Vierundzwanzigstes Kapitel.

Wahrsagerei.

Klein-Dorrit erhielt am selben Abend einen Besuch von Mr. Plornish, der, nachdem er seinen Wunsch, im geheimen mit ihr zu sprechen, durch so vieles und so deutliches Räuspern zu verstehen gegeben, daß er den Gedanken bestätigte, ihr Vater sei bezüglich ihrer Näherinnenbeschäftigung eine Illustration des Grundsatzes, es gebe keine so stockblinden Menschen als die, die nicht sehen wollen, eine Audienz von ihr vor der Tür auf der großen Treppe erhielt.

»Es war heute eine Dame bei uns, Miß Dorrit«, brummte Plornish, »und noch eine andere war bei ihr, eine alte Hexe, wie mir nur je eine zu Gesicht gekommen. Und die Art, wie sie einen anschrie, puh!«

Der sanfte Plornish war anfangs gar nicht imstande, seine Gedanken von Mr. Finchings Tante loszureißen. »Denn«, sagte er, um sich selbst zu entschuldigen, »ich versichere Sie, sie ist die kratzbürstigste Person, die man sich denken kann.«

Endlich machte er sich mit der größten Anstrengung so weit von diesem Gegenstand los, um zu bemerken: »Aber sie ist im Augenblick weder hier noch dort. Die andere Dame ist Mr. Casbys Tochter; und wenn es Mr. Casby nicht gut geht, so ist das nicht Pancks‘ Schuld. Denn Pancks gibt sich alle Mühe, wirklich alle Mühe, wahrhaftig alle Mühe!«

Mr. Plornish war nach seiner gewöhnlichen Manier etwas dunkel, aber gewissenhaft emphatisch.

»Und weshalb sie zu uns kam«, fuhr er fort, »war zu hinterlassen, daß, wenn Miß Dorrit zu dieser Adresse kommen wolle – nämlich Mr. Casbys Haus, Pancks hat ein Bureau hinten hinaus, wo er mehr, als man glaubt, arbeitet –, so würde sie sie mit Vergnügen beschäftigen. Sie sei eine alte und intime Freundin von Mr. Clennam – sagte sie ganz ausdrücklich – und hoffe sich seiner Freundin als eine nützliche Freundin zu erweisen. Das waren ihre Worte. Da sie zu wissen wünschte, ob Sie morgen früh kommen könnten, sagte ich, ich wolle Sie besuchen, Miß, und fragen und heute abend Bescheid sagen, daß, oder wenn Sie bereits versagt sind, wann Sie kommen könnten.«

»Ich kann morgen kommen, ich danke Ihnen«, sagte Klein-Dorrit. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, aber so sind Sie immer.«

Mr. Plornish öffnete, mit einer bescheidenen Ablehnung seiner Verdienste, die Zimmertür, um sie wieder einzulassen, und folgte ihr mit so ungemein keckem Anschein, als ob er gar nicht draußen gewesen, daß ihr Vater es hätte bemerken müssen, auch wenn er nicht mißtrauisch gewesen wäre. Der aber in seiner liebenswürdigen Gleichgültigkeit achtete nicht darauf. Nach einem kleinen Gespräch, in dem Plornish seine frühere Stellung als Kollege mit seinem gegenwärtigen Privilegium als ergebener Freund vermischte, das durch seine niedrige Stellung als Gipser eingeschränkt war, nahm er Abschied; ehe er jedoch ging, machte er noch die Tour durch das Gefängnis und sah einen Kegelspiel zu, mit den gemischten Gefühlen eines alten Insassen, der seine Privatgründe hatte zu glauben, daß es seine Bestimmung sei, wieder hierherzukommen.

Frühzeitig am Morgen begab sich Klein-Dorrit, Maggy bei ihren wichtigen häuslichen Beschäftigungen zurücklassend, nach dem Zelt des Patriarchen. Sie ging über die Iron Bridge, obgleich es ihr einen Penny kostete, und legte einen Teil ihres Weges langsamer zurück als alle andern. Fünf Minuten vor acht ruhte ihre Hand auf dem Klopfer des Patriarchen, der gerade so hoch war, daß sie ihn erreichen konnte.

Sie gab Mrs. Finchings Karte dem jungen Mädchen, das die Tür öffnete, und das junge Mädchen sagte ihr, daß »Miß Flora« – Flora hatte bei ihrer Rückkehr unter das väterliche Dach den Titel wieder angenommen, unter dem sie dort gelebt, – ihr Schlafzimmer noch nicht verlassen habe, aber es sei ihr vielleicht gefällig, sich in Miß Floras Arbeitszimmer zu begeben. Sie ging in Miß Floras Arbeitszimmer, als zur Arbeit bestellt, und fand dort einen Frühstückstisch behaglich für zwei hergerichtet, mit einem weiteren Gedeck für eine dritte Person. Das junge Mädchen, das für einige Augenblicke verschwand, kehrte zurück und sagte, sie möchte gefälligst einen Stuhl ans Feuer rücken, ihren Hut abnehmen und es sich bequem machen. Aber Klein-Dorrit, die sehr schüchtern und nicht gewohnt war, sich’s bei solchen Gelegenheiten bequem zu machen, wußte nicht, wie das anfangen; so saß sie noch in der Nähe der Tür, den Hut auf dem Kopf, als Flora eine halbe Stunde später in großer Eile erschien.

Flora bedauerte so sehr, sie habe warten zu lassen und, du liebe Zeit, warum sie in der Kälte sitze, während sie erwartet hatte, daß sie sie beim Kamin mit der Zeitung finden würde und ob das vergeßliche Mädchen ihr die Botschaft nicht überbracht und ob sie die ganze Zeit den Hut aufbehalten und »bitte um aller Güte willen, lassen Sie Flora denselben abnehmen!« Als Flora ihn in der freundlichsten Art von der Welt abnahm, war sie so erstaunt über das Gesicht, das sie enthüllte, daß sie sagte: »Was ein gutes kleines Geschöpf Sie sind, meine Liebe!« und drückte ihr Gesicht zwischen ihre beiden Hände, wie es nur die liebenswürdigste Frau tun kann.

Es war das Wort und die Tat eines Augenblicks. Klein-Dorrit hatte kaum Zeit zu denken, wie freundlich das sei, als Flora voll Geschäftigkeit auf den Frühstückstisch zueilte und sich Hals über Kopf in das Schwatzen stürzte.

»Wirklich sehr leid, daß ich zufälligerweise heute morgen später daran bin als sonst je, weil es meine Absicht und mein Wunsch war, bereit zu sein, Sie zu empfangen, wenn Sie kämen, und Ihnen zu sagen, daß jedermann, den Arthur Clennam auch nur halb soviel interessierte, mich gleichfalls interessieren müsse, und daß ich Sie aufs herzlichste willkommen heiße und so froh sei, statt dessen haben sie mich nicht gerufen und ich schnarchte wahrhaftig noch immer darf ich sagen und wünschen Sie nicht gern kaltes Geflügel oder warmen gekochten Schinken was viele Leute nicht mögen wie die Juden, das sind Gewissensskrupel die wir alle achten müssen, obwohl ich sagen möchte, ich wünschte, sie hätten ein ebenso zartes Gewissen, wenn sie uns falsche Artikel für echte verkaufen die sicherlich das Geld nicht wert sind, es würde mir leid tun«, sagte Flora.

Klein-Dorrit dankte ihr und sagte schüchtern, Brot und Butter und Tee sei alles, was sie gewöhnlich –

»Oh, Possen, mein liebes Kind, ich kann das nicht hören«, sagte Flora, die Teemaschine in der sorglosesten Weise umdrehend, während sie blinzeln mußte, da ihr das heiße Wasser in die Augen spritzte, als sie sich herabbeugte, um in den Teetopf zu blicken. »Sie wissen, Sie sind in der Stellung einer Freundin, Gesellschafterin hierhergekommen, wenn Sie erlauben, daß ich mir diese Freiheit nehme und ich würde mich wirklich vor mir selber schämen, wenn Sie in irgendeiner andern Stellung hierherkämen auch sprach Arthur Clennam in solchen Ausdrücken von Ihnen – Sie sind müde meine Liebe?«

»Nein, Ma’am.«

»Sie werden so blaß, Sie sind zu weit gegangen vor dem Frühstück und wohnen wahrscheinlich weit entfernt und hätten fahren sollen«, sagte Flora, »mein liebes, liebes Kind, könnte ich Ihnen mit irgend etwas dienen?«

»Ich bin wirklich ganz wohl, Ma’am. Ich danke Ihnen vielmals, aber ich bin ganz wohl.«

»Dann nehmen Sie wenigstens gleich Ihren Tee, ich bitte«, sagte Flora, »und diesen Flügel von einem Huhn und ein Stück Schinken, achten Sie nicht auf mich und warten Sie nicht auf mich, denn ich bringe immer selbst Mr. Finchings Tante das Frühstück weil sie es im Bett nimmt, eine liebenswürdige alte Dame und sehr gescheit, Porträt von Mr. Finching hinter der Tür und sehr ähnlich obgleich zu viel Stirn und was den Pfeiler mit dem Marmorboden und der Balustrade und den Bergen betrifft so sah ich ihn nie in solcher Umgebung auch ist die Situation für ein Weingeschäft unwahrscheinlich, ein ausgezeichneter Mann, aber durchaus nicht in solcher Stellung.«

Klein-Dorrit sah das Porträt an, folgte aber nur flüchtig den Andeutungen über dieses Kunstwerk.

»Mr. Finching war mir so ergeben, daß er mich nie aus seinen Augen lassen wollte«, sagte Flora. »Freilich bin ich nicht imstande zu sagen wie lange das gedauert haben würde wenn er nicht plötzlich vom Tode abberufen wäre während ich noch ein neuer Besen war, ein würdiger Mann aber unpoetisch und männliche Prosa aber keine Romantik.«

Klein-Dorrit sah das Porträt wieder an. Der Künstler hatte ihm einen Kopf gegeben, dessen oberer Teil in intellektueller Richtung, selbst für Shakespeare, zu bedeutend gegenüber dem unteren gewesen wäre.

»Die Romantik jedoch«, fuhr Flora fort, das Frühstück für Mr. Finchings Tante geschäftig arrangierend, »wie ich offen zu Mr. Finching sagte als er mir seinen Antrag machte und Sie werden staunen wenn ich Ihnen sage, daß er mir siebenmal seinen Antrag machte einmal in einer Mietkutsche einmal in einem Boot einmal in einem Kirchstuhl einmal auf einem Esel in Tunbridge Wells (Badeort) und die übrigen Male auf den Knien, die Romantik war mit den frühen Tagen Arthur Clennam’s entflohen, unsere Eltern rissen uns auseinander, wir wurden Marmor und strenge Wirklichkeit usurpierte den Thron, Mr. Finching sagte sehr zu seinem Vorteil, daß er das ganz wohl wisse und diesen Stand der Dinge sogar vorziehe, demzufolge wurde das Fiat ausgesprochen und das ist nun das Leben wie Sie sehen und doch brechen wir nicht sondern biegen nur, bitte lassen Sie sich das Frühstück schmecken während ich mit dem Teebrett hineingehe.«

Sie verschwand und Klein-Dorrit konnte nun über die Bedeutung ihrer zerstreuten Worte nachdenken. Sie kam bald wieder zurück und begann endlich selbst ihr Frühstück zu verzehren, indem sie die ganze Zeit über sprach.

»Sie sehen, meine Liebe«, sagte Flora, indem sie einen bis zwei Löffel von einer braunen Flüssigkeit, die wie Branntwein roch, in den Tee goß, »ich muß genau den Anordnungen meines Arztes folgen, obgleich der Geruch nichts weniger als angenehm ist; ich bin ein armes Geschöpf und habe mich vielleicht nicht mehr von dem Schlage erholt, den ich in der Jugend erlitt, indem ich mich im nächsten Zimmer zu sehr dem Weinen hingab als ich von Arthur getrennt wurde, kennen Sie ihn schon lange?«

Sobald Klein-Dorrit merkte, daß diese Frage an sie gerichtet sei – wozu Zeit nötig war, da der galoppierende Schritt ihrer neuen Gönnerin sie weit hinter sich gelassen –, antwortete sie, sie kenne Mr. Clennam seit seiner Rückkehr.

»Allerdings konnten Sie ihn nicht früher gekannt haben, da Sie sonst hätten in China gewesen sein oder mit ihm korrespondiert hätten, wovon weder das eine noch das andere wahrscheinlich«, versetzte Flora. »Denn Reisende werden gewöhnlich mehr oder weniger mahagonibraun und das sind Sie durchaus nicht und was das Korrespondieren betrifft worüber sollten Sie? Wirklich, außer Tee, so war’s also bei seiner Mutter, daß Sie ihn zuerst kennenlernten, – sehr gescheit und fest, aber fürchterlich streng – sollte die Mutter des Mannes mit der eisernen Maske sein.«

»Mrs. Clennam war sehr freundlich gegen mich«, sagte Klein-Dorrit.

»Wirklich? Es freut mich in der Tat sehr das zu hören weil es natürlich angenehm für mein Gefühl ist, von Arthurs Mutter eine bessere Meinung zu haben als ich früher hatte, obgleich ich, was sie von mir denkt, wenn ich so fortschwatze, was ich sicher stets tun werde, und sie mich wie das Fatum in einem Rollwagen anglotzt – wirklich ein seltsamer Vergleich – daß sie gebrechlich ist nicht ihre Schuld – nicht weiß und mir auch nicht denken kann.«

»Werde ich meine Arbeit irgendwo finden, Ma’am?« fragte Klein-Dorrit, schüchtern um sich her sehend; »kann ich sie bekommen?«

»Sie fleißige kleine Fee«, versetzte Flora, indem sie in eine zweite Tasse Tee eine zweite der vom Arzte vorgeschriebenen Dosen goß, »es hat nicht die geringste Eile und es ist besser, daß wir damit beginnen, uns vertrauliche Mitteilungen über unsern gemeinschaftlichen Freund zu machen – ein zu kaltes Wort für mich wenigstens ich meine das nicht, sehr passender Ausdruck gemeinschaftlicher Freund – statt daß ich, nicht Sie durch lauter Formalitäten wie der Spartanische Knabe mit dem Fuchs werde, der ihn biß. Sie werden entschuldigen, daß ich das auf das Tapet bringe, aber vor allen langweiligen Jungen, die in alle Arten von Gesellschaften hineinstolpern, ist dieser Junge der langweiligste.«

Klein-Dorrit setzte sich mit sehr blassem Gesichte wieder nieder, um zu lauschen. »Könnte ich nicht besser indessen arbeiten?« fragte sie. »Ich kann arbeiten und doch zuhören. Ich möchte es lieber, wenn ich dürfte.«

Es sprach sich in ihrem ernsten Tone so deutlich das Gefühl aus, daß ihr nicht wohl sei, wenn sie nicht arbeite, daß Flora antwortete: »Nun, meine Liebe, wie es Ihnen beliebt«, und einen Korb voll weißer Taschentücher brachte. Klein-Dorrit stellte ihn vergnügt neben sich, zog ihr kleines Taschenetui heraus, fädelte ihre Nadel ein und begann zu nähen.

»Was für flinke Finger Sie haben«, sagte Flora, »aber fühlen Sie sich auch gewiß wohl?«

»Oh, ja, gewiß!«

Flora stellte ihren Fuß auf den Schemel und bereitete sich auf eine durch und durch romantische Enthüllung vor. Sie fuhr bisweilen zusammen, schüttelte den Kopf, seufzte höchst ausdrucksvoll, machte häufigen Gebrauch von ihren Augenbrauen und sah dann und wann, aber nicht oft, in das ruhige Gesicht, das über die Arbeit herabgebeugt war.

»Sie müssen wissen, meine Liebe«, sagte Flora, »und ich zweifle nicht, daß Sie es bereits wissen, nicht nur weil ich die Sache obenhin erwähnt, sondern weil ich fühle, daß mir sein Name mit glühenden Lettern auf der Stirn geschrieben steht, daß ehe ich mit dem verstorbenen Mr. Finching bekannt wurde, ich ein Verhältnis mit Arthur Clennam hatte – Mr. Clennam vor den Leuten wo Zurückhaltung notwendig, Arthur hier – wir waren einander alles es war der Morgen des Lebens es war eine Seligkeit es war Wahnsinn es war alles andere der Art in der höchsten Steigerung, als wir auseinandergerissen und zu Stein wurden in welchem Zustande Arthur nach China ging und ich die Marmorbraut des verstorbenen Mr. Finching wurde.«

Flora, die diese Worte mit tiefer Stimme sprach, freute sich ungemein darüber.

»Die Gemütsbewegungen jenes Morgens zu schildern«, sagte sie, »als alles Marmor war und Mr. Finchings Tante in einem Glaswagen folgte der wie zu vermuten steht sich in schändlichem Zustande befunden sonst hatte er nicht zwei Straßen von dem Hause zerbrechen können, weshalb man Mr. Finchings Tante wie den fünften November15 in einem Binsenstuhl heimbringen mußte will ich nicht zu schildern suchen, es genüge zu sagen, daß die leere Form des Frühstücks in dem Speisezimmer drunten stattfand, daß Papa zuviel gesalzenen Salm aß wovon er wochenlang krank wurde und daß Mr. Finching und ich uns auf eine Reise nach dem Kontinent über Calais begaben, wo die Leute auf dem Damm sich um uns stritten, bis sie uns getrennt hatten, obgleich nicht für immer das sollte noch nicht geschehen.«

Die Marmorbraut, die sich kaum Zeit zum Atemholen ließ, fuhr mit der größten Wohlgefälligkeit in wildem Durcheinander der Gedanken, die zuweilen nach Fleisch und Blut schmeckten, fort:

»Ich will einen Schleier über dieses traumartige Leben werfen, Mr. Finching war gut aufgeräumt sein Appetit war vortrefflich er schätzte die Kocherei er hielt den Wein für schmackhaft und alles ging gut, wir kehrten in die unmittelbare Nachbarschaft zurück Nummer dreißig Little Gosling Street London Docks und ließen uns dort häuslich nieder, ehe wir aber noch sicher herausgebracht, daß das Stubenmädchen die Federn aus dem Reservebett verkaufte, schwang sich die in den Kopf getretene Gicht mit Mr. Finching aufwärts in eine andere Sphäre.«

Seine Hinterlassene schüttelte mit einem Blick auf sein Bild den Kopf und wischte ihre Augen.

»Ich ehre das Andenken Mr. Finchings als eines achtungswerten Mannes und höchst entgegenkommenden Gatten, man durfte nur Spargel erwähnen und sie erschienen augenblicklich oder irgendein kleines delikates Getränk und es kam wie durch einen Zauber in einer Schoppenflasche, es war nichts Begeisterndes, aber es war Komfort, ich kehrte unter Papas Dach zurück und lebte abgeschlossen wenn nicht glücklich einige Jahre lang bis Papa eines Tages sanft hereinkam und sagte Arthur Clennam erwarte mich unten, ich ging hinab und fand ihn, fragen Sie mich nicht wie ich ihn gefunden, außer daß er noch unverheiratet, noch unverändert war.«

Das dunkle Geheimnis, in das sich Flora hüllte, würde andre Finger als die geschäftigen, die neben ihr arbeiteten, zur Ruhe gebracht haben. Diese arbeiteten jedoch unausgesetzt fort, und der geschäftige Kopf, der über sie herabgebeugt war, betrachtete die Stiche.

»Fragen Sie mich nicht«, sagte Flora, »ob ich ihn noch liebe oder ob er mich noch liebt oder was daraus werden soll oder wann das Ende davon sein wird, wir sind von Späheraugen umgeben und es kann der Fall sein, daß wir bestimmt sind uns getrennt voneinander abzuhärmen, wir sollen vielleicht nie wieder vereinigt werden, nicht ein Wort nicht ein Atemzug nicht ein Blick soll uns verraten, alles soll ein Geheimnis bleiben wie das Grab, wundern Sie sich deshalb nicht, daß selbst wenn ich verhältnismäßig kalt gegen Arthur und Arthur verhältnismäßig kalt gegen mich scheinen sollte, wir haben schlimme Gründe dazu, es genügt, wenn wir sie kennen. Pst!«

All dies sagte Flora mit so ungestümer Heftigkeit, als glaubte sie wirklich daran. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß, wenn sie sich sogar in die Situation einer Sirene hineingearbeitet, sie wirklich geglaubt hätte, was sie als solche gesagt.

»Pst!« wiederholte Flora, »ich habe Ihnen jetzt alles gesagt, Vertrauen ist zwischen uns gegründet. Pst! um Arthurs willen werde ich stets eine Freundin für Sie sein, mein liebes Mädchen, und um Arthurs willen mögen Sie immer auf mich vertrauen.«

Die emsigen Finger legten die Arbeit beiseite und die kleine Gestalt erhob sich und küßte Floras Hand. »Sie sind sehr kalt«, sagte Flora, in den ihr eigenen natürlichen und herzlichen Ton verfallend und durch diesen Wechsel bedeutend gewinnend. »Arbeiten Sie heute nicht, ich bin überzeugt, Sie sind nicht wohl, ich bin überzeugt, Sie sind nicht stark.«

»Ich fühle mich nur etwas überwältigt durch Ihre Güte und durch die Güte Mr. Clennams, der mich einem Wesen anempfohlen, das er so lange gekannt und geliebt.«

»Ja, wirklich mein Kind«, sagte Flora, die die entschiedene Absicht hatte, ehrlich zu sein, wenn sie sich die Zeit ließ, darüber nachzudenken, »wir wollen das jedoch lieber unberührt lassen, da ich jetzt doch nicht imstande wäre, Ihnen die Sache auseinanderzusetzen, aber es hat nichts zu bedeuten, legen Sie sich ein wenig nieder.«

»Ich war immer stark genug, zu tun, was meine Pflicht war, und ich werde mich bald wieder gefaßt haben«, versetzte Klein-Dorrit mit einem flüchtigen Lächeln. »Sie haben mich mit Güte überwältigt, das ist alles. Wenn ich einen Augenblick am Fenster stehe, werde ich sogleich wieder bei voller Kraft sein.«

Flora öffnete ein Fenster, setzte sie in einen Stuhl daneben und begab sich bedächtig wieder an ihren früheren Platz. Es war ein windiger Tag, und die Luft, die über Klein-Dorrits Gesicht hinstrich, rief rasch wieder die frühere Röte auf demselben hervor. Wenige Minuten später kehrte sie zu ihrem Arbeitskorb zurück, und ihre emsigen Finger waren so emsig wie je.

Ruhig fortarbeitend fragte sie Flora, ob Mr. Clennam ihr gesagt, wo sie wohne? Als Flora verneinend antwortete, sagte Klein-Dorrit, sie verstehe, weshalb er so zartfühlend gewesen, sie sei jedoch überzeugt, er würde es billigen, wenn sie Flora ihr Geheimnis anvertraue, und daß sie es deshalb mit Floras Erlaubnis tun wolle. Sie erhielt eine ermutigende Antwort und drängte die Erzählung ihres Lebens auf wenige dürftige Worte von sich und eine glühende Lobrede auf ihren Vater zusammen, und Flora nahm alles mit einem natürlichen Zartgefühl auf, das die Sache wohl verstand, und in dem nichts Unzusammenhängendes war.

Als die Essenszeit kam, schlang Flora den Arm ihres neu anvertrauten Gutes durch den ihren, führte sie die Treppe hinab und stellte sie dem Patriarchen und Mr. Pancks vor, die bereits im Speisezimmer auf den Beginn des Mahles warteten. (Mr. Finchings Tante mußte für den Augenblick gewöhnlich das Zimmer hüten.) Sie wurde von den beiden Herren je nach dem Charakter jedes einzelnen empfangen; der Patriarch gab sich das Ansehen, als ob er ihr einen unschätzbaren Dienst erweise, indem er sagte, er freue sich, sie zu sehen, freue sich, sie zu sehen; und Mr. Pancks stieß seinen Lieblingston als Willkomm aus.

In dieser neuen Gesellschaft wäre sie unter allen Umständen schon schüchtern genug gewesen, namentlich, als Flora sie drängte, daß sie ein Glas Wein trinken und von dem Besten, was da sei, essen solle; ihr Unbehagen wurde jedoch durch Mr. Pancks noch bedeutend vermehrt. Das Benehmen dieses Mannes flößte ihr anfangs die Vermutung ein, daß er ein Porträtmaler sei, so aufmerksam betrachtete er sie und so häufig blickte er in das kleine Notizbuch, das er neben sich hatte. Als sie jedoch bemerkte, daß er keine Skizze machte und daß er nur von Geschäften sprach, begann der Verdacht in ihr zu erwachen, es sei ein Gläubiger ihres Vaters, dessen Schuld in jenem Taschenbuche stehe. Von diesem Gesichtspunkte aus drückte Mr. Pancks‘ Pusten Herausforderung und Ungeduld aus, und jedes lautere Schnauben wurde zu einer Zahlungsforderung.

Hierüber wurde sie jedoch durch ein anomales und ungereimtes Benehmen von seiten Mr. Pancks‘ enttäuscht. Sie hatte den Tisch bereits eine halbe Stunde verlassen und saß allein bei der Arbeit. Flora war gegangen, »um sich im nächsten Zimmer niederzulegen«, und infolge dieses Zurückziehens hatte der Geruch eines Getränks das Haus durchduftet. Der Patriarch war im Speisezimmer, den philanthropischen Mund weit geöffnet, unter einem gelben Taschentuch fest eingeschlafen. Zu dieser stillen Stunde erschien Mr. Pancks höflich nickend vor ihr.

»Finden es wohl etwas langweilig. Miß Dorrit?« fragte Pancks mit leiser Stimme.

»Nein, durchaus nicht, Sir«, sagte Klein-Dorrit.

»Beschäftigt, wie ich sehe«, bemerkte Mr. Panck«, indem er sich zollweise in das Zimmer schlich. »Was ist das, Miß Dorit?«

»Taschentücher.«

»Wirklich so!« sagte Panck«. »Ich hätte das in der Tat nicht gedacht.« Dabei sah er nicht einen Augenblick auf die Tücher, sondern beständig auf Klein-Dorrit. »Vielleicht möchten Sie wissen, wer ich bin. Soll ich es Ihnen sagen? Ich bin ein Wahrsager.«

Klein-Dorrit begann nun zu glauben, er sei toll.

»Ich gehöre mit Leib und Seele meinem Herrn«, sagte Pancks. »Sie sahen meinen Herrn beim Diner oben. Aber ich tue auch ein wenig in anderer Richtung; im stillen, sehr im stillen, Miß Dorrit.«

Klein-Dorrit sah ihn zweifelhaft und nicht ohne Unruhe an. »Ich wünschte, Sie zeigten mir das Innere Ihrer Hand. Lassen Sie sich nicht stören.«

Er störte insofern, als man ihn gar nicht hier wünschte, aber sie legte einen Augenblick ihre Arbeit in den Schoß und hielt ihm die Linke mit dem Fingerhut hin.

»Jahre voll Mühe, hm?« sagte Pancks sanft, indem er sie mit seinem plumpen Zeigefinger berührte. »Aber wozu sind wir sonst da? Nichts. Ha!« rief er, in die Linien blickend. »Was ist das mit den Eisenstäben? Es ist ein Kollege! Und was ist das mit einem grauen Rock und einer schwarzen Samtmütze? Es ist ein Vater! Und was ist das mit einer Klarinette? Es ist ein Onkel! Und was ist das in Tanzschuhen? Es ist eine Schwester! Und was ist das müßig Herumstreifende? Es ist ein Bruder! Und was ist das für sie alle Denkende? Nun, das sind Sie, Miß Dorrit!«

Ihre Blicke begegneten den seinen, als sie ihm staunend ins Gesicht sah, und sie dachte, obgleich seine Augen stechend waren, er sehe doch hübscher und gütiger aus, als er ihr beim Mittagessen vorgekommen. Seine Blicke ruhten bald wieder auf ihrer Hand, und die Gelegenheit, diesen Eindruck zu erhöhen oder zu verbessern, war vorbei.

»Jetzt ist der Henker darin«, murmelte Pancks, mit seinen plumpen Fingern eine Linie in ihrer Hand verfolgend, »wenn das in der Ecke nicht ich bin? Was tue ich hier? Was ist hinter mir?«

Er fuhr mit dem Finger langsam nach dem Handgelenk und um das Handgelenk und gab sich den Anschein, als suche er auf dem Rücken der Hand, was hinter ihm sei.

»Ist es irgend etwas Schlimmes?« fragte Klein-Dorrit lächelnd.

»Verwünscht!« sagte Pancks. »Was halten Sie davon?«

»Ich sollte das Sie fragen. Ich bin nicht der Wahrsager.«

»Allerdings,« sagte Pancks. »Was das bedeutet? Sie werden leben, um zu sehen, Miß Dorrit.«

Indem er ihre Hand langsam und stückweise losriß, strich er all seine Finger durch die Zinken seiner Haare, daß sie in ihrer ungeheuerlichsten Weise emporstarrten, und wiederholte langsam: »Vergessen Sie nicht, was ich sage, Miß Dorrit, Sie werden leben, um zu sehen.«

Sie konnte nicht umhin, ihr Staunen zu zeigen, wäre es auch nur, daß er so viel von ihr wußte.

»Ah! Das ist’s!« sagte Pancks auf sie deutend. »Miß Dorrit, nicht immer, nein!« Noch erstaunter denn zuvor und noch etwas geängstigter sah sie ihn an, als erwartete sie eine Erklärung seiner letzten Worte.

»Nicht das«, sagte Pancks, indem er mit dem größten Ernst gleichfalls sich den Schein des Erstaunens in Blick und Miene gab, was wider seine Absicht etwas grotesk aussah. »Tun Sie das nicht! Niemals, wenn Sie mich sehen, es mag sein, wann oder wo es will. Ich bin niemand, tun Sie nicht, als wenn Sie mich kennten. Nehmen Sie keine Notiz von mir. Wollen Sie das, Miß Dorrit?«

»Ich weiß kaum, was ich sagen soll«, versetzte Klein-Dorrit ganz betäubt. »Weshalb?«

»Weil ich ein Wahrsager bin, Pancks, der Zigeuner. Ich habe Ihnen noch nicht so viel von Ihrem Schicksal mitgeteilt, Miß Dorrit, daß ich Ihnen gesagt, was hinter mir auf dieser kleinen Hand ist. Ich habe Ihnen gesagt, Sie würden leben, um zu sehen. Ist es zugestanden, Miß Dorrit?«

»Zugestanden, daß ich – –«

»Keine Notiz von mir außerhalb dieses Zimmers nehmen, es sei denn, daß ich es zuerst tue. Nicht auf mich zu achten, wenn ich komme und gehe. Es ist sehr leicht. Es ist kein Verlust, ich bin nicht schön, ich bin keine gute Gesellschaft, ich bin nur meines Herrn Ausjäter. Sie dürfen nur denken: ›Ah! Pancks der Zigeuner bei seinem Wahrsagen – er wird mir einst den Nest meines Schicksals sagen – ich werde leben, um es zu erfahren.‹ Ist das zugestanden, Miß Dorrit?«

»Ja«, stammelte Klein-Dorrit, die er in große Verwirrung brachte, »ich denke, solange Sie nichts Böses tun.«

»Gut!« Mr. Pancks sah nach der Wand des anstoßenden Zimmers und trat vorwärts. »Ehrliches Geschöpf, Mädchen von großen Eigenschaften, aber auch eine ebenso unvorsichtige und leichtsinnige Plauderin, Miß Dorrit.« Damit rieb er seine Hände, als wenn die Begegnung sehr befriedigend für ihn ausgefallen, schnaubte fort nach der Tür und entfernte sich wieder mit höflichen Verbeugungen.

Wenn Klein-Dorrit durch dieses seltsame Benehmen von seiten ihrer neuen Bekanntschaft und dadurch, daß sie sich in diese eigentümliche Geschichte verwickelt sah, sich schon ungewöhnlich verwirrt fühlte, so verringerte sich keineswegs diese Verwirrung durch die nachfolgenden Umstände. Außerdem, daß Mr. Pancks jede Gelegenheit ergriff, die ihm in Mr. Casbys Haus geboten war, um sie bedeutungsvoll anzusehen und anzuschnauben – was nicht viel heißen wollte, nach dem, was er bereits getan – begann er nun auch ihr tägliches Leben zu durchkreuzen. Sie sah ihn beständig auf der Straße. Wenn sie zu Mr. Casby ging, war er immer da. Wenn sie zu Mrs. Clennam ging, kam er unter irgendeinem Vorwand, als wenn er sie nicht aus den Augen verlieren wollte. Es war noch keine Woche vergangen, so fand sie ihn immer abends im Pförtnerstübchen, mit dem diensttuenden Schließer, der allem Anschein nach zu seinen Vertrauten gehörte, im Gespräch begriffen. Ihr nächstes Erstaunen war, ihn auch ganz behaglich im Gefängnis zu finden; zu hören, daß er sich unter den Besuchen bei ihres Vaters Sonntagsempfang befunden, ihn Arm in Arm mit einem gefangenen Freund auf dem Hof gehen zu sehen; durch Hörensagen zu erfahren, daß er sich eines Abends bei dem gesellschaftlichen Klub, der seine Zusammenkünfte in der Snuggery hielt, bedeutend hervorgetan, indem er an die Mitglieder dieses Instituts eine Rede hielt, ein Lied sang und die Gesellschaft mit fünf Gallonen Ale traktierte – das Gerücht fügte verkehrterweise eine große Menge Seegarnelen hinzu. Die Wirkung, die diese Erscheinungen, von denen er bei seinen treulichen Besuchen Augenzeuge wurde, auf Mr. Plornish hatten, machte einen Eindruck auf Klein-Dorrit, der dem nachstand, den diese Erscheinungen selbst hervorbrachten. Sie schienen ihn durch eine Mundsperre am Sprechen zu hindern und zu binden. Er konnte nur starren und bisweilen leise murmeln, man würde es im Bleeding Heart Yard gar nicht glauben, daß das Pancks sei, aber er sagte nie ein Wort, noch machte er ein Zeichen, selbst nicht gegenüber von Klein-Dorrit. Mr. Pancks setzte seinem geheimnisvollen Verfahren die Krone auf, indem er sich auf eine unerklärte Art mit Tip bekannt machte und an einem Sonntag an dem Arme dieses jungen Mannes in das Kolleg schlenderte. Er nahm jedoch die ganze Zeit nicht die geringste Notiz von Klein-Dorrit, ausgenommen ein- oder zweimal, wo es ihm gelang, ganz in ihre Nähe zu kommen, und niemand dabei war; bei welcher Gelegenheit er im Vorbeigehen mit einem freundlichen Blick und einem ermutigenden Pusten zu ihr sagte: »Pancks der Zigeuner – wahrsagen.«

Klein-Dorrit arbeitete mit angestrengtem Fleiß, wie gewöhnlich, indem sie sich über all dies wunderte, aber ihr Staunen in ihrer eigenen Brust bewahrte, wie sie seit frühster Zeit schon manche schwerere Last mit sich herumgetragen. Eine Veränderung war mit dem geduldigen Herzen vorgegangen und ging noch mit ihm vor. Mit jedem Tag wurde sie zurückhaltender. Unbemerkt im Gefängnisse aus- und einzugehen und auch sonst übersehen und vergessen zu werden, waren ihre Hauptwünsche.

Es war ihre Freude, sich, sooft sie nur konnte, ohne deshalb ihre Pflicht zu versäumen, in ihr Zimmer, das für ihre zarte Jugend und ihren Charakter etwas seltsam eingerichtet war, zurückzuziehen. Es gab Nachmittagsstunden, in denen sie unbeschäftigt war, in denen Besuche zu ihrem Vater kamen, die ein Kartenspiel mit ihm machen wollten, wobei sie entbehrt werden konnte und besser fort war. Dann eilte sie durch den Hof, stieg die paar Treppen hinauf, die zu ihrem Zimmer führten, und stellte ihren Stuhl an das Fenster. Die Spitzen auf der Mauer nahmen mancherlei Gestalten an, manche leichte Formen wob das schwere Eisen, manches goldene Streiflicht fiel auf den Rost, während Klein-Dorrit sinnend dasaß. Neue Zickzacks sprangen bisweilen in das grausame Muster, wenn sie durch einen Strom von Tränen daraufblickte; aber verschönert oder verdüstert, ob darüber oder darunter oder durch dasselbe, wohl oder übel, sie mußte in ihrer Einsamkeit darauf hinblicken und alles mit jenem unverwischbaren Brandmal sehen.

Eine Dachstube, und zwar eine Marschallgefängnisdachstube ohne Vergleich, war Klein-Dorrits Zimmer. Es war schön gehalten, obgleich an und für sich noch häßlich, und hatte wenig außer Reinlichkeit und Luft, womit es glänzen konnte; denn aller Zierat, den sie je hatte kaufen können, ging nach ihres Vaters Zimmer. Wie dem aber auch sei, sie zeigte für diesen dürftigen Ort eine stets wachsende Liebe; und allein in ihrem Zimmer zu sitzen, wurde ihre Lieblingsruhe.

Und dies in solchem Grade, daß, als sie eines Nachmittags während der Pancksgeheimnisse an ihrem Fenster saß und Maggys wohlbekannten Schritt die Treppe heraufkommen hörte, sie durch die Befürchtung, abgerufen zu werden, nicht wenig in Unruhe kam. Als Maggys Schritt sich näherte, zitterte sie und schwankte; und es war alles, daß sie sprechen konnte, als Maggy endlich erschien.

»Bitte, Mütterchen«, sagte Maggy nach Luft schnappend, »du mußt herunterkommen und ihn sehen. Er ist hier.«

»Wer, Maggy?«

»Wer? Natürlich Mr. Clennam. Er ist in deines Vaters Zimmer und sagte zu mir: ›Maggy, wollen Sie so gut sein, zu gehen und ihr zu sagen, daß nur ich es bin.‹«

»Ich bin nicht ganz wohl. Es wäre besser, ich ginge nicht. Ich will mich niederlegen. Sieh! ich lege mich nieder, um meinen Kopf auszuruhen. Sage ihm mit einer dankbaren Empfehlung, daß du mich so verlassen, sonst würde ich gekommen sein.«

»Gut, aber es ist nicht besonders höflich, Mütterchen«, sagte Maggy und stierte sie an, »dein Gesicht so wegzuwenden!«

Maggy war sehr empfindlich für persönliche Hintansetzungen und sehr erfinderisch in Auffindung solcher. »Und beide Hände vor das Gesicht zu tun!« fuhr sie fort. »Wenn du die Blicke eines armen Dinges nicht ertragen kannst, wäre es besser, es ihr gleich zu sagen und sie nicht so von sich zu stoßen, indem man ihre Gefühle verletzt und ihr zehnjähriges Herz bricht, dem armen Ding!«

»Ich will ja nur meinen Kopf ausruhen, Maggy!«

»Gut, und wenn du meinst, um deinen Kopf zu erleichtern, Mütterchen, so laß mich auch weinen. Behalte nicht das Weinen für dich allein«, heischte Maggy, »du mußt nicht so gierig sein.« Und augenblicklich begann sie zu weinen, daß ihr die Backen anschwollen.

Es kostete einige Mühe, sie zu veranlassen, mit der Entschuldigung zurückzukehren; aber das Versprechen, daß sie ihr eine Geschichte erzählen werde – von je ihr größtes Vergnügen – unter der Bedingung, daß sie all ihre Geistesfähigkeit auf diese Botschaft konzentriere und ihre kleine Herrin auf eine Stunde allein lasse, in Verbindung mit der Besorgnis auf seiten Maggys, sie möchte ihren guten Humor unten an der Treppe zurückgelassen haben, überwog. So ging sie weg, die Botschaft den ganzen Weg über vor sich hinmurmelnd, um sie nicht zu vergessen, und kam zur bestimmten Stunde zurück.

»Er war sehr besorgt, kann ich dir sagen«, kündigte sie an, »und wollte zu einem Arzt schicken. Und morgen will er wiederkommen, ja, und ich glaube nicht, daß er heute nacht gut schläft, nachdem er von deinem Kopfleiden weiß, Mütterchen. O Gott! Hast du nicht geweint?«

»Ich glaube, ich habe ein wenig geweint, Maggy.«

»Ein wenig! Oh!«

»Aber es ist jetzt vorbei – ganz vorbei und wieder gut, Maggy. Und mein Kopf ist weit besser und kühler, und ich fühle mich ganz wohl. Ich bin recht froh, daß ich nicht hinunterging.«

Ihr großes, staunendes Kind umarmte sie zärtlich; und nachdem sie ihr Haar geglättet und ihre Stirn und ihre Augen mit kaltem Wasser gebadet (Dienste, in denen ihre linkischen Hände geschickt wurden), umarmte sie sie wieder, frohlockte über die freudigeren Blicke und führte sie wieder nach dem Stuhl am Fenster. Gegenüber von diesem Stuhl rückte Maggy mit krampfhaften Anstrengungen, die durchaus nicht notwendig waren, die Kiste, auf der sie gewöhnlich saß, während Geschichten erzählt wurden, setzte sich darauf, umarmte ihre eignen Knie und sagte mit Ungeduld auf Geschichten und mit weit geöffneten Augen:

»Nun, Mütterchen, jetzt aber eine gute!«

»Wovon soll sie handeln, Maggy?«

»Oh, von einer Prinzessin«, sagte Maggy, »und von einer rechten. Ganz unglaublich, du weißt schon.«

Klein-Dorrit bedachte sich einen Augenblick, und mit einem ziemlich traurigen Lächeln, das vom Sonnenuntergang mit seiner Röte übergossen wurde, begann sie:

»Maggy, es war einmal ein edler König, der hatte alles, was er nur wünschen mochte, und noch weit mehr. Er hatte Gold und Silber, Diamanten und Rubinen, Reichtümer aller Art. Er hatte Paläste und hatte –«

»Hospitäler«, unterbrach sie Maggy, noch immer ihre Knie wiegend. »Er soll auch Hospitäler haben, weil sie so angenehm sind, mit Abgaben von Hühnern.«

»Ja, er hatte eine Masse dergleichen, und er hatte eine Masse von allem.«

»Eine Masse gebratener Kartoffeln zum Beispiel?« sagte Maggy.

»Eine Masse von allem.“

»Gluck, gluck!« lockte Maggy, indem sie ihre Knie umarmte. »War das nicht herrlich!«

»Dieser König hatte eine Tochter, die die weiseste und schönste Prinzessin war, die je gelebt. Als sie noch ein Kind war, wußte sie alle ihre Lektionen, ehe die Lehrer sie dieselben lehrten; und als sie erwachsen war, war sie das Wunder der Welt. Nun stand in der Nähe des Palastes, wo die Prinzessin wohnte, eine Hütte, in der eine arme winzig kleine Frau wohnte, die ganz allein lebte.«

»Eine alte Frau«, sagte Maggy mit einem fettigen Schnalzen ihrer Lippen.

»Nein, nicht eine alte Frau. Eine ganz junge Frau.«

»Ich möchte wissen, ob sie sich nicht fürchtete«, sagte Maggy. »Bitte, fahre fort.«

»Die Prinzessin kam beinahe jeden Tag an der Hütte vorüber, und sooft sie in ihrem schönen Wagen vorbeifuhr, sah sie die arme winzig kleine Frau an ihrem Rade spinnen, und sie sah die winzig kleine Frau an, und die winzig kleine Frau sah sie an. So ließ sie den Kutscher eines Tages kurz vor der Hütte halten und stieg aus und ging näher und sah zur Tür hinein. Da war wie gewöhnlich die winzig kleine Frau, die an ihrem Rade spann, und sie sah die Prinzessin an, und die Prinzessin sah sie an.«

»Als wollten sie einander wegstarren«, sagte Maggy. »Bitte, fahre fort, Mütterchen.«

»Die Prinzessin war so eine wunderbare Prinzessin, daß sie die Kraft hatte, Geheimnisse zu wissen, und sie sagte zu der winzig kleinen Frau: ›Warum bewahrst du es hier?‹ Dies zeigte ihr augenblicklich, daß die Prinzessin wisse, warum sie an diesem Rade spinnend allein wohne, und sie fiel der Prinzessin zu Füßen und bat sie, sie nicht zu verraten. Die Prinzessin sagte: ›Ich werde dich nicht verraten. Laß mich es sehen.‹ Die winzig kleine Frau schloß den Laden des Hüttenfensters und verriegelte die Tür, und von Kopf bis zu Fuß zitternd, aus Furcht, es möchte jemand Verdacht schöpfen, öffnete sie einen sehr geheimen Platz und zeigte der Prinzessin einen Schatten.«

»Puh!« sagte Maggy.

»Es war der Schatten von jemand, der längst dahingegangen; von einem, der weit fortgegangen außer allem Bereich, um nimmer, nimmer wiederzukehren. Es war ein glänzender Anblick: und als die winzig kleine Frau es der Prinzessin zeigte, war sie von ganzem Herzen darauf stolz, als auf einen großen, großen Schatz. Als die Prinzessin es eine kurze Zeitlang betrachtet, sagte sie zu der winzig kleinen Frau: ›Und du bewachst das Tag und Nacht?‹ Und sie schlug die Augen nieder und flüsterte: ›Ja‹. Dann sagte die Prinzessin: ›Erkläre mir, warum.‹ Worauf die andere antwortete: es sei niemand so Gutes und Freundliches je diesen Weg gekommen, und das sei anfangs der Grund gewesen. Auch sagte sie, daß niemand es vermisse, daß niemand deshalb schlimmer daran sei, daß jener jemand zu denen gegangen sei, die ihn erwarteten –«

»So ist der jemand also ein Mann?« warf Maggy ein.

Klein-Dorrit sagte schüchtern Ja, sie glaube wohl, und fuhr dann fort:

»Zu denen gegangen sei, die ihn erwarteten, und daß diese Erinnerung niemandem gestohlen oder vorenthalten sei. Die Prinzessin antwortete: ›Ah! Aber wenn die Bewohnerin der Hütte stürbe, so würde man es ja finden.‹ Die winzig kleine Frau sagte ihr Nein: wenn diese Zeit käme, würde es ruhig in ihr Grab sinken und nicht mehr zu finden sein.«

»Gewiß«, sagte Maggy, »fahre fort, bitte!«

»Die Prinzessin war sehr erstaunt, das zu hören, wie du dir denken kannst, Maggy.«

»Das mußte sie auch sein«, sagte Maggy.

»Sie beschloß deshalb, die winzig kleine Frau zu beobachten und zu sehen, was daraus entstünde. Jeden Tag fuhr sie in ihrem schönen Wagen an der Tür der Hütte vorüber und sah dort die winzig kleine Frau immer allein an ihrem Spinnrade sitzen. Und sie sah die winzig kleine Frau an, und die winzig kleine Frau sah sie an. Endlich stand eines Tages das Rad still, und die winzig kleine Frau war nicht zu sehen. Als die Prinzessin fragte, warum das Rad sich nicht mehr bewege, und wo die winzig kleine Frau sei, unterrichtete man sie, daß das Rad sich nicht mehr bewege, weil niemand da sei, der es drehe, da die winzig kleine Frau gestorben.«

(»Sie hätten sie ins Hospital bringen sollen«, sagte Maggy, »dann würde sie sicherlich davongekommen sein.«)

»Nachdem die Prinzessin ganz kurze Zeit über den Verlust der winzig kleinen Frau geweint, trocknete sie ihre Augen und stieg aus dem Wagen an dem Platz, wo sie ihn hatte früher halten lassen, und ging nach der Hütte und schaute zur Tür hinein. Da war jedoch niemand, der sie angesehen hätte, und niemand, den sie hätte ansehen können; sie trat deshalb ein, um nach dem wertvollen Schatten zu sehn, aber es war nirgend eine Spur von ihm zu finden; da wußte sie, daß die winzig kleine Frau ihr die Wahrheit gesagt, und daß es niemanden mehr beunruhigen würde, und daß es ruhig in sein eignes Grab gesunken, und daß sie und der Schatten miteinander zur Ruhe gekommen.«

»Das ist alles, Maggy.«

Der Sonnenuntergang ergoß eine solche Glut auf Klein-Dorrits Gesicht, als sie an das Ende ihrer Geschichte kam, daß sie mit ihrer Hand die Augen beschattete.

»Ist sie alt geworden?« fragte Maggy.

»Die winzig kleine Frau?«

»Ja!«

»Ich weiß es nicht«, sagte Klein-Dorrit. „Aber es wäre ganz das gleiche gewesen, und wenn sie noch so alt geworden.«

»Wirklich?« sagte Maggy. „Ich vermute, es ist der Fall.« Und dabei saß sie mit stierem Sinnen da.

Sie saß so lange mit weit geöffneten Augen da, daß Klein-Dorrit am Ende, um sie von ihrer Kiste wegzulocken, aufstand und zum Fenster hinaussah. Als sie in den Hof hinabblickte, sah sie Pancks hereinkommen und mit dem Winkel seines Auges, während er vorüberging, heraufschielen. »Wer ist das, Mütterchen?« sagte Maggy. Sie war zu ihr ans Fenster getreten und lehnte an ihrer Schulter. »Ich sehe ihn oft aus- und eingehen.«

»Ich hörte draußen, er sei ein Wahrsager«, erwiderte Klein-Dorrit. »Aber ich zweifle, ob er vielen Leuten selbst ihre Vergangenheit und Gegenwart weissagen könnte.«

»Hätte er der Prinzessin nicht das ihrige sagen können?« fragte Maggy.

Klein-Dorrit, die sinnend in das dunkle Tal des Gefängnisses hinabsah, schüttelte den Kopf.

»Auch der winzig kleinen Frau nicht?« fragte Maggy.

»Nein«, sagte Klein-Dorrit, und der Sonnenuntergang beleuchtete hell ihr Gesicht. »Aber laß uns vom Fenster weggehen!«

  1. Guy Fawkes Tag, an dem eine Strohpuppe überall in England verbrannt wird zum Andenken an die Pulververschwörung 6. November 1605.