sein Feuer und nahm sich vor, froh zu sein, daß er beschlossen habe, sich nicht in Pet zu verlieben. Sie war so schön, so liebenswürdig, so empfänglich für jeden wahren Eindruck, den ihre edle Natur, ihr unschuldiges Herz erhielt, und mußte den Mann, dem es vergönnt war, ihn zu teilen, so gewiß zum glücklichsten und beneidenswertesten aller Männer machen, daß er wirklich froh war, zu jenem Entschluß gekommen zu sein.

Da dies jedoch eigentlich ein Grund gewesen, zum entgegengesetzten Entschluß zu kommen, so überlegte er sich die Sache noch einmal. Vielleicht um sich zu rechtfertigen.

»Angenommen, ein Mann«, so dachte er, »der seit einigen zwanzig Jahren mündig gewesen, der durch die Umstände seiner Jugend etwas mißtrauisch, durch den Verlauf seines Lebens ernst geworden, der wußte, daß ihm mancherlei anziehende Eigenschaften, die er an andern bewunderte, fehlen, weil er lange in fremden Ländern und von jedem zartern Einfluß entfernt gelebt, der ihr keine lieben Schwestern zu bieten hätte, der kein dem ihren ähnliches Haus besaß, in das er sie einführen könnte, der ein Fremder in seinem Vaterlande wäre, der kein Vermögen hätte, das groß genug, um in irgendeiner Weise die Mängel zu decken, zu dessen Gunsten nichts spräche als seine ehrbare Liebe und sein allgemeiner Wunsch, Gutes zu tun – angenommen, ein solcher Mann käme in dieses Haus und ließe sich von diesem reizenden Mädchen in Fesseln schlagen und überredete sich, er könne hoffen, sie zu erringen, welch eine Schwäche wäre das!«

Er öffnete leise das Fenster und sah auf den klaren Fluß hinaus, Jahr um Jahr, mag man das Boot auch noch so wild forttreiben lassen, mag der Strom noch so viele Meilen in einer Stunde zurücklegen, rechts die Binsen, links die Lilien, auf diesem Weg, der stetig seinen Lauf nimmt, ist nichts ungewiß oder unruhig.

Warum sollte er auch Kummer oder Schmerz im Herzen hegen? Es war nicht seine Schwäche, an die er dachte. Es war niemandes, niemandes Schwäche von allen seinen Bekannten, warum sollte er sich dadurch beunruhigen lassen? Und doch beunruhigte es ihn. Und er dachte – wer hätte es nicht bisweilen einen Augenblick gedacht – daß es besser sei, monoton wie der Fluß fortzufließen, und für seine Unempfindlichkeit gegen das Glück in der Unempfindlichkeit gegen das Unglück Ersatz zu finden.

  1. Wortspiel mit ›dumb-waiters‹ – Drehtische und ›dumb waiters‹ – stumme Aufwärterinnen.

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Niemandes Rival.

Morgens vor dem Frühstück ging Arthur aus, um sich die nächste Umgebung anzusehen. Da der Morgen schön war und er eine Stunde zur Verfügung hatte, setzte er mit der Fähre über den Fluß und ging einen Fußpfad entlang durch einige Wiesen. Als er wieder an den Rainweg kam, fand er die Fähre auf der andern Seite und einen Herrn, der dem Fährmann zurief, er solle ihn übersetzen.

Dieser Gentleman schien kaum dreißig Jahre alt zu sein. Er war gut gekleidet, von frischem und heiterem Aussehen, hübschem Wuchs und einer tiefen, dunklen Gesichtsfarbe. Als Arthur über die Stiege kam und nach dem Wasser hinabschritt, sah ihn der Müßiggänger einen Augenblick an und fuhr dann in seiner Beschäftigung, hoch aufspringende Steine mit dem Fuße in das Wasser zu schleudern, fort. Es lag in der Art, wie er sie mit dem Absatz von ihrem Platz stieß und in die gewünschte Lage brachte, etwas, das Clennam wie eine Grausamkeit erschien. Die meisten von uns haben mehr oder weniger aus der Art und Weise, wie jemand oft etwas sehr Unbedeutendes tut, als Blumen pflücken, ein Hindernis wegräumen oder sogar einen gefühllosen Gegenstand zerstören, einen ähnlichen Eindruck empfangen.

Die Gedanken des Gentleman waren, wie sein Gesicht zeigte, ganz und gar mit etwas anderem beschäftigt; er nahm keine Notiz von dem schönen Neufundländer Hunde, der ihn aufmerksam betrachtete und auch jeden Stein beobachtete, an den die Reihe kam, um ihm rasch in den Fluß nachzuspringen, wenn sein Herr das Zeichen gäbe. Die Fähre kam jedoch herüber, ohne daß er ein Zeichen erhielt, und als sie anlegte, nahm ihn sein Herr beim Halsband und ließ ihn einsteigen.

»Diesen Morgen nicht«, sagte er zu dem Hunde. »Du würdest nicht für Damengesellschaft passen, wenn du tropfnaß wärest. Kusch‘ dich.«

Clennam folgte dem Herrn und dem Hund in das Boot und nahm seinen Sitz ein. Der Hund tat, wie ihm befohlen worden. Der Herr blieb mit den Händen in den Taschen stehen und pflanzte sich zwischen Clennam und der Aussicht auf. Herr und Hund sprangen leicht heraus, sobald das Boot an das andre Ufer stieß, und gingen weg. Clennam war froh, ihrer los zu sein.

Die Kirchenuhr schlug die Frühstücksstunde, und er ging die kleine Allee hinauf, durch die man sich dem Gartentor näherte. Im Augenblick, als er die Glocke anzog, schlug ihm ein tiefes, lautes Gebell hinter der Mauer entgegen.

»Ich hörte doch verflossene Nacht keinen Hund«, dachte Clennam. Das Tor wurde von einem der rosigen Mädchen geöffnet, und auf dem Grasplatz vor dem Hause befanden sich der Neufundländer Hund und der Herr.

»Miß Minnie ist noch nicht unten, meine Herren«, sagte die errötende Pförtnerin, als sie alle in dem Garten zusammenkamen. Dann sagte sie zu dem Herrn des Hundes: »Mr. Clennam, Sir«, und trippelte fort.

»Seltsam, Mr. Clennam, daß wir uns gerade erst vorhin treffen mußten«, sagte der Herr, worauf der Hund still wurde. »Erlauben Sie, mich Ihnen vorzustellen – Henry Gowan. Ein hübscher Ort hier und sieht diesen Morgen wundervoll aus.«

Das Benehmen war leicht und die Stimme angenehm; aber Clennam dachte doch, wenn er nicht den entschiedenen Entschluß gefaßt, es zu vermeiden, sich in Pet zu verlieben, würde ihm dieser Henry Gowan mißfallen.

»Er ist Ihnen vermutlich neu?« sagte dieser Gowan, als Arthur den Ort gepriesen.

»Ganz neu. Ich lernte ihn erst gestern nachmittag kennen.«

»Ah! Es ist natürlich nicht die beste Zeit. Im Frühjahr bot er einen reizenden Anblick, ehe man das letztemal wegging. Ich wünschte, Sie hätten ihn damals gesehen.«

Wenn Clennam nicht den oft erwähnten Entschluß gefaßt hätte, so würde er ihn sicher in den Krater des Ätna für diese Höflichkeit gewünscht haben.

»Ich hatte das Vergnügen, diesen Besitz unter mancherlei Umständen während der drei letzten Jahre zu sehen, und es ist – ein Paradies.«

Es glich (wenigstens wäre es möglich gewesen, abgesehen natürlich von dem klugen Entschluß) seiner listigen Unverschämtheit, es ein Paradies zu nennen. Er nannte es bloß ein Paradies, weil er sie zuerst kommen sah, und erklärte sie auf diese Weise so laut, daß sie es hören konnte, für einen Engel. Verderben ihm!

Und ach, wie strahlend sah sie aus und wie heiter! Wie liebkoste sie den Hund und wie kannte sie der Hund! Wie ausdrucksvoll diese glühendere Röte ihres Gesichts, dieses verlegene Benehmen, diese niedergeschlagenen Augen, dieses schüchterne Glück! Wann hatte Clennam sie so gesehen! Nicht daß ein Grund vorhanden gewesen, weshalb er sie hätte so wie jetzt gesehen haben sollen, können, mögen, oder daß er je gehofft, sie so zu seinen Gunsten zu sehen wie jetzt; und doch – wann hätte er sie so gesehen!

Er stand in einiger Entfernung von ihnen. Als dieser Gowan von einem Paradies gesprochen, war er auf sie zugegangen und hatte ihre Hand ergriffen. Der Hund hatte seine großen Pfoten auf ihren Arm gelegt und seinen Kopf an ihre teure Brust gelehnt. Sie hatte gelacht und sie bewillkommt und viel zu viel Wesens mit dem Hund gemacht, viel, viel zu viel – das heißt, vorausgesetzt, es war eine dritte Person zugegen, die sie geliebt hätte.

Sie machte sich jetzt los, kam auf Clennam zu, legte ihre Hand in die seine, wünschte ihm guten Morgen und gab ihm auf anmutige Weise zu verstehen, daß sie seinen Arm zu nehmen und in das Haus geführt zu werden wünsche. Dieser Gowan machte keine Einwendung. Nein, er wußte sich zu sicher.

Es zog eine Wolke über Mr. Meagles‘ aufgeräumtes Gesicht, als sie alle drei (vier, den Hund mit eingerechnet; mit Ausnahme eines andern waren gegen ihn die meisten Einwendungen zu machen) zum Frühstück eintraten. Weder diese Wolke noch der leichte Verdruß, den Mrs. Meagles empfand, als sie ihre Blicke auf sie richtete, blieben von Clennam unbemerkt.

»Nun, Gowan«, sagte Mr. Meagles, sogar einen Seufzer unterdrückend: »wie geht es Ihnen diesen Morgen?«

»Ganz wie immer, Sir. Lion und ich, entschlossen, nichts von unserem wöchentlichen Besuch zu verlieren, machten uns frühzeitig auf den Weg und kamen von Kingston herüber, meinem gegenwärtigen Hauptquartiere, wo ich einige Skizzen mache.« Dann erzählte er, wie er mit Mr. Clennam auf der Fähre zusammengetroffen und sie miteinander herübergekommen seien.

»Mrs. Gowan befindet sich doch wohl, Henry?« sagte Mrs. Meagles (Clennam wurde aufmerksam).

»Meine Mutter befindet sich ganz wohl, ich danke (Clennam wurde unaufmerksam). Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen einen Zuwachs zu Ihrem heutigen Familiendiner einzuladen, der Ihnen und Mr. Meagles hoffentlich nicht unangenehm sein wird. Ich konnte der Sache nicht wohl ausweichen«, erklärte er, sich an Mr. Meagles wendend. »Der junge Mann schrieb deshalb an mich, und da er von guter Familie ist, so dachte ich, Sie würden nichts dagegen haben, wenn ich ihn hierherbringe.«

»Wer ist der junge Mann?« fragte Mr. Meagles mit eigentümlicher Gefälligkeit.

»Es ist einer von den Barnacles, Tite Barnacles Sohn, Clarence Barnacle, der in seines Vaters Departement arbeitet. Ich kann zum mindesten garantieren, daß der Fluß nichts von seinem Besuche leiden wird. Er wird ihn nicht in Flammen setzen.«

»Ah, ah!« sagte Meagles. »Es ist ein Barnacle? Wir kennen diese Familie, nicht wahr, Dan? Bei St. Georg, sie sind oben auf dem Baume! Lassen Sie mich hören. Wie wird dieser junge Mann mit Lord Decimus verwandt sein? Seine Lordschaft heiratete im Jahre siebenzehnhundertsiebenundneunzig Lady Jemina Bilberry, die die zweite Tochter dritter Ehe – nein! Da bin ich im Irrtum! Das war Lady Seraphina – Lady Jemina war die erste Tochter aus der zweiten Ehe des fünfzehnten Earl von Stiltstalking mit der ehrenwerten Clementine Toozellem. So ist es richtig. Dieses jungen Menschen Vater nun heiratete eine Stiltstalking, und sein Vater heiratete seine Base, die eine Barnacle war. Der Vater des Vaters, der eine Barnacle heiratete, heiratete eine Joddleby – Ich gehe etwas zu weit zurück, Gowan; ich möchte herausbringen, wie dieser junge Mann mit Lord Decimus verwandt ist.«

»Das ist leicht festgestellt. Sein Vater ist ein Neffe von Lord Decimus.“

»Neffe – von – Lord – Decimus«, wiederholte Mr. Meagles mit einem gewissen Behagen und geschlossenen Augen, um nichts von dem vollen Duft dieses Stammbaumes zu verlieren. »Bei St. Georg, Sie haben recht, Gowan. So ist es.«

»Folglich ist Lord Decimus sein Großonkel.«

»Aber, warten Sie einen Augenblick!« sagte Mr. Meagles, seine Augen mit einer neuen Entdeckung öffnend. »So ist Lady Stiltstalking mütterlicherseits seine Großtante.«

»Allerdings.«

»Ah, ah, ah!« sagte Mr. Meagles mit großem Interesse. »Wirklich, wirklich? Wir werden uns freuen, ihn zu empfangen. Wir wollen ihn so gut unterhalten, wie wir bei unsern beschränkten Mitteln können; jedenfalls soll er hoffentlich nicht bei uns verhungern.«

Bei Beginn des Gesprächs hatte Clennam einen großen harmlosen Ausbruch von Mr. Meagles erwartet, wie den im Circumlocution Office, als er Doyce am Kragen hielt. Aber sein guter Freund hatte eine Schwäche, die festzustellen keiner von uns nur in die nächste Straße zu gehen braucht, und die keine auch noch so gewichtige Erfahrung im Circumlocution Office lange unterdrücken konnte. Clennam sah Doyce an; aber Doyce wußte alles im voraus, sah auf seinen Teller, machte kein Zeichen und sagte kein Wort.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, sagte Gowan, um der Sache ein Ende zu machen. »Clarence ist ein großer Esel, aber er ist einer der liebenswürdigsten und besten Jungen von der Welt.«

Es schien, noch ehe das Frühstück vorüber, daß jeder Mensch, den dieser Gowan kannte, mehr oder minder ein Esel, oder mehr oder minder ein Spitzbube war. Aber sie waren alle nichtsdestoweniger die liebenswürdigsten, einnehmendsten, einfachsten, wahrsten, freundlichsten, teuersten, besten Jungen, die jemals existiert haben. Der Gedankengang, durch den dieses Resultat stets erzielt wurde, mochte bei Henry Gowan folgender sein: „Ich habe ein Recht darauf, über jedes Menschen Taten mit größter Genauigkeit Buch zu führen und sorgfältig sein Gut und Böse aufzunotieren. Ich tue das so gewissenhaft, daß ich mich glücklich schätze. Ihnen auseinandersetzen zu können, wie die unwürdigsten Menschen zugleich die liebenswürdigsten Jungen sind. Ich bin in der Lage, Ihnen die erfreuliche Mitteilung zu machen, daß weit weniger Unterschied zwischen einem Ehrenmann und einem Schurken ist, als Sie glauben.« Die Folge dieser erfreulichen Entdeckung war die, daß, während er peinlich besorgt zu sein schien, in den meisten Menschen gute Eigenschaften zu finden, er diese aber, wo sich solche wirklich fanden, herabsetzte und sie wiederum steigerte, wo sie nicht vorhanden waren; das war jedoch der einzige unangenehme oder gefährliche Zug an ihm.

Dies schien jedoch Mr. Meagles keineswegs so viel Befriedigung zu gewähren wie die Genealogie der Barnacles. Die Wolke, die Clennam nie vor diesem Morgen auf seinem Gesicht gesehen, zog wieder häufig darüber hin, und derselbe Schatten von Mißbehagen lag auf dem freundlichen Gesicht seiner Frau, wenn sie ihn beobachtete. Mehr als ein- oder zweimal, wenn Pet den Hund liebkoste, kam es Clennam vor, als ob ihr Vater darüber unglücklich wäre; und namentlich einmal, als Gowan auf der andern Seite des Hundes stand und sich zu gleicher Zeit herabbeugte, glaubte Arthur Tränen in Mr. Meagles‘ Augen treten zu sehen, während er aus dem Zimmer eilte. Es war ferner entweder Tatsache, oder er bildete es sich wenigstens ein, daß Pet nicht gleichgültig gegen diese kleinen Zwischenfälle war; daß sie mit mehr als gewöhnlicher Zärtlichkeit ihrem Vater auszudrücken suchte, wie sehr sie ihn liebe; daß sie sowohl bei dem Gang nach der Kirche wie auf dem Heimweg hinter den übrigen zurückblieb und seinen Arm nahm. Er hätte schwören mögen, daß, als er später allein in den Garten ging, er sie flüchtig in ihres Vaters Zimmer gesehen hatte, wie sie mit der größten Zärtlichkeit ihre beiden Eltern umarmt und an ihres Vaters Brust geweint hatte.

Da der spätere Teil des Tages regnerisch wurde, so war man halb gezwungen, zu Hause zu bleiben, sich die Sammlung Mr. Meagles‘ anzusehen und die Zeit mit Plaudern zu verscheuchen. Gowan wußte eine Menge von sich zu sagen und sagte es in ungezwungener und amüsanter Weise. Er schien ein Künstler von Beruf und einige Zeit in Rom gewesen zu sein; – aber sowohl seine Liebe zur Kunst als seine Talente hatten etwas Oberflächliches, Flüchtiges, Liebhaberartiges – sie hinkten sichtlich –, was auf Clennam befremdend wirkte.

Er wandte sich an Daniel Doyce, mit dem er zusammen zum Fenster hinaus schaute, um Aufklärung.

»Sie kennen Mr. Gowan?« sagte er leise.

»Ich habe ihn hier gesehen. Er kommt jeden Sonntag hierher, wenn sie daheim sind.«

»Ein Künstler, vermute ich, nach dem, was er sagt?«

»Etwas der Art«, sagte Daniel Doyce in mürrischem Tone.

»Was der Art?« fragte Clennam lächelnd.

»Nun, er schlenderte mit langsamem Spazierschritt unter den Künsten umher«, sagte Doyce, »und ich glaube kaum, daß sie sich gerne so kalt behandeln lassen.«

Durch fortgesetzte Nachforschungen bekam Clennam heraus, daß die Familie Gowan ein sehr entfernter Zweig der Barnacles war, und daß der Vater Gowans anfänglich einer auswärtigen Gesandtschaft beigegeben und als Kommissar keiner bestimmten Ortschaft pensioniert worden, sondern auf seinem Posten mit der bezogenen Besoldung in der Hand gestorben war und diese bis zu seinem Ende tapfer verteidigt hatte. In Anbetracht dieses eminenten Dienstes für den Staat hatte der Barnacle, der damals am Ruder war, der Krone empfohlen, der Witwe eine Pension von zwei- bis dreihundert Pfund jährlich auszusetzen. Dazu hatte der nächste Barnacle, der ans Ruder kam, gewisse schattige und stille Zimmer im Palast von Hampton Court gefügt, wo die alte Dame noch lebte und über die Entartung der Zeiten mit mehren andern alten Weibern beiderlei Geschlechts klagte.

Ihr Sohn, Mr. Henry Gowan, von seinem Vater, dem Kommissar, die äußerst zweifelhafte Unterstützung im Leben, ein sehr kleines Vermögen, erbend, war schwer unterzubringen gewesen, um so weniger, als nicht viele öffentliche Stellen gerade zu vergeben waren, und sein Genie war während seines früheren Mannesalters von jenem ausschließlich ländlichen Charakter, der sich der Kultur des wilden Hafers widmet. Endlich hatte er erklärt, daß er Maler werden wolle; teils, weil er immer ein unbedeutendes Talent für die Malerei gehabt, und teils, um den Herzen der Barnacles-en-chef, die nicht für ihn gesorgt, einen Schmerz zu bereiten.

So war es nach und nach gekommen, erstens, daß verschiedene Damen von Rang furchtbaren Ärger empfanden, dann daß Mappen mit seinen Arbeiten bei Abend herumgegeben und mit Begeisterung für vollkommene Claudes, vollkommene Cuyps, vollkommene Phänomene erklärt worden waren; ferner, daß Lord Decimus sein Gemälde gekauft, den Präsidenten und den akademischen Rat auf einmal zum Diner eingeladen und mit der ihm eigenen Gravität gesagt hatte: »Wissen Sie, es scheint mir wirklich ein bedeutendes Verdienst in diesem Werk zu sein.« Kurz, daß Leute von Rang sich ausdrücklich vorgenommen hatten, ihn in die Mode zu bringen, aber Gott weiß, wie das alles fehlgeschlagen war. Das vorurteilsvolle Publikum hatte sich hartnäckig dagegen gestemmt. Es hatte sich vorgenommen, Lord Decimus‘ Bild nicht zu bewundern. Es hatte sich vorgenommen zu glauben, daß ein Mann sich bei jedem Beruf, mit Ausnahme ihres eignen, auszeichnen müsse, wenn er früh und spät ringe, mit Herz und Seele und mit allen Kräften arbeite. So hing Mr. Gowan jetzt wie der abgenutzte alte Sarg, der nie Mohammed, noch sonst jemandem gehört hatte, zwischen zwei Angeln: scheelsüchtig und eifersüchtig in bezug auf das eine, was er aufgegeben; scheelsüchtig und eifersüchtig in bezug auf das andere, was er nicht erreichen konnte.

Das war das Wesentliche von dem, was Clennam an jenem regnerischen Sonntagnachmittag und später über ihn erfuhr.

Ungefähr eine Stunde nach der Essenszeit erschien der junge Barnacle in Begleitung seines Monokels. Zu Ehren seiner Familienbeziehungen hatte Mr. Meagles die hübschen Stubenmädchen für diesen Tag entlassen und an ihrer Statt zwei schmutzige Männer in Pflicht genommen. Der junge Barnacle war im höchsten Grad erstaunt und verlegen, als er Arthurs ansichtig wurde, und murmelte unwillkürlich: »Sehen Sie! – Auf Ehre! wie gesagt!« ehe er seine Fassung wiedergefunden.

Auch dann war er noch genötigt, die nächste Gelegenheit zu ergreifen, seinen Freund in ein Fenster zu nehmen und in näselndem Tone, der ein Teil seiner allgemeinen Schwäche war, zu sagen:

»Ich muß Sie sprechen, Gowan. Hören Sie mal. Sagen Sie, wer ist der Mensch?«

»Ein Freund von unsern Wirten. Keiner von mir.«

»Er ist ein sehr heftiger Radikaler, müssen Sie wissen«, sagte der junge Barnacle.

»Wirklich? Woher wissen Sie das?«

»Gewiß, Sir, er bestürmte unsere Leute in den letzten Tagen auf die schrecklichste Weise. Er kam sogar nach unserer Wohnung und bestürmte meinen Vater in solchem Grad, daß es notwendig wurde, ihn hinauszuschaffen. Sehen Sie, Sie haben noch keinen solchen Kameraden gesehen.«

»Was wollte er denn?«

»Nun, Sir«, erwiderte der junge Barnacle, »er sagte, er möchte wissen. Sie wissen schon. Drang durch unser Departement – ohne eine Anweisung zu haben – und sagte, er möchte wissen –!!«

Der starre Blick der Entrüstung, mit dem der junge Barnacle diese Enthüllung begleitete, würde seine Augen schrecklich verrenkt haben, wenn nicht glücklicherweise das Essen ihn davon befreit hätte. Mr. Meagles (der außerordentlich begierig war zu erfahren, wie sich sein Onkel und seine Tante befanden) bat ihn, Mrs. Meagles in das Speisezimmer zu führen. Und als er auf Mrs. Meagles‘ rechter Seite saß, sah Mr. Meagles so befriedigt aus, als wenn seine ganze Familie dort säße.

Der ganze natürliche Reiz des vorhergehenden Tages war vorbei. Die Essenden wie das Essen selbst waren lauwarm, unschmackhaft, abgestanden – und an alledem war der miese, kleine, schale, junge Barnacle schuld! Von je gesprächlos, war er nun das Opfer einer besondern Schwäche, die der Augenblick herbeiführte und an der nun Clennam schuld war. Er mußte unwillkürlich beständig diesen Gentleman ansehen, was die Veranlassung war, daß sein Monokel in seine Suppe, sein Weinglas, in Mr. Meagles‘ Teller fiel, daß seine Monokel-Klingelschnur hinten hinabhing und mehr als einmal von einem der schmutzigen Männer ihm zu seinem Ärger wieder auf die Brust herumgehängt werden mußte. Durch seine häufigen Verluste dieses Instruments außer Fassung gebracht, da es fest entschlossen schien, nicht im Auge steckenzubleiben, wurde er immer verlegener, sooft er dem geheimnisvollen Clennam ins Gesicht blickte, und brachte Löffel, Gabeln und andere zum Tischgedeck gehörende Gegenstände ans Auge. Die Entdeckung dieser Mißgriffe vermehrten seine peinliche Lage, aber befreiten ihn nicht von der Notwendigkeit, Clennam anzusehen. Und sooft Clennam sprach, wurde dieser unglückliche junge Mann von der Besorgnis erfaßt, er möchte durch irgendeine künstliche List auf den Punkt kommen, »wissen zu wollen, Sie wissen schon.«

Es mag deshalb die Frage entstehen, ob irgend jemand außer Mr. Meagles viele Freude von dieser Zeit hatte. Mr. Meagles jedoch freute sich des jungen Barnacle aus voller Seele. Wie eine einfache Flasche von dem goldnen Wasser im Märchen ein voller Springbrunnen wurde, wenn man sie ausgoß, so schien Mr. Meagles dieses kleine Gewürz von Barnacle seinem Tisch den Duft des ganzen Stammbaumes mitzuteilen. In seiner Gegenwart erblaßten seine offnen, feinen, natürlichen Eigenschaften; er war nicht so ungezwungen, er war nicht so einfach, er suchte noch etwas, das ihm nicht eigen war, er war nicht er selbst. Welch eine seltsame Eigenheit auf selten Mr. Meagles‘, und wo sollten wir einen ähnlichen Fall finden?

Endlich löste sich der nasse Sonntag in eine nasse Nacht auf, und der junge Barnacle fuhr schwach rauchend in einem Cab nach Hause; der fatale Gowan ging zu Fuß weg in Begleitung des fatalen Hundes; Pet hatte sich den ganzen Tag auf das liebenswürdigste bemüht, freundlich gegen Clennam zu sein; aber Clennam war seit dem Frühstück etwas zurückhaltend – das heißt, er wäre es gewesen, wenn er sie geliebt hätte.

Als er auf sein Zimmer gegangen und sich wieder in seinen Stuhl vor dem Feuer geworfen, pochte Mr. Doyce an die Tür, das Licht in der Hand, um ihn zu fragen, wie und um welche Stunde er morgen zurückzukehren gedenke? Nachdem dies erledigt war, sagte er zu Mr. Doyce ein Wort über diesen Gowan, – der ihn noch mehr beunruhigt hätte, wenn er sein Rival gewesen wäre –:

»Das sind keine guten Aussichten für einen Maler.«

»Nein«, versetzte Doyce.

Mr. Doyce stand, den Leuchter in der Hand, die andere Hand in seiner Tasche, starr in die Flammen seines Lichtes sehend, mit dem ruhigen Ausdruck im Gesichte da, als ob sie sich noch etwas zu sagen hätten.

»Unser guter Freund schien etwas verändert und nicht sehr aufgeräumt, als er heute morgen kam?« sagte Clennam.

»Ja«, versetzte Doyce.

»Aber seine Tochter nicht?« sagte Clennam.

»Nein«, sagte Doyce.

Es entstand eine Pause auf beiden Seiten. Mr. Doyce, der immer in die Flamme blickte, sagte langsam:

»Die Sache ist die, er hat zweimal seine Tochter ins Ausland geschickt, in der Hoffnung, sie von Mr. Gowan zu trennen. Er glaubt, sie liebe ihn, und ihn quälen deshalb peinliche Zweifel (ich muß ihm ganz zustimmen, und, wie ich zu sagen mich erkühne, auch Sie) wegen der Hoffnungslosigkeit einer solchen Heirat.« »Na –« stotterte Clennam und hustete und hielt wieder inne.

»Ja, ja, Sie haben sich erkältet«, sagte Daniel Doyce.

»Es besteht ein Verhältnis zwischen ihnen, nicht wahr?« sagte Clennam angeregt.

»Nein. Wie man mir sagte, wirklich nicht. Von des Gentlemans Seite ist ein solches anzuknüpfen versucht worden, aber es ist nicht zustande gekommen. Seit ihrer kürzlichen Rückkehr hat unser Freund zu einem wöchentlichen Besuch seine Zustimmung gegeben, aber das ist das äußerste. Minnie würde ihren Vater und ihre Mutter nicht hintergehen. Sie sind mit ihnen gereist, und ich glaube, Sie wissen, welch inniges Band sie verknüpft, das sich selbst über dieses Leben hinaus erstrecken wird. Alles, was zwischen Miß Minnie und Mr. Gowan vorgeht, daran zweifle ich nicht, sehen wir.«

»Ach, wir sehen genug!»rief Arthur.

Mr. Doyce wünschte ihm in dem Tone eines Mannes, der einen düstern, wir wollen nicht sagen, verzweifelnden Ausruf gehört und der dem Gemüt desjenigen, der diesen Seufzer ausgestoßen, etwas Mut und Hoffnung einzuflößen wünscht: Gute Nacht! Dieser Ton war vermutlich ein Teil seiner Wunderlichkeit als eines Menschen, der zur Schar der Sonderlinge zählt, denn wie konnte er etwas der Art hören, ohne daß es Clennam auch hörte?

Der Regen fiel schwer auf das Dach und plätscherte auf den Boden und tröpfelte unter dem Immergrün und den blattlosen Zweigen der Bäume. Der Regen fiel schwer und traurig. Es war eine Nacht voll Tränen.

Wenn Clennam nicht fest entschlossen gewesen, sich nicht in Pet zu verlieben; wenn er die Schwachheit gehabt, es dennoch zu tun; wenn er sich nach und nach überredet hätte, allen Ernst seiner Natur, alle Macht seiner Hoffnung und allen Reichtum seines gereiften Charakters auf diesen Wurf zu setzen: wenn er dies getan und gefunden, daß alles verloren sei, wäre er diese Nacht unaussprechlich elend gewesen.

So wie die Sachen standen, fiel nur der Regen schwer und traurig herab.

Achtzehntes Kapitel.


Achtzehntes Kapitel.

Klein-Dorrits Liebhaber.

Klein-Dorrit hatte ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag nicht erlebt, ohne einen Liebhaber zu finden. Selbst in dem schmutzigen Marschallgefängnis schoß der ewig junge Bogenschütze einige federlose Pfeile dann und wann von einem schimmeligen Bogen ab und beschwingte einen oder zwei Gefangene.

Klein-Dorrits Liebhaber indes war kein Gefangener. Er war der sentimentale Sohn eines Schließers. Sein Vater hoffte, ihm mit der Zeit die Erbschaft eines unbefleckten Schlüssels hinterlassen zu können, und hatte ihn von früher Jugend an mit den Pflichten seines Amtes und dem Ehrgeize, das Gefängnisschloß in der Familie zu erhalten, vertraut gemacht. Während der Anwartschaft auf die Nachfolge half er seiner Mutter bei der Führung eines Winkeltabakgeschäfts an der Ecke von Horsemonger Lane (sein Vater wohnte nicht im Gefängnis, wo er von Amts wegen als Schließer hätte sein sollen), das gewöhnlich eine enge Verbindung mit den Mauern des Kollegiums unterhielt.

Vor Jahren, als der Gegenstand seiner Neigungen gewöhnlich in seinem Armstuhl an dem Kaminfeuer des Schließerstübchens saß, hatte sie der junge John (Familiennamen Chivery), der nur ein Jahr älter war als sie, mit bewundernder Neugierde betrachtet. Wenn er mit ihr im Hofe spielte, war sein Lieblingsspiel gewesen, sie zum Schein in eine Ecke einzuschließen und sie dann für reelle Küsse zum Schein herauszulassen. Als er groß genug wurde, um durch das Schlüsselloch des großen Schlosses am Haupttor zu gucken, hatte er zu verschiedenen Malen seines Vaters Mittagessen oder Nachtessen niedergesetzt, um, wenn es ginge, von außen hineinzusehen; natürlich zog er sich eine Erkältung auf dem einen Auge zu, während er sie durch diese zugige Perspektive betrachtete.

Wenn der junge John je in den minder gründlichen Tagen seiner Knabenzeit in seiner Treue erschlafft wäre, in einer Zeit, wo man sich nichts daraus macht, die Schuhe ungeknöpft zu tragen, und so glücklich ist, nichts von Verdauungsorganen zu wissen, hätte er sie bald wieder fester gebunden und zugeschnürt. Im neunzehnten Jahre hatte seine Hand mit Kreide an die Mauer, die ihrer Wohnung gegenüberstand, aus Anlaß ihres Geburtstages die Worte geschrieben: »Sei gegrüßt, süßer Liebling der Feen!« Im dreiundzwanzigsten bot dieselbe Hand zitternd an Sonntagen dem Vater des Marschallgefängnisses und dem Vater der Königin seines Herzens Zigarren an. Der junge John war von kleinem Wuchs mit ziemlich schwachen Gliedern und sehr schwachem, hellem Haar. Eines von seinen Augen (vielleicht das Auge, das gewöhnlich durch das Schlüsselloch gesehen) war gleichfalls schwach und sah größer aus als das andere, wie wenn er es nicht schließen könnte. Der junge John war auch sanft. Aber er besaß eine große Seele. Er war poetisch, großherzig, treu.

Obgleich zu demütig gegenüber der Beherrscherin seines Herzens, um sanguinisch sein zu können, hatte der junge John doch den Gegenstand seiner Neigung nach all seinen Licht- und Schattenseiten hin betrachtet. Zu segensreichen Resultaten dabei gelangend, hatte er, ohne sich zu überheben, doch gefunden, daß die Sache sich machen könnte. Angenommen, es ging alles gut, und sie wurden vereinigt. Sie das Kind des Marschallgefängnisses; er der Schließer. Angenommen, er würde ein im Gefängnis wohnender Schließer, so mußte sie offiziell Nachfolgerin in dem Zimmer sein, das sie so lange mietweise innegehabt. Es war ein hübscher Gedanke. Es sah über die Mauer, wenn man sich auf die Zehenspitze stellte, und mit einem Gitterwerk von Scharlachbohnen und einem Kanarienvogel oder etwas der Art würde es eine richtige Laube sein. Es war eine entzückende Idee und, wenn sie sich so alles und alles wären, sogar in dem Gefängnistor ein eigentümlicher Reiz. So die Welt ausschließend (mit Ausnahme des Teiles derselben, der eingeschlossen werden sollte), die Unruhe und Sorgen derselben nur vom Hörensagen kennend, wie sie von den Pilgern, die auf dem Wege zum Insolvenzgrabe bei ihnen weilten, geschildert wurden, mit der Laube oben und dem Pförtnerstübchen unten konnten sie den Strom des Lebens in hirtenartig häuslichem Glück hinabgleiten.

Der junge John wischte sich Tränen aus den Augen, wenn er das Bild mit einem Grabsteine auf dem dicht an die Mauer des Gefängnisses stoßenden Kirchhofe abschloß, der folgende rührende Inschrift trug: »Dem Andenken John Chiverys, sechzig Jahre Schließer und davon fünfzig Jahre Hauptschließer, Des nahen Marschallgefängnisses. Der allgemein geachtet aus dem Leben schied am einunddreißigsten Dezember Eintausendachthundertundsechsundachtzig, Dreiundachtzig Jahre alt. Sowie dem Andenken seiner treu geliebten und treu liebenden Gattin Amy, geborene Dorrit, die seinen Verlust nicht achtundvierzig Stunden überlebte, Und ihren letzten Atemzug in dem genannten Marschallgefängnisse aushauchte. Dort war sie geboren. Dort lebte sie. Dort starb sie.«

Den Eltern des jungen Chivery war ihres Sohnes Neigung nicht unbekannt – ja, diese hatte mit einigen Ausnahmefällen ihn in einen Gemütszustand versetzt, in dem er sich gegen die Kunden sehr gereizt benahm und dem Geschäft schadete, – aber sie hatten die Sache immer wieder ins erwünschte Geleise gebracht. Mrs. Chivery, eine kluge Frau, hatte gebeten, ihr Mann möchte in Betracht ziehen, daß ihres Sohnes Aussichten auf den Schlüssel sicherlich durch eine Verbindung mit Miß Dorrit, die eine Art von Anspruch auf das Kollegium habe und sehr geachtet darin sei, gewinnen würden. Mrs. Chivery hatte gebeten, ihr Mann möchte in Betracht ziehen, daß, wenn auf der einen Seite ihr Sohn Mittel und einen sicheren Posten habe, auf der andern Seite Miß Dorrit von Familie sei, und daß ihrer (Mrs. Chiverys) Ansicht nach zwei Halbe ein Ganzes machen. Mrs. Chivery, die als Mutter und nicht als Diplomatin sprach, hatte aus einem andern Gesichtspunkt gebeten, ihr Mann möchte sich erinnern, daß ihr Sohn niemals stark gewesen, und daß seine Liebe ihn wahrhaftig schon genug gequält und geplagt, ohne daß es deshalb nötig wäre, daß er sich ein Leid antue, was ihm niemand verargen könnte, wenn man ihm Hindernisse in den Weg lege. Diese Beweise hatten einen so mächtigen Einfluß auf Mr. Chivery, der ein Mann von wenig Worten war, daß er an verschiedenen Sonntagmorgen seinem Jungen – wie er es nannte – »einen glücklichen Schlag« gegeben, womit er bezeichnen wollte, daß er diese Empfehlung an das gute Glück für eine Vorbereitung zu der an diesem Tage erfolgenden Erklärung und den günstigen Erfolg derselben ansehe. Aber der junge John hatte nie den Mut gefunden sich zu erklären; und bei solchen Gelegenheiten war er aufgeregt in den Tabaksladen zurückgekehrt und hatte seinen Unmut an den Kunden ausgelassen.

In dieser Angelegenheit wie in jeder andern kam Klein-Dorrit zuletzt in Betracht. Ihr Bruder und ihre Schwester merkten die Sache und verschafften sich eine Art Stellung, indem sie eine Klammer daraus machten, an der sie die elend verlumpte Lage ihres Familienadels lüfteten. Ihre Schwester behauptete den Familienadel, indem sie den armen Jungen verspottete, wenn er, um seine Geliebte zu sehen, um das Gefängnis schlich. Tip behauptete seinen Familienadel und seinen eigenen, indem er sich in dem Charakter des aristokratischen Bruders zeigte und in der kleinen Kegelbahn prahlte, daß ein gewisser Herr in den Fall kommen könnte, einen kleinen Laffen, den er nicht nennen wolle, am Kragen zu packen. Das waren jedoch nicht die einzigen Mitglieder der Familie Dorrit, die Nutzen daraus zogen. Nein, nein. Vom Vater des Marschallgefängnisses glaubte man natürlich, er wüßte nichts von der Sache, sein Bettelstolz konnte nicht so tief sehen. Aber er nahm die Zigarren an den Sonntagen und war froh, sie zu bekommen; bisweilen ließ er sich sogar herab, mit dem Geber (der dann stolz und voll Hoffnung war) in dem Hof auf und ab zu gehen und in seiner Gesellschaft zu rauchen. Mit keiner geringeren Bereitwilligkeit und Herablassung empfing er Aufmerksamkeiten von dem alten Chivery, der ihm immer seinen Lehnstuhl und die Zeitung überließ, wenn er während seiner Dienstzeit in das Pförtnerstübchen kam, und der ihm gesagt, daß, wenn er mal nach der Dämmerung ruhig in den Vorhof gehen und auf die Straße hinaussehen wolle, er ihn nicht daran hindern würde. Wenn er sich diese letztere Artigkeit nicht zunutze machte, so war’s einzig, weil er die Lust dazu verloren; denn sonst nahm er alles, was er bekam, und sagte bisweilen: »Ein außerordentlich höflicher Mann, der Chivery; sehr aufmerksam und respektvoll. Auch der junge Chivery;

wirklich mit einer beinahe zarten Anschauung von meiner Stellung hier. Eine sehr gebildete Familie, die Chiverys. Ihr Benehmen gefällt mir.«

Der ergebene junge John betrachtete die Familie die ganze Zeit mit Ehrfurcht. Er ließ sich nicht im Traume einfallen, ihre Ansprüche zu bestreiten, sondern huldigte dem Hokuspokus, mit dem sie sich breitmachten. Irgendeine Beleidigung von ihrem Bruder übel aufzunehmen, wäre er nicht imstande gewesen, selbst wenn er keine so friedliche Natur von Hause aus gewesen; und gegen diesen geheiligten Gentleman seine Zunge zu bewegen oder seine Hand zu erheben, hätte ihm eine ruchlose Tat geschienen. Er fürchtete im Gegenteil, sein edler Sinn könnte gekränkt werden; ja, er fühlte, daß die Sache mit seiner Noblesse nicht vereinbar sei, und suchte die stolze Seele zu versöhnen und zu gewinnen. Ihren Vater, einen Gentleman im Unglück – einen Gentleman von feinem Geiste und höfischen Manieren, der immer Geduld mit ihm hatte, ehrte er hoch. Ihre Schwester erschien ihm zwar als etwas eitel und stolz, aber als eine junge Dame von außerordentlichen Talenten, die die Vergangenheit nicht vergessen konnte. Es war ein instinktives Zeugnis für Klein-Dorrits Wert und Unterschied von allen übrigen, daß der arme Junge sie einfach wegen dessen ehrte und liebte, was sie war.

Das Tabakgeschäft an der Ecke von Horsemonger Lane wurde in einem ländlichen Etablissement, das einen Stock hoch, betrieben, wo man die Wohltat der Luft aus den Höfen des Horsemonger Lane-Gefängnisses genoß und den Vorteil eines einsamen Spazierganges unter der Mauer dieser angenehmen Anstalt hatte. Das Geschäft war zu bescheidener Art, um einen lebensgroßen Hochländer unterhalten zu können, aber es hatte einen kleinen auf einem Träger an dem Türpfosten, der wie ein gefallener Cherub aussah, der es für nötig gefunden, einen schottischen Unterrock zu tragen.

Aus dem solchermaßen geschmückten Portal trat eines Sonntags nach frühem Mittagessen von Fleischgebäck der junge John, um sein gewöhnliches Sonntagsgeschäft zu besorgen, nicht mit leeren Händen, sondern mit seinem Zigarrengeschenk. Er trug einen hübschen korinthfarbigen Rock mit einem so breiten, schwarzen Samtkragen, als seine Person ihn tragen konnte, eine seidene Weste mit goldenen Zweigen geziert, ein reines Halstuch, wie es damals Mode war, nämlich mit lila Fasanen auf einem hellgelben Grund; Beinkleider mit so breiten Streifen an der Seite, daß jedes Bein eine dreisaitige Laute zu sein schien, und einen sehr hohen und steifen Staatshut. Als die kluge Mrs. Chivery sah, daß ihr Sohn außer diesem Staat noch ein Paar weiße, bocklederne Handschuhe und einen Stock wie einen kleinen Wegweiser trug, dessen Knopf eine elfenbeinerne Hand war, die ihm den Weg zeigte, den er gehen sollte, und als sie ihn in dieser schweren Marschordnung nach rechts um die Ecke biegen sah, bemerkte sie gegen Mr. Chivery, der gerade zu Hause war, sie glaube zu wissen, in welcher Richtung der Wind blase.

Die Mitgefangenen erhielten an jenem Sonntagnachmittag eine Menge Besuche, und ihr Vater hielt sein Zimmer zum Empfang von Vorstellungen bereit. Nachdem er durch den Hof gegangen, eilte Klein-Dorrits Liebhaber mit pochendem Herzen die Treppe hinauf und klopfte an des Vaters Tür.

»Herein, herein!« sagte eine freundliche Stimme. Die Stimme des Vaters, ihres Vaters, des Vaters des Marschallgefängnisses. Er saß in seinem schwarzen Samtkäppchen mit seiner Zeitung da; drei Schillinge und sechs Pence lagen zufällig auf dem Tisch, und zwei Stühle standen in Bereitschaft. Alles zu seiner Hofhaltung.

»Ah, der junge John! Wie geht es Ihnen, wie geht es Ihnen?«

»Ganz gut, ich danke Ihnen, Sir. Ich hoffe bei Ihnen das Gleiche.«

»Ja, John Chivery, ja. Kann nicht klagen.«

»Ich habe mir die Freiheit genommen, Sir –«

»Hm?« Der Vater des Marschallgefängnisses zog bei diesem Punkt immer seine Augenbrauen in die Höhe und wurde liebenswürdig zerstreut und lächelte ganz abwesend.

»– einige Zigarren, Sir.«

»Oh!« (Für den Augenblick außerordentlich überrascht.) »Danke Ihnen, lieber John, danke Ihnen. Aber wirklich, ich fürchte, ich bin zu – Nein? Gut. Ich will nichts mehr davon sagen. Legen Sie sie auf den Kaminmantel, lieber John. Und setzen Sie sich, setzen Sie sich, Sie sind hier kein Fremder, John.«

»Danke, Sir, ich weiß. – Miß«, hier drehte John seinen großen Hut auf der linken Hand um und um, wie ein langsam sich bewegender Mäusekäfig; »Miß Amy ganz wohl, Sir?«

»Ja, John, ja; ganz wohl. Sie ist ausgegangen.«

»Wirklich, Sir?«

»Ja, John. Miß Amy ist ausgegangen, um Luft zu schöpfen. Meine jungen Leute gehen alle viel aus. Aber bei ihrer Jugend ist das ganz natürlich, John.«

»Gewiß, allerdings, Sir.«

»Frische Luft schöpfen. Frische Luft schöpfen. Ja.« Er trommelte sanft mit den Fingern auf dem Tisch und blickte zum Fenster hinauf. »Amy ist Luft zu schöpfen nach der Iron Bridge gegangen. Sie hat in letzter Zeit eine besondere Vorliebe für die Iron Bridge und scheint dort lieber zu sein als sonstwo.« Er kehrte zu der Unterhaltung zurück. »Ihr Vater hat im Augenblick wohl frei, John?«

»Ja, Sir, er kommt später am Nachmittag daran.« Wiederum drehte er den großen Hut; dann sagte er aufstehend: »Ich bedauere, Ihnen guten Tag sagen zu müssen, Sir.«

»So bald? Adieu, lieber John. Nein, nein«, fuhr er mit der größten Herablassung fort, »genieren Sie sich nicht wegen der Handschuhe, John. Schütteln Sie die Hand ruhig damit. Sie sind ja kein Fremder hier.«

Höchst befriedigt durch die freundliche Aufnahme, stieg der kleine John die Treppe hinab. Auf seinem Wege begegnete er einigen Gefangenen, die Fremde hinaufführten, um sie dem Vater des Marschallgefängnisses vorzustellen; in diesem Augenblick rief Mr. Dorrit zufällig besonders deutlich über das Treppengeländer: »Sehr verbunden für Ihr kleines Ehrengeschenk, John!«

Klein-Dorrits Liebhaber legte sehr bald seinen Penny auf das Zollbrett der Iron Bridge und betrat sie dann, um sich nach der wohlbekannten und vielgeliebten Gestalt umzusehen. Anfangs fürchtete er, sie sei nicht da; als er jedoch nach der Middle-Essex-Seite ging, sah er sie dastehen und ins Wasser blicken. Sie war ganz in Gedanken versunken, und er hätte gar zu gern gewußt, woran sie denke. Da waren die langen Reihen von Dächern und Kaminen der City, freier von Rauch als an Wochentagen; dort die fernen Masten und Kirchtürme. Vielleicht dachte sie an diese.

Klein-Dorrit sann so lange und war so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, daß, obgleich ihr Liebhaber ziemlich lange, wie es ihm vorkam, ruhig dastand, ein-, zwei- bis dreimal sich zurückzog und wieder auf den vorigen Fleck kam, sie sich doch noch nicht bewegte. Er beschloß deshalb zuletzt weiterzugehen und sich den Anschein zu geben, als käme er zufällig vorüber, und sie dann anzureden. Der Ort war ruhig, und jetzt oder nie war es Zeit mit ihr zu sprechen.

Er ging auf sie zu, und sie schien seine Schritte nicht zu hören, bis er dicht bei ihr stand. Als er »Miß Dorrit!« sagte, sah sie auf und trat mit einem Ausdruck von Furcht und vielleicht sogar Verdruß in ihrem Gesicht, was ihm unaussprechlichen Kummer bereitete, zurück. Sie war ihm oft zuvor schon ausgewichen, immer, lange, lange Zeit. Sie hatte sich so oft abgewandt und war weggeschlichen, wenn sie ihn hatte auf sich zukommen sehen, daß der unglückliche junge John es für keinen Zufall halten konnte. Er hatte jedoch gehofft, es sei Scham, ihr zurückhaltender Charakter, die Ahnung der Gefühle seines Herzens, irgend etwas, nur nicht Abneigung. Dieser flüchtige Blick aber sagte: »Du, von allen Menschen gerade du! Ich wollte jeden andern Menschen lieber gesehen haben, als dich!«

Es war nur ein flüchtiger Blick, denn sie faßte sich sogleich wieder und sagte mit ihrer sanften, zarten Stimme: »O, Mr. John! Sind Sie es?« Aber sie fühlte, was es gewesen, wie er fühlte, was es gewesen, und sie sahen sich beide verlegen an.

»Miß Amy, ich fürchte, ich störte Sie, indem ich Sie anredete.«

»Ja, gewissermaßen. Ich – ich kam hierher, um allein zu sein, und ich glaubte, ich sei es.«

»Miß Amy, ich nahm mir die Freiheit, diesen Weg zu gehen, weil Mr. Dorrit, als ich ihn soeben besuchte, zufällig erwähnte, daß Sie –«

Sie verursachte ihm noch größeren Schrecken als zuvor, indem sie plötzlich in herzzerschneidendem Tone: »O Vater, Vater!« murmelte und ihr Gesicht abwandte.

»Miß Amy, ich hoffe, ich bereite Ihnen keinen Verdruß, indem ich Mr. Dorrit erwähne. Ich versichere Sie, ich fand ihn ganz wohl und in bester Stimmung, ja er war freundlicher denn je gegen mich; so freundlich, daß er sagte, ich sei kein Fremder in seinem Hause, und mich in jeder Weise mit Güte überhäufte.«

Zur unaussprechlichen Bestürzung ihres Liebhabers murmelte Klein-Dorrit, ihr abgewandtes Gesicht mit den Händen bedeckend und sich, wo sie stand, hin und her bewegend, als ob sie Schmerzen hätte: »O, Vater, wie kannst du! O, lieber, lieber Vater, wie kannst du, kannst du das tun!«

Der arme Bursche sah sie von Teilnahme überfließend an, wußte jedoch nicht, was daraus zu machen, bis sie, nachdem sie ihr Taschentuch herausgenommen und an ihr noch immer abgewandtes Gesicht gebracht, forteilte. Anfangs blieb er stockstill stehen; dann eilte er ihr nach.

»Miß Amy, bitte! Wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick zu warten. Miß Amy, wenn es dahin kommt, lassen Sie mich gehen. Ich werde von Sinnen kommen, wenn ich denken muß, ich hätte Sie so fortgetrieben.«

Seine zitternde Stimme und sein ungeheuchelter Ernst brachten Klein-Dorrit zum Stehen. »O, ich weiß nicht, was ich tun soll«, rief sie, »ich weiß nicht, was ich tun soll!«

Für John, der sie nie ihrer ruhigen Selbstbeherrschung bar, der sie von ihrer Kindheit immer so zuverlässig und willensstark gesehen, für John war ihr Kummer ein Schlag; namentlich da er sich als Ursache davon anzusehen hatte, schüttelte es ihn von seinem großen Hut bis zur Sohle. Er fühlte die Notwendigkeit sich zu erklären. Er konnte mißverstanden werden, – dafür gelten, als meinte er etwas oder hätte etwas getan, das ihm nicht in den Sinn kam. Er bat sie, seine Erklärung anzuhören, es sei die größte Gunst, die sie ihm erweisen könnte.

»Miß Amy, ich weiß, Ihre Familie steht weit über der meinen. Es wäre vergeblich, wenn ich mir das verheimlichen wollte. Ich habe nie davon gehört, daß ein Chivery ein Gentleman gewesen, und ich werde nie die Niedrigkeit begehen, bei einer so wichtigen Sache ein falsches Spiel zu spielen. Miß Amy, ich weiß ganz wohl, daß Ihr hochstrebender Bruder und ebenso Ihre geistvolle Schwester mich von ihrer Höhe herab verachten. Ich habe Sie zu verehren, zu wünschen, in Ihre Freundschaft aufgenommen zu werden, von meinem niedrigen Standpunkte nach dem erhabenen Platze hinaufzuschauen, auf den Sie gestellt sind – denn sowohl meine Stellung als Tabakshändler als meine Stellung als Schließer ist, ich weiß es wohl, eine geringe – und stets zu wünschen, daß Sie glücklich sein und sich wohl befinden mögen.«

Das ganze Wesen des armen Jungen trug das Gepräge der Echtheit und Reinheit, und der Kontrast zwischen der Härte seines Hutes und der Weichheit seines Herzens (wiewohl vielleicht auch seines Kopfes) war rührend.

Klein-Dorrit bat ihn, weder sich noch seine Stellung durch einen unpassenden Vergleich herabzusetzen und vor allem sich des Gedankens zu entschlagen, als wenn sie glaubte, sie stünde über ihm. Das beruhigte ihn einigermaßen.

»Miß Amy«, stammelte er, »ich hatte vor langer Zeit – es scheinen mir Jahrhunderte zu sein – lang sich hinwälzende Jahrhunderte – den innigsten Wunsch, Ihnen etwas zu sagen. Darf ich es sagen?«

Klein-Dorrit trat unwillkürlich wieder, mit dem leisesten Schatten ihres früheren Blickes, von ihm zurück, überwand sich aber und ging in größter Hast ohne Antwort über die Hälfte der Brücke.

»Darf ich – Miß Amy, ich stelle nur die bescheidene Frage, – darf ich es sagen? Ich war bereits so unglücklich, Ihnen Kummer zu bereiten, ohne auch nur entfernt daran zu denken, beim heiligen Himmel! daß Sie wirklich nicht zu fürchten haben, ich werde etwas sagen, wenn ich nicht Ihre Erlaubnis dazu habe. Ich kann allein elend sein und mich durch mich selbst zerstören; warum sollte ich auch noch ein Wesen elend machen und vernichten, dem die Freude eines halben Augenblicks zu schenken ich mich von dieser Brustwehr hinabstürzen würde! Nicht daß das gerade viel wäre, denn ich würde es für zwei Pence tun.«

Die Trauer seines Geistes und der Glanz seiner Erscheinung würde ihn lächerlich gemacht haben, wenn ihm seine Zartheit nicht etwas Achtungswertes gegeben. Klein-Dorrit lernte daraus, was zu tun sei.

»Sie erlauben, John Chivery«, versetzte sie zitternd, aber in ruhigem Tone, »da Sie so rücksichtsvoll sind, mich zu fragen, ob Sie noch weiter sprechen sollen – so bitte ich Sie, nein.«

»Nein, Miß Amy?«

»Nein, wenn Sie so freundlich sein wollen. Nein.«

»O Gott!« stöhnte John.

»Aber vielleicht werden Sie mir statt dessen gestatten, etwas zu Ihnen zu sagen. Ich möchte es in vollem Ernste sagen und mit so herzlicher Offenheit, wie ich vermag. Wenn Sie an uns denken, John, – ich meine meinen Bruder und meine Schwester und mich – so denken Sie ja nicht, als ob wir von den übrigen verschieden wären; denn was wir auch einst waren (was ich kaum weiß), so sind wir es lange nicht mehr und werden es nie wieder werden. Es wird weit besser für Sie und weit besser für andere sein, wenn Sie das berücksichtigen, statt so wie bisher von uns zu denken.«

John beteuerte kummervoll, daß er versuchen wolle, sich dessen stets zu erinnern, und herzlich gern alles tun werde, was sie wünsche.

»Was mich betrifft«, sagte Klein-Dorrit, »so denken Sie so wenig an mich, wie Sie können; je weniger, desto besser. Wenn Sie überhaupt an mich denken, John, so denken Sie an mich nur als an das Kind, das Sie im Gefängnis groß werden sahen und das ganz und gar nur mit der Erfüllung seiner Pflichten beschäftigt ist; als an ein schwaches, bescheidenes, zufriedenes, schutzloses Mädchen. Besonders wünsche ich, Sie möchten sich erinnern, daß, wenn ich vor das Gefängnistor komme, ich unbeschützt und verlassen bin.«

Er wolle versuchen, alles zu tun, was sie wünschte. Aber weshalb wünschte Miß Amy, daß er so gar vieles sich erinnerte?

Um John Chiverys irdische Reste …

»Weil«, versetzte Klein-Dorrit, »ich weiß, ich kann dann getrost sein, Sie werden den heutigen Tag nicht vergessen und nichts mehr zu mir sagen. Sie sind so edel, daß ich weiß, ich kann Ihnen deshalb trauen; ich vertraue Ihnen und werde Ihnen immer vertrauen. Ich werde Ihnen sogleich zeigen, daß ich volles Vertrauen zu Ihnen habe. Ich liebe diesen Ort, wo wir sprechen, mehr als irgendeinen Ort, den ich kenne«, ihre leichte Röte verschwand, aber ihr Liebhaber sah sie wieder erscheinen, »und ich möchte oft hier sein. Ich weiß, ich brauche Ihnen das bloß zu sagen, um überzeugt zu sein, daß Sie nie wieder hierherkommen werden, um mich aufzusuchen. Ich bin – dessen ganz gewiß!«

Sie könne darauf zählen, sagte John. Er sei ein elender Mensch, aber ihr Wort sei mehr als Gesetz für ihn.

»Nun, guten Tag, John«, sagte Klein-Dorrit. »Ich hoffe, Sie werden einst eine gute Frau bekommen und ein glücklicher Mann werden. Ich bin überzeugt, Sie verdienen glücklich zu sein und werden es sein, John.«

Sie bot ihm bei diesen Worten die Hand; das Herz unter der Weste mit den Goldzweigen – eine Kleiderladenarbeit, wenn man die Wahrheit wissen will – schwoll zu der Größe des Herzens eines Gentleman; und da der arme, gewöhnliche, kleine Junge keinen Raum dafür hatte, brach er in Tränen aus.

»O, weinen Sie nicht«, sagte Klein-Dorrit mitleidig. „Weinen Sie nicht! Leben Sie wohl, John. Gott segne Sie!“«

»Leben Sie wohl, Miß Amy. Leben Sie wohl.«

Damit verließ er sie. Doch bemerkte er noch, wie sie sich auf die Ecke eines Sitzes niederließ und nicht nur ihre kleine Hand auf der rauhen Mauer ruhte, sondern auch ihr Gesicht daran lehnte, als wenn ihr Kopf schwer und ihr Herz traurig wäre.

Es war ein rührendes Beispiel von der Hinfälligkeit menschlicher Entwürfe, ihren Liebhaber mit dem großen über die Augen gedrückten Hut, dem hinaufgeschlagenen Samtkragen, als wenn es regnete, dem korinthfarbigen Rock, der zugeknöpft war, um die seidene Weste mit den goldenen Zweigen nicht sehen zu lassen, und dem kleinen Wegweiser, der unerbittlich nach Hause wies, durch die schlechtesten Nebenstraßen schleichen zu sehen, während er folgende neue Inschrift für einen Grabstein auf dem Kirchhof von St. Georg verfaßte:

»Hier liegt die sterbliche Hülle von John Chivery, Keiner Rede wert, Welcher gegen das Ende des Jahres eintausendachthundertundsechsundzwanzig an gebrochenem Herzen starb, Mit seinem letzten Atemzuge verlangend, daß das Wort Amy über seiner Asche eingehauen werde, Was seinem Willen gemäß geschehen ist, Von seinen betrübten Eltern.«

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

Sonne und Schatten.

Vor dreißig Jahren lag Marseille eines Tages im glühenden Sonnenbrand da.

Eine helleuchtende Sonne an einem sengend heißen Augusttag war im südlichen Frankreich damals keine größere Seltenheit als zu jeder andern Zeit, vor- und nachher. Alles in und um Marseille starrte zu der glühenden Sonne empor, die wiederum auf Marseille und seine Umgebung herabstarrte, bis zuletzt alles weit und breit ein starrendes Aussehen annahm. Die starrend weißen Häuser, starrend weißen Wände, starrend weißen Straßen, starrend weißen dürren Landwege und die starrenden Hügel, deren Grün die Sonne versengt – machten auf den Fremden den quälendsten Eindruck. Das einzige, was nicht dieses unbeweglich starre und grelle Aussehen hatte, waren die Weinranken, die unter der Last ihrer Trauben herabhingen und bisweilen ein wenig glitzerten, wenn die heiße Luft ihre schlaffen Blätter flüchtig bewegte.

Kein Wind kräuselte das trübe Wasser im Hafen oder die schöne weite See draußen. Die Grenzlinie zwischen den beiden Farben Schwarz und Blau zeigte den Punkt, den die reine See nicht überschreiten wollte. Aber sie lag so ruhig da wie der häßliche Pfuhl, mit dem sie sich nimmer vermischte. Boote ohne Zeltdach waren zu heiß, um sie zu berühren. Die Anker der Schiffe bedeckten sich mit Bläschen. Die steinernen Quader der Kais waren seit Monaten weder bei Tage noch bei Nacht kühl geworden. Hindus, Russen, Chinesen, Spanier, Portugiesen, Engländer, Franzosen, Genuesen, Neapolitaner, Venezianer, Griechen, Türken, kurz Abkömmlinge von allen Erbauern Babels, die handelshalber nach Marseille gekommen, suchten einer wie der andere den Schatten und bargen sich in irgendeinem Winkel vor einer See, die zu grell blau war, um lange ihren Anblick ertragen zu können, und vor einem glühroten Himmel, in dem ein großes, flammendes Feuerjuwel funkelte.

Der über alles verbreitete grelle Glanz tat den Augen weh. An der fernen Linie der italienischen Küste milderte sich diese Glut etwas durch leichte Nebelwölkchen, die langsam aus dem Dunst des Meeres aufstiegen. Sonst trug alles den Stempel starrer Sonnenhitze. Aus der Ferne starrten die tiefbestaubten Straßen von den Hügelabhängen, von den Hohlwegen, von der endlosen Ebene dem Wanderer entgegen. Weit in der Ferne ließen die staubigen Weingelände bei den Landhäusern am Weg und die ausgedorrten Bäume in den müden Alleen im grellen Licht von Erd‘ und Himmel die Blätter hängen. Gesenkten Hauptes gingen die Pferde mit ihren schläfrigen Glöckchen an den langen Reihen von Karren einher, die sie landeinwärts zogen. Auch die müd‘ zurückgelehnten Fuhrleute ließen die Köpfe hängen, wenn sie wachten, was selten der Fall war. Die Schnitter im Felde beugten sich gleichfalls unter der Last und Hitze. Alles, was lebte und webte, drückte die Sonnenglut zu Boden, nur nicht die Eidechse, die hurtig über die rauhen, steinernen Mauern hinhuschte, und die Heuschrecke, die ihr trocken heiseres Gezirp, das wie eine Rassel klang, im Felde ertönen ließ. Der Staub selbst war von der Hitze braun gesengt, und in der Atmosphäre war ein Zittern, als ob die Luft sogar nach Luft schnappte.

Läden, Jalousien, Vorhänge, Markisen waren alle geschlossen oder herabgelassen, um das blendende und heiße Sonnenlicht abzuhalten. Wo sich eine Ritze oder ein Schlüsselloch zeigte, schoß es wie ein weißglühender Pfeil hinein. Die Kirchen waren noch am meisten davon verschont. Trat man aus dem Zwielicht von Pfeilern und Bögen, die träumerisch von blinzelnden Lampen beleuchtet und träumerisch mit häßlichen alten Schatten von Schlummernden, Spuckenden und Bettelnden angefüllt waren, so war es, als ob man sich in einen glühenden Strom stürzte und nur mit Lebensgefahr nach dem nächsten Streifen Schatten schwimmen könnte. Das Volk lungerte dort umher, wo nur irgendein Schatten vorhanden war. Gespräch und Gebell waren beinahe verstummt; nur dann und wann hörte man in der Ferne das Geläute disharmonischer Glocken und den Lärm schlechter Trommeln –, so lag Marseille – eine deutlich zu riechende und zu fühlende Tatsache – alltäglich im glühenden Sonnenbrand da.

Es gab zu jener Zeit in Marseille ein elendes Gefängnis. In einem seiner Gemächer, die so abstoßend finster waren, daß selbst die zudringliche Sonne nur hineinzublinzeln wagte und ihnen den Abfall von Lichtreflexen überließ, den sie erhaschen konnten, saßen zwei Männer. Außer diesen befanden sich darin eine vielbekerbte und verunstaltete Bank, die sich nicht von der Wand bewegen ließ und in die ein Damenspielbrett roh eingeschnitzt war, ein Damenspiel aus alten Knöpfen und Knöcheln, ein Domino, zwei Matten und zwei bis drei Weinflaschen. Das war alles, was der Kerker enthielt, mit Ausnahme von Ratten und anderem unsichtbaren Geziefer, nebst dem sichtbaren Geziefer, den beiden Männern.

Das Gefängnis erhielt sein dürftiges Licht durch ein eisernes Gitter, das wie ein ziemlich großes Fenster aussah und durch das man es immer von der dunklen Treppe aus übersehen konnte, auf die das Gitter hinausging. An diesem Gitter befand sich eine breite, starke, steinerne Bank, da wo jenes drei oder vier Fuß über dem Boden in die Mauer eingelassen war. Auf dieser Bank lungerte einer der beiden Männer halb sitzend, halb liegend, die Knie an sich gezogen und Füße und Schultern an die gegenüberliegenden Seiten der Nische gestemmt. Das Gitter war weit genug, um ihm zu erlauben, seinen Arm bis zum Ellbogen hindurchzustecken; und er tat dies auch, um sich bequemer zu stützen.

Alles ringsum trug das Gepräge des Gefängnisses. Die gefangene Luft, das gefangene Licht, die gefangenen Dünste, die gefangenen Männer – alles war durch die Gefangenschaft verdorben. Wie die Gefangenen bleich und hager, so war das Eisen rostig, der Stein schleimig, das Holz faul, die Luft dumpf, das Licht matt. Wie ein Brunnen, ein Keller, eine Gruft ahnte das Gefängnis nichts von dem Glanz, der draußen über alles ergossen war, und würde selbst mitten auf einer der Gewürzinseln des Indischen Ozeans seine verdorbene Atmosphäre unberührt behalten haben.

Der Mann, der in der Nische am Gitter lag, fror sogar. Er zog mit ungeduldiger Bewegung der einen Schulter seinen großen Mantel fester um sich und murmelte: »Zum Teufel mit diesem Straßenräuber von Sonne, der nicht auch hier hereinscheinen will.«

Er wartete auf das Essen und schielte mit dem Ausdruck eines wilden Tieres in ähnlicher Lage seitwärts durch das Gitter, um mehr von der Treppe zu sehen. Aber seine zu nahe aneinanderstehenden Augen blickten nicht so stolz wie die des Königs der Tiere und waren mehr scharf als glänzend, – spitze Waffen mit geringer Fläche, die sie leicht verraten könnten. Sie besaßen weder Tiefe noch Lebhaftigkeit des Ausdrucks: sie blitzten, öffneten und schlossen sich. Was diese Funktionen betrifft, so hätte, abgesehen von ihrem Nutzen für ihn, ein Uhrmacher ein paar bessere machen können. Er hatte eine gebogene Nase, die in ihrer Art schön war, aber zu hoch zwischen seinen Augen stand, gerade wie diese zu nahe aneinander lagen. Im übrigen war er von großem und breitem Körperbau, hatte dünne Lippen, soweit sie sein dicker Bart sehen ließ, und straffes, zottiges Haar, dessen Farbe schwer zu unterscheiden war, nur eine rötliche Mischung konnte man erkennen. Die Hand, mit der er das Gitter festhielt (auf dem Rücken ganz mit häßlichen, kaum geheilten Schrammen bedeckt), war ungewöhnlich klein und fleischig und wäre ohne den Gefängnisschmutz auch ungewöhnlich weiß gewesen.

Der andere Mann kauerte auf dem steinernen Fußboden und war in einen braunen Mantel gehüllt.

»Steht auf, Ferkel!« brummte der erstere. »Schlaft nicht, wenn ich hungrig bin.«

»Es ist alles einerlei, Herr«, sagte das Ferkel unterwürfig und nicht ohne freundliche Miene, »ich kann wachen, wenn ich will, und kann schlafen, wenn ich will, es ist alles einerlei.«

Während er das sagte, stand er auf, schüttelte sich, kratzte sich, band seinen braunen Mantel mittels des Ärmels leicht um seinen Hals (er hatte ihn zuvor als Decke benutzt) und setzte sich gähnend, den Rücken an die Wand gegenüber dem Gitter gelehnt, auf den Fußboden. »Sagt, wie spät ist es?« brummte der erste.

»Die Mittagsglocke schlägt – in vierzig Minuten.«

Bei der kleinen Pause sah er sich im Gefängnis um, als wollte er sich seiner Sache vergewissern.

»Ihr seid eine Uhr. Wie könnt Ihr das nur immer wissen?«

»Wie soll ich’s sagen? Ich weiß immer, was die Uhr ist und wo ich bin. Ich wurde bei Nacht hier eingebracht und zwar auf einem Boot, aber ich weiß, wo ich bin. Seht hier den Hafen von Marseille.« Auf dem Boden kniend, zeichnete er nämlich die Karte mit seinem gebräunten Zeigefinger. »Toulon (wo die Galeeren sind). Spanien hier drüben. Algier dort oben. Hier nach der Linken liegt Nizza. Am Bogen weiter fort Genua. Mole und Hafen von Genua. Die Quarantäne. Dort die Stadt: terrassenförmige Gärten von blühender Belladonna gerötet. Hier Porto Fino. Seewärts gesteuert nach Livorno, weiter nach Civitavecchia. Und so fort bis – hm! da ist kein Platz mehr für Neapel«; er war inzwischen bis zur Mauer gekommen, »aber es tut nichts; es ist eben da drinnen.«

Er blieb auf seinen Knien liegen und sah seinen Mitgefangenen mit einem für einen Gefangenen ziemlich muntern Blicke an. Es war ein sonnverbrannter, rühriger, geschmeidiger, kleiner Mann von gedrungenem Körperbau. Er trug Ohrringe in seinen braunen Ohren, hatte weiße Zähne, die sein wunderliches braunes Gesicht etwas erhellten, tiefschwarzes Haar, das von seinem braunen Hals büschelartig herabhing, und ein zerlumptes rotes Hemd ließ die braune Brust vorn sehen. Weite Seemannshosen, bescheidene Schuhe, eine lange, rote Mütze, eine rote Binde um seine Hüften und ein Messer darin bildeten die Vervollständigung seines Anzugs.

»Seht, ob ich wohl von Neapel mich zurückfinde, wie ich dahin gelangte. Seht, hier, Herr, Civitavecchia, Livorno, Porto Fino, Genua, der Meerbusen, dann Nizza (das dort drinnen liegt), Marseille – Ihr und ich. Die Wohnung des Gefängniswärters und seine Schlüssel sind da, wo ich den Daumen hinsetze, und hier an meinem Handgelenk bewahren sie das Nationalrasiermesser – die Guillotine in ihrem Kasten auf.«

Der andere spuckte plötzlich auf den Boden und brummte etwas in seinen Hals hinein.

In diesem Augenblick brummte aber auch ein Schloß unten etwas in seinen Hals hinein, und eine Tür rasselte. Langsame Tritte kamen die Treppe herauf, das Geplauder einer sanften kleinen Stimme mischte sich in ihr Geräusch, und der Gefängniswärter erschien mit seiner Tochter, die drei bis vier Jahre alt sein mochte, auf dem Arm, während er in der Hand einen Korb trug.

»Wie geht es heute morgen in der Welt zu, meine Herren? Meine Kleine da, wie Sie sehen, hat mich begleitet, um sich mal die Vögel ihres Vaters zu betrachten. Na! sieh sie dir an! Sieh dir die Vögel an!«

Er betrachtete selbst die Vögel mit scharfem Blick, während er das Kind an das Gitter emporhielt. Namentlich warf er ein Auge auf den kleinen Vogel, dessen Rührigkeit ihm Mißtrauen einzuflößen schien. »Ich habe Euer Essen gebracht, Signor Johann Baptist«, sagte er (sie sprachen alle französisch, aber der kleine Mann war ein Italiener), »und wenn ich Euch empfehlen dürfte, nicht zu spielen –«

»Ihr empfehlt’s dem Herrn nicht!« sagte Johann Baptist und zeigte lachend die Zähne.

»O, der Herr gewinnt«, entgegnete der Gefängniswärter mit einem flüchtigen, nicht besonders freundlichen Blick auf den andern, »und Sie verlieren. Das ist ganz etwas anderes. Sie bekommen dadurch rauhes Brot und sauren Wein, während er Lyoner Wurst, Kalbsbraten mit würziger Farce, weißes Brot, Strachino und guten Wein gewinnt. Sieh dir die Vögel an, liebe Kleine!«

»Die armen Vögel!« sagte das Kind.

Das hübsche kleine Gesicht, von göttlichem Mitleid bewegt, glich, wie es so bange durch das Gitter sah, einer Engelserscheinung in dem Gefängnis. Johann Baptist stand auf und trat zu ihm, als ob es eine besondere Anziehungskraft auf ihn ausübte. Der andere Vogel blieb sitzen, nur warf er zuweilen einen ungeduldigen Blick nach dem Korbe.

»Halt!« sagte der Gefängniswärter, indem er seine kleine Tochter auf den äußersten Sims des Gitterfensters stellte, »sie soll die Vögel füttern. Dieses Gerstenbrot ist für Signor Johann Baptist. Wir müssen es entzweibrechen, um es durch das Gitter zu bringen. So, der Vogel ist zahm, er küßt dir die Hand. Diese Wurst in einem Traubenblatt ist für Monsieur Rigaud: ferner dieses Kalbfleisch in würziger Farce ist für Monsieur Rigaud; – ferner diese drei kleinen weißen Brote sind für Monsieur Rigaud; – ferner dieser Käse, der Wein – und endlich der Tabak – alles für Monsieur Rigaud. Glücklicher Vogel!«

Das Kind steckte alle diese Sachen durch das Gitter in die sanfte, weiche, wohlgeformte Hand, aber nicht ohne einen Schauer; denn mehr als einmal zog es seine Händchen zurück und sah den Mann mit ihrem schönen Gesichtchen, in dem sich Furcht und Angst mischten, fragend an. Dagegen legte es mit einem gewissen Vertrauen das Stück schlechten Brotes in die dicken, schmierigen und knorrigen Hände Johann Baptists (der kaum soviel Nägel an seinen acht Fingern und zwei Daumen hatte, wie Monsieur Rigaud an einem einzigen); und als er des Kindes Hand küßte, strich sie ihm sogar schmeichelnd über das Gesicht. Monsieur Rigaud, gleichgültig gegen eine solche Auszeichnung, gewann den Vater für sich, indem er der Tochter zulachte und zunickte, sooft sie ihm etwas gab, und sobald er alle die Speisen an geeigneten Plätzen um sich her aufgestellt, begann er mit Appetit zu essen.

Wenn Monsieur Rigaud lachte, trat eine Veränderung in seinem Gesicht ein, die mehr merkwürdig als einnehmend war. Sein Schnurrbart bäumte sich unter seiner Nase, und seine Nase zog sich auf höchst unheimliche und schauerliche Weise über seinen Schnurrbart herab.

»So!« sagte der Gefängniswärter, indem er den Korb umkehrte, daß die Brosamen herausfielen; »ich habe alles Geld ausgegeben, was ich empfing: hier ist die Rechnung, und damit wäre die Sache abgemacht. Monsieur Rigaud, wie ich gestern erwartete, will der Präsident heute nachmittag um zwei Uhr das Vergnügen Ihrer Gegenwart genießen.« »Um mich zu verhören«, sagte Rigaud, indem er, das Messer in der Hand und ein Stück Fleisch im Munde, einen Augenblick innehielt.

»Ganz recht. Um Sie zu verhören.«

«Nichts Neues für mich?« fragte Johann Baptist, der zufrieden sein Brot zu kauen begonnen.

Der Gefängniswärter zuckte die Achseln.

»Heilige Jungfrau! Soll ich denn mein ganzes Leben lang hier liegen, Vater?« »Was weiß ich?« rief der Gefängniswärter, indem er sich mit südlicher Lebendigkeit nach ihm umwandte und mit beiden Händen und allen Fingern gestikulierte, als ob er ihm drohen wollte, er werde ihn in Stücke zerreißen. »Mein Freund, wie ist es möglich, daß ich Euch sagen könnte, wie lange Ihr noch hier liegen werdet? Was weiß ich, Johann Baptist Cavaletto? Tod und Leben! Es gibt bisweilen Gefangene hier, die es nicht so verteufelt eilig mit dem Verhör haben.«

Er schien bei dieser Bemerkung auf Monsieur Rigaud hinzuschielen. Aber Monsieur hatte bereits wieder sein Mahl in Angriff genommen, wenn auch nicht mehr mit so gutem Appetit wie zuvor.

»Auf Wiedersehen, meine Vögel!« sagte der Gefängniswärter, nahm sein artiges Kind auf den Arm und sagte ihm die Worte mit einem Kusse vor.

»Auf Wiedersehen, meine Vögel!« wiederholte das hübsche Kind.

Sein unschuldiges Gesichtchen sah so freundlich über die Schulter des Alten, während dieser mit ihm wegging und das Lied aus dem Kinderspiele sang:

»Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Compagnon de la Majolaine!
Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Immer froh!«

daß Johann Baptist es für eine Ehrensache hielt, durch das Gitter in gleichem Rhythmus und Ton, wenn auch mit etwas rauher Stimme, darauf zu antworten:

»Die Blüte aller Ritterschaft,
Compagnon de la Majolaine!
Die Blüte aller Ritterschaft,
Immer froh!«

Und dieser Gesang begleitete sie so lange über die steinerne Treppe hinab, daß der Gefängniswärter zuletzt stehenbleiben mußte, damit sein Töchterchen das Lied aushören konnte. Dann verschwand der Kopf des Kindes und der Kopf des Gefängniswärters, aber die kleine Stimme setzte das Lied fort, bis die Tür ins Schloß fiel.

Monsieur Rigaud, dem Johann Baptist in die Quere kam, ehe das Echo verstummt war (selbst dieses schien in dem Gefängnis schwächer und langsamer), erinnerte ihn mit einem Fußtritt, daß er besser tun würde, seinen alten dunklen Platz wieder einzunehmen. Der kleine Mann setzte sich mit einer Gleichgültigkeit auf den Boden, die deutlich zu erkennen gab, daß er auf Stein zu sitzen gewohnt war: und drei Stücke des rauhen Brotes vor sich hinlegend und über ein viertes herfallend, begann er sich zufrieden einen Weg durch diesen Vorrat zu bahnen, als ob mit ihnen aufzuräumen eine Art Spiel wäre.

Vielleicht schielte er nach der Lyoner Wurst, vielleicht sah er nach dem Kalbfleisch mit der würzigen Farce, aber sie blieben nicht lange sichtbar und konnten ihm den Mund auch nicht lange wässerig machen. Monsieur Rigaud erledigte sie gründlich trotz Präsident und Tribunal, leckte dann seine Finger, so rein er konnte, und wischte diese zuletzt mit dem Weinlaub ab. Als er mitten im Trinken aufhörte, um seinen Mitgefangenen zu betrachten, bäumte sich sein Schnurrbart und seine Nase senkte sich herab.

»Wie schmeckt das Brot?«

»Ich finde es ein wenig trocken, aber ich habe meine alte Tunke hier«, entgegnete Johann Baptist, indem er sein Messer in die Höhe hielt.

»Inwiefern Tunke?«

»Ich kann mein Brot so schneiden – wie eine Melone. Oder so – wie eine Omelette. Oder so – wie einen gebratenen Fisch. Oder so – wie eine Lyoner Wurst«, sagte Johann Baptist, die verschiedenen Schnitte an dem Brot demonstrierend, das er in der Hand hielt, und ruhig kauend, was er im Munde hatte.

»Hier!« rief Monsieur Rigaud. »Da trinkt. Leert die Flasche!«

Es war kein großes Geschenk; denn es war ungemein wenig Wein übrig. Aber Signor Cavaletto sprang auf die Füße und nahm dankbar die Flasche, die er umgestürzt an den Mund setzte worauf er laut zu schmatzen begann.

»Stelle die Flasche mit dem übrigen beiseite«, sagte Rigaud.

Der kleine Mann gehorchte seinen Befehlen und stand mit einem angezündeten Schwefelhölzchen bereit; denn der andere rollte seinen Tabak mit Hilfe von Papierstreifen, die dabei gelegen, zu Zigaretten.

»Hier! Da habt Ihr eine.«

»Tausend Dank, Herr!« Johann Baptist sagte diese Worte in seiner Muttersprache und mit der lebhaften gewinnenden Weise, die seinen Landsleuten eigen. Monsieur Rigaud stand auf, zündete eine Zigarette an, steckte den Rest seines Vorrats in eine Brusttasche und streckte sich der Länge nach auf eine Bank. Cavaletto setzte sich auf den Boden, indem er in jeder Hand einen von seinen Knieknöcheln hielt und ruhig fortrauchte. Rigauds Augen schienen von irgend etwas in der unmittelbaren Nähe des Punktes auf dem Boden, wo der Daumen früher geruht, unangenehm berührt zu werden. Sie sahen so stier nach dieser Richtung, daß der Italiener mehr als einmal verwundert seinen Blicken auf dem Boden hin und her folgte, um zu sehen, was das bedeuten sollte.

»Ein höllisches Loch fürwahr!« sagte Monsieur Rigaud, eine lange Pause abbrechend. »Seht mal dieses Tageslicht! Tag? Das Licht von gestern vor acht Tagen, das Licht von vor sechs Wochen, das Licht von vor sechs Jahren. So matt und farblos!«

Es kam durch eine viereckige trichterförmige Öffnung, die sich an einem Fenster in der Treppenmauer befand und durch das man weder den Himmel noch sonst etwas sehen konnte.

»Cavaletto«, sagte Monsieur Rigaud und wandte plötzlich seinen Blick von jener Öffnung ab, auf die sie beide unwillkürlich ihre Augen gerichtet, »Sie kennen mich als Kavalier.«

»Gewiß, gewiß!«

»Wie lange sind wir jetzt hier?«

»Ich morgen um Mitternacht elf Wochen. Sie heute nachmittag um fünf Uhr neun Wochen und drei Tage.«

»Habe ich je hier etwas getan? Je den Besen berührt, oder die Matten ausgebreitet, oder sie aufgerollt, oder das Damespiel geholt, oder die Dominosteine gesammelt, oder Hand an irgendeine Arbeit gelegt?«

»Nie.«

»Habt Ihr je auch nur erwartet, ich könnte mich zu irgendeiner Art von Arbeit herablassen?“

Johann Baptist antwortete mit jenem eigentümlichen Schütteln des verkehrten rechten Zeigefingers, das die ausdrucksvollste Verneinung der italienischen Sprache ist.

»Nein! Ihr wußtet vom ersten Augenblick, als Ihr mich hier sähet, daß ich ein Kavalier bin?«

»Altro!« entgegnete Johann Baptist, indem er seine Augen schloß und den Kopf heftig schüttelte.

Dieses Wort, das je nach der Betonung der Genuesen eine Bejahung, eine Verneinung, eine Bestätigung, einen Einwand, einen Spott, ein Kompliment, einen Scherz und fünfzig andere Dinge bedeuten kann, war im gegenwärtigen Augenblick bezeichnender als jedes geschriebene Wort und mit dem deutschen »Selbstverständlich!« gleichbedeutend.

»Haha! Ihr habt recht! Ich bin ein Kavalier! Und als Kavalier will ich leben und als Kavalier will ich sterben. Ich bin in Scherz und Ernst ein Kavalier. Ich werde es zeigen, wo ich stehe und gehe, so wahr ich selig werden will.« Er änderte seine Lage in eine sitzende und rief mit triumphierender Miene:

»Hier bin ich. Seht mich an! Aus dem Würfelbecher des Schicksals in die Gesellschaft eines bloßen Schmugglers geschleudert; – eingeschlossen mit einem armen kleinen Schmuggler, dessen Papiere nicht in Ordnung, und den die Polizei packte, weil er sein Boot (als Mittel, über die Grenze zu kommen) andern kleinen Leuten zur Verfügung stellte, deren Papiere nicht besser sind; und dieser Mensch erkennt meine Stellung an, selbst bei dieser Beleuchtung und an diesem Ort. Gut! Beim Himmel, ich gewinne, wie das Spiel auch fällt.«

Wiederum bäumte sich der Schnurrbart, und die Nase senkte sich.

»Was ist jetzt die Uhr?« fragte er mit einer trocken-heißen Blässe auf den Wangen, zu der der scherzende Ton wenig paßte.

»Eine kleine halbe Stunde nach Mittag.«

»Gut! Der Präsident wird bald einen Kavalier vor sich haben. Wohlan! Soll ich Euch sagen, wessen ich beschuldigt bin? Ich müßte es jetzt tun, sonst wäre es zu spät, denn ich komme nicht mehr hierher zurück. Entweder werde ich freigesprochen oder ich muß mich zum Rasieren vorbereiten. Ihr wißt, wo sie das Rasiermesser verborgen halten?«

Signor Cavaletto nahm seine Zigarre aus dem Munde und zeigte sich für den Augenblick verdrießlicher, als man hätte erwarten sollen.

»Ich bin ein« – Monsieur Rigaud stand auf, um es zu sagen – »ich bin ein Kavalier und Kosmopolit. Ich gehöre keinem Lande an. Mein Vater war Schweizer – aus dem Waadtland. Meine Mutter war Französin dem Blute, Engländerin der Geburt nach. Ich selbst bin in Belgien geboren. Ich bin ein Weltbürger.«

Seine theatralische Haltung, wie er so dastand, den einen Arm an der Hüfte in den Falten seines Mantels, und seine Art, den Mitgefangenen unbeachtet zu lassen, während er seine Worte an die gegenüberstehende Mauer richtete, schienen weit eher zu erkennen zu geben, daß er seine Rolle für den Präsidenten studierte, dessen Verhör er sich demnächst unterziehen sollte, als daß er sich die Mühe nehme, eine so unbedeutende Persönlichkeit wie Johann Baptist Cavaletto über den Stand der Dinge aufzuklären.

»Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Ich habe die Welt gesehen. Ich habe hier gelebt und dort gelebt und überall wie ein Kavalier gelebt. Ich bin von aller Welt als Kavalier behandelt und geehrt worden. Wenn Sie mich dadurch benachteiligen wollen, daß Sie herausbringen, ich habe durch meinen Esprit mir den Lebensunterhalt erworben – so frage ich, wodurch leben denn Ihre Advokaten – Ihre Staatsmänner – Ihre Intriganten – Ihre Börsenmänner?«

Er hielt seine kleine weiche Hand ständig in Bereitschaft, als wenn sie ein Zeuge seiner Vornehmheit wäre, der ihm oft schon gute Dienste geleistet.

»Vor zwei Jahren kam ich nach Marseille. Ich gebe zu, daß ich arm war; ich war krank gewesen. Wenn Ihre Anwälte, Ihre Staatsmänner, Ihre Intriganten, Ihre Börsenmänner krank werden und nicht vorher Geld zusammengescharrt haben, so werden auch sie arm. Ich mietete mich im goldenen Kreuz ein – damals im Besitz des Herrn Henri Barronneau –, der wenigstens sechsundfünfzig Jahr alt und noch dazu von sehr schwacher Gesundheit war. Ich hatte vier Monate in dem Hause gewohnt, als Herr Henri Barronneau das Unglück hatte zu sterben: jedenfalls kein seltenes Unglück! Es geschieht häufig, sehr häufig, ohne mein Zutun.«

Da Johann Baptist seine Zigarette bis an die Finger geraucht, hatte Monsieur Rigaud die Großmut, ihm eine zweite zu geben. Er zündete die letztere an der Asche der ersteren an und rauchte fort, indem er seitwärts nach seinem Mitgefangenen blickte, der, nur mit seiner Sache beschäftigt, ihn kaum ansah.

»Monsieur Barronneau hinterließ eine Witwe. Sie war vierundzwanzig Jahre alt. Sie galt für schön und (was oft ein ganz anderer Fall) war schön. Ich blieb im goldenen Kreuz wohnen. Ich heiratete Madame Barronneau. Es ist nicht meine Sache zu entscheiden, ob diese Verbindung glücklich war. Hier stehe ich mit der Schmach des Gefängnisses auf mir; es ist jedoch möglich, daß sie mich besser für sie taugend gefunden als ihren früheren Mann.

Er hatte, obenhin betrachtet, das Aussehen eines schönen Mannes – war es aber in Wirklichkeit nicht; und trug das oberflächliche Gepräge eines vornehmen Mannes – was er gleichfalls nicht war. Es war bloße Prahlerei und Anmaßung. Aber darin wie in manchen andern Dingen ersetzt die polternde Behauptung den Beweis – und das in der halben Welt!

Sei dem, wie ihm wolle, Madame Barronneau fand an mir Gefallen. Das wird mir hoffentlich nicht zum Nachteil gereichen?“

Sein Auge fiel zufällig bei dieser Frage auf Johann Baptist, der verneinend den Kopf schüttelte und unzählige Male mit seinem bündigen altro, altro, altro diese Ansicht bekräftigte.

»Nun kamen die Schwierigkeiten unserer gegenseitigen Stellung. Ich bin stolz. Ich sage nichts zur Verteidigung des Stolzes, aber ich bin stolz. Auch liegt es in meinem Charakter, zu herrschen. Ich kann nicht gehorchen; ich muß herrschen. Unglücklicherweise ruhte das Vermögen von Madame Rigaud in ihren Händen. Das war die wahnsinnige Verfügung ihres verstorbenen Mannes. Noch unglücklichererweise hatte sie Verwandte. Wenn die Verwandten einer Frau sich gegen einen Gatten ins Mittel legen, der ein Kavalier, der stolz ist und der herrschen muß, so sind die Folgen für den Frieden immer sehr gefährlich. Madame Rigaud war unglücklicherweise etwas gewöhnlich. Ich suchte ihren Formen einen feinen Schliff zu geben und ihren Ton im allgemeinen etwas zu verbessern; sie nahm (auch darin von ihren Verwandten unterstützt) meine Bemühungen übel auf. Es entstanden Streitigkeiten zwischen uns; die Nachbarn bekamen durch die verleumderischen Zungen der Verwandten von Madame Rigaud übertriebene Kunde davon. Man sagte, ich behandle Madame Rigaud grausam. Man wollte gesehen haben, wie ich ihr ins Gesicht geschlagen – nichts weiter. Ich habe eine leichte Hand, und wenn man mich Madame Rigaud in dieser Weise zurechtweisen sah, so konnte es ihr wenigstens nicht sehr weh tun: denn es geschah ja nur auf scherzhafte Art.«

Wenn die scherzhafte Art des Herrn Rigaud in seinem Lächeln bei diesen Worten einen entsprechenden Ausdruck fand, so würden die Verwandten von Madame Rigaud ohne Zweifel es weit vorgezogen haben, wenn er die unglückliche Frau ernsthaft zurechtgewiesen.

»Ich bin feinfühlig und mutig. Ich will es nicht für ein Verdienst ausgeben, feinfühlig und mutig zu sein, aber es ist mal mein Charakter. Wären die männlichen Verwandten von Madame Rigaud offen gegen mich aufgetreten, würde ich gewußt haben, was mit ihnen anzufangen ist. Sie merkten das und setzten ihre Wühlereien im stillen fort, dadurch gerieten Madame Rigaud und ich häufig in die unglückseligste Kollision. Selbst wenn ich einer kleinen Summe Geldes zu meinen persönlichen Ausgaben bedurfte, konnte ich sie nicht ohne Streit bekommen – und das ich, ein Mann, in dessen Charakter es liegt, zu herrschen? Eines Abends gingen Madame Rigaud und ich freundschaftlich – ich darf sagen wie Liebende – auf einem über die See hinaushängenden Felsenweg spazieren. Ein Unstern ließ Madame Rigaud das Gespräch auf ihre Verwandten bringen. Ich sprach verständig mit ihr über diesen Gegenstand, machte ihr Vorhaltungen über den Mangel an Pflichtgefühl und Hingebung, den sie dadurch an den Tag lege, daß sie sich von der eifersüchtigen Gesinnung ihrer Verwandten gegen den Gatten beeinflussen lasse. Madame Rigaud antwortete etwas derb, ich nicht minder. Madame Rigaud wurde warm, ich wurde gleichfalls warm und reizte sie. Ich gestehe es zu. Offenheit ist eine Seite meines Charakters. Endlich warf sich Madame Rigaud in einem Anfall von Wut, den ich ewig beklagen werde, mit leidenschaftlichem Geschrei auf mich, ohne Zweifel dasselbe Geschrei, das man in der Ferne gehört, zerriß meine Kleider, zerraufte mein Haar, zerkratzte mir die Hände, stampfte mit den Füßen, daß der Staub hoch aufflog, und sprang zuletzt über den Felsen hinab, wo sie sich an den Riffen unten zerschmetterte. Das ist die Kette von Ereignissen, durch die die Bosheit mich zuerst dazu gebracht, von Madame Rigaud das Aufgeben ihrer Rechte gebieterisch zu verlangen und, als sie darein zu willigen sich standhaft weigerte, handgemein mit ihr zu werden – sie zu ermorden!«

Er trat an den Fenstervorsprung, wo das Weinlaub noch herumlag, nahm zwei oder drei Blätter und wischte, mit dem Rücken gegen das Licht gekehrt, sich die Hände daran ab.

»Nun«, fragte er nach einer Pause, »habt Ihr auf alles das nichts zu sagen?«

»Es ist schändlich«, entgegnete der kleine Mann, der aufgestanden war und sein Messer an dem Schuh wetzte, während er sich mit einem Arm gegen die Wand stemmte. »Was soll das?«

Johann Baptist wetzte schweigend weiter.

»Glaubt Ihr, daß ich die Sachlage nicht streng nach der Wahrheit dargestellt?«

»Altro!« entgegnete Johann Baptist. Das Wort war diesmal eine Rechtfertigung und sollte soviel bedeuten als: »O, durchaus nicht.«

»Was denn?«

»Präsident und Tribunal haben gewöhnlich ihre vorgefaßte Meinung.«

»Wohlan!« rief der andere, nicht ohne Unruhe und mit einem Fluch den Zipfel seines Mantels über die Schulter werfend, »so mögen sie ihr Schlimmstes tun!«

»Das werden sie sicher auch«, murmelte Johann Baptist vor sich hin, während er sich bückte, um sein Messer in die Binde zu stecken.

Man sprach von keiner Seite mehr, obgleich beide auf und ab zu gehen begannen und sich natürlich bei jedem Umdrehen begegnen mußten. Monsieur Rigaud blieb bisweilen einen Augenblick stehen, als ob er seine Sache in ein neues Licht stellen oder eine gereizte Entgegnung machen wollte. Da aber Signor Cavaletto seinen Spaziergang in einem wunderlich aussehenden stoßweisen Trott gemächlich fortsetzte und die Augen beständig zu Boden senkte, so blieb es auf der andern Seite bei der Absicht.

Kurz darauf veranlaßte das Klirren eines Schlüssels im Schlosse, daß die beiden stehenblieben. Man hörte ein Geräusch von Stimmen und Tritten. Die Tür rasselte auf; die Stimmen und die Tritte kamen näher, und der Gefängniswärter stieg in Begleitung von einer Wache Soldaten die Treppe herauf.

»Nun, Monsieur Rigaud«, sagte er, indem er mit den Schlüsseln in der Hand vor dem Gitter stehenblieb, »haben Sie die Güte herauszukommen.«

»Ich soll, wie ich sehe, in feierlichem Zuge abgeholt werden?«

»Wenn das nicht der Fall wäre«, entgegnete der Gefängniswärter, »so dürften Sie in vielen Stücken Ihren Kerker verlassen, daß es schwer wäre, sie wieder zusammenzulesen. Draußen steht eine Volksmasse, Monsieur Rigaud, die Ihnen nicht besonders gewogen zu sein scheint.« Mit diesen Worten verschwand er und schloß und riegelte eine kleine Tür in der Ecke des Kerkers auf. »Nun kommen Sie«, sagte er, während er öffnete und eintrat.

Es gibt keine Art von Weiß zwischen allen Farben unter der Sonne, die im entferntesten Ähnlichkeit mit dem Weiß von Monsieur Rigauds Gesicht in diesem Augenblick gehabt. So gibt es auch entfernt keinen Ausdruck im menschlichen Antlitz, der diesem Ausdruck ähnlich gewesen, in dessen kleinstem Zug man das furchterfüllte Herz pochen sah. Man vergleicht beide gewöhnlich mit dem Tod. Aber der Unterschied ist so groß, wie die tiefe Kluft zwischen dem ausgerungenen Kampf und dem Streit in seiner verzweifeltsten Wut. Er zündete eine zweite Zigarette an der seines Mitgefangenen an, steckte sie zwischen die verbissenen Zähne, bedeckte den Kopf mit einem weichen, über die Augen hängenden Hut, warf den Zipfel seines Mantels wieder über die Schulter und trat auf die Seitengalerie hinaus, zu der die Tür führte, ohne weitere Notiz von Signor Cavaletto zu nehmen. Was den kleinen Mann selbst betrifft, so war sein ganzes Bestreben nur darauf gerichtet, der Tür nahe zu kommen und hinauszusehen. Ganz wie ein wildes Tier sich der geöffneten Tür seines Käfigs nähern und gierig nach der Freiheit draußen blicken würde, so verbrachte er die wenigen Augenblicke mit lauerndem Hinausschauen, bis die Tür sich vor ihm schloß.

Die Soldaten kommandierte ein Offizier, ein stämmiger, dienstgeübter und ungemein ruhiger Mann, der mit dem gezogenen Degen in der Hand eine Zigarre rauchte. Er befahl in kurzem Ton, daß Monsieur Rigaud in der Mitte der Soldaten gehe, stellte sich mit vollendeter Gleichgültigkeit an ihre Spitze, kommandierte »Marsch!«, und nun ging’s klirrend die Treppe hinunter. Die Tür fiel ins Schloß – der Schlüssel wurde umgedreht –, aber ein Strahl ungewohnten Lichtes und ein Hauch ungewohnter Luft schien den Kerker durchzogen zu haben und sich in den dünnen Rauchwölkchen der Zigarre zu verflüchtigen.

Der einsam zurückgelassene Gefangene war wie ein Tier niederer Art – wie ein ungeduldiger Affe oder ein gereizter Bär der kleineren Gattung – auf die Fensterbank des Gefängnisses gesprungen, um keinen Blick auf den Scheidenden zu verlieren. Wie er noch so dastand, das Gitter mit beiden Händen haltend, drang ein Aufruhr an sein Ohr. Heulen, Schreien, Fluchen, Drohungen, Verwünschungen, alles durcheinander gemischt, obgleich man (wie bei einem Sturm) nichts als ein wildes Brausen hören konnte.

Durch seine Gier, mehr zu erfahren, einem eingesperrten wilden Tier noch ähnlicher gemacht, sprang der Gefangene rasch herunter, lief in dem Kerker herum, faßte das Gitter und suchte daran zu rütteln; sprang dann wieder herunter, lief hin und her und horchte und ruhte nicht eher, bis das Geräusch, sich immer mehr entfernend, endlich erstarb. Wie manchem besseren Gefangenen ist sein edles Herz auf diese Weise gebrochen. Niemand dachte daran; nicht einmal die Geliebten ihrer Seele hatten volle Kunde davon; während große Könige und Statthalter, die sie gefangen hielten, heiter im Sonnenlichte umherfuhren und das Volk sich schmeichelnd um sie drängte. Diese großen Herren dagegen starben, ein erhabenes Beispiel, mit herrlichen Reden in ihrem Bette, und die höfliche Geschichte, die noch knechtischer als ihre Werkzeuge, balsamiert sie ein!

Johann Baptist, der nun imstande war, sich den geeignetsten Ort im Umkreis der vier Mauern zur Ausübung seines Talents, zu schlafen, wann er wollte, auszuwählen, legte sich, mit dem Gesicht auf den gekreuzten Armen ruhend, auf die Bank nieder und schlummerte ein, – in seiner Unterwürfigkeit, seinem leichten Blute, seinem guten Humor, seiner rasch wechselnden Leidenschaft, seiner Zufriedenheit mit hartem Brot und harten Steinen, seinem leichten Schlaf, seinem Aufbrausen und seinen Zornausbrüchen ein echter Sohn des Landes, das ihn geboren.

Das grelle Licht wurde endlich trübe, die Sonne ging in roter, grüner, goldener Pracht unter, die Sterne traten am Himmel hervor, und die Leuchtkäfer äfften sie in der niederen Atmosphäre nach, wie die Menschen in ihrer Schwäche die Güte einer bessern Klasse von Geschöpfen nachahmen. Die langen staubigen Wege und die endlosen Ebenen lagen ruhig da – und auf dem Meer herrschte so tiefe Stille, daß es kaum von der Stunde flüsterte, wo es seine Toten wieder herausgeben wird.