Achtzehntes Kapitel.

Klein-Dorrits Liebhaber.

Klein-Dorrit hatte ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag nicht erlebt, ohne einen Liebhaber zu finden. Selbst in dem schmutzigen Marschallgefängnis schoß der ewig junge Bogenschütze einige federlose Pfeile dann und wann von einem schimmeligen Bogen ab und beschwingte einen oder zwei Gefangene.

Klein-Dorrits Liebhaber indes war kein Gefangener. Er war der sentimentale Sohn eines Schließers. Sein Vater hoffte, ihm mit der Zeit die Erbschaft eines unbefleckten Schlüssels hinterlassen zu können, und hatte ihn von früher Jugend an mit den Pflichten seines Amtes und dem Ehrgeize, das Gefängnisschloß in der Familie zu erhalten, vertraut gemacht. Während der Anwartschaft auf die Nachfolge half er seiner Mutter bei der Führung eines Winkeltabakgeschäfts an der Ecke von Horsemonger Lane (sein Vater wohnte nicht im Gefängnis, wo er von Amts wegen als Schließer hätte sein sollen), das gewöhnlich eine enge Verbindung mit den Mauern des Kollegiums unterhielt.

Vor Jahren, als der Gegenstand seiner Neigungen gewöhnlich in seinem Armstuhl an dem Kaminfeuer des Schließerstübchens saß, hatte sie der junge John (Familiennamen Chivery), der nur ein Jahr älter war als sie, mit bewundernder Neugierde betrachtet. Wenn er mit ihr im Hofe spielte, war sein Lieblingsspiel gewesen, sie zum Schein in eine Ecke einzuschließen und sie dann für reelle Küsse zum Schein herauszulassen. Als er groß genug wurde, um durch das Schlüsselloch des großen Schlosses am Haupttor zu gucken, hatte er zu verschiedenen Malen seines Vaters Mittagessen oder Nachtessen niedergesetzt, um, wenn es ginge, von außen hineinzusehen; natürlich zog er sich eine Erkältung auf dem einen Auge zu, während er sie durch diese zugige Perspektive betrachtete.

Wenn der junge John je in den minder gründlichen Tagen seiner Knabenzeit in seiner Treue erschlafft wäre, in einer Zeit, wo man sich nichts daraus macht, die Schuhe ungeknöpft zu tragen, und so glücklich ist, nichts von Verdauungsorganen zu wissen, hätte er sie bald wieder fester gebunden und zugeschnürt. Im neunzehnten Jahre hatte seine Hand mit Kreide an die Mauer, die ihrer Wohnung gegenüberstand, aus Anlaß ihres Geburtstages die Worte geschrieben: »Sei gegrüßt, süßer Liebling der Feen!« Im dreiundzwanzigsten bot dieselbe Hand zitternd an Sonntagen dem Vater des Marschallgefängnisses und dem Vater der Königin seines Herzens Zigarren an. Der junge John war von kleinem Wuchs mit ziemlich schwachen Gliedern und sehr schwachem, hellem Haar. Eines von seinen Augen (vielleicht das Auge, das gewöhnlich durch das Schlüsselloch gesehen) war gleichfalls schwach und sah größer aus als das andere, wie wenn er es nicht schließen könnte. Der junge John war auch sanft. Aber er besaß eine große Seele. Er war poetisch, großherzig, treu.

Obgleich zu demütig gegenüber der Beherrscherin seines Herzens, um sanguinisch sein zu können, hatte der junge John doch den Gegenstand seiner Neigung nach all seinen Licht- und Schattenseiten hin betrachtet. Zu segensreichen Resultaten dabei gelangend, hatte er, ohne sich zu überheben, doch gefunden, daß die Sache sich machen könnte. Angenommen, es ging alles gut, und sie wurden vereinigt. Sie das Kind des Marschallgefängnisses; er der Schließer. Angenommen, er würde ein im Gefängnis wohnender Schließer, so mußte sie offiziell Nachfolgerin in dem Zimmer sein, das sie so lange mietweise innegehabt. Es war ein hübscher Gedanke. Es sah über die Mauer, wenn man sich auf die Zehenspitze stellte, und mit einem Gitterwerk von Scharlachbohnen und einem Kanarienvogel oder etwas der Art würde es eine richtige Laube sein. Es war eine entzückende Idee und, wenn sie sich so alles und alles wären, sogar in dem Gefängnistor ein eigentümlicher Reiz. So die Welt ausschließend (mit Ausnahme des Teiles derselben, der eingeschlossen werden sollte), die Unruhe und Sorgen derselben nur vom Hörensagen kennend, wie sie von den Pilgern, die auf dem Wege zum Insolvenzgrabe bei ihnen weilten, geschildert wurden, mit der Laube oben und dem Pförtnerstübchen unten konnten sie den Strom des Lebens in hirtenartig häuslichem Glück hinabgleiten.

Der junge John wischte sich Tränen aus den Augen, wenn er das Bild mit einem Grabsteine auf dem dicht an die Mauer des Gefängnisses stoßenden Kirchhofe abschloß, der folgende rührende Inschrift trug: »Dem Andenken John Chiverys, sechzig Jahre Schließer und davon fünfzig Jahre Hauptschließer, Des nahen Marschallgefängnisses. Der allgemein geachtet aus dem Leben schied am einunddreißigsten Dezember Eintausendachthundertundsechsundachtzig, Dreiundachtzig Jahre alt. Sowie dem Andenken seiner treu geliebten und treu liebenden Gattin Amy, geborene Dorrit, die seinen Verlust nicht achtundvierzig Stunden überlebte, Und ihren letzten Atemzug in dem genannten Marschallgefängnisse aushauchte. Dort war sie geboren. Dort lebte sie. Dort starb sie.«

Den Eltern des jungen Chivery war ihres Sohnes Neigung nicht unbekannt – ja, diese hatte mit einigen Ausnahmefällen ihn in einen Gemütszustand versetzt, in dem er sich gegen die Kunden sehr gereizt benahm und dem Geschäft schadete, – aber sie hatten die Sache immer wieder ins erwünschte Geleise gebracht. Mrs. Chivery, eine kluge Frau, hatte gebeten, ihr Mann möchte in Betracht ziehen, daß ihres Sohnes Aussichten auf den Schlüssel sicherlich durch eine Verbindung mit Miß Dorrit, die eine Art von Anspruch auf das Kollegium habe und sehr geachtet darin sei, gewinnen würden. Mrs. Chivery hatte gebeten, ihr Mann möchte in Betracht ziehen, daß, wenn auf der einen Seite ihr Sohn Mittel und einen sicheren Posten habe, auf der andern Seite Miß Dorrit von Familie sei, und daß ihrer (Mrs. Chiverys) Ansicht nach zwei Halbe ein Ganzes machen. Mrs. Chivery, die als Mutter und nicht als Diplomatin sprach, hatte aus einem andern Gesichtspunkt gebeten, ihr Mann möchte sich erinnern, daß ihr Sohn niemals stark gewesen, und daß seine Liebe ihn wahrhaftig schon genug gequält und geplagt, ohne daß es deshalb nötig wäre, daß er sich ein Leid antue, was ihm niemand verargen könnte, wenn man ihm Hindernisse in den Weg lege. Diese Beweise hatten einen so mächtigen Einfluß auf Mr. Chivery, der ein Mann von wenig Worten war, daß er an verschiedenen Sonntagmorgen seinem Jungen – wie er es nannte – »einen glücklichen Schlag« gegeben, womit er bezeichnen wollte, daß er diese Empfehlung an das gute Glück für eine Vorbereitung zu der an diesem Tage erfolgenden Erklärung und den günstigen Erfolg derselben ansehe. Aber der junge John hatte nie den Mut gefunden sich zu erklären; und bei solchen Gelegenheiten war er aufgeregt in den Tabaksladen zurückgekehrt und hatte seinen Unmut an den Kunden ausgelassen.

In dieser Angelegenheit wie in jeder andern kam Klein-Dorrit zuletzt in Betracht. Ihr Bruder und ihre Schwester merkten die Sache und verschafften sich eine Art Stellung, indem sie eine Klammer daraus machten, an der sie die elend verlumpte Lage ihres Familienadels lüfteten. Ihre Schwester behauptete den Familienadel, indem sie den armen Jungen verspottete, wenn er, um seine Geliebte zu sehen, um das Gefängnis schlich. Tip behauptete seinen Familienadel und seinen eigenen, indem er sich in dem Charakter des aristokratischen Bruders zeigte und in der kleinen Kegelbahn prahlte, daß ein gewisser Herr in den Fall kommen könnte, einen kleinen Laffen, den er nicht nennen wolle, am Kragen zu packen. Das waren jedoch nicht die einzigen Mitglieder der Familie Dorrit, die Nutzen daraus zogen. Nein, nein. Vom Vater des Marschallgefängnisses glaubte man natürlich, er wüßte nichts von der Sache, sein Bettelstolz konnte nicht so tief sehen. Aber er nahm die Zigarren an den Sonntagen und war froh, sie zu bekommen; bisweilen ließ er sich sogar herab, mit dem Geber (der dann stolz und voll Hoffnung war) in dem Hof auf und ab zu gehen und in seiner Gesellschaft zu rauchen. Mit keiner geringeren Bereitwilligkeit und Herablassung empfing er Aufmerksamkeiten von dem alten Chivery, der ihm immer seinen Lehnstuhl und die Zeitung überließ, wenn er während seiner Dienstzeit in das Pförtnerstübchen kam, und der ihm gesagt, daß, wenn er mal nach der Dämmerung ruhig in den Vorhof gehen und auf die Straße hinaussehen wolle, er ihn nicht daran hindern würde. Wenn er sich diese letztere Artigkeit nicht zunutze machte, so war’s einzig, weil er die Lust dazu verloren; denn sonst nahm er alles, was er bekam, und sagte bisweilen: »Ein außerordentlich höflicher Mann, der Chivery; sehr aufmerksam und respektvoll. Auch der junge Chivery;

wirklich mit einer beinahe zarten Anschauung von meiner Stellung hier. Eine sehr gebildete Familie, die Chiverys. Ihr Benehmen gefällt mir.«

Der ergebene junge John betrachtete die Familie die ganze Zeit mit Ehrfurcht. Er ließ sich nicht im Traume einfallen, ihre Ansprüche zu bestreiten, sondern huldigte dem Hokuspokus, mit dem sie sich breitmachten. Irgendeine Beleidigung von ihrem Bruder übel aufzunehmen, wäre er nicht imstande gewesen, selbst wenn er keine so friedliche Natur von Hause aus gewesen; und gegen diesen geheiligten Gentleman seine Zunge zu bewegen oder seine Hand zu erheben, hätte ihm eine ruchlose Tat geschienen. Er fürchtete im Gegenteil, sein edler Sinn könnte gekränkt werden; ja, er fühlte, daß die Sache mit seiner Noblesse nicht vereinbar sei, und suchte die stolze Seele zu versöhnen und zu gewinnen. Ihren Vater, einen Gentleman im Unglück – einen Gentleman von feinem Geiste und höfischen Manieren, der immer Geduld mit ihm hatte, ehrte er hoch. Ihre Schwester erschien ihm zwar als etwas eitel und stolz, aber als eine junge Dame von außerordentlichen Talenten, die die Vergangenheit nicht vergessen konnte. Es war ein instinktives Zeugnis für Klein-Dorrits Wert und Unterschied von allen übrigen, daß der arme Junge sie einfach wegen dessen ehrte und liebte, was sie war.

Das Tabakgeschäft an der Ecke von Horsemonger Lane wurde in einem ländlichen Etablissement, das einen Stock hoch, betrieben, wo man die Wohltat der Luft aus den Höfen des Horsemonger Lane-Gefängnisses genoß und den Vorteil eines einsamen Spazierganges unter der Mauer dieser angenehmen Anstalt hatte. Das Geschäft war zu bescheidener Art, um einen lebensgroßen Hochländer unterhalten zu können, aber es hatte einen kleinen auf einem Träger an dem Türpfosten, der wie ein gefallener Cherub aussah, der es für nötig gefunden, einen schottischen Unterrock zu tragen.

Aus dem solchermaßen geschmückten Portal trat eines Sonntags nach frühem Mittagessen von Fleischgebäck der junge John, um sein gewöhnliches Sonntagsgeschäft zu besorgen, nicht mit leeren Händen, sondern mit seinem Zigarrengeschenk. Er trug einen hübschen korinthfarbigen Rock mit einem so breiten, schwarzen Samtkragen, als seine Person ihn tragen konnte, eine seidene Weste mit goldenen Zweigen geziert, ein reines Halstuch, wie es damals Mode war, nämlich mit lila Fasanen auf einem hellgelben Grund; Beinkleider mit so breiten Streifen an der Seite, daß jedes Bein eine dreisaitige Laute zu sein schien, und einen sehr hohen und steifen Staatshut. Als die kluge Mrs. Chivery sah, daß ihr Sohn außer diesem Staat noch ein Paar weiße, bocklederne Handschuhe und einen Stock wie einen kleinen Wegweiser trug, dessen Knopf eine elfenbeinerne Hand war, die ihm den Weg zeigte, den er gehen sollte, und als sie ihn in dieser schweren Marschordnung nach rechts um die Ecke biegen sah, bemerkte sie gegen Mr. Chivery, der gerade zu Hause war, sie glaube zu wissen, in welcher Richtung der Wind blase.

Die Mitgefangenen erhielten an jenem Sonntagnachmittag eine Menge Besuche, und ihr Vater hielt sein Zimmer zum Empfang von Vorstellungen bereit. Nachdem er durch den Hof gegangen, eilte Klein-Dorrits Liebhaber mit pochendem Herzen die Treppe hinauf und klopfte an des Vaters Tür.

»Herein, herein!« sagte eine freundliche Stimme. Die Stimme des Vaters, ihres Vaters, des Vaters des Marschallgefängnisses. Er saß in seinem schwarzen Samtkäppchen mit seiner Zeitung da; drei Schillinge und sechs Pence lagen zufällig auf dem Tisch, und zwei Stühle standen in Bereitschaft. Alles zu seiner Hofhaltung.

»Ah, der junge John! Wie geht es Ihnen, wie geht es Ihnen?«

»Ganz gut, ich danke Ihnen, Sir. Ich hoffe bei Ihnen das Gleiche.«

»Ja, John Chivery, ja. Kann nicht klagen.«

»Ich habe mir die Freiheit genommen, Sir –«

»Hm?« Der Vater des Marschallgefängnisses zog bei diesem Punkt immer seine Augenbrauen in die Höhe und wurde liebenswürdig zerstreut und lächelte ganz abwesend.

»– einige Zigarren, Sir.«

»Oh!« (Für den Augenblick außerordentlich überrascht.) »Danke Ihnen, lieber John, danke Ihnen. Aber wirklich, ich fürchte, ich bin zu – Nein? Gut. Ich will nichts mehr davon sagen. Legen Sie sie auf den Kaminmantel, lieber John. Und setzen Sie sich, setzen Sie sich, Sie sind hier kein Fremder, John.«

»Danke, Sir, ich weiß. – Miß«, hier drehte John seinen großen Hut auf der linken Hand um und um, wie ein langsam sich bewegender Mäusekäfig; »Miß Amy ganz wohl, Sir?«

»Ja, John, ja; ganz wohl. Sie ist ausgegangen.«

»Wirklich, Sir?«

»Ja, John. Miß Amy ist ausgegangen, um Luft zu schöpfen. Meine jungen Leute gehen alle viel aus. Aber bei ihrer Jugend ist das ganz natürlich, John.«

»Gewiß, allerdings, Sir.«

»Frische Luft schöpfen. Frische Luft schöpfen. Ja.« Er trommelte sanft mit den Fingern auf dem Tisch und blickte zum Fenster hinauf. »Amy ist Luft zu schöpfen nach der Iron Bridge gegangen. Sie hat in letzter Zeit eine besondere Vorliebe für die Iron Bridge und scheint dort lieber zu sein als sonstwo.« Er kehrte zu der Unterhaltung zurück. »Ihr Vater hat im Augenblick wohl frei, John?«

»Ja, Sir, er kommt später am Nachmittag daran.« Wiederum drehte er den großen Hut; dann sagte er aufstehend: »Ich bedauere, Ihnen guten Tag sagen zu müssen, Sir.«

»So bald? Adieu, lieber John. Nein, nein«, fuhr er mit der größten Herablassung fort, »genieren Sie sich nicht wegen der Handschuhe, John. Schütteln Sie die Hand ruhig damit. Sie sind ja kein Fremder hier.«

Höchst befriedigt durch die freundliche Aufnahme, stieg der kleine John die Treppe hinab. Auf seinem Wege begegnete er einigen Gefangenen, die Fremde hinaufführten, um sie dem Vater des Marschallgefängnisses vorzustellen; in diesem Augenblick rief Mr. Dorrit zufällig besonders deutlich über das Treppengeländer: »Sehr verbunden für Ihr kleines Ehrengeschenk, John!«

Klein-Dorrits Liebhaber legte sehr bald seinen Penny auf das Zollbrett der Iron Bridge und betrat sie dann, um sich nach der wohlbekannten und vielgeliebten Gestalt umzusehen. Anfangs fürchtete er, sie sei nicht da; als er jedoch nach der Middle-Essex-Seite ging, sah er sie dastehen und ins Wasser blicken. Sie war ganz in Gedanken versunken, und er hätte gar zu gern gewußt, woran sie denke. Da waren die langen Reihen von Dächern und Kaminen der City, freier von Rauch als an Wochentagen; dort die fernen Masten und Kirchtürme. Vielleicht dachte sie an diese.

Klein-Dorrit sann so lange und war so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, daß, obgleich ihr Liebhaber ziemlich lange, wie es ihm vorkam, ruhig dastand, ein-, zwei- bis dreimal sich zurückzog und wieder auf den vorigen Fleck kam, sie sich doch noch nicht bewegte. Er beschloß deshalb zuletzt weiterzugehen und sich den Anschein zu geben, als käme er zufällig vorüber, und sie dann anzureden. Der Ort war ruhig, und jetzt oder nie war es Zeit mit ihr zu sprechen.

Er ging auf sie zu, und sie schien seine Schritte nicht zu hören, bis er dicht bei ihr stand. Als er »Miß Dorrit!« sagte, sah sie auf und trat mit einem Ausdruck von Furcht und vielleicht sogar Verdruß in ihrem Gesicht, was ihm unaussprechlichen Kummer bereitete, zurück. Sie war ihm oft zuvor schon ausgewichen, immer, lange, lange Zeit. Sie hatte sich so oft abgewandt und war weggeschlichen, wenn sie ihn hatte auf sich zukommen sehen, daß der unglückliche junge John es für keinen Zufall halten konnte. Er hatte jedoch gehofft, es sei Scham, ihr zurückhaltender Charakter, die Ahnung der Gefühle seines Herzens, irgend etwas, nur nicht Abneigung. Dieser flüchtige Blick aber sagte: »Du, von allen Menschen gerade du! Ich wollte jeden andern Menschen lieber gesehen haben, als dich!«

Es war nur ein flüchtiger Blick, denn sie faßte sich sogleich wieder und sagte mit ihrer sanften, zarten Stimme: »O, Mr. John! Sind Sie es?« Aber sie fühlte, was es gewesen, wie er fühlte, was es gewesen, und sie sahen sich beide verlegen an.

»Miß Amy, ich fürchte, ich störte Sie, indem ich Sie anredete.«

»Ja, gewissermaßen. Ich – ich kam hierher, um allein zu sein, und ich glaubte, ich sei es.«

»Miß Amy, ich nahm mir die Freiheit, diesen Weg zu gehen, weil Mr. Dorrit, als ich ihn soeben besuchte, zufällig erwähnte, daß Sie –«

Sie verursachte ihm noch größeren Schrecken als zuvor, indem sie plötzlich in herzzerschneidendem Tone: »O Vater, Vater!« murmelte und ihr Gesicht abwandte.

»Miß Amy, ich hoffe, ich bereite Ihnen keinen Verdruß, indem ich Mr. Dorrit erwähne. Ich versichere Sie, ich fand ihn ganz wohl und in bester Stimmung, ja er war freundlicher denn je gegen mich; so freundlich, daß er sagte, ich sei kein Fremder in seinem Hause, und mich in jeder Weise mit Güte überhäufte.«

Zur unaussprechlichen Bestürzung ihres Liebhabers murmelte Klein-Dorrit, ihr abgewandtes Gesicht mit den Händen bedeckend und sich, wo sie stand, hin und her bewegend, als ob sie Schmerzen hätte: »O, Vater, wie kannst du! O, lieber, lieber Vater, wie kannst du, kannst du das tun!«

Der arme Bursche sah sie von Teilnahme überfließend an, wußte jedoch nicht, was daraus zu machen, bis sie, nachdem sie ihr Taschentuch herausgenommen und an ihr noch immer abgewandtes Gesicht gebracht, forteilte. Anfangs blieb er stockstill stehen; dann eilte er ihr nach.

»Miß Amy, bitte! Wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick zu warten. Miß Amy, wenn es dahin kommt, lassen Sie mich gehen. Ich werde von Sinnen kommen, wenn ich denken muß, ich hätte Sie so fortgetrieben.«

Seine zitternde Stimme und sein ungeheuchelter Ernst brachten Klein-Dorrit zum Stehen. »O, ich weiß nicht, was ich tun soll«, rief sie, »ich weiß nicht, was ich tun soll!«

Für John, der sie nie ihrer ruhigen Selbstbeherrschung bar, der sie von ihrer Kindheit immer so zuverlässig und willensstark gesehen, für John war ihr Kummer ein Schlag; namentlich da er sich als Ursache davon anzusehen hatte, schüttelte es ihn von seinem großen Hut bis zur Sohle. Er fühlte die Notwendigkeit sich zu erklären. Er konnte mißverstanden werden, – dafür gelten, als meinte er etwas oder hätte etwas getan, das ihm nicht in den Sinn kam. Er bat sie, seine Erklärung anzuhören, es sei die größte Gunst, die sie ihm erweisen könnte.

»Miß Amy, ich weiß, Ihre Familie steht weit über der meinen. Es wäre vergeblich, wenn ich mir das verheimlichen wollte. Ich habe nie davon gehört, daß ein Chivery ein Gentleman gewesen, und ich werde nie die Niedrigkeit begehen, bei einer so wichtigen Sache ein falsches Spiel zu spielen. Miß Amy, ich weiß ganz wohl, daß Ihr hochstrebender Bruder und ebenso Ihre geistvolle Schwester mich von ihrer Höhe herab verachten. Ich habe Sie zu verehren, zu wünschen, in Ihre Freundschaft aufgenommen zu werden, von meinem niedrigen Standpunkte nach dem erhabenen Platze hinaufzuschauen, auf den Sie gestellt sind – denn sowohl meine Stellung als Tabakshändler als meine Stellung als Schließer ist, ich weiß es wohl, eine geringe – und stets zu wünschen, daß Sie glücklich sein und sich wohl befinden mögen.«

Das ganze Wesen des armen Jungen trug das Gepräge der Echtheit und Reinheit, und der Kontrast zwischen der Härte seines Hutes und der Weichheit seines Herzens (wiewohl vielleicht auch seines Kopfes) war rührend.

Klein-Dorrit bat ihn, weder sich noch seine Stellung durch einen unpassenden Vergleich herabzusetzen und vor allem sich des Gedankens zu entschlagen, als wenn sie glaubte, sie stünde über ihm. Das beruhigte ihn einigermaßen.

»Miß Amy«, stammelte er, »ich hatte vor langer Zeit – es scheinen mir Jahrhunderte zu sein – lang sich hinwälzende Jahrhunderte – den innigsten Wunsch, Ihnen etwas zu sagen. Darf ich es sagen?«

Klein-Dorrit trat unwillkürlich wieder, mit dem leisesten Schatten ihres früheren Blickes, von ihm zurück, überwand sich aber und ging in größter Hast ohne Antwort über die Hälfte der Brücke.

»Darf ich – Miß Amy, ich stelle nur die bescheidene Frage, – darf ich es sagen? Ich war bereits so unglücklich, Ihnen Kummer zu bereiten, ohne auch nur entfernt daran zu denken, beim heiligen Himmel! daß Sie wirklich nicht zu fürchten haben, ich werde etwas sagen, wenn ich nicht Ihre Erlaubnis dazu habe. Ich kann allein elend sein und mich durch mich selbst zerstören; warum sollte ich auch noch ein Wesen elend machen und vernichten, dem die Freude eines halben Augenblicks zu schenken ich mich von dieser Brustwehr hinabstürzen würde! Nicht daß das gerade viel wäre, denn ich würde es für zwei Pence tun.«

Die Trauer seines Geistes und der Glanz seiner Erscheinung würde ihn lächerlich gemacht haben, wenn ihm seine Zartheit nicht etwas Achtungswertes gegeben. Klein-Dorrit lernte daraus, was zu tun sei.

»Sie erlauben, John Chivery«, versetzte sie zitternd, aber in ruhigem Tone, »da Sie so rücksichtsvoll sind, mich zu fragen, ob Sie noch weiter sprechen sollen – so bitte ich Sie, nein.«

»Nein, Miß Amy?«

»Nein, wenn Sie so freundlich sein wollen. Nein.«

»O Gott!« stöhnte John.

»Aber vielleicht werden Sie mir statt dessen gestatten, etwas zu Ihnen zu sagen. Ich möchte es in vollem Ernste sagen und mit so herzlicher Offenheit, wie ich vermag. Wenn Sie an uns denken, John, – ich meine meinen Bruder und meine Schwester und mich – so denken Sie ja nicht, als ob wir von den übrigen verschieden wären; denn was wir auch einst waren (was ich kaum weiß), so sind wir es lange nicht mehr und werden es nie wieder werden. Es wird weit besser für Sie und weit besser für andere sein, wenn Sie das berücksichtigen, statt so wie bisher von uns zu denken.«

John beteuerte kummervoll, daß er versuchen wolle, sich dessen stets zu erinnern, und herzlich gern alles tun werde, was sie wünsche.

»Was mich betrifft«, sagte Klein-Dorrit, »so denken Sie so wenig an mich, wie Sie können; je weniger, desto besser. Wenn Sie überhaupt an mich denken, John, so denken Sie an mich nur als an das Kind, das Sie im Gefängnis groß werden sahen und das ganz und gar nur mit der Erfüllung seiner Pflichten beschäftigt ist; als an ein schwaches, bescheidenes, zufriedenes, schutzloses Mädchen. Besonders wünsche ich, Sie möchten sich erinnern, daß, wenn ich vor das Gefängnistor komme, ich unbeschützt und verlassen bin.«

Er wolle versuchen, alles zu tun, was sie wünschte. Aber weshalb wünschte Miß Amy, daß er so gar vieles sich erinnerte?

Um John Chiverys irdische Reste …

»Weil«, versetzte Klein-Dorrit, »ich weiß, ich kann dann getrost sein, Sie werden den heutigen Tag nicht vergessen und nichts mehr zu mir sagen. Sie sind so edel, daß ich weiß, ich kann Ihnen deshalb trauen; ich vertraue Ihnen und werde Ihnen immer vertrauen. Ich werde Ihnen sogleich zeigen, daß ich volles Vertrauen zu Ihnen habe. Ich liebe diesen Ort, wo wir sprechen, mehr als irgendeinen Ort, den ich kenne«, ihre leichte Röte verschwand, aber ihr Liebhaber sah sie wieder erscheinen, »und ich möchte oft hier sein. Ich weiß, ich brauche Ihnen das bloß zu sagen, um überzeugt zu sein, daß Sie nie wieder hierherkommen werden, um mich aufzusuchen. Ich bin – dessen ganz gewiß!«

Sie könne darauf zählen, sagte John. Er sei ein elender Mensch, aber ihr Wort sei mehr als Gesetz für ihn.

»Nun, guten Tag, John«, sagte Klein-Dorrit. »Ich hoffe, Sie werden einst eine gute Frau bekommen und ein glücklicher Mann werden. Ich bin überzeugt, Sie verdienen glücklich zu sein und werden es sein, John.«

Sie bot ihm bei diesen Worten die Hand; das Herz unter der Weste mit den Goldzweigen – eine Kleiderladenarbeit, wenn man die Wahrheit wissen will – schwoll zu der Größe des Herzens eines Gentleman; und da der arme, gewöhnliche, kleine Junge keinen Raum dafür hatte, brach er in Tränen aus.

»O, weinen Sie nicht«, sagte Klein-Dorrit mitleidig. „Weinen Sie nicht! Leben Sie wohl, John. Gott segne Sie!“«

»Leben Sie wohl, Miß Amy. Leben Sie wohl.«

Damit verließ er sie. Doch bemerkte er noch, wie sie sich auf die Ecke eines Sitzes niederließ und nicht nur ihre kleine Hand auf der rauhen Mauer ruhte, sondern auch ihr Gesicht daran lehnte, als wenn ihr Kopf schwer und ihr Herz traurig wäre.

Es war ein rührendes Beispiel von der Hinfälligkeit menschlicher Entwürfe, ihren Liebhaber mit dem großen über die Augen gedrückten Hut, dem hinaufgeschlagenen Samtkragen, als wenn es regnete, dem korinthfarbigen Rock, der zugeknöpft war, um die seidene Weste mit den goldenen Zweigen nicht sehen zu lassen, und dem kleinen Wegweiser, der unerbittlich nach Hause wies, durch die schlechtesten Nebenstraßen schleichen zu sehen, während er folgende neue Inschrift für einen Grabstein auf dem Kirchhof von St. Georg verfaßte:

»Hier liegt die sterbliche Hülle von John Chivery, Keiner Rede wert, Welcher gegen das Ende des Jahres eintausendachthundertundsechsundzwanzig an gebrochenem Herzen starb, Mit seinem letzten Atemzuge verlangend, daß das Wort Amy über seiner Asche eingehauen werde, Was seinem Willen gemäß geschehen ist, Von seinen betrübten Eltern.«