Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Der Fortschritt einer Epidemie.

Daß es mindestens ebenso schwierig sei, einer moralischen Ansteckung Einhalt zu tun als einer physischen; daß eine solche Krankheit mit der Bösartigkeit und Raschheit der Pest umsichgreife; daß die Ansteckung, wenn sie mal begonnen, keinen Stand und Beruf schone, sondern sich auf Leute von der besten Gesundheit werfe und an den unempfänglichsten Konstitutionen hervorbreche, ist eine durch die Erfahrung ebensosehr bestätigte Tatsache, als daß wir menschlichen Geschöpfe in einer Atmosphäre atmen. Ein unschätzbares Glück wäre es für alle, wenn die Angesteckten, in deren Schwäche und Verdorbenheit sich der Giftstoff erzeugte, augenblicklich festgenommen und in strengen Gewahrsam gebracht (wir wollen nicht gerade sagen summarisch erstickt) werden könnten, ehe der Giftstoff sich weiter zu verbreiten imstande wäre.

Wie ein großes Feuer die Luft weit in der Runde mit seinem Krachen erfüllt, so ließ die heilige Flamme, die die mächtigen Barnacles angefacht, die Luft immer weiter und weiter von dem Namen Merdle erschallen. Er ertönte von jeder Lippe und klang in jedes Ohr. Ein Mann wie Mr. Merdle existierte außer ihm nicht, hatte niemals existiert und konnte niemals wieder existieren. Niemand, wie wir früher erwähnten, wußte, was er getan; aber jedermann wußte, daß er das größte Wunder sei, das jemals existierte.

Im Bleeding Heard Yard, wo es keinen unverwendeten halben Penny gab, nahm man ebenso lebhaftes Interesse an diesem Ausbund von Menschen als an der Fondsbörse. Mrs. Plornish, nunmehr Inhaberin eines kleinen Spezerei- und Allerleikrams in einem kleinen Laden am lebhaftesten Ende des Hofes, oben an der Treppe, in dem ihr kleiner alter Vater und Maggy sie unterstützten, predigte gewöhnlich ihren Kunden über den Ladentisch hinüber von ihm. Mr. Plornish, der einen kleinen Anteil an dem Geschäft eines kleinen Bauunternehmens in der Nachbarschaft hatte, sagte, mit der Kelle in der Hand, wenn er oben auf den Gerüsten oder auf den Dachziegeln der Häuser stand, wie die Leute ihm erzählten, sei Mr. Merdle der Mann, »der alles in bezug auf das, was wir alle erwarten, sage ich euch, ins Geleise bringen könnte und, sage ich euch, soviel wir brauchen, sicher auch ins Haus schaffen wird.« Von Mr. Baptist, dem einzigen Mieter von Mr. und Mrs. Plornish, flüsterten sich die Leute zu, er lege die Ersparnisse, die er bei seinem einfachen und mäßigen Leben mache, zurück, um sie in einer oder der andern von Mr. Merdles Unternehmungen anzulegen. Die Bewohnerinnen des Bleeding Heard Yard teilten, wenn sie ihr Lot Tee und ihren Zentner Klatsch holten, Mr. Plornish mit, daß, wie sie von ihrer Base Mary Anne gehört hätten, die in diesem Fache arbeite, die Kleider von Mrs. Merdle drei Frachtwagen füllen würden. Daß sie eine so schöne Frau sei, wie nur irgendwo eine existierte, und einen Busen habe wie Marmor. Daß, soviel sie gehört, ihr Sohn aus einer früheren Ehe bei der Regierung angestellt worden; daß dieser erste Gemahl derselben ein General gewesen, und Armeen habe er ins Feld geführt und sei siegreich aus dem Kampfe hervorgegangen, wenn man alles glauben dürfe, was erzählt werde. Daß man behaupte, Mr. Merdle habe gesagt, wenn sie es ihm der Mühe wert machten, das ganze Ministerium zu übernehmen, wollte er es ohne Profit tun, aber es übernehmen und dabei verlieren könne er nicht. Daß jedoch nicht zu erwarten gewesen, er würde verlieren, denn seine Wege seien, ohne Übertreibung dürfe man das sagen, mit Gold gepflastert; daß es aber sehr zu bedauern wäre, daß man nicht etwas Hübsches zusammengeschossen, um ihm die Übernahme der Mühe wert zu machen; denn solche und nur solche Leute wüßten, wie hoch das Brot und das Fleisch im Preise gestiegen; und solche und nur solche Leute könnten und würden die teuren Preise wieder herunterbringen.

So epidemisch und heftig war das Fieber im Bleeding Heard Yard, daß es selbst an Mr. Pancks‘ Einsammlungstagen nicht von den Patienten wich. Die Krankheit nahm bei solchen Gelegenheiten die eigentümliche Form an, daß die Kranken eine unergründliche Entschuldigung und einen unerschöpflichen Trost in Anspielungen auf den Zaubernamen fanden. »Nun denn!« sagte Mr. Pancks gewöhnlich zu einem säumigen Mietmann, »bezahlen Sie! Vorwärts!«

»Ich habe es nicht«, antwortet der Säumige. »Ich sage Ihnen die Wahrheit, wenn ich behaupte, ich habe auch nicht einen einzigen Sixpence.«

«Das geht nicht, wie Sie wissen«, versetzt dann Mr. Pancks. »Sie werden doch nicht glauben, daß das gehen kann?«

Der Schuldner gibt mit einem niedergeschlagenen »Nein, Sir«, zu, daß er das selbst nicht glaube.

»Mein Hauseigentümer läßt sich das nicht gefallen, wie Sie sich denken können«, antwortet Mr. Pancks. »Er schickt mich nicht deshalb her. Bezahlen Sie! Vorwärts!«

Der Schuldner antwortet dann: »Ach, Mr. Pancks. Wenn ich der reiche Herr wäre, dessen Name in jedermanns Munde ist, – wenn ich Merdle hieße, Sir, würde ich augenblicklich bezahlen und mit Freuden bezahlen.«

Zwiegespräche über die Mietefrage fanden gewöhnlich an den Haustüren oder in den Gängen statt und dies in Gegenwart verschiedener tief teilnehmender »blutender Herzen«. Eine Anspielung dieser Art rief stets bei ihnen ein leises zustimmendes Gemurmel hervor, als ob jene ganz überzeugend wäre; und der säumige Schuldner, mochte er auch vorher noch so ratlos und niedergeschlagen sein, fühlte sich davon immer ein wenig getröstet.

»Wenn ich Mr. Merdle wäre, Sir, so sollten Sie keine Ursache haben, über mich zu klagen. Nein, wahrhaftig nicht!« fährt der Schuldner mit Kopfschütteln fort. »Ich würde dann so rasch bezahlen, Mr. Pancks, daß Sie das Geld gar nicht erst zu verlangen brauchten.«

Dabei hörte man abermals das zustimmende Gemurmel, das sagen wollte, es sei unmöglich, etwas Besseres vorzubringen, und es stehe dem Bezahlen wohl am nächsten.

Mr. Pancks sah sich dann genötigt, während er die Sache in sein Notizbuch eintrug, sich mit den Worten zu begnügen: »Gut! Sie werden Exekution ins Haus bekommen und hinausgesetzt werden; das ist’s, was Sie treffen wird. Das nützt nichts, mir da von Mr. Merdle vorzuschwatzen. Sie sind mal nicht Mr. Merdle, so wenig wie ich.«

»Nein, Sir,« antwortete der Schuldner. »Ich wünschte nur, Sie wären es, Sir.«

»Sie wären nachsichtiger gegen uns, wenn Sie Mr. Merdle wären, Sir,« fuhr dann der Schuldner, mutiger werdend, fort, »und es wäre besser für alle Teile. Besser für uns und besser für Sie. Sie würden dann nicht nötig haben, uns zu quälen, und brauchten sich selbst auch nicht zu quälen. Es würde Ihnen leichter ums Herz sein, Sir, und Sie würden milder gegen andre sein, wenn Sie Mr. Merdle wären.«

Mr. Pancks, den diese unpersönlichen Komplimente immer sehr verblüfften, erholte sich nie wieder nach einem solchen Angriff. Er konnte nur an seinen Nägeln beißen und auf den nächsten säumigen Schuldner losdampfen. Der Chorus der »blutenden Herzen« sammelte sich dann um den Schuldner, den er soeben verlassen, und die übertriebensten Gerüchte in Beziehung auf die Masse baren Geldes in Mr. Merdles Besitz gingen dann zu ihrem nicht geringen Tröste im Kreise herum.

Nach einer der vielen solchen Niederlagen an einem der vielen Zinstage machte Mr. Pancks nach Beendigung der Tagesgeschäfte, mit seinem Notizbuch unter dem Arm, einen Besuch in Mr. Plornishs Winkel. Mr. Panck’s Zweck war nicht geschäftlicher, sondern sozialer Natur. Er hatte einen schweren Tag gehabt und bedurfte einiger Erheiterung. Er stand jetzt auf freundschaftlichem Fuße mit der Familie Plornish, da er oft bei ähnlichen Gelegenheiten sie besucht und mit ihnen von Miß Dorrit geplaudert und Erinnerungen ausgetauscht hatte.

Mrs. Plornishs Wohnstübchen hinter dem Laden war nach ihrer eigenen Angabe eingerichtet und gemalt worden und bot auf der Seite des Ladens ein kleines Phantasiestück, das Mrs. Plornish große Freude machte. Dieser poetische Reiz, der dem Stübchen gegeben wurde, bestand darin, daß man die Wand so gemalt, daß sie das Äußere einer strohgedeckten Hütte darstellte: der Künstler hatte (so effektvoll, als es die höchst unproportionierten Verhältnisse nur erlaubten) die wirkliche Tür und das wirkliche Fenster darauf angebracht. Die bescheidene Sonnenblume und die Rosenpappel waren in üppiger Pracht und großem Gedeihen vor dieser ländlichen Wohnung dargestellt, während eine dicke Masse Rauchs, die aus dem Kamin aufstieg, von dem guten Leben drinnen oder vielleicht davon zeugte, daß er lange nicht gekehrt worden. Ein treuer Hund war in dem Moment dargestellt, wie er von der Schwelle auffährt und dem befreundeten Besucher an die Füße springt: ein rundes Taubenhaus, von einer Wolke Tauben umhüllt, erhob sich hinter dem Gartengeländer. An der Tür, wenn sie geschlossen war, befand sich ein Messingschild mit der Aufschrift: »Glückshütte, T. und M. Plornish«: die beiden Namen gehörten Mann und Frau. Keine Poesie und keine Kunst hatte je größeren Reiz für die Phantasie, als die Verbindung beider in dieser gemalten Hütte für Mrs. Plornish hatte. Es war ihr einerlei, daß Plornish die Gewohnheit hatte, sich daran zu lehnen, wenn er nach der Arbeit seine Pfeife rauchte, wenn sein Hut den Taubenschlag und alle Tauben verdeckte, wenn sein Rücken das Haus verschwinden ließ und seine Hände in der Tasche den blühenden Garten ausrodeten und das ganze umliegende Land wüstlegten. Für Mrs. Plornish blieb es immer ein außerordentlich schönes Hüttchen, eine herrliche Täuschung; und sie machte sich nichts daraus, daß Mr. Plornishs Auge einige Zoll über dem Giebelschlafzimmer im Dache war. Nachdem der Laden geschlossen war, hinauszukommen und ihren Vater ein Lied drinnen singen zu hören, war für sie ein wahrhaftes ländliches Fest, das goldne Zeitalter war wieder angebrochen. Und wahrhaftig, wenn diese herrliche Zeit hätte wiederkehren können oder überhaupt je existiert hätte, so möchte man bezweifeln, ob sie je herzlicher bewundernde Töchter hätten zeugen können als diese arme Frau.

Von dem Klingeln an der Ladentür aufmerksam gemacht, kam sie aus der »Glückshütte«, um zu sehen, wer es sei. »Ich dachte mir’s doch, daß Sie es sein würden, Mr. Pancks«, sagte sie, »denn es ist Ihr gewöhnlicher Abend, nicht wahr? Sehen Sie, hier ist auch schon der Vater auf den Klang der Glocke wie ein flinker junger Ladendiener herbeigeeilt. Sieht er nicht prächtig aus? Vater freut sich mehr, daß Sie es sind, als wenn’s ein Kunde wäre, denn er plaudert gar zu gern: und wenn die Rede auf Miß Dorrit kommt, so ist ihm das um so lieber. Sie haben Vater noch nie so gut bei Stimme gehört wie gegenwärtig«, sagte Mrs. Plornish, und ihre eigne Stimme zitterte vor Stolz und Freude. »Er hat uns vergangenen Abend Strophen in einer Weise gesungen, daß Plornish aufstand und ihm folgende Rede über den Tisch hinüber hielt: ›John Edward Nandy‹, sagte Plorish zum Vater, ›ich habe Euch nie solchen Triller singen hören wie heute abend.‹ Ist das nicht wohltuend, Mr. Pancks; nicht wahr?«

Mr. Pancks, der den Alten in seiner freundlichsten Weise angeschnaubt hatte, antwortete bejahend und fragte beiläufig, ob der muntre Altrobursche schon da sei? Mrs. Plornish antwortete, nein, noch nicht, er sei mit einer Arbeit nach dem Westend gegangen und habe gesagt, er wolle zur Teezeit wieder da sein. Mr. Pancks wurde dann gastfreundlich eingeladen, in die »Glückshütte« zu treten, wo er den älteren Master Plornish fand, der eben aus der Schule gekommen war. Als er den jungen Schüler über die Fortschritte, die er heute in der Schule gemacht, leicht examinierte, fand er, daß die vorgerückteren Schüler, die schon große Buchstaben und das M. schrieben, als Vorschrift die Worte »Merdle, Millionen« erhalten hatten.

»Und wie geht es Ihnen im Geschäft, Mrs. Plornish«, sagte Pancks, »da wir gerade von Millionen sprechen?«

»Es geht seinen soliden Gang, Sir«, versetzte Mrs. Plornish. »Lieber Vater, würdest du wohl in den Laden gehen und das Fenster ein wenig putzen, ehe der Tee fertig ist, du verstehst das so vortrefflich.«

John Edward Nandy humpelte hinaus, ganz vergnügt, den Wunsch seiner Tochter erfüllen zu können. Mrs. Plornish, die immer bei Erwähnung von Geldangelegenheiten vor dem alten Mann in tödlicher Verlegenheit war, da sie befürchtete, eine ihrer Äußerungen möchte seinen Stolz verletzen und ihn verleiten, wieder in das Armenhaus zu gehen, konnte nun ganz offenherzig gegen Mr. Pancks sein.

»Es ist wahr, daß das Geschäft seinen soliden Gang geht«, sagte Mrs. Plornish, indem sie leiser sprach, »und auch eine ausgezeichnete Kundschaft hat. Das einzige, was ihm im Wege steht, Sir, ist der Kredit.«

Diese Fatalität, die die meisten Leute, die in Geschäftsbeziehung zu den Bewohnern des »blutenden Herzens« standen, in ihrer ganzen Strenge fühlten, war ein großer Stein des Anstoßes für das Geschäft von Mrs. Plornish. Als Mr. Dorrit sie in dem Laden eingerichtet hatte, legten die »blutenden Herzen« eine große Rührung und den festen Entschluß an den Tag, sie dabei zu unterstützen, ein Zug, der der menschlichen Natur große Ehre macht. Anerkennend, daß sie als ein langjähriges Mitglied ihrer Gemeinde einen Anspruch auf ihre Großmut habe, verpflichteten sie sich mit lebhafter Teilnahme, komme was da wolle, bei Mrs. Plornish zu kaufen und ihre Gönnerschaft keinem andern Geschäft zuzuwenden. Von diesen edlen Gefühlen getragen, hatten sie sich sogar etwas übernommen und Luxus im Ankauf von Waren in dem Spezereigeschäft getrieben, indem sie die Linie überschritten, die sie sonst gewöhnlich zogen: dabei entschuldigten sie sich gegenseitig damit, wenn sie zu viel täten, geschehe es ja nur für eine Nachbarin und Freundin: für wen sollte man denn über die Schnur hauen, wenn nicht für eine solche? So unterstützt ging das Geschäft außerordentlich glänzend, und die vorrätigen Artikel gingen reißend ab. Kurz, wenn die »blutenden Herzen« nur bezahlt hätten, wäre das Geschäft ein äußerst brillantes gewesen: da sie sich jedoch ausschließlich aufs Borgen verlegten, so hatten die wirklich realisierten Gewinne noch nicht begonnen, sich in den Büchern zu zeigen.

Mr. Pancks machte ein wahres Stachelschwein aus sich, indem er bei der Betrachtung dieser Sachlage sich beständig durch die Haare strich, als der alte Mr. Nandy, mit geheimnisvoller Miene wieder in die Hütte tretend, die Anwesenden aufforderte, hinauszukommen und zu sehen, wie seltsam sich Mr. Baptist gebare, dem etwas begegnet sein müsse, das ihn erschreckt hätte. Alle drei gingen in den Laden hinaus und sahen durch das Fenster, wie Mr. Baptist, blaß und aufgeregt, folgende Wunderlichkeiten den Zuschauern zum besten gab. Zuerst gewahrte man ihn, wie er oben an der Treppe, die in den Hof hinabführte, die Straße hinauf und hinab blickte, wobei er mit dem Kopf vorsichtig dicht an der Ladentür hervorlugte. Nach sehr ängstlichem Forschen kam er aus seinem Hinterhalt hervor und ging rasch die Straße hinab, als wenn er ganz fortgehen wollte: dann kehrte er plötzlich um und ging im selben Schritt und mit derselben Verstellung die Straße hinauf. Als er ebensoweit die Straße hinauf als hinunter gegangen war, ging er quer über den Weg und verschwand. Was dieses letzte Manöver beabsichtigte, ward erst klar, als er von der Treppe herab plötzlich in den Laden trat, woraus hervorging, daß er einen großen und versteckten Umweg an Doyce und Clennam vorbei gemacht haben und dann gerade über den Hof gelaufen sein mußte. Er war deshalb, wie man sich denken kann, ganz außer Atem, und sein Herz schien rascher zu schlagen als die kleine Ladenglocke, die von seinem hastigen Türzuwerfen hinter ihm zitterte und klingelte.

»Hallo, alter Junge!« sagte Mr. Pancks. »Altro, alter Bursche! Was gibt’s?«

Mr. Baptist oder Signor Cavaletto verstand nunmehr das Englische beinahe so gut als Mr. Pancks selbst und konnte es auch sehr gut sprechen. Nichtsdestoweniger mischte sich Mrs. Plornish, mit verzeihlichem Stolz auf ihr Talent, das sie zu allem nur nicht zur Italienerin machte, als Dolmetscherin in das Gespräch.

»Ich fragen«, sagte Mrs. Plornish, »was geschehen sein?«

»Kommen Sie in die kleine ›Glückshütte‹, Padrona«, versetzte Mr. Baptiste, indem er noch verstohlener als gewöhnlich mit verkehrter Hand den rechten Zeigefinger rückwärtsdrehte. »Kommen Sie!«

Mrs. Plornish war stolz auf den Titel Padrona, dem sie nicht so sehr die Bedeutung Herrin vom Hause als Meisterin der italienischen Sprache beilegte. Sie erfüllte deshalb augenblicklich Mr. Baptists Wunsch, und sie traten alle in die Hütte.

»Ich hoffe, Sie sein nicht erschrocken«, sagte Mrs. Plornish und machte sich mit ihrem gewöhnlichen Reichtum an Auswegen zum Dolmetscher gegenüber von Mr. Pancks. »Was geschehen sein? Padrona wünsche wissen?«

»Ich habe jemand gesehen«, versetzte Baptist. »Ich habe ihn rincontrato.«

»Ihn? wer ihn sein?« fragte Mrs. Plornish.

»Ein schlechter Mann. Der schlechteste Mensch. Ich hoffte, ihn nie wieder in meinem Leben zu sehen.«

»Wie wissen, daß schlecht sein?« fragte Mrs. Plornish.

»Das ist gleichgültig, Padrona. Ich weiß es nur zu gut.«

»Er Euch aber gesehen?« fragte Mr. Plornish.

»Nein, ich hoffe nicht. Ich glaube nicht.«

»Er sagte«, erklärte dann Mrs. Plornish, sich mit gnädiger Herablassung an ihren Vater und Mr. Pancks wendend, »daß er einem schlechten Mann begegnet sei, jedoch hoffe, nicht von ihm gesehen worden zu sein. Nun«, fragte Mr. Plornish, zum italienischen Idiom zurückkehrend, »warum hoffen, daß schlechter Mann Euch nicht gesehen?«

»Beste Padrona«, versetzte der kleine Ausländer, den sie so gnädig beschützte, »bitte, fragen Sie nicht. Noch einmal sage ich, es ist gleichgültig. Ich will ihn nicht sehen, ich will nicht von ihm gekannt sein – nimmer, nimmer. Genug, Schönste. Lassen wir die Sache!«

Der Gegenstand war ihm so unangenehm und brachte seine gewöhnliche Munterkeit in solche Verwirrung, daß Mrs. Plornish sich enthielt, weiter in ihn zu dringen, um so mehr, als der Tee schon einige Zeit auf dem Feuer gezogen hatte. Aber sie war nichtsdestoweniger sehr überrascht und neugierig, wenn sie auch keine Fragen mehr an ihn richtete; das gleiche war mit Mr. Pancks der Fall, dessen ausdrucksvolles Atmen, seit der kleine Mann eingetreten war, sehr schwerfällig geworden, wie bei einer Lokomotive, die mit einer großen Last einen steilen Abhang hinaufarbeitet. Maggy, die jetzt besser gekleidet war als früher, aber dem monströsen Charakter ihrer Haube treu geblieben, hatte seit dem ersten Augenblick mit offenem Mund und Augen im Hintergrund gestanden, und die starrenden und gaffenden Augen verloren nichts an Breite durch die vorzeitige Beseitigung der Sache. Wenn auch nicht mehr von der Sache geredet wurde, schien man doch von allen Seiten noch daran zu denken; selbst den beiden kleinen Plornishs ging die Sache nicht aus dem Kopf, denn sie nahmen an dem Abendessen in einer Weise teil, als wenn das Essen von Butter und Brot beinahe überflüssig würde durch die peinliche Wahrscheinlichkeit, daß der schlimmste aller Menschen ehestens erscheinen werde, um sie alle aufzuessen. Mr. Baptist begann nach und nach etwas munterer zu werden; aber er verließ nicht einen Augenblick den Stuhl, den er hinter der Tür und dicht am Fenster eingenommen, obgleich es nicht sein gewöhnlicher Platz war. Sooft die kleine Glocke klang, fuhr er zusammen und sah versteckt hinaus, mit dem Zipfel des kleinen Vorhangs in der Hand und dem übrigen vor dem Gesicht, offenbar nichts weniger als beruhigt, daß der Gefürchtete trotz all seiner Umwege und Schliche mit der furchtbaren Sicherheit eines Bluthundes ihn ausfindig machen würde.

Das Kommen von zwei oder drei Kunden und von Mr. Plornish, was verschiedene Male Unruhe hervorbrachte, veranlaßte Mr. Baptist häufig genug, seine Manöver zu machen, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich zu richten. Der Tee war getrunken und die Kinder zu Bett, und Mrs. Plornish brachte bereits den schüchternen Wunsch vor, ihr Vater möchte ihnen Chloë singen, als die Glocke wiederum ertönte und Mr. Clennam eintrat.

Clennam hatte lange über seinen Büchern und Briefen gesessen; denn die Wartezimmer des Circumlocution Office raubten ihm viel Zeit. Außerdem war er sehr niedergebeugt und unruhig durch den jüngsten Vorfall in seiner Mutter Hause. Er sah angegriffen und verlassen aus. Er fühlte es auch; aber nichtsdestoweniger ging er von seinem Kontor nach diesem Ende des Hofes, um ihnen mitzuteilen, daß er einen weiteren Brief von Miß Dorrit erhalten habe.

Diese Neuigkeit machte in der Hütte eine Sensation, die die allgemeine Aufmerksamkeit von Mr. Baptist ablenkte. Maggy, die sich alsbald in den Vordergrund drängte, schien die Nachrichten von ihrer kleinen Mutter gleicherweise mit Ohren, Nase, Mund und Augen einzusaugen, nur daß die letzteren von Tränen verschleiert waren. Sie war besonders erfreut, als Clennam ihr versicherte, daß es in Rom Spitäler gebe, und zwar sehr gut eingerichtete Spitäler. Mr. Pancks stieg im Ansehen, weil er in dem Briefe besonders erwähnt war. Jedermann war erfreut und voll Teilnahme und Clennam für seine Mühe wohl belohnt.

»Aber Sie sind müde, Sir. Lassen Sie mich eine Tasse Tee für Sie zurechtmachen«, sagte Mrs. Plornish, »wenn Sie sich herablassen wollen, eine solche in der Hütte anzunehmen, und vielen Dank auch, daß Sie uns so freundlich im Andenken behalten.«

Mr. Plornish, der es für seine Pflicht als Wirt hielt, seine persönliche Anerkennung hinzuzufügen, brachte sie in der Form vor, die immer sein höchstes Ideal der Verbindung von Zeremonie und Offenheit darstellte.

»John Edward Nandy«, sagte Plornish, indem er sich an den Alten wandte. »Sir. Es ist nicht zu oft, daß Ihr anspruchslose Handlungen ohne einen Funken von Stolz seht, und wenn Ihr deshalb sie seht, so erkennt sie mit dankbarer Verehrung an, denn wenn Ihr sie nicht seht und braucht sie einmal, wo Ihr sie nicht zu sehen bekommt, so ist es natürlich, daß Euch ganz recht geschieht.«

Auf diese Anrede antwortete Mr. Nandy:

»Ich bin ganz und gar Eurer Meinung, Thomas, und Eure Meinung ist dieselbe wie die meine, und deshalb kein Wort weiter davon, und da ich mit dieser Meinung nicht hinter dem Berge halte, sondern frei heraussage, ja, Thomas, ja, und diese Meinung ist die, in der Ihr und ich immer mit allen übereinstimmen und da also keine Verschiedenheit der Meinungen obwaltet, so kann nur eine Meinung sein, ganz gewiß, ja, Thomas, ja!«

Arthur sprach es mit etwas weniger Formalität aus, wie sehr es ihm wohltue, daß sie eine so kleine Aufmerksamkeit von seiner Seite so freundlich aufnähmen, und erklärte hinsichtlich des Tees, daß er noch nicht gespeist und direkt nach Hause gehen wollte, um sich nach einem angestrengten Tage zu erquicken, sonst würde er das gastfreundliche Anerbieten gern angenommen haben. Da Mr. Pancks ziemlich geräuschvoll seinen Dampf für die Abfahrt anspannte, schloß er mit der Frage an diesen Herrn, ob er ihn begleiten wollte? Mr. Pancks sagte, er wünsche nichts angelegentlicher, und die beiden verabschiedeten sich von der »Glückshütte«.

»Wenn Sie mit mir nach Hause gehen wollten, Pancks«, sagte Arthur, als sie auf der Straße waren, »und das Diner oder Souper, wie Sie’s heißen mögen, mit mir teilen wollten, so würden Sie mir nahezu einen Liebesdienst erzeigen; denn ich bin heute abend sehr müde und schlimmer Laune.«

»Verlangen Sie einen größern Dienst als diesen von mir«, sagte Pancks, »wenn Sie einen brauchen, und er soll getan werden.«

Zwischen diesem exzentrischen Charakter und Clennam hatte sich ein beständig wachsendes stilles Einvernehmen und Vertrauen hergestellt, seitdem Mr. Pancks auf dem Hofe des Marshalseagefängnisses über den Rücken von Mr. Rugg geflogen war. Als an dem denkwürdigen Tage der Abreise der Familie der Wagen wegfuhr, hatten diese beiden zusammen ihm nachgesehen und waren langsam miteinander weitergegangen. Als der erste Brief von Klein-Dorrit ankam, hörte niemand mit größerem Interesse seinen Inhalt als Mr. Pancks. Der zweite Brief, der gegenwärtig sich in Clennams Brusttasche befand, erwähnte seinen Namen ganz besonders. Obgleich er nie ein Geständnis oder eine Beteuerung gegen Clennam hatte laut werden lassen, und obgleich, was er soeben gesagt, wenig genug den Worten nach war, war doch die Überzeugung immer lebhafter und stärker bei Clennam geworden, daß Mr. Pancks in seiner eigentümlichen seltsamen Weise eine Neigung zu ihm gefaßt. Wenn man alle diese Fäden zusammenwand, so wurde Pancks an diesem Abend ein wahres Notankertau für ihn.

»Ich bin ganz allein«, sagte Arthur, als sie weitergingen. »Mein Kompagnon ist verreist, um an einem andern Ort etwas in der Branche unsres Geschäfts, die er besorgt, zu ordnen, und Sie werden ganz ungeniert sein.«

»Danke. Sie haben wohl eben nicht besonders auf den kleinen Altro geachtet, nicht wahr?« sagte Pancks.

»Nein. Warum?«

»Er ist ein munterer Junge, und ich bin ihm gut«, sagte Pancks. »Es muß ihm heute etwas Unangenehmes zugestoßen sein. Haben Sie keine Idee, was das sein mag, was ihn so außer Fassung gebracht?«

»Sie setzen mich in Erstaunen! Nein, durchaus nicht.«

Mr. Pancks setzte die Gründe zu seiner Frage auseinander. Arthur war ganz unvorbereitet und außerstande, eine Erklärung dafür beizubringen.

»Vielleicht fragen Sie ihn«, sagte Pancks, »da er ein Fremder ist?«

»Was soll ich ihn fragen?« versetzte Clennam.

»Was er auf der Seele hat.«

»Ich glaube, ich sollte zuerst selbst sehen, ob er etwas auf der Seele hat. Ich fand ihn immer und in jeder Beziehung so fleißig, so dankbar (für das wenige) und so zuverlässig, daß es aussehen möchte, als wenn ich ihm mißtraute. Und das wäre doch sehr ungerecht.«

»Wohl wahr«, sagte Pancks. »Aber wahrhaftig, Sie dürften kein Hauseigentümer sein, Mr. Clennam. Sie wären viel zu zartfühlend.«

»Was das betrifft«, versetzte Clennam lachend, »so habe ich auch kein großes Anrecht auf Cavaletto. Sein Holzschnitzen ist sein Broterwerb. Er hat die Schlüssel der Fabrik in Verwahrung, wacht jede zweite Nacht und vertritt gewissermaßen die Stelle eines Hausmeisters; aber wir haben wenig Arbeit für sein Fach und Talent, nur was wir haben, geben wir ihm. Nein, ich bin mehr sein Berater als sein Herr. Wenn ich mich seinen ständigen Rechtsfreund und Bankier nenne, so komme ich der Wahrheit noch näher. Da ich gerade davon spreche, daß ich sein Bankier sei, ist es nicht seltsam, Pancks, daß die Spekulationen, die jetzt in so vieler Leute Kopf herumgehen, auch den kleinen Cavaletto so lebhaft beschäftigen?«

»Spekulationen?« versetzte Pancks mit Schnauben. »Was für Spekulationen?«

»Die Spekulationen von Merdle.« »Ah! die Unternehmungen«, sagte Pancks. »Ja, ja! Ich wußte nicht, daß Sie von den Unternehmungen sprechen.«

Seine rasche Art, zu antworten, veranlaßte Clennam ihn zweifelhaft anzusehen, ob er mehr meine, als er sagte. Da jedoch seine Antwort von rascherem Gang und einem entsprechend lebhafteren Arbeiten der Maschinen begleitet war, so verfolgte Arthur die Sache nicht weiter, und sie kamen bald bei seinem Hause an.

Ein Diner, bestehend aus Suppe und Taubenpastete, auf einem kleinen runden Tisch vor dem Kamin aufgetragen und mit einer Flasche guten Weins versüßt, ölte Pancks Räderwerk auf höchst wirksame Weise ein; so daß, als Clennam seine türkische Pfeife holte und Mr. Pancks eine zweite türkische Pfeife übergab, der letztere sich außerordentlich behaglich fühlte.

Sie dampften eine Zeitlang schweigend, Pancks wie ein Dampfboot, das Wind, Flut, ruhige See und alle andern Bedingungen zu einer glücklichen Fahrt hat. Er war der erste, der zu sprechen anfing und sagte:

»Ja, Unternehmungen ist das richtige Wort.«

Clennam antwortete mit seinem früheren Blick: »Ah!«

»Ja, Ich komme darauf zurück, wie Sie sehen«, sagte Pancks.

»Ja. Ich sehe, Sie kommen darauf zurück«, versetzte Clennam, der neugierig war, warum.

»Ist es nicht seltsam, daß die Sache auch dem kleinen Altro im Kopfe herumgeht? Hm?« sagte Pancks, während er weiterrauchte, »Stellten Sie nicht die Frage so?«

»O ja, das war’s, was ich sagte.«

»So! Aber denken Sie sich nur, der ganze Hof ist voll davon. Sie kommen mir an meinen Zinstagen alle damit, wo ich nur hinkommen mag. Ob sie bezahlen oder nicht bezahlen. Merdle, Merdle, Merdle. Immer Merdle.«

»Sehr seltsam, wie diese Verblendung sich aller bemeistert«, sagte Arthur.

»Nicht wahr?« versetzte Pancks. Nachdem er eine oder zwei Minuten fortgeraucht, fügte er trockner, als sich mit seiner kürzlichen Ölung vertrug, hinzu: »Weil, wie Sie wissen, die Leute die Sache nicht verstehen.«

»Nicht im geringsten«, stimmte Clennam bei.

»Nicht im geringsten«, rief Pancks. »Sie verstehen nichts von Zahlen. Verstehen nichts von Geldfragen. Machen keine Berechnung. Haben nie eine solche gemacht, Sir!«

»Hätten sie das getan –« war Clennam im Begriff zu sagen, als Pancks ohne eine Veränderung des Gesichts einen seine gewöhnlichen Nasen- oder Kehlanstrengungen übertreffenden Ton hervorbrachte, daß er innehielt.

»Hätten sie das getan?« wiederholte Pancks in fragendem Tone.

»Ich dachte – Sie sprächen«, sagte Arthur, der in Verlegenheit war, welchen Namen er dieser Unterbrechung geben sollte.

»Durchaus nicht«, sagte Pancks. »Noch nicht. In einer Minute vielleicht. Wenn sie also das getan?« bemerkte Clennam, der nicht recht wußte, wie er seinen Freund nehmen sollte, »nun, so denke ich, würden sie es besser gewußt haben.«

»Wieso, Mr. Clennam?« fragte Pancks rasch und mit einem seltsamen Ausdruck, als wenn er seit dem Beginn des Gesprächs mit dem schweren Kaliber geladen gewesen, das er jetzt abschoß. »Sie haben recht, wissen Sie. Sie verstehen es nicht, aber sie haben recht.«

»Recht, wenn Sie Cavelettos Meinung, mit Mr. Merdle zu spekulieren, teilen?«

»Allerdings, Sir«, sagte Pancks. »Ich bin auf die Sache näher eingegangen. Ich habe die Berechnungen gemacht. Ich habe nachgerechnet. Sie sind gut und sicher.« Erleichtert von seiner Last, als er soweit gekommen war, sog Mr. Pancks einen so langen Zug, als seine Lungen erlaubten, aus seiner türkischen Pfeife und sah Clennam schlau und unverwandt an, während er aus- und eindampfte.

In solchen Augenblicken begann Mr. Pancks den gefährlichen Giftstoff, mit dem er geschwängert war, auszuströmen. Das ist die Art, wie die Krankheiten sich verbreiten; das ist die seine und verdeckte Weise, wie sie um sich greifen.

»Glauben Sie, mein guter Pancks«, fragte Clennam emphatisch, »daß Sie zum Beispiel Ihre tausend Pfund bei einem solchen Unternehmen aufs Spiel setzen würden?«

»Gewiß«, sagte Pancks, »und habe es auch bereits getan, Sir.«

Mr. Pancks sog abermals langsam den Rauch ein und dann noch einmal und warf dabei einen langen schlauen Blick auf Clennam.

»Ich sage Ihnen, Mr. Clennam, ich habe mich dabei beteiligt«, sagte Pancks. »Es ist ein Mann von ungeheuren Mitteln – enormem Kapitalvermögen – und von großem Einfluß bei der Regierung. Es sind die besten Spekulationen, die im Augenblick im Gange sind. Sie sind sicher. Sie sind gewiß.«

»So!« versetzte Clennam, indem er zuerst seinen Gefährten ernst ansah und dann ernst in das Feuer blickte. »Sie setzen mich in Erstaunen!«

»Bah!« versetzte Pancks. »Sagen Sie das nicht, Sir. Sie sollten das selbst so machen. Warum machen Sie´s nicht wie ich?«

Von wem Mr. Pancks die epidemische Krankheit geerbt, konnte er ebensowenig sagen, als wenn er unbewußterweise von einem Fieber befallen worden wäre. Zuerst, wie manche physische Krankheiten, aus der Verderbtheit der Menschen entstanden, und dann in ihrer Unwissenheit weiter verbreitet, stecken diese Epidemien nach einiger Zeit gar manche Leidende an, die weder unwissend noch verderbt sind. Mr. Pancks mochte dir Krankheit selbst von einem Subjekte dieser Art geerbt haben oder nicht, jedenfalls erschien er vor Clennam als ein solcher, und der Krankheitsstoff, den er verbreitete, war um so bösartiger. »Gewiß, Sir!« versetzte Pancks keck, indem er Dampf ausblies. »Und ich wünschte nur, es wäre zehnmal soviel.«

Clennam lagen an diesem Abend zweierlei Dinge auf seiner vereinsamten Seele: das eine war seines Kompagnons lang hinausgeschobene Hoffnungen; das andre, was er bei seiner Mutter gesehen und gehört hatte. In dem erleichternden Bewußtsein, Mr. Pancks bei sich zu haben und diesem Manne sein Vertrauen schenken zu können, fing er von beiden Dingen zu reden an, und beide brachten ihn mit vermehrter und beschleunigter Kraft auf den Ausgangspunkt zurück.

Es machte sich auf die einfachste Weise. Indem er die Spekulationsfrage, nach einer Pause, während der er durch den Rauch seiner Pfeife auf das Feuer geblickt hatte, verließ, erzählte er Pancks, wie und warum er mit dem großen Staatsdepartment in Berührung stehe. »Es ist eine harte Sache gewesen und ist es noch für Doyce«, sagte er zuletzt mit dem ganzen ehrlichen Gefühl, das der Gegenstand immer in ihm erweckte.

»Allerdings, sehr hart,« gab Pancks zu. »Aber Sie haben die Sache für ihn in die Hand genommen, Mr. Clennam.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie besorgen die Geldangelegenheiten des Geschäfts?«

»Ja, so gut ich kann.«

»Besorgen sie jedenfalls besser, Sir«, sagte Pancks. »Belohnen ihn für seine Mühe und seine fehlgeschlagenen Hoffnungen. Bieten ihm die Chancen, die die Zeit herbeiführt. Er, der geduldige und vielbeschäftigte Techniker, würde doch nie auf diese Weise Nutzen ziehen können. Er verläßt sich auf Sie, Sir.«

»Ich tue mein Bestes, Pancks«, versetzte Clennam, dem etwas unbehaglich wurde. »Um diese neuen Unternehmungen, von denen ich keine Erfahrung habe, genau zu prüfen, dazu glaube ich, nicht mehr zu taugen. Ich werde alt.«

»Alt werden?« rief Pancks. »Ha, ha!«

Es lag etwas so unzweifelhaft Ungemachtes in diesem wunderbaren Lachen und in dem langandauernden Schnauben und Pusten, das Mr. Pancks Erstaunen über diesen Gedanken und die Zurückweisung desselben ausdrückte, daß es außer allem Zweifel war, es sei ihm ernst damit.

»Alt werden?« rief Pancks. »Hört, hört, hört! Alt? Hört, hört!«

Diese positive Weigerung, auch nur einen einzigen Augenblick diesen Gedanken zu hegen, die sich in Mr. Pancks‘ fortdauerndem Schnauben wie in den Ausrufungen aussprach, ließen auch Arthur nicht länger daran festhalten. Ja, er befürchtete, es möchte Mr. Pancks in dem heftigen Kampf zwischen dem Atem, den er ausstieß, und dem Rauch, den er hinunterschluckte, ein Unglück passieren. Dieses Verzichten auf den zweiten Gesprächsgegenstand brachte ihn auf den dritten.

»Und Sie haben wirklich Ihre tausend Pfund in der Unternehmung angelegt?« Clennam hatte sich das Wort bereits angeeignet. »Jung, alt oder in mittleren Jahren, Pancks«, sagte er, als eine gelegene Pause eintrat, »ich befinde mich in einer sehr peinlichen und ungewissen Lage, in einem Zustand, der mich bezweifeln läßt, ob überhaupt etwas, was mir zu gehören scheint, auch wirklich mir gehört. Soll ich Ihnen sagen, wie das kommt? Soll ich Ihnen volles Vertrauen schenken?«

»Allerdings Sir«, sagte Pancks, »wenn Sie mich desselben für würdig halten.«

»Gewiß.«

»Das können Sie auch!« Mr. Pancks‘ kurze und scharfe Antwort, bekräftigt durch das plötzliche Ausstrecken seiner kohligen Hand, war ungemein ausdrucksvoll und überzeugend. Arthur schüttelte ihm warm die Hand.

Indem er nun seine alten Befürchtungen so milde darstellte wie möglich, ohne unverständlich zu werden, und seine Mutter dabei niemals mit Namen nannte, sondern nur unbestimmt von einer Verwandten sprach, vertraute er Mr. Pancks in Umrissen die Befürchtungen mit, die er hegte, und die Zusammenkunft, bei der er zugegen gewesen war. Mr. Pancks hörte mit solchem Interesse zu, daß er, die Annehmlichkeit der türkischen Pfeife ganz vergessend, sie an das Kamingitter unter die Feuereisen stellte und während der ganzen Zeit, solange ihm erzählt wurde, die Zinken und Haken seiner Haare mit den Händen am ganzen Kopf in die Höhe strich, daß er, als die Sache zum Schluß kam, wie ein Handwerkerhamlet aussah, der mit dem Geist seines Vaters spricht.

»Bringt mich wieder auf die Unternehmungen zurück, Sir!« rief er laut, indem er dabei Clennam lebhaft auf das Knie schlug. »Ich meine nicht, daß Sie sich arm machen sollen, um ein Unrecht, das Sie gar nicht begangen, wieder gutzumachen. Das ist Ihre Sache. Ein Mann muß für sich selbst sorgen. Aber ich sage nur so viel. Da Sie fürchten, Sie werden Geld brauchen, um Ihr eigen Blut von Schmach und Schande zu retten – so suchen Sie soviel wie möglich zu erwerben!«

Arthur schüttelte seinen Kopf, aber sah ihn auch gedankenvoll an,

»Werden Sie so reich, wie Sie können, Sir«, beschwor ihn Pancks mit mächtiger Konzentration aller seiner Energie auf diesen Rat. »Seien Sie so reich, wie Sie es mit Ehren können. Es ist Ihre Pflicht. Nicht Ihretwegen, sondern andrer wegen tun Sie’s. Fassen Sie die Zeit beim Schopfe. Der arme Mr. Doyce (der wirklich alt wird) muß sich auf Sie verlassen. Ihr Verwandter hängt von Ihnen ab. Sie wissen nicht, was alles von Ihnen abhängt.«

»Schon recht, schon recht!« versetzte Arthur. »Genug für heute abend.«

»Noch ein Wort, Mr. Clennam«, versetzte Pancks, »dann soll es genug sein für heute abend. Warum sollten Sie allen Gewinn den Unersättlichen, Schelmen und Betrügern überlassen? Warum wollen Sie allen Gewinn, der zu machen ist, meinem Hauseigentümer und dergleichen Leuten überlassen? Und doch tun Sie es. Wenn ich sage Sie, so meine ich Leute wie Sie. Sie wissen, daß Sie das tun. Ich muß das jeden Tag meines Lebens sehen. Ich sehe nichts anderes. Es ist mein Beruf, es zu sehen. Deshalb sage ich«, drängte Pancks, »man muß wagen und gewinnen.«

»Aber wenn es heißt, wagen und verlieren, wie ist es dann?« sagte Arthur.

»Kann nicht geschehen, Sir«, versetzte Pancks. »Ich habe einen tiefen Blick in die Sache getan. Der Name überall obenan – ungeheure Mittel – enormes Kapital – großartige Stellung! – hohe Verbindungen – Einfluß auf die Regierung. Kann nicht sein!«

Nach dieser sie Sache zu» Abschluß, bringenden Auseinandersetzung, beruhigte sich Mr. Pancks nach und nach wieder und ließ sein Haar sich wieder so weit senken, als dies der größten Überredungskunst möglich war, reklamierte die Pfeife wieder aus den Feuereisen, stopfte sie aufs neue und rauchte sie aus. Sie sprachen wenig mehr, leisteten jedoch einander Gesellschaft, indem sie schweigend dieselben Gegenstände verfolgten, und schieden nicht vor Mitternacht. Als Mr. Pancks Abschied nahm, steuerte er, nachdem er Mr. Clennam die Hand geschüttelt, ganz um ihn herum, ehe er zur Tür hinausdampfte. Dies nahm Arthur als eine Versicherung auf, daß er sich ganz auf Pancks verlassen könne, wenn er je in die Notwendigkeit versetzt werden sollte, seines Beistandes zu bedürfen, sei es nun in einem von den Punkten, von denen heute abend die Rede gewesen, oder in irgendeiner andern ihn berührenden Angelegenheit.

Während des ganzen nächsten Tages, und selbst solange seine Gedanken auf ganz andere Dinge gerichtet waren, fiel ihm bisweilen Mr. Pancks Spekulation mit seinen tausend Pfund und die Behauptung ein, daß er einen tiefen Blick in die Sache getan hätte. Er dachte, wie sanguinisch Mr. Pancks in dieser Sache sei, während er doch sonst keinen sanguinischen Charakter habe. Er dachte an das große Nationaldepartement und an die Freude, die es ihm gewähren würde, Doyce in besseren Umständen zu sehen. Er dachte an den dunkel drohenden Ort, der in seiner Erinnerung den Namen Heimat trug, und an die sich zusammenziehenden Schatten, die ihn noch dunkler drohend denn sonst machten. Er bemerkte aufs neue, daß, wohin er sich wandte, er den berühmten Mann Merdle sah, hörte oder berührte; er fand es sogar schwer, ein paar Stunden lang hintereinander an seinem Pult zu bleiben, ohne daß sich durch irgendeine oder andere Vermittlung dieser Name seinen körperlichen Sinnen dargeboten hatte. Er begann es doch seltsam zu finden, daß er überall war, und daß niemand als er ihm zu mißtrauen scheine. Und doch, wenn er soweit war, begann er sich zu erinnern, daß ja selbst er ihm nicht mißtraue; er hatte sich nur zufällig davon ferngehalten.

Solche Symptome sind, wenn eine Krankheit der Art grassiert, die Zeichen des Krankwerdens.

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Rats erholen.

Als die Briten am Ufer der gelben Tiber erfuhren, daß ihr intelligenter Landsmann Mr. Sparkler einer der Lords des Circumlocution Office geworden, nahmen sie es als eine Nachricht auf, die sie nicht näher anging als jede andere Neuigkeit – jedes andre Ereignis oder Verbrechen – in den englischen Zeitungen. Die einen lachten, die andern sagten, als Entschuldigung, die Stelle sei eine Sinekure, und jeder Dummkopf, der seinen Namen richtig schreiben könne, sei gut genug für dieselbe: noch andre endlich, und dies waren die feierlichsten politischen Orakel, sagten, Decimus handle klug, sich zu verstärken, und der einzige konstitutionelle Zweck aller Stellen, die Decimus zu vergeben habe, sei, daß Decimus sich verstärke. Einige gallige Briten waren allerdings vorhanden, die diesen Glaubensartikel nicht unterschreiben wollten: aber ihre Einwürfe waren rein theoretischer Art. In praktischer Hinsicht ließen sie die Sache gleichgültig liegen, als wenn es die Sache andrer irgendwo oder nirgendwo befindlichen Briten wäre. In gleicher Weise behaupteten viele Briten in der Heimat, wenigstens vierundzwanzig Stunden lang nachher, daß diese unsichtbaren und namenlosen Briten »die Sache in die Hand nehmen sollten« und daß, wenn sie sich’s ruhig gefallen ließen, sie es auch nicht besser verdienten. Aber welcher Klasse diese trägen und gleichgültigen Briten angehörten, und wo diese unglücklichen Geschöpfe steckten, und weshalb sie sich verbargen, und woher es beständig kam, daß sie ihr Interesse vernachlässigten, während so viele andere Briten sich gar nicht erklären konnten, warum sie sich nicht um ihre Interessen kümmerten, war weder den Leuten an dem Ufer der gelben Tiber noch den Leuten am Ufer der schwarzen Themse klar.

Mrs. Merdle verbreitete die Nachricht, wie sie auch die Gratulationen empfing, mit der sorglosesten Grazie, die die Sache sehr zu ihrem Vorteil hob, wie die Fassung den Juwel. Ja, sagte sie, Edmund hat die Stelle angenommen. Mr. Merdle wünschte, daß er sie annehme, und er hat sie angenommen. Sie hoffe, die Stellung werde Edmund gefallen, aber gewiß wisse sie es nicht. Sie würde ihn einen großen Teil des Jahres in der Stadt festhalten, und er ziehe das Land vor. Es sei jedoch keine unangenehme Stellung – und es sei doch eine Stellung. Es sei nicht zu leugnen, daß es ein Kompliment für Mr. Merdle und keineswegs schlecht sei, wenn Edmund Geschmack daran finde. Es sei ganz gut, daß er etwas zu tun habe, und sei auch ganz gut, daß er etwas dafür bekäme. Ob es besser für Edmund, als wenn er in der Armee diente, das müsse man erst abwarten.

So sprach der Busen, geübt in der Kunst, scheinbar nur wenig Wert auf etwas zu legen und es dadurch gerade im Wert zu steigern. Indessen machte Henry Gowan, den Decimus abgeworfen, die Rundreise bei allen seinen bekannten, von der Porta del Popolo bis nach Albano, und beteuerte fast (wenn auch nicht ganz) mit Tränen in den Augen, daß Sparkler der gutmütigste, einfachste, kurz, der liebenswürdigste Esel sei, der jemals auf der Staatswiese gegrast: und daß nur eines ihm (Gowan) Freude bereitet, falls jener (der geliebte Esel) diesen Posten nicht bekommen, und das wäre gewesen, wenn er (Gowan) den Posten erhalten hätte. Er sagte, er passe ganz vortrefflich für Sparkler. Es sei nichts dabei zu tun und das würde er allerliebst machen, und dabei sei eine hübsche Besoldung einzustreichen und diese würde er allerliebst einstreichen; es sei eine angenehme, ganz passende, vortreffliche Stellung, und er vergab dem Verleiher derselben beinahe, daß er ihn übergangen, in der Freude darüber, daß der liebe Esel, für den er eine so große Vorliebe hatte, einen so guten Stall bekommen habe. Damit ließ sein Wohlwollen sich noch nicht genügen. Er nahm sich die Mühe, bei allen geselligen Gelegenheiten Mr. Sparkler hervorzuholen und ihn in der Gesellschaft zu zeigen; und obgleich diese rücksichtsvolle Handlung stets damit endigte, daß dieser junge Mann sich in einem traurigen und hilflosen geistigen Lichte zeigte, so ließ sich doch nicht an der freundlichen Absicht zweifeln.

Nur der Gegenstand von Mr. Sparklers Herzensneigung erlaubte sich daran zu zweifeln. Miß Fanny war nun in der schwierigen Lage, allgemein als dieser Gegenstand bekannt zu sein und Mr. Sparkler nicht verabschiedet zu haben, obgleich sie ihn sehr launisch behandelte. Daher war sie genug mit diesem Gentleman verknüpft, um sich kompromitiert zu fühlen, wenn er sich mehr als gewöhnlich lächerlich zeigte, und daher kam sie, da es ihr keineswegs an raschen Einfällen fehlte, ihm gegen Gowan zu Hilfe und leistete ihm sehr gute Dienste. Aber während sie dies tat, schämte sie sich seiner, unentschlossen, ob sie ihn gehen lassen oder ihn noch entschiedener aufreizen sollte, durch die Befürchtung in Verwirrung gesetzt, daß sie sich jeden Tag mehr in das Netz ihrer Ungewißheiten verstrickte, und gequält von dem Argwohn, daß Mrs. Merdle über ihre Verlegenheit triumphiere. Bei so stürmisch bewegtem Gemüt war es nicht zu verwundern, daß Miß Fanny eines Abends von einem Konzert und Ball bei Mrs. Merdle in großer Aufregung nach Hause kam, und als die Schwester sie liebreich trösten suchte, diese von dem Toilettentisch wegstieß, an dem sie saß, und zornig weinend mit gehobenem Busen erklärte, daß sie alle Menschen verabscheue und wünschte, sie wäre tot.

»Liebe Fanny, was gibt es? Sage es mir.«

»Was es gibt, du kleiner Maulwurf«, sagte Fanny. »Wenn du nicht die Blindeste der Blinden wärest, so brauchtest du mich nicht zu fragen. Der Gedanke, zu behaupten zu wagen, daß man Augen im Kopfe habe, und mich doch zu fragen, was es gebe?«

»Handelt es sich um Mr. Sparkler, meine Liebe?«

»Mi–ster Spark–ler!« wiederholte Fanny mit unendlicher Verachtung, als wenn er das letzte im Sonnensystem wäre, was möglicherweise ihrem Geiste nahe sein konnte. »Nein, Miß Fledermaus, das ist’s nicht.«

Alsbald jedoch wieder bereuend, daß sie ihrer Schwester solche Namen gegeben, erklärte sie unter Seufzern, sie wisse, sie mache sich verhaßt, aber die Leute drängten sie dazu.

»Ich glaube, du bist heute abend nicht ganz wohl, liebe Fanny.«

»Welch ein Unsinn!« versetzte das junge Mädchen ärgerlich werdend, »ich bin so wohl wie du. Vielleicht könnte ich sagen besser, ohne damit zu prahlen.«

Die arme Klein-Dorrit, die nicht wußte, wie sie ein beruhigendes Wort anbringen sollte, ohne befürchten zu müssen, zurückgewiesen zu werden, hielt es für das beste, ruhig zu bleiben. Anfangs nahm Fanny auch dies übel auf, indem sie ihrem Spiegel versicherte, daß von allen Prüfungen, die ein Mädchen ertragen müßte, eine Schwester, die nicht begreifen wolle, die größte Prüfung sei. Sie wisse, daß sie zu Zeiten in schrecklicher Stimmung sei; sie wisse, sie mache sich verhaßt, nichts wäre so gut für sie, als wenn man es ihr offen sagte; da sie jedoch eine Schwester habe, die nichts begreifen wolle, so sage man es ihr nie, und daher komme es, daß sie geradezu gereizt und gestachelt sei, sich unangenehm zu machen. Außerdem (sagte sie zornig zu ihrem Spiegel) wolle sie nicht, daß man ihr verzeihe. Es sei doch nicht richtig, wenn sie sich immer durch die Nachsicht einer jüngern Schwester demütigen lassen müsse. Das sei die Kunst, – daß man sie immer in die Lage bringe, wo ihr vergeben werden müsse, ob sie’s nun wolle, oder nicht. Zuletzt brach sie in heftiges Weinen aus, und als ihre Schwester kam und sich dicht neben sie setzte, um sie zu trösten, sagte sie: »Amy, du bist ein Engel!«

»Aber ich will dir etwas sagen, liebe Kleine«, sagte Fanny, als die Sanftmut ihrer Schwester sie etwas beruhigt hatte, »es ist jetzt an einem Punkt angekommen, daß es nicht mehr so fortgehen kann und soll, wie es im Augenblick geht, und daß auf die eine oder andere Art ein Ende gemacht werden muß.«

Da die Erklärung unbestimmt, obgleich sehr peremtorisch war, gab Klein-Dorrit zur Antwort: »Laß uns näher von der Sache sprechen.«

»Ganz recht, meine Liebe«, stimmte Fanny zu, während sie ihre Augen trocknete. »Laß uns von der Sache sprechen. Ich bin jetzt wieder vernünftig, und du sollst mir deinen Rat geben. Willst du mir deinen Rat geben, mein süßes Kind?«

Selbst Amy lächelte über diese Idee, sagte jedoch: »Ich will es, Fanny, so gut ich kann.«

»Dank dir, liebste Amy«, versetzte Fanny, indem sie sie küßte. »Du bist mein Anker.«

Nachdem sie ihren Anker mit großer Liebe geküßt, nahm Fanny einen Flacon mit feinem Parfüm vom Tisch und rief ihrem Mädchen, daß sie ihr ein feines Taschentuch bringe. Dann entließ sie die Dienerin für diese Nacht und machte sich bereit, sich Rats zu holen, indem sie von Zeit zu Zeit sich die Augen und Stirn mit dem Tuche betupfte, um sich zu kühlen.

»Meine Liebe«, begann Fanny, »unsre Charaktere und Ansichten sind sehr verschiedener Art (küsse mich wieder, mein Liebling), um es sehr wahrscheinlich zu machen, daß dich das, was ich zu sagen im Begriff bin, überraschen werde. Was ich sagen will, meine Liebe, ist, daß wir, trotz unseres großen Vermögens, sozial nicht die richtige Stellung einnehmen. Du wirst nicht verstehen, was ich meine, Amy?«

»Ich glaube doch, daß ich dich verstehen werde, wenn du noch ein paar Worte mehr sagst«, versetzte Amy mild.

»Gut, mein Liebe, was ich meine, ist dies, daß wir im ganzen Neulinge im fashionablen Leben sind.«

»Ich bin überzeugt, Fanny«, warf Klein-Dorrit in ihrem Eifer zu bewundern ein, »niemand wird dies an dir entdecken.«

»Gut, mein liebes Kind, vielleicht nicht«, sagte Fanny, »obgleich es recht freundlich und liebevoll von dir ist, du kostbares Mädchen, das zu sagen.« Hier tupfte sie die Stirn ihrer Schwester und blies ein wenig darauf. »Aber du bist, wie jedermann weiß, das liebste kleine Ding, das jemals existiert! Um jedoch wieder auf das frühere zu kommen, mein Kind. Papa ist außerordentlich vornehm in seinem Wesen und sehr gut unterrichtet; aber er ist in einigen Kleinigkeiten etwas verschieden von andern Gentlemen in seinen Vermögensumständen: teils infolgedessen, was er durchgemacht, der arme liebe Mann; teils, glaube ich, weil es ihm oft einfällt, daß andere Leute daran denken, während er mit ihnen spricht. Der Dünkel, meine Liebe, ist ganz unpräsentabel. Obgleich ein lieber Mann, dem ich sehr zugetan bin, ist er doch sozial höchst anstößig. Edward ist furchtbar verschwenderisch und liederlich. Ich sage damit nicht, daß etwas Ungentiles dabei sei – weit entfernt –, aber ich meine, daß er nichts geschickt angreift und daß er, wenn ich mich so ausdrücken darf, für den Ruf der Liederlichkeit, in den er sich setzt, nicht genug bekommt.«

»Der arme Edward!« seufzte Klein-Dorrit, und die ganze Geschichte der Familie lag in diesem Seufzer.

»Ja. Und auch du Arme und ich Arme«, versetzte Fanny ziemlich scharf. »Sehr wahr. Ferner, meine Liebe, haben wir keine Mutter, nur eine Mrs. General. Und ich sage dir noch einmal, mein Liebling, diese Mrs. General, wenn ich ein gewöhnliches Sprichwort umkehren und auf sie anwenden darf, ist eine Katze in Handschuhen, die Mäuse fangen wird. Diese Frau, davon bin ich fest überzeugt, wird unsere Stiefmutter werden.«

»Ich kann mir kaum denken, Fanny«, – Fanny unterbrach sie.

»Widersprich mir nicht, Amy«, sagte sie, »weil ich es besser weiß.« Da sie fühlte, daß sie wieder etwas scharf gewesen, tupfte sie ihrer Schwester Stirn und blies darauf. »Um jedoch wieder auf die Sache zu kommen, meine Liebe. Es entsteht jetzt für mich die Frage (aber ich bin stolz und lebhaft, Amy, wie du wohl weißt, vielleicht zu sehr), ob ich mich entschließen und es auf mich nehmen soll, der Familie durchzuhelfen.«

»Wie?« fragte Amy ängstlich.

»Ich will mich nicht von Mrs. General bestiefmuttern lassen«, sagte Fanny, ohne die Frage zu beantworten, »und ich will mich, auch in keiner Weise von Mrs. Merdle patronisieren und quälen lassen.«

Klein-Dorrit legte ihre Hand auf die Hand, die das Parfümfläschchen hielt, und sah dabei noch ängstlicher aus. Fanny, die ihre eigene Stirn mit dem heftigen Tupfen, das sie nun begann, eigentlich mehr strafte, fuhr etwas heftig fort:

»Daß er auf die eine oder andere Art – das Wie ist gleichgültig –- eine sehr gute Stellung bekommen hat, kann niemand leugnen. Daß er eine gute Partie ist, kann ebenfalls niemand leugnen. Und was die Frage betrifft, ob er gescheit oder nicht gescheit, so zweifle ich sehr, ob ein gescheiter Mann für mich taugte. Ich kann mal nicht nachgeben. Ich wäre nicht imstande, mich ihm genügend unterzuordnen.«

»Ah, meine liebe Fanny!« rief Klein-Dorrit, die eine Art von Schrecken erfaßt hatte, als sie begriff, was ihre Schwester meinte. »Wenn du jemanden liebtest, würden alle diese Gefühle sich ändern. Wenn du jemanden liebtest, würdest du nicht mehr du selbst sein, sondern dich ganz in der Hingabe an ihn aufgeben und verlieren. Wenn du ihn liebtest, Fanny«, – Fanny hatte mit Tupfen aufgehört und sah sie fest an.

«Oh, wirklich!« rief Fanny. »Wirklich? Der Tausend, wieviel gewisse Leute über gewisse Dinge wissen. Man sagte, jedermann habe einen Lieblingsgegenstand, und ich scheine wirklich den deinen berührt zu haben, Amy. Ich habe nur gescherzt, du kleines Ding«, sagte sie und betupfte dabei die Stirn ihrer Schwester; »aber sei kein albernes Kätzchen, und sprich nicht leichtsinnig und beredt von entarteten Unmöglichkeiten. So! Nun will ich aber wieder auf meine Sache zurückkommen.«

»Liebe Fanny, laß mich dir zuerst sagen, daß es mir weit lieber wäre, wenn wir für ein dürftiges Auskommen arbeiteten, als daß ich dich reich und mit Mr. Sparkler verheiratet sehen sollte.«

»Ich soll dich sagen lassen, meine Liebe?« versetzte Fanny. »Nun, ganz natürlich werde ich dich alles sagen lassen. Du brauchst dir hoffentlich keinen Zwang anzutun. Wir sind beieinander, um uns offen auszusprechen. Und was das Heiraten mit Mr. Sparkler betrifft, so habe ich nicht die geringste Absicht, es heute nacht, meine Liebe, oder morgen früh zu tun.«

»Aber irgendeinmal?«

»Niemals, soviel ich für jetzt weiß«, antwortete Fanny gleichgültig. Dann plötzlich aus ihrer Gleichgültigkeit in glühende Unruhe übergehend, fügte sie hinzu: »Du sprichst von gescheiten Männern, du kleines Ding. Es ist ganz hübsch und leicht, von gescheiten Männern zu sprechen: aber wo sind sie? Ich sehe sie nirgend in meiner Nähe!«

»Meine liebe Fanny, in der kurzen Zeit« –

»Kurze Zeit oder lange Zeit«, unterbrach Fanny, »ich bin unsrer Stellung überdrüssig, unsre Stellung ist mir zuwider, und wenig wäre nötig, um mich zu bewegen, sie zu verändern. Andre Mädchen, die anders erzogen und in andern Verhältnissen sind, würden sich vielleicht über das wundern, was ich sage oder tue. Meinetwegen, ihr Leben und ihr Charakter weist ihnen die Richtschnur an; mir weist sie mein Leben und mein Charakter an.«

»Fanny, meine liebe Fanny, du weißt, daß du Eigenschaften besitzest, die dich zur Gattin eines Mr. Sparkler weit überlegenen Mannes befähigen.«

»Amy, meine liebe Amy«, versetzte Fanny, ihre Worte parodierend, »ich weiß, daß ich eine entschiedenere, bestimmtere Stellung in der Gesellschaft einnehmen möchte, durch die ich mich mit größerem Nachdruck gegen diese insolente Frau behaupten könnte,«

»Würdest du dann – vergib mir die Frage, Fanny – ihren Sohn heiraten?«

»Nun, vielleicht«, sagte Fanny mit triumphierendem Lächeln. »Es kann viel weniger versprechende Wege geben, zu seinem Ziele zu kommen als diese, meine Liebe. Diese insolente Person denkt jetzt vielleicht, daß es ein großer Erfolg ihrer Taktik wäre, wenn sie ihren Sohn an mich losschlüge und mich losschälte. Aber es fällt ihr vielleicht wenig ein, wie ich’s ihr vergelten würde, wenn ich ihren Sohn heiratete. Ich würde ihr in allem opponieren und ihr den Rang streitig machen. Ich würde mir dies als Lebensaufgabe stellen.«

Fanny setzte das Riechfläschchen nieder, als sie soweit gekommen war, und ging im Zimmer auf und ab: sie blieb jedoch immer stehen, sobald sie sprach.

»Eines, mein Kind, könnte ich sicher tun: ich könnte sie älter machen, und ich würde es auch tun!«

Sie ging wieder auf und nieder.

»Ich würde von ihr als von einer alten Frau sprechen. Ich würde tun, als wüßt‘ ich – wenn ich’s auch nicht wüßte, aber ich wüßt‘ es von ihrem Sohne –, wie alt sie sei. Und sie sollte mich sagen hören, liebevoll, ganz wie es mir gebührt, und voll Hingebung, wie gut sie aussehe, wenn man ihr Alter in Anschlag bringe. Ich könnte sie älter aussehen machen, sofern ich weit jünger neben ihr wäre. Ich bin vielleicht nicht so hübsch wie sie, ich bin keine Autorität in dieser Beziehung, wie ich glaube: aber ich weiß, ich bin hübsch genug, um ihr ein Dorn im Auge zu sein. Und ich wäre es auch wirklich.«

»Aber, meine liebe Schwester, möchtest du dich auf solche Weise zu einem unglücklichen Leben verurteilen?«

»Das wäre ja kein unglückliches Leben für mich, Amy. Das wäre das Leben, wie ich’s brauche. Sei es nun, daß meine Disposition oder meine Umstände mich darauf hinweisen, das gilt gleich: ich brauche mal ein solches Leben mehr als ein anderes.«

Es klang eine gewisse Verzweiflung aus diesen Worten heraus, aber mit einem kurzen stolzen Lachen begann sie aufs neue im Zimmer auf und ab zu gehen, und nachdem sie vor einem großen Spiegel vorübergekommen, begann sie abermals stehenzubleiben. »Figur! Figur, Amy! Wohl, die Frau hat eine hübsche Figur. Ich will ihr geben, was ihr gebührt, und leugne es nicht. Aber ist sie darin allen andern so sehr überlegen, daß sie geradezu unnahbar wird? Auf mein Wort, ich bin davon nicht so sehr überzeugt. Gib einer viel jüngern Frau, wenn sie verheiratet ist, die Erlaubnis, sich so zu kleiden, wie sie, wir wollen sehen, wie es dann steht, meine Liebe!«

Es lag etwas in diesem Gedanken, das ihr angenehm war und schmeichelte, wodurch sie in bessere Stimmung kam und sich wieder setzte. Sie nahm ihrer Schwester Hände in die ihren, klatschte mit allen vier Händen über ihrem Kopfe, während sie Amy lachend ins Gesicht sah, und sagte:

»Und die Tänzerin, Amy, die sie ganz vergessen hat – die Tänzerin, die auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir hatte, und an die ich sie auch nie erinnere, o Liebe, nein! –, sollte durch ihr Leben tanzen und ihr im Wege herumtanzen nach einer Melodie, die ihre anmaßende Ruhe ein wenig aufrütteln würde. Ein ganz klein wenig, meine liebe Amy, nur ein ganz klein wenig!«

Da sie dem ernsten und bittenden Blicke Amys begegnete, brachte sie die vier Hände herunter und legte nur eine auf Amys Mund.

»Widersprich mir nicht, Kind«, sagte sie in ernsterem Ton, »weil es doch nichts nützt. Ich verstehe diese Sachen weit besser als du. Ich bin noch durchaus nicht entschlossen, aber es wird schon kommen. Wir haben nun die Sache ruhig miteinander besprochen und können zu Bett gehen. Du allerbestes und liebstes kleines Mäuschen, gute Nacht!« Mit diesen Worten lichtete Fanny ihren Anker und ließ – nachdem sie sich so viel Rats geholt – des Ratholens für diesmal genug sein.

Von dieser Zeit an beobachtete Amy die Behandlung, die Mr. Sparkler von seinem Unterdrücker zuteil wurde, mit neuen Gründen, allem, was zwischen ihnen vorging, Bedeutung beizulegen. Es gab Zeiten, wo Fanny durchaus nicht imstande zu sein schien, seine geistige Schwäche zu ertragen, und wo sie so ärgerlich und ungeduldig darüber wurde, daß sie gar nicht übel Lust hatte, ihm den Abschied zu geben. Zu andern Zeiten kam sie besser mit ihm zurecht, wo er sie amüsierte und das Bewußtsein der Überlegenheit diese andere Wagschale in der Schwebe zu erhalten schien.

Wenn Mr. Sparkler nicht der getreueste und gehorsamste Liebhaber gewesen wäre, so hätte die Härte, mit der er behandelt wurde, ihn wohl dazu bringen können, den Schauplatz seiner Leiden zu fliehen und mindestens die ganze Entfernung von Rom nach London zwischen sich und die Zauberin zu bringen. Aber er hatte keinen größeren Eigenwillen denn ein Boot, das von einem Dampfschiff ins Schlepptau genommen ist, und er folgte seiner grausamen Gebieterin, von gleich starker Macht in Bewegung gesetzt, durch dick und dünn. Mrs. Merdle sprach während dieser Zeit wenig mit Fanny, aber desto mehr von ihr. Sie war wie gezwungen, sie durch ihre Lorgnette anzusehen und in der allgemeinen Unterhaltung sich Lobeserhebungen über ihre Schönheit und die Unwiderstehlichkeit derselben abringen zu lassen. Der herausfordernde Charakter, den Fanny annahm, wenn sie diese Lobsprüche hörte (wie dies gewöhnlich geschah), zeugte nicht von Konzessionen, die sie dem unparteiischen Busen machte: aber die größte Rache, die der Busen nahm, war, recht vernehmlich zu sagen: »Eine verwöhnte Schönheit – aber bei diesem Gesicht und dieser Gestalt, kann man sich darüber wundern?«

Es mochte ungefähr einen Monat oder sechs Wochen nach dem Abend sein, an dem man sich Rats geholt, als Klein-Dorrit ein neues Einverständnis zwischen Mr. Sparkler und Fanny zu entdecken schien. Wie wenn ein Vertrag stipuliert worden, sprach Mr. Sparkler kaum je, ohne erst Fanny zuvor um Erlaubnis angesehen zu haben. Diese junge Dame war zu diskret, um ihn je wieder anzusehen: hatte Mr. Sparkler jedoch Erlaubnis zu sprechen, so schwieg sie: hatte er diese nicht, so sprach sie selbst. Außerdem ward es in die Augen springend, daß sooft Henry Gowan ihm den Freundschaftsdienst erweisen wollte, ihn bloßzustellen, er nicht bloßzustellen war. Und nicht allein das, sondern er pflegte auch stets ohne die mindeste nachweisbare Beziehung in der Welt etwas zu sagen, was einen solchen Stachel in sich hatte, daß Gowan augenblicklich sich zurückzog, als wenn er seine Hand in einen Bienenkorb gesteckt hätte.

Noch ein andrer Umstand bestärkte Klein-Dorrit nachdrücklich in ihren Besorgnissen, obgleich die Sache an und für sich unbedeutend war. Mr. Sparklers Benehmen gegen sie wurde anders. Es wurde brüderlich. Bisweilen, wenn sie in den äußersten Kreisen der Gesellschaft war – sei es nun im eigenen Hause, bei Mrs. Merdle oder sonstwo –, sah sie sich unversehens von Mr. Sparklers Arm umschlungen. Mr. Sparkler gab nie die geringste Erklärung über diese Aufmerksamkeit, sondern lächelte nur mit der Miene eines läppischen, zufriedenen, gutmütigen Menschen, der Eigentumsrechte geltend macht, was bei einem so schwerfälligen Menschen ominös ausdrucksvoll war.

Klein-Dorrit war eines Tages zu Hause und dachte mit schwerem Herzen an Fanny. Sie hatten ein Zimmer an dem einen Ende ihrer Reihe von Salons, das fast ganz aus einem über die Straße hervorragenden Erker bestand und das malerische Leben und Treiben des Korso hinauf und hinunter beherrschte. Um drei oder vier Uhr nachmittags, nach englischer Zeitrechnung, war die Aussicht von diesem Fenster sehr hübsch und eigentümlich: und Klein-Dorrit saß gewöhnlich in sinnendes Träumen versunken hier, wie sie in Venedig auf ihrem Balkon die Zeit zu verscheuchen gewöhnt gewesen war. Als sie eines Tages so dasaß, wurde sie sanft auf der Schulter berührt, und Fanny sagte: »Nun, meine liebe Amy«, und nahm neben ihr Platz. Ihr Sitz war ein Teil des Fensters; wenn eine Prozession oder eine derartige Feierlichkeit war, so pflegten sie bunte Teppiche aus diesem Fenster hinauszuhängen und knieten oder saßen auf einem Sitz und schauten über die glänzende Farbenpracht hinaus. An jenem Tage war jedoch keine Prozession, und Klein-Dorrit staunte einigermaßen darüber, daß Fanny zu dieser Stunde zu Hause war, während sie sonst gewöhnlich um diese Zeit ausritt.

»Nun, Amy«, sagte Fanny, »woran denkst du, kleines Geschöpf?«

»Ich dachte an dich, Fanny.«

»Wirklich? Welch ein Zusammentreffen. Hier ist noch jemand, muß ich dir sagen. Du hast doch nicht auch an diesen jemand gedacht; hm, Amy?«

Amy hatte wirklich auch an diesen Jemand gedacht: denn es war Mr. Sparkler. Sie sagte es jedoch nicht, als sie ihm die Hand gab. Mr. Sparkler kam herbei und setzte sich auf die andre Seite von ihr, und sie fühlte den brüderlichen Arm hinter sich herkommen, der offenbar auch Fanny einzuschließen im Begriff war.

»Nun, meine kleine Schwester«, sagte Fanny mit einem Seufzer, »ich denke, du weißt, was das bedeutet?«

»Sie ist so schön, wie sie feurig angebetet wird«, stammelte Mr. Sparkler, »und es ist kein Unsinn an ihr – es ist alles in Ordnung.«

»Du brauchst das nicht auseinanderzusetzen, Edmund«, sagte Fanny.

»Nein, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Kurz, mein Kind«, fuhr Fanny fort, »um es gleich heraus zu sagen, wir sind verlobt. Wir müssen heute abend oder morgen mit Papa davon sprechen, wie sich die Gelegenheit bietet. Dann ist die Sache abgemacht, und wir brauchen wenig Worte mehr darüber zu verlieren.«

»Meine liebe Fanny«, sagte Mr. Sparkler mit ehererbietigem Wesen, »ich möchte Amy ein Wort sagen.«

»Nun! nun! sage es meinetwegen«, versetzte die junge Dame.

»Ich bin überzeugt, meine liebe Amy«, sagte Mr. Sparkler, »wenn je ein Mädchen existiert, außer unsrer hochbegabten und schönen Schwester, die keinen Unsinn an sich hat –«

»Wir wissen das alle wohl, Edmund«, warf Miß Fanny ein. »Sprich nicht davon. Bitte, sprich von etwas anderem als davon, daß wir keinen Unsinn an uns haben.«

»Ja, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler. »Und ich versichere Ihnen, Amy, daß nichts ein größeres Glück für mich, für mich sein kann – nächst dem Glück, durch die Wahl eines so herrlichen Mädchens geehrt zu sein, das nicht ein Atom von –«

»Bitte, Edmund, bitte«, unterbrach ihn Fanny, mit einem leichten Aufstampfen ihres hübschen Fußes auf den Boden. »Meine Liebe, du hast ganz recht«, sagte Mr. Sparkler, »und ich weiß, es ist meine Gewohnheit. Was ich Ihnen erklären wollte,, war, daß nichts ein größeres Glück für mich sein kann, mich sein kann – nächst dem Glück der Verbindung mit dem ausgezeichnetsten und herrlichsten Mädchen –, als das Glück zu haben, die aufrichtige Freundschaft Amys mir zu gewinnen und erhalten zu suchen. Ich bin vielleicht«, sagte Mr. Sparkler mit männlicher Offenheit, »über manche Dinge nicht immer ganz im reinen und aufgeklärt, und ich bin überzeugt, daß, wenn Sie die Gesellschaft um ihre Meinung befragen, diese ziemlich einstimmig sagen wird, ich sei es nicht, aber in Beziehung auf Amy bin ich im reinen!«

Mr. Sparkler küßte sie zum Zeugnis dessen.

»Ein Messer, eine Gabel und ein Zimmer wird immer Amy zu Gebote stehen«, fuhr Mr. Sparkler fort, der im Vergleich mit seinen Redeantezedenzien ganz weitschweifig wurde. »Mein Erzieher wird, das bin ich überzeugt, immer stolz sein, jemanden zu empfangen, den ich so hoch achte. Und rücksichtlich meiner Mutter«, sagte Mr. Sparkler, »welche eine merkwürdig schöne Frau ist –«

»Edmund, Edmund!« rief Fanny wie zuvor.

»Mit deiner Erlaubnis, meine Seele«, entschuldigte sich Mr. Sparkler. »Ich weiß, ich habe die Gewohnheit, und ich bin dir sehr dankbar, mein anbetungswürdiges Mädchen, daß du dir die Mühe nimmst, mich zurechtzuweisen; aber meine Mutter ist, nach der allgemeinen Stimme, eine merkwürdig schöne Frau und hat wirklich keinen Unsinn an sich.«

»Das mag sein oder nicht«, versetzte Fanny, »aber ich bitte, sprich nicht wieder davon.«

»Es soll nicht mehr geschehen, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Dann hast du wirklich nichts mehr zu sagen, Edmund, nicht wahr«, fragte Fanny.

»So wenig, mein anbetungswürdiges Mädchen«, antwortete Mr. Sparkler, »daß ich mich entschuldige, so viel gesagt zu haben.«

Mr. Sparkler bemerkte durch eine Art Inspiration, daß die Frage die weitere enthielt, ob es nicht besser wäre, wenn er ginge? Er zog daher den brüderlichen Arm zurück und sagte hübsch, daß er mit ihrer Erlaubnis Abschied nehmen wolle. Er ging, nicht ohne Amys Glückwunsch zu empfangen, so gut sie dies in ihrer Aufregung und Betrübnis zu tun imstande war.

Als er fort war, sagte sie: »O Fanny, Fanny!« und drehte sich in dem hellen Fenster nach ihrer Schwester um und sank ihr an die Brust und weinte dort. Fanny lachte anfangs; aber bald lag ihr Gesicht an dem ihrer Schwester, und nun weinte auch sie – ein wenig. Es war das letztemal, daß Fanny zeigte, daß ein verborgenes, unterdrücktes oder überwundenes Gefühl in dieser Richtung in ihr lebte. Von dieser Stunde an lag der Weg, den sie gewählt, vor ihr, und sie ging ihn mit ihrem herrischen, eigenwilligen Schritt.

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Keine gegründete Ursache und kein Hindernis, warum diese beiden Personen nicht getraut werden sollen.

Als Mr. Dorrit durch seine ältere Tochter angezeigt wurde, daß sie einen Heiratsantrag von Mr. Sparkler erhalten, mit dem sie sich verlobt habe, nahm er diese Mitteilung zu gleicher Zeit mit großer Würde und mit pomphafter Entfaltung seines väterlichen Stolzes auf: denn seine Würde vergrößerte sich durch die erweiterte Aussicht auf ein vorteilhaftes Terrain, von dem aus man leicht Bekanntschaften machen konnte, und sein väterlicher Stolz entwickelte sich durch Miß Fannys bereitwillige Sympathie mit seinem großen Lebenszweck. Er gab ihr zu verstehen, daß ihr edler Ehrgeiz harmonische Echos in seinem Herzen finde, und gab ihr seinen Segen, als einem Kinde voll Pflichtgefühl und guter Grundsätze, das sich der Vergrößerung des Familiennamens opfere.

Zu Mr. Sparkler, als Fanny ihm die Erlaubnis zu erscheinen gab, sagte Mr. Dorrit, er wolle nicht verhehlen, daß die Verbindung, die Mr. Sparkler ihm vorzuschlagen so freundlich sei, ganz mit seinen Gefühlen harmoniere, da sie sowohl mit den Herzensneigungen seiner Tochter Fanny im Einklang stehe, als auch eine Familienverbindung der freundlichsten Art mit Mr. Merdle, dem ersten Geist des Zeitalters, anknüpfe. Auch Mrs. Merdles, als einer tonangebenden, durch Eleganz, Grazie und Schönheit gleich ausgezeichneten Dame, erwähnte er in sehr rühmenden Ausdrücken. Er halte es jedoch für seine Pflicht zu bemerken (er sei überzeugt, ein Mann von Mr. Sparklers feinem Geist würde seine Worte richtig beurteilen), daß er diesen Antrag nicht als eine abgemachte Sache betrachten könne, bis er erlaubt habe, sich mit Mr. Merdle in Korrespondenz zu setzen, und sich versichert hätte, die Sache stimme soweit mit den Plänen dieses großen Mannes überein, daß seine (Mr. Dorrits) Tochter, in dem, was er, ohne den Schein der Dienerei auf sich zu laden, das Auge der großen Welt nennen dürfe, eine Stellung erhalte, wie ihr Stand, ihre Mitgift und ihre Aussichten ihn für sie zu fordern berechtigten. Während er dies sage, was sein Charakter als Mann von einiger Stellung und sein Charakter als Vater in gleicher Weise von ihm forderten, wolle er nicht so diplomatisch sein, zu verbergen, daß der Vorschlag vorderhand in hoffnungsvoller Unentschiedenheit bleibe und bloß bedingt angenommen sei, und daß er Mr. Sparkler für das Kompliment, das er ihm und seiner Familie gemacht habe, danke. Er schloß mit einigen weiteren und noch allgemeineren Bemerkungen über den – ha – Charakter eines unabhängigen Mannes und den – hm – Charakter eines möglicherweise zu parteiischen und von Bewunderung erfüllten Vaters. Alles in allem nahm er Mr. Sparklers Antrag ungefähr gerade so entgegen, wie er drei bis vier halbe Kronen in vergangenen Zeiten von ihm angenommen hätte. Mr. Sparkler, der sich durch die auf sein harmloses Haupt gehäuften Worte ganz betäubt fühlte, gab eine kurze, aber passende Antwort, die nicht weniger noch mehr besagen wollte, als daß er schon lange bemerkt, Miß Fanny habe keinen Unsinn an sich, und nicht zweifle, daß es seinem Erzieher genehm sein werde. Als er so weit gekommen, schloß ihn der Gegenstand seiner Neigung wie eine Büchse mit einer Springfeder zu und schickte ihn fort.

Als Mr. Dorrit kurz darauf dem Busen seinen Besuch abstattete, wurde er mit großer Achtung empfangen. Mrs. Merdle hatte durch Edmund von der Sache gehört. Sie sei anfangs sehr erstaunt gewesen, da sie nicht gedacht hätte, daß Edmund heiraten würde. Die Gesellschaft habe gedacht, Edmund würde nicht heiraten, und doch habe sie natürlich als Frau gesehen (wir Frauen sehen instinktmäßig dergleichen Sachen, Mr. Dorrit!), daß Edmund außerordentlich von Miß Dorrit eingenommen sei, und sie habe offen ausgesprochen, Mr. Dorrit treffe eine große Verantwortung, daß er ein so reizendes Mädchen ins Ausland gebracht habe, das seinen Landsleuten die Köpfe verdrehe.

»Darf ich also zu schließen wagen, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »daß die Richtung, die die Neigung von Mr. Sparkler genommen, von – ha – Ihnen gebilligt wird?«

»Ich versichere Ihnen, Mr. Dorrit«, versetzte die Dame, »daß es mir persönlich angenehm ist.«

Das sei für Mr. Dorrit sehr erfreulich.

»Persönlich«, wiederholte Mrs. Merdle, »angenehm.«

Diese zufällige Wiederholung des Wortes »persönlich« veranlaßte Mr. Dorrit, die Hoffnung auszudrücken, daß Mr. Merdles Zustimmung nicht ausbleiben werde.

»Ich kann es nicht auf mich nehmen«, sagte Mrs. Merdle, »positiv für Mr. Merdle zu antworten; Männer, namentlich Männer, die die Gesellschaft Kapitalisten nennt, haben ihre eignen Ideen über diese Sachen. Aber ich sollte denken – doch ist es nur eine Meinung, Mr. Dorrit –, ich sollte denken, daß es Mr. Merdle im ganzen« – hier hielt sie eine Rundschau über sich, ehe sie behaglich hinzufügte – »sehr angenehm sein werde.«

Bei der Erwähnung von Männern, die die Gesellschaft Kapitalisten nennt, hatte Mr. Dorrit gehustet, als ob er einen inneren Protest nicht unterdrücken könnte. Mrs. Merdle hatte es bemerkt und fuhr fort, um diesen Wink aufzunehmen.

»Obwohl es freilich, Mr. Dorrit, kaum nötig ist, diese Bemerkung zu machen; ich wollte nur die größte Offenheit gegen einen Mann an den Tag legen, den ich so hoch schätze und mit dem ich in noch angenehmere Verbindung zu kommen das Vergnügen zu haben hoffe. Denn es läßt sich mit der größten Wahrscheinlichkeit voraussetzen, daß Sie diese Sachen von Mr. Merdles eigenem Gesichtspunkte aus betrachten, wenn die Umstände nicht etwa es für Mr. Merdle glücklicher- oder unglücklicherweise so gestalten, daß er ganz in Geschäften steckt und, wie groß diese auch sein mögen, sein Horizont dadurch sich etwas verengt hat. Ich bin ein wahres Kind in Beziehung auf Geschäfte«, sagte Mrs. Merdle, »aber ich fürchte, das könnte der Fall sein.«

Dieses gewandte Hin- und Herwägen von Mr. Dorrit und Mr. Merdle, daß jeder den andern in die Höhe schnellte und jeder den andern herabzog und keiner im Vorteil blieb, wirkte beruhigend auf Mr. Dorrits Husten. Er bemerkte mit der größten Höflichkeit, er müsse bitten, daß die vollendete und anmutige Mrs. Merdle (sie verbeugte sich bei diesem Kompliment) sich der Ansicht entschlage, als wenn solche Unternehmungen wie die von Mr. Merdle, die ganz anderer Art als die jämmerlichen Unternehmungen der übrigen Menschen, irgendeine geringere Wirkung hätten, als den Geist, in dem sie empfangen worden, zu erweitern und vergrößern. »Sie sind die Großherzigkeit selbst«, erwiderte Mrs. Merdle mit ihrem anmutigsten Lächeln, »wir wollen uns dieser Hoffnung hingeben. Aber ich gestehe, daß ich in meinen Ansichten von Geschäften beinahe abergläubisch bin.«

Mr. Dorrit warf hier ein anderes Kompliment ein, das besagen wollte, Geschäfte, gerade wie die Zeit, die dabei so kostbar, seien für Sklaven gemacht; daß sie deshalb nichts für Mrs. Merdle taugen, die alle Herzen nach ihrem Gefallen regiere. Mrs. Merdle lachte und brachte Mr. Dorrit die Idee von dem Erröten des Busens bei – einem ihrer besten Effekte.

»Ich sagte dies bloß«, erklärte sie dann, »weil Mr. Merdle immer das größte Interesse an Edmund nahm und stets den lebhaftesten Wunsch an den Tag legte, seiner Zukunft förderlich zu sein. Edmunds öffentliche Stellung, denke ich, kennen Sie. Seine Privatstellung ruht ganz in Mr. Merdles Händen. In meiner kindischen Unfähigkeit für alles, was Geschäft heißt, versichere ich Sie, daß ich nichts weiter weiß.«

Mr. Dorrit drückte aufs neue in seiner Weise die Überzeugung aus, daß Geschäftssachen außerhalb des Gesichtskreises von Zauberinnen, die alles zu Sklaven machen, liegen. Er erwähnte dann seine Absicht, als Gentleman und Vater an Mr. Merdle zu schreiben. Mrs. Merdle war von ganzem Herzen – oder mit all ihrer Kunst, was genau dasselbe war – einverstanden und schickte selbst mit umgehender Post einen vorbereitenden Brief an das achte Wunder der Welt.

In seiner brieflichen Mitteilung wie in seinen Gesprächen und Abhandlungen über die große Frage, um die es sich handelte, umgab Mr. Dorrit die Sache mit Floskeln aller Art, wie Schreibkünstler die Schreib- und Rechenbücher mit Arabesken verschönern, wodurch die Titel der Elementarregeln der Arithmetik in Schwäne, Adler, Greife und andere kalligraphische Unterhaltungen auseinanderlaufen und die Anfangsbuchstaben in Extasen von Feder und Tinte Leib und Seele verleugnen. Nichtsdestoweniger machte er den Gegenstand seines Briefes hinlänglich klar, um Mr. Merdle in den Stand zu setzen, sagen zu können, daß er die Sache aus dieser Quelle erfahren habe. Mr. Merdle antwortete Mr. Dorrit demgemäß; Mr. Dorrit antwortete Mr. Merdle; Mr. Merdle antwortete Mr. Dorrit, und bald verlautete, daß die korrespondierenden Mächte zu einem befriedigenden Einverständnis gediehen seien.

Nun erst und nicht früher trat Miß Fanny, vollständig für ihre neue Rolle kostümiert, auf die Szene. Nun und nicht früher saugte sie Mr. Sparkler ganz in ihrem Lichte auf und leuchtete für beide und noch zwanzig mehr. Nicht länger den Mangel eines bestimmten Platzes und Charakters vermissend, was ihr so vielen Kummer verursacht, begann dieses schöne Schiff in einer festen Richtung zu steuern und mit einem Tiefgang und einem Gleichgewicht, die ihre hohen Seglereigenschaften entfalteten.

»Nachdem die Präliminarien zur Zufriedenheit arrangiert sind, so denke ich, mein liebes Kind«, sagte Mr. Dorrit, »will ich – ha – formell Mrs. General …«

»Papa«, versetzte Fanny, indem sie ihm bei diesem Namen rasch ins Wort fiel, »ich sehe nicht ein, was Mrs. General damit zu tun haben sollte.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Dorrit, »es ist ein Akt der Höflichkeit gegen – hm – eine feingebildete und noble Dame –«

»Oh! ich habe Mrs. Generals feine Bildung und Noblesse satt, Papa«, sagte Fanny, »ich bin Mrs. Generals müde.«

»Müde«, wiederholte Mr. Dorrit mit vorwurfsvollem Erstaunen, »Mrs. Generals müde!«

»Ganz übersatt, Papa«, sagte Fanny, »ich weiß wirklich nicht, was sie mit meiner Heirat zu tun hat. Lasse sie sich mit ihren eigenen Heiratsprojekten beschäftigen – wenn sie welche hat.«

»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit mit ernster und schwerfälliger Langsamkeit des Begreifens, die stark mit der Leichtfertigkeit seiner Tochter kontrastierte, »ich bitte, mir gefälligst erklären zu wollen – ha –, was du meinst.«

»Ich meine, Papa«, sagte Fanny, »daß, wenn Mrs. General zufällig selbst Heiratsprojekte haben sollte, diese meiner Ansicht nach ihre freie Zeit in Anspruch zu nehmen imstande sein werden. Wenn sie keine solchen hat, um so besser: aber ich wünsche doch nicht die Ehre zu haben, ihr besondere Mitteilung zu machen.«

»Erlaube mir zu fragen, Fanny«, sagte Mr. Dorrit, »weshalb nicht?«

»Weil sie selbst hinter meine Verlobung kommen kann, Papa«, versetzte Fanny. »Sie ist meiner Ansicht nach wachsam genug. Ich glaube das an ihr beobachtet zu haben. Kommt sie nicht selbst dahinter, so wird sie’s merken, wenn ich verheiratet bin. Und ich hoffe, Sie werden mich deshalb nicht der Liebe gegen Sie zu ermangeln glauben, wenn ich sage, es scheint mir immer noch Zeit genug für Mrs. General zu sein.«

»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit, »ich bin erstaunt, ich bin höchst ungehalten über diese – hm – launenhafte und unbegreifliche Gehässigkeit, die du gegen – ha – Mrs. General an den Tag legst.«

Bei diesen Worten erhob er sich mit einem festen Blick voll strengen Vorwurfs von seinem Stuhl und blieb in seiner Würde vor seiner Tochter stehen. Seine Tochter drehte das Bracelet an ihrem Arm, sah ihn bald an, bald von ihm weg und sagte: »Nun gut. Ich bedaure wirklich, wenn es dir nicht gefällt: aber ich kann mal nicht anders. Ich bin kein Kind mehr und bin nicht Amy, ich muß sprechen.«

»Fanny«, sagte Mr. Dorrit halb atemlos nach majestätischem Schweigen, »wenn ich verlange, daß du hier bleibst, während ich Mrs. General, als einer ausgezeichneten Dame, die – hm – ein treues Mitglied unserer Familie ist, – die Veränderung mitteile, die unter uns beabsichtigt ist; wenn ich – ha – nicht allein dies fordere, sondern – hm – darauf bestehe –«

»O, Papa«, fiel Fanny mit bedeutungsvollem Nachdruck ein, »wenn du, wie es scheint, so großes Gewicht darauf legst, so ist es meine Pflicht, zu gehorchen. Ich hoffe jedoch, daß ich mir meine Gedanken darüber machen darf, denn ich muß mir unter so bewandten Umständen welche machen.« Fanny setzte sich darauf mit einer Ergebung, die, wenn man die Extreme betrachtete, wie Herausforderung aussah: und ihr Vater, der entweder sie keiner Antwort würdigte oder nicht wußte, was er antworten sollte, lief nach Mr. Tinkler.

»Mrs. General.«

Mr. Tinkler, der nicht gewöhnt war, so kurze Befehle zu erhalten, wenn es sich um die schöne Firnisserin handelte, blieb stehen. Mr. Dorrit aber, der das ganze Marschallgefängnis und alle Ehrengaben in diesem Stehenbleiben erblickte, fuhr augenblicklich auf ihn zu und rief: »Wie können Sie es wagen, Sir? Was wollen Sie damit?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Mr. Tinkler zu seiner Verteidigung, »ich wünschte zu wissen –«

»Sie wünschten nichts zu wissen, Herr«, rief Mr. Dorrit stark gerötet. »Sagen Sie mir das nicht. Ha! Das war nichts. Sie haben sich einen Spott erlaubt, Herr.«

»Ich versichere Sie, Sir –«, begann Mr. Tinkler.

»Versichern Sie mir nichts!« sagte Mr. Dorrit. »Ich will keine Versicherung von einem Bedienten. Sie haben sich einen Spott zuschulden kommen lassen. Sie können zum Teufel gehen –-hm – die ganze Dienerschaft kann zum Teufel gehen, auf was warten Sie noch?«

»Nur auf meinen Auftrag, Sir.«

»Das ist nicht wahr, Sie haben Ihren Auftrag. Ha – hm. Meine Empfehlung an Mrs. General, und ich lasse sie bitten, die Güte zu haben, herüberzukommen, wenn es ihr gefällig, nur auf einige Minuten. Das ist Ihr Auftrag.« Bei der Entledigung dieses Auftrags ließ Mr. Tinkler vielleicht verlauten, daß Mr. Dorrit höchst aufgebracht sei. Wie dem nun auch war, Mrs. Generals Kleider hörte man alsbald draußen mit ungewöhnlicher Eile rauschen – ja, man möchte beinahe sagen anprallen. An der Tür ließen sie sich jedoch wieder nieder und schwebten mit gewöhnlicher Kälte herein.

»Mrs. General«, sagte Mr. Dorrit, »setzen Sie sich.«

Mrs. General ließ sich mit anmutig dankender Verbeugung, die einen schönen Bogen bildete, in den Stuhl nieder, den ihr Mr. Dorrit anbot.

»Madame«, fuhr dieser fort, »da Sie die Freundlichkeit hatten, sich – hm – mit der Bildung meiner Töchter zu beschäftigen, und da ich überzeugt bin, daß nichts, was dieselben nahe angeht – ha –, Ihnen gleichgültig sein kann –«

»Ganz unmöglich«, sagte Mrs. General in ihrer ruhigsten Art.

»– so wünsche ich Ihnen mitzuteilen, Madame, daß meine anwesende Tochter –«

Mrs. General machte eine leichte Kopfverbeugung gegen Fanny. Diese machte gleichfalls eine sehr tiefe Kopfverbeugung gegen Mrs. General und richtete sich dann wieder stolz auf.

»– daß meine Tochter Fanny sich – ha – mit Mr. Sparkler verlobt hat, den Sie kennen. Sie werden von nun an der Hälfte Ihrer schwierigen – ha – schwierigen Aufgabe enthoben sein.« – Mr. Dorrit wiederholte seine Worte mit einem ärgerlichen Blick auf Fanny. »Dagegen wird, wie ich hoffe, in keinem andern Teil der Stellung, die Sie im Augenblick in meiner Familie einzunehmen die Güte haben, die geringste Änderung oder Verminderung eintreten.«

»Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, während ihre behandschuhten Hände in exemplarischer Ruhe aufeinander lagen, »ist stets ungemein rücksichtsvoll und schlägt meine freundlichen Dienste viel zu hoch an.«

(Miß Fanny hustete, als wollte sie sagen: »Sie haben recht!«)

»Miß Dorrit hat ohne Zweifel mit der größten Besonnenheit gewählt, soweit dies die Umstände gestatteten, und wird mir wohl erlauben, ihr meine aufrichtigsten Glückwünsche darzubringen. Wenn keine Fesseln der Leidenschaft uns binden«, Mrs. General schloß ihre Augen bei dem Worte, als ob sie es nicht aussprechen und dabei jemanden ansehen könnte, »wenn die nächsten Verwandten ihre Zustimmung geben und das stolze Gebäude einer Familie dadurch befestigt wird – so sind dies gewöhnlich gute Vorbedeutungen. Ich hoffe. Miß Dorrit wird mir erlauben, ihr meine besten Glückwünsche darzubringen.«

Hier hielt Mrs. General inne und fügte bei sich hinzu, um ihr Gesicht wieder in die richtigen Falten zu legen: »Papa, Potatoes, Poultry, Prunes und Prism.«

»Mr. Dorrit«, fügte sie laut hinzu, »zeigt sich sehr verbindlich gegen mich: und für die Aufmerksamkeit, ja, ich möchte sagen Auszeichnung, daß mir von ihm und Miß Dorrit so früh diese vertrauliche Mitteilung geworden ist, erlaube ich mir, meinen lebhaftesten Dank auszusprechen. Mein Dank und mein Glückwunsch gehören gleicherweise Mr. Dorrit und Miß Dorrit.«

»Mir«, bemerkte Miß Fanny, »ist dies ausnehmend erfreulich, ganz außerordentlich erfreulich. Das wohltuende Bewußtsein, daß Sie nichts gegen meine Verbindung einzuwenden haben, Mrs. General, nimmt mir wahrhaftig eine große Last vom Herzen. Ich weiß kaum, was ich getan«, sagte Fanny, »wenn Sie Einwürfe gemacht, Mrs. General.«

Mrs. General änderte die Lage ihrer Handschuhe, indem sie den rechten nach oben, den linken nach unten legte und dabei lächelte, während ihr Mund Prunes und Prism auszusprechen schien.

»Ihre Zufriedenheit mir zu erhalten, Mrs. General,« sagte Fanny mit einem Lächeln, in dem nichts von Prunes und Prism zu gewahren war, »wird natürlich das höchste Streben meines Lebens sein; sie zu verlieren, wäre natürlich das größte Unglück für mich. Ich bin jedoch überzeugt, Ihre große Freundlichkeit wird nichts dagegen haben, und ich hoffe, auch Papa wird nichts dagegen haben, wenn ich einen kleinen Irrtum, den Sie begangen, berichtige. Die besten Menschen sind so sehr dem Irrtum ausgesetzt, daß selbst Sie, Mrs. General, einen kleinen Irrtum begangen haben. Die Aufmerksamkeit und Auszeichnung, deren Sie so nachdrücklich als in diesem Vertrauen liegend erwähnten, Mrs. General, mögen allerdings äußerst schmeichelhaft und wohltuend sein; aber sie kommen nicht von mir. Das Verdienst, Sie wegen dieser Sache zu Rate gezogen zu haben, wäre so groß für mich gewesen, daß ich fühle, ich darf keinen Anspruch darauf machen, wenn ich es nicht wirklich habe. Es ist ganz und gar Papas Verdienst. Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Ermutigung und Ihr Wohlwollen, aber Papa war es, der sie heischte. Ich habe Ihnen zu danken, Mrs. General, daß Sie meine Brust von einer schweren Last befreiten, indem Sie so freundlich Ihre Zustimmung zu meiner Verbindung geben; aber Sie haben mir durchaus nicht dafür zu danken. Ich hoffe, Sie werden auch künftig, wenn ich das Vaterhaus verlassen habe, mein Tun und Treiben billigen, und meine Schwester wird der Lieblingsgegenstand Ihrer herablassenden Güte sein, Mrs. General.«

Nach dieser Anrede, die sie in ihrer höflichsten Weise vorbrachte, verließ Miß Fanny das Zimmer mit artiger und freundlicher Miene, um mit dunkelrotem Gesicht die Treppe hinaufzustürmen, sobald sie aus dem Hörkreis war, auf ihre Schwester loszufahren, sie einen kleinen Hamster zu schelten, sie zu schütteln, daß sie die Augen besser öffne, ihr zu sagen, was unten vorgegangen, und sie zu fragen, was sie jetzt von Papa dächte?

Gegen Mrs. Merdle benahm sich die junge Dame mit großer Unabhängigkeit und Selbstbeherrschung; aber noch immer, ohne entschieden die Feindseligkeiten zu eröffnen. Bisweilen hatten sie ein kleines Scharmützel, wenn Fanny sich durch diese Dame auf den Rücken geklopft glaubte, oder wenn Mrs. Merdle besonders jung und gut aussah; aber Mrs. Merdle schloß diese Waffengänge immer nach kurzer Zeit damit, daß sie mit der anmutigsten Gleichgültigkeit in ihre Kissen sank und ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtete. Die Gesellschaft (denn dieses geheimnisvolle Wesen saß auch auf den sieben Hügeln) fand, daß Miß Fanny sich durch ihre Verlobung sehr gebessert habe. Sie war zugänglicher, freier und einnehmender, weit weniger anmaßend; und dies in solchem Grade, daß sie jetzt ein ganzes Heer von Verehrern und Bewunderern um sich versammelte – zu nicht geringem Ärger der Frauen, die heiratsfähige Töchter hatten und die gewissermaßen wegen des Miß Dorritschen Kriegsfalls aus der Gesellschaft aufstanden und eine rebellische Fahne aufpflanzten. Miß Dorrit, die sich der Unruhen freute, die sie hervorrief, schritt nicht nur in eigner Person stolz durch dieselben hindurch, sondern führte selbst Mr. Sparkler prahlend durch die Massen, indem sie zu sagen schien: »Wenn ich es für passend halte, nur von diesem einen schwachen Gefangenen lieber, als von einem stärkeren in Fesseln begleitet, meinen Triumphzug zu halten, so ist das meine Sache. Genug, ich will es so!« Mr. Sparkler seinerseits fragte nichts, sondern ging, wohin man ihn führte, tat, was man ihm sagte, fühlte, daß, wenn er wegen seiner Brautwahl ausgezeichnet wurde, diese Auszeichnung zu erringen ihm wenig Mühe gekostet, und war herzlich dankbar für diese öffentliche Anerkennung.

Da der Winter seinem Ende entgegeneilte und der Frühling nahte, während diese Dinge vor sich gingen, wurde es nötig, daß Mr. Sparkler in die Heimat zurückkehrte und die ihm angewiesene Stellung für die Betätigung und Richtung seines Geistes, seiner Kenntnisse, seines Handelstalentes, seiner geistigen und körperlichen Kräfte einnehme. Das Land Shakespeares, Miltons, Bacons, Newtons, Watts, das Land eines Heeres von verstorbenen und lebenden abstrakten Philosophen, Naturphilosophen und Bezwingern der Natur und Kunst in ihren Myriaden Formen rief Mr. Sparkler, daß er komme und sich seiner annehme, da es sonst zugrunde gehen müsse. Mr. Sparkler, der nicht imstande war, den Todesschrei, der aus der Tiefe der Seele seines Landes drang, zu widerstehen, erklärte, daß er gehen müsse.

Dadurch wurde natürlich die Frage, wann, wo und wie Mr. Sparkler dem ersten Mädchen der ganzen Welt, das keinen Unsinn an sich habe, angetraut werden sollte, zu einer brennenden. Die Lösung derselben teilte Miß Fanny, nachdem man eine Zeitlang geheime Verhandlungen darüber gepflogen, ihrer Schwester selbst mit.

»Nun, mein Kind«, sagte sie, indem sie sie eines Tages aufsuchte, »ich will dir etwas sagen. Es ist eben erst zum Beschluß gekommen, und natürlich eile ich im selben Augenblick zu dir, wo die Sache zum Beschluß gekommen ist.« »Deine Heirat, Fanny?«

»Mein kostbares Kind«, sagte Fanny, »greife mir nicht vor. Lasse mich auf meine Weise mein Vertrauen mit dir teilen, du kleines, unruhiges Ding. Wenn ich deine Vermutung wörtlich beantwortete, so würde ich nein antworten. Denn es handelt sich nicht so sehr um meine Heirat als um Edmunds Heirat.«

Klein-Dorrit schien, und vielleicht nicht ohne Ursache, etwas verlegen, diese seine Unterscheidung zu verstehen.

»Ich mache keine Schwierigkeit«, rief Fanny, »und habe keine Eile. Mich braucht man auf keinem öffentlichen Bureau, noch bedarf man meiner Stimme sonstwo. Aber Edmund wird verlangt. Und Edmund ist sehr niedergeschlagen, daß er fort muß, und wahrhaftig, ich wünschte nicht, daß er sich selbst überlassen wäre. Denn wo es möglich – und es ist gewöhnlich möglich – etwas Törichtes zu tun, so tut er es sicher.«

Als sie diesen unparteiischen Inbegriff des Vertrauens, das man auf ihren künftigen Gatten setzen könne, geschlossen, nahm sie mit einer Geschäftsmiene den Hut ab, den sie trug, und ließ ihn an den Bändern auf dem Boden baumeln.

»Es handelt sich deshalb mehr um Edmund, als um mich. Doch wir brauchen nicht mehr davon zu sagen. Es springt von selbst in die Augen. Nun, meine liebste Amy, wenn die Frage aufsteigt, geht er allein, oder geht er nicht allein?, so steigt die weitere Frage auf, sollen wir hier und bald getraut werden, oder sollen wir in der Heimat und in einigen Monaten getraut werden?«

»Ich sehe, ich soll dich verlieren, Fanny.«

»Was für ein kleines Ding du bist«, rief Fanny, halb nachsichtig und halb ungeduldig, »daß du mir immer zuvorkommst! Bitte, mein Liebling, lasse mich ausreden. Jene Frau«, sie sprach natürlich von Mrs. Merdle, »bleibt bis nach Ostern hier; im Falle ich nun hier heirate und mit Edmund nach London gehe, hätte ich den Vorsprung vor ihr. Das ist etwas. Weiter, Amy. Ist jene Frau mir au« dem Wege, so wüßte ich nicht, was ich Besonderes gegen den Vorschlag einzuwenden haben sollte, den Mr. Merdle Papa machte, daß Edmund und ich unsere Wohnung in jenem Hause aufschlagen – du weißt, wo du einst mit einer Tänzerin warst, meine Liebe –, bis unser eigenes Haus gewählt und eingerichtet werden kann. Noch weiter, Amy. Da Papa immer die Absicht hatte, im Frühjahr nach London zu gehen, so würden wir, wenn Edmund und ich verheiratet wären, nach Florenz gehen, wohin uns Papa nachkäme, und wir könnten dann alle drei zusammen nach Hause reisen. Mr. Merdle hatte Papa gebeten, in dem bereits erwähnten Hause bei ihm zu wohnen, und ich glaube auch, er hat die Absicht. Aber er ist Herr seines Tuns, und über diesen Punkt (der auch gar nicht wesentlich ist) kann ich nicht mit Bestimmtheit sprechen.«

Fanny legte auf den Unterschied, daß Papa Herr seines Tuns sei, was bei Mr. Sparkler in keiner Weise der Fall, durch die Art, wie sie die Sache darstellte, einen besonderen Nachdruck. Ihre Schwester bemerkte es jedoch nicht; denn ihre Gefühle waren zwischen dem Schmerz einer baldigen Trennung und dem sehnsüchtigen Wunsche geteilt, daß man auch sie in den Plan, England zu besuchen, mit eingeschlossen habe.

»Das sind die Arrangements, liebe Fanny?«

»Das sind die Arrangements!« wiederholte Fanny. »Nun, wahrhaftig, Kind, du stellst mich nicht wenig auf die Probe. Du weißt, ich hütete mich ganz besonders davor, die Worte so zu setzen, daß irgendeine derartige Deutung möglich war. Was ich sagte, war, daß gewisse Fragen sich darbieten; und dies sind die Fragen.«

Klein-Dorrits gedankenvolle Augen ruhten zärtlich und sanft auf ihr.

»Nun, mein süßes Mädchen«, sagte Fanny, ihren Hut an seinen Bändern mit großer Ungeduld hin- und herschwingend, »was soll das Stieren? Eine kleine Eule könnte mich ebenso stark ansehen. Ich verlange Rat von dir, Amy. Was rätst du mir zu tun?«

»Glaubst du«, fragte Klein-Dorrit nach kurzem Zögern überredend, »glaubst du, Fanny, daß es nicht besser wäre, wenn man alles in Betracht zieht, daß du die Heirat noch einige Monate verschöbest?«

»Nein, kleine Schildkröte«, versetzte Fanny in außerordentlich scharfem Tone, »das denke ich durchaus nicht.«

Hier schleuderte sie den Hut ganz von sich und warf sich in einen Stuhl. Aber gleich darauf wieder von zärtlichen Gefühlen ergriffen, sprang sie vom Stuhl auf und kniete auf den Boden nieder, um ihre Schwester und den Stuhl und alles zu umarmen.

»Glaube nicht, daß ich heftig und unfreundlich bin, liebes Kind, ich bin es wirklich nicht. Aber du bist so ein kleines närrisches Ding! Du machst, daß man dir gleich den Kopf abbeißt, wenn man dich liebkosen möchte. Habe ich dir nicht gesagt, mein liebes Kind, daß man Edmund nicht sich selbst überlassen darf? Und weißt du wirklich nicht, daß dem so ist?«

»Doch, doch, Fanny. Du sagtest das, ich weiß es.«

»Und du weißt es, das weiß ich«, versetzte Fanny. »Nun, mein kostbares Kind! Wenn man ihn nicht sich selbst überlassen darf, denke ich, so sollt‘ ich mit ihm gehen – habe ich dich also, liebste Amy, so zu verstehen, daß du, nachdem du gehört, welche Schritte in dieser Sache möglich sind, mir im ganzen rätst, sie zu tun?«

»Es scheint so, meine Liebe«, sagte Klein-Dorrit.

»Nun gut!« rief Fanny mit resignierter Miene, »dann muß es wohl auch geschehen? Ich kam zu dir, meine Liebe, in dem Augenblick, wo ich den Zweifel und die Notwendigkeit, einen Entschluß zu fassen, fühlte. Ich habe meinen Entschluß nunmehr gefaßt. So mag es nun sein.«

Nachdem Fanny in dieser musterhaften Weise schwesterlichem Rat und dem Drang der Umstände nachgegeben, wurde sie außerordentlich wohlwollend, wie jemand, der seine eigenen Neigungen der teuersten Freundin geopfert und in diesem Bewußtsein ein höchst wohltuendes Gefühl empfand. »Im Grunde, meine Amy«, sagte sie zu ihrer Schwester, »bist du das beste kleine Geschöpf, das man sich denken kann; voll Klugheit und Einsicht; und ich wüßte nicht, wie ich’s ohne dich anfangen sollte!«

Mit diesen Worten umarmte sie sie noch einmal und mit noch größerer Innigkeit und Herzlichkeit.

»Nicht, daß ich beabsichtigte, je ohne dich zu sein, Amy, keineswegs, denn ich hoffe, wir werden beinahe unzertrennlich sein. Und nun, mein Liebling, will ich auch dir einen Rat geben. Wenn du hier allein mit Mrs. General bleibst –«

»Ich soll hier allein mit Mrs. General bleiben?« sagte Klein-Dorrit ruhig.

»Natürlich, mein kostbares Kind, bis der Papa zurückkommt! Wenn du nicht etwa Edward Gesellschaft nennen willst, was er gewiß nicht ist, selbst wenn er hier ist, und noch weniger natürlich, wenn er in Neapel oder Sizilien ist. Ich war im Begriff, zu sagen – aber du bist solch ein närrisches Ding, daß du einen aus dem Konzept bringst – wenn du hier allein mit Mrs. General zurückbleibst, Amy, so dulde nicht, daß sie dich irgendwie auf schlaue Weise dazu bringt, es als etwas Natürliches anzusehen, daß sie sich um Papa oder daß Papa sich um sie bekümmert. Sie wird das tun, wenn sie es kann. Ich kenne ihre schlaue Manier, sich mit ihren Handschuhen fortzutasten. Du aber darfst sie unter keiner Bedingung verstehen. Und wenn Papa dir bei seiner Rückkehr sagen sollte, daß er die Absicht habe, Mrs. General zu deiner Mama zu machen (was durch mein Weggehen nicht wenig wahrscheinlich wird), so rate ich dir, daß du sogleich erklärst: »Papa, ich bitte, mich entschieden dagegen aussprechen zu dürfen. Fanny hat mich davor gewarnt; sie ist dagegen, und ich bin dagegen.« Ich will damit nicht sagen, daß irgendein Einwurf von deiner Seite auch nur die geringste Wirkung zu machen, Aussicht hat, oder daß ich glaube, du werdest ihn mit der nötigen Festigkeit vorbringen. Aber es handelt sich hier um ein Prinzip – ein kindliches Prinzip, und ich bitte dich dringend, dich nicht von Mrs. General bestiefmuttern zu lassen, ohne jenes Prinzip dadurch zu manifestieren, daß du es jedermann so unbehaglich wie möglich machst. Ich erwarte von dir nicht, daß du fest bei demselben beharrst – ich weiß wirklich, du wirst es nicht tun, soweit die Sache Papa betrifft, aber ich möchte dich zum Bewußtsein des Pflichtgefühls bringen. Was die Unterstützung von meiner Seite oder den Widerspruch betrifft, den ich gegen eine solche Heirat einsetzen kann, so werde ich dich nicht im Stiche lassen, meine Liebe. Alles Gewicht, das mir meine Stellung als verheiratete Frau gibt, die nicht ganz aller Anziehungskraft entbehrt, – und gewohnt, dieser Frau Widerstand zu leisten, wie dies immer bei mir der Fall sein wird – all dies Gewicht, darauf kannst du dich verlassen, werde ich auf das Haupt und das falsche Haar (denn ich bin überzeugt, es ist nicht echt, so häßlich es auch ist, und so unwahrscheinlich es auch ist, daß jemand vernünftiges Geld dafür ausgeben sollte) von Mrs. General fallen lassen!«

Klein-Dorrit hörte diesen Rat an, ohne zu wagen, etwas gegen denselben einzuwenden, ohne jedoch auch Fanny irgendeinen Grund zu dem Glauben zu geben, sie beabsichtige, ihn zu befolgen. Da Fanny nun gewissermaßen ihr Jungfrauenleben förmlich abgeschlossen und ihre weltlichen Angelegenheiten geordnet hatte, begann sie mit dem ihr eigentümlichen Eifer, sich für die ernste Veränderung in ihrer Lage vorzubereiten.

Die Vorbereitung bestand darin, daß sie ihr Mädchen, in Begleitung eines Kuriers, nach Paris sandte, um die Ausstattung für eine Braut zu kaufen, der die gegenwärtige Erzählung –- ohne ins Platte zu verfallen – keinen englischen Namen geben kann, der jedoch einen französischen Namen zu geben (nach dem gewöhnlichen Grundsatz, bei der Sprache zu bleiben, in der sie mal geschrieben), ihr ebenso widerstrebt. Die von diesen Agenten angekaufte schöne und reiche Garderobe machte im Verlaufe weniger Wochen ihren Weg durch das dazwischen liegende Land, das mit Zollhäusern überfüllt war, in dem eine ungeheure Armee schäbiger Bettler in Uniform garnisonierte, die beständig die Bitte um Almosen wiederholten, als wenn jeder einzelne dieser Krieger der alte Belisar wäre, und deren es so zahlreiche Legionen gab, daß, wenn der Kurier nicht genau anderthalb Scheffel Silbergeld ausgegeben hätte, um ihrer Not abzuhelfen, sie durch das bloße Umdrehen schon die Garderobe zerfetzt hätten, ehe sie nach Rom gelangt wäre. Aus all diesen Gefahren ging sie jedoch siegreich hervor, Zoll um Zoll, und kam in bester Beschaffenheit am Ziel ihrer Reise an.

Dort wurde sie auserlesenen Gesellschaften von Besucherinnen vorgelegt, in deren zartem Busen sie unversöhnliche Gefühle weckte. Gleichzeitig wurden lebhafte Vorbereitungen für den Tag gemacht, an dem einige von diesen Schätzen öffentlich zur Schau gestellt werden sollten. Die Hälfte der Engländer in der Stadt des Romulus erhielt Einladungskarten zum Frühstück; die andre Hälfte machte Vorbereitungen, um als kritisierende Freiwillige an verschiedenen Vorposten der Feierlichkeit unter Waffen zu sein. Der hochgestellte und ausgezeichnete englische Signor Edgardo Dorrit kam mit Extrapost durch den tiefen Schmutz und auf den schlechten Wegen von Neapel (wo er dem strebenden neapolitanischen Adel Manieren beibrachte), um der Feierlichkeit anzuwohnen. Das beste Hotel und alle seine Kochkünstler waren mit der Bereitung des Festmahles in Anspruch genommen. Die Anweisungen von Mr. Dorrit brachten bei Torlonia beinahe eine Krisis hervor. Der britische Konsul hatte während seines ganzen Konsulats keine solche Hochzeit gehabt.

Der Tag erschien, und die Wölfin auf dem Kapitol hätte vor Neid die Zähne fletschen können, wenn sie hatte sehen müssen, wie die Inselwilden die Sache heutzutage treiben. Die bösen Kaiser der Soldateska mit den Mördergesichtern, denen die Bildhauer die abscheuliche Häßlichkeit nicht hatten wegschmeicheln können, hätten von ihren Piedestalen herabkommen können, um die Braut zu entführen. Die vertrocknete alte Fontäne, wo sich ehedem die Gladiatoren gewaschen, hätte zu Ehren der Feierlichkeit wieder springen können. Der Tempel der Vesta hätte sich wieder aus seinen Trümmern erheben können, um bei dieser feierlichen Gelegenheit sich in seiner ganzen Schönheit zu zeigen. Sie hätten es tun können: aber taten es nicht. Wie lebendige Wesen – selbst wie manchmal die Herren und Herrinnen der Schöpfung – hätten sie viel tun können, taten aber nichts. Die Feierlichkeit ging mit staunenswertem Pomp vor sich: Mönche in schwarzen Kutten, weißen Kutten und braunen Kutten blieben stehen, um den Wagen nachzusehen; herumziehende Landleute in Schafpelzen bettelten und bliesen unter den Fenstern des Hauses; die englischen Freiwilligen zogen vorüber; der Tag verging bis zur Vesperstunde; das Fest war vorbei; die Tausende von Kirchenglocken läuteten, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, und St. Peter leugnete, daß er irgend etwas damit zu tun habe.

Inzwischen war die Braut dem Ziel ihrer ersten Tagreise auf dem Wege nach Florenz nahe. Es war eine Eigentümlichkeit dieser Hochzeit, daß sie ganz nur Braut war. Niemand nahm von dem Bräutigam Notiz. Niemand nahm von der ersten Brautjungfer Notiz. Wenige hätten vor dem Glanz Klein-Dorrit (die diese Stelle versah) bemerken können, selbst vorausgesetzt, daß viele sie gesucht hätten. So war die Braut in ihren schönen Wagen gestiegen, zufällig von dem Bräutigam begleitet, und fing jetzt an, nachdem sie wenige Minuten lang sanft über ein schönes Pflaster gerollt, sich durch einen melancholischen Sumpf und durch eine lange, lange Straße von Verfall und Trümmern hindurchzuwinden. Andere Hochzeitswagen sollen vorher und seitdem dieselbe Straße gefahren sein.

Wenn sich Klein-Dorrit an diesem Abend ein wenig einsam und gedrückt fühlte, so würde sie nichts so sehr erleichtert haben, als wenn sie neben ihrem Vater wie in frühern Zeiten an der Arbeit hätte sitzen oder ihm sein Nachtessen und sein Bett bereiten können. Aber daran war jetzt nicht zu denken, wo sie mit Mrs. General auf dem Bock der Zeremonienkutsche saß. Und das Nachtessen! Wenn Mr. Dorrit ein solches verlangte, mußten ein italienischer Koch und ein Schweizer Konditor Mützen so hoch wie die Mitra des Papstes aufsetzen und die Geheimnisse von Alchimisten in einem mit kupfernen Kasserollen versehenen Laboratorium unter der Erde verrichten, ehe er es bekommen konnte.

Er war an diesem Abend sententiös und belehrend; wäre er einfach herzlich gewesen, so hätte das Klein-Dorrit wohler getan; aber sie nahm ihn, wie er war – wann hatte sie ihn nicht genommen, wie er war – und faßte ihn von seiner besten Seite auf. Mrs. General zog sich endlich zurück. Ihr Weggehen am I?7 Abend war immer ihre frostigste Zeremonie, als fände sie es notwendig, die menschliche Phantasie zu Stein erstarren zu machen, daß man ihr nicht folge. Als sie ihre strengen Präliminarien gemacht, die bis zu platonischen Übungen sich verstiegen, verließ sie das Zimmer. Klein-Dorrit schlang dann ihren Arm um ihres Vaters Hals, um ihm gute Nacht zu sagen.

»Meine liebe Amy«, sagte Mr. Dorrit, indem er ihre Hand ergriff, »das ist das Ende eines Tages, der mich – ha – sehr gerührt und mir sehr wohlgetan hat.«

»Wohl auch ein wenig müde gemacht, Vater?«

»Nein«, sagte Mr. Dorrit, »nein, ich fühle keine Müdigkeit, wenn sie eine so – hm – mit Freude der reinsten Art verbundene Veranlassung hat.«

Klein-Dorrit freute sich, ihn bei so guter Stimmung zu finden, und lächelte voll Glückseligkeit.

»Mein Liebe«, fuhr er fort. »Dies ist ein Tag – ha –, der als ein gutes Beispiel gelten kann. Ein gutes Beispiel, mein treuer Liebling, – hm – für dich.«

Klein-Dorrit, durch seine Worte etwas in Verlegenheit gebracht, wußte nicht, was sie sagen sollte, obgleich er innehielt, als ob er erwartete, sie werde etwas sagen.

»Amy«, fuhr er fort, »deine liebe Schwester, unsere Fanny, hat – ha, hm – eine Ehe geschlossen, die vortrefflich geeignet ist, die Basis unserer – ha – Bekanntschaft auszudehnen und unsere – hm – sozialen Beziehungen zu konsolidieren. Meine Liebe, ich glaube, daß die Zeit nicht fern sein wird, wo eine – ha – annehmbare Partie sich für dich finden wird.«

»O, nein! Laß mich bei dir bleiben. Ich bitte dich, laß mich bei dir bleiben. Ich verlange nichts weiter, als bei dir zu bleiben und für dich zu sorgen!«

Sie sagte es wie jemand, der plötzlich aufgeschreckt wird.

»Nein, Amy, Amy«, sagte Mr. Dorrit. »Das ist schwach und kindisch, schwach und kindisch. Deine Stellung – ha – legt dir eine Verpflichtung auf. Es gilt, diese Stellung geltend zu machen; ich kann – ha – selbst für mich sorgen. Oder«, fügte er nach einem Augenblick hinzu, »wenn ich jemand brauchte, der für mich sorgte, so – hm – kann ich, mit dem – ha – Segen der Vorsehung, jemand finden, der für mich sorgt. Ich kann nicht – ha, hm – alle Last auf dich wälzen, liebes Kind, und – ha – dich gewissermaßen aufopfern.«

O, welch eine Tageszeit für diese Beteurung von Selbstverleugnung: o; welche Zeit, um sie mit einer Miene auszusprechen, als ob man Glauben für sie forderte; welch eine Zeit, daran zu glauben, wenn das möglich wäre!

»Sprich nicht, Amy. Ich sage es ganz entschieden, ich kann das nicht zugeben. – Ich – ha – darf – es nicht zugeben. Mein – hm – Gewissen würde es nicht erlauben. Ich ergreife daher die mir durch diese angenehme und rührende Gelegenheit gebotene Veranlassung, dir feierlich – ha – kundzutun, daß es jetzt mein innigster Wunsch und Vorsatz ist, dich – ha – angemessen (ich wiederhole angemessen) verheiratet zu sehen.«

»O nein, mein lieber Vater, ich bitte dich!«

»Amy!« sagte Mr. Dorrit, »ich bin fest überzeugt, daß, wenn die Sache, die wir hier besprechen, einer Person von höherer Weltkenntnis, größerem Zartgefühl und schärferer Einsicht vorgelegt würde – wir wollen zum Beispiel sagen, Mrs. General –, so würden nicht zweierlei Ansichten über den – hm – liebevollen Charakter und die Richtigkeit meiner Gefühle stattfinden. Da ich jedoch deinen liebevollen und gehorsamen Charakter aus – hm – Erfahrung kenne, so bin ich überzeugt, daß ich nichts weiter zu sagen brauche. Ich habe – hm – für den Augenblick keinen Gatten, den ich dir vorschlagen könnte; ich habe sogar nicht mal einen in Aussicht. Ich wünsche nur – ha –, daß wir uns verstehen. Hm. Gute Nacht, meine liebe und einzig mir bleibende Tochter. Gute Nacht. Gott sei mit dir!«

Wenn Klein-Dorrit jemals in dieser Nacht der Gedanke kam, daß er sie jetzt in seinem Glücke leicht hingeben könnte, jetzt, da er im Sinn hatte, sie durch eine zweite Gattin zu ersetzen, so verscheuchte sie diesen Gedanken alsbald wieder. Unverändert treu gegen ihn wie in den schlimmsten Zeiten, wo sie allein mit ihrer Hand ihn gestützt und aufrechterhalten, wies sie diesen Gedanken von sich ab und kannte in ihrer tränenvollen Ruhelosigkeit keinen herberen Gedanken, als daß er jetzt alles im Licht ihres Reichtums und mit der beständigen Sorge ins Auge faßte, reich zu bleiben und reicher zu werden.

Sie saßen noch drei Wochen länger in ihrer Staatskutsche, mit Mrs. General auf dem Bock; dann reiste er nach Florenz, um mit Fanny zusammenzutreffen. Klein-Dorrit hätte ihm so gern bis dahin Gesellschaft geleistet, einzig um ihrer Liebe willen, und wäre dann, an ihr teures England denkend, zurückgekehrt. Aber da der Kurier mit der Braut gegangen, war der Kammerdiener nunmehr an der Reihe; und diese wäre erst an sie gekommen, wenn man niemand mehr für Geld hätte haben können.

Mrs. General nahm das Leben leicht – so leicht, heißt das, wie sie überhaupt etwas nehmen konnte –, als der römische Haushalt in ihrem alleinigen Besitz blieb; und Klein-Dorrit fuhr oft in einem Mietswagen, den man ihnen gelassen, aus oder sprang auch allein aus dem Wagen und wanderte unter den Ruinen des alten Rom umher. Die Trümmer des großen alten Amphitheaters, der alten Tempel, der alten erinnerungsreichen Bogengänge, der alten vielbetretenen Straße, der alten Gräber erschienen ihr außer in ihrer eigentlichen Gestalt auch als Ruinen des alten Marschallgefängnisses – als Ruinen ihres eigenen ehemaligen Lebens – als Ruinen der Gesichter und Gestalten derer, die es damals bevölkert, als Ruinen der Neigungen, Hoffnungen, Sorgen und Freuden, die darin gewaltet hatten. Zwei untergegangene Sphären I?9 des Tuns und Leidens standen vor dem einsamen Mädchen, das oft auf einem zerbröckelten Steine saß; und an dem einsamen Orte, unter dem blauen Himmel, sah sie beides zugleich.

Dann kam gewöhnlich Mrs. General, nahm allem die Farbe, wie Natur und Kunst alle Farbe aus ihr genommen; sie schob zwischen Mr. Eustaces Text überall Prunes und Prism, wo sie nur konnte; sah sich überall nach Mr. Eustace und Kompagnie um und hatte sonst für nichts Auge; scharrte die dürrsten Knochen Altertum zusammen und verschlang sie ohne menschliches Erbarmen – wie ein Werwolf in Handschuhen.

Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

Vorwärts

Das neuverheiratete Ehepaar wurde bei seiner Ankunft in Harleystreet, Cavendishsquare, London, von dem Oberhaushofmeister empfangen. Dieser große Mann nahm kein Interesse an ihnen, aber er duldete sie im ganzen. Es müssen beständig Leute verheiratet und getraut werden, sonst brauchte man keine Haushofmeister. Wie Staaten zum Besteuern da sind, so sind Familien da, um gehaushofmeistert zu werden. Der Oberhaushofmeister dachte jedenfalls, daß der Lauf der Natur seinetwegen die Fortpflanzung der reichen Bevölkerung vorschreibe.

Er ließ sich deshalb herab, den Wagen von der Haustür aus ohne zürnende Blicke zu betrachten, und sagte zu einem seiner Untergebenen auf höchst liebenswürdige Weise: »Thomas, hilf beim Abpacken!« Er geleitete sogar die junge Frau die Treppe hinauf zu Mr. Merdle; aber dies war als ein Akt der Huldigung gegen das schöne Geschlecht (das er bewunderte, wie er notorisch in die Reize einer gewissen Herzogin sich verliebt hatte) und nicht als ein Unterordnen seiner selbst unter die Familie zu betrachten.

Mr. Merdle schlich auf dem Kaminteppich umher und erwartete die Ankunft Mrs. Sparklers. Seine Hand schien beim Willkomm in seinen Rockärmel hinaufzukriechen, und er gab ihr einen solchen Überfluß von Rockaufschlag, daß es wie ein Empfang von dem der Volksvorstellung entsprechenden Bilde von Guy Fawkes3 war. Als er seine Lippen auf die ihren drückte, nahm er sich bei den Handgelenken fest und deckte sich den Rücken durch die Ottomanen und Stühle und Tische, als wenn er sein eigner Polizeimann wäre, und sagte zu sich: »Nun, nichts da! Kommt! Ich habe euch mal, wie ihr seht, und ihr geht ruhig mit mir!«

Mrs. Sparkler, die nun in den Staatszimmern installiert war – dem Allerheiligsten von Eiderdaunen, Seide und feinem Linnen –, fühlte, daß ihr Triumph gelungen und ihr Weg Schritt für Schritt gemacht sei. Am Tage vor ihrer Hochzeit hatte sie der Kammerfrau von Mrs. Merdle mit anmutiger Gleichgültigkeit in Mrs. Merdles Gegenwart ein hübsches kleines Andenken (Armband, Hut und zwei Kleider, alles ganz neu) geschenkt, was ungefähr viermal so viel wert war als das Geschenk, das Mrs. Merdle ihr früher gemacht hatte. Sie wohnte jetzt in Mrs. Merdles eigenen Zimmern, die mit einigen Extranachbesserungen ihrer würdiger gemacht worden waren. Während sie hier weilte, umgeben von allen Luxusgegenständen, die der Reichtum kaufen und die Phantasie erfinden konnte, sah sie mit ihrem innern Auge den schönen Busen, der im Einklang mit ihrem frohlockenden Herzen schlug, mit dem so lange berühmt gewesenen Busen wetteiferten, ihn überglänzen und verdrängen. Glücklich? Fanny mußte glücklich sein, denn sie wünschte nicht mehr, lieber tot zu sein.

Der Kurier hatte es nicht gebilligt, daß Mr. Dorrit in dem Hause eines Freundes wohne, und vorgezogen, ihn nach einem Hotel in Brook Street, Grosvenorsquare zu bringen. Mr. Merdle befahl, morgen früh seinen Wagen bereit zu halten, damit er sogleich nach dem Frühstück Mr. Dorrit seine Aufwartung machen könne.

Der Wagen sah glänzend aus, die Pferde waren glatt, das Geschirr funkelte, die Livreen machten den Eindruck des Reichen und Soliden. Ein herrliches entsprechendes Äußere. Eine Equipage für einen Merdle. Leute, die früh auf waren, sahen ihr nach, wie sie durch die Straßen hinrollte, und sagten mit ehrfurchtsvollem Ton: »Da fährt er!«

Da fuhr er hin, bis Brook Street ihm Halt gebot. Dann kam er wie ein Juwel aus seinem prachtvollen Gehäuse, aber nicht durch sich glänzend, sondern ganz das Gegenteil.

Aufruhr in dem Bureau des Hotels. Merdle! Der Wirt, obgleich ein Gentleman von großem Stolz, der kaum mit zwei Vollblutpferden in die Stadt gekommen war, kam heraus, um ihn die Treppe hinaufzuführen. Die Kommis und die Diener schnitten ihm durch Seitengänge den Weg ab und warteten wie zufällig an Gängen und Ecken, um ihn zu sehen. Merdle! O Sonne, Mond und Sterne, der große Mann! Der reiche Mann, der gewissermaßen das Neue Testament verbessert hat, indem er bereits in das Himmelreich gekommen war. Der Mann, der jeden, den er wollte, zu Tische einladen konnte und der so viel Geld verdiente. Als er die Treppe hinaufging, standen die Leute schon auf den untern Stufen, damit sein Schatten auf sie fiele, wenn er herabkäme. So brachte man die Kranken und legte sie auf den Weg, den der Apostel kommen mußte – der nicht in die gute Gesellschaft gekommen und kein Geld verdient hatte.

Mr. Dorrit saß im Schlafrock, mit der Morgenzeitung beschäftigt, beim Frühstück. Der Kurier meldete mit aufgeregter Stimme: »Mr. Mairdaile!« Mr. Dorrits übervolles Herz hüpfte vor Freude, als er aufsprang. »Mr. Merdle, das ist wahrhaftig eine Ehre. Erlauben Sie mir, Ihnen auszusprechen, wie – hm – hoch ich die Ehre – ha – diesen – ha, hm – schmeichelhaften Beweis Ihrer Aufmerksamkeit zu schätzen weiß. Ich weiß recht gut, mein Herr, wie sehr Ihre Zeit in Anspruch genommen ist und – ha – welch unermeßlichen Wert sie hat.« Mr. Dorrit konnte das Wort unermeßlich nicht rund genug zu seiner Zufriedenheit aussprechen. »Daß Sie – ha – zu dieser frühen Stunde etwas von Ihrer unschätzbaren Zeit auf mich verwenden, ist – ha – ein Kompliment, das ich mit der größten Achtung anerkenne.« Mr. Dorrit zitterte wirklich, als er den großen Mann anredete.

Mr. Merdle ließ in seiner gedämpften, innerlichen, zögernden Stimme ein paar Worte hören, die nichts besagen wollten; und zuletzt sagte er: »Ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen, Sir.«

»Sie sind sehr freundlich«, sagte Mr. Dorrit, »wirklich sehr freundlich.« Inzwischen hatte sich der Besuch gesetzt und fuhr mit seiner großen Hand über die erschöpfte Stirn. »Sie sind hoffentlich wohl, Mr. Merdle?«

»Ich bin so wohl, wie ich – ja, ich bin so wohl, wie ich gewöhnlich bin«, sagte Mr. Merdle.

»Ihre Geschäfte müssen Sie außerordentlich in Anspruch nehmen?«

»So ziemlich. Aber – o nein, es fehlt mir eigentlich nichts«, sagte Mr. Merdle im Zimmer umhersehend.

»Etwas schlechte Verdauung?« deutete Mr. Dorrit an.

»Wohl möglich. Aber ich – o ich befinde mich ganz gut«, sagte Mr. Merdle.

Auf seinen Lippen, wo sie sich schlossen, waren schwarze Streifen, als wenn etwas Pulver darauf abgebrannt worden wäre; und er sah aus wie ein Mann, der, wenn er von etwas lebhafterem Temperament wäre, heute morgen starkes Fieber gehabt haben würde. Dies und die schwerfällige Weise, wie er über seine Stirn strich, hatten Mr. Dorrits besorgliche Erkundigungen veranlaßt.

»Mrs. Merdle«, fuhr Dorrit einschmeichelnd fort, »verließ ich, wie Sie wohl zu hören erwarten werden, als die von allen – ha – Beobachtern Beobachtete, von allen – hm – Bewunderern Bewunderte, als die, die die ganze römische Gesellschaft entzückt und bezaubert hat. Sie sah außerordentlich gut aus, als ich die Römerstadt verließ.«

»Mrs. Merdle«, sagte Mr. Merdle, »gilt im allgemeinen als eine sehr anziehende Frau. Und sie ist es auch ganz gewiß. Ich weiß es wohl, daß sie es ist.«

»Wer wüßte es nicht?« antwortete Mr. Dorrit.

Mr. Merdle drehte seine Zunge in seinem geschlossenen Munde umher – es schien eine steife und unlenksame Zunge –, feuchtete die Lippen an, strich mit der Hand über die Stirn und sah wieder im Zimmer umher, hauptsächlich unter die Stühle. »Aber«, sagte er, indem er Mr. Dorrit zum ersten Male ins Gesicht sah und dann augenblicklich die Blicke auf die Westenknöpfe von Mr. Dorrit herabsinken ließ, »wenn wir von anziehendem Wesen sprechen, so sollte Ihre Tochter unser Gesprächsgegenstand sein. Sie ist ausnehmend schön. Nach Gesicht wie Gestalt ist sie eine ungewöhnliche Erscheinung. Als die jungen Leute vergangenen Abend ankamen, war ich wirklich überrascht von dem Anblick solcher Reize.«

Mr. Dorrit fühlte sich so geschmeichelt, daß er sagte – ha –, er könne nicht umhin, mündlich Mr. Merdle zu wiederholen, was er bereits brieflich getan, daß er die Verbindung ihrer Familien für eine große Ehre und ein großes Glück halte. Und er bot ihm seine Hand. Mr. Merdle betrachtete die Hand eine Augenblick, nahm sie einen Augenblick, als wenn sie ein gelber Präsentierteller oder eine Fischscheibe wäre, und gab sie dann Mr. Dorrit zurück.

»Ich dachte, ich wolle sogleich hierherfahren«, sagte Mr. Merdle, »um meine Dienste anzubieten, im Falle ich etwas für Sie tun kann, und Ihnen zu sagen, ich hoffe, Sie werden mir wenigstens die Ehre erweisen, heute und immer bei mir zu speisen, solange Sie in der Stadt und nicht anderwärts besser in Anspruch genommen sind.«

Mr. Dorrit war entzückt über diese Aufmerksamkeiten.

»Werden Sie sich lange hier aufhalten?«

»Ich habe vorderhand die Absicht«, sagte Mr. Dorrit, »nicht länger als vierzehn Tage zu verweilen.«

»Das ist nach einer so langen Reise ein sehr kurzer Aufenthalt«, versetzte Mr. Merdle.

»Hm. Ja«, sagte Mr. Dorrit. »Aber offen gesagt – ha – mein lieber Merdle, ich finde das Leben auf dem Kontinent meiner Gesundheit so zuträglich und meinem gegenwärtigen Geschmack so entsprechend, daß ich – hm – bei meinem gegenwärtigen Besuche in London nur zweierlei im Auge habe. Nämlich erstens – ha – das ausgezeichnete Glück und – ha – die Ehre, die mir gegenwärtig zuteil wird und die ich zu schätzen weiß; und zweitens das Arrangement – hm –, das heißt, die beste Anlegung – ha, hm – meiner Kapitalien.«

»Nun, Sir«, sagte Mr. Merdle, nachdem er seine Zunge noch einmal gedreht, »wenn ich Ihnen in dieser Beziehung irgendwie von Nutzen sein kann, so befehlen Sie über mich.«

Mr. Dorrit zögerte mehr denn gewöhnlich mit seinen Worten, als er auf diesen kitzlichen Punkt zu sprechen kam, denn er war sich nicht ganz klar, wie ein so erhabener Potentat es aufnehmen möchte. Er zweifelte, ob die Erwähnung eines persönlichen Kapitals oder Vermögens nicht ein zu elender Detailkram für einen solchen Großhändler sei. Sehr erleichtert durch Mr. Merdles freundliches Anerbieten seiner Dienste, säumte er nicht, sie anzunehmen, und überhäufte ihn mit Dank.

»Ich hätte – ha – kaum gewagt«, sagte Mr. Dorrit, »versichere ich Ihnen, einen so außerordentlichen Vorteil wie Ihren unmittelbaren Rat und Beistand zu hoffen. Obgleich ich natürlich, unter allen Umständen, wie die – ha, hm – ganze übrige zivilisierte Welt Mr. Merdles Spuren gefolgt wäre.«

»Sie wissen, wir können uns beinahe Verwandte nennen, Sir«, sagte Mr. Merdle, indem er mit großem Interesse das Muster des Teppichs betrachtete, »und deshalb können Sie ganz auf meine Dienste zählen zu dürfen versichert sein.«

»Ah. Sehr hübsch, wahrhaftig!« rief Mr. Dorrit. »Ah. Sehr hübsch!«

»Es würde«, sagte Mr. Merdle, »im gegenwärtigen Augenblick für einen, der nicht eingeweiht ist, sehr schwer sein, an einer der guten Spekulationen teilzunehmen – natürlich spreche ich von meinen eigenen guten Spekulationen –«

»Natürlich, natürlich!« rief Mr. Dorrit, in einem Ton, der deutlich zu sagen schien, daß es gar keine andern guten Spekulationen geben könne.

»– außer zu sehr hohem Preis, was wir eine sehr lange Zahl zu nennen pflegen.«

Mr. Dorrit lachte in der gehobenen Stimmung, in der er sich befand. »Ha, ha, ha! Lange Zahl. Gut. Ha. Wirklich sehr bezeichnend.«

»Ich behalte jedoch«, sagte Mr. Merdle, »gewöhnlich die Vollmacht für mich, einzelne zu bevorzugen – die Leute würden es vielleicht begünstigen heißen –, was ich als eine Art Belohnung für meine Sorge und Mühe ansehe.«

»Und ihren Gemeingeist und Ihr Genie«, fügte Mr. Dorrit hinzu.

Mr. Merdle schien mit einer trocknen schlingenden Bewegung diese Eigenschaften wie eine Pille hinunterzuschlucken; dann fügte er hinzu: »Eine Art von Entschädigung. Wenn Sie mir erlauben, will ich sehen, wie ich von dieser beschränkten Vollmacht (denn die Leute sind eifersüchtig, und sie ist beschränkt) in Ihrem Interesse Gebrauch machen kann.«

»Sie sind sehr gut«, versetzte Mr. Dorrit. »Sie sind sehr gut.«

»Natürlich«, sagte Mr. Merdle, »muß bei diesen Geschäften die größte Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit herrschen; Glaube auf Wort muß zwischen den einzelnen gelten; zweifelloses und unzweifelhaftes Vertrauen muß obwalten; sonst könnte man kein Geschäft machen.«

Mr. Dorrit begrüßte diese edlen Gesinnungen lebhaft und freudig.

»Deshalb«, sagte Mr. Merdle, »kann ich Ihnen bloß bis zu einer gewissen Ausdehnung den Vorzug geben.«

»Ich verstehe. In einer beschränkten Ausdehnung«, bemerkte Mr. Dorrit.

»Beschränkten Ausdehnung. Und ganz offen vor der Welt. Mit meinem Rate dagegen ist es etwas anderes«, sagte Mr. Merdle. »Soviel dieser gilt –«

»Oh! Soviel dieser gilt!« (Mr. Dorrit konnte selbst bei Mr. Merdle nicht die geringste Unterschätzung seines Wertes ertragen.)

»– diesen zu geben, wenn ich Lust habe, hindert mich nichts, was die makellose Ehre zwischen mir und meinen Genossen verlangt. Und dieser«, sagte Mr. Merdle, jetzt ganz auf den Kehrichtkarren, der unter dem Fenster vorüberfuhr, seine Aufmerksamkeit richtend, »wird stets zu Ihren Diensten stehen, wenn Sie denselben einzuholen für passend erachten.«

Neuer Dank von seiten Mr. Dorrits. Abermaliges Über-die-Stirne-Fahren von Mr. Merdles Hand. Pause und Schweigen. Betrachten der Westenknöpfe Mr. Dorrits von seiten Mr. Merdles.

»Da meine Zeit ziemlich kostbar ist«, sagte Mr. Merdle plötzlich aufstehend, als wenn er inzwischen auf seine Beine gewartet und diese nun gekommen wären, »so muß ich mich jetzt nach der City begeben. Kann ich Sie vielleicht irgendwohin mitnehmen? Ich würde mich glücklich schätzen, Sie irgendwo aussteigen oder mit meinem Wagen weiterfahren zu lassen. Er steht zu Ihren Diensten.«

Mr. Dorrit bedachte sich, daß er Geschäfte bei seinem Bankier habe. Sein Bankier wohnte in der City. Das traf sich glücklich; Mr. Merdle konnte ihn in die City mitnehmen. Aber er dürfe natürlich Mr. Merdle nicht aufhalten, bis er seinen Rock angezogen? Jawohl dürfe und müsse er das; Mr. Merdle bestand darauf. Mr. Dorrit zog sich deshalb in das nächste Zimmer zurück, vertraute sich seinem Kammerdiener an und kam nach fünf Minuten strahlend wieder.

Dann sagte Mr. Merdle: »Erlauben Sie mir, Sir. Nehmen Sie meinen Arm.« Dann stieg Mr. Dorrit, auf Mr. Merdles Arm gelehnt, die Treppe hinab, sah die Gläubigen auf den Stufen stehen und fühlte, daß ein Abglanz des Lichts von Mr. Merdle auf ihn fiel. Dann stieg man in den Wagen und fuhr in die City, und das Volk staunte sie an, und die Hüte flogen von grauen Köpfen herunter, und es war ein allgemeines Bücken und Kriechen vor diesem wunderbaren Sterblichen; eine solche Demut im Geiste war – beim Himmel, nein! das mögen die Schmeichler aller Namen bedenken – weder in der Westminster-Abtei noch in der St. Paulskirche zusammengenommen an irgendeinem Sonntag im Jahre zu sehen. Es war ein berauschender Traum für Mr. Dorrit, so hoch erhaben in diesem öffentlichen Triumphwagen zu sitzen und diese prachtvolle Fahrt nach dem entsprechenden Ziele, der goldenen Lombardstraße mitzumachen.

Dort bestand Mr. Merdle darauf, auszusteigen und seinen Weg zu Fuß zu machen, indem er seinen armen Wagen zu Mr. Dorrits Disposition stellte. So wurde der Traum noch berauschender, als Mr. Dorrit allein von dem Bankier herauskam und die Leute in Abwesenheit Mr. Merdles ihn ansahen und er mit den Ohren seines Geistes den häufigen Ausruf hörte, während er blitzschnell dahinfuhr: »Ein ausgezeichneter Mann muß das sein, wenn er Mr. Merdles Freund ist!«

Bei dem Mittagsmahl dieses Tages, obgleich es ganz unvorbereitet arrangiert war, befand sich eine glänzende Gesellschaft von lauter Leuten, die nicht aus irdischem Staube, sondern aus einem wertvolleren, bis jetzt unbekannten Stoffe gemacht waren und ihren herrlichen Segen auf die Ehe der Tochter Mr. Dorrits ausströmten. Und Mr. Dorrits Tochter begann an diesem Tage in allem Ernst ihren Wettkampf mit jener nicht anwesenden Frau; und begann ihn so gut, daß Mr. Dorrit, wenn man es verlangt, die eidliche Erklärung hätte abgeben können, Mrs. Sparkler habe ihr ganzes Leben der vollen Länge nach im Schoße des Glückes gelegen und habe nie von einem so groben Worte der englischen Sprache wie Marshalsea gehört.

Am nächsten und übernächsten und allen darauffolgenden Tagen, die stets von neuen Tischgesellschaften beehrt waren, wirbelten Karten auf Mr. Dorrit herab wie Theaterschnee. Als Freund und Verwandter des berühmten Mr. Merdle wünschten Advokat, Bischof, Schatz, Chornus und jedermann Mr. Dorrit kennenzulernen. In den zahlreichen Kontors Mr. Merdles in der City war, wenn Mr. Dorrit in einem derselben bei seinen Geschäftsbesuchen im Osten erschien (was häufig geschah, denn diese nahmen erstaunlich zu), der Name Dorrit stets ein Paß, der Zutritt zu dem großen Merdle verschaffte. So wurde der Traum mit jeder Stunde berauschender, und Mr. Dorrit fühlte immer mehr, daß diese Verbindung ihn wirklich vorwärtsgebracht habe.

Nur eines lag nichts weniger als golden und leicht auf Mr. Dorrits Seele. Das war der Oberhaushofmeister. Diese erstaunliche Persönlichkeit sah ihn während seiner offiziellen Beaufsichtigung des Diners in einer Weise an, die Mr. Dorrit sehr in Frage zu ziehen geneigt war. Wenn er durch die Halle und über die Treppe ging, um sich zum Diner zu begeben, sah er ihn mit einer glasigen Starrheit an, die Mr. Dorrit nicht gefiel. Wenn Mr. Dorrit bei Tische saß und trank, sah er durch sein Weinglas, wie der Oberhaushofmeister ihn mit kaltem und geisterhaftem Blicke betrachtete. Der Zweifel stieg in ihm auf, ob ihn nicht der Oberhaushofmeister als Gefangenen gekannt, ihn im Gefängnis gesehen – vielleicht ihm sogar vorgestellt worden. Er sah den Oberhaushofmeister so genau an, als man überhaupt einen solchen Mann ansehen kann, und doch erinnerte er sich nicht, daß er ihn je anderwärts gesehen hatte. Zuletzt neigte er sich zu der Ansicht, daß der Mann keine Ehrfurcht, diese große Kreatur kein Gefühl besitze. Aber das beruhigte ihn nicht, denn, er mochte denken, was er wollte, der Oberhaushofmeister ließ sein geringschätziges Auge auf ihm ruhen, selbst wenn dieses Auge auf das Silberzeug oder andern Tafelschmuck sah. Ihm einen Wink zu geben, daß diese Begrenzung seines Blickes unangenehm sei, oder ihn zu fragen, was das heißen solle, war ein zu kühnes Wagstück, um sich dazu zu entschließen, denn er war gegen seinen Herrn und dessen Gäste entsetzlich streng und erlaubte ihnen nicht, sich die geringste Freiheit gegen ihn herauszunehmen.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

Reisegenossen.

Im Herbste des Jahres krochen Dunkelheit und Nacht zu den höchsten Gipfeln der Alpen empor.

Es war die Zeit der Weinlese in den Tälern auf der Schweizer Seite des St. Bernhardpasses und an den Ufern des Genfer Sees. Die Luft war von dem Duft der eingeernteten Trauben geschwängert. Körbe, Bütten und Kübel mit Trauben standen in den dunklen Dorftorwegen, verstellten die steilen und engen Dorfgassen und wurden den ganzen Tag auf Wegen und Straßen hin und her getragen. Trauben, von den Füßen zertreten und zerquetscht, lagen überall umher. Die junge Bäuerin, die sich schwerbeladen nach Hause schleppte, beruhigte ihr schreiendes Kind mit Trauben. Der Idiot, der seinen dicken Kropf unter der Traufe der hölzernen Hütte an dem Wege zum Wasserfall sonnte, saß gierig Trauben kauend da. Der Atem der Kühe und Ziegen duftete angenehm von dem Laub und den Kämmen der Trauben. Die versammelten Gäste in jedem kleinen Wirtshause sprachen, während sie aßen und tranken, von Trauben. Schade, daß aus dem großen Überfluß nicht etwas Reife auf den dünnen, harten, steinigen Wein überging, der im ganzen aus diesen Trauben gemacht wurde!

Die Luft war den ganzen schönen Tag über warm und durchsichtig gewesen. Glänzende metallene Kirchturmspitzen und Kirchendächer, die man da und dort in der Ferne sah, hatten die weite Gegend durchblitzt: und die schneeigen Berggipfel waren so klar gewesen, daß nicht daran gewöhnte Augen mit dem Blick über das dazwischenliegende Land hinwegeilten und ihre rauhe Höhe als etwas Fabelhaftes gering achtend, gewöhnlich glaubten, sie seien in wenigen Stunden zu erreichen. Bergkuppen von großer Berühmtheit sah man von den Tälern, wo bisweilen monatelang keine Spur von ihrer Existenz sichtbar war, seit dem Morgen klar und nahe an dem blauen Himmel stehen. Und selbst jetzt, wo es unten dunkel wurde, hoben sie sich – gleichsam feierlich zurückschreitend wie Geister, die entschwinden wollen – doch noch deutlich in ihrer Einsamkeit über dem Nebel und dem Schatten bleich und kalt vom Himmel ab.

Von diesen Einöden und vom Paß des großen St. Bernhard aus gesehen stieg die Nacht an den Bergen flutartig empor. Als sie endlich die Mauern des Klosters auf dem großen St. Bernhard erreicht hatte, erschien dieser wetterharte Bau wie eine zweite Arche, die auf den Schattenwogen schwamm.

Die Dunkelheit, die einige Fremde überholte, hatte die rauhen Klostermauern erreicht, als diese Reisenden noch den Berg hinanklommen. Wie die Hitze des glühenden Tages, die sie haltzumachen und an den Strömen geschmolzenen Schnees und Eises zu trinken eingeladen hatte, nun in die durchdringende Kälte der frostigen verdünnten Nachtluft auf großer Höhe übergegangen war, so war die frische Schönheit der Reise in tieferliegenden Gegenden jetzt der Dürre und Öde gewichen. Ein schroffer, holperiger Pfad, auf dem die Maultiere, eines hinter dem andern, von Block zu Block kletterten und sich wanden, als wenn sie die verbröckelte Treppe einer riesigen Ruine hinaufstiegen, war jetzt ihr Weg. Kein Baum war zu sehen, keine Pflanze zu erblicken, nur ein armes, braunes, elendes Moos, das in den Ritzen der Felsen erstarrt war. Geschwärzte Skelettarme von Holz zeigten am Wege hinauf nach dem Kloster, als wenn die Gespenster früherer Reisenden, die im Schnee begraben worden waren, an dem Schauplatz ihres Unglücks umgingen. Eiszapfenbehangene Höhlen und Hütten, als Zufluchtsorte für plötzliche Stürme gebaut, glichen ebenso vielen flüsternden Stimmen, die die Gefahren dieses Ortes den Reisenden ins Ohr raunten. Nimmerruhende Wirbel und Labyrinthe von Nebel wanderten, von einem Klagewind gescheucht, umher; und Schnee, die ringsum drohende Gefahr des Berges, gegen die man alle Sicherheitsmaßregeln getroffen, trieb heftig in die Tiefe.

Die Reihe der von ihrem Tagewerk müden Maulesel wand sich langsam an dem steilen Abhang in die Höhe: der vorderste wurde von einem Führer zu Fuß geleitet, der einen breitkrempigen Hut und eine runde Jacke hatte, auf der Schulter ein bis zwei Alpenstöcke trug und mit einem andern Führer plauderte. Die Schar der Reiter führte kein Gespräch. Die scharfe Kälte, die Anstrengung der Reise und ein neues Gefühl von gehemmtem Atem, zum Teil, als stiegen sie gerade aus sehr klarem, gekräuseltem Wasser, zum Teil, als wenn sie schluchzten, ließ sie schweigen.

Endlich glänzte ein Licht auf der Höhe der Felsentreppe durch Schnee und Nebel. Die Führer trieben die Maultiere an; diese hoben die gesenkten Köpfe, die Jungen der Reisenden waren gelöst, und unter einem plötzlich entstandenen Wirrwarr von Ausgleiten, Klettern, Klingeln, Klirren und Schwatzen kamen alle bei dem Tor des Klosters an.

Andre Maultiere waren nicht lange zuvor angekommen, einige mit reisenden Landleuten, andere mit Waren, und hatten den Schnee vor der Tür in einen Pfuhl von Schmutz getreten. Reitsättel und Zügel, Packsättel und Glockenriemen, Maultiere und Menschen, Laternen, Fackeln, Säcke, Mundvorräte, Fässer, Käselaibe, Tönnchen mit Honig und Butter, Strohbündel und Pakete mancherlei Art lagen in diesem aufgetauten Sumpfe und auf den Stufen durcheinander. Hier oben in den Wolken sah man alles durch Wolken, und alles schien sich in Wolken aufzulösen. Der Atem der Leute war Wolke, der Atem der Maultiere war Wolke, die Lichter waren von Wolke umgeben, die dicht nebenan Sprechenden waren vor Wolken nicht zu sehen, obgleich ihre Stimmen und alle andern Klänge überraschend klar waren. Von der wolkigen Reihe von Maultieren, die rasch innerhalb der Mauer Kreise bildeten, biß oder schlug gewöhnlich das eine das andre, und dann war der ganze Nebel zerstreut. Die Männer drangen dazwischen, Geschrei von Menschen und Tieren scholl aus dem Knäuel, und niemand, der dabeistand, konnte unterscheiden, was geschehen war. Mitten in diesem Treiben strömte der Klosterstall, der den untern Stock des Gebäudes bildete und in den man durch die Grundstocktür trat, außerhalb der all dieses Durcheinander sich umhertrieb, seinen Beitrag an Wolke aus, als wenn das ganze rauhe Gebäude mit nichts sonst gefüllt wäre und zusammenstürzen würde, sobald es sich geleert, so daß dann der Schnee auf die kahlen Berggipfel fiele.

Während all dieser Lärm und diese Unruhe unter den lebenden Reisenden herrschte, waren still versammelt in einem vergitterten, ein halbes Dutzend Schritte entfernten Hause, das von der gleichen Wolke umhüllt war und in das die gleichen Schneeflocken trieben, die toten Reisenden, die man auf dem Berge gefunden. Die vor vielen Wintern vom Sturm überraschte Mutter, die noch immer mit dem Säugling an der Brust in der Ecke stand; der Mann, der erfroren, während er aus Hunger oder Furcht den Arm zum Munde erhob, und ihn noch immer nach vielen Jahren an seine trockenen Lippen drückte. Eine schreckliche, auf seltsame Weise zusammengekommene Gesellschaft! Ein furchtbares Schicksal für eine Mutter, vorhergesehen zu haben: »Umgeben von so manchen und solchen Gefährten, die ich niemals gesehen und nie sehen werde, werden ich und mein Kind unzertrennlich auf dem großen St. Bernhard zusammen wohnen, Generationen überdauern, die uns zu sehen kommen und nie unsere Namen oder ein Wort von unserer Lebensgeschichte, außer dem Ende, erfahren werden.«

Die lebenden Reisenden dachten in jenem Augenblick wenig oder gar nicht an die toten. Sie dachten weit mehr daran, vor dem Klostertor abzusteigen und sich an dem Klosterfeuer zu wärmen. Aus dem Gewirr sich loswindend, das bereits weniger lärmend wurde, da man die Masse der Maultiere in dem Stall unterzubringen begann, eilten sie, schauernd vor Kälte, die Treppe hinauf in das Haus. Dort herrschte ein Geruch, der durch den Boden von den angebundenen Tieren herausdrang, ähnlich dem Geruch einer Menagerie von wilden Tieren. Drinnen befanden sich starke gewölbte Gänge, hohe steinerne Pfeiler und dicke Mauern mit kleinen verfallenen Fenstern – Bollwerke gegen die Bergstürme, als wenn es menschliche Feinde gewesen wären. Ferner düstere gewölbte Schlafzimmer, schrecklich kalt, aber reinlich und gastlich für Fremde eingerichtet. Endlich ein gemeinsames Konversationszimmer, in dem die Gäste saßen und aßen, wo auch bereits ein Tisch aufgestellt war und ein helles Feuer rot und hoch im Kamin flackerte.

In diesem Zimmer setzten sich die Reisenden, nachdem ihnen von zwei jungen Mönchen die für die Nacht bestimmten Quartiere angewiesen waren, um den Kamin. Es waren drei Gesellschaften: die erste, als die zahlreichste und bedeutendste, war die langsamste und hatte sich von einer und der andern auf dem Wege herauf überholen lassen. Sie bestand aus einer älteren Dame, zwei grauen Herren, zwei jungen Damen und ihrem Bruder. Diese hatten (vier Führer ungerechnet) einen Kurier, zwei Diener und zwei Kammermädchen bei sich: diese große lästige Gesellschaft wurde anderwärts unter einem Dache untergebracht. Diejenige Gesellschaft, die sie überholte und nun hinterdrein kam, bestand nur aus drei Gliedern: einer Dame und zwei Herren. Die dritte Gesellschaft, die von dem Tal auf der italienischen Seite des Passes heraufkam und zuerst da war, bestand aus vier Gliedern: einem vollblütigen, hungrigen und schweigsamen deutschen Hofmeister mit einer Brille, der sich auf einer Tour mit drei jungen Männern, seinen Zöglingen, befand, lauter vollblütigen, hungrigen und schweigsamen Menschen mit Brillen.

Diese drei Gruppen saßen rings um das Feuer, sich trocken ansehend und auf das Nachtessen wartend. Nur einer unter ihnen, einer von den Herren, die zu der Gesellschaft von den dreien gehörten, machte einen Ansatz zu einer Unterhaltung. Indem er seine Angelschnur nach dem Häuptling des bedeutenden Stammes auswarf, während er sich an seine eigenen Reisegenossen wandte, bemerkte er in einem Ton, der die ganze Gesellschaft einschloß, wenn sie eingeschlossen sein wollte, daß es ein langer Tag gewesen und daß er die Damen bedauere. Daß er fürchte, eine von den jungen Damen sei nicht stark genug und nicht hinlänglich ans Reisen gewöhnt und sei vor zwei bis drei Stunden außerordentlich ermüdet gewesen. Er habe von seinem Standort im Nachtrab aus bemerkt, daß sie ganz erschöpft auf ihrem Maultier gesessen. Er habe später zwei- oder dreimal sich die Ehre gegeben, einen von den Führern zu fragen, der nach hinten gekommen sei, wie es der jungen Dame gehe. Er sei entzückt zu erfahren, daß sie sich erholt und daß es nur ein vorübergehendes Unbehagen gewesen wäre. Er glaube (diesmal faßte er den Häuptling ins Auge und wandte sich an ihn), es werde ihm erlaubt sein, seine Hoffnung auszusprechen, daß sie sich nun ganz wohl befinde und nicht bereue, die Reise gemacht zu haben.

»Meine Tochter, – ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir«, versetzte der Häuptling, – »ist vollkommen wiederhergestellt und fand großes Interesse an der Gesellschaft.«

»Vielleicht zum erstenmal in den Bergen?« sagte der einschmeichelnde Reisende.

»Zum – ha – zum erstenmal in den Bergen«, sagte der Häuptling. »Aber Sie sind damit vertraut, mein Herr?« fuhr der einschmeichelnde Reisende fort.

»Ich bin – hm – ziemlich vertraut damit. Nicht aus den letzten Jahren. Nicht aus den letzten Jahren«, versetzte der Häuptling, mit der Hand winkend.

Der einschmeichelnde Reisende antwortete auf das Winken der Hand mit einer Verbeugung des Kopfes und wandte sich von dem Häuptling zu der zweiten jungen Dame, die er bis jetzt noch nicht angeredet hatte, außer, daß er sie zu den Damen zählte, die er so innig bedauerte.

Er sprach die Hoffnung aus, daß die Anstrengungen des Tages sie nicht zu sehr mitgenommen hätten.

»Mitgenommen haben sie mich allerdings«, versetzte die junge Dame, »aber sie haben mich nicht ermüdet.«

Der einschmeichelnde Reisende machte ihr sein Kompliment über die richtige Unterscheidung. Das habe er sagen wollen. Jede Dame müsse sich freilich über dieses sprichwörtlich unfügsame und beschwerliche Tier, den Maulesel, beschweren.

»Wir mußten natürlich«, sagte die junge Dame, die ziemlich zurückhaltend und stolz war, »die Wagen und den Fourgon in Martigny zurücklassen. Und die Unmöglichkeit, etwas, was man braucht, an diesen unzugänglichen Ort herauszubringen, und die Notwendigkeit, allen Komfort zurückzulassen, ist nicht sehr angenehm.«

»Ein wüster Ort, allerdings«, sagte der einschmeichelnde Reisende.

Die ältliche Dame, die ein Muster von pünktlichem Anzug war und die in ihrer Art vollkommen genannt werden konnte, wenn man sie als ein Stück Maschine betrachtete, warf hier mit sanfter leiser Stimme eine Bemerkung ein.

»Aber wie andere unbequeme Orte«, bemerkte sie, »muß man ihn sehen. Als ein Ort, von dem viel die Rede, muß er mal besucht werden.«

»Oh! ich habe durchaus nichts dagegen, daß man ihn sieht, ich versichere Sie, Mrs. General«, versetzte die andere nachlässig.

»Sie, Madame«, sagte der einschmeichelnde Reisende, »haben diesen Ort schon früher besucht?«

»Ja«, versetzte Mrs. General. »Ich war früher schon hier. Ich möchte Ihnen raten, meine Liebe«, sagte sie zu der genannten jungen Dame, »Ihr Gesicht vor der Hitze des Feuers zu schützen, nachdem es der Bergluft und dem Schnee ausgesetzt gewesen. Auch Ihnen, meine Liebe«, fügte sie, an die andere junge Dame gewandt, hinzu, die sogleich tat, wie ihr anempfohlen worden, während die erstere einfach sagte: »Ich danke Ihnen, Mrs. General; ich fühle mich ganz behaglich so und ziehe es vor, zu bleiben, wie ich bin.«

Der Bruder, der vom Stuhl aufgestanden war, um das Piano zu öffnen, das in dem Zimmer stand, und hineingepfiffen hatte, schlenderte jetzt, das Monokel im Auge, wieder zu dem Feuer zurück. Er war im vollsten und vollständigsten Reiseanzug. Die Welt schien kaum groß genug, um ihm eine seiner Equipierung entsprechende Reisegelegenheit zu bieten.

»Diese Burschen brauchen ungeheuer lange zu ihrem Nachtessen«, sagte er schleppend. »Ich bin begierig, was sie uns geben werden! Hat jemand ein Vorstellung davon?«

»Keine gebratenen Menschen, glaube ich«, antwortete die Stimme des zweiten Herrn von der Gesellschaft der drei.

»Ich vermute nicht. Was meinen Sie?« fragte er.

»Daß, da Sie nicht bei dem allgemeinen Souper aufgesetzt werden sollen, Sie uns vielleicht die Gefälligkeit erweisen werden, sich nicht an dem allgemeinen Feuer zu rösten«, versetzte der andere.

Der junge Herr, der in einer bequemen Stellung am Kamin stand, das Monokel auf die Gesellschaft gerichtet, den Rücken nach dem Feuer zu und die Rockflügel unter den Armen, als ob er zum Hühnergeschlecht gehörte und an den Spieß gesteckt wäre, um zu braten, verlor bei dieser Antwort die Fassung; er schien im Begriffe, eine Erklärung zu fordern, als man entdeckte – indem alle Augen auf den Sprechenden gerichtet waren –, daß die Dame, die bei ihm war, ein junges und hübsches Geschöpf, nichts von dem gehört hatte, was vorgegangen, da sie ohnmächtig den Kopf auf die Schulter hatte sinken lassen.

»Ich glaube«, sagte der Herr in gedämpften Tone, »es wäre das beste, ich brächte sie sogleich nach ihrem Zimmer. Wollen Sie jemanden rufen, daß man Licht bringt?« fügte er, an seinen Begleiter gewandt, hinzu; »man muß uns den Weg zeigen. Ich glaube nicht, daß ich mich in diesem seltsamen Labyrinth zurechtfinden werde.«

»Bitte, lassen Sie mich mein Mädchen rufen«, sagte die größere von den jungen Damen.

»Bitte, lassen Sie mich dies Wasser an ihre Lippen bringen«, sagte die kleinere, die bis jetzt noch nicht gesprochen hatte.

Da jeder tat, was er vorschlug, so war kein Mangel an Beistand. Und als gar die beiden Mädchen eintraten (begleitet vom Kurier, damit niemand ihnen den Mund verstopfe, wenn er sie unterwegs in einer fremden Sprache anredete), war sogar die Aussicht auf zuviel Beistand. Als der Herr dies sah, sagte er einige Worte zu der kleinern und jüngern von den beiden Damen, legte den Arm seiner Frau um seine Schulter, hob sie in die Höhe und trug sie hinweg.

Sein Freund, der mit den andern Fremden nun allein war, ging langsam in dem Zimmer auf und ab, ohne wieder zu dem Feuer zu kommen: er zupfte nachdenklich an seinem schwarzen Schnurrbart, als ob er sich für die letzte Erwiderung verantwortlich fühlte. Während der Gegenstand derselben in einer Ecke Schmähungen ausstieß, wandte sich der Häuptling stolz an diesen Herrn.

»Ihr Freund, mein Herr«, sagte er, »ist – ha – etwas ungeduldig, und in seiner Ungeduld weiß er vielleicht nicht genau, was er andern schuldig ist – aber wir wollen darüber hinwegsehen, wir wollen darüber hinwegsehen. Ihr Freund ist etwas ungeduldig, mein Herr.«

»Es mag wohl sein, mein Herr«, versetzte der andere. »Da ich jedoch die Ehre gehabt, die Bekanntschaft dieses Herrn im Hotel zu Genf zu machen, wo wir und zahlreiche gute Gesellschaft vor einiger Zeit uns trafen, und da ich die Ehre gehabt, bei verschiedenen späteren Ausflügen mich seiner Gesellschaft und Unterhaltung zu erfreuen, so kann ich nichts hören – nicht einmal von einem Mann Ihres Äußern und Ihrer Stellung, was diesem Gentleman nachteilig wäre.«

»Sie sind durchaus in keiner Gefahr, mein Herr, irgend etwas Derartiges von mir zu hören. Wenn ich die Bemerkung machte, daß Ihr Freund Ungeduld an den Tag gelegt, so sage ich damit nichts Nachteiliges. Ich mache diese Bemerkung nur, weil nicht zu bezweifeln ist, daß mein Sohn, der durch Geburt und – ha – durch Erziehung – hm – Gentleman ist, sich bereitwillig jedem artig ausgesprochenen Wunsche bezüglich des Feuers gefügt, das für alle Glieder dieser Gesellschaft gleich zugänglich ist. Was ich grundsätzlich richtig finde, denn – ha – alle sind –hm – in solchen Fällen gleichberechtigt.«

»Gut!« lautete die Antwort. »Und damit genug! Ich bin Ihres Sohnes ergebener Diener. Ich bitte Ihren Sohn, die Versicherung meiner vollkommensten Hochachtung zu empfangen. Und nun, mein Herr, gestehe ich, gestehe ich offen, daß mein Freund bisweilen von sarkastischem Temperament ist.«

»Die Dame ist Ihres Freundes Frau, mein Herr?«

»Die Lady ist meines Freundes Frau, mein Herr.«

»Sie ist sehr schön.«

»Sie ist unvergleichlich schön. Sie befinden sich im ersten Jahre ihrer Verbindung. Sie sind zum Teil noch auf einer Hochzeits-, zum Teil auf einer Kunstreise.«

»Ihr Freund ist ein Künstler?«

Der Herr antwortete, indem er die Finger seiner rechten Hand küßte und den Kuß armhoch zum Himmel emporwarf, was soviel heißen sollte, wie: ich weihe ihn den himmlischen Mächten als einen unsterblichen Künstler.

»Er ist jedoch ein Mann aus vornehmer Familie«, fügte er hinzu. »Er hat die besten Beziehungen. Er ist mehr als ein Künstler. Er stammt aus sehr vornehmem Hause. Er mag seine Verwandtschaft wirklich stolz, ungeduldig, sarkastisch (ich erlaube mir beide Ausdrücke) zurückgestoßen haben, aber er besitzt sie einmal. Funken, die während unserer Unterhaltung fielen, haben mich darüber belehrt.«

»Nun! Ich hoffe«, sagte der stolze Herr, mit einer Miene, als wollte er die Sache endlich abtun, »daß die Unpäßlichkeit der Dame nur vorübergehend sein werde.«

»Das hoffe ich auch, mein Herr.« »Bloße Ermüdung, glaube ich.«

»Nicht Ermüdung allein, mein Herr, denn ihr Maultier strauchelte heute, und sie fiel aus dem Sattel. Sie fiel leicht und stand ohne Unterstützung wieder auf den Füßen; dann ritt sie lachend voraus: aber sie klagte gegen Abend über eine leichte Quetschung in der Seite. Sie sprach mehr als einmal davon, als wir hinter Ihnen den Berg hinauf ritten.«

Der Häuptling des großen Gefolges, der gnädig, aber nicht vertraulich war, schien nun der Ansicht zu sein, daß er sich mehr als genug herablassend bewiesen. Er sagte nichts mehr, und es trat für eine Viertelstunde Stille ein bis zum Abendessen.

Mit dem Abendessen kam einer von den jungen Mönchen (es schien hier keine alten Mönche zu geben) und setzte sich oben an die Tafel. Das Mahl war ganz ähnlich wie das Abendessen in einem gewöhnlichen Schweizer Hotel, und guter roter Wein, in einer heitereren Luft gewachsen, fehlte nicht. Der reisende Künstler kam ruhig zurück und nahm seinen Platz am Tisch ein, als die übrigen sich setzten: er schien nicht entfernt mehr an sein letztes Scharmützel mit dem Fremden in dem vollkommenen Reiseanzug zu denken.

»Bitte«, fragte er den Wirt über seine Suppe hinüber, »hat Ihr Kloster jetzt viele von seinen berühmten Hunden?«

»Monsieur, drei.«

»Ich sah drei im Gange unten. Ohne Zweifel die fraglichen drei.«

Der Wirt, ein schlanker, helläugiger, ernster, junger Mann von feinen Manieren, dessen Kleidung in einer schwarzen Kutte mit Streifen von weißem Tuch darüber, wie Tragbänder, bestand und der der klösterlichen Eigenart der Bernhardiner Mönche nicht mehr glich als wie der klösterlichen Zucht der Hunde von St. Bernhard, antwortete, ohne Zweifel würden es die drei fraglichen sein.

»Und ich glaube«, sagte der reisende Künstler, »ich habe einen derselben früher schon gesehen.«

Es sei möglich. Es sei ein wohlbekannter Hund. Monsieur könne ihn leicht im Tale oder sonstwo an dem See gesehen haben, wenn er (der Hund) mit einem vom Orden hinabgegangen, um Unterstützung für das Kloster zu sammeln.

»Was regelmäßig zu einer bestimmten Zeit im Jahr geschieht, nicht wahr?«

Monsieur habe recht.

»Und nie ohne den Hund. Der Hund ist sehr wichtig.«

Monsieur habe wieder recht. Der Hund sei sehr wichtig. Die Leute interessieren sich sehr für den Hund als einen von den überall bekannten Hunden, wie Mademoiselle begreifen werde.

Mademoiselle war etwas langsam im Begreifen, als ob sie noch nicht recht an das Französische gewöhnt wäre. Mrs. General begriff es jedoch statt ihrer.

»Fragen Sie ihn, ob er viele Menschen gerettet hat?« sagte der junge Mann, der seine Fassung verloren hatte, in seinem heimischen Englisch.

Der Wirt bedurfte keiner Übersetzung der Frage. Er antwortete rasch französisch: »Nein. Dieser niemanden.«

»Warum nicht?« fragte derselbe Herr.

»Entschuldigen Sie«, antwortete der Wirt gelassen, »geben Sie ihm die Gelegenheit, und er wird es sicher tun. Zum Beispiel, ich bin fest überzeugt«, fügte er, indem er das Kalbfleisch aufschnitt, um es herumreichen zu lassen, ruhig nach dem jungen Mann hinüberlächelnd, der aus der Fassung gekommen, hinzu: »daß, wenn Sie, Monsieur, ihm die Gelegenheit geben sollten, er mit größtem Eifer sich beeilen würde, seine Pflicht zu tun.«

Der reisende Künstler lachte. Der einschmeichelnde Reisende (der die lebhafte Besorgnis an den Tag legte, er möchte nicht seinen vollen Anteil an dem Abendessen erhalten) wischte sich einige Tropfen Wein mit einem Stück Brot von dem Schnurrbart und mischte sich in das Gespräch.

»Es wird etwas spät, mein Vater«, sagte er, »für Vergnügungsreisende, nicht wahr?«

»Ja, es ist spät. Noch zwei bis drei Wochen, und wir liegen im Winterschnee begraben.«

»Dann«, sagte der einschmeichelnde Reisende, »gilt’s den ausscharrenden Hunden und den begrabenen Kindern, nach den Bildern.«

»Entschuldigen Sie«, sagte der Wirt, der die Anspielung nicht ganz verstand, »wie ist das gemeint mit den ausscharrenden Hunden und begrabenen Kindern, nach den Bildern?«

Der reisende Künstler fiel wieder ins Wort, ehe eine Antwort gegeben werden konnte.

»Wissen Sie nicht«, fragte er seinen Reisegenossen kalt über den Tisch hinüber, »daß nur Schmuggler im Winter dieses Weges kommen oder irgendein Geschäft auf diesem Wege haben können?«

»Herr, mein Gott! Nein, davon habe ich nie gehört.«

»Dem ist aber so. Und da sie die Vorzeichen des Wetters ziemlich gut wissen, so machen sie den Hunden nicht viel zu schaffen – die infolgedessen auch ziemlich ausgestorben sind – obwohl diese Herberge bequem für sie gelegen ist. Ihre jungen Familien, sagte man mir, lassen sie gewöhnlich zu Hause. Aber es ist ein großer Gedanke!« rief der reisende Künstler, unerwartet in einen enthusiastischen Ton ausbrechend. »Es ist eine erhabene Idee. Es ist die schönste Idee von der Welt und preßt uns Tränen aus, beim Himmel!« Nachdem er geendigt, aß er mit großer Ruhe an seinem Kalbfleisch fort.

Es lag genug höhnenden Widerspruchs in diesen Worten, um einen Mißton hervorzurufen, obgleich die Art, wie sie hervorgebracht wurden, sehr fein und die Person, die sie vorbrachte, sehr viel Manier hatte, und obgleich der herabsetzende Teil derselben so geschickt eingekleidet war, daß es für ein an die englische Sprache nicht vollkommen gewöhntes Ohr sehr schwer war, es zu verstehen oder selbst, wenn man es verstanden, sich beleidigt zu fühlen, so einfach und leidenschaftslos war der Ton. Nachdem er mit seinem Kalbfleisch mitten in der allgemeinen Stille zu Ende war, richtete der Sprecher wieder das Wort an seinen Freund.

»Sehen Sie«, sagte er in seinem früheren Ton, »sehen Sie diesen Herrn, unsern Wirt, an, der noch nicht mal in dem besten Mannesalter steht und auf so anmutige Weise und mit so seiner Lebensart und Bescheidenheit uns die Honneurs macht! Manieren für eine Krone geeignet! Essen Sie mit dem Lord-Mayor von London (wenn Sie eine Einladung bekommen können) und bemerken Sie den Kontrast. Dieser liebe Junge, mit dem feinstgeschnittenen Gesicht, das ich jemals sah, einem Gesicht von vollendeter Zeichnung verläßt ein tätiges Leben und kommt hier herauf, ich weiß nicht, wie viele Fuß über dem Spiegel des Sees, in keiner andern Absicht (ausgenommen, hoffe ich, um sich in einem trefflichen Refektorium zu ergötzen), als um ein Hotel für müßige arme Teufel, wie Sie und ich, zu halten und die Rechnung unsrem Gutdünken zu überlassen! Wie, ist das nicht ein schönes Opfer? Was brauchen wir mehr, um uns rühren zu lassen? Weil nicht acht bis neun Monate lang von den zwölfen gerettete Leute von interessantem Äußern sich am Halse der klügsten Tiere, die hölzerne Flaschen tragen, festhalten, sollen wir deshalb den Ort tadeln? Nein! Segen über diesen Ort. Es ist ein großer Ort, ein herrlicher Ort!«

Die Brust des grauen Gentleman, der der Häuptling der bedeutenden Gesellschaft war, schwoll, als wollte er dagegen protestieren, daß man ihn unter die armen Teufel zähle. Kaum hatte der reisende Künstler zu sprechen aufgehört, als er selbst mit großer Würde das Wort ergriff, als läge es ihm ob, an den meisten Orten das erste Wort zu führen, und er hätte diese Pflicht eine kurze Weile versäumt.

Er teilte mit großer Gewichtigkeit ihrem Wirt seine Ansicht mit, daß sein Leben im Winter hier ein höchst trauriges sein müsse.

Der Wirt gestand dem Monsieur zu, daß es etwas einförmig sei. Die Luft sei lange Zeit schwer zu atmen. Die Kälte sei sehr streng. Man müsse jung und kräftig sein, um es auszuhalten. Sei man dies jedoch und habe man den Segen des Himmels …

Ja, das sei sehr gut. »Aber die Gefangenschaft?« fragte der graue Herr.

Es gebe viele Tage, selbst bei schlechtem Wetter, wo es möglich sei, auszugehen. Es sei dann ihre Gewohnheit, einen kleinen Weg zu bahnen und sich dort Bewegung zu machen.

»Aber der Raum«, machte der graue Herr geltend. »So klein! So – ha – sehr beschränkt.«

Monsieur möge sich erinnern, daß man die Zufluchtorte besuchen und auch dorthin Wege bahnen müsse.

Monsieur machte dagegen geltend, daß der Raum –ha – hm – so schmal sei. Mehr als das. Es sei immer derselbe, immer derselbe. Mit einem ausweichenden Lächeln hob und senkte der Wirt sanft seine Schultern. Das sei wahr, bemerkte er, aber es möge ihm zu sagen gestattet sein, daß beinahe alle Dinge ihre verschiedenen Gesichtspunkte hätten. Monsieur und er sehen dies sein armes Leben nicht vom gleichen Gesichtspunkt an. Monsieur sei nicht an Gefangenschaft gewöhnt.

»Ich – ha – ja, sehr wahr«, sagte der graue Gentleman. Er schien einen tüchtigen Stoß von der Kraft dieses Beweises zu bekommen.

Monsieur, als ein reisender Engländer, umgeben von allen Mitteln, angenehm zu reisen, ohne Zweifel im Besitz von Vermögen, Wagen, Dienerschaft –

»Ja wohl, ja wohl. Ganz richtig –« sagte der Gentleman.

Monsieur könne sich nicht leicht in die Lage einer Person setzen, die nicht die Macht habe, zu wählen, ich will heute dahin gehen und morgen dorthin: ich will diese Grenzen überschreiten, die Fesseln, die mich binden, erweitern. Monsieur könnte sich vielleicht nicht vorstellen, wie der Geist sich in solchen Dingen der gebieterischen Notwendigkeit fügt.

»Es ist wahr«, sagte Monsieur. »Wir wollen – ha – die Sache nicht weiter verfolgen. Sie sind – hm – sehr genau, ich zweifle nicht daran. Wir wollen nicht weiter davon reden.«

Als das Essen vorüber war, zog er während des Sprechens seinen Stuhl weg und bewegte sich nach seinem früheren Platz bei dem Feuer. Da es am größten Teil des Tisches sehr kalt war, nahmen die andern Gäste gleichfalls ihre früheren Sitze bei dem Feuer ein, denn sie hatten die Absicht, sich vor Schlafengehen tüchtig zu wärmen. Als sie sich vom Tische erhoben, verbeugte sich der Wirt vor allen Anwesenden, wünschte ihnen gute Nacht und ging von dannen. Zuvor hatte ihn jedoch der einschmeichelnde Reisende gefragt, ob sie etwas Wein heiß gemacht bekommen könnten; und da er »ja« geantwortet und das Getränk kurz darauf hereingesandt, setzte sich dieser Reisende in die Mitte der Gruppe und war in der vollen Hitze des Feuers bald damit beschäftigt, es den übrigen zu servieren.

Um diese Zeit schlüpfte die jüngere von den beiden jungen Damen, die stumm und aufmerksam in ihrer dunklen Ecke (das Kaminfeuer war das Hauptlicht in dem finstern Zimmer, die Lampe brannte rauchig und düster) auf das gehorcht, was von der abwesenden Dame gesprochen wurde, zur Tür hinaus. Sie wußte nicht, welchen Weg sie gehen sollte, als sie leise dieselbe geschlossen hatte; nach einigem Hin- und Hergehen in den hallenden Gängen und den zahlreichen Wegen kam sie an ein Zimmer in einer Ecke des Hauptgangs, wo die Diener beim Abendessen saßen. Diese gaben ihr eine Lampe und zeigten ihr den Weg nach dem Zimmer der Dame.

Es lag über der großen Treppe im obern Stock. Da und dort waren die kahlen weißen Wände durch ein eisernes Gitter unterbrochen, und sie glaubte, als sie vorüberging, der Ort sei eine Art Gefängnis. Die rundbogige Tür des Zimmers oder der Zelle der Dame war nicht ganz geschlossen. Nachdem sie zwei- bis dreimal daran geklopft hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, drückte sie sie langsam auf und sah hinein.

Die Dame lag mit geschlossenen Augen außen auf dem Bett, durch wollene Decken und Umschlagtücher, mit denen sie bei ihrem Erwachen aus der Ohnmacht zugedeckt worden, vor der Kälte geschützt. Ein düstres Licht in der tiefen Fensternische verbreitete wenig Helle in dem gewölbten Zimmer. Die Fremde trat schüchtern an das Bett und sagte leise flüsternd: »Befinden Sie sich besser?«

Die Dame lag im Schlummer, und das Geflüster war zu schwach, um sie aufzuwecken. Ihr Besuch, der noch immer ganz stille stand, sah sie aufmerksam an.

»Sie ist sehr hübsch«, sagte sie bei sich. »Ich sah noch nie ein so schönes Gesicht. O, wie anders sehe ich aus!«

Es war ein seltsamer Ausspruch, aber er hatte seine verborgene Bedeutung, denn ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich weiß, ich hatte recht. Ich weiß, er sprach von ihr, an jenem Abend. Ich konnte sehr leicht über alles andre im Irrtum sein. Aber darüber nicht, nicht darüber!«

Mit sanfter und zarter Hand strich sie eine verirrte Locke von dem Haar der Schlafenden zurück und berührte dann die Hand, die außerhalb der Decke lag.

»Ich sehe sie gern an«, atmete sie leicht vor sich hin. »Ich sehe gerne, was ihn so sehr angezogen hat.«

Sie hatte ihre Hand noch nicht losgelassen, als die Schlafende ihre Augen öffnete und zurückfuhr.

»Bitte, beunruhigen Sie sich nicht. Ich bin nur eine von den Reisenden unten. Ich kam, um Sie zu fragen, ob Sie sich besser befänden und ob ich etwas für Sie tun könnte.«

»Ich danke: Sie waren bereits so freundlich, Ihr Kammermädchen zu meiner Unterstützung zu senden.«

»Nein, nicht ich, das war meine Schwester. Befinden Sie sich besser?«

»Viel besser. Es ist nur eine leichte Quetschung; man hat nach ihr gesehen und nun geht es beinahe ganz gut. Es machte mich nur einen Augenblick schwindlig und ohnmächtig. Es hatte mir zuvor schon weh getan. Aber zuletzt überwältigte es mich plötzlich.«

»Darf ich bei Ihnen bleiben, bis jemand kommt? Ist es Ihnen angenehm?«

»Es würde mir sehr lieb sein, denn es ist hier sehr einsam; aber ich fürchte, Sie werden die Kälte zu sehr fühlen.«

Ich kümmere mich nicht um die Kälte. Ich bin nicht zart, wenn ich auch danach aussehe.« Sie rückte augenblicklich einen von den rohen Stühlen an das Bett und setzte sich. Die andere nahm ebenso rasch einen Teil eines Reisemantels vom Bett und legte ihn auf sie, so daß ihr Arm, indem sie ihn um sie hielt, auf ihrer Schulter ruhte.

»Sie haben so ganz das Aussehen einer freundlichen Pflegerin«, sagte die Dame, sie anlächelnd, »daß es mir ist, als wenn sie aus meiner Heimat zu mir kämen.«

»Das freut mich sehr.«

»Ich träumte gerade von der Heimat, als ich aufwachte. Von meiner alten Heimat, meine ich, ehe ich verheiratet war.«

»Und ehe Sie so weit davon entfernt waren.«

»Ich war schon weiter entfernt von ihr, aber damals war der beste Teil derselben bei mir, und ich vermißte nichts. Ich fühlte mich so verlassen, als ich einschlief, und, die Heimat vermissend, wanderten meine Gedanken zu ihr zurück.«

Es lag ein traurig inniger und kummervoller Klang in ihrer Stimme, der ihren Gast einen Augenblick lang abhielt, sie anzusehen.

»Es ist ein seltsamer Zufall, der uns zuletzt unter dieser Decke zusammenführt, mit der Sie mich umhüllt haben«, sagte die Fremde nach einer Pause: »denn Sie müssen wissen, ich habe Sie schon lange gesucht.«

»Sie haben mich gesucht?«

»Ich glaube, ich habe ein kleines Billett bei mir, das ich Ihnen geben sollte, wenn ich Sie fände. Da ist es. Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist es an Sie adressiert. Nicht wahr?«

Die Dame nahm es, sagte ja und las es. Ihr Besuch beobachtete sie, während sie dies tat. Es war sehr kurz. Sie errötete etwas, als sie ihre Lippen an die Wangen ihres Besuches legte, und drückte ihre Hand.

»Die liebe junge Freundin, der er mich vorstellt, soll mir bisweilen ein Trost sein, sagt er. Sie ist wahrlich ein Trost für mich, im ersten Augenblick, da ich sie sehe.«

»Vielleicht kennen Sie«, sagte die Fremde zögernd, »vielleicht kennen Sie meine Geschichte nicht? Vielleicht hat er Ihnen nie meine Geschichte erzählt?«

»Nein.«

»O nein, warum sollte er auch! Ich habe selbst kaum ein Recht, es zu tun, da ich nicht dazu aufgefordert worden bin. Es ist nicht viel dabei, aber sie möchte Ihnen erklären, weshalb ich Sie bitte, nichts von dem Briefe hier zu sagen. Sie sahen vielleicht meine Familie bei mir? Einige Mitglieder derselben – ich sage das zu Ihnen – sind etwas stolz, etwas vorurteilsvoll.«

»Sie sollen ihn wieder haben«, sagte die andere, »dann ist mein Gatte sicher, daß er ihn nicht sieht. Er möchte ihn sonst durch irgendeinen Zufall finden oder davon sprechen. Wollen Sie ihn wieder in Ihren Busen stecken, um dessen gewiß zu sein?«

Sie tat es mit großer Vorsicht. Ihre kleine, zarte Hand hielt den Brief noch, als sie jemand im Gange draußen hörten.

»Ich versprach«, sagte die Fremde aufstehend, »daß ich ihm schreiben wolle, wenn ich sie gesehen hätte (ich mußte Sie sicher früher oder später sehen), um ihm zu sagen, ob Sie wohlauf und glücklich seien. Ich darf wohl sagen, daß Sie wohl und glücklich seien?« »Ja, ja, ja! Sagen Sie ihm, ich sei sehr wohlauf und sehr glücklich. Und ich danke ihm herzlich und werde ihn nie vergessen.«

»Ich werde Sie morgen früh sehen. Wir werden uns somit recht bald wiedersehen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht. Ich danke Ihnen, danke Ihnen. Gute Nacht, meine Liebe.«

In größter Hast und Unruhe nahmen sie voneinander Abschied, und ebenso rasch war die Fremde aus der Tür. Sie hatte erwartet, dem Gatten der Dame zu begegnen: aber die im Gange befindliche Person war nicht er: es war der Reisende, der die Weintropfen mit einem Stück Brot vom Schnurrbart gewischt hatte. Als er die Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um – denn er ging in der Dunkelheit.

Seine Höflichkeit, die ausnehmend groß war, wollte nicht dulden, daß sie sich selbst die Treppe hinableuchte und allein gehe. Er nahm ihre Lampe, hielt sie so, daß das beste Licht auf die steinerne Treppe fiel, und begleitete sie den ganzen Weg bis zu dem Speisezimmer. Sie hatte Mühe, auf dem Weg hinab zu verbergen, daß sie jeden Augenblick nahe daran war, zitternd zusammenzusinken; denn die Erscheinung dieses Reisenden war ihr besonders unangenehm. Sie hatte vor dem Essen in ihrer Ecke gesessen und sich vorgegaukelt, was er wohl in den Szenen und an den Orten ihrer Vergangenheit für eine Rolle gespielt, um ihr einen solchen Widerwillen einzuflößen, der ihn ihr nahezu furchtbar erscheinen ließ.

Er begleitete sie mit seiner lächelnden Höflichkeit hinab, führte sie in das Zimmer und nahm seinen Sitz am besten Platz des Kamins wieder ein. Dort saß er, während das Feuer, das bereits schwächer zu brennen begann, in dem dunklen Zimmer seinen Schein bald heller, bald matter auf ihn warf, die Beine nach der Wärme ausgestreckt, den heißen Wein bis auf den Grund leerend, während ein ungeheurer Schatten seine Bewegungen an Wand und Decke nachahmte.

Die müde Gesellschaft war aufgebrochen, und alle andern waren zu Bett gegangen, außer dem Vater der jungen Dame, der in seinem Stuhl am Fenster schlummerte. Der Reisende hatte sich die Mühe genommen, seine Taschenflasche mit Branntwein aus seinem entfernten, im zweiten Stock befindlichen Schlafzimmer zu holen. Er sagte es ihnen, als er den Inhalt in den Rest des Weines goß und ihn mit neuem Behagen trank.

»Darf ich Sie fragen, ob Sie auf dem Wege nach Italien sind?«

Der graue Herr war aufgestanden und rüstete sich zum Gehen. Er antwortete bejahend.

»Ich gleichfalls!« sagte der Reisende. »Ich darf wohl hoffen. Sie in schöneren Gegenden und unter freundlicheren Umständen wieder zu begrüßen als auf diesem traurigen Berge.«

Der Fremde verbeugte sich, ziemlich entfernt, und sagte, er sei ihm sehr verbunden.

»Wir armen Leute, Sir«, sagte der Reisende, den Schnurrbart mit der Hand trocknend, denn er hatte ihn in den Wein und Branntwein getaucht, »wir armen Leute reisen nicht wie Fürsten, aber die Galanterie und feinere Lebensart hat auch für uns ihren hohen Wert. Ihre Gesundheit, mein Herr!«

»Ich danke Ihnen, mein Herr.«

»Auf die Gesundheit Ihrer ausgezeichneten Familie, – der schönen Ladies, Ihrer Töchter!«

»Nein Herr, ich danke Ihnen abermals. Ich wünsche Ihnen gute Nacht. Meine Liebe, warten unsre – ha – Leute?«

»Sie sind ganz nahe zur Stelle, Vater.«

»Erlauben Sie!« sagte der Reisende, indem er aufstand und die Tür offen hielt, als der alte Herr, seinen Arm in den seiner Tochter steckend, durch das Zimmer darauf zuschritt. »Angenehme Ruhe! Auf das Vergnügen, Sie wiederzusehen! Auf morgen denn!«

Als er in der höflichsten Art und mit dem feinsten Lächeln seine Hand küßte, schmiegte sich die junge Dame fester an ihren Vater an und ging voller Angst, ihn zu berühren, an ihm vorüber.

»Hm!« sagte der einschmeichelnde Reisende, der sich gehen und seinen Ton sinken ließ, als er allein war. »Wenn sie sich alle zu Bett begeben, nun, so muß ich eben auch gehen. Sie haben ja eine verdammte Eile. Man sollte glauben, die Nacht wäre lang genug in dieser schauerlich kalten Stille und Einsamkeit, wenn man erst in zwei Stunden zu Bett ginge!«

Den Kopf zurücklehnend, während er das Glas austrank, fielen seine Blicke auf das Fremdenbuch, das, nebst Feder und Tinte, offen auf dem Piano lag, wie wenn die Namen während seiner Abwesenheit eingezeichnet worden wären. Er nahm es in die Hand und las die eingetragenen Namen:

William Dorrit, Esquire, Frederick Dorrit, Esquire, Edward Dorrit, Esquire, und Dienerschaft. Von Frankreich Miß Dorrit, nach Italien. Miß Fanny Dorrit, Mrs. General, Mr. und Mrs. Henry Gowan. Von Frankreich nach Italien.

Dazu fügte er mit einer kleinen, verwickelten Handschrift, in einen dünnen Schnörkel endigend, der einem um alle übrigen Namen geworfenen Lasso ähnlich sah:

Blandois. Paris. Von Frankreich nach Italien.

Dann begab er sich, während seine Nase über seinen Schnurrbart herabkam und sein Schnurrbart sich unter seiner Nase bäumte, nach der ihm angewiesenen Kammer.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Familienangelegenheiten.

Als die Glocken der Stadt am Montagmorgen neun schlugen, wurde Mrs. Clennam von Jeremiah Flintwinch, dem Mann mit dem niedergeschlagenen Blick, vor ihren großen Schreibtisch gerollt. Nachdem sie diesen aufgeschlossen und geöffnet und sich vor dem Pult zurechtgerückt, entfernte sich Jeremiah – wahrscheinlich, um sich mit einem noch wirksameren Spitzbubenblick anzutun –, und ihr Sohn erschien.

»Geht es Ihnen heute morgen etwas besser, Mutter?«

Sie schüttelte den Kopf mit derselben ernsten Miene der Selbstherrlichkeit, die sie am vorhergehenden Abend, als vom Wetter die Rede war, gezeigt hatte. »Ich werde nie mehr besser werden, Arthur. Es ist ein Glück für mich, daß ich meinen Zustand kenne und ihn zu tragen weiß.«

Wie sie so dasaß, die Hände getrennt auf dem Pult und den hohen Schreibtisch vor sich, sah es aus, als ob sie auf einer tonlosen Kirchenorgel spielte. Auf ihren Sohn machte es diesen Eindruck (und nicht erst heute, sondern schon vor Jahren war ihm dieser Gedanke gekommen), als er sich neben sie setzte.

Sie öffnete einige Schiebladen, sah mehrere Geschäftspapiere durch und legte sie dann wieder an ihren früheren Platz. Kein Muskel ihres strengen Gesichts verlor seine Spannung; es war deshalb auch für den Beobachter unmöglich, in das dunkle Labyrinth ihrer Gedanken zu dringen.

»Soll ich von unsern Angelegenheiten sprechen, Mutter? Sind Sie geneigt, auf Geschäftssachen einzugehen?«

»Ob ich geneigt bin? Vielmehr, bist du es? Dein Vater ist seit länger als einem Jahre tot. Ich war seit jenem Augenblick bereit und wartete, bis es dir beliebe.«

»Es war noch so viel zu ordnen, ehe ich abreisen konnte; und als ich endlich freie Hand hatte, reiste ich ein wenig zur Erholung.«

Sie wandte ihr Gesicht nach ihm hin, als ob sie seine letzten Worte nicht gehört oder verstanden.

»Zur Erholung.«

Sie blickte in dem düstern Zimmer umher und schien, nach der Bewegung ihrer Lippen zu urteilen, jene Worte zu wiederholen, als wollte sie diese Räume zu Zeugen auffordern, wie wenig sie daran teilhabe.

»Und dann, Mutter, da Sie die einzige Testamentsvollstreckerin sind und die Sachen ordnen können, wie es Ihnen beliebt, so blieb mir wenig, oder ich möchte sagen, nichts zu tun übrig, bis Sie Zeit hätten, die Dinge zu Ihrer Zufriedenheit zu arrangieren.«

»Die Rechnungen sind ausgefertigt«, versetzte sie, »ich habe sie hier. Die Urkunden sind alle geprüft und richtig befunden. Du kannst Einsicht davon nehmen, wann es dir beliebt, Arthur; jetzt, wenn du Lust hast.«

»Es genügt, Mutter, wenn ich weiß, daß das Geschäft besorgt ist. Soll ich fortfahren?«

»Warum nicht?« sagte sie in ihrer frostigen Weise.

»Mutter, unser Haus hat in den letzten Jahren immer weniger Geschäfte gemacht, und unsre Handelsverbindungen nahmen bedeutend ab. Wir haben nie viel Vertrauen gezeigt oder uns auf viel eingelassen; wir haben die Leute nicht an uns gefesselt. Die Richtung, die wir einschlugen, war nicht die Richtung der Zeit, und wir blieben zuletzt weit zurück. Ich brauche nicht bei diesem Punkt zu verweilen, Mutter. Sie sind hinlänglich davon unterrichtet.«

»Ich weiß, was du meinst«, antwortete sie in ihrem charakteristischen Ton.

»Auch dieses alte Haus, in dem wir sprechen«, fuhr ihr Sohn fort, »ist ein Beispiel von dem, was ich sage. In meines Vaters früheren Zeiten, und zu seines Onkels Zeiten noch früher, war es ein Geschäftsplatz – wirklich ein Geschäftsplatz mit lebhaftem Verkehr. Jetzt ist es eine reine Anomalie, eine Ungereimtheit, außer der Zeit und völlig unzweckmäßig. Alle unsere Verbindungen gingen seit langer Zeit an das Kommissionsgeschäft von Rovingham; und obgleich man, um dieses zu kontrollieren und die Geldmittel meines Vaters gut zu verwalten, Ihr Urteil und Ihre Wachsamkeit lebhaft in Anspruch nahm, so hätten doch diese Eigenschaften den gleichen Einfluß auf meines Vaters Vermögen haben können, wenn Sie irgendeine Privatwohnung bezogen: das müssen Sie zugeben?«

»Denkst du denn«, entgegnete sie, ohne auf seine Frage zu antworten, »daß ein Haus völlig zwecklos sei, Arthur, wenn es deine kränkliche und leidende – deine mit vollem Recht leidende – Mutter beherbergt?«

»Ich sprach nur von geschäftlichen Beziehungen.«

»Und in welcher Absicht?« »Ich komme schon darauf zu sprechen.«

»Ich sehe voraus«, entgegnete sie und heftete ihre Augen auf ihn, »was es ist. Aber der Herr bewahre mich, daß ich unter irgendeiner Heimsuchung murre. Um meiner Sünden willen verdiene ich die bitterste Enttäuschung, und ich nehme sie gelassen hin.«

»Mutter, es schmerzt mich, Sie so sprechen zu hören, obgleich ich ahnte, daß es so kommen würde –«

»Du wußtest, daß es so kommen würde. Du kanntest mich«, unterbrach sie ihn.

Ihr Sohn schwieg einen Augenblick. Er hatte Feuer aus ihr hervorgelockt und war überrascht. »Nun«, sagte sie und sank wieder in ihre steinerne Starrheit zurück. »Fahre fort. Laß mich hören.«

»Sie haben vorausgesehen, Mutter, daß ich mich dahin entscheiden werde, das Geschäft aufzugeben. Ich gebe es wirklich auf. Ich will mir nicht anmaßen, Ihnen zu raten: Sie werden es fortsetzen, ich sehe das voraus. Wenn ich irgendeinen Einfluß auf Sie hätte, würde ich ihn einfach dazu benutzen, Ihr Urteil in Beziehung auf die Enttäuschung, die ich Ihnen bereite, zu mildern und Ihnen vorzustellen, daß ich die Hälfte einer langen Lebenszeit gelebt, ohne je meinem Willen dem Ihren entgegenzusetzen. Ich kann nicht sagen, daß ich imstande war, mich mit Herz und Sinn in Ihre Grundsätze zu fügen; ich kann nicht sagen, daß ich glaube, meine vierzig Jahre seien mir selbst oder irgendwem sonst nützlich oder angenehm gewesen. Aber ich habe gewöhnlich nachgegeben, und ich bitte nur, daß Sie sich daran erinnern.«

Wehe dem Flehenden von jetzt und ehedem, der von dem unerbittlichen Gesicht an dem Schreibtisch ein Zugeständnis erwartete! Wehe dem Verbrecher, dessen Appellation einem Tribunal unterbreitet war, bei dem so strenge Augen den Vorsitz führten! Die harte Frau brauchte all ihre mystische Religion, die in Dunkel und Finsternis gehüllt war, um nur Fluch-, Rache- und Vernichtungsblitze durch die Sandwolken zu schleudern. Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern, war eine Bitte, die ihr zu geistesarm erschien. Züchtige meine Schuldner, o Herr, vertrockne sie, zermalme sie; tu mit ihnen, wie ich tun würde, und ich werde dich anbeten: das war der gottlose Turm von Stein, den sie aufbaute, um himmelan zu steigen.

»Bist du zu Ende, Arthur, oder hast du mir noch etwas zu sagen? Ich glaube, es wird nichts mehr übrig sein. Du warst kurz, aber deine Worte waren inhaltsschwer!«

»Mutter, ich habe noch etwas zu sagen. Es lastete die ganze lange Zeit Tag und Nacht auf meinem Herzen. Es ist weit schwieriger zu sagen, als was ich bisher gesagt. Dies betraf nur mich selbst: was nun kommt, uns alle.«

»Uns alle! Wer sind diese ›uns alle?‹«

»Sie, ich, mein verstorbener Vater.«

Sie nahm ihre Hände von dem Schreibtisch, faltete sie in ihrem Schoß und saß, mit der Unerforschlichkeit einer alten ägyptischen Skulptur in das Feuer blickend, da.

»Sie kannten meinen Vater ungleich besser, als ich ihn je gekannt; und seine Zurückhaltung gegen mich wich gegenüber Ihnen. Sie waren der stärkere Teil, Mutter, und leiteten ihn. Ich wußte das schon als Kind so gut wie jetzt. Ich wußte, daß Ihr Einfluß auf ihn die Ursache war, weshalb er nach China ging, um dort das Geschäft zu besorgen, während Sie sich dessen hier annahmen (wenn ich auch jetzt noch nicht weiß, ob dies wirklich der Grund zur Trennung war, wegen dessen Sie einwilligten); so wußte ich auch, daß es Ihr Wille war, daß ich hier bleibe, bis ich zwanzig Jahre alt sei, und dann zu ihm gehe, wie es wirklich geschah. Sie werden nicht ungehalten sein, wenn ich nach zwanzig Jahren daran erinnere?«

»Ich warte auf den Grund, weshalb du daran erinnerst.«“

Er dämpfte seine Stimme und sagte sichtbar ungern und mit Widerwillen:

»Ich möchte Sie fragen, Mutter, ob es Ihnen je in den Sinn gekommen, Verdacht zu hegen –«

Bei dem Worte »Verdacht« richtete sie den Blick mit finstrem Zusammenziehen der Brauen auf ihren Sohn. Dann ließ sie die Augen wieder das Feuer suchen, aber die Brauen blieben zusammengezogen, als ob der Bildhauer des alten Ägypten dem harten granitnen Gesicht für Jahrhunderte diesen finstern Ausdruck geben wollte.

»– daß er irgendeine geheime Erinnerung habe, die ihn beunruhige, ihn mit Reue quäle? Haben Sie je in seinem Benehmen etwas bemerkt, was zu diesem Verdacht führen konnte, oder je mit ihm davon gesprochen, oder je ihn auf etwas Derartiges anspielen hören?«

»Ich verstehe nicht, welcher Art die geheime Erinnerung gewesen sein sollte, der du deinen Vater zum Opfer werden läßt«, entgegnete sie nach einer Pause. »Du sprichst so geheimnisvoll.«

»Wäre es möglich, Mutter«, sagte der Sohn, indem er sich vorbeugte, um ihr näher zu sein, solange er flüsterte, und legte dabei seine Hand ängstlich besorgt auf das Schreibpult, »wäre es möglich, Mutter, daß er irgend jemandem ein Unrecht zugefügt und es nicht wieder gutgemacht hat?«

Zornig ihn anblickend, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, um ihn von sich fernzuhalten, antwortete jedoch nicht.

»Ich fühle wohl, Mutter, daß, wenn dieser Gedanke Ihnen niemals in den Sinn gekommen, es grausam und unnatürlich von mir erscheinen muß, selbst in diesem vertraulichen Augenblick, ihn auch nur leise auszusprechen. Aber ich kann ihn nicht loswerden. Zeit und Veränderung des Orts (ich habe beides versucht, ehe ich mein Schweigen brach) vermögen nichts gegen ihn. Bedenken Sie, ich lebte bei meinem Vater. Bedenken Sie, ich blickte ihm ins Auge, als er mir die Uhr anvertraute und sich mir zu sagen mühte, daß er sie Ihnen als ein Zeichen sende, das Sie wohl verstehen würden. Bedenken Sie, ich sah ihn im letzten Augenblick, als er mit dem Bleistift in der zitternden Hand einige Worte, denen er jedoch keine Form geben konnte, für Sie zu schreiben suchte. Je entfernter und grausamer dieser vage Verdacht, den ich hege, desto gewichtiger sind die Umstände, die ihm einen Schein von Wahrscheinlichkeit zu geben vermögen. Um des Himmels willen, lassen Sie uns ernstlich forschen, ob hier irgendein Unrecht wieder gutzumachen ist. Niemand kann mir dabei helfen, Mutter, als Sie.«

Noch immer in ihrem Lehnstuhl so zurückgelehnt, daß ihr Übergewicht von Zeit zu Zeit diesen ein wenig auf seinen Rädern bewegte, und daß sie das Aussehen eines vor ihm zurückweichenden zornglühenden Phantoms hatte, stemmte sie, den Rücken ihrer Hand am Gesicht, den Arm zwischen ihn und sich, während sie ihn schweigend ansah.

»Bei diesem Haschen nach Geld und den kühnen Handelsspekulationen – ich habe begonnen und muß nun von solchen Dingen sprechen, Mutter – ist ohne allen Zweifel jemand beeinträchtigt, benachteiligt, ruiniert worden. Sie waren die Triebfeder der ganzen Maschine, ehe ich geboren wurde. Ihr starker Geist hat während mehr als vierzig Jahren an allen Geschäften meines Vaters teilgenommen. Sie können diese Zweifel lösen, hoffe ich, wenn Sie mir wirklich zur Ergründung der Wahrheit behilflich sein wollen. Wollen Sie das, Mutter?«

Er hielt inne, in der Hoffnung, sie werde sprechen. Aber ihre starren Lippen waren nicht beweglicher als ihr graues, in zwei Scheitel gelegtes Haar.

»Wenn wir irgend etwas ersetzen, wenn wir irgend etwas wieder gutmachen können, so lassen Sie es uns wissen und es tun. Ja, Mutter, wenn es in meinen Kräften liegt, so lassen Sie es mich tun. Ich habe so wenig Glück vom Golde kommen sehen: es hat, soweit mein Wissen reicht, weder diesem Haus noch irgendeinem, der dazu gehört, Frieden gebracht: darum hat es in meinen Augen auch weit geringeren Wert als in irgendeines andern. Ich kann mir nichts damit erwerben, das mir nicht ein Vorwurf oder eine Pein wäre, solange mich noch der Argwohn quält, daß meines Vaters letzte Stunden von Gewissensbissen umnachtet waren, und daß das Geld nicht mein ehrlicher und gerechter Besitz sei.«

Zwei bis drei Ellen von dem Schreibtisch hing eine Klingelschnur an der gefelderten Wand. Durch eine rasche und plötzliche Bewegung ihres Fußes schob sie ihren Räderstuhl schnell nach jener hin und zog heftig daran –, während sie den Arm noch immer in einer schildartigen Stellung hielt, als ob Arthur mit ihr kämpfte und sie den Schlag abwehren wollte.

Ein Mädchen trat erschrocken ein.

»Sende Flintwinch her!«

Im nächsten Augenblick war das Mädchen verschwunden, und der alte Mann stand in der Tür. »Wie! Sind Sie schon in Streit?« sagte er, sich sein Gesicht streichend. Ich dachte mir’s doch. Ich war fest davon überzeugt.«

»Flintwinch!« sagte die Mutter. »Sehen Sie meinen Sohn an. Sehen Sie ihn an!«

»Nun! Ich sehe ihn an«, sagte Flintwinch.

Sie streckte den Arm aus, mit dem sie sich gedeckt, und zeigte, während sie fortfuhr, auf den Gegenstand ihrer Entrüstung.

»Beinahe in derselben Stunde, in der er ankommt, – ehe noch der Schuh an seinem Fuß trocken ist – verleumdet er das Gedächtnis seines Vaters vor seiner Mutter! Verlangt, daß seine Mutter die Handlungen seines Vaters mit ihm auskundschafte! Spricht Befürchtungen aus, daß die Güter dieser Welt, die wir früh und spät mit Müh‘ und Sorgen, mit Arbeit und Selbstverleugnung zusammengebracht, so gut wie Raub seien; und fragt mich, wem sie als Ersatz und Vergütung wieder zurückerstattet werden sollen!«

Obgleich sie dies mit größter Entrüstung sagte, sprach sie doch in einem Ton, den sie so ganz beherrschte, daß er sogar leiser als gewöhnlich war. Auch sprach sie mit großer Deutlichkeit.

»Ersatz!« sagte sie, »ja wahrhaftig! Es ist leicht von Ersatz zu sprechen, wenn man frisch vom Reisen und Wohlleben in fremden Ländern herkommt und ein Leben voll Lust und Vergnügen führt. Er soll mich ansehen in meinem Gefängnis, in Ketten und Banden. Ich ertrage mein Schicksal ohne Murren, weil es mir beschieden, auf solche Weise meine Sünden zu büßen. Ersatz! Liegt denn keiner in diesem Zimmer? Habe ich denn während dieser fünfzehn Jahre nichts wieder gutgemacht?«

So wog sie immer ihren Handel mit der Majestät des Himmels ab, indem sie den Eingang zu ihrem »Haben« schrieb, streng an ihrer Gegenforderung festhielt und auf ihren Gebühren beharrte. Sie war darin nur wegen der Strenge und des Nachdrucks, mit denen sie das tat, merkwürdig. Tausende und aber Tausende tun dasselbe alle Tage, jeder nach seiner Weise.

»Flintwinch, geben Sie mir das Buch!«

Der alte Mann gab es ihr vom Tische. Sie steckte zwei Finger zwischen die Blätter, schloß das Buch und hielt es ihrem Sohne drohend hin.

»In alten Zeiten, Arthur, von denen dieses Buch spricht, gab es fromme, von dem Herrn geliebte Männer, die ihre Söhne um geringerer Ursachen als diese verflucht und aus ihrer Nähe verbannt, ja ganze Nationen, wenn sie sie unterstützt, ins Exil geschickt, daß sie verlassen von Gott und Menschen bis herab zum Säugling an der Mutterbrust umgekommen wären. Ich erkläre dir jedoch nur so viel, daß, wenn du jemals dieses Thema wieder in meiner Gegenwart zur Sprache bringst, ich dich verleugnen werde; ja, ich werde dich so von dieser Schwelle weisen, daß es dir besser wäre, du würdest von deiner Wiege an mutterlos gewesen sein. Ich werde dich nimmer ansehen noch kennen. Und wenn du endlich in dieses dunkle Gemach trätest, um mich im Tod noch zu sehen, sollte, wo es irgend in meiner Macht stände, mein Leichnam bluten, wenn du mir nahe kämest.«

Erleichtert teils durch die Heftigkeit dieses Fluches, teils (so seltsam dies auch scheinen mag) durch den allgemeinen Eindruck, daß es eine Art religiösen Aktes war, gab sie dem alten Manne das Buch zurück und schwieg.

»Jetzt«, sagte Jeremiah, »vorausgeschickt, daß ich nicht die Absicht habe, mich zwischen Sie zu stellen, erlauben Sie mir zu fragen (da ich einmal hereingerufen und zum Dritten gemacht worden bin), was soll dies alles bedeuten?«

»Lassen Sie sich’s von meiner Mutter erklären«, erwiderte Arthur, da er sah, daß das Sprechen ihm überlassen blieb. »Oder lassen Sie die Sache lieber ruhen. Was ich gesagt, war nur zu meiner Mutter gesagt.«

»Oh!« versetzte der alte Mann, »von Ihrer Mutter? Von Ihrer Mutter erklären lassen? Schon gut! Aber Ihre Mutter sagte, daß Sie Ihren Vater verdächtigt haben. Das ist nicht recht, Mr. Arthur. Wer wird nun bei den Verdächtigungen an die Reihe kommen?«

»Genug«, sagte Mrs. Clennam, ihr Gesicht so wendend, daß es für den Augenblick nur dem alten Manne zugekehrt war. »Wir wollen nicht weiter davon sprechen.«

»Ja, aber nur noch etwas, nur noch etwas«, drängte der alte Mann. »Lassen Sie uns sehen, wie wir stehen. Haben Sie Mr. Arthur gesagt, daß er keine Beleidigungen auf seinen Vater häufen darf? Daß er kein Recht dazu, – daß er keinen Grund zu solchem Betragen hat?«

»Ich werde es ihm jetzt sagen.«

»Ha! Wirklich«, sagte der alte Mann. »Sie werden es ihm jetzt sagen. Sie hatten es ihm bisher noch nicht gesagt und wollen es ihm jetzt sagen. Ah, ah, das ist recht! Sie wissen, ich stand so lange zwischen Ihnen und seinem Vater, daß es scheint, als hätte der Tod keinen Unterschied gemacht, und ich stehe noch zwischen Ihnen. So soll es denn auch sein, und in aller Güte fordre ich, daß der Sache ein Ende gemacht werde. Arthur, ich muß Sie bitten, sich wohl zu merken, daß Sie kein Recht haben, Ihren Vater zu verdächtigen, und keinen Grund, so zu verfahren.«

Er legte seine Hände auf die Lehne des Rollstuhls, und etwas in sich hineinmurmelnd, rollte er seine Herrin wieder an den Schreibtisch zurück. »Aber«, fuhr er hinter ihr stehend fort, »für den Fall, daß ich bei meinem Weggang die Sache auf halbem Wege lasse und man meiner wieder bedürfte, wenn Sie zur Beratung der andern Hälfte kommen, möchte ich doch wissen, ob Arthur Ihnen gesagt, was er in bezug auf das Geschäft beabsichtigt?«

»Er hat es aufgegeben.«

»Vermutlich doch zu keines andern Gunsten?« Mrs. Clennam sah ihren Sohn an, der an einem der Fenster lehnte. Er bemerkte den Blick und sagte: »Natürlich zugunsten meiner Mutter. Sie kann tun, was ihr beliebt.«

»Und wenn irgendeine Freude«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »mir aus der Täuschung meiner Erwartung, daß mein Sohn in der besten Jugendfrische seines Lebens ihm neue Kraft und neuen Schwung verleihen und es nutzbringend und ergiebig machen würde, – wenn irgendeine Freude mir aus dieser Enttäuschung erwächst, so ist es die, daß sie einen alten und treuen Diener im Wert steigen ließ. Jeremiah, der Kapitän verläßt das Schiff, aber du und ich werden untergehen oder auf ihm fortschwimmen.«

Jeremiah, dessen Augen blitzten, als ob sie Geld sähen, warf einen raschen Blick auf den Sohn, der zu sagen schien: »Ich bin Ihnen keinen Dank dafür schuldig; Sie haben nichts dafür getan!« und dann der Mutter bedeutete, daß er ihr danke und daß Affery ihr danke und daß er sie nimmer verlassen werde und daß Affery sie nimmer verlassen werde. Endlich zog er seine Uhr aus ihren Tiefen empor und sagte: »Elf! Die Zeit für Ihre Austern!« und mit dieser Änderung des Themas, die jedoch nicht auch eine Änderung des Ausdrucks oder der Haltung in sich schloß, zog er die Glocke.

Aber Mrs. Clennam beschloß, mit noch größerer Strenge gegen sich zu verfahren, da man sie im Verdacht einer Ersatzverweigerung gehabt, und wies die Austern zurück, als man sie ihr brachte. Sie sahen verführerisch aus: acht an der Zahl, im Kreise auf einem weißen Teller, der auf einer mit weißer Serviette bedeckten Präsentierplatte stand, und daneben eine Schnitte mit Butter bestrichenen Weißbrots und ein kleines volles Glas kühlen Weins mit Wasser; aber sie widerstand aller Überredungskunst und schickte sie wieder hinunter –, indem sie ohne Zweifel diesen Akt zu ihrem »Haben« im Buch der Ewigkeit schrieb.

Bei diesem Austernfrühstück war Affery nicht zugegen, wohl aber das Mädchen, das auf das Läuten erschienen war; dasselbe, das in dem düster beleuchteten Zimmer am vorhergehenden Abend anwesend gewesen. Jetzt, da er Gelegenheit hatte, sie zu beobachten, fand Arthur, daß ihre winzig kleine Figur, ihre kleinen Gesichtszüge und ihr leichter, dürftiger Anzug ihr ein weit jüngeres Aussehen gaben, als es in Wirklichkeit der Fall war. Obgleich ein Mädchen von nicht weniger als zweiundzwanzig Jahren, mochte die Kleine bei einer Begegnung auf der Straße für wenig mehr als halb so alt gegolten haben. Nicht gerade, daß ihr Gesicht so jugendlich ausgesehen; denn die Züge hatten etwas Reiferes und durch Kummer Ausgeprägteres, als dies sonst in solchem Alter der Fall zu sein pflegt. Aber sie war so klein und zart, so still und menschenscheu, und schien so deutlich zu fühlen, sie sei zwischen den drei weit Älteren nicht am Platze, daß sie ganz das Benehmen und viel von dem Wesen eines unterdrückten Kindes hatte.

Die Art und Weise, wie Mrs. Clennam ihr Interesse für dieses abhängige Wesen an den Tag legte, hielt die unbestimmte schwankende Mitte zwischen Gönnerhaftigkeit und Unterdrückung, zwischen dem Strom eine Gießkanne und einer hydraulischen Presse.

Selbst in dem Augenblick, als sie auf das heftige Klingeln eintrat und die Mutter sich mit der eigentümlichen Aktion gegen den Sohn schützte, hatten die Augen von Mrs. Clennam noch etwas besonders Forschendes, das sie für sie aufgespart. Wie es selbst bei dem härtesten Metall Grade von Härte und Schattierungen selbst im Schwarz gibt, so war auch in dem rauhen Wesen von Mrs. Clennams Verhalten zur ganzen übrigen Menschheit und zu Klein-Dorrit eine feine Steigerung vorhanden.

Klein-Dorrit arbeitete als Hausnäherin. So lange der Tag dauerte, oder so kurz er dauerte – von acht zu acht Uhr –, konnte man Klein-Dorrit haben. Pünktlich mit dem Glockenschlag erschien Klein-Dorrit; pünktlich mit dem Glockenschlag verschwand Klein-Dorrit. Was zwischen den beiden Acht aus Klein-Dorrit wurde, wußte man nicht.

Eine weitere Seite im Wesen Klein-Dorrits war dies. Neben der Geldvergütung schloß ihr täglicher Kontrakt auch das Essen ein. Sie hatte einen außerordentlichen Widerwillen gegen das Essen in Gesellschaft und tat es auch nie, wenn sie solchem dann irgendwie ausweichen konnte. Sie schützte, wo es anging, vor, daß sie diese Kleinigkeit schon anzufangen oder jene Kleinigkeit noch fertigzumachen habe; immer dachte, immer überlegte sie, wie sie es einrichten könne, um allein zu essen. Ihr Verfahren war freilich nicht sehr geschickt. Denn sie täuschte niemanden. Aber es gelang ihr doch: und sie war glücklich, wenn sie ihre Platte irgendwohin tragen und ihren Schoß, oder eine Schachtel, oder den Boden, oder sonst einen Fleck zu ihrem Tische machen, oder gar auf den Zehenspitzen stehen und ihr bescheidenes Mal auf dem Kaminsims verzehren konnte; die größte Angst von Klein-Dorrits Tag war dann überwunden.

Es war nicht leicht, Klein-Dorrits Antlitz zu Gesicht zu bekommen. Sie hielt sich ungemein zurückgezogen, nähte in den verstecktesten Winkeln und blickte scheu zur Seite, wenn sie jemandem auf der Treppe begegnete. Aber es schien ein blasses, durchsichtiges Gesicht von lebhaftem Ausdruck, wenn auch nicht schönen Zügen zu sein: nur ihre nußbraunen Augen machten eine Ausnahme. Ein zart gebeugter Kopf, eine kleine Gestalt, ein Paar kleine, geschäftige Hände und ein abgeschabtes Kleid – es mußte wirklich überaus abgeschabt gewesen sein, obgleich es ganz nett aussah –, das war Klein-Dorrits Erscheinung, wenn sie bei der Arbeit saß.

Diese besonderen und allgemeinen Züge Klein-Dorrits verdankte Mr. Arthur im Laufe des Tages seinen eigenen Augen und Mrs. Afferys Zunge. Wenn Mrs. Affery irgendeinen Willen für sich gehabt, so wäre dieser sicher Klein-Dorrit nicht sehr günstig gewesen. Da jedoch »die beiden Gescheiten« – Mrs. Afferys beständige Instanz, in der ihre Persönlichkeit aufgegangen – einverstanden waren, Klein-Dorrit als eine Sache der Gewohnheit zu betrachten,

Klein-Dorrit im Hause Mrs. Clennams

so hatte sie nichts zu tun, als sich darein zu fügen und desgleichen zu tun. Wären die beiden Gescheiten miteinander einverstanden gewesen, Klein-Dorrit bei Licht umzubringen, würde Affery, wenn man sie zum Lichthalten aufgefordert, sich ohne Zweifel keinen Augenblick geweigert haben.

Während sie das Rebhuhn für das Krankenzimmer briet und eine Backschüssel mit Ochsenfleisch und Pudding für das Speisezimmer zubereitete, machte sie Mr. Arthur die eben erwähnten Mitteilungen, indem sie beständig den Kopf in die Tür steckte, nachdem sie ihn wieder zurückgezogen, um den Widerstand gegen die beiden Gescheiten zu verstärken. Es schien für Mrs. Flintwinch eine wirkliche Leidenschaft geworden zu sein, daß der einzige Sohn ihnen feindlich gegenübergestellt werde.

Im Verlauf des Tages machte Arthur einen Gang durch das ganze Haus. Er fand es dunkel und düster. Die großen, seit Jahren leer dastehenden Räume schienen in finstere Totenstarre versunken, aus der sie wohl nichts wieder aufrütteln konnte. Die dürftigen und unordentlich durcheinander gewürfelten Möbel waren mehr in den Zimmern versteckt, als daß sie dieselben geziert, und im ganzen Hause war keine Spur von Farbe zu sehen. Der Anstrich, der je einmal dagewesen, war von verlorenen Sonnenstrahlen gebleicht – die dann wahrscheinlich möglichst rasch in Blumen, Schmetterlinge, Vogelgefieder, kostbare Steine und andere Dinge untertauchten. Es war nicht ein gerader Boden vom Grund des Hauses bis unter das Dach zu finden; die Decken waren so phantastisch von Rauch und Dunst umwölkt, daß alte Frauen besser das Schicksal daraus hätten prophezeien können, als aus dem Bodensatz des Tees. Die eiskalten Herde zeigten keine Spuren, daß sie je erwärmt worden, aber Haufen von Ruß waren von den Kaminen herabgefallen und flogen in kleinen, dunklen Wirbelwinden auf, wenn die Türen geöffnet wurden. In dem ehemaligen Wohnzimmer befanden sich ein paar armselige Spiegel mit häßlichen schwarzen Figuren, die schwarze Girlanden tragend auf den Rahmen einhergingen. Aber selbst diese hatten Plattköpfe und kurze Beine; ein unternehmend aussehender Cupido hatte sich um seine eigene Achse gedreht und das Unterste nach oben gekehrt; ein anderer war sogar ganz herabgefallen. Das Zimmer, das Arthur Clennams verstorbener Vater als Geschäftszimmer in der Zeit benutzt, aus der seine ersten Erinnerungen stammten, war so unverändert, daß man hätte glauben können, er bewohne es noch immer unsichtbar, wie seine sichtbare Witwe das ihrige oben, und Jeremiah stehe noch immer vermittelnd zwischen ihnen. Sein dunkles und finsteres Bild, das in sprachlosem Ernst an der Wand hing, die Augen fest auf den Sohn geheftet, wie sie auf ihn gerichtet waren, als die Lebensgeister ihn verließen, schien ihn unheimlich zu der Vollendung der Tat zu drängen, die er begonnen. Aber es blieb ihm jetzt keine Hoffnung, daß seine Mutter je nachgeben würde, und auch auf andere Weise seinen Argwohn zu beschwichtigen, hatte er für lange Zeit alle Hoffnung verloren. Drunten in den Kellern wie droben in den Schlafzimmern hatte manches, dessen er sich noch wohl erinnerte, durch Alter und Verfall ein anderes Aussehen bekommen, obgleich es an derselben Stelle wie früher stand, selbst bis auf die leeren, mit Spinngeweben überzogenen, schimmeligen Bierfäßchen und die leeren Weinflaschen herab, deren Hälse mit Schleim und Pilzen verstopft waren. Dort befand sich auch unter ungebrauchten Flaschengestellen und von schwachen Lichtstreifen aus dem darüberliegenden Hofe erhellt der feste, mit alten Lagerbüchern angefüllte Raum. Die Bücher hatten einen so dunstigen Modergeruch, als ob sie regelmäßig in der Totenstunde von einer allnächtlich spukenden Versammlung alter Buchhalter abgeschlossen würden.

Die Backschüssel wurde um zwei Uhr auf einem zerknitterten Tischtuch an einem Ende des Speisetisches serviert, als gälte es Büßende zu bewirten. Arthur aß zugleich mit Mr. Flintwinch. Dieser teilte ihm mit, daß seine Mutter ihre frühere Gemütsruhe wiedergewonnen, und daß er nicht zu befürchten brauche, sie werde je auf das anspielen, was diesen Morgen geschehen. »Und häufen Sie nun auch ferner keine Beleidigungen auf Ihren Vater, Mr. Arthur«, fügte Jeremiah hinzu, »einmal für allemal, unterlassen Sie das! Die Sache ist damit abgemacht!«

Mr. Flintwinch hatte bereits sein eigenes kleines Bureau in Ordnung gebracht, als gälte es der Erlangung seiner neuen Würde alle Ehre zu erweisen. Er nahm seine Beschäftigung wieder auf, als er sich mit Ochsenbraten angefüllt, allen Saft in der Backschüssel mit dem flachen Messer ausgeschöpft und aus einem auf dem Küchentisch stehenden Krug mit Halbbier sich erquickt hatte. So erfrischt, schlug er seine Hemdärmel hinauf und ging wieder an die Arbeit. Mr. Arthur, der ihn dabei beobachtete, merkte bald, daß seines Vaters Bild oder seines Vaters Grab ebenso mitteilsam sein würden wie dieser alte Mann.

»Nun, Affery, Frau«, sagte Mr. Flintwinch, als sie durch den Gang ging. »Du hattest Mr. Arthurs Bett noch nicht gemacht, als ich das letztemal oben war. Eile dich! Rühre dich!“

Aber Mr. Arthur fand das Haus so öde und traurig und hatte so wenig Lust, einem zweiten unversöhnlichen Zusammentreffen der Feinde seiner Mutter (unter denen er vielleicht selbst war) zum Ärgernis diesseits und zum Verderben jenseits beizuwohnen, daß er die Absicht zu erkennen gab, nach dem Kaffeehaus, wo er sein Gepäck gelassen, zu ziehen. Da Mr. Flintwinch den Gedanken, ihn loszuwerden, freundlich aufnahm und seine Mutter, abgesehen vom Sparen, sich um die meisten häuslichen Angelegenheiten, die nicht an die vier Wände ihres eigenen Zimmers gebunden waren, wenig kümmerte, so ging die Sache ohne neue Kränkung vor sich. Man bestimmte täglich einige Stunden, die seine Mutter, Mr. Flintwinch und er dem Ordnen der Bücher und Papiere gemeinschaftlich widmen wollten; und er verließ das Haus, in das er nach so langer Zeit wieder eingekehrt, mit gebeugtem Herzen.

Aber Klein-Dorrit?

Die Geschäftsstunden, in die die Krankendiät der Austern und Rebhühner eine Unterbrechung brachte, während deren Mr. Clennam sich durch einen Gang erfrischte, dauerten ungefähr vierzehn Tage lang von zehn bis sechs. Bisweilen war Klein-Dorrit im Hause als Näherin beschäftigt, bisweilen nicht, bisweilen erschien sie als demütiger Besuch: das muß wohl auch bei Gelegenheit seiner Ankunft der Fall gewesen sein. Seine angeborene Neugier nahm mit jedem Tag zu, solange er sie beobachtete, sie sah oder nicht sah und über sie nachsann. Ganz nur von einem Gedanken beherrscht, wurde es ihm nach und nach zur Gewohnheit, die Möglichkeit, daß sie in irgendeiner Weise dazu in Beziehung stehe, zu erwägen. Zuletzt beschloß er, Klein-Dorrit scharf zu beobachten und sich genauere Kenntnis von ihrer Lebensgeschichte zu verschaffen.

Sechstes Kapitel.


Sechstes Kapitel.

Der Vater des Marschallgefängnisses.

Vor dreißig Jahren stand, unfern von der St. Georgskirche in dem Flecken von Southwark, zur linken Hand des südlich führenden Weges das Marschallgefängnis. Es hatte dort manches Jahr zuvor gestanden und stand dort noch manches Jahr nachher; aber es ist jetzt verschwunden, und die Welt ist deshalb nicht schlimmer geworden.

Es war eine lange Reihe von armseligen Gebäuden, in schmutzige Häuser abgeteilt, die Rücken an Rücken standen, so daß kein Zimmer nach hinten ging; rings herum zog sich ein schmaler, gepflasterter Hof, der von hohen, oben mit Spitzhaken versehenen Mauern umgeben war. An und für sich schon ein festes und streng abgesperrtes Gefängnis für Schuldner, umschloß es einen noch festeren und noch strenger abgeschlossenen Kerker für Schmuggler. Verbrecher gegen die Zoll-, Akzise- und Steuergesetze, die sich Strafen zugezogen und dann nicht imstande waren, sie zu bezahlen, wurden hinter eisenbeschlagener Tür eingesperrt. Diese verschloß ein zweites Gefängnis, das aus ein bis zwei festen Zellen und einem dunklen, ein bis anderthalb Ellen breiten Gang bestand, der den geheimnisvollen Schluß der sehr beschränkten Kegelbahn bildete, auf der die Schuldner des Marschallgefängnisses ihre Sorgen niederschoben.

Denken wir uns dort also Menschen eingesperrt; denn die Zeit hat die festen Zellen und den dunklen Gang überlebt. In der Praxis galten die Zellen als etwas gar zu schlecht, obgleich sie in der Theorie so gut wie je waren. Das erstere mag in unseren Tagen wohl der Fall mit anderen Zellen sein, die nichts weniger als fest sind, und mit andern dunklen Gängen, die stockdunkel sind. Von hier aus verkehrten die Schmuggler gewöhnlich mit den Schuldnern (die sie mit offenen Armen aufnahmen), gewisse reglementsmäßige Momente ausgenommen, wenn jemand vom Dienst kam, um irgend etwas nachzusehen, von dem weder er noch sonst wer etwas wußte.

Beim Vater des Marschallgefängnisses.

Bei solchen echt britischen Momenten taten die Schmuggler, als ob sie nach den festen Zellen oder nach dem dunklen Gang gingen, während dieser jemand sich auch den Anschein gab, als ob er irgend etwas täte, und zuletzt in der Tat wieder hinausging, sobald er sein Nichts getan – ein Beispiel im kleinen von der Verwaltung der meisten öffentlichen Angelegenheiten unserer kleinen, ganz kleinen Insel.

Lange vor jenem Tag, an dem die Sonne über Marseille glühte und unsere Erzählung ihren Anfang nahm, wurde in das Marschallgefängnis ein Schuldner eingeliefert, mit dem diese Erzählung in einiger Beziehung steht.

Er war zu jener Zeit ein sehr liebenswürdiger, aber sehr hilfloser Mann von mittlerem Alter, der sogleich wieder hätte von dannen gehen können. Notwendigerweise hätte das geschehen müssen; denn das Marschallgefängnis schloß sich nie hinter einem Schuldner, der nicht wirklich ein solcher war. Er brachte einen Mantelsack mit sich, den er auszupacken für nicht der Mühe wert hielt; er war so vollkommen schuldlos wie alle übrigen, und der Schließer an der Tür sagte, daß er sogleich wieder hätte gehen können.

Es war ein scheuer und zurückhaltender Mann; hübsch, obgleich etwas weiblicher Typus; mit einer sanften Stimme, gewelltem Haar und unschlüssigen Händen – zu jener Zeit mit Ringen an den Fingern –, die er hundertmal während der ersten halben Stunde seiner Bekanntschaft mit dem Kerker ängstlich an seine zitternden Lippen führte. Am meisten besorgt war er um seine Frau.

»Glauben Sie, Sir«, fragte er den Schließer, »daß sie sehr unangenehm berührt sein wird, wenn sie morgen früh an das Tor kommt?«

Der Schließer teilte ihm als Resultat seiner Erfahrung mit, daß einige es seien, andere wiederum nicht. Im allgemeinen häufiger nein, als ja. »Von welcher Konstitution ist sie?« fragte er philosophisch, »darauf kommt alles an, wie Sie wissen.«

»Sie ist sehr zart und ganz unerfahren.«

»Das ist schlimm«, sagte der Schließer.

»Sie ist so wenig gewöhnt, allein auszugehen«, sagte der Schuldner, »daß ich nicht weiß, wie sie hierherkommen wird, wenn sie zu Fuß geht.«

»Vielleicht nimmt sie einen Mietwagen«, versetzte der Schließer.

»Vielleicht.« Die unschlüssigen Finger wanderten nach den zitternden Lippen. »Ich hoffe, sie wird es tun. Sie denkt aber vielleicht nicht daran.«

»Oder vielleicht«, sagte der Schließer, seine Vermutungen von der Höhe seines abgenutzten hölzernen Stuhles austeilend, wie wenn er es mit einem Kinde zu tun hätte, für dessen Schwäche er Mitleid fühlte, »vielleicht wird sie ihren Bruder oder ihre Schwester veranlassen, mit ihr zu gehen.«

»Sie hat weder Bruder noch Schwester.«

»Nichte, Neffe, Vetter, Diener, Kammerjungfer, Gemüsehändlerin. Eins oder das andere von diesen«, sagte der Schließer, im voraus der Zurückweisung aller dieser Vermutungen vorbeugend.

»Ich fürchte – ich hoffe, es ist nicht gegen die Vorschriften –, daß sie die Kinder mit sich bringt.«

»Die Kinder?« fragte der Schließer. »Und die Vorschriften? Beruhigen Sie sich, wir haben einen besonderen Spielplatz für Kinder. Kinder? Wir tummeln uns mit ihnen. Wie viele haben Sie?«

»Zwei«, sagte der Schuldner, indem er seine unschlüssige Hand wieder zu den Lippen führte und in das Gefängnis trat.

Der Schließer folgte ihm mit den Blicken. »Und Sie eins«, bemerkte er bei sich selbst, »das macht drei. Und Ihre Frau eins, ich will eine Krone wetten, das macht vier. Und eines in Aussicht, ich wollte eine halbe Krone wetten, das wird fünf machen. Und ich möchte sieben Schillinge und sechs Pence wetten, daß ich weiß, wer das Hilfloseste von beiden ist, das ungeborene Kind oder Sie!«

Er hatte in allen Einzelheiten recht. Sie kam am folgenden Tage mit einem kleinen dreijährigen Knaben und einem zweijährigen Mädchen, und er sah wie neu gekräftigt und gestärkt aus.

»Haben Sie jetzt ein Zimmer oder noch nicht?« fragte der Schließer den Schuldner nach ein oder zwei Wochen.

»Ja, ich habe ein sehr gutes Zimmer bekommen.«

»Haben Sie schon einige Stücke zum Ausmöblieren?« fragte der Schließer weiter.

»Ich erwarte einige nötige Möbel, die heute nachmittag durch einen Lastträger hier abgegeben werden sollen.«

»Missis und die Kleinen werden Ihnen Gesellschaft leisten?« fuhr der Schließer fort.

»Ja, es schien uns besser, uns nicht zu trennen, und wär‘ es auch nur für ein paar Wochen.«

»Nur für ein paar Wochen, natürlich«, versetzte der Schließer. Und er folgte ihm wieder mit den Blicken und nickte siebenmal mit dem Kopf, als er bereits weggegangen war.

Die Vermögensangelegenheiten dieses Schuldners waren durch die Beteiligung an einem Geschäft, von dem er nicht mehr wußte, als daß er Geld hineingeschossen, durch legale Wechselübertragungen und Saldierungen, Übergabe hier und Übergabe dort, Verdacht ungesetzlicher Bevorzugung von Gläubigern in dieser Richtung und geheimnisvollen Wegschaffens des Eigentums in jener in Verwirrung geraten. Da aber niemand auf diesem Erdenrund weniger imstande war, irgendein Belastungsargument in dieser wirren Masse zu erklären als der Schuldner selbst, so war die Sache auch auf keine Weise zu entwirren. Ihn im Detail zu fragen und seine Antworten unter sich in Einklang zu bringen suchen, ihn mit Rechnern und geübten Praktikern, die in Insolvenz- und Bankerottränken erfahren waren, einschließen, hätte bedeutet, die Unentwirrbarkeit nur auf Zinseszinsen anzulegen. Die unschlüssigen Finger bewegten sich bei jeder solchen Gelegenheit immer unwirksamer um die zitternden Lippen, und die gewandtesten Praktiker gaben ihn als hoffnungslos auf.

»Fort«, sagte der Schließer, »er geht nie mehr fort. Wenn ihn seine Gläubiger nicht bei den Schultern nehmen und hinausschieben.«

Er war fünf bis sechs Monate da gewesen, als er eines Vormittags zu dem Schließer hereingestürzt kam, um ihm zu sagen, daß seine Frau krank sei.

»Wenn jemand es wissen konnte, so war sie es«, sagte der Schließer.

»Wir beabsichtigten«, versetzte er, »sie morgen aufs Land zu bringen. Was soll ich nun tun? O mein Gott im Himmel, was soll ich nun tun?«

»Verlieren Sie die Zeit nicht mit Händeringen und Fingerbeißen«, antwortete der praktische Schließer, indem er ihn beim Ellbogen nahm, »sondern kommen Sie mit mir.«

Der Schließer führte den armen Mann, der von Kopf bis zu Fuß zitterte und beständig halb atemlos »Was soll ich tun?« rief, während seine unschlüssigen Finger sich mit den Tränen seiner Wangen netzten – auf einer der gemeinschaftlichen Treppen des Gefängnisses nach einer Tür des Dachgeschosses. An diese Tür pochte der Schließer mit dem Griff seines Schlüssels.

»Herein!« rief eine Stimme drinnen.

Der Schließer, der öffnete, schloß ein elendes, übelriechendes kleines Zimmer auf, in dem zwei heisere, aufgedunsene Menschen mit roten Gesichtern an einem verkrüppelten Tisch Karten spielend, Pfeifen rauchend und Branntwein trinkend saßen.

»Doktor«, sagte der Schließer, »die Frau dieses Herrn hier bedarf unverzüglich Ihres Beistandes.«

Der Freund des Doktors stand auf der Höhe von Heiserkeit, Aufgedunsenheit, Gesichtsröte, Skat, Tabak, Schmutz und Branntwein; der Doktor auf dem noch höheren Gipfel – er war heiserer, aufgedunsener, röter, skatversessener, tabakiger, schmutziger und branntweiniger. Der Doktor war erstaunlich abgeschabt und trug eine zerrissene, geflickte und wasserdichte Matrosenjacke, die an den Ellbogen offen und schwach mit Knöpfen versehen war (er hatte seinerzeit als erprobter Chirurg auf einem Passagierschiff Dienste getan), die schmutzigsten weißen Hosen, die der Mensch sich denken kann, Teppichpantoffel. »Kindbett«, sagte der Doktor, »dazu bin ich der Mann!«

Mit diesen Worten nahm der Doktor einen Kamm, der auf dem Kamin lag, und strich sein Haar in die Höhe –, was seine Art, sich zu waschen, zu sein schien, holte ein Kästchen oder Futteral von elendem Aussehen aus dem Schrank, worin sich seine Ober- und Untertasse und seine Kohlen befanden, hüllte sein Kinn in das muffige Umschlagtuch um seinen Hals und sah zuletzt wie eine gräßliche, medizinische Vogelscheuche aus.

Der Doktor und der Schuldner eilten die Treppe hinab, ließen den Schließer zu dem Schlosse zurückkehren und begaben sich schleunigst nach dem Zimmer des Schuldners.

Klein-Dorrits Geburt.

Alle Frauen des Gefängnisses hatten die Neuigkeit vernommen und befanden sich im Hofe. Einige von ihnen hatten bereits Besitz von den Kindern ergriffen und sie gastfreundlich weggeführt; andere boten leihweise von den kleinen Bequemlichkeiten ihres eigenen dürftigen Vorrats an; noch andere sprachen mit größter Beredsamkeit ihre Teilnahme aus. Die männlichen Gefangenen, die sich im Nachteil fühlten, hatten sich meistens auf ihre Zimmer zurückgezogen, um nicht zu sagen, geschlichen; und von den offenen Fenstern begrüßten einige den unten vorübergehenden Doktor mit Pfeifen, während andere mehrere Stockwerke weiter oben sarkastische Bemerkungen über die allgemeine Aufregung miteinander wechselten.

Es war ein heißer Sommertag, und die Gefängnisse brieten zwischen den hohen Mauern. In dem engen Zimmer des Schuldners leistete die Taglöhnerin und Ausläuferin Mrs. Bangham, die nicht selbst Gefangene war (obgleich sie es früher gewesen), aber das Verbindungsglied mit der Außenwelt bildete, freiwillige Dienste als Fliegenfängerin und Aufwärterin. Die Wände und die Decke waren von Fliegen geschwärzt. Mrs. Bangham, in mancherlei Kunstgriffen erfahren, wedelte mit der einen Hand den Patienten mit einem Kohlblatt, während sie mit der andern Insektenfallen von Zucker und Essig in Apothekertöpfe stellte und zu gleicher Zeit Gefühle ermutigender und glückwünschender Natur, die für den Augenblick paßten, äußerte.

»Die Fliegen quälen Sie, nicht wahr, meine Liebe?« sagte Mrs. Bangham; »aber vielleicht werden Sie dadurch abgelenkt, und das wird Ihnen guttun. Was die Fliegen des Marschallgefängnisses zwischen Kirchhof, Gewürzkrämerladen, Wagenremisen und Punschkneipen zu naschen bekommen, macht sie so fett. Vielleicht sind sie Ihnen zum Trost gesandt, wenn wir’s nur wüßten. Wie geht es Ihnen jetzt, mein Liebe? Nicht besser? Nein, es läßt sich auch nicht erwarten. Es wird für Sie im Gegenteil zuvor noch schlimmer werden, ehe es Ihnen wieder besser gehen kann, das wissen Sie wohl, nicht wahr? Ja. Das ist recht. Daß ein kleiner süßer Cherub hinter Schloß und Riegel geboren wird! Ist das nicht hübsch, muß Sie das nicht guter Laune machen? Das ist wahrhaftig noch niemals hier geschehen, meine Liebe, ich könnte mich wirklich nicht entsinnen. Und Sie weinen gar noch?« sagte Mrs. Bangham, die Patientin immer mehr neckend. »Sie machen sich ja berühmt! Die Fliegen fallen zu fünfzig in den Topf! Alles geht so vortrefflich! Da kommt«, sagte Mrs. Bangham, als die Tür aufging, »da kommt ja Ihr lieber Herr Gemahl mit Doktor Haggage! Nun sind wir wirklich ein vollkommenes Kleeblatt, hoffe ich!«

Der Doktor war kaum eine derartige Erscheinung, daß er einem Patienten das Gefühl absoluter Vollkommenheit hätte einflößen können. Da er jedoch für den Augenblick die Absicht zu erkennen gab: »Wir sind bereit, alles zu tun, was in unsern Kräften steht, Mrs. Bangham; auch werden wir uns aus der Affäre ziehen, wie ein Haus aus einer Feuersbrunst«, und da er und Mrs. Bangham von dem armen, hilflosen Paar, wie alle Welt draußen es stets getan, Besitz nahmen, so waren die vorhandenen Mittel im ganzen so gut, wie bessere es hätten sein können. Der Grundzug in Doktor Haggages Behandlung war sein Vorsatz: Mrs. Bangham im Augenmerk zu behalten.

»Mrs. Bangham«, sagte der Doktor, ehe er noch zwanzig Minuten da war, »geht und holt ein wenig Branntwein, Ihr werdet mir sonst ohnmächtig.«

»Ich denke, Sir, aber nicht auf meine Rechnung«, sagte Mrs. Bangham.

»Mrs. Bangham«, versetzte der Doktor, »ich bin in Ausübung meines Berufes bei dieser Dame und habe nicht Lust, mich in Verhandlungen mit Euch einzulassen. Geht und holt ein wenig Branntwein, oder ich sehe noch, daß Ihr mir zusammenbrecht.«

»Man muß Ihnen gehorchen, Sir«, sagte Mrs. Bangham und stand auf; »wenn Sie aber die eigenen Lippen daran setzten, so denke ich, würde es nicht weniger schaden; denn Sie sehen recht elend aus, Sir!«

»Mrs. Bangham«, versetzte der Doktor. »Ihr habt nichts mit mir zu schaffen, sondern ich mit Euch. Laßt mich gefälligst aus dem Spiel. Eure Sache ist, zu tun, was man Euch heißt, und zu gehen und zu holen, was ich Euch befehle.«

Mrs. Bangham gehorchte; und der Doktor nahm, nachdem er ihr den Trank eingegeben, gleichfalls davon zu sich. Er wiederholte dies jede Stunde; denn er war sehr streng mit Mrs. Bangham. Drei bis vier Stunden verflossen auf diese Weise; die Fliegen gingen zu Hunderten in die Falle; und endlich erschien ein kleines Leben, kaum stärker als das ihre, unter der Menge von Halbtoten.

»Wirklich, ein recht hübsches kleines Mädchen«, sagte der Doktor; »klein, aber wohlgeformt. Hallo, Mrs. Bangham! Sie machen ja ein wunderliches Gesicht. Rasch fort, Ma’am, augenblicklich fort und etwas Branntwein geholt, oder Sie bekommen auch Mutterbeschwerden.«

Indessen hatten die Ringe von den unschlüssigen Händen des Schuldners wie Blätter von einem wintrigen Baume zu fallen begonnen. Keiner blieb in jener Nacht an seinem Finger, als er etwas Klingendes in des Doktors fette Hand legte. Inzwischen war Mrs. Bangham nach einer benachbarten, mit drei goldenen Kugeln gezierten Anstalt geeilt, wo sie wohlbekannt war.

»Danke«, sagte der Doktor, »danke. Eure gute Frau hat sich ziemlich erholt. Es geht ganz vortrefflich.«

»Ich bin sehr glücklich und dankbar, das zu hören«, sagte der Schuldner, »wenn es mir auch anfangs etwas schwer fiel, zu denken, daß –«

»Daß Ihnen ein Kind an solchem Ort geboren werden sollte?« sagte der Doktor. »Aber, ach was, Sir! was hat das weiter zu bedeuten? Etwas mehr Ellbogenraum ist alles, was wir brauchen. Wir leben hier ganz ruhig; wir werden hier nicht gehetzt; da gibt’s keine Türklingel, Sir, mit dem die Gläubiger mahnen und uns Angst einjagen können. Niemand kommt hierher, um zu fragen, ob man zu Haus ist, oder sagt gar, er wolle auf der Türmatte warten, bis man nach Hause kommt. Niemand schickt Drohbriefe wegen Geldes hierher. Das ist Freiheit, Sir; das ist Freiheit! Ich hatte in der Heimat und Fremde, auf dem Marsch und an Bord eine gute Praxis, das versichere ich Sie. Aber ich wüßte nicht, daß ich sie je unter so ruhigen Umständen besorgt wie jetzt hier. Anderwärts sind die Leute gequält, gehetzt und gejagt, bald ängstlich um das eine, bald um das andere besorgt. Nichts dergleichen hier, Sir! Wir haben das alles selbst erlebt, – wir kennen das Schlimmste davon; wir sind bis auf den Grund gedrungen, wir können nicht mehr fallen, und was haben wir gefunden? Frieden. Das ist das rechte Wort, Frieden.«

Mit diesem Glaubensbekenntnis kehrte der Doktor, der ein alter Zuchthäusler und aufgedunsener denn sonst war, nun gar mit dem erhöhten Reizmittel, Geld in seiner Tasche, zu seinem heiseren, aufgedunsenen, roten, skatspielenden, tabakrauchenden, schmutzigen, branntweintrinkenden Kameraden und Stubenburschen zurück.

Der Schuldner war ein ganz anderer Mann als der Doktor, aber auch er hatte bereits von seiner solcherlei entgegengesetzten Lebensperipherie aus nach demselben Endziel seine Wanderung begonnen. In seiner Gefangenschaft sich anfangs gedrückt fühlend, empfand er bald eine gewisse Behaglichkeit, wenn diese auch nicht gerade ein heiteres Gepräge trug. Er war hinter Schloß und Riegel; aber Schloß und Riegel, die ihn gefangenhielten, schlossen viele von seinen Sorgen aus. Wenn er ein Mann gewesen, der den festen Vorsatz hätte fassen können, diesen Sorgen ins Angesicht zu sehen und sie zu bekämpfen, so würde er wohl auch das Netz durchbrochen haben, das ihn umfing, oder sein Herz wäre gebrochen. Aber so wie er nun einmal war, glitt er langsam an diesem glatten Abhang hinab und machte nie wieder einen Schritt aufwärts.

Als er die verwickelten Sachen erledigt hatte, die nichts zu entwirren vermochten und die von einem Dutzend Maklern hintereinander wieder in seine Hände zurückgewandert, da jene weder einen Anfang noch eine Mitte oder ein Ende darin herausfinden konnten, fand er seinen elenden Zufluchtsort behaglicher denn je zuvor. Er hatte seinen Reisesack schon längst ausgepackt; seine älteren Kinder spielten jetzt gewöhnlich auf dem Hofe, und jedermann kannte das Wickelkind und machte ein Eigentumsrecht auf dieses geltend.

»Wahrhaftig, ich bin stolz auf Sie«, sagte sein Freund, der Schließer, eines Tages: »Sie werden bald der älteste Bewohner des Gefängnisses sein. Das Marschallgefängnis wäre ohne Sie und Ihre Familie nicht mehr das Marschallgefängnis.«

Der Schließer war wirklich stolz auf ihn. Er gedachte seiner in rühmenden Worten bei jedem neuen Ankömmling, sobald er den Rücken kehrte. »Haben Sie ihn bemerkt?« sagte er dann, »den, der gerade mein Stübchen verließ?«

Der neue Ankömmling antwortete mit »Ja.«

»Wie ein echter Gentleman erzogen, wenn’s je einen solchen gab; keine Kosten bei seinem Unterricht gespart; kam einst in des Marschalls Haus, um ein neues Piano zu probieren. Er spielte es wie aus einem Guß – herrlich! Und was Sprachen betrifft – er spricht alle. Wir hatten mal einen Franzosen hier; meiner Ansicht nach wußte er mehr Französisch als dieser. Wir hatten einmal einen Italiener hier, und er schloß, ehe eine halbe Minute vorbei war, den Mund. Sie finden wohl interessante Charaktere auch hinter andern Schlössern, ich will das nicht bestreiten; aber wenn Sie die Krone alles Wissens in solchen Dingen wie die erwähnten haben wollen, so müssen Sie nach dem Marschallgefängnis kommen.«

Als sein jüngstes Kind acht Jahre alt war, ging seine Frau, die schon lange an der Schwindsucht litt – eine Folge ihrer eigenen Schwäche, nicht daß ihr der Aufenthaltsort peinlicher gewesen als ihrem Gatten – zu Besuch zu einer armen Freundin und ehemaligen Amme auf dem Lande und starb dort. Er schloß sich nach diesem Schlage vierzehn Tage lang ein, und der Schreiber eines Anwalts, der bei dem Gerichtshof in Bankerottsachen zu tun hatte, setzte ein Beileidsschreiben an ihn auf, das wie ein Pachtkontrakt aussah und von allen Gefangenen unterzeichnet wurde. Als er sich endlich wieder zeigte, war er grauer geworden (er hatte frühzeitig grau zu werden begonnen); und der Schließer bemerkte, daß er seine Hände wieder häufiger zu seinen zitternden Lippen führte, wie er zu tun pflegte, als er zuerst in das Gefängnis eingeliefert wurde. Aber er erholte sich während der nächsten ein bis zwei Monate wieder so ziemlich, und die Kinder spielten inzwischen so regelmäßig wie sonst auf dem Hofe, nur mit dem Unterschied, daß sie schwarze Kleider trugen.

Dann begann Mrs. Bangham, das langjährige, beliebte Verbindungsglied mit der Außenwelt, schwach zu werden; man fand sie öfter denn sonst in ohnmachtähnlichem Zustand auf dem Boden, den Korb zum Einkaufen umgeworfen und das Geld, das sie für ihre Kunden wechseln lassen sollte, um neun Pence verkürzt. Sein Sohn begann Mrs. Bangham zu ersetzen und besorgte die Kommissionen mit großer Gewandtheit: im Gefängnis war er ganz Gefangener und auf den Straßen ganz Straßenjunge.

Die Zeit ging ihren Gang, und der Schließer wurde immer schwächer. Seine Brust schwoll, seine Beine wurden schwach, und der Atem wurde kürzer. Der abgenutzte hölzerne Stuhl war nicht mehr sein Thron, das machte ihm Kummer. Er saß in einem Armstuhl mit einem Kissen und keuchte hier und da ganze Minuten lang so stark, daß er seinem Dienst nicht mehr obliegen konnte. Hatte er einen solchen heftigen Anfall, so besorgte der Schuldner das Geschäft für ihn.

»Sie und ich«, sagte der Schließer an einem schneeigen Wintertag, als sein gut erwärmtes Stübchen voll von Gesellschaft war, »wir sind die ältesten Bewohner des Gefängnisses. Ich bin kaum sieben Jahre länger hier als Sie. Es wird nicht mehr lange mit mir dauern. Wenn ich das Schloß für immer schließe, so sind Sie der Vater des Marschallgefängnisses.« Der Schließer verließ am folgenden Tage das Schloß dieser Welt. Man erinnerte sich seiner Worte, die von Mund zu Mund gingen, und eine Tradition vererbte sich von Generation zu Generation – eine Generation des Marschallgefängnisses dauert ungefähr drei Monate –, daß der alte abgeschabte Schuldner mit dem sanften Wesen und dem weißen Haar der Vater des Marschallgefängnisses sei.

Und er wurde stolz auf diesen Titel. Wenn ein Betrüger aufgestanden wäre und ihn für sich beansprucht, würde er bittere Tränen über diesen Angriff auf seine Rechte vergossen haben. Man sah ihn sogar geneigt, die Zahl der Jahre, die er bereits an diesem Orte verbracht, zu übertreiben; man wußte allgemein, daß man einige von seiner Rechnung abziehen mußte. Er sei eitel, sagten die wechselnden Schuldnergenerationen.

Alle neuen Ankömmlinge wurden ihm vorgestellt. Er war sehr genau in Vollziehung dieser Zeremonie. Witzige Köpfe hätten gerne die Feierlichkeit der Vorstellung durch übertriebenes Gepränge und pomphafte Umständlichkeit ins Lächerliche gezogen, aber an seinem würdevollen Ernst scheiterte jeder derartige Versuch. Er empfing sie in seinem dürftigen Zimmer (eine Vorstellung im Hofe mißfiel ihm wegen der Formlosigkeit und Alltäglichkeit) mit herablassendem Wohlwollen. Er heiße sie willkommen im Marschallgefängnis, sagte er zu ihnen. Ja, er war der Vater des Hauses. So nannte ihn die freundliche Welt, und er war wirklich der »Vater«, wenn zwanzigjähriger Aufenthalt ihm ein Recht auf diesen Titel gab. Anfangs war er wohl verlegen darüber; aber es war ja sehr gute Gesellschaft unter diesem Gemisch von Menschen – man kann sich denken welch Gemisch –, und es herrschte ein sehr guter Ton.

Es war nicht ungewöhnlich, daß bei Nacht Briefe vor seine Tür gelegt wurden, die eine halbe Krone, zwei halbe Kronen und dann und wann in langen Zwischenräumen einen halben Sovereign für den Vater des Marschallgefängnisses enthielten, »mit den Grüßen eines Abschied nehmenden Mitgefangenen.« Er empfing diese Gaben wie einen Tribut, den die Bewunderung einem öffentlichen Charakter darbringt. Bisweilen nahmen diese Briefsteller scherzhafte Namen an wie: Backstein, Blasebalg, Alte Stachelbeere, Weitweg, Aufpasser, Fegewisch, Schneidab, Hundefütterer. Aber er nahm den Scherz übel auf und fühlte sich immer etwas gekränkt dadurch.

Diese Art von Korrespondenz trug nach und nach die Zeichen der Erschöpfung an sich und schien von seiten der Korrespondenten eine Anstrengung zu erfordern, die manchen bei der Eile, in der er das Gefängnis verließ, genieren mochte, und er begann zuletzt die Sache so einzurichten, daß er die Gefangenen von einem gewissen Rang am Tor erwartete, um von ihnen Abschied zu nehmen. Der Betreffende blieb dann, nachdem er ihm die Hand geschüttelt und weggegangen, plötzlich stehen, wickelte etwas in ein Stück Papier, kehrte zurück und rief: »Halt!« Der Schuldner sah sich erstaunt um. »Rufen Sie mich?« sagte er mit einem Lächeln.

Währenddem war der andere zu ihm herangetreten. In väterlichem Tone fügte er dann hinzu: »Was haben Sie vergessen? was kann ich für Sie tun?«

»Ich vergaß dies für den Vater des Marschallgefängnisses zurückzulassen«, antwortete gewöhnlich der Mitgefangene.

»Mein guter Herr«, erwiderte er darauf, »er ist Ihnen sehr verbunden.« Aber die sonst unschlüssige Hand blieb dann während eines zwei- bis dreimaligen Ganges durch den Hof in der Tasche, in die er das Geld gesteckt, damit dieser Vorgang für die Korporation seiner übrigen Mitgefangenen nicht gar so auffallend werde.

Eines Nachmittags hatte er einer großen Anzahl von Gefangenen, die so glücklich waren entlassen zu werden, das Geleit gegeben, als er bei der Zurückkehr einem von der armen Seite begegnete, der wegen einer kleinen Summe in der Woche zuvor eingeliefert worden war, nun aber seine Sache geordnet hatte und das Gefängnis soeben verlassen wollte. Der Mann war ein gewöhnlicher Gipser und trug sein Arbeitskleid; er hatte seine Frau bei sich und ein Bündel und schien sehr heiter zu sein.

»Gott segne Sie!« sagte er im Vorbeigehen.

»Das gleiche wünsche ich Euch«, versetzte der Vater des Marschallgefängnisses freundlich.

Sie waren schon ziemlich weit auseinander, da jeder seines Weges ging, als der Gipser ausrief: »Noch etwas! – Sir!« und zu ihm zurückkam.

»Es ist nicht viel«, sagte der Gipser, indem er einen kleinen Stoß Kupferdreier in seine Hände legte, »aber es ist gut gemeint.«

Dem Vater des Marschallgefängnisses war bis jetzt noch nie ein Tribut in Kupfer dargebracht worden. Seine Kinder freilich hatten schon manches Kupfer empfangen, und es war mit seiner Zustimmung in den allgemeinen Beutel geflossen, woraus Speise gekauft wurde, die er gegessen, und Getränk, das er getrunken; daß jedoch mit Gips bespritzter Barchent ihm in eigner Person Dreier in die Hand drückte, das war neu für ihn.

»Wie könnt Ihr es wagen!« sagte er zu dem Mann und brach in Tränen aus.

Der Gipser führte ihn nach der Mauer, daß man sein Gesicht nicht sehen konnte, und die Art und Weise, wie er dies tat, war so zart, und der Mann war so von Reue durchdrungen, bat so aufrichtig um Verzeihung, daß er ihm keine geringere Anerkennung zuteil werden lassen konnte als: »Ich weiß, Ihr meintet es gut. Sprecht nicht weiter davon.«

»Gott segne Sie, Sir«, drängte der Gipser. »Wahrhaftig, es ist so. Ich möchte so gern mehr für Sie tun als alle andern.«

»Was möchtet Ihr tun?« fragte er.

»Ich möchte Euch wieder besuchen, wenn ich frei bin.« »Gebt mir das Geld wieder«, sagte der andere lebhaft, »ich will es aufbewahren und niemals ausgeben. Danke Euch dafür, ich werde Euch also wiedersehen?«

»Wenn ich die nächste Woche lebe.«

Sie schüttelten sich die Hand und schieden. Die Gefangenen, die in jener Nacht zu einem Gelage in der Snuggery versammelt waren, fragten sich in der Stille, was wohl ihrem Vater begegnet sein möge: er ging so spät noch im Schatten des Hofes auf und ab und schien so niedergeschlagen.

Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Das Kind des Marschallgefängnisses.

Das Kind, dessen erster Atemzug einen Beigeschmack von Doktor Haggages Branntwein hatte, ging unter den Generationen der Gefangenen, wie die Tradition von ihrem gemeinschaftlichen Vater, von Hand zu Hand. In den ersten Lebensstationen ging es wirklich in wörtlichem und prosaischem Sinne von Hand zu Hand; da es gleichsam ein Eintrittsgeld jedes neuen Gefangenen war, das Kind zu begrüßen, das innerhalb dieser vier Mauern geboren worden.

»Von Rechts wegen«, bemerkte der Schließer, als es ihm zum erstenmal gezeigt wurde, »sollte ich Pate sein.«

Der Schuldner war einen Augenblick unschlüssig und sagte dann: »Sie hätten vielleicht nichts dagegen, wirklich sein Pate zu werden?«

»Oh! ich habe nichts dagegen«, versetzte der Schließer, »wenn es Ihnen recht ist.«

So geschah es, daß das Kind eines Sonntagnachmittags getauft wurde, als der Schließer von seinem Schlüsselamt abgelöst worden, und daß dieser an das Taufbecken der St.-George-Kirche trat, ein feierliches Gelöbnis ablegte und »als guter Christ« in des Kindes Namen dem Teufel entsagte, wie er selbst erzählte, als er nach Hause kam.

Dieser Akt gab dem Schließer ein neues Eigentumsrecht auf das Kind, ganz abgesehen von seinem früheren dienstlichen. Als das Mädchen zu gehen und zu sprechen anfing, wurde er ganz vernarrt in dasselbe. Er kaufte einen kleinen Armstuhl und stellte ihn an das hohe Kamingitter im Pförtnerstübchen; immer wollte er es bei sich haben, wenn er Schließerdienste besorgte. Auch wußte er es mit wohlfeilen Spielsachen stets zu locken, daß es zu ihm kam und mit ihm plauderte. Das Kind seinerseits gewann den Schließer bald so lieb, daß es aus eignem Antrieb zu allen Stunden des Tages die Treppe zum Pförtnerstübchen hinaufkletterte. Wenn es in dem kleinen Armstuhl an dem hohen Kamingitter einschlief, bedeckte der Schließer sein Gesichtchen mit dem Taschentuch, und wenn das Kind mit An- und Auskleiden einer Puppe beschäftigt dasaß – die bald den Puppen außerhalb des Gefängnisses sehr unähnlich wurde, aber dafür eine furchtbare Familienähnlichkeit mit Mrs. Bangham bekam –, da betrachtete er es von der Höhe seines Stuhles herab mit ausnehmender Freundlichkeit. Waren die Mitgefangenen Zeuge solcher Momente, so äußerten sie gewöhnlich, der Schließer, der ein Junggeselle, sei von der Natur wie zum Familienvater geschaffen. Aber der Schließer dankte für dieses Kompliment und sagte: »Nein, im ganzen genügten ihm vollkommen anderer Leute Kinder!«

In welchem Augenblick seiner Jugend das kleine Geschöpf zu merken begann, daß nicht die ganze Welt die Gewohnheit habe, in engen Höfen, die von hohen Mauern mit Spitzen umgeben waren, zu leben, ist eine schwer zu entscheidende Frage. Aber das Mädchen war noch ein sehr, sehr kleines Geschöpf, als es zu der Erkenntnis kam, daß es ihres Vaters Hand immer an der Türe loslassen mußte, die der große Schlüssel öffnete; und daß, während ihre eignen leichten Füße frei hin und her gehen konnten, die seinen diese Linie niemals überschreiten durften. Ein mitleidiger und teilnahmsvoller Blick, mit dem sie ihn zu betrachten pflegte, als sie noch sehr jung war, war vielleicht eine Folge dieser Entdeckung.

Mit einem mitleidigen und teilnahmsvollen Blick für alles, aus dem jedoch noch ein besonderer Funke leuchtete, der Schutz zu versprechen schien und ihm allein galt, saß während der ersten acht Jahre seines Lebens dieses Kind des Marschallgefängnisses und Kind des Vaters des Marschallgefängnisses bei seinem Freund, dem Schließer, im Pförtnerstübchen, im Familienzimmer, oder es tummelte sich im Gefängnishof. Mit einem mitleidigen und teilnahmsvollen Blicke betrachtete die Kleine ihr eigensinniges Schwesterchen, ihren faulen Bruder, die hohen weißen Mauern, die traurige Masse, die sie einschlossen, die Spiele der blassen Gefangenenkinder, wenn sie schrien und sprangen und Verstecken spielten und die eisernen Gitter am innern Torweg zu ihrem »Häuschen« machten.

Aufmerksam und neugierig saß sie gewöhnlich an Sommertagen bei dem hohen Kamingitter im Pförtnerstübchen und sah durch das vergitterte Fenster zum Himmel hinauf, bis sich zwischen ihr und dem Freunde Lichtgitter vor ihren Blicken bildeten, wenn sie ihre Augen wegwandte, und sie ihn in einem Gefängnis zu sehen glaubte.

»Denkst du nicht auch an die Felder?« sagte der Schließer einst, nachdem er sie eine Zeitlang beobachtet.

»Wo sind sie?« fragte sie.

»Nun – da drüben, meine Liebe«, sagte der Schließer mit einer leichten Schwenkung des Schlüssels. »Ungefähr dort.«

»Öffnet und schließt sie jemand? Sind sie verriegelt?«

Der Schließer war verlegen. »Nun!« sagte er. »Gewöhnlich nicht.«

»Sind sie sehr hübsch, Bob?« Sie nannte ihn auf seine besondre Bitte und Anweisung Bob.

»Reizend. Voll von Blumen. Da finden sich Hahnenfüße, Gänseblümchen und dann –« der Schließer stockte, da er in der Botanik etwas schwach war – »dann Löwenzahn und lauter Lust und Freude.« »Es ist also sehr angenehm dort, Bob?«

»Im Frühling«, sagte der Schließer.

»War Vater auch schon dort?«

»Hm!« hustete der Schließer. »O ja, er war bisweilen dort.«

»Tut es ihm weh, daß er nicht mehr dort ist?«

»N–nicht besonders«, sagte der Schließer.

»Auch den andern nicht?« fragte sie mit einem Blick auf die apathisch umhersitzenden Gefangenen. »Weißt du das ganz gewiß, Bob?«

Als das Gespräch bis zu diesem schwierigen Punkt gediehen war, sprach Bob von Backwerk: es war dies immer sein letztes Mittel, wenn ihn seine kleine Freundin auf eine politische, soziale oder theologische Materie brachte. Es war dies Gespräch jedoch der Ursprung einer Reihe von Sonntagsausflügen, die diese beiden seltsamen Gefährten miteinander machten. Sie schritten gewöhnlich je am zweiten Sonntagnachmittag mit großer Feierlichkeit aus dem Pförtnerstübchen und begaben sich nach einer der Wiesen oder einem der grünen Feldwege, die der Schließer im Verlaufe der Woche genau bezeichnet hatte; dort pflückte sie Gläser und Blumen, um sie nach Hause zu bringen, während er seine Pfeife rauchte. Später gab’s Tee, Seegarneelen, Aale und andere Delikatessen; dann kehrten sie Hand in Hand zurück, wenn sie nicht ungewöhnlich ermüdet und auf seiner Schulter eingeschlafen war.

In diesen frühen Tagen schon begann der Schließer alles Ernstes eine Frage bei sich zu erwägen, die ihm so viel Kopfzerbrechen machte, daß sie bis zu seinem Todestage unentschieden blieb. Er beschloß nämlich, sein kleines Vermögen, das er sich erspart, seinem Patchen testamentarisch zu vermachen, und die Frage war nur, wie konnte er die Sache »verklausulieren«, daß der Vorteil ihr allein zugute käme? Seine Erfahrung als Pförtner gab ihm einen so klaren Begriff von der ungeheuren Schwierigkeit, sein Geld testamentarisch nur einigermaßen genau zu verklausulieren, und sagte ihm, wie es dagegen so außerordentlich leicht sei, damit fertig zu werden, daß er während einer Reihe von Jahren diese schwierige Frage regelmäßig jedem neuen insolventen Sachwalter und Sachverständigen, der bei ihm aus- und einging, vorlegte.

»Gesetzt«, sagte er dann gewöhnlich, indem er die Sache mit seinem Schlüssel auf der Weste des Sachverständigen darlegte, »gesetzt, ein Mann wünschte sein Vermögen einer jungen weiblichen Person zu hinterlassen und es testamentarisch so zu ›verklausulieren‹, daß niemand sonst imstande wäre, es anzutasten; wie würden Sie dies Testament machen?«

»Ich würde es mit klaren, scharf bestimmten Worten ausdrücklich ihr allein vermachen«, antwortete der Sachverständige gefällig.

»Aber sehen Sie wohl«, antwortete dann der Schließer. »Gesetzt, sie hätte einen Bruder, einen Vater, einen Mann, die aller Wahrscheinlichkeit nach Hand an dieses Vermögen legen würden, wenn es in ihren Besitz gekommen – wie dann?« »Es wäre ja ihr allein zugesprochen, und jene hätten keine größeren gesetzlichen Ansprüche darauf als Sie«, antwortete der Sachverständige.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte dann der Schließer. »Gesetzt, sie wäre ein gutherziges Mädchen, und sie wüßten sie zu beschwatzen, welches Mittel gibt Ihr Gesetz in solchem Falle an die Hand, um dies durch Klauseln zu verhindern?«

Der tiefsinnige Charakter, an den sich der Schließer deshalb wandte, war außerstande, einen Punkt des Gesetzes herauszufinden, um einen solchen Knoten zu verklausulieren. Und der Schließer dachte sein ganzes Leben darüber nach und starb ohne Testament.

Aber dies geschah lange nachher, als seine Pate bereits sechzehn Jahre alt geworden war. Die erste Hälfte dieses Zeitraums ihres Lebens war kaum verflossen, als ihr mitleidiger und teilnahmvoller Blick ihren Vater Witwer werden sah. Von dieser Zeit verkörperte sich der Schutz, den ihre fragenden Augen ausgesprochen, zur Tat, und das Kind des Marschallgefängnisses trat in ein neues Verhältnis zu seinem Vater.

Anfangs konnte ein so kleines Kind nichts tun, als den angenehmen Platz an dem hohen Kamingitter aufgeben, bei ihm sitzen und auf seine Wünsche lauschen. Aber dies machte ihm die Kleine so unentbehrlich, daß er ganz an sie gewöhnt wurde und sie schwer vermißte, wenn sie nicht um ihn war. Durch diese kleine Tür trat sie aus der Kindheit in die sorgenbeladene Welt.

Was ihr mitleidiger Blick in jenen frühen Tagen in ihrem Vater, ihrer Schwester, ihrem Bruder, in dem Gefängnis erblickte; wieviel oder wie wenig von der traurigen Wahrheit Gott ihrem Blick zu enthüllen für gut gefunden, bleibt uns wie manches andere Geheimnis verborgen. Genug, daß sie den begeisterten Drang in sich fühlte, etwas zu sein, was die übrigen nicht waren, und dieses Etwas – anders und fleißig – um der übrigen willen. Begeistert? Ja. Sollen wir denn allein von der Begeisterung eines Dichters oder Priesters sprechen und nicht auch von der Begeisterung eines Herzens, das durch Liebe und Selbstaufopferung zu der niedrigsten Arbeit in der niedrigsten Lebenssphäre gedrängt wird?

Ohne menschlichen Freund, der sie unterstützt oder sich nur um sie bekümmert, als den einen, mit dem sie das Schicksal so seltsam zusammengewürfelt; ohne alle Kenntnis des alltäglichen Lebens und der Gewohnheiten der Glieder der freien Gemeinde, die nicht in Gefängnissen eingeschlossen ist: geboren und erzogen in sozialen Verhältnissen, für die sich selbst in den falschesten Verhältnissen der Welt außerhalb der Gefängnismauern kein ebenbürtiger Vergleich findet; von Kindheit an aus einer Quelle trinkend, deren Wasser eigentümlich gefärbt war und einen eigentümlich ungesunden und unnatürlichen Geschmack hatte, begann das Kind des Marschallgefängnisses seinen Lebenslauf.

Es gilt gleich, durch welche Irrtümer und Entmutigungen, durch welche Verspottungen ihrer kindischen und kleinen Figur (die, wenn auch nicht bös gemeint, doch bitter empfunden wurden), durch welches demütigende Bewußtsein ihrer Dürftigkeit und Schwäche, selbst im Heben und Tragen, durch wieviel Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit, wie viele stille Tränen sie sich durchgerungen, bis man sie als ein nützliches, ja unentbehrliches Wesen anerkannte. Diese Zeit konnte nicht ausbleiben. Sie trat bald, mit Ausnahme der Erstgeburt, in alle Rechte des Ältesten unter den drei Geschwistern ein; sie wurde das Haupt der gefallenen Familie und trug in ihrem Herzen die Sorgen und die Schmach derselben.

Als sie dreizehn Jahre alt war, konnte sie lesen und Rechnung führen – das heißt, sie konnte in Worten und Zeichen sagen, wieviel ihre nötigsten Bedürfnisse kosten würden und wieviel ihnen zur Anschaffung derselben mangelte. Sie war öfter einige Wochen lang verstohlenerweise in eine Abendschule in der Stadt gegangen und wußte ihre Schwester und ihren Bruder während drei oder vier Jahren zeitweise in eine Tageschule zu bringen. Zu Hause war für keines irgendwelcher Unterricht; aber sie sah es wohl ein – niemand besser als sie –, daß ein Mann, der so gebrochen, um Vater des Marschallgefängnisses zu sein, für seine Kinder kein Vater im vollen Sinn des Wortes sein könne.

Zu diesen schwachen Mitteln der Ausbildung fügte sie noch ein anderes aus eigener Findigkeit. Unter der bunten Masse von Schuldgefangenen erschien einst ein Tanzmeister. Ihre Schwester hatte ein großes Verlangen, die Kunst dieses Mannes zu lernen, und schien auch Talent dafür zu besitzen. Dreizehn Jahre alt, trat das Kind des Marschallgefängnisses mit einem Beutelchen in der Hand vor den Tanzmeister und brachte ihre bescheidene Bitte vor.

»Erlauben Sie, mein Herr, ich bin hier geboren.«

»Oh! Sie sind das junge Mädchen, wirklich?« sagte der Tanzmeister, ihre kleine Gestalt und ihr zu ihm aufsehendes Gesicht betrachtend.

»Ja, Sir.«

»Und was kann ich für Sie tun?« sagte der Tanzmeister.

»Nichts für mich, Sir, ich danke«, antwortete sie, die Schnüre des kleinen Beutels verlegen aufziehend; »aber wenn Sie während Ihres Hierseins so freundlich sein wollten, meiner Schwester billigen Unterricht –«

»Mein Kind, ich werde ihr umsonst Unterricht geben«, sagte der Tanzmeister, den Beutel zurückweisend. Er war ein so gutmütiger Tanzmeister, wie je einer in das Schuldgefängnis getanzt war, und er hielt sein Wort. Die Schwester war eine so gelehrige Schülerin, und der Tanzmeister hatte so überflüssige viele Zeit für sie (denn es dauerte zehn Wochen, bis er sich mit seinen Gläubigern ins klare gesetzt, die Kommissare bestellt und von der Sachlage unterrichtet und zu seiner Berufstätigkeit zurückkehren konnte), daß das Mädchen ausgezeichnete Fortschritte machte. Der Tanzmeister war wirklich so stolz darauf und so begierig, die Erfolge seiner Kunst, ehe er das Gefängnis verließ, vor einigen auserlesenen Freunden unter den Mitgefangenen zu produzieren, daß an einem schönen Morgen um sechs Uhr ein Menuett à la cour im Hofe getanzt wurde – die Räume des Gefängnisses waren für einen solchen Zweck zu beschränkt –, und dabei setzte die Schülerin die Füße so angemessen und machte die Schritte so gewissenhaft, daß der Tanzmeister, der die Stoßgeige dazu spielte, ganz begeistert war.

Der Erfolg dieses Anfangs, der den Tanzmeister veranlaßte, seinen Unterricht nach seiner Freilassung fortzusetzen, ermutigte das arme Mädchen, weitere Versuche zu machen. Sie wartete und wartete monatelang, ob nicht eine Näherin in das Gefängnis eingeliefert würde. Endlich nach langer Zeit erschien eine Putzhändlerin, und an diese wandte sie sich in eignem Interesse.

»Ich bitte um Entschuldigung, Ma’am«, sagte sie und sah sich ängstlich an der Tür der Putzhändlerin um, die sie in Tränen und im Bette fand; »aber ich wurde hier geboren.«

Jedermann schien, sobald er in das Gefängnis kam, von ihr zu hören; denn die Putzhändlerin saß im Bett auf und sagte, die Augen trocknend, ganz wie der Tanzmeister gesagt:

»Oh! Sie sind das Kind, wirklich?«

»Ja, Ma’am!«

»Ich bedaure, ich habe nichts, womit ich Ihnen dienen könnte«, sagte die Putzhändlerin mit Kopfschütteln.

»Das will ich auch gar nicht, Ma’am. Wenn es Ihnen angenehm wäre, wünschte ich nähen zu lernen.«

»Wie können Sie das wünschen«, versetzte die Putzhändlerin, »da Sie doch an mir ein Beispiel haben? Es hat mir nicht sonderlich viel Glück gebracht.«

»Nichts – was es auch sei – scheint denen, die hierher kommen, Glück gebracht zu haben«, versetzte sie in ihrer Einfalt; »aber ich möchte doch nähen lernen.«

»Ich fürchte, Sie sind zu schwach«, warf die Putzhändlerin ein.

»Ich halte mich nicht für zu schwach, Ma’am.«

»Und dann sind Sie auch so sehr klein«, erwiderte die Putzhändlerin.

»Ja, ich bin leider sehr klein«, entgegnete das Kind des Marschallgefängnisses und begann über diesen unglücklichen Mangel ihres Körpers, der ihr so oft hindernd in den Weg trat, zu weinen. Die Putzhändlerin – die nicht grämlich und hartherzig war, sondern nur in letzter Zeit nicht hatte bezahlen können – war gerührt, nahm sich ihrer freundlich an und fand in ihr die geduldigste und fleißigste Schülerin, die sie im Lauf der Zeit zu einer geschickten Arbeiterin machte.

Im weiteren Verlauf der Zeit, und zwar in derselben Zeit entfaltete auch der Vater des Marschallgefängnisses eine neue Blüte des Charakters. Je väterlicher er für das Marschallgefängnis und je abhängiger er von den Beiträgen seiner wechselnden Familie wurde, desto starrer hielt er an seinem verlorenen Standesadel fest. Mit derselben Hand, mit der er vor einer halben Stunde die halbe Krone eines Mitgefangenen in die Tasche schob, wischte er die Tränen weg, die über seine Wangen rollten, wenn man auf seiner Tochter Broterwerb anspielte. So hatte das Kind des Marschallgefängnisses außer ihren andern täglichen Sorgen auch noch die, ihm die vornehme Einbildung zu erhalten, daß sie lauter müßige Bettler seien.

Die Schwester wurde Tänzerin. Es war ein ruinierter Onkel in der Familie, ruiniert durch seinen Bruder, den Vater des Marschallgefängnisses, und so wenig als der, der ihn ruiniert, wissend weshalb. Aber ein Mann, der die Tatsache als ein unvermeidliches Schicksal hinnahm, – diesem wurde die Sorge für sie übertragen. Von Haus aus ein stiller und einfacher Mann, hatte er, als das Unglück über ihn kam, keinen größeren Schmerz über den Ruin an den Tag gelegt, als daß er mitten im Waschen aufhörte, als ihm das Unglück angekündigt wurde, und nie mehr zu diesem Luxus griff. Er war in seinen bessern Tagen ein ziemlich oberflächlicher Musikliebhaber gewesen, und als er mit seinem Bruder fiel, spielte er zu seinem Lebensunterhalt in einem kleinen Theaterorchester eine Klarinette, die so schmutzig war wie er selbst. Es war das Theater, an dem seine Nichte Tänzerin wurde. Er hatte schon lange seine feste Stellung an diesem, als sie ihre bescheidene Stellung dort antrat; und er übernahm die Aufgabe, sie zu leiten und zu schützen, wie er eine Krankheit, eine Erbschaft, ein Gastmahl, den Hungertod – alles außer der Seife hingenommen haben würde.

Um das Mädchen in den Stand zu setzen, ihre wenigen wöchentlichen Schillinge zu verdienen, mußte das Kind des Marschallgefängnisses einen großen Umweg bei dem Vater machen.

»Fanny hat die Absicht, künftig nicht all ihre Zeit im Gefängnis zu verbringen, Vater. Sie wird zwar noch ein gutes Stück des Tages bei uns sein, aber sie beabsichtigt, draußen bei dem Onkel zu wohnen.«

»Du überraschst mich. Weshalb?«

»Ich denke, der Oheim braucht Gesellschaft. Er braucht jemanden, der für ihn sorgt und ihn pflegt.«

»Gesellschaft? Er bringt ja einen großen Teil seiner Zeit hier zu. Und du sorgst für ihn und pflegst ihn weit besser, als deine Schwester je imstande wäre. Ihr geht alle so viel aus; ihr geht alle so viel aus.«

Dies sagte er, um den Glauben und den Schein aufrechtzuerhalten, als habe er keine Idee davon, daß Amy selbst tagsüber an die Arbeit gehe.

»Aber wir freuen uns immer so sehr auf das Heimkommen, Vater, das wirst du mir doch glauben? Und was Fanny betrifft, so wird es ihr, abgesehen davon, daß sie Onkel Gesellschaft leistet und für ihn sorgt, ganz gut bekommen, wenn sie sich nicht immer hier aufhält. Sie wurde nicht wie ich hier geboren, Vater.«

»Schon gut, Amy, schon gut. Ich kann deine Meinung nicht ganz teilen, aber es ist ganz natürlich, daß Fanny, ja daß selbst du oft draußen zu sein vorziehst. So mögt ihr denn, du und Fanny und euer Onkel, tun, was euch beliebt. Gut, gut. Ich will mich nicht darein mischen; kümmert euch nicht um mich!«

Ihren Bruder aus dem Gefängnis wegzubekommen und damit von dem Besorgen der Obliegenheiten, die er an Mrs. Banghams Stelle übernommen, sowie von dem nicht sehr einwandfreien Verkehr mit verdächtigen Kameraden loszureißen, war ihre schwierigste Aufgabe. Er würde von seinem achtzehnten Jahre bis in sein achtzigstes von der Hand in den Mund, von Stunde zu Stunde, von Pfennig zu Pfennig gelebt haben. Niemand kam in das Gefängnis, von dem er etwas Nützliches oder Gutes gelernt hätte, und sie konnte keinen Gönner für ihn gewinnen als ihren alten Freund und Paten.

»Lieber Bob«, sagte sie, »was soll aus dem armen Tip werden?« Sein Name Ted war in den vier Mauern des Gefängnisses in Tip umgeändert worden.

Der Schließer hatte seine besondern bestimmten Ansichten darüber, was aus dem armen Tip werden würde, und war in der Absicht, dem vorzubeugen, so weit gegangen, daß er Tip in dieser Beziehung dringend zu dem Auskunftsmittel riet, sich auf und davon zu machen und unter die Soldaten zu gehen. Aber Tip dankte für die Ehre und sagte, er glaube nicht sehr für sein Vaterland besorgt zu sein.

»Ja, mein liebes Kind«, sagte der Schließer, »etwas sollte mit ihm geschehen. Soll ich’s versuchen, ihn in einer Gerichtsstube unterzubringen?«

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen, Bob.«

Der Schließer hatte jetzt zwei Punkte, deretwegen er die Sachverständigen, die bei ihm aus und ein gingen, befragen mußte. Er betrieb diesen zweiten Punkt mit solchem Eifer, daß sich endlich für Tip ein Stuhl und zwölf Schillinge wöchentlich fanden, und zwar in dem Bureau eines Rechtsanwalts in einem großen Nationalpalladium, genannt Pallace Court, damals ein Stück aus der beträchtlichen Liste ewiger Bollwerke der Würde und Sicherheit Altenglands, die längst dahin sind.

Tip harrte sechs Monate lang in Cliffords Inn aus, und als die Zeit vorüber war, schlenderte er eines Abends, die Hände in den Hosentaschen, nach dem Gefängnis und erklärte seiner Schwester beiläufig, daß er nicht wieder in die Gerichtsstube zurückkehren werde.

»Nicht wieder zurückkehren?« sagte das arme, kleine, ängstliche Kind des Marschallgefängnisses, das immer in erster Reihe Pläne für Tips Zukunft entwarf.

»Ich bin der Sache so überdrüssig«, sagte Tip, »daß ich sie kurz und gut hingeschmissen habe.«

Tip wurde aller Dinge überdrüssig.

Mit Unterbrechungen eines kürzeren Müßiggangs im Marschallgefängnis und nach Besorgung von Mrs. Banghams früheren Geschäften brachte ihn seine kleine zweite Mutter, unterstützt von ihrem treuen Freunde, in ein Exportgeschäft, in einen Gemüse- und Blumenverkauf, in ein Hopfengeschäft, dann wieder in die Gerichtsstube, zu einem Auktionator, in eine Brauerei, zu einem Börsenmakler, dann wieder in eine Gerichtsstube, in ein Droschkenvermietungsbureau, in ein Wagenvermietungsbureau, dann wieder in eine Gerichtsstube, in ein gemischtes Warengeschäft, in eine Brennerei, dann wieder in eine Gerichtsstube, in ein Wollgeschäft, in ein Schnittwarengeschäft, in das Geschäft der Billingsgate, in ein Südfrüchtegeschäft und in die Docks. Aber wohin Tip auch kam, stets kehrte er überdrüssig zurück und erklärte, daß er diese Sache »hingeschmissen«. Wohin er seine Schritte wandte, schien dieser schicksalsmäßig vorherbestimmte Tip die Mauern des Gefängnisses mitzunehmen und sie in jedem Geschäft oder Beruf aufzurichten und sich innerhalb ihrer engen Grenzen planlos in den hinten heruntergetretenen alten Pantoffeln umherzubewegen, bis die unbeweglichen Mauern des Marschallgefängnisses wieder ihren Zauber auf ihn ausübten und ihn zurückbrachten.

Nichtsdestoweniger war das gute kleine Geschöpf so sehr für das Wohl seines Bruders besorgt, daß, während er diesen traurigen Tauschhandel trieb, sie so viel zusammengeizte und -scharrte, um ihn nach Kanada einschiffen zu können. Als er des Nichtstuns müde und selbst dieses »hinzuschmeißen« geneigt war, gab er seine gnädige Zustimmung zur Reise nach Kanada. Während der Schmerz über sein Scheiden ihr Herz bewegte, mußte sie sich doch der Hoffnung freuen, daß er endlich in ein gerades Lebensgeleis einlenken werde.

»Gott segne dich, lieber Tip. Sei nicht zu stolz, uns zu besuchen, wenn du dein Glück gemacht.«

»Schon gut!« sagte Tip und ging.

Aber nicht ganz bis Kanada; sondern nicht weiter als Liverpool. Nachdem er die Reise von London nach diesem Hafen gemacht, fühlte er einen so heftigen Drang, die Sache mit dem Schiff hinzuschmeißen, daß er wieder zurückzugehen beschloß. So erschien er nach Verfluß eines Monats vor seiner Schwester in Lumpen, ohne Schuhe, und geschäftsüberdrüssiger als je.

Endlich, nach einer weiteren Unterbrechung, währenddessen er wieder Mrs. Banghams Geschäfte besorgte, hatte er einen Beruf für sich herausgefunden und teilte den Fund seiner Schwester mit.

»Amy, ich habe eine Stelle gefunden.«

»Wirklich und wahrhaftig, Tip?«

»Ganz gewiß. Ich werde jetzt arbeiten. Du brauchst dich nicht mehr um meinetwillen zu grämen, gutes Mädchen.«

»Was ist es denn, Tip?«

»Nun, du kennst doch Slingo vom Ansehen?«

»Doch nicht den Kerl, den sie den Händler heißen?«

»Das ist der Kerl. Er wird am Montag kommen und will mir eine Hängematte geben.«

»Womit handelt er denn, Tip?«

»Mit Pferden. Es ist alles in Ordnung. Ich hoffe, es zu etwas zu bringen, Amy.«

Sie verlor ihn für Monate aus dem Gesicht, und man hörte nur einmal von ihm. Ein Geflüster ging unter den älteren Gefangenen, daß man ihn bei einer falschen Auktion in Moorfields gesehen, wo er plattierte Artikel für massives Silber gekauft und mit der größten Freigebigkeit in Banknoten bezahlt; aber das Gerücht drang nicht bis zu ihren Ohren. Eines Abends war sie allein bei der Arbeit – sie stand am Fenster, um von dem Zwielicht, das noch über der Mauer weilte, zu profitieren –, als er die Tür öffnete und eintrat.

Sie küßte und bewillkommnete ihn, fürchtete sich jedoch, irgendeine Frage an ihn zu richten. Er sah ihre Angst und Verlegenheit und schien betrübt.

»Ich fürchte, Amy, du wirst diesmal ärgerlich sein. Bei meinem Leben, ich fürchte das wirklich.«

»Es schmerzt mich, dich so sprechen zu hören. Bist du ganz in die Heimat zurückgekehrt?«

»Nun – ja.«

»Da ich diesmal nicht erwartete, daß das, was du gefunden, viel taugen werde, bin ich weniger überrascht und betrübt, als ich wohl sonst gewesen, Tip.«

»Ach! Das ist nicht das Schlimmste.«

»Nicht das Schlimmste?«

»Sieh nicht so erschrocken drein. Nein, Amy, nicht das Schlimmste. Ich bin zurück, wie du siehst; aber – sieh mich nicht so erschrocken an – ich bin auf eine neue Art, möcht‘ ich das nennen, zurück. Ich bin ganz und gar von der Liste der Freiwilligen gestrichen. Ich gehöre jetzt zu den regulären Insassen hier.«

»Oh! Du wolltest doch nicht sagen, daß du ein Gefangener bist, Tip! Sage das nicht, sage das nicht!«

»Gut, ich brauche das nicht zu sagen«, versetzte er in zögerndem Ton. »Aber wenn du mich nicht begreifen willst, ohne daß ich’s sage, was soll ich dann tun? Ich bin wegen vierzig Pfund und etwas darüber hier.«

Zum ersten Male seit langen Jahren brach sie unter der Last ihrer Sorgen zusammen. Sie schrie, die Hände über dem Kopfe ringend, es werde ihren Vater töten, wenn er es je erfahre, und sank vor Tips unbarmherzigen Füßen nieder.

Es war leichter für Tip, sie wieder zur Besinnung zu bringen, als für sie, ihm begreiflich zu machen, daß der Vater des Marschallgefängnisses außer sich geraten würde, wenn er die Wahrheit erführe. Das war für Tip eine unbegreifliche Sache, und es schien ihm eine phantastische Einbildung. Er fügte sich einzig aus diesem Gesichtspunkt darein, als er ihren Bitten, die von Onkel und Schwester unterstützt wurden, nachgab. An Vorwänden für seine Rückkehr fehlte es nicht. Man erklärte sie dem Vater auf die gewöhnliche Weise, und die Mitgefangenen, die für den frommen Betrug ein besseres Verständnis hatten als Tip, unterstützten ihn getreulich.

Das war das Leben und die Geschichte des Kindes des Marschallgefängnisses bis zum zweiundzwanzigsten Jahre. Mit einer unüberwindlichen Anhänglichkeit an den traurigen Hof und die Häusermasse, die ihr Geburtsort und ihre Heimat waren, ging sie jetzt verlegen und mit dem peinlichen Bewußtsein, daß man sie jedermann zeige, aus und ein. Seit sie draußen zu arbeiten begonnen, hatte sie es für nötig befunden, ihren Wohnort zu verheimlichen und so geheim als möglich zwischen der freien City und dem eisernen Tor, außerhalb dessen sie niemals in ihrem Leben geschlafen, hin und her zu gehen. Ihre angeborene Schüchternheit hatte durch diese Heimlichkeit noch zugenommen: ihr leichter Tritt und ihre kleine Gestalt huschten unbemerkt durch das Straßengedränge. Weltklug in Dingen der Armut, war sie sonst die lautere Einfalt. Ein unschuldiges Wesen stand sie mitten in dem Nebel, in dem sie ihren Vater sah und das Gefängnis und den trüben lebendigen Strom, der durch dieses flutete und weiterfloß.

Das war das Leben und die Geschichte von Klein-Dorrit, die eben an einem düstern Septemberabend, aus einiger Entfernung von Arthur Clennam beobachtet, nach Hause ging, am Ende der London Bridge umkehrte, zurückging, sich dann wieder umwandte, den Weg nach der St.-George-Kirche einschlug, plötzlich noch einmal umwandte und durch das offne äußere Tor in den Hof des Marschallgefängnisses schlüpfte.

Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Im Gefängnis.

Arthur Clennam stand in der Straße und wartete auf einen Vorübergehenden, den er fragen könnte, was dies für ein Ort sei. Er ließ mehrere Leute an sich vorübergehen, in deren Gesichtern keine Aufmunterung zu dieser Frage lag, und stand noch zögernd in der Straße, als ein alter Mann erschien, der den Weg nach dem Hofe einschlug.

Er ging sehr gebückt und brütete ganz in Gedanken versunken vor sich hin, was die von Menschen und Wagen wimmelnden Durchfahrten Londons nicht besonders sicher für ihn machten. Er war schmutzig und dürftig gekleidet und trug einen fadenscheinigen Rock, der einst blau gewesen, bis an die Knöchel hinabreichte und bis an das Kinn zugeknöpft war, wo er sich in dem blassen Geist eines Samtkragens verlor. Ein Stück roten Zeugs, mit dem dieses Phantom zu seinen Lebzeiten gesteift gewesen, lag nun offen da und wühlte hinten am Nacken des alten Mannes in einem Wirrwarr von grauen Haaren und einer rostigen Krawattenschnalle, die alle zusammen seinen Hut beinahe herabgeworfen. Es war ein fettigglänzender und kahler Hut, der über seine Augen herabhing, an der Krempe gebrochen und zerknittert war und einen Zipfel von dem Taschentuch heraussehen ließ. Seine Beinkleider waren so lang und schlottrig und seine Schuhe so plump und groß, daß er wie ein Elefant einherwackelte. Niemand hätte zu sagen vermocht, wieviel davon Gang und wieviel nachgeschlepptes Kleid und Leder war. Unter dem einen Arm trug er eine abgeriebene und abgenutzte Kapsel, die ein Blasinstrument enthielt; in der Hand hatte er für einen Penny Schnupftabak in einer kleinen Tüte von weißlich braunem Papier, aus der er gerade seine arme blaue Nase mit einer großen Prise beglückte, als Arthur Clennam seiner ansichtig wurde.

An diesen alten Mann, der eben über den Vorhof ging, richtete er seine Frage, indem er ihn an der Schulter berührte. Der alte Mann blieb stehen und sah sich um, mit einem Ausdruck in seinen schwachen grauen Augen, als ob seine Gedanken weit weg wären und er zugleich etwas schwer hörte.

»Bitte, mein Herr«, sagte Arthur, seine Frage wiederholend, »was ist das für ein Ort?«

»Ah, dieser Ort?« entgegnete der alte Mann, mit seiner Prise innehaltend und nach dem Gebäude zeigend, ohne daß er zugleich hingesehen. »Das ist das Marschallgefängnis, Sir.«

»Das Schuldgefängnis?«

»Sir«, sagte der alte Mann mit einem Ausdruck, als hielte er es nicht gerade für nötig, auf dieser Bezeichnung zu beharren, »ja, das Schuldgefängnis.«

Er drehte sich um und ging weiter.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Arthur und hielt ihn noch einmal an, »wollen Sie mir noch eine Frage erlauben? Darf hier jeder hineingehen?«

»Jeder kann hier hineingehen«, versetzte der alte Mann, durch den bezeichnenden Ton die Bedeutung des Wortes ins rechte Licht rückend, „aber nicht jeder kann wieder herausgehen.«

»Entschuldigen Sie noch eins. Sind Sie hier bekannt?«

»Sir«, entgegnete der alte Mann, indem er das kleine Paket Schnupftabak in seiner Hand preßte, und mit einem Blick auf den Fragenden, der deutlich zu sagen schien, daß ihn solche Fragen verletzen, »ja.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Es ist nicht zudringliche Neugier, die mich zu diesen Fragen drängt, sondern eine gute Absicht. Kennen Sie den Namen Dorrit hier?«

»Mein Name, Sir«, versetzte der alte Mann höchst unerwarteterweise, »ist Dorrit.«

Arthur nahm den Hut vor ihm ab. »Vergönnen Sie mir noch ein halbes Dutzend Worte. Ich war auf diese Mitteilung völlig unvorbereitet und hoffe, daß diese Versicherung mich hinlänglich für die Freiheit, mit der ich mich an Sie gewandt, entschuldigen werde.

Ich kehrte kürzlich nach langer Abwesenheit nach England zurück. Ich habe bei meiner Mutter – Mrs. Clennam in der City – ein junges Mädchen gesehen, das dort nähte und das ich nur Klein-Dorrit nennen hörte. Ich fühlte ein aufrichtiges Interesse für sie und hegte den lebhaften Wunsch, etwas mehr von ihr zu erfahren. Ich sah sie, kaum eine Minute, ehe Sie kamen, durch dieses Tor gehen.“

Der alte Mann sah ihn aufmerksam an. „Sind Sie ein Seemann, Sir?“ fragte er. Er schien durch das Kopfschütteln, das ihm antwortete, etwas enttäuscht. „Kein Seemann? Ich glaubte dies aus Ihrem sonnverbrannten Gesicht schließen zu dürfen. Ist es Ihnen auch Ernst, Sir?“

„Ich versichere Sie, daß es mir Ernst ist mit dem, was ich sage, und bitte Sie, sich völlig davon überzeugt zu halten.“

„Ich weiß sehr wenig von der Welt, Sir“, versetzte der andere, der eine schwache und zitternde Stimme hatte. „Ich schreite über die Erde wie der Schatten über die Sonnenuhr. Es lohnt sich nicht, mich zu hintergehen: das Gelingen wäre eine gar zu leichte – gar zu nutzlose Sache. Das junge Mädchen, das Sie hineingehen sahen, ist meines Bruders Tochter. Mein Bruder heißt William Dorrit; ich Frederik. Sie sagten, Sie hätten sie bei Ihrer Mutter gesehen (ich weiß, Ihre Mutter ist sehr gütig gegen sie). Sie hätten ein Interesse für sie gefaßt und wünschten zu wissen, was sie hier tut. Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst.“

Er ging weiter, und Arthur begleitete ihn.

„Mein Bruder“, sagte der alte Mann, einen Augenblick stehenbleibend und sich umsehend, „mein Bruder ist seit vielen Jahren hier, und manches, was draußen selbst mit uns vorgeht, wird ihm aus Gründen, auf die ich jetzt nicht einzugehen brauche, verheimlicht. Haben Sie die Güte, nichts davon zu sagen, daß meine Nichte in der Stadt näht. Haben Sie überhaupt die Güte, nicht mehr zu sagen als wir selbst. Wenn Sie sich innerhalb unserer Schranken bewegen, werden Sie niemanden verletzen. Nun, kommen Sie und sehen Sie selbst.“

Arthur folgte ihm durch einen engen Gang, an dessen Ende ein Schlüssel umgedreht wurde, worauf sich eine schwere Tür von innen öffnete. Sie traten in ein Pförtnerstübchen oder Vorzimmer und gelangten durch dieses und ein zweites Gittertor in das Gefängnis. Der alte Mann, der bislang immer vor sich hingegrübelt, drehte sich in seiner langsamen, steifen und demütigen Manier um, als sie zu dem diensttuenden Schließer kamen und er diesem seinen Begleiter vorstellen wollte. Der Schließer nickte, und der Begleiter trat ein, ohne daß man ihn fragte, zu wem er wolle.

Die Nacht war dunkel; und die Gefängnislampen im Hof und die Lichter, die aus den Zimmern der Gefangenen durch alte Vorhänge und Jalousien einen schwachen Schimmer verbreiteten, schienen diese ganze Welt nicht heller zu machen. Einige von den Gefangenen spazierten im Hofe umher, der größere Teil befand sich jedoch bereits

Der Klarinettspieler auf dem Wege.

auf den Zimmern. Der alte Mann, der den Weg nach der rechten Seite des Hofes einschlug, trat in den dritten oder vierten Torweg und begann die Treppen hinaufzusteigen. »Es ist hier ziemlich finster, Sir, aber Sie werden nichts im Wege finden.«

Er blieb einen Augenblick stehen, ehe er eine Tür im zweiten Stockwerk öffnete. Er hatte kaum die Klinke aufgedrückt, als der Fremde Dorrit sah und den Grund wußte, weshalb sie so großen Vorrat aufhäufte, wenn sie allein speiste.

Sie hatte die Mahlzeit mit nach Hause gebracht, die sie selbst hätte essen sollen, und wärmte sie bereits auf einem Rost über dem Feuer für ihren Vater, der einen alten grauen Rock und eine schwarze Mütze trug. Er wartete auf sein Abendessen am Tische. Ein reinliches Tischtuch war vor ihm ausgebreitet; darauf lagen und standen Gabel, Messer und Löffel, Salzbüchse, Pfefferbüchse, Glas und ein zinnerner Bierkrug. Auch fehlten solche Zutaten wie eine besondere kleine Büchse mit Cayennepfeffer und für einen Penny Mixed Pickles in einem Schälchen nicht.

Sie erschrak und wurde bald rot, bald blaß. Der Fremde forderte sie mehr durch seine Blicke als durch seine leichte Handbewegung auf, sich zu beruhigen und ihm zu vertrauen.

»Ich fand diesen Herrn«, sagte der Onkel, »Mr. Clennam, den Sohn von Amys Gönnerin – an dem äußeren Tor, in der Absicht begriffen, im Vorübergehen seinen Besuch abzustatten, unschlüssig jedoch, ob er hereingehen sollte oder nicht. Dies ist mein Bruder William, Sir.«

»Ich hoffe«, sagte Arthur, ungewiß, was er sagen sollte, »daß meine Achtung für Ihre Tochter meinen Wunsch, Sie kennenzulernen, erklären und rechtfertigen wird.«

»Mr. Clennam«, versetzte der andere, indem er aufstand, seine Mütze abnahm und sie in der Hand hielt, bereit sie wieder aufzusetzen, »Sie erweisen mir eine Ehre. Seien Sie willkommen, Sir.« Dabei machte er eine tiefe Verbeugung. »Frederik, einen Stuhl. Bitte, setzen Sie sich, Mr. Clennam.«

Er setzte seine schwarze Kappe auf, wie er sie abgenommen, und ließ sich wieder am Tische nieder. Es lag etwas eigentümlich Wohlwollendes und Herablassendes in seinem Wesen. Das waren die Zeremonien, mit denen er die Mitgefangenen gewöhnlich empfing.

»Seien Sie willkommen im Marschallgefängnis, Sir. Ich habe manchen Gentleman in diesen Mauern bewillkommt. Vielleicht wissen Sie bereits – meine Tochter Amy hat es Ihnen ohne Zweifel mitgeteilt –, daß ich der Vater dieses Hauses bin.«

»Ich – ja allerdings habe ich das gehört«, sagte Arthur, keck diese Behauptung aussprechend.

»Sie wissen ohne Zweifel ferner, daß meine Tochter Amy hier geboren ist. Ein gutes Mädchen, Sir, ein liebes Mädchen, und seit lange ein Trost und eine Stütze für mich. Amy, mein liebes Kind, setze das Essen auf; Mr. Clennam wird die einfachen Gewohnheiten,

Die Entdeckung des Geheimnisses von Klein-Dorrit.

auf die wir hier angewiesen sind, entschuldigen. Darf ich Sie fragen, ob Sie mir die Ehre geben wollen, Sir, –«

»Ich danke«, erwiderte Arthur. »Nicht einen Bissen.«

Er war lauter Staunen über das Benehmen des Mannes, der gar nicht daran zu denken schien, daß seine Tochter irgendeine Zurückhaltung über die Geschichte ihrer Familie beobachten könnte.

Sie füllte sein Glas, stellte alle die Kleinigkeiten auf den Tisch vor ihn und setzte sich neben den Vater, während dieser aß. Offenbar nach ihrer allnächtlichen Gewohnheit legte sie ein Stück Brot vor sich und berührte sein Glas mit ihren Lippen. Der Blick, mit dem sie halb bewundernd und stolz, halb verlegen, aber doch lauter Liebe und Hingebung, ihren Vater ansah, drang ihm tief ins Herz.

Der Vater des Marschallgefängnisses war gegen seinen Bruder, als einen liebreichen und wohlmeinenden Mann, einen stillen Charakter, der es zu keiner Auszeichnung gebracht, sehr herablassend. »Frederik«, sagte er, »du und Amy essen heute zu Hause zu Nacht, nicht wahr? Wo ist Fanny, Frederik?«

»Sie geht mit Tip spazieren.«

»Tip – müssen Sie wissen – ist mein Sohn, Mr. Clennam. Er war etwas wild und schwer in Ordnung zu halten, aber sein Eintritt in die Welt war auch ziemlich« – er zuckte die Schulter mit einem leichten Seufzer und blickte im Zimmer umher – »ziemlich seltsam. Ihr erster Besuch hier, Sir?«

»Mein erster.«

»Sie könnten auch seit Ihrer Knabenzeit kaum hier gewesen sein, ohne daß ich es erfahren. Es geschieht höchst selten, daß jemand – von Bedeutung, von irgendwelcher Bedeutung – hierherkommt, ohne daß er mir vorgestellt würde.“

»Vierzig bis fünfzig wurden oft an einem Tage meinem Bruder vorgestellt«, sagte Frederik, plötzlich stolz aufleuchtend.

»Jas, sagte der Vater des Marschallgefängnisses bestätigend. »Es waren ihrer sogar noch mehr. An einem schönen Sonntag zur Zeit der Sitzungen der Gerichtshöfe ist es ein wahrer Empfang – ja ein Empfang. Amy, liebes Kind, ich habe mir den halben Tag den Kopf zerbrochen über den Namen des Gentleman von Camberwell, den mir letzte Christwoche der angenehme Kohlenhändler, der auf sechs Monate wieder zurückgeschickt wurde, vorstellte.«

»Ich erinnere mich seines Namens nicht, Vater.«

»Frederik, erinnerst du dich seiner?«

Frederik bezweifelte, daß er ihn je gehört. Niemand konnte aber bezweifeln, daß Frederik die letzte Person auf Erden sei, an die man eine solche Frage richten könnte, mit irgendeiner Aussicht auf Auskunft.

»Ich meine«, sagte der Bruder, »den Gentleman, der jene Handlung mit so viel Zartheit ausführte. Ha! Still! Der Name ist mir ganz und gar entfallen. Mr. Clennam, da ich gerade eine schöne und zarte Handlung erwähnte, so werden Sie vielleicht auch wissen wollen, was es war.« »Allerdings«, sagte Arthur und wandte seine Augen von dem zarten Kopf, der sich zu senken begann, und dem blassen Gesicht ab, über das eine neue Besorgnis hinzog.

»Diese Tat ist so edel und zeugt von so viel Zartgefühl, daß es wohl Pflicht ist, ihrer zu gedenken. Ich sagte damals, daß ich bei jeder passenden Gelegenheit ohne Rücksicht auf persönliche Gefühle davon sprechen werde. Ja – es nützt nichts, die Tatsache zu verheimlichen – Sie müssen wissen, Mr. Clennam, daß es bisweilen vorkommt, daß Leute, die hierher kommen, dem Vater des Ortes ein kleines – Attestat ihrer Achtung – geben wollen.«

Es war ein sehr, sehr trauriger Anblick, ihre Hand auf seinem Arm stumm bittend ruhen und die schüchterne kleine Gestalt halb abgewandt zu sehen.

»Bisweilen«, fuhr er in leisem, sanftem, aber ernstem Ton fort, indem er sich dann und wann räusperte, – »bisweilen, – hm – unter der einen, bisweilen unter der andern Form; im allgemeinen ist es – hm – Geld. Und es ist – ich muß es gestehen – nur zu häufig – hm – recht annehmbar. Der erwähnte Gentleman wurde mir in einer für meine Gefühle höchst wohltuenden Weise vorgestellt und sprach nicht nur mit großer Höflichkeit, sondern entwickelte auch – hm – große Kenntnisse.“ Während der ganzen Zeit bewegte er, obgleich sein Nachtessen bereits beendet war, Messer und Gabel immer unruhig auf dem Teller hin und her, als ob er noch etwas vor sich hätte. »Es ging aus seinem Gespräch hervor, daß er einen Garten hatte, obgleich er anfangs aus Zartgefühl nur obenhin desselben erwähnte, da ich – hm – keinen Garten besuchen darf. Aber es kam dadurch heraus, daß ich einen sehr schönen Geraniumbüschel bewunderte – einen wirklich sehr schönen Geraniumbüschel –, den er aus seinem Gewächshaus gebracht. Als ich etwas über die reiche Farbe sagte, zeigte er mir ein Stück Papier rings um den Büschel, auf dem geschrieben stand: ›Für den Vater des Marschallgefängnisses‹, und überreichte ihn mir. Aber das war – hm – noch nicht alles. Er fügte eine seltsame Bitte hinzu, als er Abschied nahm, indem er sagte, ich möchte das Papier in einer halben Stunde wegnehmen. Ich – ha – tat so; und fand, daß es – hm – zwei Guineen enthielt. Ich versichere Sie, Mr. Clennam, ich erhielt – hm – Dankesbezeugungen aller Art und von mancherlei Wert, und sie waren unglücklicherweise alle sehr annehmbar. Aber keines hat mich mehr gefreut, als diese – hm – diese eigentümliche Dankesbezeugung.«

Arthur war gerade im Begriff, das wenige, was er über dieses Thema sagen konnte, auszusprechen, als eine Glocke zu läuten begann und Tritte sich der Tür näherten. Ein hübsches Mädchen von viel schönerem Wuchs und weit mehr entwickelt als Klein-Dorrit, obgleich sie viel jünger im Gesicht aussah, wenn man beide zugleich ins Auge faßte, blieb auf der Schwelle stehen, als sie einen Fremden erblickte; und ein junger Mann, der mit ihr war, blieb gleichfalls stehen.

»Mr. Clennam, Fanny. Meine älteste Tochter und mein Sohn, Mr. Clennam. Die Glocke ist ein Zeichen für die Fremden, daß sie das Gefängnis zu verlassen haben, deshalb kommen sie, um Abschied zu nehmen; aber es ist noch reichlich Zeit, reichlich Zeit, Mädchen. Mr. Clennam wird entschuldigen, wenn ihr Haushaltungsgeschäfte hier besorgt. Er weiß ohne Zweifel, daß ich nur ein Zimmer habe.«

»Ich brauche nur mein reines Kleid von Amy, Vater«, sagte das andere Mädchen.

»Und ich meine Wäsche«, sagte Tip.

Amy öffnete die Schublade eines alten Möbels, das oben ein Weißzeugschrank war und unten eine Bettstatt bildete, und nahm zwei kleine Bündel heraus, die sie ihrem Bruder und ihrer Schwester gab. »Ist es ausgebessert und zusammengenäht?« hörte Mr. Clennam die Schwester flüsternd fragen, worauf Amy »Jas antwortete. Er war nun aufgestanden und nutzte die Gelegenheit, sich im Zimmer umzusehen. Die nackten Wände waren früher, wie man noch erkennen konnte, von einer ungeschickten Hand grün angestrichen worden und spärlich mit ein paar Stichen geschmückt. Das Fenster war mit einem Vorhang, der Boden mit einem Teppich versehen; auch Ständer und Kleiderhaken und andre dergleichen Bequemlichkeiten hatten sich im Laufe der Jahre angesammelt. Es war ein kleines, beschränktes, ärmlich möbliertes Zimmer, und der Kamin rauchte überdies, sonst wäre der blecherne Windschirm am Feuerherd überflüssig gewesen; aber andauernde Sorgfalt und Mühe hatten es hübsch und in seiner Art sogar behaglich gemacht.

Die Glocke läutete noch immer, und der Onkel wünschte endlich zu gehen. »Komm, Fanny, komm, Fanny«, sagte er mit seiner zerfetzten Klarinettkapsel unter dem Arm; »es wird geschlossen, Kind, es wird geschlossen!«

Fanny bot ihrem Vater gute Nacht und flog federleicht fort. Tip war die Treppe schon hinabgeeilt. »Mr. Clennam«, sagte der Onkel, indem er zurücksah, während er ihnen nachschlürfte, »es wird geschlossen, Sir, es wird geschlossen.«

Mr. Clennam hatte zweierlei zu tun, ehe er folgte; erstens dem Vater des Marschallgefängnisses seine Anerkennung auszusprechen, ohne das Kind zu kränken; und dann dem Kinde etwas – nur ein einziges Wort – zur Erklärung seines Hierherkommens zu sagen.

»Erlauben Sie mir«, sagte der Vater, »Sie die Treppe hinabzubegleiten.«

Sie war hinter den andern hinausgeschlüpft, und der Vater und der Fremde waren allein. »Unter keiner Bedingung«, sagte der Fremde rasch. »Bitte, erlauben Sie mir –« kling, kling, kling.

»Mr. Clennam«, sagte der Vater, »ich bin tief, tief –« Aber der Fremde hatte seine Hand geschlossen, um dem Klingen ein Ende zu machen, und war mit großer Hast die Treppe hinabgeeilt.

Er sah keine Klein-Dorrit auf dem Weg oder im Hof drunten. Die letzten zwei oder drei Nachzügler eilten nach dem Pförtnerstübchen, und er folgte ihnen, als er plötzlich im Torweg des ersten Hauses vom Eingang ihrer gewahr wurde. Er kehrte rasch zurück.

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie hier anspreche«, sagte

Arthur neben Klein-Dorrit beim Besuch des Marschallgefängnisses.

er; »ich bitte um Entschuldigung, daß ich überhaupt hierher gekommen! Ich folgte Ihnen heute abend. Ich tat es in der Absicht, zu sehen, ob ich nicht Ihnen und Ihrer Familie irgendeinen Dienst erweisen könnte. Sie wissen, wie ich mit meiner Mutter stehe, und werden es nicht befremdlich finden, daß ich mich Ihnen nicht genähert habe in ihrem Hause, da ich sie dadurch hätte ohne Absicht leicht eifersüchtig oder empfindlich machen oder Ihnen gar in ihrer Achtung eine Kränkung zufügen können. Was ich hier in dieser kurzen Zeit gesehen, hat den herzlichen Wunsch, Ihnen ein Freund zu werden, bedeutend vermehrt. Es würde mir für manche Enttäuschung Ersatz bieten, wenn ich hoffen könnte, Ihr Vertrauen zu gewinnen.«

Sie war anfangs sehr scheu, schien jedoch Mut zu fassen, während er mit ihr sprach.

»Sie sind sehr gut, Sir. Sie sprechen sehr ernst mit mir. Aber – ich wünschte. Sie hätten mich nicht beobachtet.«

Er wußte die Bewegung, mit der sie dies sagte, zu ihres Vaters Gunsten zu deuten, und er respektierte dieses Gefühl und schwieg.

»Mrs. Clennam hat mir große Gefälligkeiten erwiesen; ich weiß nicht, was aus uns ohne die Arbeit geworden wäre, die sie mir gegeben; ich fürchte, es ist keine gute Vergeltung, Geheimnisse vor ihr zu haben; ich kann heute abend nicht mehr sagen, Sir. Ich bin überzeugt, Sie meinen es gut mit uns. Ich danke Ihnen herzlich dafür.«

»Gestatten Sie mir nur eine Frage, ehe ich gehe. Kennen Sie meine Mutter schon lange?«

»Ich glaube, zwei Jahre, Sir. – Die Glocke hat zu läuten aufgehört.«

»Wie lernten Sie sie kennen? Schickte sie nach Ihnen?«

»Nein. Sie weiß nicht einmal, daß ich hier wohne. Wir haben einen Freund, Vater und ich – einen armen, fleißigen Mann, aber der beste Freund –, und ich schrieb aus, daß ich im Taglohn zu nähen wünsche, und gab seine Adresse an. Und er ließ, was ich geschrieben, an einigen Orten anschlagen, wo es nichts kostete, und Mrs. Clennam fand auf diese Weise meinen Namen und schickte nach mir. Das Tor wird geschlossen werden, Sir.«

Sie war so unruhig und aufgeregt, und er von Teilnahme für sie und durch das lebhafte Interesse für ihre Lebensgeschichte, wie sie sich vor ihm entfaltete, so tief bewegt, daß er sich kaum losreißen konnte. Aber das Aufhören des Geläutes und die Stille im Gefängnis waren eine Mahnung zum Aufbruch, und mit einigen flüchtigen freundlichen Worten ließ er sie zu ihrem Vater zurückkehren.

Aber er hatte zu lange verweilt, das innere Tor war verriegelt und das Pförtnerstübchen geschlossen. Nach kurzem fruchtlosen Pochen mit der Hand stand er mit der unangenehmen Ueberzeugung da, daß er die Nacht hier zubringen müsse, als ihn eine Stimme von hinten anredete:

»Gefangen, Mr.?« sagte die Stimme, »Sie werden vor morgen früh nicht nach Hause kommen. – Oh! sind Sie es, Mr. Clennam?«

Es war Tips Stimme, und sie standen sich noch im Gefängnishof gegenüber, als es zu regnen begann.

»Es ist nun schon geschehen«, bemerkte Tip: »Sie müssen das nächste Mal pünktlicher kommen.«

»Aber Sie sind ja auch eingeschlossen«, sagte Arthur.

»Ich glaube allerdings«, sagte Tip sarkastisch. »Ungefähr, aber nicht ganz wie Sie. Ich gehöre zu der Bude; meine Schwester meint freilich, der Alte dürfe es nicht wissen. Ich sehe aber nicht ein, weshalb.«

»Kann ich hier irgendein Quartier finden?« fragte Arthur. »Was soll ich sonst machen?«

»Wir sollten vor allem Amy zu sprechen suchen«, sagte Tip, der gewohnt war, alle Schwierigkeiten auf sie abzuladen.

»Ich würde lieber die ganze Nacht hier herumgehen – es läßt sich ja doch sonst nichts tun –, als sie zu beunruhigen.«

»Sie brauchen das nicht zu tun, wenn Ihnen nichts daran liegt, ein Bett zu bezahlen. Wenn Ihnen nichts daran liegt, zu bezahlen, so werden sie Ihnen unter solchen Umständen eines auf dem Snuggerytisch zurechtmachen. Wenn Sie mir folgen wollen, werde ich Sie dort einführen.«

Als sie den Hof hinabgingen, sah Arthur zu dem Fenster des Zimmers hinauf, das er kürzlich verlassen und wo noch Licht brannte.

»Ja, Sir!« sagte Tip, der seinem Blick folgte. »Das ist das Zimmer unsres alten Herrn, Sie sitzt noch eine Stunde lang bei ihm und liest ihm die Zeitungen von gestern oder etwas der Art vor; und dann kommt sie heraus wie ein kleiner Geist und verschwindet geräuschlos.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Der Alte schläft droben in dem Zimmer, aber sie hat ihre Wohnung bei dem Schließer, das erste Haus das, sagte Tip und deutete auf den Torweg, in den sie sich zurückgezogen. »Das erste Haus, in der Dachkammer. Sie bezahlt zweimal so viel dafür, als sie für ein zweimal so gutes Zimmer außerhalb des Gefängnisses bezahlen müßte. Aber sie will Tag und Nacht bei dem Alten sein, das arme gute Mädchen.«

Inzwischen waren sie zu der Schenkwirtschaft am obern Ende des Gefängnisses gelangt, wo die Gefangenen gerade ihren Abendklub verließen. Das Zimmer im Erdgeschoß, in dem der Klub sich versammelte, war die fragliche Snuggery; der Präsidentenstuhl des Vorsitzenden, die zinnernen Krüge, Gläser, Pfeifen, Tabakasche und die allgemeinen Dünste der Mitglieder waren noch vorhanden, auch nachdem die Zechbrüderschaft sich verzogen hatte. Die Snuggery hatte zwei von den Eigenschaften, die man gemeiniglich für Damengrog als wesentlich erachtet, nämlich, daß sie heiß und stark war; im dritten Punkt der Analogie, nämlich, daß davon im Ueberfluß vorhanden sei, blieb sie zurück: denn es handelte sich bei ihr um ein sehr kleines Zimmer.

Der ungewohnte Fremde von draußen glaubte natürlich, jeder sei hier Gefangener – Wirt, Kellner, Kellnerin, Bierausträger und alle übrigen. Ob sie es wirklich waren oder nicht, ließ sich nicht erkennen. Alle aber hatten das Aussehen von Unkraut. Der Besitzer eines Kramladens in einem Vordergebäude, der einigen Gefangenen Kost gab, half beim Bettmachen. Er war früher Schneider gewesen und hatte einen Promenaden-Sportwagen besessen, wie er sagte. Er rühmte sich, daß er die Ehre und die Interessen des Gefängnisses nachdrücklich verteidige; und er hatte die unklare und unerklärliche Idee, daß der Marschall einen »Fonds« unterschlage, der den Gefangenen zugute kommen sollte. Er war davon überzeugt und teilte diesen dunkeln Schmerz allen Neulingen und Fremden mit, obgleich er um keine Welt hätte erklären können, welchen »Fonds« er meinte und wie dieses Hirngespinst in seiner Seele Wurzel gefaßt. Er hatte sich trotzdem Gewißheit darüber verschafft, daß sein Anteil an dem Fonds drei Schillinge und neun Pence die Woche ausmache, und daß er als einzelner Gefangener regelmäßig jeden Montag von dem Marschall darum beschwindelt werde. Er half offenbar beim Bettmachen nur, um keine Gelegenheit zu verlieren, diese Sache an den Mann zu bringen; und als er sein Herz ausgeschüttet und angekündigt (wie er immer zu tun schien, ohne daß etwas zuwege kam), daß er einen Brief an die Zeitungen schreiben und den Marschall denunzieren wolle, ließ er sich in ein Gespräch über allerlei Dinge mit den übrigen ein. Aus dem vorherrschenden Ton in der ganzen Gesellschaft ging hervor, daß sie Zahlungsunfähigkeit als den Normalzustand der Menschen und die Bezahlung der Schulden als eine Krankheit, die zuweilen ausbreche, betrachtete.

In dieser seltsamen Umgebung, und während diese seltsamen Gespenster ihn umgaukelten, sah Arthur Clennam den Vorbereitungen zu seinem Nachtlager zu, als ob sie ein Traum wären. Inzwischen wies ihn der hier lange schon heimische Tip mit einer unheimlichen Freude an den Hilfsmitteln der Snuggery auf das gewöhnliche Küchenfeuer, das durch die gemeinsamen Beiträge der Gefangenen, und den Kessel für heißes Wasser, der auf gleiche Weise unterhalten wurde, und andere Vorteile hin, die beweisen zu wollen schienen, daß das Mittel, um gesund, wohlhabend und weise zu werden, sich im Marschallgefängnis einsperren zu lassen, sei.

Die beiden in einer Ecke zusammengestellten Tische waren endlich in ein wirklich bequemes Bett umgewandelt, und der Fremde wurde mit den Windsorstühlen, dem Präsidentensitz, der Bieratmosphäre, dem Sägemehl, den Fidibussen, den Spucknäpfen und dem Lager allein gelassen. Aber die Tatsache des letzteren verband sich lange, lange nicht mit den andern Tatsachen dieser Umwelt. Die Neuheit des Ortes, der unvorbereitete Eintritt, das Gefühl, eingeschlossen zu sein, die Erinnerung an das Zimmer im zweiten Stock, an die beiden Brüder und vor allem an die schüchterne kindliche Gestalt und das Gesicht, in dem er Jahre unzulänglicher Nahrung, wenn nicht gar Mangel an allem las, hielt ihn wach und machte ihn traurig.

Betrachtungen, die in seltsamster Beziehung zu dem Gefängnis standen, aber eben doch immerhin noch in Beziehung dazu standen, lasteten wie ein Alp auf seiner Seele, während er wachend dalag. Ob man Särge für Leute bereit halte, die hier sterben, wo sie aufbewahrt würden, wie sie aufbewahrt würden, wo die Leute, die im Gefängnis sterben, begraben würden, wie man sie fortschaffe, welche Formen man dabei beobachte, ob ein unversöhnlicher Gläubiger auch noch den Toten Arrest auferlegen könne? Welche Möglichkeit zu entfliehen vorhanden sei? Ob ein Gefangener die Mauern mit einem Strick und Haken erklettern könne, wie er auf der andern Seite hinabkäme? Ob er sich auf einen Hausgiebel herablassen, eine Treppe hinabschleichen, zur Tür hinauskommen und sich in der Menge verlieren könnte? Ob Feuer im Gefängnis ausbrechen würde, so lange er hier läge?

Diese bunt sich ihm aufdrängenden Einfälle waren nichts anderes als der Rahmen eines Bildes, in dem drei Gestalten vor ihm standen. Sein Vater, mit dem starren Blick bei seinem Tode, der prophetisch in dem Porträt hervortrat; seine Mutter, wie sie seinen Verdacht abwehrend den Arm emporhielt; und Klein-Dorrit, die die Hand auf den entehrten Arm legte und den gesenkten Kopf abwendete.

Wie, wenn seine Mutter einen alten Grund hatte, den sie wohl kannte, das Unglück dieses armen Kindes zu lindern! Wie, wenn der Gefangene, der jetzt ruhig schlief – wollt‘ es der Himmel! – beim Licht des jüngsten Tages seinen Fall auf sie wälzen würde! Wie, wenn irgendeine ihrer Handlungen oder sein Vater auch nur entfernt die grauen Häupter der beiden Brüder so tief gebeugt!

Ein Gedanke fuhr ihm blitzschnell durch den Sinn. Konnte seine Mutter nicht in der langen Gefangenschaft des Marschallgefängnisses und in ihrer eignen langen Beschränkung auf ihr Zimmer einen offensichtlichen Ausgleich finden? »Ich gebe zu, ich war Mitschuldige an dieses Mannes Gefangenschaft. Ich habe gewissermaßen dafür gelitten. Er ist in seinem Gefängnis abgestorben; ich in dem meinen. Ich habe die Strafe bezahlt.«

Als alle übrigen Gedanken in ihr Nichts sich aufgelöst, bemächtigte sich dieser seiner ganz und gar. Als er einschlief, erschien sie ihm in ihrem Rollstuhl und wehrte ihn durch diese Rechtfertigung ab. Als er erwachte und ohne Ursache erschrocken aufsprang, klangen diese Worte noch in seinen Ohren, als ob ihre Stimme an seinem Lager erklungen sei, um seine Ruhe zu stören: »Er siecht in seinem Gefängnis hin, ich in dem meinen; der unerbittlichen Gerechtigkeit ist ihr Recht geschehen; sollte die Rechnung hier noch nicht abgeschlossen sein?“

Dreiunddreißigstes Kapitel.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Mrs. Merdles Übel.

Mrs. Gowan faßte, in das unvermeidliche Schicksal sich fügend, indem sie die vorteilhafteste Seite dieser Miggles herauskehrte, den edelmütigen Entschluß, sich der Heirat ihres Sohnes nicht zu widersetzen. Auf dem Wege zu diesem Entschluß, zu dem sie endlich glücklich gekommen, wurde sie vielleicht nicht bloß durch ihre mütterliche Liebe, sondern auch durch dreierlei Erwägungen der Klugheit beeinflußt.

Von diesen mag die erste die gewesen sein, daß ihr Sohn niemals die leiseste Absicht zu erkennen gegeben hatte, ihre Einwilligung einzuholen. Ferner hatte er nie ein Mißtrauen in seine Fähigkeit, sich von dieser Pflicht zu dispensieren, offenbart. Die zweite war die, daß die Pension, die ihr ein dankbares Land (und ein Barnacle) zuerkannt, von allen, selbst den kleinsten kindlichen Eingriffen fortan befreit sein würde, sobald ihr Sohn Henry mit dem einzigen Liebling eines Mannes in sehr vermöglichen Umständen verheiratet wäre; die dritte, daß Henrys Schulden von seinem Schwiegervater bei Heller und Pfennig auf dem Altargeländer bezahlt werden müßten. Wenn zu diesen dreifachen Klugheitsrücksichten das Faktum hinzugefügt wird, daß Mrs. Gowan ihre Zustimmung in dem Augenblick gab, als sie erfuhr, daß Mr. Meagles die seinige gegeben, und daß Mr. Meagles‘ Einspruch gegen die Heirat bislang das einzige Hindernis gewesen war, so erreicht es die Höhe der Wahrscheinlichkeit, daß die Witwe des verstorbenen Unterhändlers, der eigentlich nichts zu unterhandeln hatte, diese Ideen in ihrem schlauen Geiste wohl erwogen hatte.

Unter ihren Verwandten und Bekannten bewahrte sie jedoch ihre persönliche Würde und die Würde des Bluts der Barnacles, indem sie fleißig die Behauptung wiederholte, daß es ein sehr unglücklicher Handel wäre. Sie sei sehr betrübt darüber, daß Henry unter einem wahren Zauberbanne stehen müsse; daß sie sich lange widersetzt habe, aber was könne eine Mutter tun, und dergleichen.

Sie hatte sich sogar auf Arthur Clennam, als auf einen Freund der Familie Meagles, berufen, um diese Fabel zu bekräftigen, und sie ging noch weiter, indem sie sogar die Familie selbst zu gleichem Zweck in Anspruch nahm. Bei der ersten Zusammenkunft, die sie Mr. Meagles zugestand, gab sie sich das Ansehen, als ob sie mit schwerem Herzen, aber doch voll Güte, in das unwiderstehliche Drängen einwillige. Mit der größten Höflichkeit und Feinheit tat sie, als ob sie – nicht er – die Schwierigkeiten gemacht und endlich nachgegeben hätte, und als ob das Opfer ihrerseits – nicht seinerseits – bestände. Dieselbe Finte wandte sie mit derselben feinen Geschicklichkeit gegen Mrs. Meagles an, als ob ein Verschwörer etwa dieser unschuldigen Dame eine Karte aufgedrungen hätte. Als dann die künftige Schwiegertochter ihr von ihrem Sohne vorgestellt wurde, sagte sie, während sie sie umarmte: »Mein liebes Kind, was haben Sie Henry angetan, daß er so bezaubert ist!« indem sie zu gleicher Zeit einigen Tränen erlaubte, das kosmetische Pulver auf ihrer Nase in kleinen Pillen vor sich herzutreiben, als ein zartes, aber rührendes Zeichen, daß sie innerlich viel leide, obgleich sie äußerlich mit großer Fassung ihr Unglück trage.

Unter den Freundinnen von Mrs. Gowan, die sich zu gleicher Zeit darauf spitzte, zur Gesellschaft zu zählen und intimen und ungezwungenen Verkehr mit dieser Macht zu pflegen – unter diesen Freundinnen stand Mrs. Merdle in erster Reihe. Die Zigeuner von Hampton Court rümpften ohne Ausnahme die Nase über die Merdles als Emporkömmlinge; aber sie senkten auch wieder die Nasen, indem sie aus Achtung vor ihrem Reichtum flach auf den Boden fielen. In dieser sich ausgleichenden Stellung ihrer Nasen waren sie der Schatzkammer, dem Stande der Rechtsanwälte und der Bischöfe, bzw. deren Vertretern und allen übrigen ungemein ähnlich.

Mrs. Gowan machte Mrs. Merdle einen Beileidsbesuch in eigner Sache, sozusagen, nachdem sie die erwähnte gnädige Einwilligung gegeben. Sie fuhr zu diesem Ende in einem einspännigen Wagen, in jener Periode der englischen Geschichte unehrfürchtigerweise Pillenschachtel genannt, nach der Stadt. Der Wagen gehörte einem armseligen Makler, der ihn selbst führte und tage- oder stundenweise an die meisten alten Damen in Hampton Court vermietete; aber es war ein heiliger Gebrauch dieses Wagens, daß die ganze Equipage stillschweigend als das Privateigentum des Mieters für die Dauer der Miete angesehen wurde und daß der Makler niemand persönlich kennen sollte als den Mieter, der im momentanen Besitz des Wagens war. So behaupteten ja auch die Barnacles vom Circumlocution-Office, die die größten Makler des Universums waren, keinen andern Mieter zu kennen als den, der gerade im Augenblick im Besitz einer Sache war.

Mrs. Merdle war zu Hause und saß in ihrem Nest von Scharlach und Gold, während der Papagei in der Nähe auf einer Stange saß und sie mit zur Seite geneigtem Kopf betrachtete, als wenn er sie ebenfalls für einen glänzenden Papagei, nur von einer größeren Gattung, hielte. Mrs. Gowan trat mit ihrem grünen Lieblingsfächer, der das Licht auf den roten Flecken ihres allzu blühenden Antlitzes dämpfte, bei ihr ein.

»Meine teure Freundin«, sagte Mrs. Gowan und klopfte mit dem Fächer nach einem kurzen gleichgültigen Gespräch den Handrücken ihrer Freundin: »Sie sind mein einziger Trost! Die Geschichte mit Henry, von der ich Ihnen erzählte, wird demnächst vor sich gehen. Nun, was denken Sie davon? Ich sterbe vor Ungeduld, es zu wissen, da Sie die Gesellschaft so vortrefflich repräsentieren und die Meinung derselben klar kundzugeben imstande sind.«

Mrs. Merdle musterte den Busen, den die Gesellschaft zu mustern pflegte, und nachdem sie sich überzeugt, daß das Schaufenster von Mr. Merdle und den Londoner Juwelieren in bester Ordnung sei, antwortete sie:

»Bei einer Heirat, meine Liebe, verlangt die Gesellschaft auf seiten des Mannes, daß er durch die Verbindung seinen Vermögensverhältnissen aufhilft. Die Gesellschaft verlangt, daß er durch die Verbindung gewinnt. Die Gesellschaft verlangt, daß er durch die Verbindung in eine hübsche Stellung kommt. Die Gesellschaft begreift sonst nicht, was er mit einer Heirat will. Vogel, sei still!« Der Papagei, der nämlich in seinem Käfig über ihnen bei der Verhandlung den Vorsitz führte, als wenn er Richter wäre, sah ziemlich wie ein solcher aus und hatte die Auseinandersetzung mit einem entsprechenden Spektakel abgeschlossen.

»Es gibt Fälle«, sagte Mrs. Merdle, indem sie den kleinen Finger ihrer Lieblingshand sanft krümmte und ihre Bemerkungen durch diese zierliche Aktion noch zierlicher machte, »es gibt Fälle, wo ein Mann nicht jung oder elegant, aber reich ist und bereits eine hübsche Stellung hat. Diese sind von anderer Art. In solchen Fällen –«

Mrs. Merdle zuckte die schneeweißen Schultern und legte ihre Hand auf das Juwelenkissen, indem sie ein kleines Hüsteln unterdrückte, als wenn sie hinzufügen wollte: »Warum sollte ein Mann auf solche Dinge sehen, meine Liebe?« Dann schrie der Papagei wieder, und sie setzte ihr Glas auf, um nach ihm zu sehen, und sagte: »Vogel, sei still!«

»Aber junge Leute«, fuhr Mrs. Merdle fort, »und Sie wissen, was ich unter jungen Leuten verstehe, meine Liebe – ich meine die Söhne gewöhnlicher Leute, die noch die Welt vor sich haben, – solche müssen sich durch eine Heirat in eine bessere Stellung zur Gesellschaft bringen, sonst wird die Gesellschaft sich unbarmherzig lustig über sie machen. Schrecklich eigennützig klingen diese Worte«, sagte Mrs. Merdle, indem sie sich in ihr Nest zurücklehnte und ihren Kneifer wieder aufsetzte, »nicht wahr?«

»Aber es ist richtig«, sagte Mrs. Gowan mit einer höchst moralischen Miene.

»Meine Liebe, es läßt sich keinen Augenblick bestreiten«, versetzte Mrs. Merdle, »weil die Gesellschaft sich mal darauf gespitzt hat; es läßt sich nichts weiter darüber sagen. Wenn wir in einem ursprünglicheren Zustand lebten, wenn wir unter Dächern von Laub wohnten und Kühe und Schafe und Vieh hielten, statt Wechselgeschäfte zu machen – was köstlich wäre, meine Liebe, ich bin von Hause aus bis zu einem gewissen Grade sehr für das Landleben eingenommen – dann gut und schön. Aber wir leben mal nicht unter Laubdächern und halten keine Kühe und Schafe und Vieh. Ich schwatze mich bisweilen ganz außer Atem, wenn ich Edmund Sparkler diesen Unterschied auseinandersetze.«

Mrs. Gowan, die über ihren grünen Fächer hinsah, als der Name dieses jungen Mannes genannt wurde, antwortete wie folgt:

»Meine Liebe, Sie kennen den heruntergekommenen Zustand dieses Landes – die unglückseligen Zugeständnisse von John Barnacle! – und Sie wissen somit den Grund, weshalb ich so arm wie – bin.«

»Wie eine Kirchenmaus!« warf Mrs. Merdle lächelnd ein.

»Ich dachte an die andre sprichwörtliche Kirchenperson – Hiob«, sagte Mrs. Gowan. »Beides richtig. Es wäre deshalb umsonst, sich zu verhehlen, daß ein großer Unterschied zwischen der Stellung Ihres Sohnes und der meines Sohnes ist. Ich darf hinzufügen, daß Henry Talent hat –«

»Was Edmund freilich nicht hat«, sagte Mrs. Merdle mit der größten Freundlichkeit.

»– und daß sein Talent verbunden mit Enttäuschungen«, fuhr Mrs. Gowan fort, »ihn auf eine Bahn brachten – ach, Gott! Sie wissen, meine Liebe. In solcher Lage Henrys war die Frage, was die unterste Klasse von Heiraten ist, mit der ich mich einverstanden erklären kann.«

Mrs. Merdle war so sehr mit der Betrachtung ihrer Arme beschäftigt (herrlich geformter Arme, wie für Armbänder gemacht), daß sie einen Augenblick zu antworten vergaß. Durch die eingetretene Stille endlich aufgeschreckt, faltete sie ihre Arme, sah ihrer Freundin mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart offen ins Gesicht und sagte fragend: »Ja–a? Und dann?«

»Und dann, meine Liebe«, sagte Mrs. Gowan, nicht ganz so artig wie zuvor, »ich wünschte sehr zu hören, was Sie dazu zu sagen haben.«

Hier brach der Papagei, der, seit er zuletzt geschrien, auf einem Beine stand, in ein lautes Gelächter aus, baumelte höchst komisch mit beiden Füßen auf und nieder, stand zuletzt wieder auf einem Fuße und hielt zu einer Antwort inne, indem er den Kopf so schief wie möglich drehte.

»Es klingt kaufmännisch, zu fragen, was der Mann mit der Frau tun soll«, sagte Mrs. Merdle: »aber die Gesellschaft ist nun mal etwas kaufmännisch, wie Sie wissen, meine Liebe.«

»Nach dem, was ich ausfindig machen konnte«, sagte Mrs. Gowan, »glaube ich sagen zu dürfen, daß Henry sich von seinen Schulden loszumachen imstande sein wird –-«

»Sehr viel Schulden?« fragte Mrs. Merdle durch ihren Kneifer.

»Nun ziemlich, glaube ich«, sagte Mrs. Gowan.

»Und daß der Vater ihnen ein Einkommen von dreihundert Pfund jährlich, vielleicht auch etwas mehr, aussetzen wird. Was in Italien –-«

»Oh! Sie gehen nach Italien –-«

»Henrys wegen, der dort Studien machen will. Sie können leicht ahnen, weshalb, meine Liebe. Diese schreckliche Kunst –-«

»Wahr.« Mrs. Merdle beeilte sich, die Gefühle ihrer bekümmerten Freundin zu schonen. Sie verstand. »Sagen Sie nichts mehr!«

»Und das«, sagte Mrs. Gowan, ihr gebeugtes Haupt schüttelnd, »das ist alles. Das«, wiederholte Mrs. Gowan, ihren grünen Fächer für den Augenblick faltend und ihr Kinn damit klopfend (es war auf dem Wege, ein Doppelkinn zu werden, und konnte für den Augenblick ein Anderthalbkinn genannt werden), »das ist alles! Nach dem Tod der alten Leute wird vermutlich mehr herausspringen: aber wie es zusammengehalten oder bewahrt wird, weiß ich nicht. Und was das betrifft, mögen sie ewig leben. Meine Liebe, dazu sind sie ganz die rechten Leute.«

Mrs. Merdle, die ihre Freundin, die Gesellschaft, sehr gut kannte und wußte, wer die Mütter der Gesellschaft waren, und wer die Töchter der Gesellschaft waren, und welcher Art der Freiermarkt der Gesellschaft war, und wie die Preise auf demselben stehen, und wie für die großen Käufer geboten und gegengeboten wurde, und wie man handelte und feilschte – Mrs. Merdle dachte in der Tiefe ihres geräumigen Busens, daß es ein sattsam glücklicher Fang sei. Da sie jedoch wußte, was man von ihr verlangte, und sah, wie man diese umgedichtete Angelegenheit hätschelte und wartete, so nahm sie sie sanft in ihre Arme und legte den verlangten Beitrag von Randbemerkungen darauf.

»Und das ist alles, meine Liebe?« sagte sie, freundlich aufseufzend. »Nun, nun, der Fehler liegt nicht an Ihnen. Sie haben sich dabei nichts vorzuwerfen. Sie müssen die Stärke des Geistes, wegen der Sie berühmt sind, hier an den Tag legen und sich so gut wie möglich aus der Sache ziehen.«

»Die Familie des Mädchens«, sagte Mrs. Gowan, »hat natürlich die größten Anstrengungen gemacht, Henry – wie die Rechtsanwälte sagen – ›niet- und nagelfest zu machen‹.«

»Natürlich taten sie das, meine Liebe«, sagte Mrs. Merdle.

»Ich beharrte bei allen möglichen Einwänden und habe Tag und Nacht auf Mittel gesonnen, Henry von dieser Bekanntschaft loszureißen.«

»Kein Zweifel, daß Sie das getan haben«, sagte Mrs. Merdle.

»Und alles umsonst. Alles ist unter mir zusammengebrochen. Nun sagen Sie, meine Liebe: bin ich zu rechtfertigen, daß ich endlich, wenn auch mit größtem Widerstreben, meine Einwilligung zu Henrys Verbindung mit Leuten gab, die nicht zur Gesellschaft zählen; oder habe ich mit nicht zu entschuldigender Schwäche gehandelt?«

Auf diese direkte Aufforderung antwortend, versicherte Mrs. Merdle, indem sie als eine Priesterin der Gesellschaft sprach, Mrs. Gowan, daß sie im höchsten Grade zu loben sei, daß man mit ihr in hohem Maße sympathisieren müsse, daß sie das beste Teil erwählt und gereinigt aus dem Fegefeuer gekommen sei. Und Mrs. Gowan, die natürlich durch ihren eigenen abgenützten Schleier ganz gut sah und wußte, daß Mrs. Merdle durch denselben gleichfalls ganz gut sehe, und wußte, daß die Gesellschaft durch denselben gleichfalls ganz gut sehe, trat dessenungeachtet mit ungeheurer Selbstgefälligkeit und Würde aus dieser Umhüllung, wie sie hineingetreten.

Die Verhandlung fand zwischen vier und fünf Uhr nachmittags statt, wo die ganze Gegend von Harley Street, Cavendish Square, von Wagenrädern und Türklopfen widerhallt. Sie waren so weit gekommen, als Mr. Merdle, von seiner täglichen Beschäftigung, den britischen Namen in allen Teilen der zivilisierten Welt immer geachteter zu machen, kommerzielle Unternehmungen, die die ganze Welt umfassen, und riesenhafte Kombinationen des Talents und Kapitals zu würdigen fähig, nach Hause kehrte. Denn obgleich niemand auch nur entfernt genau angeben konnte, was Mr. Merdles Geschäft sei, außer Geldaufhäufen, so war dies doch immer der Ausdruck, mit dem man dasselbe bei allen feierlichen Gelegenheiten bezeichnete, und die neueste höfliche Lesart von der Parabel von dem Kamel mit dem Nadelöhr, die man ohne Prüfung annehmen mußte. Für einen Mann, der sich diese hohe Aufgabe gestellt, sah Mr. Merdle etwas einfach, ja ziemlich so aus, als wenn er, im Verlauf seiner großen Unternehmungen, seinen Kopf mit einem untergeordneten Geist verwechselt hätte. Er erschien vor den beiden Damen nach einem trübseligen Streifzug durch sein Haus, der offenbar keinen andern Zweck hatte, als dem Oberhaushofmeister zu entfliehen.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er verlegen innehaltend, »ich wußte nicht, daß jemand außer dem Papagei hier sei.«

Da aber Mrs. Merdle sagte: »Sie können hereinkommen!« und Mrs. Gowan äußerte, daß sie im Begriff sei zu gehen, und bereits aufgestanden war, um Abschied zu nehmen, trat er ein und stellte sich, um hinauszusehen, an ein entferntes Fenster. Dabei legte er die Hände unter seinen unbequemen Rockaufschlägen übereinander und hielt sich an seinen Handgelenken fest, als wollte er sich selbst in Bewachung nehmen. In dieser Stellung versank er alsbald in eine Träumerei, aus der er erst durch den Ruf seiner Frau vom Diwan her aufgescheucht wurde, als sie bereits eine Viertelstunde allein waren.

»Hm? Ja?« sagte Mr. Merdle und wandte sich nach ihr um. »Was gibt es?«

»Was es gibt?« wiederholte Mr. Merdle. »Das glaube ich, daß Sie nicht ein Wort von meiner Klage gehört haben.«

»Ihrer Klage, Mrs. Merdle?« sagte Mr. Merdle. »Ich wußte nicht, daß Sie etwas zu leiden haben. Was ist es?«

»Ich beklage mich über Sie«, sagte Mrs. Merdle.

»Oh! Eine Klage über mich«, sagte Mr. Merdle. »Was ist das – was habe ich – worüber haben Sie sich, was mich betrifft, zu beklagen, Mrs. Merdle?«

In seiner ausweichenden, abstrakten, überlegenden Weise kostete es ihm einige Zeit, diese Frage zu bilden. Als eine Art schwachen Versuchs sich zu überzeugen, ob er Herr vom Hause sei, schloß er damit, daß er seinen Zeigefinger dem Papagei hinbot, der seine Meinung in dieser Hinsicht dadurch aussprach, daß er ihn augenblicklich mit dem Schnabel biß.

»Sie sagten, Mrs. Merdle«, fuhr Mr. Merdle, mit dem verwundeten Finger im Munde fort, »Sie hätten eine Klage gegen mich?«

»Eine Klage, deren Gerechtigkeit ich kaum nachdrücklicher darzulegen vermöchte als dadurch, daß ich sie wiederholen muß«, sagte Mrs. Merdle. »Ich könnte sie ebensogut der Wand vorgehalten haben. Ich hätte sie sogar weit besser dem Vogel vorgehalten. Er würde wenigstens geschrien haben.« »Sie verlangen doch nicht, daß ich schreien soll, Mrs. Merdle?« sagte Mr. Merdle, indem er einen Stuhl nahm.

»Wahrhaftig, ich weiß nicht«, erwiderte Mrs. Merdle, »ob Sie nicht besser schreien würden, als so launisch und zerstreut zu sein. Man wüßte wenigstens, daß Sie wissen und fühlen, was um Sie her vorgeht.«

»Ein Mann könnte schreien und doch nichts wissen, Mrs. Merdle«, sagte Mr. Merdle schwerfällig.

»Und könnte verfolgt sein, wie Sie es in diesem Augenblick sind, ohne zu schreien«, versetzte Mrs. Merdle. »Das ist sehr wahr. Wenn Sie die Klage zu wissen wünschen, die ich gegen Sie vorzubringen habe, so ist es in wenigen einfachen Worten die, daß Sie wirklich nicht in Gesellschaft gehen sollten, bis Sie sich der Gesellschaft anzupassen verstehen.«

Mr. Merdle fuhr so heftig mit seinen Händen in die Haare, die er noch auf dem Kopfe hatte, daß er sich selbst in die Höhe zu heben schien; denn er fuhr aus seinem Stuhl auf und rief:

»Im Namen aller höllischen Mächte, Mrs. Merdle, wer tut mehr für die Gesellschaft als ich? Sehen Sie diese Gebäude, Mrs. Merdle? Sehen Sie diese Möbel, Mrs. Merdle? Sehen Sie in den Spiegel und betrachten Sie sich selbst, Mrs. Merdle! Wissen Sie, was das alles gekostet? Für wen ist es angeschafft worden? Und Sie wollen mir noch sagen, ich sollte mich nicht in der Gesellschaft bewegen? Ich, der ich das Geld in solcher Weise über die Gesellschaft ausschütte? Ich, von dem man beinahe sagen könnte, er – er – er – schirre sich an einen Wasserkarren voll Geld und gehe umher, um jeden Tag die Gesellschaft zu sättigen?«

»Bitte, werden Sie nicht heftig, Mr. Merdle«, sagte Mrs. Merdle.

»Heftig?« sagte Mr. Merdle. »Sie könnten mich wirklich zur Verzweiflung bringen. Sie wissen nicht die Hälfte von dem, was ich tue, um mich der Gesellschaft anzupassen. Sie wissen nicht das geringste von den Opfern, die ich ihr bringe.«

»Ich weiß«, versetzte Mrs. Merdle, »daß Sie die Besten des Landes empfangen. Ich weiß, daß Sie sich in der ganzen Gesellschaft des Landes bewegen. Aber ich glaube, ich weiß (wahrhaftig, es ist keine lächerliche Anmaßung), ich weiß, ich weiß, wer Sie in derselben hält, Mr. Merdle.«

»Mrs. Merdle«, entgegnete der Angegriffene, indem er sein dunkelrotes und gelbes Gesicht wischte, »ich weiß das so gut wie Sie. Wenn Sie nicht eine Zierde der Gesellschaft und ich nicht ein Wohltäter der Gesellschaft wäre, würden Sie und ich nie zusammengekommen sein. Wenn ich sage ein Wohltäter, so verstehe ich darunter einen Mann, der sie mit allen Arten kostbarer Dinge zum Essen und Trinken und Beschauen versieht. Aber nun zu sagen, daß ich nicht für sie geschaffen sei, nach allem, was ich für sie getan, nach allem, was ich für sie getan«, wiederholte Mr. Merdle mit heftigem Nachdruck, der seiner Frau die Augen öffnete, – »nach alledem! – alledem! – mir zu sagen, ich habe kein Recht, mich unter sie zu mischen. Das ist ein hübscher Lohn.«

»Ich sage«, antwortete Mrs. Merdle gelassen, »Sie sollten sich mehr für die Gesellschaft bilden, indem Sie sich aufgeschlossener, weniger mit Ihren Gedanken beschäftigt zeigen. Es liegt etwas entschieden Ordinäres darin, Ihre Geschäftssachen überall mit sich herumzuschleppen, wie Sie es machen.«

»Inwiefern schleppe ich sie mit mir herum, Mrs. Merdle?« fragte Mr. Merdle.

»Inwiefern Sie sie mit sich herumschleppen?« sagte Mrs. Merdle. »Sehen Sie sich nur mal im Spiegel.«

Mr. Merdle richtete seine Blicke unwillkürlich nach dem nächsten Spiegel und fragte, während sein dickes Blut langsam in seine Schläfe stieg, ob ein Mensch für seine Verdauung verantwortlich gemacht werden könne?

»Sie haben einen Arzt«, sagte Mrs. Merdle.

»Er behandelt mich nicht richtig«, sagte Mr. Merdle.

Mrs. Merdle wechselte den Boden.

»Ach«, sagte sie. »Ihre Verdauung, das ist Unsinn. Ich spreche nicht von Ihrer Verdauung. Ich spreche von Ihren Manieren.«

»Mrs. Merdle«, versetzte ihr Gatte, »ich überlasse das Ihnen, Sie liefern die Manieren, ich das Geld.«

»Ich erwarte nicht von Ihnen«, sagte Mrs. Merdle, indem sie sich bequem in ihre Kissen zurücklehnte, »daß Sie die Leute fesseln sollen. Ich will nicht, daß Sie sich irgendwie beunruhigen oder bemühen sollen, bezaubernd zu sein. Ich verlange einfach, daß Sie sich um nichts kümmern, – oder sich um nichts zu kümmern scheinen – wie alle andern Leute.«

»Sage ich je, daß ich mich um etwas kümmere?« fragte Mr. Merdle.

»Sagen? Nein! Niemand würde darauf achten, wenn Sie es täten. Aber Sie zeigen es.«

»Zeigen, was? Was zeige ich?« fragte Mr. Merdle rasch.

»Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Sie zeigen, daß Sie Ihre Geschäftssorgen und Pläne mit sich herumtragen, statt sie in der City zu lassen, oder wohin sie sonst gehören«, sagte Mrs. Merdle. »Oder zu gehören scheinen. Scheinen wäre vollkommen genug: ich verlange nicht mehr. Während Sie im Gegenteil nicht mehr mit den alltäglichen Kalkulationen und Geschäftsproblemen beschäftigt sein könnten, als Sie es gewöhnlich zeigen, selbst wenn Sie ein Zimmermann wären.«

»Ein Zimmermann?« wiederholte Mr. Merdle, etwas wie einen Seufzer zurückhaltend. »Es wäre mir nicht so unangenehm, wenn ich ein Zimmermann wäre.«

»Und meine Klage ist die«, fuhr die Dame fort, auf diese leise Bemerkung nicht achtend, »daß das nicht der Ton der Gesellschaft ist und daß Sie ihn verbessern sollten, Mr. Merdle. Wenn Sie gegen mein Urteil irgend mißtrauisch sind, so fragen Sie Edmund Sparkler.« Die Tür des Zimmers war aufgegangen, und Mrs. Merdle erblickte den Kopf ihres Sohnes in dem Spiegel. »Edmund, wir brauchen dich hier.«

Mr. Sparkler, der bloß seinen Kopf hereingesteckt und im Zimmer umhergesehen hatte, ohne einzutreten (als suchte er im Hause nach der jungen Dame, die keinen Unsinn an sich habe), ließ auf diese Aufforderung seinen Körper seinem Kopf folgen und stand vor ihnen. Mrs. Merdle legte ihm in wenigen einfachen, seiner Fassungsfähigkeit angemessenen Worten die spruchreife Frage vor.

Der junge Mann sagte, nachdem er verlegen nach seinem Hemdkragen gegriffen hatte, als wenn dies sein Puls und er Hypochonder wäre: er habe diese Bemerkung von Kameraden gehört.

»Edmund Sparkler hörte diese Bemerkung machen«, sagte Mrs. Merdle mit mattem Triumph. »Nun, natürlich, jedermann hat es bemerkt!« Das war wirklich keine unvernünftige Folgerung, wenn sie bedachte, daß Mr. Sparkler wahrscheinlich in jeder menschlichen Gesellschaft die letzte Person sein würde, die von irgend etwas, was in seiner Gegenwart vorging, einen Eindruck empfinge.

»Und Edmund Sparkler wird Ihnen zuversichtlich sagen können«, fuhr Mrs. Merdle fort, indem sie mit ihrer liebenswürdigen Hand ihrem Gatten winkte, »wie er hörte, daß man es bemerkt.«

»Ich könnte nicht«, sagte Mr. Sparkler, nachdem er wie zuvor seinen Puls gefühlt, »könnte wirklich nicht sagen, wie es kam – ich habe ein verzweifelt schlechtes Gedächtnis. Als ich jedoch zur erwähnten Zeit mich in Gesellschaft mit dem Bruder eines sehr feinen – und wohlerzogenen – Mädchens befand –, das wahrhaftig keinen Unsinn im Kopfe hat –«

»Na! Laß die Schwester aus dem Spiel«, versetzte Mrs. Merdle etwas ungeduldig. »Was sagte der Bruder?«

»Sagte kein Wort, Ma’am«, antwortete Mr. Sparkler. »Ein ebenso schweigsamer Junge wie ich, aus dem ebenso schwer eine Bemerkung herauszubringen ist.«

»Es sagte doch jemand etwas«, versetzte Mrs. Merdle. »Tut nichts, wer es war.«

»Ich versichere Sie, ich war´s wenigstens nicht«, sagte Mr. Sparkler.

»Aber sag‘ uns, was es war.«

Mr. Sparkler griff wieder an seinen Puls und nahm sich zuvor unter strenge geistige Zucht, ehe er antwortete:

»Die Leute sprachen von meinem Erzieher – nicht mein Ausdruck – und rühmten dabei auf sehr freundliche Weise den ungeheuren Reichtum und das Wissen meines Erziehers – er sei ein wahres Phänomen von Geschäftsmann und Bankier und – aber sie behaupteten, der Kramladen sitze ihm schwer auf dem Nacken. Sie sagen, er schleppe den Kramladen mit sich auf seinem Rücken herum – wie der Kleiderjude, mit zuviel Geschäftigkeit.«

»Das«, sagte Mrs. Merdle, indem sie aufstand und die faltigen Stoffe um sie her flatterten, »das ist ja meine Klage. Edmund, gib mir deinen Arm. Ich will hinaufgehen.«

Mr. Merdle, der nun allein war und über ein besseres Anschmiegen an die Gesellschaft nachdenken konnte, sah nach und nach aus neun Fenstern und schien neun öde Räume zu sehen. Als er sich damit sattsam unterhalten, ging er hinab und sah eifrig auf alle die Teppiche, die auf dem Boden lagen. Dann ging er wieder hinauf und sah eifrig auf alle Teppiche des ersten Stocks, als ob es dunkle Tiefen wären, die mit seinem gedrückten Geiste harmonierten. Er ging durch alle Zimmer, wie er es immer tat, als ob er der letzte Mensch auf Erden wäre, der irgendein Recht hätte, sich ihnen zu nahen. Mochte Mrs. Merdle mit all ihrem Ansehen kundtun, daß sie jeden Abend während der Saison »zu Hause« sei, sie konnte es nicht allgemeiner und unzweideutiger erklären, als Mr. Merdle erklärte, daß er nie zu Hause sei.

Zuletzt begegnete er dem Oberhaushofmeister, dessen glänzender Anblick ihm immer den Todesstoß gab. Verdunkelt durch diese große Kreatur, schlich er sich in sein Arbeitszimmer und blieb dort eingeschlossen, bis er mit Mrs. Merdle in ihrem eigenen hübschen Wagen zum Essen ausfuhr. Beim Diner wurde er als eine Macht beneidet und mit Schmeicheleien überhäuft, wurde vom Schatzamte, vom Rechtsanwaltsstand, vom Bischofsstuhl über die Maßen geehrt, wie er es nur wünschen konnte; und eine Stunde nach Mitternacht kam er allein nach Hause. Alsbald wurde er dort wieder von dem Oberhaushofmeister wie ein Binsenlicht in seinem eignen Flur ausgelöscht und ging seufzend zu Bett.