Vierunddreißigstes Kapitel.


Vierunddreißigstes Kapitel.

Eine ganze Sandbank voll Barnacles.

Mr. Henry Gowan und der Hund waren ständige Gäste auf dem Landhause, und der Tag für die Hochzeit wurde festgesetzt. Es sollte eine Zusammenberufung der Barnacles bei dieser Gelegenheit stattfinden, damit diese sehr hohe und sehr große Familie der Heirat so viel Lustre verleihe, als ein so trübes Ereignis in sich aufnehmen konnte.

Die ganze Familie Barnacle zusammenzubringen, wäre aus zwei Gründen unmöglich gewesen. Erstens, weil kein Gebäude alle Glieder und Bekannte dieses berühmten Hauses hätte fassen können. Zweitens, weil, wo ein viereckiges Grundstück unter der Sonne oder dem Monde in britischem Besitze und ein öffentlicher Posten dabei war, dieser Posten sich in den Händen eines Barnacle befand. Kein unerschrockener Seemann konnte eine Flaggenstange auf irgendeinem Flecke der Erde aufstecken und von demselben im Namen der britischen Nation Besitz ergreifen, wohin, sobald die Entdeckung bekannt wurde, das Circumlocution Office nicht einen Barnacle und eine Depeschenkapsel abgesandt hätte. So waren die Barnacles über die ganze Welt zerstreut – nach allen Richtungen depeschenkapselten sie den Kompaß.

Während aber selbst die so mächtige Kunst Prosperos nicht imstande gewesen wäre, die Barnacles aus allen Orten des Ozeans und des trockenen Landes, wo nichts zu tun (als Unsinn) und alles einzusacken war, herbeizurufen, war es doch vollkommen möglich, eine große Menge Barnacles zusammenzubringen. Das übernahm Mrs. Gowan selbst, indem sie häufig bei Mr. Meagles vorsprach, um neue Namen zu der Liste hinzuzufügen, und Konferenzen mit dem Vater der Braut hielt, wenn er nicht (was in dieser Zeit beständig der Fall) mit Prüfung und Bezahlung der Schulden seines künftigen Schwiegersohnes in dem Zimmer der ausgleichenden Gerechtigkeit beschäftigt war.

Unter den Hochzeitsgästen befand sich einer, dessen Anwesenheit Mr. Meagles mehr interessierte und am Herzen lag als die Teilnahme des erhabensten Barnacle, den man erwartete, obgleich er durchaus nicht gleichgültig gegen die Ehre solcher Gesellschaft war. Dieser Gast war Clennam. Clennam hatte sich unter den Bäumen in jener Sommernacht ein Versprechen gegeben, das er heilig hielt, und das ihn in der Ritterlichkeit seines Herzens zu manchen stillschweigenden Verpflichtungen verband. Ganz sich selbst vergessend, ihr bei allen Gelegenheiten seine zarten Dienste zu weihen, war seine unverbrüchliche Pflicht; um damit zu beginnen, antwortete er Mr. Meagles: »Ich werde ganz gewiß kommen.«

Sein Kompagnon Daniel Doyce war ein Stein des Anstoßes für Mr. Meagles, da der würdige 3üann in seinem ängstlichen Gemüt befürchtete, das Zusammenbringen Daniels mit dem offiziellen Barnacleismus möchte selbst bei einem Hochzeitsfrühstück eine Explosion herbeiführen. Der Nationalbeleidiger jedoch befreite ihn von seiner Verlegenheit, indem er nach Twickenham kam, um mit der Offenheit, die einem alten Freunde vergönnt sei, und als eine Gunst, die ein solcher verdiene, zu bitten, daß man ihn nicht einlade. »Denn«, sagte er, »da mein Geschäft mit diesen Herren einer öffentlichen Pflicht und einem öffentlichen Dienst galt und ihr Geschäft mit mir darin bestand, mich daran zu hindern, indem sie mich auf jede Weise schikanierten, so denke ich, es wäre besser, wenn wir nicht miteinander essen und trinken würden; denn es könnte scheinen, als ob wir einerlei Sinnes wären.« Mr. Meagles war durch diese Schrulle seines Freundes sehr erfreut und behandelte ihn mit noch gnädigerer Gönnermiene als gewöhnlich, indem er nachgebend sagte: »Ja, ja, Dan, Sie sollen Ihrem wunderlichen Willen folgen.«

Clennam suchte, als die Zeit heranrückte, Mr. Henry Gowan durch alle ruhigen und einfachen Mittel beizubringen, daß er offen und ohne Interesse wünsche, ihm jede Freundschaft, die er nur wünschen könne, zu erweisen. Mr. Gowan behandelte ihn dagegen mit seiner gewöhnlichen Leichtigkeit und seinen gewöhnlichen Beweisen von Vertrauen, die nichts weniger als Vertrauen waren. »Sie sehen, Clennam«, bemerkte er zufällig eines Tages im Verlaufe eines Gesprächs, als sie eine Woche vor der Hochzeit in der Nähe des Landhauses spazierengingen, »ich bin ein getäuschter Mann. Das wissen Sie bereits.«

»Wahrhaftig«, antwortete Clennam etwas verlegen, »ich wüßte kaum, wie.«

»Nun«, versetzte Gowan. »Ich gehöre zu einem Geschlecht, oder einer Gemeinschaft, oder einer Familie, oder einer Verwandtschaft, oder wie Sie es nennen wollen, die auf fünfzigerlei Weise für mich hätte sorgen können, die sich’s aber in den Kopf gesetzt, es nicht zu tun. So bin ich nun ein armer Teufel von Künstler.«

Clennam begann: »Aber auf der andern Seite –«, als Gowan ihm ins Wort fiel.

»Ja, ja, ich weiß. Ich habe das große Glück, von einem schönen und liebenswürdigen Mädchen geliebt zu werden, das auch ich von ganzem Herzen liebe.«

»Ist das viel?« dachte Clennam. Und als er es gedacht, schämte er sich über sich selbst.

»Und habe das Glück, einen Schwiegervater zu finden, der ein Kapitaljunge ist und ein freigebiger, guter, alter Junge. Es wurden mir freilich andre Aussichten in den Kopf gewaschen und gekämmt, als man mir diesen wusch und kämmte, und ich nahm sie in eine öffentliche Schule mit, als ich mir ihn selbst kämmte und wusch, und nun bin ich verlassen von all diesen Aussichten, ein getäuschter Mann.«

Clennam dachte, und als er es dachte, schämte er sich wieder über sich selbst: ist diese Idee eines getäuschten Lebens die Behauptung einer Stellung, die der Bräutigam als sein Eigentum in die Familie bringt, nachdem er sich bereits damit geschadet? Und ist überhaupt etwas Hoffnungsvolles oder Vielversprechendes dabei?

»Ich denke, Sie sind nicht bitter enttäuscht«, sagte er laut.

»Zum Teufel, nein! nicht bitter«, lachte Gowan, »meine Leute sind das nicht wert, daß – obgleich es liebenswürdige Jungen sind und ich die größte Zuneigung für sie besitze. Und dann ist es herrlich, ihnen zu zeigen, daß ich ohne sie existieren kann und daß sie alle zum Teufel gehen können. Und dann sind ja auch die meisten Menschen im Leben auf die eine oder andre Art getäuscht worden und durch diese ihre Täuschung präpariert. Aber es ist eine schöne gute Welt, und ich liebe sie!«

»Sie liegt jetzt sehr schön vor Ihnen!« sagte Arthur.

»Schön wie dieser sommerliche Fluß«, rief der andre mit Enthusiasmus, »und ich glühe, beim Jupiter, vor Bewunderung und vor Begierde, den Wettlauf in ihr zu beginnen. Es ist die beste der alten Welten! Und mein Beruf! Die beste aller Berufsarten, nicht wahr?«

»Voll Interesse und Ehrgeiz, denke ich«, sagte Clennam.

»Und Betrug«, fügte Gowan lachend hinzu; »wir dürfen den Betrug nicht vergessen. Ich hoffe, ich werde nicht darunter erliegen; aber hier wird es sich zeigen, daß ich ein getäuschter Mann bin. Ich werde nicht imstande sein, ihm keck genug zu trotzen. Zwischen Ihnen und mir, glaube ich, ist eine Gefahr vorhanden, daß ich, der ich schon erbittert genug bin, das nicht werde tun können.«

»Was tun?« fragte Clennam.

»Es zu behaupten. Mir meinerseits zu helfen, wie mein Vordermann seinerseits sich hilft, und die Rauchflasche weitergehen zu lassen. Den Schein bewahren, als wenn man arbeitete, studierte, Geduld übte und seiner Kunst treu wäre, ihr manchen einsamen Tag widmete und ihr manches Vergnügen opferte und ganz in ihr lebte und so weiter – kurz, die Rauchflasche der Regel gemäß herumgehen zu lassen.«

»Aber es ziemt dem Mann, seinen Beruf zu respektieren, welcher Art er auch sei, und sich für verpflichtet zu erachten, ihn geltend zu machen und die Achtung für ihn zu fordern, die er verdient, nicht wahr?« behauptete Arthur. »Und Ihr Beruf, Gowan, kann wirklich diese Aufopferung und diesen Dienst verlangen. Ich gestehe, ich hätte geglaubt, jede Kunst verdiene das?«

»Was für ein guter Mensch Sie sind, Clennam!« rief der andre stehenbleibend, um ihn mit ununterdrückbarer Bewunderung anzusehen. »Was für ein herrlicher Mensch. Sie sind nie getäuscht worden, das ist leicht zu sehen.«

Es wäre so grausam gewesen, wenn er das wirklich gemeint hätte, daß Clennam fest entschlossen war, zu glauben, dies könne nicht seine Meinung sein. Gowan legte, ohne sich zu unterbrechen, die Hand auf seine Schulter und fuhr lachend und in leichtem Ton fort:

»Clennam, ich möchte Ihre schönen Visionen nicht zerstören und würde alles Geld (wenn ich welches hätte) geben, um in solch rosigem Nebel zu leben. Aber was ich bei meinem Geschäft tue, geschieht, um zu verkaufen. Was wir Kunstgenossen machen, machen wir, um zu verkaufen. Wenn wir nicht so teuer wie möglich zu verkaufen brauchten, würden wir’s gewiß nicht tun. Da es eine Arbeit ist, muß sie auch getan werden, aber sie ist leicht genug getan. Alles übrige ist Hokuspokus. Das ist einer von den Vorteilen oder Nachteilen, einen getäuschten Mann zu kennen. Sie hören die Wahrheit.«

Was er gehört, und mochte es diesen oder einen andern Namen verdienen, es prägte sich in Clennams Geiste tief ein. Es faßte solchermaßen Wurzel darin, daß er zu fürchten begann, Henry Gowan werde sein ganzes Leben trüben und er habe am Ende durch die Abdankung jenes Niemand mit all seinen Widersprüchen, Besorgnissen und Unbeständigkeiten nichts gewonnen. Er fühlte in seiner Brust noch immer einen Kampf zwischen seinem Versprechen, Gowan vor Mr. Meagles im hellsten Lichte zu zeigen, und dem dunklen Lichte, in dem ihm unwillkürlich Gowan beständig erschien. Auch konnte er seine gewissenhafte Natur gegen den Vorwurf, daß er ihn entstelle und verzerre, dadurch nicht wappnen, daß er sich vorhielt, er sei auf diese Entdeckungen ja nicht selbst ausgegangen und würde sie mit der größten Bereitwilligkeit und Freude sogar vermieden haben. Denn er konnte nie vergessen, was gewesen; und er wußte, daß ihm Gowan einst aus keinem andern Grunde mißfallen hatte, als weil er ihm in den Weg gekommen war.

Durch solche Gedanken beunruhigt, begann er zu wünschen, die Hochzeit wäre vorüber, Gowan und seine junge Frau wären abgereist und er wäre selbst mit der Erfüllung seines Versprechens und der Entledigung von der edlen Aufgabe, die er übernommen, beschäftigt. Die letzte Woche war in Wirklichkeit für das ganze Haus eine unbehagliche Zeit. Vor Pet und vor Gowan strahlte Mr. Meagles. Clennam hatte ihn jedoch mehr als einmal allein und sehr entstellt vor seiner Wage und Schaufel getroffen und hatte ihn oft den Liebenden im Garten oder sonstwo, da man ihn nicht sehen konnte, mit dem alten umwölkten Gesicht, auf das Gowan wie ein Schatten gefallen war, nachblicken sehen. Bei der Zurichtung des Hauses für die große Feierlichkeit mußte manches, was an die früheren Reisen von Vater, Mutter und Tochter erinnerte, anderswohin gestellt werden und ging von Hand zu Hand. Zuweilen konnte bei dem Anblick dieser stummen Zeugen des Lebens, das sie miteinander geführt hatten, auch Pet dem Schluchzen und Weinen nicht widerstehen. Mrs. Meagles, die heiterste und beschäftigtste aller Mütter, ging singend und aufmunternd umher; aber die ehrliche Seele flüchtete sich dann gewöhnlich in die Vorratskammern, wo sie weinte, bis ihre Augen rot waren, und schrieb, wenn sie wieder zum Vorschein kam, diese Erscheinung eingemachten Zwiebeln und Pfeffer zu und sang heiterer, denn zuvor. Mrs. Tickit, die keinen Balsam für ihr verwundetes Herz in Buchans »Hausarzt« fand, hatte viel unter ihrer Niedergeschlagenheit und den Erinnerungen, die ihr aus Minnies Kindheit aufstiegen, zu leiden. Wenn die letzteren recht lebendig vor ihre Seele traten, schickte sie gewöhnlich einen geheimen Boten hinauf, der auszurichten hatte, daß sie nicht salonmäßig angezogen sei und »ihr Kind« bitten lasse, ihr einen Augenblick in der Küche zu gönnen; da segnete sie dann ihres Kindes Gesicht und segnete ihres Kindes Herz und liebkoste ihr Kind unter Tränen und Glückwünschen, Hackbrettern, Rollhölzern, Pastetenkrusten mit der Zärtlichkeit einer anhänglichen alten Dienerin, der schönsten Zärtlichkeit, die es nur geben kann.

Aber es kommen die Tage, die kommen sollen; und der Hochzeitstag sollte kommen und kam; und mit ihm kamen alle die Barnacles, die zu dem Feste gebeten waren.

So Mr. Tite Barnacle, vom Circumlocution Office und News Street, Großvenor Square, mit der verschwenderischen Mrs. Tite Barnacle, geborenen Stiltstalking, die machte, daß die Quartale so langsam herbeikamen, und den drei verschwenderischen Miß Tite Barnacles, doppelt geladen mit Talenten und bereit loszugehen, und doch nicht mit der Schärfe von Blitz und Knall losgehend, wie man erwarten konnte, sondern höchstens schwelend. Ferner Barnacle junior, gleichfalls vom Circumlocution Office, der den Schiffszoll des Landes, von dem man annahm, daß er ihn unter seinen besondern Schutz genommen habe, in diesem Augenblick sich selbst überließ und, aufrichtig gesagt, dadurch der Wirksamkeit seines Schutzes nicht den geringsten Eintrag tat. Ferner der einnehmende junge Barnacle, von der heitern Seite der Familie abstammend und gleichfalls vom Circumlocution Office, half bei der ganzen Feierlichkeit in heiterer und angenehmer Weise und behandelte sie in seiner glänzenden Art, als eine der offiziellen Formen und Nebeneinkünfte des Kirchendepartements vom »Wie man’s nicht machen müsse«. Noch drei andere Barnacles von drei andern Bureaus waren zugegen, unschmackhaft für alle Sinne und des Einsalzens äußerst bedürftig, die die Hochzeit behandelten, wie sie den Nil, das alte Rom, den Dichter Milton oder Jerusalem »behandelt« hätten.

Aber es war noch feineres Wildbret zugegen als dieses, nämlich Lord Decimus Tite Barnacle selbst, mit dem Geruch des Circumlocution Office – mit dem echten Depeschenkapselgeruch an sich. Ja, Lord Decimus Tite Barnacle war zugegen, der auf den Schwingen eines Gedankens voll Entrüstung zu diesen bureaukratischen Höhen sich emporgeschwungen hatte, des Gedankens nämlich: Meine Lords, man sagt mir noch immer, daß es einem Minister dieses freien Landes zieme, der Philanthropie Ketten anzulegen, die Wohltätigkeit zu beschränken, den öffentlichen Geist zu fesseln, die Spekulation zu hemmen, das unabhängige Selbstvertrauen seines Volkes zu dämpfen. Das hieß mit andern Worten, man lasse diesen großen Staatsmann beständig wissen, dem Schiffspiloten zieme alles, nur nicht, daß er in dem privaten Brot- und Fischhandel am Ufer prosperiere, da die Menge imstande sei, durch angestrengtes Pumpen das Schiff ohne ihn über Wasser zu erhalten. In dieser erhabenen Entdeckung, in der großen Kunst, wie es nicht zu tun war, hatte Lord Decimus lange den höchsten Ruhm der Familie Barnacle gesucht. Mochte irgendein übelberichtetes Glied irgendeines Hauses versuchen, wie man es machen müsse, indem es eine Bill, die Sache doch noch zu erledigen, einbrachte: diese Bill war so gut wie tot und begraben, wenn Lord Decimus Tite Barnacle von seinem Platz aufstand und feierlich sagte, indem er sich in entrüsteter Majestät erhob – wobei auch die Circumlocution Office sich jauchzend um ihn erhob –, er müsse sich noch immer sagen lassen, es zieme ihm, als dem Minister dieses freien Landes, der Philanthropie Bande anzulegen, die Wohltätigkeit zu beschränken, den öffentlichen Geist zu fesseln, die Spekulation zu hemmen, das unabhängige Selbstvertrauen seines Volkes zu dämpfen. Die Entdeckung dieser Schicklichkeitsmaschine war die Entdeckung des politischen Perpetuum mobile. Sie nützte sich nie ab, obwohl sie in allen Abteilungen der Staatsverwaltung beständig in Bewegung war.

Mit seinem edlen Freund und Verwandten Lord Decimus war William Barnacle erschienen, der die ewig denkwürdige Koalition mit Tudor Stiltstalking begründet und der immer sein besonderes Rezept »Wie man’s nicht machen müsse« bereit hatte. Indem er bald den Sprecher leicht berührte und, um die Sache frisch aus ihm herauszulocken, zu ihm sagte: »Zuerst möchte ich Sie bitten, Sir, das Haus davon zu unterrichten, welche Vorgänge wir für das Verfahren haben, in das uns der ehrenwerte Herr hineinreißen will«, bald den ehrenwerten Herrn bat, ihm seine Ansicht von den Vorgängen mitzuteilen, bisweilen gar dem ehrenwerten Herrn sagte, er (William Barnacle) wolle nach einem Präzedenzfall suchen, oft aber auch den ehrenwerten Herrn mit der Bemerkung, daß kein Präzedenzfall existiere, auf der Stelle niederschlug. Präzedenzfall und Überstürzung waren jedoch unter allen Umständen das gut zusammenpassende Paar Schlachtrosse dieses gewandten Circumlocutionisten. Es half deshalb nichts, daß der unglückliche ehrenwerte Herr seit fünfundzwanzig Jahren vergeblich William hineinzureißen suchte – William Barnacle überließ es dem Haus und (in zweiter Hand) dem Land, ob er hineingerissen werden sollte. Abgesehen davon, daß es gänzlich unvereinbar mit der Natur der Dinge und dem Lauf der Ereignisse war, daß der unglückliche ehrenwerte Herr möglicherweise einen Präzedenzfall für die Sache beibringen konnte – William Barnacle dankte ihm gewöhnlich für diese ironische Freude, verständigte sich mit ihm über diesen Streitpunkt und sagte ihm ins Gesicht, daß es keinen Präzedenzfall für die Sache gebe. Es möchte vielleicht eingeworfen werden, die Weisheit William Barnacles sei keine große Weisheit, oder die Erde, die sie betrog, sei nie geschaffen worden oder, wenn durch einen raschen Mißgriff geschaffen, rein verrückt geblieben. Aber die Einwände Präzedenzfall und Überstürzung schreckten die meisten Leute von einem weiteren Einwurf ab.

Noch ein anderer Barnacle war erschienen, ein sehr lebendiger, der in rascher Reihenfolge zwanzig Stellen eingenommen und stets zwei bis drei innehatte und der sehr geachtete Erfinder einer Kunst war, die er mit großem Erfolg und vieler Bewunderung in allen Regierungsbranchen der Barnacles übte. Diese Kunst bestand darin, wenn eine parlamentarische Frage über irgendeinen wichtigen Punkt an ihn gerichtet wurde, eine Antwort über einen andern zu geben. Es hatte ihm dies ungeheure Dienste geleistet und ihn in große Achtung beim Circumlocution gebracht.

Außerdem war eine kleine Anzahl von weniger ausgezeichneten Barnacles vom Parlament anwesend, die sich noch keine Stellung errungen und ihre Probezeit bestanden, um sich würdig zu erweisen. Diese Barnacles saßen auf Treppen und standen in Gängen, den Befehl erwartend, ein Haus zu machen oder kein Haus zu machen. Und sie verrichteten all ihr »Hört! Hört!«- und »Oho«-Rufen, Beifallsäußern und Murren unter der Leitung der Häupter der Familie; und sie brachten Strohmannsanträge vor, um den Anträgen anderer Leute in den Weg zu treten. Sie verzögerten die Aussprache über unbequeme Dinge bis tief in die Nacht oder spät in die Sitzung. Dann aber riefen sie mit kräftigem Patriotismus, es sei zu spät; und sie gingen in das Land hinein, sooft man sie sandte, und schworen, daß Lord Decimus das Gewerbe aus einer Ohnmacht wieder ins Leben gerufen und den Handel aus einer Krise zur Gesundung gebracht, die Kornernte verdoppelt, die Heuernte vervierfacht und kein Stückchen Gold aus der Bank gelassen habe. Auch diesen Barnacles wurden, wie so viele andere Karten unter den Hauptkarten, durch die Häupter der Familie zu den öffentlichen Versammlungen und Diners ausgegeben, wo sie von allen Arten von Diensten ihrer edlen und ehrenwerten Verwandten Zeugnis ablegten und die Barnacles auf alle Arten von Toasten als Butter strichen. Sie standen bei allen Arten von Wahlen unter ähnlichem Befehl und verließen ihre Sitze auf den leisesten Wink und die unvernünftigsten Gründe hin, um für andre Platz zu machen. Sie holten und brachten, machten die Makler und bestachen, verschlangen Haufen von Schmutz und waren unermüdlich im öffentlichen Dienste. Und es war im ganzen Circumlocution Office keine Liste von Stellen, die innerhalb eines halben Jahrhunderts hätten vakant werden können, vom Lord Großschatzmeister bis zum chinesischen Konsul, und wieder hinauf bis zum Generalgouverneur von Indien, auf der nicht die Namen eines oder aller dieser hungrigen und sich überall anhängenden Barnacles als Bewerber geprangt hätten.

Es konnte natürlich nur eine kleine Zahl von jeder Klasse von Barnacles der Hochzeit anwohnen, denn es waren im ganzen nicht volle zwei Schock, und was will das heißen bei einer Legion! Aber diese kleine Anzahl erschien wie ein Schwarm in dem Landhause von Twickenham und füllte es vollständig. Ein Barnacle (assistiert von einem Barnacle) vollzog die Trauung des glücklichen Paares, und es ziemte sich, daß Lord Decimus Tite Barnacle selbst Mrs. Meagles zum Frühstück führte.

Die Unterhaltung war nicht so angenehm und ungezwungen, wie sie hätte sein können. Mr. Meagles, durch seine gute Gesellschaft umgelegt, während er sie im vollem Maß zu schätzen wußte, war nicht er selbst. Mrs. Meagles war sie selbst, aber das erhöhte seine Stimmung nicht. Die Einbildung, daß es nicht Mr. Meagles gewesen, der im Wege gestanden hatte, sondern die hohe Familie, und daß die hohe Familie eine Konzession gemacht, und daß nun eine schmeichelhafte Einmütigkeit herrsche, dieses Gefühl zog sich durch das ganze Fest, wenn es auch nicht offen ausgesprochen wurde. Und dann fühlten die Barnacles auch, daß sie ihrerseits mit den Meagles‘ abgeschlossen hätten, wenn der gegenwärtige herablassende Vorgang vorüber sei; und die Meagles‘ fühlten ihrerseits dasselbe. Gowan, der seine Rechte als getäuschter Mann geltend machte, der seinen Groll gegen die Familie hegte und seiner Mutter vielleicht nur darum gestattet hatte, sie hierherzubringen, weil er hoffte, sie würden sich ärgern, oder aus irgendeinem andern wohlwollenden Grunde – Gowan hielt ihnen seinen Pinsel und seine Armut mit großem Gepränge unter die Augen und sagte, er hoffe, mit der Zeit seiner Frau damit eine Kruste Brot und Käse zu erwerben, und bitte diejenigen von ihnen, die (reicher als er selbst) auf irgend etwas Gutes Anspruch machen und ein Bild kaufen könnten, sich gefälligst des armen Malers zu erinnern. Lord Decimus, der ein Wunder auf seinem Parlamentssockel war, manifestierte sich hier als der einfältigste Mensch von der Welt. Er wünschte nämlich der Braut und dem Bräutigam Glück in einer Reihe von Plattheiten, die jedem einfachen Schüler und Gläubigen das Haar hätte zu Berge stehen machen, und er trottelte mit der Selbstgefälligkeit eines dummen Elefanten in heulenden Labyrinthen von Sentenzen umher, die er für Landstraßen hielt, und aus denen er sich nur mit großer Mühe wieder herausfand. Mr. Tite Barnacle fühlte unwillkürlich, daß eine Person in der Gesellschaft sei, die ihn daran gehindert hatte, Sir Thomas Lawrence sein Leben lang in voller Amtstracht zu sitzen, wenn eine solche Störung möglich gewesen wäre. Während Barnacle junior mit Entrüstung zwei schalen jungen Leuten, seinen Verwandten, mitteilte: »Es ist ein Mensch hier, sehen Sie bloß mal an, der kam in unsere Verwaltungsabteilung ohne Vorladung und sagte, er möchte etwas wissen, wissen Sie; ja, und nun sehen Sie bloß mal an, wenn er jetzt loslegen könnte, wie er wollte, nicht wahr (denn man kann nie sagen, was solch ein ungebildeter Radikaler im nächsten Moment tut), und sagte, nicht wahr, er möchte im Augenblick etwas wissen, nicht wahr, das wäre hübsch, nicht wahr?«

Der schönste Teil dieses Festes war für Clennam bei weitem der schmerzlichste. Als Mr. und Mrs. Meagles zuletzt Pet in dem Zimmer mit den beiden Bildern (wo die Gesellschaft nicht war) umarmten, ehe sie sich mit ihr zu der Schwelle hinabbegaben, über die sie nie wieder als die alte Pet und die alte Freude schreiten sollte, konnte nichts natürlicher und einfacher sein, als diese drei Menschen waren. Gowan selbst war gerührt und antwortete auf Mr. Meagles‘: »O Gowan, sorgen Sie für sie, sorgen Sie für sie!« mit großem Ernst: »Grämen Sie sich nicht so sehr, Sir. Beim Himmel, ich werde für sie sorgen!« Mit einigen letzten Seufzern und noch einigen liebevollen Worten und einem letzten Blick auf Clennam, in dem das volle Vertrauen auf sein Versprechen lag, sank Pet in den Wagen zurück. Ihr Gatte winkte mit der Hand, und sie fuhren nach Dover, nicht früher freilich, als bis die getreue Mrs. Tickit in ihrem seidenen Kleid und mit ihren achatschwarzen Locken aus einem Schlupfwinkel hervorgekommen und ihre beiden Schuhe dem Wagen nachgeworfen hatte:17 eine Erscheinung, die großes Aufsehen bei der vornehmen Gesellschaft an den Fenstern erregte.

Da die Anwesenheit der genannten Gesellschaft nun nicht weiter erforderlich war und die ersten Barnacles ziemlich wichtig zu tun hatten (denn sie waren gerade in diesem Augenblick dabei, einen oder zwei Vasallen abzusenden und sie wie der fliegende Holländer in den Meeren umherschießen zu lassen, damit sie möglichst viel Verwirrung anrichteten und sich so für die Hemmung einer Menge wichtiger Geschäfte bemühten, die sonst womöglich erledigt worden wären), stob die Gesellschaft nach verschiedenen Richtungen auseinander, indem sie mit größter Freundlichkeit Mr. und Mrs. Meagles deutlich zu verstehen gab, daß sie das, was sie hier getan, als ein Opfer zum Besten von Mr. und Mrs. Meagles dargebracht hatte. Dies brachten diese Herrschaften denn auch stets Mr. John Bull bei ihrer amtlichen Herablassung zu diesem unglücklichen Geschöpf zum Ausdruck.18

Eine traurige Leere entstand in dem Haus und in den Herzen des Vaters, der Mutter und Clennams. Mr. Meagles rief jedoch eine Erinnerung zu Hilfe, die ihm sehr wohl tat.

»Es ist immerhin sehr angenehm, Arthur«, sagte er, »darauf zurückzublicken.«

»Auf die Vergangenheit?« sagte Clennam.

»Ja – aber ich meine die Gesellschaft.«

Es hätte ihn sonst weit mehr niedergedrückt und unglücklich gemacht, aber nun tat es ihm wirklich wohl. »Es ist sehr angenehm«, sagte er noch oft im Verlauf des Abends diese Bemerkung wiederholend: »Solch hohe Gesellschaft!«

  1. Ein alter Hochzeitsbrauch, der aber nur bei den einfachen Volksklassen noch üblich war.
  2. John Bull: die humoristische Personifikation des englischen Volkes; entsprechend dem deutschen Michel.

Fünfunddreißigstes Kapitel.


Fünfunddreißigstes Kapitel.

Was Mr. Pancks in Klein-Dorrits Hand gelesen hatte.

Es geschah um dieselbe Zeit, daß Mr. Pancks, getreu seinem Vertrag mit Clennam, ihm seine ganze Zigeunergeschichte enthüllte und Klein-Dorrits Geschichte erzählte. Ihr Vater war gesetzlicher Erbe eines großen Vermögens, das lange unbekannt dagelegen hatte, ohne daß jemand einen Anspruch erhoben hätte, und das sich inzwischen bedeutend vergrößert hatte. Sein Recht war jetzt klar; nichts lag im Wege, die Marschallgefängnispforten standen offen, einige Züge seiner Feder, und er war außerordentlich reich.

Bei dem Nachspüren nach den Ansprüchen auf den vollständigen Besitz hatte Mr. Pancks einen Scharfsinn an den Tag gelegt, den nichts aus der Fassung bringen, und eine Verschwiegenheit, die nichts ermüden konnte. »Ich vermutete, Sir«, sagte Pancks, »als Sie und ich in jener Nacht über Smithfield gingen und ich Ihnen sagte, was für eine Art von Einnehmer ich sei, daß das herausspringen würde. Ich dachte, Sir, als ich Ihnen sagte, Sie seien nicht von den Clennams von Cornwall, daß ich Ihnen einmal sagen könnte, wer zu den Dorrits von Dorsetshire gehöre.« Dann ging er zu den Einzelheiten über, wie, nachdem er jenen Namen in sein Notizbuch eingetragen, ihn anfangs der Name allein angezogen habe. Wie er, nachdem er schon oft gefunden, daß zwei ganz gleiche Namen, selbst wenn sie dem gleichen Orte angehören, keine nachweisbare nähere oder fernere Blutsverwandtschaft in sich schlössen. Wie er anfangs auch kein großes Gewicht darauf gelegt, wenn nicht in der Richtung, daß es ihn gereizt habe, zu wissen, welch eine überraschende Wendung in der Lage einer armen Näherin vorgehen würde, wenn man ihr zeigen könnte, daß sie an einem so großen Vermögen Anteil habe. Wie er selbst glaube, daß er die Sache weiter verfolgt, weil etwas Ungewöhnliches an dieser stillen, kleinen Näherin gewesen, das ihm gefiel und seine Neugier reizte. Wie er sich seinen Weg Zoll um Zoll fortgebahnt, und wie er sich Sandkorn um Sandkorn weiter »gemaulwurft« (das sein eigner Ausdruck) habe. Wie er im Anfang der Arbeit, die er durch jenes Wort bezeichnet – und das suchte Mr. Pancks noch ausdrucksvoller dadurch zu machen, daß er dazu die Augen schloß und sein Haar darüber schüttelte – wie er von plötzlichen Lichtblicken und Hoffnung in plötzliche Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit verfallen und wieder umgekehrt und so fort. Wie er im Gefängnisse Bekanntschaften gemacht, ausdrücklich, um aus- und eingehen zu können wie alle andern Aus- und Eingehenden; wie ihm der erste Lichtstrahl unbewußt von Mr. Dorrit und seinem Sohne gegeben worden, mit welchen beiden er leicht bekannt geworden, mit denen er viel gesprochen, scheinbar zufällig (»aber wohlgemerkt, immer wie ein Maulwurf wühlend«, sagte Mr. Pancks), und von denen er, ohne den geringsten Verdacht zu erwecken, zwei bis drei Punkte ihrer Familiengeschichte herausgebracht habe, die ihm, als er einmal den Leitfaden in der Hand hatte, weitere an die Hand gaben. Wie es endlich Mr. Pancks klar geworden, daß er den Erben eines großen Vermögens wirklich entdeckt und daß seine Entdeckung nur zu legaler Form und Vollendung zu reifen brauche. Wie er darauf seinen Wirt, Mr. Rugg, habe schwören lassen, das Geheimnis zu bewahren, und ihn ins Vertrauen gezogen hatte, damit er mit ihm »maulwurfe«. Wie sie John Chivery als einzigen Schreiber und Agenten angenommen, da sie gesehen, wem er ergeben war. Und wie sie bis zu dem Augenblick, wo angesehene Leute, die etwas in der Bank zu sagen haben und im Gesetze erfahren seien, ihre erfolgreichen Arbeiten für beendet erklärt, keinem andern menschlichen Wesen etwas verraten hätten.

»Wenn somit zuletzt noch alles zusammengebrochen wäre, Sir«, schloß Pancks, »wir wollen sagen vorgestern am Tage, ehe ich Ihnen unsre Papiere im Gefängnishof zeigte, oder sogar heute, so würde niemand anders als wir selbst grausam getäuscht oder einen Penny schlimmer daran gewesen sein.«

Clennam, der ihm beinahe beständig die Hände schüttelte, während er seinen Bericht abstattete, fühlte sich dadurch veranlaßt, mit einer Bestürzung, die selbst seine Vorbereitung auf die wichtige Entdeckung nicht mäßigen konnte, zu sagen: »Mein lieber Mr. Pancks, das muß Sie ja eine große Summe Geldes gekostet haben.«

»Allerdings, Sir«, sagte Pancks triumphierend. »Keine Kleinigkeit, obgleich wir es so billig machten, wie es möglich war. Und die Auslage war eine Schwierigkeit, lassen Sie mich Ihnen das sagen.«

»Eine Schwierigkeit?« wiederholte Clennam. »Aber die Schwierigkeiten haben Sie ja so wundervoll bei der ganzen Sache überwunden!« setzte er hinzu und schüttelte ihm wieder die Hand.

»Ich will Ihnen sagen, wie ich’s machte«, sagte der entzückte Pancks, indem er sein Haar so hoch strich, wie er selbst es war. »Zuerst verwandte ich alles, was ich selbst besaß. Das war nicht viel.«

»Das bedaure ich sehr«, sagte Clennam, »obgleich es jetzt nichts zu sagen hat. Was taten Sie dann?«

»Dann«, sagte Pancks, »borgte ich eine Summe von meinem Eigentümer.«

»Von Mr. Casby?« sagte Clennam. »Er ist ein herrlicher alter Mann.«

»Ein edler alter Junge, nicht wahr?« sagte Pancks, indem er eine Reihe trockenster Schnauber vernehmen ließ. »Ein großherziger alter Bock. Ein vertrauensvoller alter Knabe. Ein philantropischer alter Knabe. Ein wohlwollender alter Knabe! Zwanzig Prozent. Ich verpflichtete mich, ihn zu bezahlen, Sir. Wir machen in unserm Hause nie Geschäfte für weniger.«

Arthur hatte das drückende Gefühl, daß er in seinem Entzücken etwas zu voreilig gewesen.

»Ich sagte zu dem von christlicher Liebe übersprudelnden alten Mann«, fuhr Mr. Pancks fort, indem er großen Geschmack an diesem bezeichnenden Beiwort zu finden schien, »ich hätte ein kleines Projekt unter der Hand; ein hoffnungsvolles; ich sagte ihm, ein hoffnungsvolles, das ein kleines Kapital erfordere. Ich schlug ihm vor, mir das Geld auf meine Verschreibung zu leihen, was er auch tat, zu zwanzig Prozent; er hielt fest an den zwanzig Prozent und setzte sie in den Schuldschein, daß es aussah, als wär’s ein Teil von der Hauptsumme. Wenn die Sache mißlungen, wäre ich für die nächsten sieben Jahre sein Ausjäter zu halbem Lohn mit doppelter Arbeit geworden. Aber er ist ein vollkommener Patriarch; und es würde einem Manne gut anstehen, ihm auch unter solchen Bedingungen – ja unter jeder Bedingung zu dienen.«

Arthur hätte um sein Leben nicht mit Zuversicht sagen können, ob Pancks wirklich so dachte oder nicht.

»Als dies verbraucht war, Sir«, fuhr Pancks fort, »und es geschah, obgleich ich es tropfenweise, wie wenn es Blut wäre, ausgab, hatte ich Mr. Rugg ins Vertrauen gezogen. Ich nahm mir vor, von Mr. Rugg zu leihen (oder von Miß Rugg, was das nämliche ist; sie gewann einst etwas Geld durch eine Spekulation, die sie mit einem Prozesse machte). Er lieh zu zehn Prozent und hielt das für sehr hoch. Aber Mr. Rugg ist ein rothaariger Mann, Sir, und läßt sein Haar schneiden. Und der Boden seines Hutes ist hoch. Und die Krempe seines Hutes ist schmal. Und es sprudelt nicht mehr Wohlwollen aus ihm als aus einem Kegel.« »Ihre Belohnung für all das, Mr. Pancks«, sagte Clennam, »müßte sehr groß sein.«

»Ich zweifle auch nicht, daß ich sie erhalten werde«, sagte Pancks. »Ich habe keinen Vertrag gemacht. Ich war Ihnen allerdings einen solchen schuldig; aber jetzt ist der Handel perfekt. Ist die bare Auslage erledigt, der Zeitaufwand vergütet und Mr. Ruggs Rechnung bezahlt, so würden tausend Pfund eine glänzende Belohnung für mich sein. Diese Sache übergebe ich jedoch ganz in Ihre Hände. Ich ermächtige Sie, es der Familie in der Art, die Sie für die beste halten, mitzuteilen. Miß Amy Dorrit wird diesen Morgen bei Mrs. Finching sein. Je früher je besser. Kann nicht zu früh getan werden.«

Dies Gespräch fand in Clennams Schlafzimmer statt; er lag noch im Bett. Denn Mr. Pancks hatte sehr frühzeitig am Haus gepocht und sich Eingang verschafft; und ohne sich einen Augenblick niederzusetzen oder stille zu stehen, sich all seiner Einzelheiten (durch eine Menge von Dokumenten illustriert) vor dem Bett entledigt. Er sagte nun, er wolle »gehen und nach Mr. Rugg sehen«, von dem sein aufgeregtes Gemüt einen zweiten Purzelbaum zu erwarten schien. Nachdem er seine Papiere zusammengebunden und Clennam nochmals herzlich die Hand geschüttelt hatte, ging er in voller Eile die Treppe hinab und dampfte davon.

Clennam natürlich beschloß direkt zu Mr. Casby zu gehen. Er zog sich an und ging so rasch aus, daß er beinahe eine Stunde früher, als sie dahin kam, an der Ecke der patriarchalischen Straße stand; es war ihm dies jedoch nicht unangenehm, da er dadurch Gelegenheit hatte, sich durch einen gemächlichen Gang zu beruhigen.

Als er nach der Straße zurückkam und mit dem schönen Messingklopfer gepocht hatte, erfuhr er, daß sie da sei, und man wies ihn nach Floras Frühstückszimmer die Treppe hinauf. Klein-Dorrit selbst war nicht zugegen, dagegen Flora, die das größte Erstaunen an den Tag legte, ihn zu sehen.

»Mein Gott – Arthur – Doyce und Clennam!« rief die Dame. »Wer hätte je gedacht, daß ich Sie sehen würde; und bitte, entschuldigen Sie meinen Morgenrock, aber wahrhaftig, ich dachte nicht, und eine abgeschossene Jacke dazu, was noch schlimmer; aber unsre kleine Freundin macht mir einen, ich kann das wohl vor Ihnen sagen, denn Sie müssen wissen, daß es dergleichen gibt, einen Leib, und da ich es so arrangiert, daß nach dem Frühstück anprobiert werden sollte, so konnte ich nicht schon so steif angezogen sein.«

»Ich müßte mich entschuldigen«, sagte Arthur, »daß ich so früh und so unerwartet einen Besuch mache; aber Sie werden mich entschuldigen, wenn ich Ihnen die Ursache sage.«

»In jenen Zeiten, die für immer dahin sind, Arthur«, versetzte Mrs. Finching, »bitte entschuldigen Sie, Doyce und Clennam wäre unendlich passender, und obgleich sie unleugbar fern sind, die Entfernung verleiht den Dingen Reiz, ist das mindestens nicht meine Ansicht – wenn sie es wäre, glaube ich, würde viel von der Natur jener Dinge abhängen, aber ich laufe da wieder mit meinen Gedanken davon, und Sie haben mir ja all das aus dem Kopf vertrieben.“

Sie blickte ihn zärtlich an und fuhr fort:

»In Zeiten, die für immer dahin sind, wollte ich sagen, würde es wirklich sehr seltsam für Arthur Clennam geklungen haben – Doyce und Clennam sind natürlich ganz verschieden –, sich wegen irgendeiner Stunde seines Besuches zu entschuldigen, aber das ist vorbei, und was vorbei ist, kann nimmer zurückgerufen werden, ausgenommen in seiner eignen Sache, wie der arme Mr. Finching sagte, wenn er in seiner Gurkenstimmung war; deshalb aß er nie welche.«

Sie machte den Tee, als Arthur eintrat, und beendigte dies Geschäft nun in aller Eile.

»Papa«, sagte sie ganz geheimnisvoll und flüsternd, indem sie den Deckel des Teekessels schloß, »Papa sitzt prosaisch im hintern Zimmer und klopft sich sein frisches Ei über dem Cityartikel auf, genau wie ›der Specht klopft‹, und braucht nicht zu wissen, daß Sie hier sind: und unsre kleine Freundin, wissen Sie wohl, der kann man alles anvertrauen, wenn sie herunterkommt: denn sie schneidet droben auf dem großen Tisch zu.«

Arthur sagte ihr dann in wenigen Worten, daß er gekommen sei, ihre kleine Freundin aufzusuchen, und was er ihrer kleinen Freundin anzukündigen habe. Bei dieser erstaunlichen Mitteilung schlug Flora die Hände zusammen, verfiel in ein Zittern und vergoß Tränen der Teilnahme und Freude, da sie wirklich ein gutmütiges Geschöpf war.

»Um des Himmels willen lassen Sie mich fort»«, sagte Flora, ihre Hände an die Ohren legend und nach der Türe zu gehend, »sonst weiß ich, ich sterbe und schreie laut auf und mache alles schlimmer, und das gute kleine Ding, das noch diesen Morgen so sauber und nett und gut und doch so arm aussah, – nun ist sie wirklich reich, und sie verdient es! Und darf ich es Mr. Finchings Tante sagen, Arthur, nicht Doyce und Clennam dies eine Mal, oder wenn Sie etwas dagegen einzuwenden haben, unter keiner Bedingung.«

Arthur nickte ihr seine bereitwillige Erlaubnis zu, da Flora allen wörtlichen Austausch unmöglich machte. Flora nickte wieder, um zu danken, und eilte aus dem Zimmer.

Klein-Dorrits Schritte waren bereits auf der Treppe, und im nächsten Augenblick stand sie an der Tür. Er mochte tun, was er wollte, um sich zu fassen, er konnte es doch nicht zu dem gewöhnlichen ruhigen Ausdruck bringen, denn als sie ihn erblickte, ließ sie ihre Arbeit sinken und rief: »Mr. Clennam! Was gibt es!«

»Nichts, nichts. Das heißt, es ist kein Unglück geschehen. Ich bin gekommen, um Ihnen eine Mitteilung zu machen. Aber es ist etwas sehr Glückliches.«

»Glückliches?«

»Ein großes Glück.«

Sie standen an dem Fenster, und ihre lichtvollen Augen waren auf sein Gesicht geheftet. Er schlang einen Arm um sie, da er sah, daß sie nahe daran war, umzusinken. Sie legte eine Hand auf diesen Arm, teilweise, um darauf auszuruhen, teilweise, um so ihre gegenseitige Stellung zu bewahren, damit ihr gespannter Blick auf ihn durch keine Veränderung in der Stellung beider zueinander erschüttert werde. Ihre Lippen schienen zu wiederholen: »Ein großes Glück?« Er wiederholte es laut.

»Liebe Klein-Dorrit! Ihr Vater!«

Das Eis des blassen Gesichts brach bei diesem Worte zusammen, und kleine Lichter und Blitze voll Ausdrucks flogen darüber hin. Es waren lauter Ausdrücke des Schmerzes. Ihr Atem ging schwach und rasch. Ihr Herz schlug heftig. Er hätte die kleine Gestalt fester umfaßt, aber er sah, daß die Augen ihn baten, sich nicht zu bewegen.

»Ihr Vater kann in dieser Woche noch frei sein. Er weiß es nicht; wir müssen von hier aus zu ihm gehen, um es ihm zu sagen. Ihr Vater wird in wenigen Tagen frei sein. Ihr Vater wird in wenigen Stunden frei sein. Vergessen Sie nicht, wir müssen von hier aus zu ihm gehen, um es ihm zu sagen.«

Das brachte sie zu sich. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie öffneten sich wieder.

»Das ist nicht alles Glück. Das ist nicht all das große Glück, meine teure Klein-Dorrit. Soll ich Ihnen noch mehr sagen?«

Ihre Lippen bewegten sich zu einem »Ja«.

»Ihr Vater wird kein Bettler sein, wenn er frei ist. Es wird ihm nichts mangeln. Soll ich Ihnen mehr sagen? Vergessen Sie nicht. Er weiß nichts davon, wir müssen von hier aus zu ihm gehen, um es ihm zu sagen.«

Sie schien ihn um etwas Zeit zu bitten. Er hielt sie in seinen Armen und beugte nach einer Pause sein Ohr hinab, um zu lauschen.

»Wollen Sie, daß ich fortfahre?«

»Er wird ein reicher Mann sein. Er ist ein reicher Mann. Eine große Summe Geldes liegt bereit, um ihm als seine Erbschaft ausbezahlt zu werden; Sie sind von nun an alle sehr reich. Bravstes und bestes der Kinder, ich danke dem Himmel, daß er Sie belohnt.«

Als er sie küßte, wandte sie ihren Kopf nach seiner Schulter und erhob ihren Arm nach seinem Hals; dann rief sie laut: »Vater! Vater! Vater!« und sank in Ohnmacht.

In diesem Augenblick kehrte Flora zurück; sie nahm sich ihrer an und hob sie auf ein Sofa, indem sie ihre freundlichen Dienste in so verwirrender Weise mit unzusammenhängenden Gesprächssplittern vermischte, daß niemand mit einigem Sinn für Verantwortlichkeit hätte zu entscheiden wagen können, ob sie das Marschallgefängnis nötigte, einen Löffel voll ungeforderter Dividenden zu nehmen, weil es ihm gut tun würde, oder ob sie Klein-Dorrits Vater gratulierte, daß er in den Besitz von hunderttausend Riechfläschchen komme; oder ob sie erkläre, daß sie fünfundsiebenzigtausend Tropfen Lavendelspiritus auf fünfzigtausend Pfund Stückzucker setze und Klein-Dorrit bitte, dieses sanfte Stärkungsmittel zu nehmen, oder ob sie die Stirn von Doyce und Clennam in Essig bade und dem verstorbenen Mr. Finching mehr Luft gebe. Ein Nebenstrom von Verwirrung kam ferner aus einem anstoßenden Schlafzimmer, wo Mr. Finchings Tante nach dem Ton ihrer Stimme in einer horizontalen Lage das Frühstück zu erwarten schien. Aus diesem Verließ schleuderte diese unerbittliche Dame kurze Schmähungen herein, sooft sie merkte, daß man sie hören konnte, wie: »Glaubt ihm nicht, daß er dies tut!« und »Er braucht keinen Glauben für sich deshalb in Anspruch zu nehmen!« und »Es wird lange genug dauern, denke ich, bis er etwas von seinem Geld hergibt!« – alles in der Absicht, Clennams Anteil an der Entdeckung herunterzusetzen und die eingewurzelten Gefühle, mit denen ihn Mr. Finchings Tante beehrte, auszusprechen.

Aber Klein-Dorrits Wunsch, zu ihrem Vater zu kommen und ihm die freudige Nachricht zu bringen und ihn nicht einen Augenblick länger in seinem Kerker zu lassen, während dies Glück auf ihn wartete und ihm noch unbekannt war, trug mehr zu ihrer raschen Erholung bei, als alle Geschicklichkeit und Wartung auf Erden hätten tun können. »Kommen Sie mit mir zu meinem teuren Vater. Bitte, kommen Sie mit und sagen Sie es meinem teuren Vater!« waren die ersten Worte, die sie sprach. Ihr Vater, ihr Vater. Sie sprach von nichts als von ihm, dachte an nichts als an ihn. Sie kniete nieder und ergoß sich mit aufgehobenen Händen in Dank gegen Gott; sie dankte für ihren Vater.

Floras zartes Herz war ganz angegriffen, und sie ergoß sich mitten unter Tassen und Untertassen in einen herrlichen Strom von Tränen und Reden.

»Ich gestehe«, seufzte sie, »ich war nie so ergriffen, seit Ihre Mama und mein Papa, nicht Doyce und Clennam, nur dies eine Mal, aber geben Sie doch dem köstlichen kleinen Ding eine Tasse Tee und machen Sie, daß sie sie wenigstens an die Lippen setzt, bitte Arthur, nicht mal bei Mr. Finchings letzter Krankheit; denn sie war von ganz anderer Art, und Gicht ist keine Kinderkrankheit, obgleich sehr schmerzlich für alle Teile, und Mr. Finching war ein Märtyrer mit seinem Bein auf einem Schemel; und der Weinhandel an und für sich ist entzündlich; denn man trinkt mehr oder weniger selbst, und wer kann sich wundern, es scheint mir wahrhaftig wie ein Traum diesen Morgen noch an gar nichts zu denken und nun Bergwerke von Gold. Es ist merkwürdig, aber Sie müssen mein Liebling weil Sie nicht stark genug sein werden ihm alles zu sagen, Teelöffel zu nehmen, wäre es nicht am besten die Anweisungen meines Arztes zu befolgen; denn obgleich der Geschmack alles nur nicht angenehm ist, zwinge ich mich doch dazu, weil es mal vorgeschrieben und finde daß es gut tut, Sie haben vielleicht keine Lust, warum nicht meine Liebe, ich möchte auch lieber nicht; aber ich tue es doch, weil’s eine Pflicht ist. Alle Leute werden Ihnen gratulieren, die einen im Ernst, die andern nicht und viele werden Ihnen aus vollem Herzen gratulieren, aber niemand so von ganzer Seele, das darf ich Sie versichern, als ich wenn ich auch fühle, daß ich unbesonnen herausplatze und töricht bin und darnach von Arthur, diesmal nicht Doyce und Clennam beurteilt werde. Leben Sie wohl denn und Gott segne Sie und mögen Sie glücklich sein und entschuldigen Sie meine Freiheit. Ich gelobe Ihnen, das Kleid von niemand anderem fertig machen zu lassen. Es soll, wie es ist, als Andenken aufbewahrt und Klein-Dorrit genannt werden, obgleich ich nie wußte und nun auch nie mehr erfahren werde, woher dieser seltsamste aller Namen kommt.«

So sprach Flora, als sie von ihrem Liebling Abschied nahm. Klein-Dorrit dankte ihr und umarmte sie wieder und wieder; und verließ zuletzt das Haus mit Clennam und nahm einen Wagen nach dem Marschallgefängnis.

Es war eine seltsam, gleichsam träumerische Fahrt durch die alten schmutzigen Straßen. Sie hatte ein Gefühl, über sich hinaus in eine luftige Welt des Reichtums und der Größe gehoben zu sein. Als Arthur ihr sagte, daß sie bald in ihrem eigenen Wagen durch ganz andere Gegenden fahren würde, wo all diese schlimmen Erfahrungen vorüber wären, schien sie bange Furcht zu ergreifen. Als er jedoch ihren Vater an ihre Stelle setzte und ihr sagte, wie er in seinem Wagen fahren und wie groß und stolz er sein würde, da flossen die Tränen der Freude und des unschuldigen Stolzes in Strömen. Als er sah, daß das Glück, das ihr Geist sich vorstellen konnte, alles auf jenen fiel, hielt Arthur ihr diese einzelne Gestalt vor Augen, und sie fuhren strahlend durch die armen Straßen in der Nähe des Gefängnisses, um ihm die wichtige Neuigkeit zu bringen.

Als Mr. Chivery, der heute das Schließeramt hatte, sie in das Pförtnerstübchen einließ, sah er etwas in ihren Gesichtern, das ihn mit Staunen erfüllte. Er blickte ihnen nach, wie sie in das Gefängnis eilten, als ob er sähe, daß jedes von beiden in Begleitung eines Gespenstes zurückgekommen. Zwei oder drei Kollegen, an denen sie vorübergegangen, sahen ihnen ebenfalls nach und bildeten, zu Mr. Chivery tretend, auf der Treppe des Pförtnerstübchens eine Gruppe, unter der von selbst die flüsternde Bemerkung entstand, der Vater werde wohl seine Freiheit erhalten. Nach wenigen Minuten hörte man es in dem entferntesten Winkel des Gefängnisses.

Klein-Dorrit öffnete die Tür von außen, und sie traten ein. Er saß in seinem alten grauen Rock und seiner alten schwarzen Mütze im Sonnenlicht am Fenster und las seine Zeitung. Er hielt die Brille in der Hand und sah sich gerade um. Ohne Zweifel war er anfangs erstaunt, als er ihren Tritt auf der Treppe hörte, da er sie nicht vor Nacht erwartet hatte, und war nun wieder erstaunt, als er Arthur Clennam in ihrer Gesellschaft sah. Als sie eintraten, machte ihn derselbe ungewohnte Blick bei beiden, der schon unten im Hofe Aufsehen erregt, verdutzt. Er stand nicht auf und sprach nicht, sondern legte seine Brille und seine Zeitung auf den Tisch neben sich und sah sie mit offenem Munde und zitternden Lippen an. Als Arthur seine Hand ausstreckte, berührte er sie, aber nicht mit seiner gewöhnlichen Würde; dann wandte er sich nach seiner Tochter um, die sich dicht neben ihn gesetzt und die Hände auf seine Schulter gelegt hatte, während sie ihm aufmerksam ins Gesicht sah.

»Vater! ich bin diesen Morgen so glücklich gemacht worden!«

»Du bist so glücklich gemacht worden, meine Liebe?«

»Durch Mr. Clennam, Vater. Er brachte mir eine so heitere und herrliche Nachricht über dich! Wenn er mich nicht mit seiner großen Freundlichkeit und Güte darauf vorbereitet hätte, Vater – mich darauf vorbereitet, Vater – ich glaube, ich hätte es nicht ertragen.«

Ihre Aufregung war außerordentlich groß, und die Tränen rollten ihr über das Gesicht. Er legte seine Hand plötzlich auf sein Herz und sah Clennam an.

»Beruhigen Sie sich, mein Herr«, sagte Clennam, »und nehmen Sie sich ein wenig Zeit, zu denken. Zu denken an die glänzendsten und glückseligsten Ereignisse des Lebens. Wir haben alle schon von großen freudigen Überraschungen gehört. Es gibt noch immer welche. Sie sind selten, aber es gibt noch immer welche.«

»Mr. Clennam? Es gibt noch immer welche? noch immer welche für –-« Er legte die Hand auf die Brust, statt »mich« zu sagen.

»Ja«, versetzte Clennam.

»Was für eine Überraschung«, fragte er, indem er seine linke Hand auf dem Herzen ruhen ließ und sich unterbrach, während er seine Brille flach auf den Tisch legte: »was für eine Überraschung kann mir vorbehalten sein?«

»Lassen Sie mich mit einer andern Frage antworten. Sagen Sie mir, Mr. Dorrit, welche Überraschung könnte für Sie die unerwartetste und erwünschteste sein? Fürchten Sie nicht, sie sich zu denken oder zu sagen, was es sein könnte.«

Er sah Clennam fest ins Auge und schien, während er ihn so anblickte, sich in einen sehr alten, häßlichen Mann zu verwandeln. Die Sonne schien hell auf die Mauer gegenüber von dem Fenster und auf die Eisenspitzen oben. Er streckte langsam die Hand aus, die auf seinem Herzen geruht, und deutete auf die Mauer.

»Sie sind niedergerissen«, sagte Clennam. »Fort!«

Er blieb in derselben Stellung und sah ihn noch immer unbewegt an.

»Und statt ihrer«, sagte Clennam langsam und deutlich, »sind Ihnen die Mittel geboten, das Höchste zu besitzen und zu genießen, was man so lange Ihnen genommen hatte. Mr. Dorrit, es ist nicht der geringste Zweifel mehr vorhanden, daß Sie in wenigen Tagen frei und unendlich glücklich sein werden. Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen zu diesem Glückswechsel und zu der heitern Zukunft, in die Sie bald den Schatz führen werden, mit dem Sie hier gesegnet waren – den besten aller Reichtümer, die Sie jemals besitzen können – den Schatz an Ihrer Seite.«

Mit diesen Worten drückte er seine Hand und ließ sie los; und seine Tochter, die ihr Gesicht an das seine lehnte, umarmte ihn in dieser Stunde des Glücks, wie sie ihn in den langen Jahren seines Unglücks mit ihrer Liebe, Mühe und Treue umfangen, und ergoß ihr volles Herz in Dankbarkeit, Hoffnung, Freude, glücklicher Begeisterung, und alles für ihn.

»Ich werde ihn sehen, wie ich ihn noch nie gesehen. Ich werde meinen teuren, lieben Vater sehen, wenn keine dunkle Wolke mehr ihn beschattet. Ich werde ihn sehen, wie ihn meine Mutter vor langem gesehen. O mein Lieber, mein Lieber! O Vater, Vater! O Dank dir, Gott, Dank dir, Gott!«

Er gab sich ihren Küssen und Liebkosungen hin, erwiderte sie jedoch nicht, nur seinen Arm schlang er um sie. Auch sagte er kein Wort. Sein fester Blick war nun zwischen ihr und Clennam geteilt, und er begann zu erschauern, als ob er fröre. Arthur sagte Klein-Dorrit, daß er eiligst eine Flasche Wein aus dem Kaffeehaus holen wollte, und tat dies so rasch er konnte. Während der Wein vom Keller heraufgeschafft wurde, fragten ihn eine Anzahl aufgeregter Leute, was geschehen sei, worauf er ihnen in der Eile mitteilte, daß Mr. Dorrit zu Vermögen gekommen.

Als er mit dem Wein wieder zurückkam, fand er, daß sie ihren Vater in seinen Lehnstuhl gebracht und sein Hemd und Halstuch bequemer gemacht. Sie füllten ein Glas mit Wein und hielten es an seine Lippen. Als er etwas geschluckt, nahm er das Glas selbst und leerte es. Bald darauf lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und weinte mit seinem Taschentuch vor dem Gesicht.

Nachdem dies eine Weile gedauert, hielt es Clennam für den rechten Augenblick, seine Aufmerksamkeit von der bloßen Überraschung abzulenken, indem er ihm die Einzelheiten erzählte. Langsam und mit ruhigem Ton setzte er ihm deshalb, so gut er konnte, alles auseinander und verbreitete sich über die Art der Dienste, die Pancks geleistet.

»Er soll – hm – soll schön belohnt werden, Sir«, sagte der Vater aufspringend und rasch im Zimmer auf und ab gehend. »Ich versichere Sie, Mr. Clennam, daß jedermann, der dabei beteiligt ist, – hm – nobel belohnt werden soll. Niemand, mein Herr, soll sagen, daß er einen unbefriedigten Anspruch an mich habe. Ich werde die – hm – die Vorschüsse, die Sie mir gemacht haben, Sir, mit besonderem Vergnügen zurückbezahlen. Ich bitte Sie ferner, sobald es Ihnen bequem ist, mir mitzuteilen, welche Vorschüsse Sie meinem Sohn gemacht.«

Er hatte keine Absicht bei seinem Im-Zimmer-auf-und-ab-Gehen, aber er konnte keinen Augenblick stillstehen.

»Jedermann soll bedacht werden«, sagte er. »Ich will nicht von hier weggehen, solange ich noch in jemandes Schuld stehe. Alle Leute, die sich – hm – gegen mich und meine Familie gut benommen haben, sollen belohnt werden. Chivery soll belohnt werden. Der junge John soll belohnt werden. Ich wünsche ausdrücklich und beabsichtige höchst freigebig zu handeln, Mr. Clennam.«

»Wollen Sie mir erlauben«, sagte Arthur, indem er seine Börse auf den Tisch legte, »Sie für die nächsten Bedürfnisse mit Geld zu versehen, Mr. Dorrit? Ich hielt es für das Beste, Ihnen eine Summe Geldes für diesen Zweck zu bringen.«

»Ich danke Ihnen, Sir, ich danke Ihnen. Ich nehme bereitwillig im gegenwärtigen Augenblick an, was ich noch vor einer Stunde nicht mit gutem Gewissen hätte annehmen können. Ich bin Ihnen für die zeitweilige Aushilfe zu Dank verpflichtet, nur ganz zeitweilig, aber wohl angebracht – wohl angebracht.« Seine Hand hatte sich über dem Geld geschlossen, und er trug es mit sich herum. »Seien Sie so freundlich, Sir, den Betrag zu den früheren Vorschüssen zu schreiben, von denen ich vorhin sprach! und seien Sie gefälligst besorgt, die meinem Sohne gemachten Vorschüsse nicht zu vergessen. Eine einfache mündliche Nachweisung der Totalsumme ist alles, was ich – hm – verlange.«

Sein Blick fiel hierbei auf seine Tochter, und er hielt einen Augenblick inne, um sie zu küssen und ihr über den Kopf zu streichen.

»Es wird nötig sein, eine Putzmacherin aufzusuchen, meine Liebe, und in deinem sehr einfachen Anzug eine rasche und vollständige Änderung eintreten zu lassen. Etwas muß auch mit Maggy geschehen, die im Augenblick – hm – nur leidlich, nur leidlich aussieht. Und deine Schwester, Amy, und dein Bruder. Und mein Bruder, dein Oheim – die arme Seele, ich hoffe, das wird ihn aufraffen – man muß zu ihm schicken und ihn holen lassen. Sie müssen davon unterrichtet werden. Wir müssen es ihnen vorsichtig mitteilen, aber man muß sie sogleich davon unterrichten. Wir sind es ihnen und uns als Pflicht schuldig, von diesem Augenblick sie nichts mehr – hm – nichts mehr tun zu lassen.«

Dies war die erste Andeutung, die er je gegeben hatte, daß er darum wußte, daß sie für den Lebensunterhalt arbeiteten.

Er ging immer noch im Zimmer umher, die Börse fest in der Hand haltend, als ein großes Jubelgeschrei in dem Hofe drunten entstand. »Die Nachricht hat sich bereits verbreitet«, sagte Clennam vom Fenster hinabblickend. »Wollen Sie sich ihnen zeigen, Mr. Dorrit? Sie sind sehr begeistert und wünschen es offenbar.«

»Ich – hm – ha – ich gestehe, ich hätte gewünscht, meine liebe Amy«, sagte er, mit noch größerer Unruhe als zuvor im Zimmer hin und her gehend, »ich hätte gewünscht, vorher mit meiner Kleidung einige Aenderung vornehmen zu können und eine – hm – eine Uhr und Kette zu kaufen. Aber wenn es so geschehen muß, wie die Sachen stehen, – hm – so muß es eben geschehen. Knüpfe mir das Hemd oben zu, meine Liebe. Mr. Clennam, wollen Sie die Güte haben, mir – hm – ein blaues Halstuch zu geben, das Sie in der Schublade neben Ihrem finden werden. Knöpfe meinen Rock über der Brust zusammen, meine Liebe. Er sieht besser aus, – hm – wenn er geknöpft ist.«

Mit seiner zitternden Hand strich er sein Haar in die Höhe und erschien, auf Clennam und seine Tochter gestützt, am Fenster, indem er einen Arm auf beide lehnte. Die Kollegen begrüßten ihn ungemein herzlich, und er warf ihnen mit großer Urbanität und Herablassung Kußhände zu. Als er sich wieder in das Zimmer zurückzog, sagte er: »Die armen Geschöpfe!« in einem Tone voll Mitleid für ihre elende Lage.

Klein-Dorrit war von dem eifrigen Wunsch beseelt, daß er sich niederlegen möchte, um etwas Ruhe und Fassung zu gewinnen. Als Arthur ihr seine Absicht kundgab, daß er gehen wolle, um Pancks zu benachrichtigen, daß er jetzt so bald kommen könne, wie er wolle, um das heitere Geschäft zu Ende zu bringen, bat sie ihn flüsternd zu bleiben, bis ihr Vater ganz ruhig sei. Es bedurfte keiner zweiten Bitte; und sie richtete ihres Vaters Bett her und bat ihn, sich niederzulegen. Die nächste halbe Stunde ließ er sich zu nichts bewegen, sondern ging im Zimmer umher und verhandelte mit sich die Wahrscheinlichkeit für und wider des Marschalls Erlaubnis, daß die ganze Masse der Gefangenen an den Fenstern des Amtsgebäudes, die nach der Straße gingen, sich aufstellen dürfe, um ihn und seine Familie in einem Wagen für immer scheiden zu sehen – was, wie er sagte, seiner Ansicht nach ein großes Schauspiel für sie wäre. Nach und nach begann er jedoch das Haupt zu senken und müde zu werden und legte sich zuletzt auf das Bett.

Sie nahm ihren treuen Platz neben ihm ein und fächelte ihm Luft zu und kühlte seine Stirn; und er schien einzuschlafen (immer mit dem Geld in der Hand), als er sich plötzlich unerwartet aufsetzte und sagte:

»Mr. Clennam, ich bitte um Verzeihung. Soll ich es so verstehen, daß ich – hm – jetzt gleich durch das Pförtnerstübchen gehen und – hm – einen Spaziergang machen dürfte?«

»Ich denke nicht, Mr. Dorrit«, lautete die zögernde Antwort. »Es sind gewisse Formen zu beobachten: und obgleich Ihre Gefangenhaltung hier an und für sich nur noch eine Form ist, so fürchte ich doch, daß es eine Form sei, die noch etwas länger beobachtet werden muß.«

Er vergoß bei diesen Worten wiederum Tränen.

»Nur noch wenige Stunden, Sir«, drängte Clennam freundlich.

»Noch wenige Stunden«, entgegnete er mit plötzlich erwachender Leidenschaftlichkeit. »Sie sprechen sehr leicht von Stunden, Sir! Wie lange glauben Sie, Sir, daß eine Stunde für einen Mann dauert, der nach Luft schmachtet?«

Es war eine letzte Demonstration für diesmal, denn nachdem er noch einige Tränen geweint und sich jammernd beklagt, daß er nicht atmen könne, fiel er nach und nach in Schlummer. Clennam hatte reichliche Beschäftigung für seine Gedanken, als er in dem stillen Zimmer saß und den Vater auf seinem Bett und die Tochter betrachtete, die seinem Gesicht Kühlung zufächelte.

Klein-Dorrit sann gleichfalls nach. Nachdem sie sanft sein graues Haar auf die Seite gestrichen und mit ihren Lippen seine Stirn berührt, sah sie Arthur an, der näher zu ihr herankam und in einem leisen Geflüster den Gegenstand ihrer Gedanken fortsetzte.

»Mr. Clennam, wird er alle Schulden bezahlen können, ehe er von hier weggeht?«

»Ohne Zweifel alle.«

»Alle Schulden, wegen deren er, solange ich lebe und noch länger, hier gefangen sitzt?«

»Ohne Zweifel.«

Es lag etwas wie Ungewißheit und Einwendung in ihrem Blick, etwas, das nichts weniger als Befriedigung war. Er hätte gerne gewußt, was es sei, und sagte:

»Sie freuen sich, daß er es tut?«

»Und Sie?« fragte Klein-Dorrit neugierig.

»Ob ich? Gewiß von Herzen freut es mich!«

»Dann weiß ich, daß es auch mich freuen darf.«

»Freut es Sie nicht?«

»Es erscheint mir hart«, sagte Klein-Dorrit, »daß er so viele Jahre verloren und so viel gelitten und zuletzt doch alle Schulden bezahlen soll. Es erscheint mir hart, daß er mit seinem Leben und seinem Geld bezahlen soll.«

»Mein liebes Kind« – begann Clennam.

»Ja, ich weiß, ich habe unrecht«, verteidigte sie sich ängstlich, »denken Sie nichts Schlechtes von mir. Es ist hier mit mir aufgewachsen.«

Das Gefängnis, das einem so manches rauben kann, hatte Dorrits Gemüt nicht weiter befleckt. Nachdem einmal Verwirrung in die Teilnahme für ihren Vater, den armen Gefangenen, eingetreten, war dies der erste Fleck der Gefängnisatmosphäre, den Clennam je an ihr gesehen hatte, und war der letzte Fleck, den Clennam je an ihr sah.

Er dachte dies und unterließ es, ein weiteres Wort zu sagen. Mit diesem Gedanken traten ihre Reinheit und Güte vor ihm in das hellste Licht. Der kleine Fleck machte sie noch schöner.

Erschöpft durch ihre eignen Gemütsbewegungen und den Einfluß der Stille des Zimmers, ermattete ihre Hand nach und nach, und das Fächeln hörte auf; ihr Kopf sank auf das Pfühl an ihres Vaters Seite nieder. Clennam stand langsam auf, öffnete und schloß die Tür ohne Geräusch und verließ das Gefängnis, indem er das Gefühl der Stille in die geräuschvollen Straßen mit sich hinausnahm.

Sechsunddreißigstes Kapitel.


Sechsunddreißigstes Kapitel.

Das Marschallgefängnis wird verwaist.

Der Tag rückte heran, an dem Mr. Dorrit und seine Familie das Gefängnis für immer verlassen und die Steine seines vielbetretenen Pflasters sie nicht mehr kennen sollten. Die Zwischenzeit war von kurzer Dauer, aber er beklagte sich lebhaft über ihre Länge und ließ sich sehr hochfahrend gegen Mr. Rugg wegen der Verzögerung vernehmen. Er war überhaupt sehr stolz gegen Mr. Rugg und hatte ihm gedroht, jemanden anders mit seinen Sachen zu beauftragen. Er hatte Mr. Rugg aufgefordert, sich nichts auf den Ort hin, an dem er ihn finde, herauszunehmen, sondern seine Pflicht zu tun und sie pünktlich zu tun. Er hatte Mr. Rugg gesagt, daß er wisse, was für Leute Anwälte und Agenten seien, und daß er sich keiner Täuschung fügen werde. Als dieser Herr ihm demütig vorhielt, er strenge sich außerordentlich an, war Miß Fanny sehr kurz gegen ihn, indem sie zu wissen wünschte, was er weniger tun könnte, da man ihm doch schon ein dutzendmal gesagt, daß Geld kein Gegenstand sei, und vor ihm die Vermutung aussprach, daß er vergesse, mit wem er rede.

Gegen den Marschall, der bereits seit vielen Jahren das Amt eines Marschalls verwaltete, und mit dem er nie zuvor ein Zerwürfnis gehabt, benahm er sich sehr hart. Dieser Beamte bot ihm, als er persönlich seine Glückwünsche darbrachte, die freie Benutzung von zwei Zimmern in seinem Hause bis zu seinem Weggang an. Mr. Dorrit dankte ihm für den Augenblick und antwortete, er wolle sich die Sache überlegen; aber der Marschall war kaum fort, als er sich niedersetzte und ihm einen unfreundlichen Brief schrieb, in dem er ihm bemerkte, daß er nie und bei keiner frühern Gelegenheit die Ehre gehabt, seine Glückwünsche zu empfangen (was allerdings wahr war, obgleich auch wirklich keine besondere Gelegenheit vorhanden gewesen, bei der man ihm hätte gratulieren können), und daß er deshalb sich erlaube, für sich und seine Familie das Anerbieten des Marschalls mit all dem Dank auszuschlagen, den sein uneigennütziger Charakter und seine vollkommene Unabhängigkeit von allen weltlichen Rücksichten fordere.

Obgleich sein Bruder einen so dunklen Schimmer von Interesse an ihren veränderten Glücksumständen zeigte, daß es sehr zweifelhaft war, ob er sie überhaupt begreife, ließ ihm doch Mr. Dorrit für einen neuen Anzug das Maß von den Schnitthändlern, Schneidern, Hutmachern und Schuhmachern nehmen, die er für sich selbst hatte kommen lassen, und befahl, daß man ihm seine alten Kleider wegnehme und verbrenne. Miß Fanny und Mr. Tip brauchten keinen Wink, um sich den feinsten und elegantesten Anzug zuzulegen, und diese drei brachten die Zwischenzeit in dem besten Hotel der Nachbarschaft zu – obgleich das Beste, wie Miß Fanny sagte, kaum gut genug war. In Verbindung mit dieser Wahl einer Wohnung mietete Mr. Tip eine Equipage, nebst Pferd und Groom, ein sehr hübsches Ding, das man zu Zeiten zwei bis drei Stunden lang die Borough Hill Street, Außenseite des Marschallgefängnishofes, beehren sah. Ein bescheidener, kleiner, gemieteter Wagen mit zwei Pferden war gleichfalls häufig dort zu sehen; beim Aussteigen und Einsteigen in dieses Gefährt ärgerte Miß Fanny die Töchter des Marschalls durch Entfaltung eines unerhörten Kleiderluxus.

Eine große Menge von Geschäften wurde in dieser kurzen Periode abgemacht. Unter anderen Items wurden die HH. Peddle und Pool, Sachwalter im Monument Yard, durch ihren Klienten Edward Dorrit, Esquire, instruiert, einen Brief an Mr. Arthur Clennam mit der Summe von vierundzwanzig Pfund, neun Schillingen und acht Pence zu richten, dem Betrag des Darlehens und der Interessen von fünf Prozent pro Jahr, den ihr Klient Mr. Clennam schuldig zu sein glaubte. Bei dieser Mitteilung und Rückzahlung wurden die HH. Peddle und Pool ferner durch ihren Klienten beauftragt, Mr. Clennam zu erinnern, daß dieses gütige Darlehen, das jetzt (mit Einschluß des Schließergeldes) zurückbezahlt sei, nicht von ihm verlangt worden war, und ihm mitzuteilen, daß es auch nicht angenommen worden wäre, wenn man es ihm offen in seinem Namen angeboten hätte. Womit sie einen gestempelten Empfangschein verlangten und seine ergebenen Diener verblieben. Eine große Menge Geschäfte mußten ebenfalls in dem nun bald verwaisten Marschallgefängnis von Mr. Dorrit besorgt werden, der so lange sein Vater gewesen, und zwar hauptsächlich Gesuche, die einzelne Kollegen wegen kleiner Summen an ihn richteten. Diesen entsprach er mit der größten Liberalität und ließ es nie an Formalitäten fehlen; indem er immer zuerst schriftlich eine Zeit bestimmte, wo sie ihn in seinem Zimmer erwarten sollten, und sie dann inmitten eines großen Haufens von Dokumenten empfing und seine Schenkung (denn er sagte in jedem solchen Fall, »es ist eine Schenkung, kein Darlehen«) mit vielem guten Rat begleitete, daß er, der scheidende Vater des Marschallgefängnisses, hoffe, man werde seiner noch lange als eines Beispiels gedenken, daß ein Mann seine eigne und die allgemeine Achtung auch hier sich noch erhalten könne.

Die Kollegen waren nicht neidisch. Abgesehen von ihrer persönlichen und traditionellen Achtung vor einem Kollegen, der so lange schon im Gefängnis war, brachte das Ereignis dem Kollegium Kredit und machte viel in den Zeitungen von ihm sprechen. Vielleicht dachten auch mehrere von ihnen, ohne daß sie sich dessen wirklich bewußt waren, daß dies bei der Lotterie der Zufälle ihnen ebensogut hätte begegnen können, oder daß ihnen noch etwas der Art eines Tages passieren könnte. Sie nahmen es sehr gut auf. Nur wenige machte der Gedanke, zurückgelassen, oder arm zurückgelassen zu werden, niedergeschlagen; aber auch diese sahen den glänzenden Glückswechsel der Familie nicht mit mißgünstigen Augen an. Es wäre an vornehmen Orten sicher weit mehr Neid gewesen. Es dünkt uns wahrscheinlich, daß mittelmäßiges Vermögen weit weniger geneigt gewesen, großmütig zu sein als die Kollegen, die von der Hand in den Mund – von des Pfänderleihers Hand zum täglichen Essen – lebten.

Sie setzten eine Adresse an ihn auf, die sie ihm in hübschem Glas und Rahmen präsentierten (doch wurde sie später nicht im Familienhause aufgehängt oder unter den Familienpapieren aufbewahrt ); er erließ aber eine gnädige Antwort darauf. In diesem Dokument versicherte er sie in echt königlicher Weise, daß er den Ausdruck ihrer Anhänglichkeit mit der vollen Gewißheit der Aufrichtigkeit entgegennehme, und ermahnte wiederum alle, seinem Beispiel zu folgen – welches sie, insoweit wenigstens, als es die Erlangung eines großen Vermögens betraf, sicherlich mit Freuden nachgeahmt hätten. Er ergriff zu gleicher Zeit diese Gelegenheit, sie zu einem alle umfassenden Gastmahl einzuladen, das dem ganzen Kollegium im Gefängnishofe gegeben werden sollte, und bei dem er, wie er andeutete, die Ehre haben werde, ein Abschiedsglas auf die Gesundheit und das Glück all derer zu trinken, die er zurückzulassen im Begriff stünde.

Er aß nicht in Person bei diesem öffentlichen Gastmahl mit (es fand um zwei Uhr nachmittags statt, und seine Diners kamen nun um sechs Uhr aus dem Hotel), aber sein Sohn hatte die Güte, den obersten Platz an der Haupttafel einzunehmen und sehr leutselig und liebenswürdig zu sein. Er selbst ging unter der Gesellschaft umher, unterhielt sich mit den einzelnen und sah, ob die Gerichte von der Art waren, wie er sie befohlen, und daß alle bedient würden. Im ganzen nahm er sich wie ein Baron aus der alten Zeit aus, der in selten guter Stimmung war. Am Schluß des Mahles tat er seinen Gästen mit einem vollen Glase alten Madeiras Bescheid und sagte, er hoffe, sie seien vergnügt gewesen, und was mehr, sie würden sich auch noch den übrigen Teil des Abends gut unterhalten; daß er ihnen alles Gute wünsche und ihnen herzlich Lebewohl sage. Als seine Gesundheit unter lautem Jubel getrunken wurde, war er nicht so sehr Baron, daß er nicht, als er versuchen wollte, seinen Dank auszusprechen, wie ein bloßer Knecht mit einem Herzen in seiner Brust zusammengebrochen wäre und vor ihnen allen geweint hätte. Nach diesem großen Erfolg, den er für eine Niederlage hielt, ließ er »Mr. Chivery und seine Amtsbrüder« leben, von denen er zuvor jedem zehn Pfund geschenkt, und die alle zugegen waren. Mr. Chivery antwortete auf den Toast, indem er sagte: »Was du einsperren willst, das sperre ein; aber erinnere dich, daß du nach den Worten des gefesselten Afrikaners Mensch und Bruder bist.« Nachdem die Reihe der Toaste vorüber war, hatte Mr. Dorrit die Artigkeit, eine Partie Kegel mit dem Kollegen zu machen, der der nächstälteste Bewohner des Gefängnisses nach ihm war, und überließ seine Vasallen ihren Belustigungen.

All diese Vorkommnisse gingen jedoch dem letzten Tag voraus. Nun kam der Tag, wo seine Familie das Gefängnis für immer verlassen und die Steine seines vielbetretenen Pflasters sie nicht mehr kennen sollten.

Mittag war die für das Scheiden bestimmte Stunde. Als sie heranrückte, war kein Kollege mehr innerhalb der Türen, kein Schließer abwesend. Diese letztere Klasse der Herren erschien in ihren Sonntagskleidern, und der größere Teil der Kollegen war so guter Laune, als die Umstände es erlaubten. Auch zwei bis drei Fahnen wurden entfaltet und die Kinder mit allen Arten von Bändern behängt. Mr. Dorrit selbst bewahrte bei dieser wichtigen Gelegenheit eine ernste, aber anmutsvolle Würde. Viele Aufmerksamkeit widmete er dem Bruder, wegen dessen Benehmen bei der großen Feierlichkeit er etwas besorgt war.

»Mein lieber Frederick«, sagte er, »wenn du mir deinen Arm geben willst, so werden wir zusammen durch die Reihe unserer Freunde schreiten. Ich denke, es ist das richtige, wenn wir Arm in Arm von hier weggehen, mein lieber Frederick.«

»Hah!« sagte Frederick. »Ja, ja, ja, ja.«

»Und wenn, mein lieber Frederick, – wenn du, ohne dir großen Zwang anzulegen (bitte, entschuldige mich, Frederick), etwas Schliff in dein gewöhnliches Benehmen bringen könntest –«

»William, William«, sagte der andere, seinen Kopf schüttelnd, »das ist deine Sache, all das zu tun. Ich weiß nicht, wie das machen. Alles vergessen, vergessen!«

»Aber, mein lieber Junge«, entgegnete William, »gerade aus diesem Grunde, rein aus keinem andern, mußt du wirklich versuchen, dich etwas aufzuraffen. Was du vergessen hast, mußt du wieder in dein Gedächtnis zurückzurufen beginnen, mein lieber Frederick. Deine Stellung –-«

»Hm?« sagte Frederick.

»Deine Stellung, mein lieber Frederick.«

»Meine?« Er sah zuerst sich und dann seinen Bruder an, worauf er tief Atem holend ausrief: »Ha, allerdings. Ja, ja, ja!«

»Deine Stellung, mein lieber Frederick, ist jetzt eine sehr vornehme. Deine Stellung, als mein Bruder, ist jetzt eine sehr vornehme. Und ich weiß, daß es in deiner gewissenhaften Natur liegt, den Versuch zu machen, derselben würdig zu werden und zu streben, mein lieber Frederick, ihr Ehre zu machen. Ihr nicht Unehre, sondern Ehre zu machen.«

»William«, sagte der andere weich und mit einem Seufzer, »ich will alles tun, was du wünschest, vorausgesetzt, daß es in meiner Macht liegt. Bitte, erinnere dich aber daran, daß meine Macht sehr beschränkt ist. Was wünschest du, mein Bruder, daß ich heute tun soll? Sage, was du willst, sage nur, was du willst.«

»Mein liebster Frederick, nichts. Es ist nicht der Mühe wert, ein so gutes Herz wie das deine zu quälen.«

»Bitte, quäle es«, versetzte der andere. »Es ist mir keine Qual, William, wenn ich etwas für dich tun kann.«

William fuhr mit der Hand über die Augen und murmelte mit erhabener Befriedigung: »Gott segne deine Anhänglichkeit, mein armer, lieber Junge!« Dann sagte er laut: »Nun, mein lieber Frederick, wenn du nur versuchen wolltest, wenn wir weggehen, zu zeigen, daß du die Bedeutung des Augenblicks lebhaft fühlst – daß du darüber etwas denkst –-«

»Was rätst du mir zu denken?« versetzte sein unterwürfiger Bruder.

»Oh, mein lieber Frederick, wie kann ich dir antworten? Ich kann dir nur sagen, was ich selbst denke, wenn ich diese guten Leute verlasse.«

»Das ist’s!« rief sein Bruder. »Das wird mir helfen.«

»Ich finde, daß ich, mein lieber Frederick, mit gemischten Gefühlen, in denen ein sanftes Mitleid vorherrscht, denke: Was werden sie ohne mich anfangen?«

»Wahr«, versetzte sein Bruder, »ja, ja, ja, ja. Ich werde das denken, wenn wir weggehen. Was werden sie ohne meinen Bruder anfangen? Die armen Menschen! Was werden sie ohne ihn tun?«

Es hatte soeben zwölf geschlagen; und da man meldete, daß der Wagen im äußern Hof warte, stiegen die Brüder Arm in Arm die Treppe herab. Edward Dorrit, Esquire, (ehedem Tip) und seine Schwester Fanny folgten, gleichfalls Arm in Arm; Mr. Plornish und Maggy, denen die Wegschaffung der Familiensachen anvertraut war, die des Wegschaffens wert erachtet wurden, folgten mit Bündeln und Paketen, die in einen neuen Wagen gepackt werden sollten. Im Hof waren die Kollegen und Schließer. Im Hof waren Mr. Pancks und Mr. Rugg, die gekommen waren, um die letzte Hand an ihr Werk legen zu helfen. Im Hof war der junge John, der eine neue Grabschrift auf sein Sterben an gebrochenem Herzen machte. Im Hof war der patriarchalische Casby, der so entsetzlich wohlwollend aussah, daß viele enthusiastische Kollegen begeistert seine Hand faßten und die Frauen und weiblichen Verwandten manches andern Kollegen seine Hand küßten, fest überzeugt, daß er das alles getan hätte. Im Hof war der gewöhnliche Chor von Leuten, wie sie an solchen Orten zu sein pflegen. Im Hof war der Mann mit dem Schatten von Schmerz wegen des Fonds, den der Marschall unterschlagen hatte; er war morgens um fünf aufgestanden, um die Kopie einer vollständig unverständlichen Geschichte dieses Handels zu vollenden, die er Mr. Dorrit als ein Dokument von der äußersten Wichtigkeit übergab, das darauf berechnet war, die Regierung in Staunen zu setzen und des Marschalls Sturz herbeizuführen. Im Hof war der Insolvente, dessen äußerste Energie immer darauf bedacht war, Schulden zu kontrahieren, der mit ebensoviel Mühe ins Gefängnis hineinbrach, wie andere hinausgebrochen sind, und der immer freigelassen und bekomplimentiert wurde; während der Insolvente zu seiner Seite – ein sehr kleiner, lumpiger, strebsamer Handelsmann, halbtot vor ängstlicher Besorgnis, schuldenfrei zu bleiben, – wirklich große Mühe hatte, einen Vermittler zu finden, der ihn mit großen Vorwürfen und Zurechtweisungen frei machte. Im Hof war der Mann mit den zahlreichen Kindern und Lasten, dessen Bankerott jedermann wunderte; im Hof war der Mann, mit keinen Kindern und großen Hilfsquellen, dessen Bankerott niemand wunderte. Ferner zugegen waren die Leute, die immer schon morgen hinausgingen und es immer aufschoben; ferner die Leute, die gestern gekommen und weit eifersüchtiger und empfindlicher über diese Laune des Schicksals waren als die zahmen Vögel. Ferner solche, die aus bloßer niedriger Gesinnung sich bückten und beugten vor dem reichgewordenen Kollegen; noch andere, die dies taten, weil ihre Augen, an die Dunkelheit des Gefängnisses oder der Armut gewöhnt, das Licht solch hellen Sonnenscheins nicht ertragen konnten. Es waren manche da, deren Schillinge in seine Tasche geflossen, um ihm Speise und Trank zu kaufen; aber keine, die jetzt auf Grund dieser Unterstützung in aufdringlicher Weise den vertrauten Kameraden mit ihm spielten. Man konnte eher bemerken, daß die gefangenen Vögel etwas scheu vor dem Vogel waren, der nun so großartig frei werden sollte, und daß sie das Streben hatten, sich etwas nach dem Gitter zurückzuziehen und etwas unruhig zu sein, als er vorüberkam.

Durch diese Reihe von Zuschauern bewegte sich die kleine Prozession, an deren Spitze die beiden Brüder gingen, langsam nach dem Tor zu. Mr. Dorrit, den der große Gedanke bewegte, was die armen Geschöpfe ohne ihn anfangen sollten, war ernst und traurig, aber nicht davon völlig überwältigt. Er fand noch Gedanken dazu, die Köpfe der Kinder zu streicheln, wie Sir Roger de Coverley bei seinem Kirchgang; er redete die Leute im Hintergrund bei ihrem Taufnamen an, er benahm sich gegen alle Anwesenden äußerst herablassend und schien zu ihrem Trost bei seinem Gang von dem Spruch in goldenen Buchstaben umgeben zu sein: »Sei getrost, mein Volk! Ertrag es!«

Zuletzt kündigten drei kräftige Jubelrufe an, daß er das Tor passiert habe und daß das Marschallgefängnis verwaist sei. Ehe das Echo in den Mauern des Gefängnisses verhallt war, hatte die Familie ihren Wagen bestiegen und der Diener den Tritt in der Hand.

Dann und nicht früher rief Miß Fanny plötzlich: »Gott im Himmel! Wo ist Amy?«

Ihr Vater hatte geglaubt, sie sei bei ihrer Schwester. Ihre Schwester hatte geglaubt, sie sei irgendwo. Sie hatten alle erwartet, wie es immer der Fall gewesen, sie im rechten Moment am rechten Platz zu finden. Dies Weggehen war wirklich die erste Handlung in ihrem gemeinsamen Leben, die sie ohne sie vollbracht hatten.

Eine Minute mochte in der Vergewisserung dieser Angelegenheit verflossen sein, als Miß Fanny, die von ihrem Sitz im Wagen den langen engen Weg überschaute, der nach dem Pförtnerstübchen führte, entrüstet errötete.

»Nein, das muß ich sagen. Papa«, rief sie, »das ist schändlich!«

»Was ist schändlich, Fanny?«

»Ich sage«, wiederholte sie, »es ist wahrhaft niederträchtig! Wahrhaftig so entehrend, daß man selbst in einem Augenblick wie diesem wünschen möchte, man wäre tot! Da ist dieses Kind, diese Amy, in ihrem häßlichen und abgeschabten Anzug, wegen dessen sie so eigensinnig war, Papa, und den ich sie zu ändern unermüdlich im Bitten und Flehen war, wogegen sie Einwürfe zu machen gleichfalls unermüdlich war, den sie jedoch heute zu ändern versprach, indem sie sagte, sie wünsche ihn nur so lange noch zu tragen, als sie hier mit dir verweile – ein absolut romantischer Unsinn der geringsten Art – hier ist dieses Kind Amy, das uns bis zum letzten Moment und im letzten Moment Unehre macht, indem sie sich in diesem Anzug heraustragen läßt. Und dieser Mr. Clennam dazu!«

Das Vergehen erwies sich als richtig, sobald sie die Anklage ausgesprochen. Clennam erschien an dem Wagenschlag, die kleine bewußtlose Gestalt in seinen Armen tragend.

»Sie wurde vergessen«, sagte er in dem Ton des Mitleids, der nicht frei von Vorwurf war. »Ich eilte nach ihrem Zimmer hinauf (das Mr. Chivery mir zeigte) und fand die Tür offen und das arme Kind auf dem Boden in einer Ohnmacht liegen. Sie schien weggegangen zu sein, um ihr Kleid zu wechseln, und war, überwältigt von den Eindrücken, zusammengebrochen. Es mag der Jubel gewesen oder auch schon früher geschehen sein. Nehmen Sie die arme kalte Hand in acht, Miß Dorrit. Lassen Sie sie nicht fallen!«

»Danke Ihnen, Sir«, erwiderte Miß Dorrit in Tränen ausbrechend. »Ich glaube, ich weiß, was ich zu tun habe, wenn Sie mir’s erlauben wollen. Liebe Amy, öffne deine Augen, liebes Kind! O Amy, Amy, ich bin wirklich so ärgerlich und beschämt. Ermanne dich, mein Liebling! Oh, warum fahren Sie nicht fort! Bitte, Papa, fahre fort!«

Der Diener trat mit einem schroffen: »Mit Ihrer Erlaubnis!« zwischen Clennam und den Wagenschlag, legte den Tritt zusammen, und sie fuhren fort.

Drittes Kapitel.


Drittes Kapitel.

Zu Hause.

Es war ein düsterer, stiller und öder Sonntagabend in London. Tollmachende Kirchenglocken von allen Graden des Mißklangs, schneidend und klar, dumpf und hell, schnell und langsam, weckten häßliche Echos aus Ziegel und Mörtel. Melancholische Straßen, im Büßergewand von Ruß, versetzten die Seele der Leute, die verdammt waren, aus ihren Fenstern auf sie herabzusehen, in die traurigste Niedergeschlagenheit. In jeder Durchfahrt, beinahe in jedem Gäßchen und fast an jeder Ecke hörte man eine klägliche Glocke schlagen, läuten, wimmern, als ob die Pest in der Stadt wäre und die Totenwagen die Runde machten. Alles war verriegelt und verschlossen, was nur entfernte Möglichkeit bieten konnte, 34 ein von der Arbeit müdes Volk zu zerstreuen. Keine Bilder, keine seltenen Tiere, keine seltenen Pflanzen oder Blumen, keine natürlichen oder künstlichen Wunder der Alten Welt – alles war durch die Strenggläubigkeit für tabu4 erklärt, daß die häßlichen Götter der Südsee im Britischen Museum sich nach Hause versetzt glauben konnten. Nichts war zu sehen als Straßen und Straßen und wiederum Straßen. Nichts zu atmen als Straßen und Straßen und wiederum Straßen. Nichts, um das gedrückte Gemüt zu zerstreuen oder zu erheitern. Nichts blieb dem müden Arbeiter, als die Monotonie des siebenten Tages mit der Monotonie seiner sechs Tage zu vergleichen, darüber nachzudenken, wie langweilig sein Leben, und je nach der Wahrscheinlichkeit sich die beste oder schlimmste Seite desselben herauszukehren.5

Zu dieser so glücklichen und für die Interessen der Religion und Moral so günstigen Stunde saß Mr. Arthur Clennam, soeben von Marseille mit dem Doverer Wagen, dem »blauäugigen Mädchen«,6 angekommen, an dem Fenster eines Kaffeehauses in Ludgate Hill. Zehntausend gewissenbelastete Häuser umgaben ihn, so finster auf die Straßen blickend, zu denen sie gehören, als ob jedes von den zehn Jünglingen aus der Geschichte vom Calander bewohnt wäre, die jede Nacht ihre Gesichter schwarz machten und ihr Schicksal bejammerten. Fünfzigtausend Höhlen umgaben ihn, so ungesunde Wohnungen für Menschen, daß reines Wasser, das man Sonnabendabend in ihre überfüllten Zimmer stellte, bis zum Sonntagmorgen abgestanden war: obgleich Mylord, das Mitglied für ihre Grafschaft, erstaunt war, daß sie nicht das Fleisch vom Metzger über Nacht in dasselbe Zimmer legten, in dem sie schliefen. Meiler von tiefen Brunnen und Fallgruben von Häusern, in denen die Bewohner nach Luft schnappten, streckten sich weit hinaus nach allen Richtungen des Kompasses. Durch das Herz der Stadt ebbte und flutete eine pestaushauchende Kloake statt eines schönen, erfrischenden Stromes. Welches weltliche Bedürfnis konnte diese Million oder mehr Menschen haben, deren tägliche Arbeit – sechs Tage die Woche – inmitten dieser arkadischen Umgebung verrichtet werden mußte, aus deren süßer Einförmigkeit zwischen Wiege und Grab kein Entrinnen war, – welch weltliches Bedürfnis konnten sie am siebenten Tage haben? Natürlich brauchten sie nichts als einen strengen Polizeidiener.

Mr. Arthur Clennam saß am Fenster des Kaffeehauses in Ludgate Hill, zählte die Schläge einer der nahen Glocken, machte unwillkürlich Sentenzen und Refrains daraus und dachte daran, wie vielen kranken Leuten sie wohl im Laufe eines Jahres den Tod verkünde. Als die Stunde zu Ende ging, wurde ihr Takt immer rascher.

Beim dritten Viertel kam sie in eine Stimmung ungemein lebhaften Ungestüms und mahnte das Volk in geläufiger Rede: »Kom–mt zur Kirche, kom–mt zur Kirche, kom–mt!« Binnen zehn Minuten wurde sie gewahr, daß die Gemeinde sich spärlich versammelte und hämmerte langsamer mit niedergeschlagenem Tone: »Sie wollen nicht kommen, sie wollen nicht kommen, sie wollen nicht kommen!« Bei den letzten fünf Minuten verzichtete sie auf die letzte Hoffnung und erschütterte jedes Haus in der Nachbarschaft dreihundert Sekunden lang mit einem furchtbaren Schlage jede Sekunde, der wie das Gestöhn eines Verzweifelnden klang.

»Gott sei Dank!« sagte Mr. Clennam, als die Uhr schlug und die Glocke innehielt.

Aber ihr Klang hatte eine lange Reihe langweiliger Sonntage in die Erinnerung gerufen, und die Prozession wollte nicht enden, wie die Glocke, sondern setzte ihren Weg fort. »Der Himmel möge mir vergeben«, sagte er, »und denen, die mich erzogen haben. Wie ich diesen Tag von je gehaßt!«

Er gedachte des traurigen Sonntags seiner Kindheit, wo er die Hände gefaltet dasaß, geschreckt durch ein gräßliches Traktätchen, das damit anfing, daß es gleich auf dem Titel den armen Knaben fragte: warum er in die Verdammnis gehe? – eine Neugierde, die der Knabe im Kinderröckchen und Höschen zu befriedigen außerstande war, – und das zur weiteren Erbauung des kindlichen Sinnes auf jeder zweiten Linie einen Spruch oder einen Hinweis hatte, an dem man sich verschlucken konnte, wie z.B. Thessaloniker Kap. III. V. 6 und 7.7 Er gedachte des schläfrigen Sonntags seiner Knabenjahre, wo er wie ein Sträfling durch den Lehrer dreimal des Tages, moralisch an einen andern Knaben gefesselt, nach der Kirche geführt wurde; und wo er bereitwillig zwei Platten unverdaulicher Predigt gegen einige Lote mittelmäßigen Hammelfleisches für sein dürftiges Mittagmahl im Fleische vertauscht. Er dachte des endlosen Sonntags seiner unmündigen Jahre, wo seine streng aussehende und hartherzige Mutter den ganzen Tag hinter der Bibel saß, die, wie ihre eigene Auslegung derselben, die härteste, kahlste und steifste Hülse hatte und nur einen Zierat auf dem Deckel besaß, der wie eine Kette aussah, und einen häßlich rotgesprenkelten Schnitt, als ob es vor allen Büchern ein Bollwerk gegen Weichheit des Gemüts, natürliche Zuneigung und freundlichen Verkehr des Menschen wäre. Er gedachte des nicht zu verschmerzenden Sonntags der späteren Jahre, wo er düster und mißvergnügt dem langsam verrinnenden Tag mit einem bittern Gefühl roher Kränkung im Herzen und mit nicht mehr Kenntnis von der heilverkündenden Geschichte des Neuen Testaments, als wenn er unter Götzendienern aufgewachsen, ins Antlitz schaute. Er gedachte einer Legion von Sonntagen, lauter Tage unnützer Bitterkeit und Kreuzigung, die langsam an seinem Blicke vorüberzogen.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte ein flinker Kellner, indem er den Tisch abrieb. »Wünschen Sie Schlafzimmer zu sehen?«

»Ja. Ich dachte eben daran.«

»Stubenmädchen!« rief der Kellner. »Der Herr von Numero 7 wünscht Zimmer zu sehen.«

»Halt!« sagte Clennam, indem er aufstand. »Ich habe nicht bedacht, was ich sagte; ich antwortete ganz mechanisch. Ich werde nicht hier wohnen. Ich gehe nach Hause.«

»So? Stubenmädchen, der Herr von Numero 7 schläft nicht hier, er geht nach Hause.«

Er saß immer noch am selben Platz, als der Tag zur Neige ging, sah nach den finstern Häusern drüben und dachte, wenn die körperlosen Geister der früheren Bewohner noch etwas von jenen wüßten, müßten sie sich doch wegen ihrer ehemaligen Kerker bemitleiden. Bisweilen erschien ein Gesicht hinter der trüben Scheibe eines Fensters und verging wieder in der Dunkelheit, als ob es genug vom Leben gesehen und daraus verschwunden wäre. Nun begann der Regen in schrägen Linien zwischen ihm und den Häusern zu fallen, und die Leute sammelten sich unter dem Schutzdach des gegenüberliegenden Durchgangs und sahen hoffnungslos zum Himmel hinauf, als der Regen dichter und schneller zur Erde strömte. Dann erschienen nasse Schirme und schmutzige Kleider; die Straße bedeckte sich mit Schmutz. Was der Kot früher getan oder woher er kam, wer konnte das sagen? Aber er schien sich in einem Augenblick zu sammeln wie ein Menschenknäuel und in fünf Minuten alle Söhne und Töchter Adams bespritzt zu haben. Die Lampenanzünder machten nun die Runde; und wenn die feurigen Zünglein unter ihrer Berührung hervorschossen, hätte man glauben können, sie seien erstaunt, daß man ihnen gestatte, diese häßliche Szene mit ihrem hellen Strahle zu beleuchten.

Mr. Arthur Clennam nahm seinen Hut, knüpfte den Rock zu und trat hinaus. Auf dem Lande würde der Regen tausend frische Wohlgerüche hervorgelockt und jeder Tropfen mit einer schönen Form des Wachstums und Lebens eine glänzende Verbindung eingegangen haben. In der Stadt erzeugte er nur faule abgestandene Gerüche und bildete einen pestartigen, lauen, schmutzigen und häßlichen Zufluß für die Gossen.

Er ging bei der St. Paulskirche über die Straße und in einem langen Winkel beinahe bis an das Wasser, durch einige von den krummen und jähen Straßen, die zwischen dem Fluß und der Cheapside liegen und damals noch krummer und enger waren. Vorüber an der dumpfen Halle einer verkommenen, ehrwürdigen Gesellschaft, vorüber an den hell erleuchteten Fenstern einer gemeindelosen Kirche, die auf einen abenteuernden Belzoni8 zu warten schien, der sie ausgraben und ihre Geschichte entdecken würde; vorüber an schweigenden Warenhäusern und Quais, und dann und wann an einem engen Gäßchen, das nach dem Strom führte, wo ein armer kleiner Zettel »Fund im Wasser« an der feuchten Wand weinte; – so kam er endlich nach dem Haus, das er suchte. Ein altes Haus von Backstein, so dunkel, daß es beinahe ganz schwarz war, stand es ganz isoliert hinter einem Torweg. Davor befand sich ein viereckiger Hof, in dem ein oder zwei Sträuche und ein Grasfleck so üppig wucherten wie der Rost auf dem eisernen Gitter, das sie umschloß; dahinter sah man ein Gewirr von Dächern. Es war ein Doppelhaus mit langen, schmalen, schwer eingefaßten Fenstern. Vor vielen Jahren war es auf den Gedanken gekommen, sich nach der Seite zu neigen. Man stützte es jedoch und lehnte es auf ein halbes Dutzend riesiger Krücken: ein Spielplatz für die benachbarten Katzen, der jedoch, vom Wetter benagt, vom Rauch geschwärzt und von Unkraut überwuchert, in neuester Zeit keine Sicherheit mehr bot.

»Nichts verändert«, sagte der Reisende, indem er stehenblieb und sich umsah. »Finster und elend wie immer. Ein Licht in meiner Mutter Zimmer, das nicht mehr ausgelöscht worden zu sein scheint, seit ich zweimal im Jahr von der Schule heimkam und meinen Koffer über das Pflaster zog. Ja, ja, ja!«

Er ging auf die Tür zu, die eine Art vorspringender Baldachin aus Schnitzwerk – Gewinde von Tüchern und Kinderköpfen mit Wasser im Hirn – nach der einst sehr beliebten Form der Ornamentik schmückte. Er pochte. Bald hörte man einen schlürfenden Schritt auf dem steinernen Boden des Flurs, und die Tür wurde von einem alten, gebückten und ausgemergelten Mann mit durchdringendem Blick geöffnet.

Er hatte ein Licht in der Hand und hielt es einen Augenblick in die Höhe, um seine scharfen Augen zu unterstützen. »Ah, Mr. Arthur«, sagte er ohne die geringste Bewegung, »sind Sie endlich da? Treten Sie ein.«

Arthur trat ein und schloß die Tür.

»Sie sind stärker und männlicher geworden«, sagte der alte Mann, indem er sich wieder umdrehte und, das Licht in die Höhe haltend, den Kopf schüttelte, »aber Sie sind doch, wie mich dünkt, noch nicht so groß wie Ihr Vater, auch nicht wie Ihre Mutter.«

»Wie geht es meiner Mutter?«

»Sie ist, wie sie jetzt immer ist! Sie hütet ihr Zimmer, wenn sie nicht gar bettlägrig ist, und war nicht fünfzehn Male in ebensoviel Jahren aus, Arthur.« Sie waren in ein ärmliches, ödes Speisezimmer getreten. Der alte Mann hatte den Leuchter auf den Tisch gestellt, und den rechten Ellbogen mit der linken Hand stützend, rieb er sich die ledernen Wangen, während er den Ankömmling betrachtete. Dieser bot ihm die Hand. Der alte Mann nahm sie ziemlich kalt und schien seine Wangen vorzuziehen; er kehrte auch, sobald er konnte, zu ihnen zurück.

»Ich möchte bezweifeln, daß Ihre Mutter Ihre Heimkehr am Sabbat billigen werde, Arthur«, sagte er und schüttelte bedächtig den Kopf.

»Sie wollen doch nicht, daß ich wieder fortgehen soll?«

»O! ich, ich? Ich bin ja nicht der Herr vom Haus. Das möchte ich um keinen Preis haben. Ich stand viele Jahre lang vermittelnd zwischen Ihrem Vater und Ihrer Mutter. Ich möchte mir nicht anmaßen, die gleiche Stellung zwischen Ihnen und Ihrer Mutter einzunehmen.«

»Wollen Sie ihr sagen, daß ich heimgekehrt bin.«

»Jawohl, Arthur, jawohl. Gewiß. Ich will ihr sagen, daß Sie heimgekehrt sind. Wollen Sie gefälligst hier warten. Sie werden das Zimmer nicht verändert finden.« Er nahm ein zweites Licht aus einem Speiseschrank, zündete es an, ließ das erste auf dem Tisch und ging, seinen Auftrag zu besorgen. Er war ein kleiner, kahlhäuptiger alter Mann, in einem hochhinaufstehenden schwarzen Frack und schwarzer Weste, schwarzbraunen Hosen und langen Gamaschen von gleicher Farbe. Er konnte seiner Kleidung nach Kommis oder Diener sein und war beides in der Tat längere Zeit gewesen. Er besaß nichts von Schmuck als eine Uhr, die an einem alten schwarzen Bande in der Tiefe seiner Uhrtasche hing und von der ein angelaufener kupferner Schlüssel oben heraussah, um zu zeigen, wo die Uhr versenkt war. Sein Kopf war schief; er hatte ein einseitiges, krebsartiges Wesen, als ob sein Fundament zur selben Zeit nachgegeben, wie das des Hauses, und er in ähnlicher Weise gestützt werden müßte.

»Wie schwach ich bin«, sagte Arthur, als dieser weggegangen, »daß ich Tränen über einen solchen Empfang weinen könnte! Ich, der nie etwas anderes erfahren, der nie etwas anderes erwartet hat.«

Er konnte nicht nur, er tat es auch. Es war das augenblickliche Nachgeben eines Mannes, der von dem ersten Dämmern seiner Wahrnehmungen nur Enttäuschungen erlebt und doch noch nicht all sein hoffnungsvolles Sehnen aufgegeben. Er drängte diese Empfindung zurück, nahm das Licht und betrachtete sich das Zimmer. Die alten Möbel standen am alten Platze; die ägyptischen Plagen, durch die Londoner Plagen – Fliegen und Rauch – dunkler geworden, hingen noch unter Glas und Rahmen an der Wand. Dort der alte Flaschenschrank, der jedoch leer stand, mit Blei ausgeschlagen wie eine Art Sarg in Abteilungen; hier das alte dunkle Kabinett, gleichfalls leer, dessen Inhalt er in den Tagen der Strafe oft ganz allein gebildet, und das er damals als die wahre Pforte zu jenem Lebensquell betrachtet, zu dem ihn das Traktätchen in gesprengtem Galopp eilen gesehen. Dort stand auf dem Seitentisch die große Uhr mit dem strengen Gesicht, deren gemalte Augenbrauen ihn immer mit roher Schadenfreude zu betrachten schienen, wenn er mit seinen Arbeiten im Rückstande war, und die, wenn sie einmal in der Woche mit einem eisernen Schlüssel aufgezogen wurde, gewöhnlich mit boshafter Ahnung der Leiden, die sie ihm bringen würde, zu brummen schien. Aber hier kam der alte Mann wieder und sagte: »Arthur, ich will vorausgehen und Ihnen leuchten.«

Arthur folgte ihm die Treppe hinauf, die grabsteinartig ziseliert war, in ein dunkles Schlafzimmer, dessen Boden sich allmählich so gesenkt hatte, daß der Kamin sich in einem Loch befand. Auf einem schwarzen, bahrenartigen Sofa in dieser Vertiefung, hinten mit einem großen, eckigen, schrägen Polster gestützt, gleich dem Bocke bei einer Hinrichtung in den guten alten Zeiten, saß die Mutter im Witwenkleid da.

Sie und sein Vater hatten, soweit sein Gedächtnis zurückreichte, miteinander im Hader gelebt. Sprachlos inmitten des strengsten Schweigens dazusitzen und schüchtern von dem einen abgewandten Gesicht nach dem andern zu blicken, war die friedlichste Beschäftigung seiner Kindheit gewesen. Sie gab ihm einen glasigen Kuß und vier steife Finger in wollenem Handschuh. Nachdem diese Umarmung vorüber war, setzte er sich ihr gegenüber an den kleinen Tisch. Auf dem Kaminrost brannte ein Feuer, wie seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht. An dem Haken des Kamins hing ein Kessel, wie seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht. Ein kleines Häufchen kalter Asche lag auf dem Feuer und ein anderes kleines Häufchen war unter dem Rost zusammengekehrt, wie seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht. In dem ungelüfteten Zimmer herrschte ein Geruch von schwarzer Farbe, den das Feuer seit fünfzehn Monaten aus dem Flor und dem Stoff des Witwenkleides und seit fünfzehn Jahren aus dem bahrenartigen Sofa gezogen.

»Mutter, das ist eine große Veränderung gegen Ihr früheres rühriges Leben.«

»Die Welt hat sich auf diesen engen Raum zusammengerückt, Arthur«, antwortete sie und sah im Zimmer umher. »Es ist gut für mich, daß ich nie mein Herz auf ihre leeren Eitelkeiten gerichtet.«

Der alte Einfluß ihrer Gegenwart und ihre ernste strenge Stimme beherrschte ihren Sohn wieder in solchem Grade, daß er aufs neue den bangen Schauer und die Schüchternheit seiner Kindheit fühlte.

»Verlassen Sie Ihr Zimmer nie, Mutter?«

»Teils durch meine Rheumatismen, teils durch die dadurch entstandene Hinfälligkeit und nervöse Schwäche – der Name tut nichts zur Sache – habe ich den Gebrauch meiner Glieder eingebüßt. Ich verlasse niemals dieses Zimmer. Ich war nicht vor dieser Tür seit – sagen Sie ihm, wie lange«, versetzte sie, indem sie die letzten Worte über die Achsel hin sprach.

»Nächste Weihnachten zwölf Jahre«, antwortete eine gebrochene Stimme aus der Dunkelheit hervor.

»Ist das Affery?« sagte Arthur und sah sich nach ihr um.

Die gebrochene Stimme antwortete, sie sei es; und eine alte Frau trat in das Zwielicht, küßte ihre Hand und verschwand dann wieder in das Dunkel.

»Ich bin imstande«, sagte Mrs. Clennam, mit einer leichten Bewegung der in den wollenen Handschuh gehüllten rechten Hand nach einem Armstuhl auf Rädern, der vor einem hohen verschlossenen Schreibtisch stand, »ich bin imstande, den Pflichten meines Geschäfts nachzukommen, und ich bin dem Himmel für diese Gnade dankbar. Es ist eine große Gnade. Aber nun heute nichts mehr von Geschäften. Es ist heute eine schlimme Nacht, nicht wahr?«

»Ja, Mutter.«

»Schneit es?«

»Schneien, Mutter? Wir sind ja erst im September.«

»Für mich sind alle Jahreszeiten gleich«, versetzte sie mit einer Art grausamer Wollust. »Ich weiß nichts von Sommer und Winter, hier zwischen meinen vier Mauern. Dem Herrn hat es gefallen, mich über all das hinwegzuheben.«

Mit ihren kalten grauen Augen und ihrem kalten grauen Haar, mit ihrem unbeweglichen Gesicht, das so steif wie die Falten ihres wie aus Stein gemeißelten Kopfputzes, – schien sie wirklich außerhalb des Bereichs der Jahreszeiten zu stehen, und dies wiederum schien eine Folge davon zu sein, daß sie überhaupt außer dem Bereich aller wechselnden Gemütsbewegungen stand.

Auf ihrem kleinen Tisch lagen zwei bis drei Bücher, ihr Taschentuch, eine stählerne Brille, die sie kurz vorher weggelegt, und eine altväterliche goldene Uhr in einem schweren doppelten Gehäuse. Auf diesem letzteren Gegenstand ruhten ihre und ihres Sohnes Augen in diesem Augenblick.

»Ich sehe, daß Sie das Paket, das ich Ihnen nach meines Vaters Tod sandte, richtig empfangen, Mutter.«

»Allerdings.«

»Ich sah meinen Vater um nichts in der Welt so besorgt wie darum, daß diese Uhr Ihnen sofort geschickt würde.«

»Ich bewahre sie als ein Andenken an deinen Vater auf.«

»Erst in seinem letzten Augenblick drückte er diesen Wunsch aus, als er nur noch seine Hand darauf legen und mit gebrochener Stimme zu mir sagen konnte: ›Deiner Mutter‹. Einen Augenblick vorher meinte ich noch, er phantasiere wie seit vielen Stunden – ich glaube, er hatte während der kurzen Krankheit keine Empfindung von den Schmerzen – als ich ihn sich umwenden und die Uhr zu öffnen bemüht sah.«

»Phantasierte dein Vater also nicht, da er sie zu öffnen versuchte?«

»Nein. Er war bei vollem Bewußtsein.«

Mrs. Clennam schüttelte den Kopf; ob sie die Erinnerung an den Toten loswerden oder der Ansicht ihres Sohnes widersprechen wollte, konnte man nicht entscheiden.

»Nach meines Vaters Tode öffnete ich sie selbst, da ich glaubte, es könnte doch vielleicht eine Notiz darin enthalten sein. Wie ich Ihnen jedoch kaum zu sagen brauche, Mutter, ich fand nichts darin als das alte seidene Uhrfleckchen mit Perlen, das Sie ohne Zweifel an seinem Platz zwischen den Gehäusen gefunden haben werden, wo auch ich es gefunden und belassen.«

Mr. Clennam nickte bejahend, fügte dann hinzu: »Nichts mehr heute von Geschäften« und sagte zuletzt: »Affery, es ist neun Uhr.«

Die alte Frau räumte den kleinen Tisch ab, verließ das Zimmer und kam bald wieder mit einem Präsentierbrett, auf dem ein Teller mit kleinen Zwiebäcken und einem kleinen und scharf abgeschnittenen Stückchen Butter, kalt, symmetrisch, weiß und rund, stand. Der alte Mann, der während der ganzen Unterhaltung unverrückt an der Tür stehengeblieben und die Mutter eine Treppe hoch ebenso anblickte, wie er den Sohn zu ebener Erde angeblickt, ging nun gleichfalls hinaus und kam mit einem zweiten Präsentierteller, auf dem eine beinahe volle Flasche Portwein (die er seinem Keuchen nach zu urteilen aus dem Keller geholt), eine Zitrone, eine Zuckerbüchse und eine Gewürzschale standen. Mit diesen Materialien und mit Hilfe des Teekessels füllte er ein Stangenglas mit einem heißen und duftenden Gebräu, das mit derselben Genauigkeit wie das Rezept eines Arztes gemischt und zubereitet wurde. In dieses Getränk tunkte Mrs. Clennam einige Zwiebäcke und aß sie, während die alte Frau einige andere mit Butter bestrich, die allein gegessen zu werden bestimmt waren. Als die Kranke alle die Zwiebäcke gegessen und das ganze Gebräu getrunken, wurden die beiden Präsentierteller entfernt und die Bücher und das Licht, Uhr, Taschentuch und Brille wieder an die alte Stelle auf dem Tischchen gelegt. Dann setzte sie die Brille auf und las einige Stellen laut aus einem Buche vor – finstere, strenge und zornige Worte – die Gott baten, daß er ihre Feinde (durch Ton und Gebärde drückte sie deutlich aus, daß es ihre Feinde waren) mit der Schärfe seines Schwertes schlagen, mit Feuer verzehren, mit Pest und Aussatz heimsuchen, ihre Gebeine zu Staub zermalmen und sie ganz und gar ausrotten möge. Wie sie so las, schienen die Jahre vor ihrem Sohne wie die Bilder eines Traumes zu vergehen und alle die alten finstern Schrecken seiner gewöhnlichen Vorbereitung zum Schlafe eines unschuldigen Kindes ihn wieder zu umringen.

Sie schloß ihr Buch und bedeckte einen Augenblick das Gesicht mit ihren Händen. Das tat auch der alte Mann, der sonst nichts in seiner Stellung verändert hatte; desgleichen wohl auch die alte Frau in dem dunkleren Teil des Zimmers. Dann war die kranke Frau bereit zu Bett zu gehen.

»Gute Nacht, Arthur. Affery wird für deine Bequemlichkeit sorgen. Rühre mich sanft an, denn meine Hand ist sehr empfindlich.« Er berührte den wollenen Handschuh an ihrer Hand – das tat nichts; wenn seine Mutter einen Harnisch von Erz gehabt; er würde keine neue Scheidewand zwischen ihnen gewesen sein. Dann folgte er dem alten Mann und der alten Frau die Treppe hinab.

Diese fragte ihn, als sie in dem tiefen Schatten des Speisezimmers allein waren, ob er ein Abendessen wünsche.

»Nein, Affery, kein Abendessen.«

»Wenn Sie wollen, können Sie eins haben«, sagte Affery, »ihr Rebhuhn für morgen ist in der Speisekammer; sagen Sie ein Wort, und ich bereite es zu.«

Nein, er habe noch nicht lange zu Mittag gegessen und könnte nicht schon wieder etwas zu sich nehmen.

»Aber etwas zu trinken«, sagte Affery; »Sie sollen es sogleich haben; etwas von ihrem Portwein, wenn Sie Lust haben. Ich will Jeremiah sagen, daß Sie mir befohlen, Ihnen die Flasche zu holen.“

Nein, auch davon wollte er nicht.

»Es ist wirklich kein Grund vorhanden, Arthur«, sagte die Alte, indem sie sich flüsternd zu ihm hinüberbeugte, »warum Sie sich vor ihnen fürchten sollten, wenn ich mich auch vor ihnen fürchte. Sie haben das halbe Vermögen bekommen, nicht wahr?“

»Ja, ja.«

»Nun gut, lassen Sie sich nicht einschüchtern. Sie sind klug, Arthur, nicht wahr?“

Er nickte, da sie eine bejahende Antwort zu erwarten schien.

»Dann treten Sie gegen sie auf. Sie ist furchtbar gescheit, und nur ein Gescheiter darf es wagen, ein Wort zu ihr zu sagen. Er ist gescheit, o er ist sehr gescheit! – und er sagt ihr die Meinung, wenn er mag, ganz gewiß.“

»Ihr Mann?«

»Allerdings. Ich zittre am ganzen Leibe, wenn ich ihn mit ihr sprechen höre. Mein Mann, Jeremiah Flintwinch, kann sogar Ihre Mutter zwingen. Und dazu gehört ein gescheiter Mann!«

Seine schlürfenden Schritte, die man näher kommen hörte, veranlaßten sie, sich nach dem anderen Ende des Zimmers zurückzuziehen. Obgleich eine große, starke, alte Frau mit groben Zügen, die in ihrer Jugend sich leicht unter die Fußgarde hätte einschmuggeln können, ohne befürchten zu müssen, entdeckt zu werden, schoß ihr doch vor dem kleinen krebsartigen Mann mit dem durchdringenden Blicke die Furcht in die Knie.

»Nun, Affery«, sagte er, »nun Frau, was tust du? Kannst du für Master Arthur nicht irgend etwas zu essen auftreiben?«

Master Arthur schlug aufs neue alles Essen aus.

»Nun gut«, sagte der Alte, »so mache sein Bett. Eile dich ein bißchen.« Sein Hals war so krumm, daß die geknüpften Zipfel seines weißen Halstuches gewöhnlich unter einem Ohr baumelten; seine natürliche Herbigkeit und Energie, die immer mit einer zweiten Natur, der ihm zur Gewohnheit gewordenen Zurückhaltung, im Kampfe war, gaben seinem Gesicht ein geschwollenes und unterlaufenes Aussehen, und im ganzen machte er den Eindruck, als ob er sich irgendeinmal aufgehängt, und als ob er nun mit dem Strick seit der Zeit herumliefe wie damals, als ihn eine milde Hand noch abgeschnitten.

»Sie werden morgen bittere Worte hören müssen, Arthur: Sie wie Ihre Mutter«, sagte Jeremiah. »Daß Sie bei Ihres Vaters Tod das Geschäft aufgegeben – was sie vermutet, obgleich wir es Ihnen überlassen, ihr die Sache mitzuteilen –-, das wird sie Ihnen nicht so ruhig hingehen lassen.«

»Ich habe im Leben alles um des Geschäftes willen aufgegeben, nun kam die Zeit für mich, das Geschäft aufzugeben.«

»Gut!« rief Jeremiah, während er offenbar ›Schlimm!‹ sagen wollte. »Sehr gut! Nur erwarten Sie nicht, daß ich vermittelnd zwischen Sie und Ihre Mutter treten werde, Arthur. Ich vermittelte zwischen Ihrer Mutter und Ihrem Vater, habe dieses und jenes Unheil abgewendet und habe Stöße und Schläge in Menge dabei abgekriegt: aber nun habe ich die Sache satt.«

»Ich werde weiter nicht von Ihnen fordern, Jeremiah, daß Sie sich für mich ins Mittel legen.«

»Gut, das freut mich zu hören: denn ich hätte es abschlagen müssen, wenn Sie dergleichen von mir verlangten. Genug – wie Ihre Mutter sagt, mehr als genug von solchen Dingen an einem Sonntagabend. Affery, Frau, hast du endlich gefunden, was du brauchst?«

Sie hatte Leintücher und Decken aus einem Wandschrank geholt und legte sie nun eiligst zusammen, worauf sie »Ja, Jeremiah« sagte. Arthur Clennam half ihr die Last tragen, wünschte dem alten Mann gute Nacht und ging mit ihr die Treppen hinauf bis unter das Dach.

Sie stiegen immer höher durch den dumpfen Geruch eines alten, dicht verschlossenen und wenig bewohnbaren Hauses nach einem großen Schlafzimmer im obersten Stockwerk: kahl und kärglich wie alle andern Zimmer, machte es dadurch noch einen häßlicheren und unheimlicheren Eindruck, daß es der Verbannungsort für allen abgenutzten Hausrat war. Die Möbel bestanden aus häßlichen alten Stühlen mit abgenutzten Sitzen, zwei häßlichen alten Stühlen ohne Sitze, einem fadenscheinigen musterlosen Teppich, einem tannenen Tisch, einem verkrüppelten Kleiderschrank, einem armseligen Sammelsurium von Kamingeräten, das wie ein Paar Skelette aussah, einem Waschtisch, der jahrhundertelang in einem Platzregen von schmutziger Seifenlauge gestanden zu haben schien, und einer Bettstelle mit vier nackten gerippartigen Eckpfosten, deren jeder in einem spitzen Nagel auslief, wie zur traurigen Bequemlichkeit der Insassen eingerichtet, die es vorziehen sollten, sich selbst aufzuspießen. Arthur öffnete das lange niedrige Fenster und blickte auf den alten ausgebrannten und geschwärzten Wald von Kaminen und den alten roten Glanz des Himmels, der ihm einst in früheren Tagen als der nächtliche Reflex der in Flammen stehenden Umgebung erschien, die sich seiner kindlichen Phantasie allerwärts, wohin er den Blick wenden mochte, darbot.

Er zog den Kopf wieder zurück, setzte sich neben das Bett und sah zu, wie Affery Flintwinch es machte.

»Affery, Sie waren nicht verheiratet, als ich von hier fortging.«

Sie verzog den Mund, als wollte sie »Nein« sagen, schüttelte den Kopf und schob ein Kissen in das Linnen.

»Wie kam das?«

»Nun, Jeremiah natürlich!« sagte Affery, mit dem Ende eines Kissenbezuges zwischen den Zähnen.

»Er machte Ihnen natürlich den Vorschlag, aber wie kam das alles? Ich hätte gedacht, keines von beiden würde heiraten; am wenigsten hätte ich mir aber träumen lassen, daß Sie sich heirateten.«

»Das dacht‘ ich auch«, sagte Mrs. Flintwinch, indem sie das Kissen in den Bezug drückte.

»Das ist’s, was ich meine. Wann wurden Sie denn andern Sinnes?«

»Ich wurde nie andern Sinnes«, sagte Mrs. Flintwinch.

Als sie sah, daß er, während sie das Kissen auf dem Polster zurechtrückte, sie noch immer ansah, als ob er auf eine Antwort warte, schlug sie mit der Faust tüchtig in die Mitte und fragte: »Was hätte ich tun sollen?«

»Was Sie hätten tun sollen, um sich nicht zu verheiraten?«

»Natürlich«, sagte Mrs. Flintwinch. »Das war ja nicht meine Sache. Ich hätte nie daran gedacht. Ich mußte wirklich etwas tun, ohne daran zu denken. Sie hielt mich tüchtig zur Arbeit an, solange sie noch ausging, und damals konnte sie noch ausgehen.«

»Nun?«

»Nun?« wiederholte Mrs. Flintwinch. »Das ist’s ja, was ich sagte. Nun? Was nützt das Überlegen? Wenn zwei so gescheite Leute wie sie wegen einer Sache einverstanden sind, was bleibt mir zu tun? Nichts.«

»So war es der Plan meiner Mutter?«

»Der Herr behüte Sie, Arthur, und verzeihe mir den Wunsch!« rief Affery, immer sonst leise sprechend. »Wenn sie beide nicht einverstanden gewesen, wie hätte die Sache geschehen können? Jeremiah hat mir nie den Hof gemacht. Es war auch gar nicht wahrscheinlich, daß er’s je tun würde, nachdem er so viele Jahre mit mir im selben Hause gelebt und nur ans Befehlen gewöhnt gewesen. Er sagte eines Tages zu mir: ›Affery‹, sagte er, ›ich will Euch jetzt etwas sagen. Was denkt Ihr von dem Namen Flintwinch?‹ – ›Was ich davon denke?‹ sagte ich. – ›Ja‹, sagt er; ›weil Ihr ihn künftig führen sollt‹, sagte er. – ›Führen soll?‹ sagte ich, ›Jeremiah?‹ Oh, er ist ein gescheiter Mensch!«

Mrs. Flintwinch breitete das obere Leintuch über das Bett und legte die wollene Decke darauf und die gesteppte Decke über diese, als ob sie mit ihrer Geschichte ganz zu Ende wäre.

»Nun?« sagte Arthur wieder.

»Nun?« wiederholte Mrs. Flintwinch. »Was könnt‘ ich machen? Er sagte zu mir: ›Affery, wir müssen uns heiraten, und ich will Euch sagen weshalb. Sie kränkelt und braucht deshalb beständige Pflege in ihrem Zimmer. Wir werden viel bei ihr sein müssen, und es wird niemand zur Hand sein, wenn wir nicht bei ihr sind – kurz, es ist passender, daß wir heiraten. Sie ist auch meiner Ansicht‹, sagte er, ›wenn Ihr deshalb nächsten Montag morgen um acht Uhr Euren Hut aufsetzen wollt, so können wir die Sache abmachen.‹« Mrs. Flintwinch schlug die Decke glatt.

»Nun?« »Nun?« wiederholte Mrs. Flintwinch. »Ich dachte so: Ich setze mich hin und sage Ja. Nun! – Jeremiah sagte darauf zu mir: ›Was das Aufgebot betrifft, so werden wir nächsten Sonntag zum dritten Male ausgerufen; denn ich habe es seit vierzehn Tagen besorgt, und deshalb will ich den Montag zur Hochzeit bestimmen. Sie wird selbst mit Euch über die Sache sprechen und Euch nun vorbereitet finden, Affery.‹ Noch am selben Tage sprach sie mit mir und sagte: ›So, Affery, ich höre, daß du Jeremiah heiraten willst. Ich freue mich darüber, und auch du kannst dich mit Recht freuen. Er ist sehr geeignet für dich und mir unter diesen Umständen sehr willkommen. Er ist ein gescheiter Mann und ein redlicher Mann und ein ausdauernder Mann und ein frommer Mann.‹ Was konnte ich sagen, wenn die Sache schon so weit gediehen? Und hätt‘ es einen – Erstickungsversuch statt einer Heirat gegolten«, Mrs. Flintwinch suchte mit großer Anstrengung nach dieser Form des Ausdrucks, »ich hätte ebensowenig gegen diese beiden gescheiten Leute ein Wort hervorbringen können.«

»Wahrhaftig, das glaube ich.«

»Das können Sie auch, Arthur.«

»Affery, was war das für ein Mädchen soeben in meiner Mutter Zimmer?«

»Mädchen?« sagte Mr«. Flintwinch in ziemlich scharfem Ton.

»Ja, es war ein Mädchen, das ich neben Ihnen stehen sah –, wenn sie auch in der dunklen Ecke sich den Blicken entzog.«

»Oh! Sie? Klein-Dorrit? Sie ist nichts – sie ist eine Grille von – ihr.« Es war eine Eigentümlichkeit von Affery Flintwinch, daß sie nie von Mrs. Clennam mit dem Namen sprach. »Aber es gibt noch andere Mädchen als dies. Haben Sie Ihre alte Neigung vergessen? Sicher schon lange, lange.«

»Ich litt genug unter dieser Trennung, die das Werk meiner Mutter war, um nicht noch an sie zu denken. Ich erinnere mich ihrer recht gut.«

»Haben Sie eine andre?«

»Nein.«

»So weiß ich Ihnen gute Botschaft. Sie ist jetzt wohlhabend und Witwe. Und wenn Sie sie noch haben wollen, läßt sichs leicht machen.«

»Und woher wissen Sie das, Affery?«

»Die beiden Gescheiten haben davon gesprochen. – Da ist Jeremiah auf der Treppe!« Sie war in einem Augenblick verschwunden.

Mrs. Flintwinch hatte in das Gewebe, das sein Geist beständig in der alten Werkstatt, wo der Stuhl seiner Jugend stand, zu weben beschäftigt war, den letzten Faden, der zum Muster fehlte, eingeschlossen. Das Luftgebilde der Liebe eines Knaben hatte seinen Weg auch in dieses Haus gefunden; und die Hoffnungslosigkeit hatte ihm so große Schmerzen bereitet, als wäre das Haus ein romantisches Schloß gewesen. Kaum mehr als vor einer Woche hatte in Marseille das Gesicht des hübschen Mädchens, von dem er mit Bedauern scheiden mußte, ein ungewöhnliches Interesse für ihn gehabt und ihn wunderbar gefesselt, da es eine wirkliche oder eingebildete Ähnlichkeit mit jenem ersten Gesicht hatte, das sich aus seinem düstern Lebenskreise in die lichten Sphären der Phantasie aufgeschwungen. Er lehnte sich auf die Brüstung des langen niedern Fensters, blickte wieder hinaus auf den geschwärzten Wald von Kaminen und begann zu träumen. Es war ja doch die gleichmäßige Richtung in dieses Mannes Leben gewesen –, das so viel Entbehrungen in sich schloß, die Stoff zum Nachdenken boten, so viele, denen man eine bessere Wendung geben und womit man glücklicher hätte spekulieren können –, daß er zuletzt ein Träumer wurde.

  1. Verboten – tabu bedeutet »Nicht anzurühren!«, »Verfehmt«, »Unheimlich« und ist ein religiöser Ausdruck der primitiven Völker Ozeaniens.
  2. Dickens geißelt hier die übertriebene puritanische Strenge der Sonntagsruhe.
  3. So genannt nach dem charakteristischen Anstrich, den die Reisewagen von Dover nach London hatten.
  4. Verse, in denen der Apostel Paulus die Gemeinde Thesallonien auffordert, Brüder, »die da unordentlich wandeln«, zu meiden. Von den Puritanern gegen alle weltlichen Freuden zugewandten Menschen ausgemünzt.
  5. Giambattista Belzoni (1778–1823), italienischer Athlet und Altertumsforscher, bereiste im Auftrag des englischen Konsuls Salt Ägypten und beschrieb ägyptische Tempelbauten.

Viertes Kapitel.


Viertes Kapitel.

Mrs. Flintwinch hat einen Traum.

Wenn Mrs. Flintwinch träumte, so träumte sie gewöhnlich anders als der Sohn ihrer alten Herrin, nämlich mit geschlossenen Augen. Sie hatte einen wunderbar lebhaften Traum in jener Nacht, noch ehe sie den Sohn ihrer alten Herrin vergessen. Es schien auch in der Tat gar nicht ein Traum zu sein, so sehr trug alles vielmehr das Gepräge der Wirklichkeit. Nämlich so.

Das Schlafzimmer von Mr. und Mrs. Flintwinch war nur wenig Schritte von dem entfernt, auf das Mrs. Clennam seit so vielen Jahren angewiesen war. Es lag nicht auf derselben Flur, denn es befand sich in einem Seitenflügel des Hauses, zu dem man über eine steile Treppe von einigen ausgetretenen Stufen gelangte, die von der Haustreppe beinahe gerade gegenüber von Mrs. Clennams Tür seitab führten. Man konnte kaum sagen, daß es im Bereiche der Stimme lag, da Wände, Türen und Getäfel des alten Hauses so schwer und dick waren; aber man konnte in jedem Kleid, zu jeder Zeit der Nacht und bei jeder Temperatur hinüberkommen. Zu Häupten des Bettes und einen Fuß von Mrs. Flintwinchs Ohr entfernt hing eine Glocke, deren Schnur bequem zur Hand Mrs. Clennams war. Sobald diese Glocke ertönte, fuhr Affery auf und stand in dem Zimmer der Kranken, ehe sie recht wach war.

Nachdem sie ihre Herrin zu Bett gebracht, die Lampe angezündet und ihr gute Nacht gesagt, ging Mrs. Flintwinch selbst wie gewöhnlich schlafen – nur war ihr Gatte noch nicht erschienen. Ihr Gatte – und nicht das, woran sie zuletzt gedacht, wie die meisten Philosophen meinen – wurde der Gegenstand ihres Traumes.

Sie glaubte zu erwachen, nachdem sie einige Stunden geschlafen, und fand Jeremiah noch nicht im Bett. Dann sah sie nach dem Licht, das sie hatte brennen lassen, so träumte sie, und danach die Zeit bemessend wie König Alfred der Große, wurde sie, da es schon ziemlich weit heruntergebrannt, in ihrer Überzeugung bestärkt, daß sie außerordentlich lange geschlafen haben müsse. Dann, träumte sie, sei sie aufgestanden, habe sich in ein Tuch gehüllt, die Schuhe angezogen und sei verwundert auf die Treppe hinausgegangen, um nach Jeremiah zu sehen.

Die Treppe war von Holz und sehr fest; Affery ging gerade hinab, ohne irgendwie abzuschweifen, wie es bei Träumenden gewöhnlich vorzukommen pflegt. Sie streifte auch nicht leicht über die Treppe hin, sondern ging wie gewöhnlich hinab und hielt sich an dem Geländer, da ihr das Licht ausgegangen war. An einer Ecke der Vorhalle, hinter der Haustür, war ein kleines Wartezimmer, einer Brunnenstube ähnlich, mit einem langen, schmalen Fenster, das aussah, als ob man einfach die Wand aufgeschlitzt. In diesem Zimmer, das nie benutzt wurde, brannte ein Licht.

Mrs. Flintwinch schritt über die Vorhalle, an den bloßen Füßen wohl fühlend, daß sie auf Steinen ging, und sah zwischen den rostigen Angeln der Tür hindurch, die offen stand. Sie erwartete Jeremiah in festem Schlaf oder in einer Ohnmacht zu sehen, aber er saß ruhig und ganz wach auf einem Stuhl; auch schien er gesund wie gewöhnlich. Doch wie? Der Herr verzeihe uns! Mrs. Flintwinch murmelte ein Stoßgebet und fing an zu taumeln.

Denn der wachende Mr. Flintwinch bewachte den schlafenden Mr. Flintwinch. Er saß an der einen Seite eines kleinen Tisches und beobachtete mit scharfem Blick sein Ebenbild auf der andern Seite, dessen Kinn auf die Brust herabgesunken, wahrend er laut schnarchte. Der wachende Flintwinch hatte sein ganzes Gesicht seiner Frau zugewendet, während man den schlafenden Flintwinch nur im Profil sah. Der wachende Flintwinch war das alte Original; der schlafende Flintwinch dagegen war der Doppelgänger. Gerade wie sie einen greifbaren Gegenstand von seinem Bild im Spiegel hätte unterscheiden können, so unterschied sie alles ganz deutlich, während es mit ihr im Kreise herumging.

Wenn sie noch einen Zweifel hätte haben können, welches ihr rechter Jeremiah sei, so wäre er durch seine Ungeduld gelöst worden. Er sah sich nach einer Angriffswaffe um, ergriff die Lichtschere, und ehe er damit das kohlköpfige Licht putzte, stieß er mit derselben auf den Schläfer los, als ob er sie ihm durch den Leib rennen wollte.

»Wer ist das? Was gibt es?« rief der Schläfer auffahrend.

Mr. Flintwinch machte eine Bewegung mit der Lichtschere, als wollte er ihn dadurch zum Schweigen zwingen, daß er sie ihm in den Hals stieß; als der andere zu sich kam, sagte er, die Äugen reibend: »Ich vergaß, wo ich war.«

»Sie haben geschlafen«, brummte Jeremiah und sah auf die Uhr, »zwei volle Stunden sind es. Sie sagten, Sie hätten genug geschlafen, wenn Sie einen kleinen Nicker machen würden.«

»Ich habe einen kleinen Nicker gemacht«, sagte der Doppelgänger.

»Halb drei Uhr in der Früh’«, murmelte Jeremiah. »Wo ist Ihr Hut? Wo ist Ihr Rock? Wo ist Ihr Kästchen?«

»Alles ist hier«, sagte der Doppelgänger, seinen Hals mit schläfriger Gleichgültigkeit in einen Schal wickelnd. »Warten Sie eine Minute. Geben Sie mir jetzt den Ärmel – nicht diesen Ärmel, den andern. Ach, ich bin nicht mehr so jung, wie ich war.« Mr. Flintwinch war ihm beim Anziehen des Rockes mit großem Eifer behilflich. »Sie versprachen mir ein zweites Glas, wenn ich geschlafen.«

»Trinken Sie!« versetzte Jeremiah, »und ersticken Sie, hätte ich beinahe gesagt, – gehen Sie, wollte ich sagen.« Damit stellte er die nämliche Portweinflasche wie bei seiner Herrin auf und füllte ein Weinglas.

»Ihr Portwein, dünkt mich?« sagte der Doppelgänger und kostete, als ob er in den Docks wäre.

»Ihre Gesundheit.«

Er trank einen Schluck.

»Eure Gesundheit!«

Er trank einen zweiten Schluck.

»Seine Gesundheit!«

Er trank einen dritten Schluck.

»Und die Gesundheit aller Freunde rings um St. Paul

Er leerte das Glas und schob es auf den Tisch, nachdem er dem alten feierlichen Toast Folge gegeben, und nahm das Kästchen auf. Es war ein eisernes Kästchen von ungefähr zwei Fuß im Geviert, das er ziemlich leicht unter dem Arme trug. Jeremiah beobachtete sein Tun mit eifersüchtigen Blicken, drückte auf das Kästchen, um zu sehen, ob er es auch festhalte, bat ihn, doch ja recht pünktlich seine Sache zu besorgen, und ging dann auf den Zehen hinweg, um ihm die Tür zu öffnen. Affery, die diese Absicht ahnte, war schon auf der Treppe. Das übrige war so gewöhnlich und so natürlich, daß sie, während sie auf der Treppe stand, das Öffnen der Tür hören, die Nachtluft fühlen und die Sterne draußen sehen konnte.

Aber nun kam der merkwürdigste Teil des Traumes. Sie fürchtete sich so sehr vor ihrem Gatten, daß sie, als sie so auf der Treppe stand, sich nicht imstande fühlte, in ihr Zimmer zurückzugehen (was so leicht gewesen, ehe er die Tür schloß), sondern, starr auf einen Punkt sehend, stehenblieb. Deshalb kam er, als er mit dem Licht die Treppe heraufging, um sich zu Bett zu begeben, gerade auf sie zu. Er sah verwundert aus, sagte jedoch nicht ein Wort. Er schaute sie fest an und ließ keinen Blick von ihr, während er weiterging; und sie trat, weil sie sich seinem Einfluß nicht entziehen konnte, immer weiter zurück. Auf diese Weise ging sie beständig rückwärts, während er vorwärts ging, bis sie endlich in ihrem Zimmer ankamen. Sie waren aber kaum dort, als Mr. Flintwinch sie am Halse packte und schüttelte, bis sie schwarz im Gesicht war.

»Nun, Affery, Frau! – Affery!« sagte Mr. Flintwinch. »Wovon hast du geträumt? Wach auf, wach auf! Was gibt es?«

»Was es gibt, Jeremiay?« keuchte Mrs. Flintwinch, die Augen rollend.

»Nun, Affery, Frau! – Affery! Du bist während des Schlafes aus dem Bett gefallen, meine Liebe! Ich komme herauf, nachdem ich unten etwas eingeschlafen war, und finde dich, in dein Tuch eingehüllt, vom Alp gepeinigt. Affery, Frau«, sagte Mr. Flintwinch mit einem freundlichen Grinsen in seinem ausdrucksvollen Gesicht, »wenn du je wieder einen Traum der Art hast, so ist es mir ein Zeichen, daß du Arznei brauchst. Und ich werde dir welche geben, Alte – ja, ich werde dir welche geben!«

Mrs. Flintwinch dankte ihm und kroch ins Bett.

Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

Reisegenossen

»Hört man heute nichts mehr von dem gestrigen Geheul da drüben, Sir?«

»Ich habe nichts gehört.«

»Dann können Sie sicher sein, daß auch keines mehr ist. Wenn diese Leute heulen, so heulen sie, daß man es hören soll.«

»Das tun die meisten Menschen, glaube ich.«

»Aber diese Leute heulen in einem fort. Sie sind sonst nicht glücklich.«

»Meinen Sie die Marseiller?«

»Ich meine die Franzosen. Sie können es keinen Augenblick lassen. Was Marseille betrifft, so wissen wir, was Marseille ist. Es hat die aufrührerischste Melodie,1 die jemals komponiert wurde, in die Welt geschickt. Es könnte nicht existieren, ohne zu irgend etwas zu demonstrieren oder marschieren – zum Sieg oder Tod, zum Aufruhr oder zu sonst etwas.«

Der Sprecher, dessen Gesicht von wunderlich guter Laune zeugte, sah mit der größten Geringschätzung über die Brustwehr auf Marseille nieder, und dann eine entschlossene Haltung annehmend, indem er seine Hände in die Taschen steckte und mit seinem Geld rasselte, redete er die Stadt mit kurzem Lachen an:

»Allons, marschons, jawohl.2 Es wäre anständiger für dich, meine ich, wenn du andre Leute in ihrem rechtmäßigen Geschäfte alliieren und marschieren ließest, statt sie in die Quarantäne zu sperren!«

»Langweilig genug ist’s«, sagte der andere. »Aber wir werden heute entlassen.«

»Heute entlassen!« wiederholte der erste. »Es ist beinahe eine Erschwerung des Frevels, daß wir heute entlassen werden. Entlassen! Warum waren wir überhaupt eingesperrt?«

»Ich muß zugestehen, aus keinem triftigen Grunde! Da wir jedoch aus dem Orient kommen und der Orient die Heimat der Pest ist –«

»Der Pest!« wiederholte der andere. »Das ist eben mein Kummer. Ich habe beständig die Pest gehabt, seitdem ich hier bin. Mir ist wie einem Vernünftigen, den man in ein Irrenhaus sperrt; ich kann den Verdacht nicht ertragen. Ich kam so wohl und gesund hierher, wie ich je in meinem Leben gewesen, aber mich im Verdacht der Pest haben, heißt mir die Pest in den Leib jagen. Und ich hatte sie – und ich habe sie noch.«

»Sie sehen gut dabei aus, Mr. Meagles«, sagte der Teilnehmer an dem Gespräch lächelnd.

»Nein. Wenn Sie die wirkliche Sachlage kennten, so würde es Ihnen nicht in den Sinn kommen, die letztere Bemerkung zu machen. Ich bin eine Nacht um die andere aufgewacht und habe zu mir gesagt: jetzt habe ich sie, jetzt hat sie sich entwickelt, jetzt hat sie mich gepackt, jetzt haben die Burschen die Sache ausfindig gemacht und treffen ihre Vorsichtsmaßregeln. Wahrhaftig, ich möchte ebenso gern mit einer Nadel durch den Leib in einer Käfersammlung auf eine Papiertafel gesteckt sein, als das Leben führen, das ich hier geführt habe.«

»Nun, Mr. Meagles, sprechen wir nicht weiter davon, da es jetzt vorüber ist«, bat eine freundliche weibliche Stimme.

»Vorüber!« wiederholte Mr. Meagles, der, ohne alle Bösartigkeit, in jener eigentümlichen Stimmung zu sein schien, in der es uns immer wie eine neue Beleidigung vorkommt, wenn ein anderer das letzte Wort behält. »Vorüber! Und weshalb sollte ich nichts mehr darüber sagen, wenn es vorüber ist!«

Es war Mrs. Meagles, die Mr. Meagles angeredet hatte; und Mrs. Meagles war wie Mr. Meagles wohl und gesund; sie hatte ein angenehmes englisches Gesicht, das fünfundvierzig Jahre und mehr auf ein schlichtes einfaches Dasein geblickt und einen heiteren hellen Glanz über alles gegossen.

»Nun! Denke nicht mehr daran, Vater, denke nicht mehr daran!« sagte Mrs. Meagles. »Um der Güte willen, sei zufrieden mit Pet.«

»Mit Pet?“ erwiderte Mr. Meagles, und die Stirnader schwoll ihm. Pet aber, die dicht hinter ihm stand, tätschelte ihm auf die Schulter, und Mr. Meagles verzieh auf der Stelle Marseille vom Grund seines Herzens.

Pet war ungefähr zwanzig Jahre alt. Ein hübsches Mädchen mit reichem braunen Haar, das in natürlichen Locken um ihr Gesicht fiel. Ein liebliches Wesen, mit offenem Antlitz und wundervollen Augen, so groß, so sanft, so glänzend, so vollkommen mit ihrem anmutigen, freundlichen Gesicht harmonierend. Sie war rund und frisch, voll Grübchen; freilich etwas verzogen, aber sie besaß dabei doch in ihrem Wesen etwas Schüchternes und Abhängiges, was die beste Schwäche von der Welt war und ihr den einzigen höheren Reiz verlieh, den ein so hübsches und angenehmes Wesen entbehren konnte.

»Nun frage ich Sie«, sagte Mr. Meagles mit der schmeichelhaftesten Vertraulichkeit, indem er einen Schritt zurücktrat und seine Tochter einen Schritt vorschob, um seine Frage zu flüstern: »Ich frage Sie einfach, wie ein vernünftiger Mann den andern, haben Sie je von einem so verdammten Unsinn gehört wie der, Pet in die Quarantäne zu sperren?«

»Es hatte wenigstens die gute Folge, daß selbst die Quarantäne dadurch erfreulich wurde.«

»So!« sagte Mr. Meagles, »das ist allerdings etwas. Ich bin Ihnen für diese Bemerkung dankbar. Aber Pet, mein liebes Kind, du würdest jetzt besser tun, wenn du mit der Mutter gingest und dich für das Boot fertig machtest. Der Gesundheitsbeamte und eine Menge von Narren mit aufgekrempten Hüten werden kommen, um uns endlich hier herauszulassen. Wir gefangenen Vögel alle werden zusammen wieder in annähernd christlicher Weise frühstücken, ehe jeder nach seinem Bestimmungsort von dannen flieht. Tattycoram, gehe deiner jungen Herrin nicht von der Seite.«

Er richtete diese letzten Worte an ein hübsches Mädchen mit glänzend dunklem Haar und Augen, das sehr nett angezogen war und mit flüchtiger Verbeugung antwortete, während es im Gefolge von Mrs. Meagles und Pet vorüberging. Sie schritten alle drei über die kahle, sengend heiße Terrasse und verschwanden in einem grellweißen Torweg. Mr. Meagles‘ Reisegenosse, ein großer gebräunter Mann von vierzig Jahren, stand noch immer nach dem Torweg blickend da, als sie bereits längst verschwunden waren, bis ihn endlich Mr. Meagles auf den Arm klopfte.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er und erwachte aus seinen Träumereien.

»Keine Ursache«, sagte Mr. Meagles.

Sie gingen im Schatten an der Mauer schweigend auf und nieder und genossen auf der Höhe, wo die Quarantänebaracken liegen, die kühle Frische der Seeluft, soweit solche morgens um sieben Uhr vorhanden war. Mr. Meagles‘ Reisegenosse nahm das Gespräch wieder auf.

»Darf ich Sie fragen«, sagte er, »was bedeutet der Name –«

»Tattycoram?« fiel Mr. Meagles ein. »Ich habe nicht die mindeste Idee –«

»Ich meinte«, sagte der andere, »daß –«

»Tattycoram«, ergänzte Mr. Meagles abermals.

»Danke – daß Tattycoram ein Name sei; und ich habe mich häufig über seine Seltsamkeit gewundert.«

»Nun, die Sache ist die«, sagte Mr. Meagles, »Mrs. Meagles und ich, müssen Sie wissen, sind praktische Leute.«

»Das haben Sie des öfteren im Lauf unserer angenehmen und interessanten Gespräche während der Spaziergänge auf diesem Pflaster erwähnt«, sagte der andere, indem ein flüchtiges Lächeln durch den Ernst seines braunen Gesichts brach.

»Praktische Leute! Als wir nun eines Tages, vor ungefähr fünf oder sechs Jahren, Pet mit in die Kirche des Findelspitals in London nahmen – Sie hörten doch schon von dem Findelspital in London? Es ist dem Findelhaus in Paris ähnlich.«

»Ich habe es gesehen.«

»Nun gut! Als wir Pet einst mit in jene Kirche nahmen, um dort Musik zu hören – weil wir es als praktische Leute für unsere Aufgabe halten, ihr alles zu zeigen, was ihr Freude machen kann –, fing die Mutter (mein gewöhnlicher Name für Mrs. Meagles) so zu weinen an, daß ich sie hinausbringen mußte. ›Was gibt es, Mutter?‹ sagte ich, als wir etwas mit ihr gegangen waren, ›du erschreckst Pet, meine Liebe‹ – ›Ich weiß es wohl, Vater‹, sagte die Mutter, ›aber ich glaube, gerade weil ich sie so innig liebe, ist es mir in den Sinn gekommen‹ – ›Was kam dir denn in den Sinn, Mutter?‹ – ›O Gott!‹ rief die Mutter, wiederum in Tränen ausbrechend, ›als ich all diese Kinder in Reihen übereinander sitzen und von dem Vater auf Erden, den keines von ihnen je gesehen, sich an den größeren Vater von uns allen im Himmel wenden sah, da dachte ich: Kommt wohl auch einmal eine unglückliche Mutter hierher und sieht sich unter diesen jungen Gesichtern um, neugierig, welches das arme Kind sein möchte, das sie in diese verlassene Welt gebracht, damit es niemals in seinem ganzen Leben ihre Liebe, ihren Kuß, ihr Gesicht, ihre Stimme, ja nicht einmal ihren Namen kennenlernen soll?‹ Das war doch sehr praktisch von der Mutter, und ich sagte ihr es. Ich sagte nämlich: ›Mutter, das nenne ich praktisch!‹

Der andere stimmte ihm nicht ohne Rührung bei.

»So sagte ich am nächsten Tag: Ich habe dir einen Vorschlag zu machen, Mutter, den du sicher billigen wirst. Laß uns eins von den Kindern zu uns nehmen: es kann Pet Gesellschaft leisten. Wir sind praktische Leute. Wenn wir deshalb ihr Temperament etwas mangelhaft oder in irgendeiner Weise ihre Gewohnheiten von den unsern abweichend finden, so werden wir wissen, was wir in dieser Richtung in Rechnung zu stellen haben. Wir wissen, wie ungeheuer viel von all den Einflüssen und Erfahrungen, die persönlichkeitsbildend für uns waren, abgezogen werden muß – keine Eltern, kein Brüderchen oder Schwesterchen, keine wirkliche Heimat, kein gläserner Pantoffel oder keine Feenpatin!3 Und auf diese Weise kamen wir zu Tattycoram.«

»Und der Name selbst –«

»Bei St. Georg!« sagte Mr. Meagles, »ich vergaß den Namen. Nun, sie hieß in der Anstalt Harriet Beadle – natürlich ein willkürlich erfundener Name. Nun änderten wir Harriet in Hatty ab und dann in Tatty, weil wir als praktische Leute dachten, ein scherzhafter Name sei etwas Neues für sie und müsse einen wohltuenden und gewinnbringenden Eindruck auf sie machen, nicht wahr? Was nun den Namen Beadle betrifft, so brauche ich kaum zu sagen, daß er ganz außer dem Spiele blieb. Wenn es etwas gibt, was unter keiner Form zu ertragen ist, etwas, was der Typus amtswichtiger Anmaßung und Abgeschmacktheit ist, etwas, was in Röcken und Westen und dicken Stöcken unser englisches Festhalten am Unsinn, über den jedermann sonst hinaus ist, repräsentiert, so ist es ein Beadle (Kirchendiener). Haben Sie in letzter Zeit keinen Kirchendiener gesehen?«

»Als ein Engländer, der mehr als zwanzig Jahre in China war, nein!«

»Dann«, sagte Mr. Meagles, indem er seinen Zeigefinger mit großer Lebhaftigkeit auf seines Reisegenossen Brust legte, »dann weichen Sie jedem Kirchendiener, wo Sie nur können, aus. Wenn ich Sonntags einen Kirchendiener in vollem Staat an der Spitze einer Armenschule die Straße entlang kommen sehe, so muß ich umkehren und Reißaus nehmen; sonst würde ich ihm sicher eins versetzen. Da, wie gesagt, der Name Beadle ganz aus dem Spiele blieb und der Gründer der Anstalt für die armen Findlinge ein segensreicher Mann mit Namen Coram war, so gaben wir Pets kleiner Gespielin diesen Namen. Bald hieß sie nun Tatty, bald Coram, bis wir endlich beide Namen verbanden, und nun heißt sie immer Tattycoram.«

»Ihre Tochter«, sagte der andere, als sie wieder schweigend auf und ab gegangen und, nachdem sie einen Augenblick über der Mauer nach der See hinabgeblickt, ihren Spaziergang wieder begonnen: »Ihre Tochter ist Ihr einziges Kind, nicht wahr, Mr. Meagles? Darf ich wohl fragen – nicht aus unzarter Neugier, sondern weil es mir in Ihrer Gesellschaft so wohl gefallen, ich vielleicht nie wieder in diesem Labyrinth der Welt ein ruhiges Wort mit Ihnen sprechen kann und mir eine klare Erinnerung von Ihnen und den Ihren zu bewahren wünsche –, darf ich Sie fragen, habe ich nicht mit Recht aus den Worten Ihrer guten Frau geschlossen, daß sie noch andere Kinder gehabt?«

»Nein, nein«, sagte Mr. Meagles. »Nicht gerade andere Kinder. Nur ein anderes Kind.«

»Ich fürchte, ich habe unabsichtlich ein zu zartes Thema berührt.« »Es hat nichts zu sagen«, versetzte Nr. Meagles. »Wenn es mich ernst macht, so verursacht es mir doch nicht gerade Schmerzen. Ich werde vielleicht für einen Augenblick still, aber es macht mich nicht unglücklich. Pet hatte eine Zwillingsschwester, die starb, als wir gerade ihre Augen – ganz Pets Augen – über dem Tische sehen konnten, wenn sie auf den Zehen stand und sich an der Tischkante festhielt.«

»Wirklich? O, in der Tat?«

»Ja, und da wir praktische Leute sind, bildete sich nach und nach eine Vorstellung in Mrs. Meagles und mir, die Sie vielleicht verstehen werden – vielleicht auch nicht. Pet und ihre Zwillingsschwester sahen sich so außerordentlich ähnlich und waren so vollkommen eins, daß wir sie seitdem nicht mehr in unsern Gedanken trennen konnten. Es hätte fortan nichts genützt, wenn wir uns auch gesagt, unser totes Kind sei ein bloßes Kind geblieben. Dies Kind hat sich mit den Veränderungen des uns gebliebenen Kindes verändert und war uns immer nahe. Wie Pet wuchs, so wuchs auch dieses Kind; wie Pet verständiger und jungfräulicher wurde, so wurde auch ihre Schwester verständiger und jungfräulicher – alles in denselben Abstufungen. Man würde mich ebenso schwer überzeugen können, daß, wenn ich morgen in die andere Welt käme, ich nicht durch die Gnade Gottes von einer Tochter geradeso wie Pet empfangen werden sollte, wie man mich davon überzeugen könnte, daß Pet neben mir keine reelle Existenz sei.«

»Ich verstehe Sie«, sagte der andere freundlich.

»Was meine Tochter betrifft«, fuhr ihr Vater fort, »so hat der plötzliche Verlust ihres kleinen Ebenbildes und Gespielin und ihre frühzeitige Berührung mit jenem Mysterium, an dem wir alle unsern gleichen Teil haben, das aber nicht immer einem Kind so schroff entgegentritt, notwendigerweise einigen Einfluß auf ihren Charakter gehabt. Dann waren ihre Mutter und ich nicht mehr jung, als wir heirateten, und Pet führte immer das Leben von Erwachsenen mit uns, obgleich wir uns bemühten, uns ihrem kindlichen Ideenkreis anzuschmiegen. Da sie etwas kränklich war, so gab man uns mehr als einmal den Rat, sie sooft wie möglich in ein anderes Klima und in eine andere Luft zu bringen – namentlich in dem Alter, in dem sie jetzt steht – und ihr viel Zerstreuung zu schaffen. Und da ich es nun nicht mehr nötig habe, hinter dem Kontorpult zu stehen (obgleich ich früher sehr arm war, sonst hätte ich wahrhaftig Mrs. Meagles weit früher geheiratet), so reisen wir jetzt in der Welt umher. Aus diesem Grunde fanden Sie uns am Nil und bei den Pyramiden, bei den Sphinxen und in der Wüste und so weiter und so weiter; deshalb wird Tattycoram auch mit der Zeit eine größere Reisende als Kapitän Cook sein.«

»Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Vertrauen«, sagte der andere.

»Bitte sehr«, entgegnete Mr. Meagles, »es ist gerne geschehen. Und nun, Mr. Clennam, darf ich Sie wohl fragen, ob Sie schon zu einem Entschluß über Ihr nächstes Reiseziel gekommen sind?«

»Wahrhaftig, nein. Ich bin ein so herren- und willenloser Weltfahrer, daß ich mich von jeder Strömung forttreiben lasse.«

»Es kommt mir seltsam vor – entschuldigen Sie meine Freiheit, mit der ich das sage –, daß Sie nicht direkt nach London gehen«, sagte Mr. Meagles in dem Ton vertraulichen Rates.

»Vielleicht werde ich es doch wohl tun.«

»Ah! aber ich meine mit einem festen Ziel.«

»Ich habe kein Ziel. Das heißt«, dabei errötete er ein wenig, »beinahe keines, auf das ich hinarbeiten könnte. Von bloßer Gewalt erzogen; gebrochen, nicht gebeugt; festgekettet an einen Gegenstand, wegen dessen man mich nie befragte und der nie meines Herzens Sache war; an das andere Ende der Welt versetzt, ehe ich noch mündig geworden, und dorthin verbannt bis zu meines Vaters Tode, der vor einem Jahre eingetreten; immer in einer Mühle mahlend, die ich stets gehaßt; was kann man im reifen Mannesalter von mir erwarten? Willen, Absicht, Hoffnung! Alle diese Lichter sind in mir ausgelöscht worden, ehe ich ihre Namen aussprechen konnte.«

»Zünden Sie sie wieder an!« sagte Mr. Meagles.

»Ach! das ist leicht gesagt. Ich bin der Sohn eines harten Vaters und einer harten Mutter, Mr. Meagles. Ich bin das einzige Kind von Eltern, die alles wogen, maßen und abschätzten, für die, was nicht gewogen, gemessen und abgeschätzt werden konnte, keinen Wert hatte. Strenggläubige Leute, wie man es nennt. Bekenner einer finstern Religion, so daß selbst ihre Religion ein düstres Opfer von Neigungen und Sympathien war, die ihnen nicht eigen und die sie als Kaufsumme für die Sicherheit ihrer Besitztümer darbrachten. Strenge Gesichter, unerbittlich strenge Zucht, Buße in dieser Welt und Schrecken in der nächsten – nirgends ein Schimmer von sanfter Milde und Barmherzigkeit, und in meinem gebeugten Herzen öde Leere überall –, das war meine Kindheit, wenn es nicht ein Mißbrauch ist, dieses Wort auf einen solchen Lebensanfang anzuwenden.«

»Wirklich?« fragte Mr. Meagles, den das Bild, das vor seine Phantasie geführt wurde, in eine sehr unbehagliche Stimmung versetzte. »Das war ja ein schrecklicher Lebensanfang. Aber raffen Sie sich auf. Sie müssen nun auf jede Weise suchen, alles, was darüber hinausliegt, als praktischer Mann zu nützen.«

»Wenn die Leute, die man gewöhnlich praktisch nennt, in Ihrer Weise praktisch wären –«

»Nun, das sind sie auch!« sagte Mr. Meagles.

»Wirklich?«

»Ich denke wohl«, entgegnete Mr. Meagles, darüber nachsinnend. »Hm! Man muß praktisch sein, und Mrs. Meagles und ich sind wirklich praktisch.«

»Mein ungekannter Weg ist vielleicht angenehmer und hoffnungsreicher, als ich erwartet hatte«, sagte Clennam, mit ernstem Lächeln den Kopf schüttelnd. »Genug von mir. Hier ist das Boot!«

Das Boot war mit aufgestülpten Hüten angefüllt, gegen die Mr. Meagles eine nationale Antipathie hatte. Die Träger dieser aufgestülpten Hüte landeten und kamen die Treppe herauf, und die eingesperrten Reisenden drängten sich auf einen Haufen zusammen. Dann brachten die aufgestülpten Hüte eine Menge Papiere hervor und verlasen die Namen, worauf unterschrieben, gesiegelt, gestempelt, überschrieben und gesandelt wurde, was alles sehr verwischte, sandige und unentzifferbare Resultate hatte. Endlich war das Ganze nach der Ordnung geschehen, und die Reisenden konnten gehen, wohin sie wollten.

In der neuen Freude der wiedergewonnenen Freiheit kümmerten sie sich wenig um das starre, grelle Licht und den Glanz, der das Auge blendete, sondern fuhren in bunten Booten über den Hafen und fanden sich wieder in einem Hotel zusammen, von dem die Sonne durch geschlossene Läden abgehalten wurde, und wo nackte steinerne Böden, hohe Decken und hallende Korridore die glühende Hitze mäßigten. Bald war eine lange Tafel in einem großen Saale mit einem köstlichen Mahle reich besetzt, und die Quarantäneherberge erschien inmitten dieser üppigen Gerichte, dieser südlichen Früchte, dieser gekühlten Weine, dieser Rivierablumen, des Gletscherschnees und der Spiegel, die alle Farben des Regenbogens widerstrahlten, in höchst dürftigem Lichte.

»Aber ich trage jetzt keinen Haß mehr gegen jene eintönigen Mauern im Herzen«, sagte Mr. Meagles. »Man beginnt sich immer mit einem Orte zu versöhnen, sobald man ihn im Rücken hat; ich möchte behaupten, ein Gefangener beginnt mild von seinem Gefängnis zu denken, wenn er freigelassen ist.«

Es waren ungefähr dreißig Personen bei Tisch und alle miteinander im Gespräch, natürlich in Gruppen. Vater und Mutter Meagles saßen, mit ihrer Tochter zwischen sich, am einen Ende des Tisches; gegenüber Mr. Clennam; ein großer französischer Herr mit rabenschwarzem Haar und Bart, gebräunt und von unheimlichem, ich will nicht sagen diabolischem Aussehen, der sich aber als der sanfteste Mensch von der Welt erwiesen; und eine junge hübsche Engländerin, die ganz allein reiste, mit einem stolzen beobachtenden Gesicht: sie hatte sich entweder selbst von den übrigen zurückgezogen oder wurde von ihnen gemieden –, niemand, außer vielleicht sie selbst, konnte darüber entscheiden. Die übrige Gesellschaft bestand aus den gewöhnlichen Elementen. Geschäfts- und Vergnügungsreisende; beurlaubte Offiziere aus Indien; Kaufleute, die nach Griechenland und der Türkei Handel trieben; ein jung verheirateter englischer Geistlicher in einer eng anliegenden Zwangsjoppe, auf der Hochzeitsreise mit seiner jungen Frau; ein majestätisches englisches Ehepaar von Patriziergeschlecht, mit einer Familie von drei heranwachsenden Töchtern, die zum Unheil ihrer Mitmenschen ein Tagebuch führten; und eine taube alte Engländerin, die mit ihrer entschieden erwachsenen Tochter auf Reisen steif geworden. Diese Tochter zog skizzierend durch die Welt, in der Hoffnung, sich zuletzt selbst in den Ehestand hineinzuschattieren.

Die zurückhaltende Engländerin nahm Mr. Meagles‘ letzte Bemerkung auf und sagte langsam und mit einer gewissen Betonung:

»Glauben Sie, daß ein Gefangener je seinem Gefängnis verzeihen würde?«

»Das war so meine Ansicht, Miß Wade. Ich behaupte nicht, bestimmt zu wissen, wie ein Gefangener fühlt. Denn ich war noch nie in solcher Lage.«

»Mademoiselle zweifeln«, sagte der Franzose in seiner Muttersprache, »daß es so leicht sei zu vergeben?«

»Allerdings.«

Pet mußte diese Worte für Mr. Meagles übersetzen, da er niemals sich Kenntnis von der Sprache der Länder, die er durchreiste, zu erwerben gesucht. »Oh!« sagte er. »Mein Gott! Das ist schlimm, sehr schlimm!«

»Daß ich nicht so leichtgläubig bin?»sagte Miß Wade.

»Nein, nicht so! Setzen Sie das Wort anders. Daß Sie nicht glauben wollen, es sei leicht zu vergeben.»

»Meine Erfahrung», entgegnete sie ruhig, »hat seit Jahren meinen Glauben in mancher Beziehung geändert. Das ist der natürliche Fortschritt, den wir machen, hat man mir versichert.»

»Wohl, wohl! Aber es ist nicht natürlich, Groll zu hegen, hoffe ich?»sagte Mr. Meagles freundlich.

»Wenn ich irgendwo zu Pein und Qual eingeschlossen gewesen, würde ich den Ort ewig hassen und ihn niederbrennen oder dem Boden gleichmachen zu können wünschen. Das ist meine Ansicht.«

»Etwas stark, Sir!« sagte Mr. Meagles zu dem Franzosen; denn es war gleichfalls eine seiner Gewohnheiten, Individuen aller Nationen in echtem Englisch anzureden, fest überzeugt, daß sie verpflichtet seien, es zu verstehen. »Etwas stark von unsrer schönen Freundin, das werden Sie mir hoffentlich zugestehen?«

Der Franzose erwiderte höflich: »Plait-il?»worauf Mr. Meagels mit großer Befriedigung antwortete: »Sie haben recht. Ganz meine Meinung.»

Als das Diner nach und nach ins Stocken geriet, hielt Mr. Meagles der Gesellschaft eine Rede. Sie war kurz und vernünftig genug, wenn man bedenkt, daß es eine Rede war, ja sogar herzlich. Sie ging darauf aus, daß der Zufall sie alle zusammengeführt und sie gutes Einverständnis untereinander erhalten. Nun aber sei die Scheidestunde herangerückt und es sei nicht wahrscheinlich, daß sie sich je wieder alle zusammenfinden würden. So könnten sie nichts Besseres tun, als einander mit einem gemeinschaftlichen Glas kühlen Champagners rings um die Tafel Lebewohl zu sagen und glückliche Reise zu wünschen. Dies geschah denn auch; mit allgemeinem Händeschütteln brach die Gesellschaft auf und schied für immer.

Die alleinstehende junge Dame hatte die ganze Zeit nichts gesprochen. Sie stand mit den übrigen auf und ging schweigend nach einem entfernten Winkel des großen Saals, wo sie sich auf dem Sofa in einer Fensternische niederließ und die Reflexe des Wassers zu beobachten schien, die mit silbernem Glanze auf den Stäben der Jalousien zitterten. Sie saß von der ganzen Länge des Zimmers abgekehrt da, als wäre sie aus eigner stolzer Wahl allein. Und doch war es so schwer wie je, positiv zu unterscheiden, ob sie die übrigen mied oder ob diese sie mieden.

Der Schatten, in dem sie saß, fiel wie ein düstrer Schleier über ihre Stirn und harmonierte sehr gut mit dem Charakter ihrer Schönheit. Man konnte das ruhige und übermütige Gesicht kaum sehen, das durch die geschwungenen dunklen Brauen und die dunklen Haarflechten gehoben wurde, ohne sich neugierig zu fragen, welchen Ausdruck es wohl annehmen würde, wenn eine Veränderung darüber hinginge. Daß es sanfter und freundlicher werden könnte, schien beinahe unmöglich. Dagegen mußte es auf die meisten Beobachter den Eindruck machen, daß es sich zu Zorn und wildem Trotz verdüstern könne und daß es in dieser Richtung sich ändern müßte, wenn es sich überhaupt veränderte. Es war nicht dazu abgerichtet und zugestutzt, irgendeinen bloß zeremoniösen Ausdruck anzunehmen. Obgleich kein offnes Gesicht, war es doch auch keine Maske. Ich bin ich selbst und vertraue nur auf mich. Eure Meinung gilt mir gleich; ich kümmere mich nicht um euch und höre und sehe mit Verachtung an, was ihr redet und tut – das sprach sich offen in diesem Gesicht aus. Das sagten diese stolzen Augen, diese emporgezogenen Nasenflügel, dieser schöne, aber zusammengepreßte und sogar grausame Mund. Selbst wenn man zwei von diesen Quellen des Ausdrucks bedeckt haben würde, hätte der dritte allein noch dasselbe gesagt. Deckte man sie alle zu, so würde selbst die bloße Haltung des Kopfes eine unbeugsame Natur verraten haben.

Pet war zu ihr hinaufgegangen (das Fräulein war der Gegenstand der Bemerkungen für Pets Familie und Mr. Clennam gewesen, die allein im Saal zurückgeblieben) und stand nun neben ihr.

»Erwarten Sie hier jemanden, Miß Wade?« sagte Pet stotternd, als diese sich schon bei den ersten Worten nach ihr umwandte.

»Ich? Nein!«

»Vater schickt nach der Post. Werden Sie ihm das Vergnügen machen, daß er fragen lassen darf, ob keine Briefe für Sie angekommen?«

»Ich danke, aber ich weiß, daß keine solchen hier sein können.«

»Wir fürchten«, sagte Pet schüchtern und halb zärtlich, indem sie sich neben sie setzte, »daß Sie sich sehr verlassen fühlen werden, wenn wir alle fort sind.«

»Wirklich?«

»Nicht etwas, sagte Pet entschuldigend, da sie ihre Blicke verlegen gemacht, »nicht etwa, daß ich damit sagen wollte, wir seien eine Gesellschaft für Sie, oder daß wir glaubten, Sie unterhalten zu können, oder daß wir gar meinten, Sie wünschten das.«

»Ich hatte auch nicht die Absicht gehabt, einen solchen Wunsch zu bekunden.«

»Nein. Natürlich nicht. Aber – kurz«, sagte Pet, schüchtern ihre Hand berührend, die teilnahmlos zwischen ihnen auf dem Sofa lag, »wollen Sie dem Vater nicht gestatten, Ihnen irgendeinen kleinen Beistand oder Dienst zu leisten? Es würde ihn ungemein freuen.«

»Wirklich ungemein freuen«, sagte Mr. Meagles, mit seiner Frau und Mr. Clennam näher tretend. »Alles, mit Ausnahme des Französischsprechens, wird mir ein Vergnügen sein.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, entgegnete sie, »aber meine Arrangements sind bereits getroffen, und ich ziehe es vor, meinen eignen Weg und auf meine Weise zu gehen.«

»So?« sagte Mr. Meagles zu sich selbst und sah sie mit einem verdutzten Blick an. »Nun! Auch darin liegt Charakter.«

»Ich bin nicht an die Gesellschaft junger Damen gewöhnt und fürchte, ich möchte nicht imstande sein, Ihnen meine Verehrung so gut wie andere an den Tag legen zu können. Angenehme Reise!«

Sie hätte zweifelsohne ihre Hand nicht hingereicht, wenn Mr. Meagles nicht die seine so gerade vor sie hingehalten, daß sie nicht ausweichen konnte. Sie gab ihm die ihre, und sie lag so gleichgültig darin wie auf dem Sofa.

»Leben Sie wohl!« sagte Mr. Meagles. »Das ist das letzte Lebewohl auf der Liste; denn Mutter und ich haben gerade von Mr. Clennam Abschied genommen, und er wartet nur, um Pet Lebewohl zu sagen. Adieu. Wir sehen uns vielleicht nie wieder.«

»Auf unsrem Wege durchs Leben werden wir den Leuten begegnen, die uns zu begegnen voraus bestimmt sind, sie mögen kommen, woher sie wollen und auf welchem Wege sie wollen«, lautete die gefaßte Antwort, »und was uns bestimmt ist, daß wir ihnen tun sollen, und was ihnen bestimmt ist, daß sie uns tun sollen, das wird alles sicher geschehen.«

Es lag etwas in dem Ton dieser Worte, was Pets Ohr unangenehm berührte. Sie schienen sagen zu wollen, daß, was geschehen müsse, notwendig schlimm sei, und sie sagte unwillkürlich flüsternd: »O Vater!« und hing sich in ihrer kindisch verzogenen Weise fester an ihn. Der Sprecherin entging dies nicht.

»Ihre hübsche Tochter«, sagte sie, »erschrickt bei dem Gedanken. Aber«, fuhr sie fort und sah sie dabei lebhaft an, »Sie dürfen überzeugt sein, daß bereits Männer und Frauen unterwegs sind, die mit Ihnen zu tun haben werden und denen Sie nicht ausweichen können. Sie dürfen sich darauf verlassen, sie werden hundert, tausend Meilen übers Meer kommen; sie sind Ihnen vielleicht schon ganz nahe; sie kommen vielleicht, ohne daß Sie etwas davon wissen oder es zu verhindern etwas tun können, aus dem schlechtesten Kehricht dieser Stadt.«

Mit dem kältesten Lebewohl und mit einem gewissen überdrüssigen Ausdruck, der ihrer Schönheit, obgleich sie kaum in voller Blüte stand, einen Schein von Abgelebtheit gab, verließ sie das Zimmer.

Sie mußte über viele Treppen und Gänge gehen, wenn sie von diesem Teil des geräumigen Hauses nach dem Zimmer kommen wollte, das sie sich genommen. Als sie ihre Wanderung beinahe beendet hatte und durch den Gang ging, in dem sich ihr Zimmer befand, hörte sie ein ungestümes Murren und Seufzen. Eine Tür stand offen, und sie sah darin die Gesellschafterin des Mädchens, das sie soeben verlassen, die Zofe mit dem seltsamen Namen.

Sie blieb stehen, um sich die Zofe zu betrachten. Ein finstres, leidenschaftliches Mädchen! Ihr reiches schwarzes Haar hing über das Gesicht herein; dieses war gerötet und glühend, und während sie schluchzte und tobte, zupfte sie mit schonungsloser Hand an den Lippen.

»Selbstsüchtige rohe Menschen!« sagte das Mädchen seufzend und zuweilen tief aufatmend. »Kümmern sich nicht darum, was aus mir wird! Lassen mich hier hungern und dürsten und lassen mich elend verschmachten, ohne nach mir zu fragen! Bestien! Teufel! Scheusale!«

»Mein armes Mädchen, was ist Ihnen?«

Sie sah plötzlich mit geröteten Augen auf und ließ die Hände, die eben noch den durch große rote Blutflecken entstellten Hals zerfleischen wollten, sinken. »Das geht Sie nichts an, wie mir ist. Es geht niemanden etwas an.«

»O doch! Ihr Anblick schmerzt mich.«

»Sie haben keinen Schmerz«, sagte das Mädchen. »Sie sind vergnügt. Ja, Sie sind darüber vergnügt. Nur zweimal war ich drüben in der Quarantäne in diesem Zustand; und beide Male fanden Sie mich. Ich fürchte mich vor Ihnen.«

»Fürchten, und vor mir?«

»Ja. Sie erscheinen mir immer wie meine Wut, meine Bosheit, meine – was weiß ich. Aber ich werde mißhandelt, ich werde mißhandelt, ich werde mißhandelt.« Hier fing das Schluchzen und Weinen und das Zerfleischen mit der Hand, das seit der ersten Überraschung aufgehört hatte, wieder an.

Die Fremde betrachtete sie mit einem seltsam aufmerksamen Lächeln. Es war erstaunlich, zu sehen, welcher Kampf im Innern des Mädchens vorging und wie sie sich körperlich marterte, als ob sie von Dämonen zerrissen würde.

»Ich bin zwei oder drei Jahre jünger als sie, und doch muß ich alles für sie tun, als ob ich älter wäre, und sie ist es, die immer geliebkost und liebes Kind genannt wird! Ich verabscheue ihren Namen. Ich hasse sie. Sie machen eine Närrin aus ihr, sie verzärteln sie. Sie denkt nur an sich, denkt nicht mehr an mich, als wenn ich ein Stock oder Stein wäre.« So ging es fort.

»Sie müssen Geduld haben.«

»Ich will keine Geduld haben!«

»Wenn sie sich viel um sich kümmern und wenig oder gar nicht um Sie, so müssen Sie nicht darauf achten.«

»Ich will aber darauf achten.«

»St! Reden Sie klüger. Sie vergessen Ihre abhängige Stellung.«

»Was kümmere ich mich darum! Ich laufe fort. Ich will irgendein Unheil anrichten! Ich kann es nicht länger ertragen; ich will es nicht länger ertragen; ich würde sterben, wenn ich’s zu ertragen suchte!«

Die Fremde stand, die Hand auf die Brust gelegt, an der Tür und betrachtete das Mädchen wie ein Mensch, der einen kranken Körperteil hat und neugierig an der Sektion und Erörterung eines analogen Falles teilnimmt.

Das Mädchen wütete und rang mit aller Jugendkraft und allem Lebenstemperament, bis nach und nach ihre leidenschaftlichen Ausbrüche in ein gebrochenes Murren übergingen, als ob der Schmerz die Oberhand über sie gewänne. In entsprechenden Abstufungen sank sie in einen Stuhl, dann auf die Knie, dann auf den Boden neben dem Bett, indem sie die Decken mit sich zog, halb, um verschämt den Kopf und das nasse Haar darein zu hüllen, halb, wie es schien, um sie zu umarmen und wenigstens etwas an die reuige Brust zu drücken.

»Weichen Sie von mir! Weichen Sie von mir! Wenn mein böser Geist über mich kommt, bin ich eine Tolle. Ich weiß, ich könnte ihn von mir fernhalten, wenn ich nur wollte, und bisweilen gebe ich mir auch Mühe. Zu andern Zeiten aber will und tu ich’s nicht. Was habe ich gesagt! Ich wußte, als ich’s sagte, daß es lauter Lüge war. Sie glauben, irgend jemand werde wohl für mich gesorgt haben, und ich hätte, was ich brauchte. Sie sind stets gut gegen mich. Ich liebe sie von Herzen. Niemand könnte liebevoller gegen ein undankbares Geschöpf sein, als sie es immer gegen mich waren. Gehen Sie, ich fürchte mich vor Ihnen. Ich fürchte mich vor mir selbst, wenn mein böser Geist über mich kommt. Gehen Sie und lassen Sie mich beten und weinen, daß ich besser werde.«

Der Tag neigte sich, und wieder starrte sich das grelle Weiß müde. Die heiße Nacht lag auf Marseille, und die Gesellschaft von diesem Morgen zerstreute sich durch die Dunkelheit nach allen Richtungen. So ziehen wir ruhelosen Wanderer bei Tag und Nacht, unter Sonne und Sternen, an staubigen Hügeln hinan und über ermüdende Ebenen, zu Land und zur See, bald kommend, bald gehend, hinüber und herüber aufeinander einwirkend, durch die wunderbare Pilgerfahrt des Lebens.

  1. Die Marseillaise, das bekannte Revolutionslied, das übrigens in Straßburg von Rouget de Lisle komponiert wurde als Kampflied gegen Preußen und das später Parteilied der Jakobiner ward, die es zuerst in Marseille sangen.
  2. Wortspiel nach dem Anfang der Marseillaise: Die Marseillaise, das bekannte Revolutionslied, das übrigens in Straßburg von Rouget de Lisle komponiert wurde als Kampflied gegen Preußen und das später Parteilied der Jakobiner ward, die es zuerst in Marseille sangen.
  3. Anspielung auf Kindermärchen, die das Kindergemüt erziehlich beeinflussen.

Neunundzwanzigstes Kapitel


Neunundzwanzigstes Kapitel

Mrs. Flintwinch fährt fort zu träumen.

Das Haus in der City bewahrte sein düsteres und finsteres Aussehen während all dieser Vorgänge, und die gebrechliche Frau, die darin wohnte, führte unverändert einen Tag wie den andern dasselbe Leben. Morgen, Mittag und Abend, Morgen, Mittag und Abend kehrten eins ums andere im Geleis seiner Einförmigkeit wieder, immer dieselbe widerwillige Rückkehr derselben Reihenfolge des mechanischen Treibens wie in dem Gehwerk einer Uhr.

Der Rollstuhl hatte seine Erinnerungen und Träumereien, kann man sich denken, wie jeder Ort sie hat, der zu einer Station eines menschlichen Wesens gemacht ist. Bilder von demolierten Straßen und veränderten Häusern, wie sie früher waren, als sie die Insassin des Stuhles noch kannte; Bilder von Menschen, wie auch diese einst ausgesehen, denen jedoch für die Zeit, seitdem man sie nicht mehr gesehen, wenig oder keine Veränderung eingeräumt worden war; dieser mußte eine große Zahl im langen Geschäftsleben finsterer Tage vorübergegangen sein. Die Uhr des geschäftigen Daseins um die Stunde zu stellen, wo man sich selbst davon ausgeschlossen hatte, zu glauben, daß die Menschen sich nicht mehr bewegen können, wenn wir zu einem Stillstand gebracht sind, außerstande zu sein, die Wechsel der Dinge, die über unsern Horizont hinaus liegen, nach einem größeren Maßstab als dem kleinlichen des eignen einförmigen und beschränkten Daseins zu messen – ist die Schwäche mancher gebrechlicher Menschen und die geistige Krankheit beinahe aller zurückgezogen Lebenden.

Welche Szenen und handelnden Personen die strenge Frau am meisten im Geiste an sich vorüberziehen ließ, wenn sie so von Jahr zu Jahr in ihrem dunklen Zimmer saß, wußte niemand, außer sie selbst. Mr. Flintwinch hätte mit seiner schiefen Gegenwart, die täglich wie eine außergewöhnliche mechanische Kraft auf sie wirkte, es vielleicht aus ihr herausgepreßt, wenn weniger Widerstand in ihr gewesen wäre. Aber sie war zu stark für ihn. Mistreß Affery, die beständig ihren Oberherrn und ihre kränkliche Herrin mit einem Gesicht voll kritikloser Bewunderung ansah, nach Einbruch der Dunkelheit mit der Schürze über dem Kopf im Hause umherging, immer auf unerklärliches Geräusch lauschte und bisweilen welches hörte, und nie aus ihrem geisterhaften, träumerischen, schlafwachen Zustande herauskam, hatte damit wirklich genug zu tun.

Es wurden sehr gute Geschäfte im Hause gemacht, wie Mistreß Affery merkte; denn ihr Gatte hatte in seinem kleinen Bureau außerordentlich viel zu schaffen, er sah mehr Leute, als sonst in vielen Jahren dahin gekommen waren. Das konnte leicht sein, da das Haus lange verlassen gestanden; aber er empfing Briefe und Besuche, führte die Bücher und die Korrespondenz. Er besuchte ferner selbst auch andre Kontore, die Kais, Docks, ferner das Zollhaus, Garraways Kaffeehaus, das Jerusalemer Kaffeehaus und die Börse, so daß er viel aus und ein ging. Er begann auch zuweilen am Abend, wenn Mistreß Clennam keinen besondern Wunsch nach seiner Gesellschaft aussprach, nach einem Wirtshaus in der Nähe zu gehen, um nach den Schiffsnachrichten und den Kurszetteln in den Abendzeitungen zu sehen und wohl auch kleinen geselligen Verkehr mit Kapitänen und Handelsschiffen, die dieses Etablissement besuchten, zu pflegen. Zu einer bestimmten Tageszeit hielten er und Mrs. Clennam Beratung in Geschäftsangelegenheiten, und es kam Affery, die immer lauschend und lauernd außen herumkroch, vor, als ob die beiden Gescheiten Geld machten.

Der Gemütszustand, in den Mr. Flintwinchs geblendete Frau verfallen war, hatte sich nach und nach in allen ihren Blicken und Handlungen so deutlich ausgesprochen, daß sie in der Meinung der beiden Gescheiten sehr tief sank und als eine Person betrachtet wurde, die, nie von starken Geistesgaben, nun gar verrückt zu werden drohte. Vielleicht weil ihr Äußeres kein kaufmännisches Gepräge trug oder weil ihm vielleicht bisweilen die Besorgnis aufstieg, es möchte in den Augen seiner Kunden ein schiefes Licht auf seinen gesunden Verstand werfen, daß er sie zur Frau genommen, befahl ihr Mr. Flintwinch, daß sie außerhalb des häuslichen Trios von ihren ehelichen Beziehungen schweigen und ihn nicht mehr Jeremiah nennen solle. Ihr häufiges Vergessen dieser Ermahnung verschlimmerte ihr ängstliches Wesen, da Mr. Flintwinch die Gewohnheit hatte, sich an ihrer Saumseligkeit dadurch zu rächen, daß er ihr auf der Treppe nachsprang und sie strafte. Die Folge davon war, daß sie immer in der peinlichen Angst schwebte, es werde ihr irgendwo aufgelauert.

Klein-Dorrit hatte ein langes Tagewerk in Mrs. Clennams Zimmer beendet und war gerade damit beschäftigt, die Flickchen und Schnipsel zusammenzulesen, ehe sie nach Hause ging. Mr. Pancks, den Affery soeben hereingeführt, richtete an Mrs. Clennam die Frage nach ihrem Befinden, indem er bemerkte, daß er »zufällig an dem Hause vorüberkommend« vorgesprochen hätte, um von der Hausbesitzerin zu erfahren, wie sie sich befinde. Mrs. Clennam sah ihn mit scharf zusammengezogenen Augenbrauen an.

»Mr. Casby weiß«, sagte sie, »daß ich keinen Veränderungen unterworfen bin. Die Veränderung, die ich hier erwarte, ist die große Veränderung.«

»Wirklich, Ma’am?« versetzte Mr. Pancks und ließ seine Blicke nach der Gestalt der kleinen Näherin gleiten, die auf ihren Knien die Fäden und Abfälle ihrer Arbeit von dem Teppich auflas. »Sie sehen sehr gut aus, Ma’am.«

»Ich trage, was ich zu tragen habe. Tun Sie, was Sie angeht.«

»Danke, Ma’am«, sagte Mr. Pancks, »das ist mein Bemühen.«

»Sie kommen oft hier vorbei, nicht wahr?« fragte Mrs. Clennam.

»Allerdings, Ma’am«, sagte Pancks, »namentlich seit einiger Zeit; ich bin in letzter Zeit häufig bald aus der einen, bald aus der andern Ursache vorübergekommen.«

»Bitten Sie Mr. Casby und seine Tochter, sich nicht mit Schicken nach mir zu beunruhigen. Wenn sie mich zu sehen wünschen, so wissen sie, daß ich hier sie zu empfangen bereit bin. Sie brauchen sich nicht mit Schicken zu bemühen. Und Sie brauchen sich nicht zu bemühen, zu kommen.“

»Nicht die geringste Mühe«, sagte Mr. Pancks. »Sie sehen wirklich ungemein gut aus, Ma’am.«

»Danke. Guten Abend.«

Dieser Abschied und der ihn begleitende gerade nach der Tür ausgestreckte Finger waren so kurz und entschieden, daß Pancks keinen Ausweg wußte, wie er seinen Besuch verlängern sollte. Er strich sein Haar mit dem heitersten Ausdruck in die Höhe, blickte wieder nach der kleinen Gestalt, sagte: »Guten Abend, Ma’am; brauchen nicht mit mir zu gehen, Mrs. Affery; ich kenne den Weg zur Tür« und dampfte hinaus. Mrs. Clennam sah ihm, das Kinn auf die Hand gestützt, mit aufmerksamen und finster mißtrauischen Blicken nach, und Affery starrte sie an, als ob sie von einem Zauber gefesselt wäre.

Langsam und gedankenvoll wandten sich Mrs. Clennams Blicke von der Tür, durch die Pancks hinausgegangen war, nach Klein-Dorrit, die vom Teppich aufstand. Das Kinn schwerer auf die Hand sinken lassend und mit lauernden, gesenkten Blicken saß die kranke Frau da und sah sie an, bis sie ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Klein-Dorrit errötete bei ihrem Blick und sah zu Boden. Mrs. Clennam saß noch immer unverwandten Auges da.

»Klein-Dorrit«, sagte sie, als sie endlich das Schweigen brach, »was weißt du von diesem Mann?«

»Ich weiß nichts von ihm, Ma’am, als daß ich ihn irgendwo sah und daß er mit mir gesprochen.«

»Was hat er zu dir gesagt?«

»Ich verstehe nicht, was er zu mir gesagt, er ist so wunderlich. Aber nichts Rauhes und Unangenehmes.«

»Weshalb kommt er hierher, um dich zu sehen?«

»Ich weiß nicht, Ma’am«, sagte Klein-Dorrit mit größter Offenheit.

»Du weißt, daß er hierher kommt, um dich zu sehen?«

»Ich vermute es«, sagte Klein-Dorrit. »Aber weshalb er hierher kommt, Ma’am, das kann ich mir nicht denken.«

Mrs. Clennam schlug ihre Augen zu Boden und saß, das strenge, ruhige Gesicht so fest auf einen Gedanken in ihrem Innern gerichtet, daß es kaum noch auf die Gestalt gerichtet war, die aus ihren Blicken zu verschwinden schien. Sie blieb ganz in Gedanken versunken. Es vergingen einige Minuten, ehe sie aus diesem Grübeln erwachte und ihre strenge Fassung wiedergewann.

Klein-Dorrit hatte indessen gewartet, um zu gehen, fürchtete jedoch, sie durch eine Bewegung zu stören; sie wagte jetzt den Ort zu verlassen, wo sie gestanden, seit sie sich erhoben, und leise um den Räderstuhl her zu gehen. Dann blieb sie neben ihr stehen, um »gute Nacht, Ma’am!« zu sagen.

Mrs. Clennam streckte ihre Hand aus und legte sie auf ihren Arm. Klein-Dorrit, die diese Berührung verwirrt machte, stand zitternd da. Vielleicht trat eine flüchtige Erinnerung an die Geschichte von der Prinzessin vor ihre Seele.

»Sage mir, Klein-Dorrit«, sagte Mrs. Clennam. »Hast du jetzt viele Freunde?«

»Sehr wenige, Ma’am. Außer Ihnen nur Miß Flora und – noch einen.«

»Meinst du diesen Mann?« sagte Mrs. Clennam, indem sie wieder mit dem ausgestreckten Finger nach der Tür zeigte.

»O nein, Ma’am!«

»Einen Freund von ihm vielleicht?«

»Nein, Ma’am.« Klein-Dorrit schüttelte ernstlich den Kopf. »O nein! Keinen, der ihm entfernt ähnlich oder mit ihm befreundet wäre.«

»Gut!« sagte Mrs. Clennam beinahe lächelnd. »Es geht mich nichts an. Ich frage, weil ich Interesse an dir nehme: und weil ich glaube, ich war deine Freundin, als du keine andre hattest, die dir helfen konnte. Ist das so?«

»Ja, Ma’am: das ist wirklich so. Ich war oft hier. Wenn Sie und die Arbeit, die Sie mir gaben, nicht gewesen wären, hätten wir alles entbehren müssen.«

»Wir«, wiederholte Mrs. Clennam, nach der Uhr sehend, die einst ihrem verstorbenen Mann gehört hatte und nun beständig auf ihrem Tische lag. »Seid ihr viel Personen zu Haus?«

»Nur mein Vater und ich, jetzt. Ich meine, nur Vater und ich haben gewöhnlich von dem zu leben, was wir verdienen.«

»Hast du viele Entbehrungen ertragen müssen, du und dein Vater, und wer sonst noch zu dir gehört?« fragte Mrs. Clennam in bedächtigem Ton, während sie nachdenklich die Uhr hin und her drehte.

»Bisweilen war unser Leben ziemlich hart«, sagte Klein-Dorrit mit ihrer sanften Stimme und in ihrer ängstlichen Weise, die Klagen gern vermied: »aber ich halte es – in dieser Beziehung – nicht für härter, als es viele Leute finden.«

»Das ist gut gesprochen!« versetzte Mrs. Clennam lebhaft. »Das ist die Wahrheit! Du bist ein gutes, gescheites Mädchen. Und du bist dabei ein dankbares Mädchen, wenn ich mich nicht in dir täusche.«

»Das ist ja ganz natürlich. Es ist kein Verdienst dabei, das zu sein«, sagte Klein-Dorrit. »Ich bin es wirklich.«

Mrs. Clennam zog mit einer sanften Güte, deren die träumerische Affery sie nie im Traume für fähig gehalten hätte, das Gesicht der kleinen Näherin zu sich herab und küßte sie auf die Stirn.

»Nun gehe, Klein-Dorrit«, sagte sie, »es wird sonst für dich zu spät, armes Kind.«

In all den Träumen, die Mistreß Affery aufgehäuft, seit sie sich dieser Beschäftigung widmete, hatte sie nichts Merkwürdigeres als dies geträumt. Ihr Kopf schmerzte sie bei dem Gedanken, daß sie das nächste Mal sehen würde, wie der andere Gescheite Klein-Dorrit küßte und dann die beiden Gescheiten sich umarmten und sich in Tränen des Mitgefühls für das ganze Menschengeschlecht auflösten. Der Gedanke machte sie ganz betäubt, als sie die leichten Schritte die Treppe hinabbegleitete, damit die Haustür sicher verschlossen würde.

Als sie dieselbe öffnete, um Klein-Dorrit hinauszulassen, sah sie Mr. Pancks, statt seiner Wege gegangen zu sein, wie man wohl an jedem minder merkwürdigen Ort und unter weniger merkwürdigen Umständen hätte von ihm erwarten können, im Hof vor dem Hause unruhig auf und ab gehen. In dem Augenblick, als er Klein-Dorrit sah, kam er rasch an ihr vorüber, sagte, den Finger an seiner Nase (wie Mistreß Affery deutlich hörte): »Pancks der Zigeuner, beim Wahrsagen« und verschwand.

»Der Herr schütze uns, hier ist ein Zigeuner und ein Wahrsager dabei!« rief Mistreß Affery. »Was weiter?«

Sie stand an der offenen Tür, erschrocken über dieses Rätsel. Es war ein regnerischer Gewitterabend. Die Wolken trieben dichtgeballt über ihren Häuptern hin, der Wind wehte in heftigen Stößen, schüttelte die Läden in der Nachbarschaft, die losgegangen waren, drehte die rostigen Kaminkappen und Wetterhähne im Wirbel und stürmte durch einen kleinen benachbarten Kirchhof, als ob er im Sinne hätte, die toten Bürger aus ihren Gräbern zu wecken. Der dumpfe Donner, der aus allen vier Enden des Himmels grollte, schien Rache zu künden für diese versuchte Entweihung und zu murmeln: »Laß sie ruhen! Laß sie ruhen!«

Mistreß Affery, deren Furcht vor Donner und Blitz nur die Bangigkeit vor dem unheimlichen Haus mit seiner frühzeitigen und außernatürlichen Dunkelheit gleichkam, stand unentschieden da, ob sie hineingehen sollte oder nicht, bis die Frage für sie dadurch entschieden wurde, daß die Tür durch einen heftigen Windstoß ihr vor der Nase zuschlug und sie ausgeschlossen war. »Was ist jetzt zu machen, was ist jetzt zu machen?« rief Mistreß Affery in diesem letzten ihr unheimlichen Traum. »Sie ist ja ganz allein drinnen und kann so wenig herauskommen, um zu öffnen, wie die Toten auf dem Kirchhofe!«

In diesem Dilemma lief Mistreß Affery, die Schürze als Kapuze über dem Kopf, um den Regen abzuhalten, mehrmals jammernd in dem öden gepflasterten Hofe auf und nieder. Warum sie sich dann bückte und zum Schlüsselloch in der Tür hineinsah, als ob das Auge sie öffnen könnte, wäre schwer zu sagen gewesen. Aber trotzdem würden die meisten Leute in dieser Lage das gleiche getan haben, und das war es denn auch, was sie tat.

Aus dieser Stellung fuhr sie plötzlich mit einem leichten Schrei auf, als sie etwas auf ihrer Schulter fühlte. Es war die Berührung einer Hand, einer Männerhand.

Der Mann war wie ein Reisender gekleidet: er hatte eine mit Pelz verbrämte Mütze auf und trug einen weiten Mantel. Er sah wie ein Ausländer aus. Er hatte langes Haar und einen dicken Schnurrbart – onyxschwarz, mit Ausnahme der zottigen Spitzen, die etwas rötlich waren – und eine hohe Habichtsnase. Er lachte über Mistreß Afferys Schreck und Schrei; und als er lachte, bäumte sich sein Schnurrbart unter der Nase, und seine Nase kam über den Schnurrbart herab.

»Was gibt es?« fragte er in reinem Englisch. »Wovor fürchten Sie sich?«

»Vor Ihnen!« keuchte Affery.

»Vor mir, Madame?«

»Und dem schauerlichen Abend und – und vor allem«, sagte Affery, »und hier! Der Wind hat die Tür zugeschlagen, und ich kann nicht hineinkommen.«

»Ha!« sagte der Fremde, der dies sehr kalt aufnahm. »Wahrhaftig! Kennen Sie einen Namen wie Clennam hier in der Nähe?«

»Der Herr sei uns gnädig, ich sollte wohl denken, sollte wohl denken!« rief Affery, bei dieser Frage von neuem verzweiflungsvoll die Hände ringend.

»Wo ist er, der so heißt?«

»Wo?« rief Affery zu einem neuen Blick in das Schlüsselloch angespornt. »Wo anders, als in diesem Haus hier? Und sie ist ganz allein in ihrem Zimmer und kann ihre Glieder nicht gebrauchen, kann sich nicht bewegen, um sich selbst oder mir zu helfen, und der andre Gescheite ist ausgegangen; der Herr vergebe mir,« rief Affery, durch diese gehäuften Betrachtungen zu einem wahnwitzigen Herumhüpfen getrieben, »wenn ich nicht plötzlich wahnsinnig werde!«

Ein wärmeres Interesse für die Sache gewinnend, da sie ihn selbst berührte, trat der Fremde zurück, um an dem Haus hinaufzusehen, und seine Blicke ruhten bald auf dem langen schmalen Fenster des kleinen Zimmers neben der Gangtür.

»Wo mag die Dame sein, die den Gebrauch ihrer Glieder verloren, Madame?« fragte er mit jenem eigentümlichen Lächeln, das die Blicke von Mistreß Affery unwillkürlich fesselte.

»Dort oben!« sagte Affery. »Die beiden Fenster.«

»Ha! Ich bin von einer hübschen Größe, aber ich könnte doch nicht die Ehre haben, mich in jenem Zimmer vorzustellen, ohne eine Leiter. Nun, Madame, offen gesagt – Offenheit ist ein Zug meines Charakters – soll ich die Tür für Sie öffnen?«

»Ja, allerdings, mein lieber Herr, und tun Sie es nur gleich«, rief Affery, »denn sie ruft mich vielleicht schon in diesem Augenblick oder setzt sich ans Feuer und verbrennt sich zu Tode. Man weiß nicht, was ihr alles geschehen kann, ich komme von Sinnen, wenn ich nur daran denke.«

»Warten Sie, meine gute Madame.« Er dämpfte ihre Ungeduld mit einer sanften weißen Hand. »Geschäftsstunden, fürchte ich, sind für heute vorüber?«

»Ja, ja, ja!« rief Affery. »Schon lange.«

»Lassen Sie mich Ihnen denn einen billigen Vorschlag machen. Billigkeit ist ein Zug meines Charakters. Ich bin soeben mit dem Dampfboot gelandet, wie Sie vielleicht sehen.« Er zeigte ihr, daß sein Mantel sehr naß und seine Stiefel mit Wasser getränkt waren; sie hatte vorher schon bemerkt, daß er zerzaust und blaß, wie von einer beschwerlichen Reise, und so erkältet war, daß ihm unwillkürlich die Zähne klapperten. »Ich bin soeben mit dem Dampfboot gelandet, Madame, und von dem Wetter zurückgehalten worden; das verdammte Wetter! Infolgedessen, Madame, ist ein notwendiges Geschäft, das ich hier sonst in den gewöhnlichen Stunden erledigt hätte (ein notwendiges Geschäft, weil Geldgeschäft), noch abzumachen. Wenn Sie nun eine bevollmächtigte Person, die hier in der Nähe ist, für mein Öffnen der Tür herbeischaffen wollten, um das Geschäft abmachen zu können, so werde ich die Tür öffnen. Wenn Sie jedoch Einwendungen dagegen zu machen haben, so werde ich –« und mit demselben Lächeln machte er eine bezeichnende Bewegung des Weggehens.

Mistreß Affery, herzlich froh über den versprochenen Vertrag, gab bereitwillig ihre Zustimmung. Der Fremde bat sie sofort, ihm die Gefälligkeit zu erweisen, seinen Mantel zu halten, eilte nach dem schmalen Fenster, sprang auf die Fensterbank, kletterte an den Ziegelsteinen hinauf, hatte in einem Augenblick seine Hand an dem Schiebfenster und hob es in die Höhe. Seine Augen hatten einen so unheimlichen Ausdruck, als er seinen Fuß in das Zimmer streckte und sich nach Mistreß Affery umsah, daß es ihr kalt den Rücken hinauflief, und sie dachte, wenn er jetzt geradeswegs zu der Kranken hinaufginge, um sie zu morden, was könnte sie tun, um ihn daran zu hindern?

Glücklicherweise hatte er keine solche Absicht; denn er erschien einen Augenblick später wieder an der Haustür. »Jetzt, meine liebe Madame«, sagte er, als er seinen Mantel wieder nahm und ihn anzog, »wenn Sie die Güte haben wollen – was zum Teufel ist das?«

Das seltsamste Geräusch. Offenbar dicht bei ihnen, nach dem eigentümlichen Stoß, den er der Luft mitteilte und der doch gedämpft war, als käme er aus der Ferne. Ein Zittern, ein Rumpeln und ein Fallen von einer leichten, harten Sache.

»Was zum Teufel ist das?«

»Ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe Ähnliches schon dann und wann gehört«, sagte Affery, die ihn am Arm ergriffen hatte.

Er könne kaum ein sehr mutiger Mann sein, dachte sie in ihrem traumhaften Schreck: denn seine zitternden Lippen hatten sich ganz entfärbt. Nachdem er einige Augenblicke gelauscht, gab er sich das Ansehen, als ob er sich nichts daraus machte.

»Ach was! Nichts! Nun, meine liebe Madame, ich glaube, Sie sprachen von einer gescheiten Person, Wollen Sie so gut sein und mich mit jenem Genie zusammenbringen?« Er hielt die Tür in seiner Hand, als wollte er sie wieder abschließen, für den Fall, daß sie ihr Versprechen nicht erfülle.

»Werden Sie nichts von der Tür und mir sagen?« flüsterte Affery.

»Kein Wort.«

»Und werden Sie sich auch nicht vom Platz rühren oder sprechen, wenn sie ruft, während ich um die Ecke gehe?«

»Madame, ich bin eine Statue.«

Affery hatte eine so lebhafte Furcht, er möchte verstohlenerweise die Treppe hinaufgehen, wenn sie ihm den Rücken kehrte, daß sie, sobald sie ihm aus dem Gesicht war, nach dem Torweg zurückkehrte, um ihn zu beobachten. Als sie ihn jedoch auf der Schwelle stehen sah, mehr außer als in dem Hause, als ob er keine besondere Vorliebe für die Dunkelheit hätte und keinen Wunsch fühlte, ihre Geheimnisse zu ergründen, eilte sie in die nächste Straße und schickte jemanden in das Gasthaus zu Mr. Flintwinch, der sogleich herauskam. Als die beiden miteinander zurückkehrten – die Dame voraus und Mr. Flintwinch ihr auf den Fersen hinterdrein, von der Hoffnung angespornt, sie noch durchschütteln zu können, ehe sie das Haus erreichte –, sahen sie den Herrn noch an demselben Platze in der Dunkelheit stehen und hörten die strenge Stimme von Mrs. Clennam aus ihrem Zimmer herabrufen: »Wer ist da? Was gibt es? Warum antwortet niemand? Wer ist unten?«

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Das Wort eines Gentleman.

Als Mr. und Mrs. Flintwinch nach dem Tor des alten Hauses im Zwielicht herankeuchten und Jeremiah kaum noch eine Sekunde von Affery entfernt war, fuhr der Fremde zurück. »Tod und Teufel!« rief er. »Wie kommen Sie hierher?«

Mr. Flintwinch, an den diese Worte gerichtet waren, zeigte sich nicht minder erstaunt über die Anwesenheit des Fremden. Er sah ihn höchst verwundert an, blickte sich dann um, als erwartete er jemanden zu sehen, den er bislang noch nicht hinter sich gewahrt, sah darauf wieder den Fremden an, in sprachloser Erwartung dessen, was er wollte. Er forderte von seiner Frau durch einen Blick eine Erklärung; und als diese nicht erfolgte, packte er sie und schüttelte sie so heftig, daß ihre Haube herunterfiel, während er mit grimmem Spott zwischen den Zähnen murmelte: »Affery, Frau, du mußt eine Dosis haben, Frau! Das ist einer von deinen Streichen! Du hast wieder geträumt, Weib. Was gibt es? Wer ist das? Was will er? Sprich, oder ich erwürge dich! Es ist die einzige Wahl, die ich dir lasse.«

Vorausgesetzt, daß Mistreß Affery in diesem Augenblick überhaupt die Kraft hatte zu wählen, so war ihre Wahl entschieden für das Erwürgen; denn sie antwortete nicht eine Silbe auf diese Beschwörung, sondern ergab sich, während ihr Kopf heftig vor- und rückwärts wackelte, in ihre Strafe. Der Fremde jedoch, der mit einer gewissen Galanterie ihre Haube aufhob, legte sich ins Mittel.

»Erlauben Sie«, sagte er, indem er die Hand auf Jeremiahs Schulter legte, der nun innehielt und sein Opfer losließ. »Danke. Entschuldigen Sie. Mann und Frau, wie ich aus diesem Scherz sehe. Haha! Immer angenehm, dieses Verhältnis auf so heitere Weise unterhalten zu sehen. Hören Sie! Darf ich Ihnen mitteilen, daß jemand oben im Dunkeln lebhaft zu wissen wünscht, was hier unten vorgeht?«

Dieser Hinweis auf Mrs. Clennams Stimme veranlaßte Mr. Flintwinch, in den Flur zu treten und die Treppe hinaufzurufen: »Es ist schon gut, ich bin hier, Affery kommt mit Ihrem Licht.« Dann sagte er zu dieser, die ganz zerzaust war und ihre Haube wieder aufsetzte: »Fort mit dir und die Treppe hinauf!« Endlich wandte er sich an den Fremden und sagte zu ihm: »Nun, mein Herr, was wünschen Sie?«

»Ich fürchte«, erwiderte der Fremde, »Sie wegen eines Lichtes bemühen zu müssen.«

»Ganz recht«, stimmte Jeremiah bei, »ich war im Begriff, eines zu holen. Bitte, bleiben Sie hier stehen, wo Sie sind, während ich eines herbeischaffe.«

Der Fremde stand in dem Torweg, trat jedoch etwas in die Dunkelheit des Hauses, als Mr. Flintwinch wegging, und verfolgte ihn mit seinen Blicken in dem kleinen Zimmer, wo er nach einer Zündhölzerbüchse suchte. Als er sie fand, war sie feucht oder sonst nicht in Ordnung, und Hölzchen um Hölzchen, das er strich, zündete so weit, um eine matte Helle über sein suchendes Gesicht zu verbreiten und seine Hände mit kleinen blassen Feuerflecken zu bespritzen, aber nicht genug, um das Licht anzuzünden. Der Fremde, der sich diese zufällige Beleuchtung seines Gesichtes zunutze machte, sah ihn aufmerksam und neugierig an. Als es Jeremiah endlich gelang, das Licht anzuzünden, hatte er das Gefühl, daß der letzte Schatten lauernder Beobachtung eben von jenem Antlitz verschwunden, da sich das zweifelhafte Lächeln, das ein wesentliches Moment seines Ausdrucks war, darauf zeigte.

»Haben Sie die Güte«, sagte Jeremiah, indem er die Tür schloß und nun seinerseits den lächelnden Fremden mit einem scharfen Blick ansah, »haben Sie die Güte, in mein Kontor einzutreten. Es ist alles in Ordnung, sage ich Ihnen ja!« antwortete er trotzig der Stimme oben, die noch immer nicht beruhigt war, obgleich Affery sich bei ihr befand und sie zu beruhigen suchte. »Ich sage Ihnen ja, es ist alles in Ordnung. Gott, die Frau, hat sie denn gar keine Vernunft!«

»Furchtsam?« bemerkte der Fremde.

»Furchtsam?« sagte Mr. Flintwinch, indem er den Kopf umdrehte, wie um den Vorwurf zurückzuweisen, während er mit dem Licht voranging. »Mutiger als neunzig von hundert Männern, Sir, will ich Ihnen sagen.«

»Obgleich eine kränkliche Frau?«

»Ja, seit vielen Jahren eine kränkliche Frau, Mrs. Clennam. Die einzige Person des Namens in diesem Hause jetzt. Meine Geschäftsteilhaberin.«

Indem er, während sie durch den Flur gingen, einige entschuldigende Worte sagte, daß sie um diese Zeit der Nacht gewöhnlich niemanden empfingen und immer eingeschlossen seien, führte Mr. Flintwinch den Fremden nach seinem Bureau, das ein ziemlich geschäftsmäßiges Aussehen hatte. Hier stellte er das Licht auf seinen Arbeitstisch und sagte mit seinem verdrehtesten Kopf: »Ihr Wunsch?«

»Mein Name ist Blandois.«

»Blandois. Kenne ich nicht«, sagte Jeremiah.

»Ich dachte«, fuhr der andere fort, »Sie hätten vielleicht von Paris einen Avis erhalten –«

»Wir haben keinen Avis von Paris wegen eines Blandois erhalten«, sagte Jeremiah.

»Nicht?«

»Nein.«

Jeremiah stand in seiner Lieblingsstellung. Der lächelnde Mr. Blandois, der seinen Mantel geöffnet, um seine Hand in die Brusttasche zu stecken, hielt einen Augenblick inne und sagte dann, während seine glänzenden Augen, die Mr. Flintwinch etwas zu nahe beieinander zu stehen schienen, einen lächelnden Ausdruck annahmen:

»Sie sehen einem meiner Freunde sehr ähnlich. Nicht so ganz und gar gleich, wie ich glaubte, als ich Sie in der Dunkelheit im ersten Augenblick für diesen hielt – ich sollte mich eigentlich deshalb entschuldigen; erlauben Sie mir, daß ich dies hiermit tue; Bereitwilligkeit, meine Fehler einzugestehen, ist, glaube ich, ein Teil der Offenheit meines Charakters –, und doch wirklich ungewöhnlich ähnlich.«

»Wirklich?« sagte Jeremiah verlegen. »Aber ich habe keinen Avisbrief von irgendwoher wegen irgendeines mit Namen Blandois erhalten.«

»Wirklich nicht?« fragte der Fremde.

»Wirklich nicht!« antwortete Jeremiah.

Mr. Blandois, den diese Versäumnis seitens des Korrespondenten des Hauses Clennam und Co. nicht im geringsten aus der Fassung brachte, nahm sein Notizbuch aus der Brusttasche, suchte einen Brief darinnen und händigte ihn Mr. Flintwinch ein. »Ohne Zweifel sind Sie mit dieser Handschrift wohlbekannt. Vielleicht spricht der Brief für sich selbst, und es braucht keines Avis. Sie sind ein weit kompetenterer Richter in solchen Dingen als ich. Es ist mein Unglück, nicht so sehr ein Geschäftsmann zu sein, als was die Welt (willkürlich) einen Gentleman nennt.«

Mr. Flintwinch nahm den Brief und las unter dem Datum von Paris: »Wir haben die Ehre, Ihnen, auf Empfehlung eines sehr geschätzten Korrespondenten unserer Firma, Mr. Blandois von hier zu präsentieren usw. usw. Jede Hilfe, die er wünschen mag, und alle Aufmerksamkeit, die in Ihrer Macht liegt usw. usw. Auch haben wir hinzuzufügen, daß, wenn Sie Mr. Blandois‘ Tratte nach Sicht bis zum Betrag von sage fünfzig Pfund Sterling (£. 50) honorieren wollen« usw. usw.

»Sehr gut«, sagte Mr. Flintwinch, »nehmen Sie einen Stuhl. In allem, was unser Haus tun kann – wir haben ein stilles, altmodisches, einförmiges Geschäft, Sir –, werden wir uns glücklich fühlen, Ihnen unsere beste Unterstützung angedeihen zu lassen. Ich bemerke aus dem Datum dieses Schreibens, daß wir noch nicht avisiert sein konnten. Vermutlich kamen Sie mit der verspäteten Post an, die uns den Avis bringen sollte.«

»Daß ich mit der verspäteten Post ankam, Sir«, versetzte Mr. Blandois, indem er mit seiner weißen Hand über die scharfgebogene Nase strich, »weiß ich leider auf Kosten meines Kopfes und Magens. Das abscheuliche und unerträgliche Wetter hat sie beide tüchtig gemartert. Sie sehen mich in dem Anzug, in dem ich aus dem Dampfboot vor einer halben Stunde stieg. Ich hätte schon vor mehreren Stunden hier sein sollen, dann brauchte ich mich auch nicht zu entschuldigen – erlauben Sie, daß ich mich entschuldige –, weil ich mich zu so unpassender Zeit einfinde und die geschätzte Dame, Mrs. Clennam, in ihrem Krankenzimmer oben in Schrecken versetzte – nein, Sie sagten ja, daß ich sie nicht in Schrecken versetzen könne; erlauben Sie, daß ich mich entschuldige.«

Schwadronieren und die Miene berechtigter Herablassung taten so viel, daß Mr. Flintwinch bereits anfing, ihn für eine sehr vornehme Person zu halten. Trotzdem gab er seine Starrköpfigkeit nicht auf, kratzte an seinem Kinn und sagte: was er heute abend, nachdem die Geschäftsstunde vorüber, noch für Mr. Blandois zu tun die Ehre haben könnte?

»Aber ich bitte Sie«, versetzte der Gentleman, mit den vom Mantel bedeckten Achseln zuckend. »Ich muß meine Kleider wechseln, und essen und trinken und irgendwo mich einquartieren. Haben Sie die Freundlichkeit, da ich hier gänzlich fremd bin, mich irgendwohin zu weisen – es ist vollständig gleichgültig, was es kostet –, wo ich bis morgen wohnen kann. Je näher, je besser. Im nächsten Hause, wenn es möglich ist.«

Mr. Flintwinch begann langsam: »Für einen Gentleman von Ihren Gewohnheiten ist in der nächsten Umgebung kein Hotel«, als Mr. Blandois ihm ins Wort fiel:

»Was Gewohnheiten! mein lieber Sir«, sagte er mit den Fingern schnalzend. »Ein Weltbürger hat keine Gewohnheiten. Daß ich auf meine arme Weise ein Gentleman bin, beim Himmel, das will ich nicht leugnen, aber ich habe keine unverträglichen vorurteilsvollen Gewohnheiten. Ein reinliches Zimmer, warmes Essen und eine Flasche nicht ganz und gar vergifteten Weins ist alles, was ich für heute brauche. Aber das brauche ich sehr, nur möcht‘ ich nicht unnötig weiter gehen als bis dahin, wo ich es bekomme.«

»Da ist«, sagte Mr. Flintwinch mit mehr als gewöhnlicher Bedächtigkeit, als er Mr. Blandois‘ blitzenden Augen, die ruhelos umherwanderten, für einen Moment begegnete, »da ist ein Kaffeehaus und Gasthaus ganz in der Nähe, das ich ziemlich empfehlen kann, aber es hat keine rechte Art.«

»Ich schenke ihm die rechte Art!« sagte Mr. Blandois mit der Hand abwehrend. »Erweisen Sie mir die Ehre, mir das Haus zu zeigen und mich dort einzuführen (wenn ich Ihnen nicht zuviel Mühe mache), ich werde Ihnen unendlich verbunden sein.«

Mr. Flintwinch sah bei diesen Worten nach seinem Hut und leuchtete Mr. Blandois wieder durch die Flur. Als er das Licht auf eine Leiste stellte, wo die alte dunkle Pannelierung als Auslöscher dienen konnte, überlegte er es sich, daß er hinaufgehen und der kranken Frau sagen wolle, er werde kaum fünf Minuten abwesend sein.

»Haben Sie die Güte«, sagte der Fremde, als Jeremiah ihm seine Absicht kundgab, »ihr meine Visitenkarte zu überreichen. Seien Sie ferner so freundlich hinzuzufügen, daß ich glücklich sein würde, wenn ich Mrs. Clennam meine Aufwartung machen könnte, und entschuldigen Sie mich, daß ich eine Störung in dieser stillen Klause hervorgerufen habe. Bitte, fragen Sie sie, ob es ihr bequem wäre, für einige Augenblicke einen Fremden zu empfangen, sobald er seine nassen Kleider gewechselt und sich mit etwas Speise und Trank gestärkt hat.«

Jeremiah beeilte sich und sagte bei seiner Rückkehr: »Sie wird sich freuen, Sie zu empfangen, Sir; da sie jedoch wohl weiß, daß ihr Krankenzimmer nichts Anziehendes hat, so bittet sie mich, Ihnen zu sagen, daß sie Sie Ihres Anerbietens entbinde, falls Sie sich eines andern besinnen sollten.«

»Sich eines andern besinnen«, versetzte der höfliche Blandois, »hieße eine Dame geringachten; eine Dame geringachten, wäre ein Mangel an Ritterlichkeit gegen das andere Geschlecht; und Ritterlichkeit gegen dieses Geschlecht ist ein Zug meines Charakters!« So sprechend zog er den schmutzigen Zipfel seines Mantels über die Schulter und begleitete Mr. Flintwinch nach dem Wirtshaus, indem er unterwegs einen Träger mitnahm, der außen an dem Torweg mit seinem Koffer wartete.

Das Haus war sehr schlicht eingerichtet und die Herablassung von Mr. Blandois deshalb unendlich groß. Sie schien bis zur Unfüglichkeit den kleinen Schenktisch auszufüllen, hinter dem die verwitwete Wirtin und ihre zwei Töchter ihn empfingen. Sie war viel zu aufgeblasen für das enge getäfelte Zimmer mit einem kleinen Tisch, das anfangs für seine Aufnahme vorgeschlagen wurde. Sie überschwemmte endlich vollständig das kleine festtägliche Privatzimmer der Familie, das ihm zuletzt eingeräumt wurde. Hier, in trockenen Kleidern und parfümiertem Linnen, mit geglättetem Haar, einem großen Ring an jedem Zeigefinger und einer massiven Uhrkette, sah Mr. Blandois, als er so nachlässig die Knie hinaufgezogen in einem Fenstersitz lungerte (trotz des Unterschieds in bezug auf die Juwelen), einem gewissen Rigaud schrecklich und wunderbar ähnlich, der einst so auf sein Frühstück wartend in der Fensternische der eisernen Vergitterung einer Zelle in einem schlechten Gefängnis zu Marseille gelegen hatte.

Seine Gier beim Essen selbst war gerade so groß, wie die Gier des Monsieur Rigaud bei jenem Frühstück. Seine geizige Manier, alles Eßbare um sich her zu sammeln und den einen Bissen mit den Augen zu verschlingen, während er den andern Bissen mit den Kinnbacken verarbeitete, war ganz ebenso. Seine stolze Verachtung anderer Leute, die sich in der Art aussprach, wie er den kleinen weiblichen Hausrat hin- und herwarf, Lieblingskissen, um bequemer auszuruhen, unter seine Füße schleuderte und zarte Decken mit seinem schwerfälligen Körper und seinem großen schwarzen Kopf zerdrückte, entsprang aus derselben rohen Selbstsucht. Die weichen Bewegungen der Hände, die so geschäftig unter den Speisen hin und her gingen, hatten noch ihre alte Leichtigkeit und Gewandtheit, mit der sie sich an dem Gitter ehedem festgehalten. Und als er nichts mehr essen konnte und seine zarten Finger einen nach dem andern ableckte und sie an einem Tuche abwischte, fehlte nichts, als daß man sich Weinlaub statt des Tuches denkt, um das Bild zu vollenden.

Diesem Mann mit seinem sich bäumenden Schnurrbart und seiner sich herabsenkenden Nase, welche Gebärde sich stets bei dem unheimlichsten Lächeln zeigte, und mit den vorstehenden Augen, die aussahen, als ob sie zu seinen gefärbten Haaren gehörten und als ob ihre natürliche Kraft, das Licht zu spiegeln, durch einen ähnlichen Prozeß gebrochen wäre, hatte die ewig wahre und nie vergeblich wirkende Natur die Warnung für andere Mitmenschen aufgeprägt: »Hüte dich!« Es war nicht ihre Schuld, wenn die Warnung wirkungslos blieb. Die Natur ist in keinem derartigen Fall zu tadeln.

Als Mr. Blandois sein Mahl beendet und seine Finger gereinigt hatte, nahm er eine Zigarre aus seiner Tasche und rauchte sie, sich wieder an das Fenster setzend, mit Muße zu Ende, indem er den Rauch, der von seinen dünnen Lippen in dünnen Wölkchen wegdampfte, dann und wann anredete:

»Blandois, du wirst der Gesellschaft den Tisch drehen, mein kleiner Junge. Haha! Heiliges Blau, du hast gut angefangen, Blandois! Im Fall der Not ein ausgezeichneter Meister im Englischen und Französischen; ein Mann für den Schoß der Familie. Du hast eine rasche Auffassungsgabe, du hast Humor, du hast Gewandtheit, du hast einschmeichelnde Manieren, du hast ein günstiges Äußere; kurz, du bist ein Gentleman! Als Gentleman sollst du leben, mein kleiner Junge, als Gentleman sollst du sterben. Du wirst gewinnen, wie das Spiel auch fällt. Sie werden alle dein Verdienst anerkennen, Blandois. Du wirst die Gesellschaft, die dir schmählich Unrecht getan hat, deinem Stolz beugen. Tod und Teufel, du bist von Natur und Rechts wegen stolz, mein Blandois!« Zu solch schmeichelhaftem Gemurmel rauchte dieser Gentleman seine Zigarre zu Ende und trank seine Flasche Wein aus. Als beides geschehen, warf er sich in eine sitzende Lage, und mit der schließlichen ernsten Anrede: »Mut denn! Blandois, du gescheiter Junge, nimm all deine fünf Sinne zusammen!« stand er auf und ging nach dem Hause von Clennam und Co. zurück.

Er wurde an der Tür von Mistreß Affery empfangen, die nach den Instruktionen ihres Herrn zwei Lichter im Gang und ein drittes auf der Treppe angezündet hatte und ihn nach dem Zimmer von Mrs. Clennam führte. Dort stand der Tee bereit, und es waren jene kleinen Arrangements getroffen, wie sie beim Empfang von erwarteten Besuchen im Hause üblich sind. Sie waren selbst bei der wichtigsten Veranlassung unbedeutend und gingen nie über die Aufstellung des chinesischen Teeservices und das Ueberziehen des Bettes mit einer nüchternen und traurigen Draperie hinaus. Sonst war nichts im Zimmer als das bahrenartige Sofa, mit dem Block darauf, und die Gestalt in dem Witwenkleid, wie zur Hinrichtung angezogen. Das Feuer war umgeben von einem Damm angefeuchteter Asche, das Gitter mit seinem zweiten kleinen Aschendamm; der Kessel und der Geruch waren von schwarzer Farbe; alles, wie es vor fünfzehn Jahren gewesen.

Mr. Flintwinch stellte den an Clennam und Co. empfohlenen Gentleman vor. Mrs. Clennam, die den Brief vor sich liegen hatte, verbeugte sich und bat ihn sich zu setzen. Sie sahen einander fest an. Es war nur natürliche Neugier.

»Ich danke Ihnen, Sir, daß Sie an eine schwache Frau wie mich denken. Wenige Menschen, die in Geschäftssachen hierherkommen, denken daran, sich um ein so sehr aus dem Gesichtskreis gerücktes Wesen zu kümmern. Es wäre vergeblich, etwas anderes zu erwarten. Aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn ich dankbar für die Ausnahme bin, beklage ich mich nicht über die Regel.«

Mr. Blandois drückte in seiner höflichsten Weise die Befürchtung aus, er möchte sie gestört haben, indem er sich unglücklicherweise zu so ungünstiger Zeit bei ihr einfinde. Er habe sich bereits bei Mr. – er bat um Entschuldigung – aber er habe nicht die Ehre, den Namen –

»Mr. Flintwinch ist seit vielen Jahren mit dem Hause als Kompagnon verbunden.«

Mr. Blandois war Mr. Flintwinchs gehorsamer Diener. Er bat Mr. Flintwinch, die Versicherung der tiefsten Achtung zu empfangen.

»Seit mein Mann tot ist«, sagte Mrs. Clennam, »und mein Sohn eine andre Geschäftsbranche vorzog, hat unser altes Haus keinen andern Repräsentanten als Mr. Flintwinch.«

»Wie nennen Sie sich dann selbst?« lautete die grämliche Frage dieses Mannes. »Sie haben den Geist von zwei Männern.«

»Mein Geschlecht macht mich unfähig«, fuhr sie fort, indem sie die Augen nur leicht nach Jeremiah umwandte, »einen verantwortlichen Teil des Geschäfts zu übernehmen, wenn ich auch die Fähigkeit dazu hätte. Einige unsrer alten Freunde jedoch (vorzüglich die Schreiber dieses Briefes) haben die Freundlichkeit, unserer nicht zu vergessen, und wir erhalten uns die Fähigkeit, was sie uns auftragen, so tatkräftig zu tun, wie wir es immer getan haben. Das kann Sie jedoch nicht interessieren. Sie sind Engländer, Sir?«

»Offen gesagt, Madame, nein; ich bin in England weder geboren noch erzogen. Ich gehöre wirklich keinem Lande an«, sagte Mr. Blandois, sein Bein ausstreckend und darauf schlagend, »ich stamme von einem halben Dutzend Ländern ab.«

»Sie sind viel in der Welt herumgekommen?«

»Es ist wahr. Beim Himmel, Madame, ich war hier und dort und überall!«

»Sie haben wahrscheinlich keine Familienbande? Sind nicht verheiratet?«

»Madame«, sagte Blandois, mit einem häßlichen Senken seiner Augbrauen, »ich bete Ihr Geschlecht an, aber ich bin nicht verheiratet – ich war es nie.«

Mistreß Affery, die neben ihm am Tisch stand, sah, indem sie den Tee eingoß, zufällig in ihrem traumhaften Zustand den Fremden an, als er diese Worte sprach, und glaubte einen Ausdruck in seinen Augen zu bemerken, der ihre Augen so gewaltig fesselte, daß sie sich nicht losreißen konnte. Die Wirkung dieser Einbildung war, daß sie ihn, mit der Teekanne in der Hand, nicht bloß zu ihrem eigenen Mißbehagen, sondern offenbar auch zu dem seinigen, und durch sie beide zu dem von Mrs. Clennam und Mr. Flintwinch unverwandt anstarrte. Auf diese Weise traten einige geisterhafte Augenblicke ein, während deren sie sich alle verwirrt, und nicht wissend warum, ansahen.

»Affery«, sagte ihre Herrin, zuerst die Pause unterbrechend, »was ist mit dir?«

»Ich weiß nicht«, sagte Mistreß Affery, indem sie ihre unbeschäftigte linke Hand nach dem Fremden ausstreckte. »Ich bin es nicht. Er ist es!«

»Was meint diese gute Frau?« rief Mr. Blandois blaß und heiß werdend, indem mit einem Blicke so tödlichen Zornes aufstand, daß dieser seltsam mit dem schwachen Ausdruck seiner Worte kontrastierte. »Wie ist es möglich, dieses gute Geschöpf zu verstehen?«

»Es ist nicht möglich«, sagte Mr. Flintwinch, indem er sich rasch nach ihr umdrehte. »Sie weiß nicht, was sie will. Sie ist eine blödsinnige Frau, eine Schwärmerin in ihrem Sinne. Sie soll eine Dosis Arznei haben, sie soll eine tüchtige Dosis haben. Mache, daß du fortkommst, Frau«, fügte er, leise ihr ins Ohr flüsternd, hinzu, »mache, daß du fortkommst, solange du noch weißt, daß du Affery bist, und ich dich noch nicht zu Schaum geschüttelt.«

Mistreß Affery, besorgt für die Gefahr, in der ihre Identität stand, ließ die Teekanne los, als ihr Gatte sie ergriff, nahm die Schürze über den Kopf und war in einem Nu verschwunden. Der Fremde brach nach und nach in ein Lachen aus und setzte sich wieder nieder.

»Sie werden sie entschuldigen, Mr. Blandois«, sagte Jeremiah, indem er den Tee selbst eingoß; »sie ist geistesschwach und zerstreut; daran fehlt’s. Nehmen Sie Zucker, Sir?«

»Danke; keinen Tee für mich. – Verzeihen Sie meine Bemerkung, aber das ist eine sehr merkwürdige Uhr.«

Der Teetisch war in die Nähe des Sofas gestellt, mit einem geringen Zwischenraum zwischen diesem und Mrs. Clennams eigenem besonderen Tisch. Mr. Blandois war in seiner Galanterie aufgestanden, um der Dame den Tee zu reichen (ihre gerösteten Brotschnitten standen bereits vor ihr), und während er so die Tasse in passende Entfernung von ihr stellte, zog die Uhr, die wie immer vor ihr lag, seine Aufmerksamkeit auf sich. Mrs. Clennam sah plötzlich zu ihm auf.

»Ist es erlaubt? Danke. Eine schöne altertümliche Uhr«, sagte er und nahm sie in seine Hand. »Schwer für den Gebrauch, aber massiv und echt. Ich habe eine besondere Liebhaberei für alles Echte. Ich bin selbst, so wie ich bin, durchaus echt. Ha! Eines Gentleman Uhr mit zwei Gehäusen nach der alten Fasson. Darf ich sie aus dem äußeren Gehäuse nehmen? Danke. Ah! ein altes seidenes Uhrfleckchen mit Perlen gestickt? Ich habe dergleichen oft bei alten Holländern und Belgiern gesehen. Niedliche Dinge!«

»Sie sind auch sehr altmodisch«, sagte Mrs. Clennam.

»Sehr. Aber das ist, wie mir scheint, nicht so alt wie die Uhr.«

»Ich glaube nicht.«

»Eigentümlich, wie sich diese Chiffern ineinander zu verschlingen pflegten«, gemerkte Blandois und sah mit seinem bekannten Lächeln auf. »Wie, heißt das nicht D.N.F.? Es könnte beinahe alles sein.«

»Das sind die Buchstaben.«

Mr. Flintwinch, der die ganze Zeit beobachtend, mit einer Tasse Tee in der Hand und den Mund geöffnet, um den Inhalt zu verschlingen, dasaß, begann endlich zu trinken: er war gewöhnt, immer seinen Mund ganz zu füllen, ehe er ihn auf einen Schluck leerte, und immer zuvor mit sich zu Rate zu gehen, ehe er ihn wieder füllte.

»D.N.F. war ohne Zweifel ein zartes, liebenswürdiges, bezauberndes, hübsches Geschöpf«, bemerkte Blandois, indem er das Gehäuse wieder aufnahm. »Ich bete sie schon an, wenn ich nur daran denke. Unglücklicherweise bete ich, für den Frieden meiner Seele, nur zu leicht an. Es mag ein Fehler, es mag eine Tugend sein, aber Anbetung weiblicher Schönheit und Vorzüge bilden drei Teile meines Charakters, Madame.«

Mr. Flintwinch hatte sich indessen eine weitere Tasse Tee eingeschenkt, die er in Schlucken wie zuvor verschlang, während seine Blicke auf die kranke Frau gerichtet waren.

»Ihr Herz kann hier ruhig sein, Sir«, versetzte sie, an Blandois gewandt. »Diese Buchstaben bilden, glaube ich, nicht die Initialen eines Namens.« »Vielleicht eines Motto«, sagte Blandois einwerfend.

»Einer Sentenz. Sie standen, glaube ich, immer für ›Do Not Forget‹ (vergiß nicht)!«

»Aber natürlich«, sagte Mr. Blandois, indem er die Uhr wieder an ihren Ort legte und zu seinem Stuhle zurückging, »Sie vergessen auch nicht.«

Mr. Flintwinch, der jetzt vollends austrank, nahm nicht nur einen längeren Schluck als bisher, sondern machte die darauffolgende Pause auch unter neuen Umständen: das heißt, er hatte seinen Kopf zurückgeworfen und seine Tasse an den Lippen, während seine Augen noch immer auf der Kranken ruhten. Sie besaß jene Gewalt über ihr Gesicht und jene konzentrierte Kraft, ihre Festigkeit oder richtiger Halsstarrigkeit im Ausdruck zusammenzuhalten. In ihrem Fall ersetzte sie, was andre durch Gebärde und Geste ausgedrückt hätten, als sie in ihrer bedächtigen und entschiedenen Weise antwortete:

»Nein, Sir, ich vergesse nicht. Ein so monotones Leben wie das, das ich seit vielen Jahren führe, ist nicht der Weg zum Vergessen. Ein Leben der Selbstpeinigung ist nicht der Weg zum Vergessen. Zu fühlen, daß man (wie wir alle, jedes von uns, alle Kinder Adams!) Verfehlungen wieder gutzumachen und Frieden anzubahnen habe, rechtfertigt den Wunsch zu vergessen nicht. Deshalb habe ich längst darauf verzichtet und vergesse weder, noch wünsche ich zu vergessen.«

Mr. Flintwinch, der zuletzt den Satz am Boden seiner Teetasse umhergeschüttelt, schluckte ihn jetzt und richtete, indem er die Tasse, mit der er fertig war, auf das Teebrett stellte, die Blicke auf Mr. Blandois, als wollte er ihn fragen, was er davon denke?

»All das, Madame«, sagte Mr. Blandois mit seiner weichsten Verbeugung und die weiße Hand auf die Brust legend, »all das war durch das Wort ›Natürlich‹ ausgedrückt, das ich vorhin anzuwenden Scharfsinn und Takt (ohne Takt wäre ich nicht Blandois) genug besessen zu haben stolz bin.«

»Verzeihen Sie, Sir«, versetzte sie, »wenn ich die Wahrscheinlichkeit bezweifle, daß ein Mann des Vergnügens, des Glücks und der Galanterie, ein Mann, der zu schmeicheln und sich schmeicheln zu lassen gewöhnt ist –«

»O Madame! Wahrhaftig!«

»– wenn ich zweifle, daß ein solcher Charakter imstande sei, zu begreifen, was mir in meinen Umständen zukommt. Nicht als wollt‘ ich Ihnen eine Lehre aufdrängen«, sie sah nach dem großen Stoß schwerer verblichener Bücher vor sich, »(denn Sie gehen Ihren eigenen Weg, und die Folgen kommen über Ihr Haupt), ich sage nur so viel: ich steure meinen Weg mit Hilfe von Piloten, geprüften und erfahrenen Piloten, mit denen ich nicht Schiffbruch leiden kann – nicht Schiffbruch leiden kann –, und wenn ich der Mahnungen uneingedenk wäre, die mir diese drei Buchstaben bringen, würde ich nicht halb so sehr gestraft sein, wie ich es jetzt bin.«

Es war eigentümlich, wie sie die Gelegenheit ergriff, mit einem unsichtbaren Gegner zu disputieren. Vielleicht mit ihrem eigenen bessern Gefühl, das sich immer gegen sie und ihren Selbstbetrug wandte,

»Wenn ich die unwissentlichen Fehler vergäße, die ich während der Tage der Gesundheit und Freiheit beging, so würde ich über das Leben klagen, zu dem ich jetzt verdammt bin. Ich tue es aber nie und habe es nie getan. Wenn ich vergäße, daß dieser Schauplatz, die Erde, ein Schauplatz der Trübsal und Mühsal und finsterer Prüfung für die Geschöpfe zu sein bestimmt ist, die aus seinem Staube geschaffen sind, so möchte ich mich über die Eitelkeit derselben grämen. Aber ich kenne dieses Gefühl nicht. Wenn ich nicht wüßte, daß wir, jeder einzelne, der Gegenstand (höchst gerechterweise der Gegenstand) eines Zornes sind, der versöhnt werden muß und gegen den bloße Handlungen nichts bedeuten, so würde ich über den Unterschied zwischen mir, die hier gefangen sitzt, und den Leuten, die durch den Torweg drunten gehen, murren. Aber ich betrachte es als eine Gnade und Gunst vom Himmel, ausgewählt zu sein, die Versöhnung herbeizuführen, die ich hienieden anbahne; zu wissen, was ich hienieden als gewiß weiß, und zu erreichen, was ich hienieden erreicht habe. Mein Leiden hätte sonst keinen Sinn für mich. Deshalb möchte ich nichts vergessen, und ich vergesse nichts. Deshalb bin ich zufrieden und sehe, es ist besser mit mir als mit Millionen anderen.«

Während sie diese Worte sprach, legte sie ihre Hand auf die Uhr und schob sie wieder genau an den Ort auf ihrem kleinen Tisch, den diese gewöhnlich einnahm. Sie ließ die Hand unverwandt darauf ruhen und saß noch einige Momente, den Blick starr und halb verächtlich auf sie gerichtet, da.

Mr. Blandois war während dieser Auseinandersetzung ganz Ohr; er heftete die Augen auf die Dame und strich sich den Schnurrbart mit beiden Händen. Mr. Flintwinch war etwas unruhig geworden und fiel nun ins Wort:

»Ja, ja, ja!« sagte er. »Das versteht sich, Mrs. Clennam, und Sie haben fromm und gut gesprochen. Mr. Blandois, möcht‘ ich vermuten, neigt nicht besonders zur Frömmigkeit.«

»Im Gegenteil, Sir«, warf der Fremde protestierend ein, indem er mit seinen Fingern schnalzte. »Sie verzeihen! Es ist gerade eine Seite meines Charakters. Ich bin gefühlvoll, feurig, gewissenhaft und phantasiereich. Ein gefühlvoller, feuriger, gewissenhafter und phantasiereicher Mann, Mr. Flintwinch, muß das sein, oder er ist nichts.«

Es lag ein leichter Verdacht in Mr. Flintwinchs Gesicht, er möchte eben nichts sein, als der Fremde aus seinem Stuhl auffuhr (es war charakteristisch für diesen Mann wie für alle ähnlichen Persönlichkeiten, daß er alles, was er je tat, übertrieb, und wäre es auch nur um ein Haar breit) und näher trat, um von Mrs. Clennam Abschied zu nehmen.

»Was werden Sie von dem Egoismus einer kranken alten Frau denken, Sir«, sagte sie dann, »obgleich ich wirklich nur durch Ihre zufällige Anspielung auf mich und meine Schwächen dazu veranlaßt worden bin. Da Sie so rücksichtsvoll waren, mich zu besuchen, hoffe ich, werden Sie ebenso rücksichtsvoll sein, darüber hinwegzusehen. Sagen Sie mir aber bitte keine Artigkeit mehr.« Denn er war sichtlich im Begriff, dies zu tun. »Mr. Flintwinch wird sich außerordentlich freuen, Ihnen jeden Dienst zu erweisen, und ich hoffe, Ihr Aufenthalt in dieser Stadt soll Ihnen angenehm werden.«

Mr. Blandois dankte ihr und küßte ihre Hand mehrere Male. »Das ist ein altes Zimmer«, bemerkte er, indem er sich plötzlich lebhaft umsah, als er nach der Tür ging. »Ich war so in Gedanken, daß ich es gar nicht bemerkte, aber es ist ein echtes altes Zimmer.«

»Ja, es ist ein echtes altes Haus«, sagte Mrs. Clennam mit ihrem kalten Lächeln: »Ein Haus ohne alle Anmaßung, aber ein Stück Altertum.«

»Ganz gewiß!« rief der Fremde. »Wenn Mr. Flintwinch die Güte haben wollte, mich auf dem Wege hinaus durch die Zimmer zu führen, er könnte mir keinen größeren Dienst erweisen. Ein altes Haus ist eine Schwäche von mir. Ich habe manche Schwäche, aber keine größere. Ich liebe und studiere das Malerische in allen Richtungen. Ich bin selbst malerisch genannt worden. Es ist kein Verdienst, malerisch zu sein – ich habe vielleicht größere Verdienste –, aber ich mag es durch irgendeinen Zufall sein. Sympathie, Sympathie!«

»Ich sage Ihnen im voraus, Mr. Blandois, daß Sie es sehr dunkel und sehr leer finden werden«, sagte Jeremiah, indem er das Licht nahm. »Es ist des Ansehens nicht wert.« Mr. Blandois klopfte ihm jedoch freundlich auf den Rücken und lachte, statt zu antworten. Darauf warf Mr. Blandois Mrs. Clennam noch einige Kußhände zu, und sie verließen zusammen das Zimmer.

»Sie wollen wohl nicht in das obere Stockwerk gehen?« sagte Jeremiah auf der Schwelle.

»Im Gegenteil, Mr. Flintwinch; wenn es nicht ermüdend für Sie ist, würde es mich ungemein freuen!«

Mr. Flintwinch krümmte sich demzufolge die Treppe hinauf, und Mr. Blandois folgte ihm auf den Fersen. Sie stiegen nach dem großen Schlafzimmer im Dache, das Arthur am Abend seiner Rückkehr bewohnt hatte. »Hier, Mr. Blandois!« sagte Jeremiah, indem er es zeigte, »ich wünsche nun, Sie werden den Anblick der Mühe des Steigens wert erachten. Ich gestehe, mir wär‘ es nicht der Mühe wert.«

Da Mr. Blandois entzückt war, gingen sie noch durch andere Dachstuben und Gänge und kamen wieder die Treppe hinab. Inzwischen hatte Mr. Flintwinch bemerkt, daß der Fremde, nachdem er einen flüchtigen Blick umhergeworfen, nie mehr das Zimmer, sondern beständig ihn, Mr. Flintwinch, ansah. Nachdem er diese Entdeckung bei sich gemacht, drehte er sich auf der Treppe zu einer weiteren Probe um. Ihre Blicke begegneten sich alsbald; und in dem Augenblick, als sie sich aufeinander hefteten, lachte der Fremde mit jenem häßlichen Spiel der Nase und des Bartes (wie er es in jedem ähnlichen Augenblick, seit sie Mrs. Clennams Zimmer verlassen, getan) teuflisch vor sich hin.

Als ein weit kleinerer Mann, wie es der Fremde war, befand sich Mr. Flintwinch in dem physischen Nachteil, daß er auf diese unangenehme Weise von oben herab angeschielt wurde; und da er zuerst die Treppe hinunterging und gewöhnlich eine Stufe oder zwei tiefer als der andere stand, so war der Nachteil für den Augenblick noch größer. Er sah sich deshalb erst wieder nach Mr. Blandois um, als diese zufällige Ungleichheit durch den Eintritt in das Zimmer des verstorbenen Mr. Clennam aufgehoben war. Dann aber drehte er sich plötzlich nach ihm um, fand jedoch seinen Blick unverändert.

»Ein höchst merkwürdiges altes Haus«, lächelte Mr. Blandois. »So geheimnisvoll. Hören Sie nie ein unheimliches Geräusch hier?«

»Geräusch?« versetzte Mr. Flintwinch. »Nein.«

»Und sehen Sie auch keine Gespenster?«

»Nein«, sagte Mr. Flintwinch, indem er sich zornig nach dem Frager umwandte. »Keins, das sich unter diesem Namen und in dieser Eigenschaft einführte.«

»Haha! Ein Porträt hier, wie ich sehe?«

(Er sah immer noch Mr. Flintwinch an, als wäre er das Porträt.)

»Ein Porträt, Sir, wie Sie bemerkten.«

»Darf ich fragen, wen es vorstellt, Mr. Flintwinch?«

»Den seligen Mr. Clennam. Ihren Gemahl.«

»Vielleicht der frühere Besitzer jener merkwürdigen Uhr?« sagte der Fremde.

Mr. Flintwinch, der seine Blicke auf das Porträt geworfen, drehte sich wieder um und fand sich abermals als Gegenstand desselben Lächelns und Blickes. »Ja, Mr. Blandois«, antwortete er scharf. »Es war seine Uhr und seines Oheims vor ihm, und der Herr weiß, wessen noch vor ihm; das ist alles, was ich Ihnen von ihrem Stammbaum sagen kann.«

»Das ist ein scharf ausgeprägter Charakter, Mr. Flintwinch, unsere Freundin oben.«

»Ja, Sir«, sagte Jeremiah, sich wieder nach dem Fremden umdrehend, was er während dieses Gesprächs tat, wie eine Schraubenmaschine, die zu kurz eingreift, denn der andere änderte sich keinen Augenblick, und er sah sich immer gezwungen, etwas zurückzutreten. »Sie ist eine merkwürdige Frau. Großer Mut – große Stärke des Geistes.«

»Sie müssen sehr glücklich zusammen gewesen sein«, sagte Blandois.

»Wer?« fragte Flintwinch, indem er sich wieder umdrehte.

Mr. Blandois streckte den rechten Zeigefinger nach dem Krankenzimmer und seinen linken Zeigefinger nach dem Porträt aus; dann stemmte er die Arme in die Seite, streckte die Beine weit auseinander und sah lächelnd mit herabstrebender Nase und emporgezogenem Schnurrbart auf Mr. Flintwinch herab. »Vermutlich so glücklich wie die meisten andern Leute«, versetzte Mr. Flintwinch. »Ich kann’s nicht sagen. Ich weiß es nicht. Es gibt in allen Familien Geheimnisse.«

»Geheimnisse!« rief Mr. Blandois« lebhaft. »Sag‘ es noch einmal, mein Sohn.«

»Ich sage«, versetzte Mr. Flintwinch, gegen den er sich so plötzlich aufgebläht, daß Mr. Flintwinch durch die ausgedehnte Brust sein Gesicht beinahe gestreift fühlte. »Ich sage, es gibt Geheimnisse in allen Familien.«

»So, es gibt welche«, rief der andere, indem er ihm auf beide Schultern schlug und ihn vor- und rückwärts bog. »Haha! Sie haben recht. So, es gibt welche! Geheimnisse? Wahrhaftig, es gibt des Teufels eigene Geheimnisse in einigen Familien, Mr. Flintwinch.« Nachdem er Mr. Flintwinch mehrmals auf beide Schultern geklopft, als ob er sich gleichsam in freundlicher und humoristischer Weise über diesen Scherz lustig machte, den er zum besten gegeben, zog er seine Arme hinauf, warf seinen Kopf zurück, schwang die Hände hinter demselben ineinander und brach in ein lautes Lachen aus. Vergeblich suchte Mr. Flintwinch sich noch einmal gegen ihn aufzuschrauben. Er kam nicht gegen dieses Lachen an.

»Aber erlauben Sie mir einen Augenblick da Licht«, sagte Blandois, als er ausgelacht. »Wir wollen einen Blick auf den Gemahl jener merkwürdigen Frau werfen. Ha!« rief er, indem er das Licht einen Arm hoch hielt. »Auch hier große Entschiedenheit im Ausdruck, obwohl nicht von demselben Charakter. Blicke, als wollte er sagen – wie heißt es? Vergiß nicht – nicht wahr, Mr. Flintwinch? Beim Himmel, Sir, so sieht er aus!«

Als er ihm das Licht zurückgab, sah er ihn noch einmal an und erklärte dann, während er langsam mit ihm in den Flur hinausschritt, es sei wirklich ein reizendes altes Haus. Es habe ihm so sehr gefallen, daß er seine Besichtigung nicht für hundert Pfund missen möchte.

Trotz dieser eigentümlichen Vertraulichkeit seitens Mr. Blandois‘, die eine allgemeine Veränderung in seinem Benehmen in sich schloß, das dadurch weit gröber und rauher, weit ungestümer und kühner als früher wurde, bewahrte Mr. Flintwinch, dessen ledernes Gesicht dem Wechsel nicht sehr ausgesetzt war, seine Unbeweglichkeit unverändert bei. Ja, er sah in diesem Augenblick aus, als wenn er vielleicht etwas zu lange bis zu der freundschaftlichen Operation des Abschneidens gehangen – eine so gleichförmige Ruhe bewahrte er in seinem ganzen Wesen. Sie hatten ihre Rundschau mit einem kleinen Zimmer an der Seite der Flur geschlossen, und Mr. Flintwinch stand nun da und betrachtete Mr. Blandois.

»Ich freue mich, daß Sie so sehr befriedigt sind, Sir«, lautete seine kalte Bemerkung. »Ich erwartete es wirklich nicht. Sie scheinen in sehr guter Stimmung zu sein.«

»In herrlicher Stimmung«, versetzte Blandois. »Auf Ehre, ich war noch nie so angenehm erfrischt. Haben Sie immer Vorahnungen, Mr. Flintwinch?«

»Ich bin nicht gewiß, ob ich weiß, was Sie mit diesem Ausdruck meinen, Sir«, antwortete Jeremiah.

»Das heißt in diesem Fall, Mr. Flintwinch, unbestimmte Ahnungen von einem Vergnügen, das kommt.«

»Ich kann nicht behaupten, daß ich gegenwärtig ein solches Gefühl habe«, versetzte Mr. Flintwinch mit dem größten Ernst. »Wenn ich es nahen fühlen sollte, werde ich es Ihnen sagen.«

»Ich aber«, sagte Blandois, »ich, mein Sohn, habe heute abend eine Ahnung, daß wir gut miteinander bekannt werden. Fühlen Sie das auch kommen?«

»N – nein«, entgegnete Mr. Flintwinch, bedächtig bei sich überlegend. »Ich kann das nicht behaupten.«

»Ich habe ein starkes Vorgefühl, daß wir sehr intim miteinander bekannt werden. – Haben Sie noch kein Gefühl der Art?«

»Noch nicht«, sagte Mr. Flintwinch.

Mr. Blandois nahm ihn wieder bei beiden Schultern; wiegte ihn wieder in seiner heitern Weise wie zuvor; nahm ihn dann unter den Arm und lud ihn ein, mit ihm zu kommen und eine Flasche mit ihm zu trinken: er wolle seinen guten, schlauen, alten Jungen bei sich haben.

Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, nahm Mr. Flintwinch die Einladung an, und sie gingen durch den Regen, der seit Anbruch der Nacht an den Fenstern, Dächern und auf dem Pflaster gerüttelt hatte, nach dem Quartier, wo der Reisende wohnte. Donner und Blitz hatten schon lange aufgehört, aber der Regen floß außerordentlich heftig herab. Bei ihrer Ankunft in Mr. Blandois‘ Zimmer befahl dieser wackere Mann eine Flasche Portwein und kauerte sich dann (nachdem er alles, was er nur Weiches auftreiben konnte, zusammengepreßt, um es seiner zarten Person bequem zu machen) in dem Fenstersitz nieder, während Mr. Flintwinch einen Stuhl gegenüber von ihm nahm, so daß der Tisch zwischen ihnen stand. Mr. Blandois machte den Vorschlag, daß sie die größten Gläser, die im Hause seien, kommen lassen wollten, was Mr. Flintwinch billigte. Nachdem die Humpen gefüllt waren, klinkte Mr. Blandois in lärmender Heiterkeit mit der Spitze seines Glases an den Fuß von Mr. Flintwinchs Glas und trank auf die intime Freundschaft, die er kommen sah. Mr. Flintwinch tat ihm ernsthaft Bescheid und trank allen Wein, den er bekommen konnte, antwortete aber nichts. Sooft Mr. Blandois anstieß, was bei jedem Füllen der Fall war, tat Mr. Flintwinch willig Bescheid und würde den Wein seines Trinkgenossen, so gut wie den seinen, ausgetrunken haben: denn er war mit Ausnahme des Gaumens eine reine Tonne.

Kurz, Mr. Blandois fand, daß Portwein in den verschwiegenen Flintwinch zu gießen, ihn nicht öffnen, sondern zuschließen heiße. Ferner machte er den Eindruck, als ob er vollkommen imstande wäre, die ganze Nacht so fortzufahren, oder wenn sich Gelegenheit böte, den ganzen nächsten Tag und den ganzen nächsten Abend. Dagegen wurde sich Mr. Blandois bald deutlich bewußt, daß er zu stolz und keck renommiere. Er machte deshalb nach der dritten Flasche der Unterhaltung ein Ende. »Sie werden morgen auf uns ziehen, Sir?« sagte Mr. Flintwinch, indem er sich beim Weggehen ein geschäftliches Ansehen zu geben suchte.

»Lieber Kohlkopf«, erwiderte der andere, indem er ihn mit beiden Händen am Kragen faßte. »Ich werde auf Sie ziehen, haben Sie keine Furcht. Adieu, mein Flintwinch. Empfangen Sie beim Scheiden«, fuhr er fort, umarmte ihn mit südlichem Feuer und küßte ihn schmatzend auf beide Wangen, »empfangen Sie das Wort eines Gentleman! Bei allen tausend Donnern, Sie sollen mich wiedersehen!«

Er erschien am nächsten Tage nicht, obgleich der Avisbrief richtig ankam. Als Mr. Flintwinch abends nach ihm fragte, erfuhr er zu seinem großen Staunen, daß der Fremde seine Rechnung bezahlt hatte und über Calais nach dem Kontinent gegangen sei. Nichtsdestoweniger scharrte Jeremiah aus seinem nachdenklichen Gesicht die Überzeugung zusammen, daß Mr. Blandois in jedem Fall sein Wort halten und sich wieder sehen lassen werde.

Einunddreißigstes Kapitel.


Einunddreißigstes Kapitel.

Hochsinn.

Man kann jeden Tag in den von Menschen wimmelnden Straßen der Hauptstadt einem magern, runzligen, gelben, alten Mann begegnen (von dem man glauben möchte, es sei aus den Sternen gefallen, wenn irgendein Stern am Himmel dunkel genug wäre, um in Verdacht zu geraten, er habe eine so schwache Schnuppe ausgeworfen). Er schleicht mit scheuer Miene fort, als mache ihn das Geräusch und der Lärm unheimlich ängstlich. Dieser alte Mann ist immer ein kleiner alter Mann. Wenn er je ein großer alter Mann gewesen war, so ist er zu einem kleinen alten Mann zusammengeschrumpft; war er immer ein kleiner alter Mann, so ist er zu einem noch kleineren alten Mann zusammengeschwunden. Sein Rock ist von einer Farbe und einem Schnitt, die nie und nirgends Mode waren. Offenbar war er weder für ihn noch für irgendeinen Sterblichen gemacht. Ein Lieferant en gros maß dem Schicksal fünftausend Röcke solcher Qualität an, und das Schicksal lieh diesen alten Rock diesem alten Manne als einem Glied aus der langen unendlichen Kette vieler alten Männer. Er hat immer große dunkle Metallknöpfe, wie es sonst keine Metallknöpfe gibt. Dieser alte Mann trägt einen Hut, einen abgegriffenen und kahlen, aber hartnäckigen Hut, der sich nie an seinen alten Kopf angeschmiegt. Sein schmutziges Hemd und sein schmutziges Halstuch haben nicht mehr Persönliches als sein Rock und sein Hut; sie haben denselben Charakter, als ob sie nicht ihm gehörten, – als ob sie niemandem gehörten. Und doch trägt dieser alte Mann diese Kleider mit einem gewissen ungewohnten Gefühl, für die Straße angezogen und herausgeputzt zu sein, als wenn er den größeren Teil seines Lebens in einer Nachtmütze und in einem Schlafrock zugebracht. So geht dieser alte Mann durch die Straße einher wie die Feldmaus im zweiten Hungerjahr, wenn sie die Stadtmaus besucht und ängstlich ihren Weg zur Wohnung dieser durch eine Stadt von Katzen sucht.16

Bisweilen wird man ihn an Festtagen gegen Abend noch etwas unsicherer einherschreiten sehen, und seine Augen werden wie ein feuchtes und sumpfiges Licht glänzen. Dann ist der alte Mann betrunken. Ein sehr kleines Maß wird ihn umwerfen; ein Viertelliter vermag seine unsicheren Beine aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ein mitleidiger Bekannter – er stößt sehr häufig auf Bekannte – hat ihm den schwachen Magen mit Bier erwärmt, und die Folge ist, daß es länger als gewöhnlich dauert, bis er wieder vorüberkommt. Denn der kleine alte Mann geht heim in das Armenhaus; und trotz seiner guten Aufführung lassen sie ihn nicht oft heraus (obgleich sie das meiner Ansicht nach doch sollten, wenn man die wenigen Jahre in Anschlag bringt, die er unter der Sonne noch aus- und einzugehen hat); und wegen seiner schlechten Aufführung schließen sie ihn fester als je mit einem Haufen von zwei Schock und neunzehn alten Männern ein, von denen jeder nach allen übrigen riecht.

Mrs. Plormishs Vater – ein armer, kleiner alter Mann mit einer rauhen Stimme – wie ein ausgesungener Vogel – war, wie er es nannte, Musikbinder gewesen, hatte vieles Unglück erlebt, und selten war es ihm gelungen, irgendwo sein Glück zu machen, oder zu wissen, was er machen solle, oder zu bezahlen, oder irgend etwas anderes zu tun, als nicht zu wissen, wo hinaus. Mrs. Plornishs Vater hatte sich bei der Pfändung, die Mr. Plornish nach dem Marschallgefängnis gebracht hatte, freiwillig in das Armenhaus zurückgezogen, das durch das Gesetz der barmherzige Samariter seines Distriktes (ohne die zwei Pence, eine schlechte Staats-Sparsamkeit) zu sein bestimmt war. Ehe die Verlegenheiten seines Schwiegersohnes diese Höhe erreichten, hatte der »alte Nandy« (so wurde er immer an seinem gesetzlichen Ruhesitz genannt, unter den »blutenden Herzen« hieß er der »alte Herr Nandy«) in einer Ecke am Kamine der Plornishs gesessen und seine Bedürfnisse an Speise und Trank aus dem Speiseschrank der Plornishs genommen. Er hoffte noch immer, diese häusliche Stellung wieder einzunehmen, wenn das Glück seinem Schwiegersohn lächeln sollte. In der Zwischenzeit bewahrte er sich eine unerschütterliche Fassung und war einer jener kleinen alten Männer in einem Haufen von alten kleinen Männern mit jenem gemeinschaftlichen Geruch und beschloß es auch zu bleiben.

Aber keine Armut, die auf ihm lastete, und kein nie in der Mode gewesener Rock, den er trug, und keine Altemännerwache vor seiner Wohnung konnte die Bewunderung seiner Tochter beeinträchtigen. Mrs. Plornish war so stolz auf ihres Vaters Talente, wie sie es hätte etwa sein können, wenn man ihren Vater zum Lord-Kanzler gemacht. Sie hatte einen so festen Glauben an die Feinheit und den Anstand feiner Manieren, wie sie es hätte haben können, wenn er Lord-Oberhofmeister gewesen. Der arme, kleine alte Mann kannte einige verblichene und abgelebte Lieder von Chloë und Phyllis und von Strephon, der von dem Sohn der Venus verwundet wurde. Diese Lieder waren längst verschollen. Für Mrs. Plornish gab’s in der Oper selbst keine solche Musik, wie das schwächliche innere Zittern und Zirpen, mit dem der Alte diese Liedchen wie eine schwache, kleine, zerbrochene Drehorgel, die ein Wickelkind dreht, zum besten gab. An seinen ›Ausgehtagen‹, jenen Lichtpunkten in seiner flachen Aussicht auf die gekappten Bäume der alten Männer, war es Mrs. Plornishs Lust und Anliegen, wenn er tüchtig gegessen und für einen vollen halben Penny Porter getrunken, den alten Mann aufzufordern: ›Sing uns ein Lied, Vater!‹

Dann sang er ihnen gewöhnlich Chloë, und wenn er in besonders guter Stimmung war, auch Phyllis – zu Strephon war er kaum mehr zu bewegen, seit er sich auf seinen Ruhesitz zurückgezogen, und dann erklärte Mrs. Plornish gewöhnlich, sie glaube nicht, daß je ein solcher Sänger wie der Vater existierte, und rieb sich dazu die Augen.

Wenn er bei solchen Gelegenheiten von Hof gekommen wäre, ja, wenn er der edle ›Kühler‹ gewesen, der triumphierend von einem fremden Hofe heimgekehrt ist, um sich nach seinem letzten furchtbaren Mißlingen vorstellen und befördern zu lassen, hätte ihn Mrs. Plornish nicht mit größerer Begeisterung im Hof zum blutenden Herzen an der Hand umherführen können. ›Hier ist der Vater‹, sagte sie dann gewöhnlich, wenn sie ihn einem Nachbar vorstellte. ›Vater wird jetzt bald wieder für immer bei uns sein. Sieht Vater nicht gut aus? Vater singt angenehmer als je. Sie würden es in Ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen, wenn Sie ihn eben gehört hätten.‹ Mr. Plornish hatte diese Glaubensartikel geheiratet, als er Mr. Nandys Tochter zur Frau nahm, und wunderte sich nur, wie es kam, daß ein so begabter alter Mann nicht sein Glück gemacht hatte. Nach vielem Hin- und Hersinnen schrieb er es dem Umstand zu, daß sein musikalisches Genie nicht in der Jugend wissenschaftlich entwickelt worden war. ›Warum‹, argumentierte Mr. Plornish, ›warum Musik einbinden, wenn man sie in sich hat? Darin liegt’s nach meiner Ansicht.‹

Der alte Nandy hatte einen Gönner: einen Gönner. Er hatte einen Gönner, der, auf eine gewisse pompös-prunkhafte Weise, auf eine zugleich entschuldigende Weise, als ob er ständig eine bewundernde Zuhörerschaft als Zeugen anriefe, daß er wirklich freundlich mit diesem alten Jungen sein könne, mehr als sie nach seiner Einfachheit und Armut erwartet haben dürften –, er hatte einen Patron, wie gesagt, der in solcher Weise außerordentlich gut gegen ihn war. Der alte Nandy war verschiedene Male im Marschallgefängnis gewesen und hatte mit seinem Schwiegersohn während seines kurzen Aufenthaltes dort verkehrt. Dadurch war er so glücklich, sich die Gönnerschaft des Vaters dieses Nationalinstituts zu erwerben, und hatte sie nach und nach im Verlauf der Zeit bedeutend gemehrt.

Mr. Dorrit hatte die Gewohnheit, diesen alten Mann zu empfangen, als wenn er in irgendeiner feudalen Lehensabhängigkeit von ihm stünde. Er gab ihm kleine Gastmähler und Tees, als wenn er mit seiner Huldigung von einem an der Grenze liegenden Distrikt käme, wo die Lehensleute noch in ihrem Urzustände seien. Es war, als ob es Augenblicke gäbe, in denen er nicht anders geschworen hätte, als daß der alte Mann einer seiner ehemaligen Vasallen sei, der sich durch seine Treue Verdienste erworben. Wenn er ihn erwähnte, so sprach er gewöhnlich als von seinem alten Pensionär. Er empfand eine ungemeine Befriedigung, wenn er ihn sah und über seinen herabgekommenen Zustand Bemerkungen machen konnte, sobald er gegangen. Es schien ihm erstaunlich, daß er überhaupt seinen Kopf aufrecht tragen konnte, der arme Mensch. »Im Armenhause, Sir, in der Union: keine Abgeschiedenheit, keine Besuche, keine Stellung, kein Respekt, keine Besonderheit für sich. Sehr traurig!«

Es war der Geburtstag des alten Nandy, und sie ließen ihn heraus. Er sagte nichts davon, daß sein Geburtstag sei; sonst hätten sie ihn vielleicht drinnen behalten; denn solche alten Leute sollten gar nicht geboren sein. Er ging durch die Straßen wie gewöhnlich nach dem Hof zum blutenden Herzen, nahm das Mittagmahl mit seinem Schwiegersohn und seiner Tochter ein und gab ihnen Phyllis zum besten. Er hatte kaum geschlossen, als Klein-Dorrit hereinsah, um zu hören, wie es ihnen allen gehe.

»Miß Dorrit«, sagte Mrs. Plornish, »hier ist der Vater! Sieht er nicht gut aus? Und was er für eine Stimme hat!«

Klein-Dorrit gab ihm ihre Hand und sagte lächelnd, sie hätte ihn schon so lange nicht mehr gesehen.

»Nein, sie sind ziemlich hart gegen den Vater«, sagte Mrs. Plornish mit einem länger werdenden Gesicht, »und lassen ihm nicht halb soviel Abwechslung und frische Luft zugute kommen, wie ihm wohltun würde. Aber er wird bald wieder ganz nach Hause kommen. Nicht wahr, Vater?«

»Ja, meine Liebe, ich hoffe es. Bald, wenn es Gott gefällt.«

Hier hielt Mr. Plornish eine Rede, die er gewöhnlich bei allen solchen Gelegenheiten, Wort für Wort dasselbe sagend, zum besten gab. Sie bestand in folgenden Ausdrücken:

»John Edward Nandy. Sir, solange eine Unze Speise oder Getränke irgendeiner Art unter diesem Dach sind, sollen Sie mir herzlich willkommen sein, sie mit uns zu teilen. Solange eine Handvoll Feuer oder ein Mundvoll Bett unter diesem Dach sind, sollen Sie mir herzlich willkommen sein, beides mit mir zu teilen. Sollte aber nichts mehr unter diesem Dache vorhanden sein, so werden Sie mir so willkommen sein, es zu teilen, als wenn es etwas mehr oder weniger wäre. Und das ist’s, was ich meine, und so betrüge ich Sie nicht, und folglich, was da ist, können Sie fordern, und weshalb es nicht tun?«

Auf diese glänzende Anrede, die Mr. Plornish immer in einer Weise zum besten gab, als hätte er sie, was ohne Zweifel auch der Fall war, mit ungeheurer Anstrengung verfaßt, antwortete Mrs. Plornishs Vater in pfeifendem Ton:

»Ich danke Ihnen freundlich, Thomas, ich kenne Ihre Absichten wohl, was eben die Sache ist, für die ich Ihnen freundlich danke. Doch nein, Thomas, ehe solche Zeiten kommen, wie sie noch nicht da sind, wo ich’s nicht aus ihrer Kinder Mund nähme, was geschieht, wenn ich’s nehme, und nennen Sie’s auch, wie Sie wollen, es bleibt immer dasselbe und ist eine Beraubung, wenn sie auch kommen, und so bald können sie nicht kommen, nein, Thomas, nein!«

Mrs. Plornish, die ihr Gesicht etwas abgewandt hatte und eine Ecke ihrer Schürze in der Hand hielt, mischte sich wieder in das Gespräch, indem sie Miß Dorrit mitteilte, daß Vater über die Themse gehen wolle, um seine Aufwartung zu machen, wenn sie nicht aus irgendeinem Grunde wüßte, daß es nicht angenehm wäre.

Ihre Antwort lautete: »Ich gehe gerade nach Hause, und wenn er mit mir kommen will, so werde ich mit Vergnügen für ihn sorgen – mit großem Vergnügen«, sagte Klein-Dorrit, die immer für die Schwachen besorgt war, »werde ich in seiner Gesellschaft gehen.«

»Hier, Vater!« rief Mrs. Plornish. »Wirst du nicht wieder jung und munter, daß du mit Miß Dorrit gehen darfst? Ich will dir dein Halstuch in einen regelmäßigen Knoten binden; denn du bist selbst ein rechter Stutzer, Vater, wenn es je einen solchen gab.«

Mit diesem kindlichen Scherze putzte ihn seine Tochter heraus und umarmte ihn herzlich, während sie an der Tür, mit dem schwachen Kinde auf dem Arme, stand, indes der stärkere Knabe die Treppe hinabrutschte. Sie sah ihrem kleinen alten Vater nach, der, seinen Arm in den von Miß Dorrit hängend, fortschwankte.

Sie gingen langsam, und Klein-Dorrit führte ihn über die Iron Bridge, ließ ihn dort sitzen, daß er sich ausruhe, und sie sahen über das Wasser hin und sprachen von Schiffahrt. Dabei sagte der alte Mann, was er tun würde, wenn er ein Schiff voll Gold hätte, das heimkehrte (sein Plan war, eine noble Wohnung für die Plornishs und sich selbst in einem Teegarten zu nehmen und dort ihr ganzes Leben, von dem Kellner bedient, zu wohnen). Es war diesmal wirklich ein ausgezeichneter Geburtstag für den alten Mann. Sie waren noch fünf Minuten von dem Ort ihrer Bestimmung entfernt, als sie an der Ecke ihrer Straße auf Fanny in ihrem neuen Hut stießen, die nach demselben Hafen hinsteuerte.

»Wie, ums Himmels willen, Amy!« rief das junge Mädchen erschrocken. »Du wirst doch nicht!«

»Was nicht, liebe Fanny?«

»Nein! Ich hätte viel von dir geglaubt«, versetzte die junge Dame mit glühender Entrüstung, »aber ich kann mir nicht denken, daß ich das, selbst von dir, für möglich gehalten hätte.«

»Fanny!« rief Klein-Dorrit verwundert und erstaunt.

»Oh, nenne mich nicht Fanny, du armseliges, kleines Ding, nenne mich nicht so. Welch ein Gedanke, auf offener Straße am hellen Tage mit einem Armenhäusler zu gehen!« Das Wort Armenhäusler schoß sie ab, als wäre es eine Kugel au« einer Luftkanone.

»Oh, Fanny!«

»Ich sage dir, du sollst mich nicht Fanny nennen; denn ich werde es nicht dulden. Ich kenne ein solches Geschöpf nicht. Die Art, wie du entschlossen bist, uns bei allen Gelegenheiten zu beschimpfen, ist wahrhaft abscheulich. Du schlechtes, kleines Ding!«

»Beschimpft das irgend jemand«, sagte Klein-Dorrit äußerst sanft, »wenn ich auf diesen armen, alten Mann achte?«

»Ja, Miß«, versetzte die Schwester, »und Sie sollten das wissen. Und Sie wissen es. Und Sie tun es, weil Sie’s wissen. Das Hauptvergnügen Ihres Lebens ist es, Ihre Familie an ihr Unglück zu erinnern. Und das nächste große Vergnügen Ihres Leben« ist, sich in niederer Gesellschaft zu bewegen. Wenn Sie jedoch kein Gefühl für Distanz haben, so habe ich es. Sie werden mir gefälligst erlauben, unbelästigt auf der andern Seite der Straße zu gehen.«

Damit hüpfte sie nach dem entgegengesetzten Trottoir. Der alte Schandfleck, der sich untertänig verbeugend ein paar Schritte zurückgetreten war (denn Klein-Dorrit hatte in ihrem Staunen seinen Arm losgelassen, als Fanny über sie herzufallen begann) und der von den ungeduldigen Vorübergehenden gestoßen und verwünscht worden war, weil er ihnen den Weg versperrte, trat ziemlich taumelig wieder zu seiner Begleiterin und sagte: »Ich hoffe, es ist doch Ihrem geehrten Vater kein Unglück geschehen, Miß? Ich hoffe, es ist nichts in der geehrten Familie geschehen?«

»Nein, nein«, versetzte Klein-Dorrit, »nein, ich danke Ihnen. Geben Sie mir wieder Ihren Arm, Mr. Nandy. Wir werden bald zu Hause sein.«

So sprach sie denn wieder mit ihm, wie sie früher gesprochen, und sie kamen nach dem Pförtnerstübchen; Mr. Chivery öffnete ihnen, und sie traten ein. Da geschah es denn, daß der Vater des Marschallgefängnisses gerade nach dem Pförtnerstübchen schlenderte, als sie, Arm in Arm in das Gefängnis tretend, aus jenem herauskamen. Als er dieses Schauspiel gewahrte, sah man ihn in die fürchterlichste Aufregung geraten und bangen Kleinmut sein Herz erfassen. Ganz und gar des alten Nandy nicht achtend, der, seine Reverenz machend, mit dem Hut in der Hand dastand, wie er es immer in dieser gnädigen Gegenwart tat –, drehte er sich um und eilte nach seinem Torweg und die Treppe hinauf.

Den alten Unglücklichen loslassend, den sie in einer schlimmen Stunde unter ihren Schutz genommen, eilte Klein-Dorrit mit dem flüchtigen Versprechen, sogleich wieder zurückzukommen, ihrem Vater nach und sah Fanny auf der Treppe ihr folgen und mit beleidigter Würde einherstolzieren. Alle drei kamen beinahe zu gleicher Zeit in das Zimmer, und der Vater setzte sich in seinen Stuhl, begrub sein Gesicht in seine Hände und stöhnte laut.

»Wirklich«, sagte Fanny. »Sehr hübsch. Armer, gekränkter Vater! Nun, hoffe ich, glauben Sie mir, Miß!«

»Was ist dir, Vater?« rief Klein-Dorrit und beugte sich über ihn herab. »Habe ich dich unglücklich gemacht, Vater? Hoffentlich nicht ich!«

»Du hoffst wirklich! Ei seht doch! O du –« Fanny hielt inne, um dem Folgenden den gehörigen Nachdruck zu geben – »du niedrig denkende, kleine Amy! Du bist ein echtes Gefängniskind!«

Er tat diesen zornigen Vorwürfen Einhalt, indem er mit der Hand winkte und aufseufzte, während er seinen Blick erhob und sein melancholisches Haupt gegen seine jüngere Tochter schüttelte: »Amy, ich weiß, daß du keine böse Absicht hattest. Aber du hast mir ins Herz geschnitten.«

»Keine böse Absicht!« warf die unversöhnliche Fanny ein. »Eine elende Absicht! Eine gemeine Absicht! Eine die Familie erniedrigende Absicht!«

»Vater!« rief Klein-Dorrit, blaß und zitternd, »ich bin sehr unglücklich. Bitte, vergib mir. Sage mir, worum es sich handelt, daß ich es nicht wieder tue!«

»Was es ist, du pflichtvergessene Kreatur!« rief Fanny. »Du weißt, worum es sich handelt. Ich habe es dir bereits gesagt; keine Ausflüchte im Angesicht der Vorsehung, indem du es abzuleugnen suchst!«

»St! Amy!« sagte der Vater und fuhr mehrmals mit seinem Taschentuch über sein Gesicht. Dann preßte er das Tuch krampfhaft mit der Hand zusammen, die über sein Knie fiel. »Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, dich in einer gebührenden gesellschaftlichen Stellung zu bewahren; ich habe getan, was ich konnte, um dir hier eine Stellung zu bewahren. Es mag mir gelungen sein oder nicht. Du magst es wissen oder nicht. Ich spreche keine Meinung aus. Ich habe hier alles erduldet, außer Demütigung. Davor wurde ich – bis zu diesem Tag glücklich bewahrt.«

Hier öffnete sich seine krampfhaft zusammengepreßte Hand, und er brachte sein Taschentuch wieder an seine Augen. Klein-Dorrit, die neben ihm auf dem Boden kniete und die Hand bittend auf seinem Arm ruhen hatte, betrachtete ihn reuevoll. Als er sich endlich wieder etwas gefaßt, ergriff er noch einmal sein Taschentuch. »Vor Demütigung wurde ich glücklich bis heute bewahrt. Mitten in all meinen Widerwärtigkeiten war jene Würde in mir und jene – jene Unterwerfung unter denselben, wenn ich mich so ausdrücken darf, in meiner Umgebung, die mir jede Demütigung ersparte. Aber heute, in diesem Augenblick, habe ich sie tief gefühlt.«

»Natürlich! Wie konnte es anders sein!« rief die unerbittliche Fanny. »Mit einem Armenhäusler auf der Straße einherzustolzieren!« Neue Luftkanone.

»Aber, lieber Vater«, rief Klein-Dorrit, »ich will mich nicht von der Schuld lossprechen, daß ich dein teures Herz verwundet – nein! Der Himmel weiß, ich tue es nicht!« Sie rang die Hände in mächtigem Kampfe. »Ich kann nichts tun, als dich bitten und anflehen, dich zu beruhigen und darüber hinwegzusehen. Wenn ich jedoch nicht gewußt hätte, daß du selbst freundliche Gesinnungen für den alten Mann hegst und dich viel um ihn kümmerst und dich immer freutest, ihn zu sehen, wäre ich nicht mit ihm hierhergekommen, gewiß nicht. Was ich zu tun so unglücklich gewesen, war ein Mißgriff von mir. Ich wollte nicht absichtlich eine Träne deinen Augen entlocken, lieber Vater!« sagte Klein-Dorrit, und ihr Herz war nahe daran zu brechen, »um alles nicht, was die Welt mir geben oder nehmen könnte.«

Fanny begann nun mit einem halb zornigen, halb reuigen Seufzer selbst zu weinen und sagte – was diese junge Dame immer sagte, wenn sie halb in der Leidenschaft, halb bei Vernunft, halb feindselig gegen sich und halb feindselig gegen jedermann war –, sie wünschte, sie wäre tot.

Der Vater des Marschallgefängnisses zog indes seine jüngere Tochter an seine Brust und streichelte ihr den Kopf.

»So, so! Sage nichts mehr, Amy, sage nichts mehr, mein Kind. Ich will es so bald vergessen, wie ich kann. Ich« – fuhr er mit gemachter Munterkeit fort, »ich – werde es bald zu vergessen imstande sein. Es ist vollkommen wahr, mein liebes Kind, daß ich mich immer freue, meinen alten Pensionär als solchen, als solchen zu sehen – und daß ich so viel Schutz und Güte diesem – hm – zerstoßenen Rohr – ich glaube ihn wohl so nennen zu dürfen – angedeihen lasse, als ich in meinen Umständen vermag. Es ist ganz wahr, daß dies der Fall ist, mein liebes Kind. Zu gleicher Zeit bewahre ich jedoch – während ich dies tue, wenn ich – ha – wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf – meine Würde. Die gebührende Würde. Und es gibt Dinge, die«, er seufzte dazwischen, »die damit unvereinbar sind und sie verletzen, tief verletzen. Nicht dies, daß ich meine gute Amy aufmerksam und – hm – herablassend gegen meinen alten Pensionär gesehen, nicht dies ist es, was mich kränkt, sondern vielmehr – wenn ich, um der Sache ein Ende zu machen, deutlich sein soll –, daß ich mein Kind, mein eignes Kind, meine eigne Tochter von der offenen Straße – lächelnd! lächelnd! in unser Institut Arm in Arm – o mein Gott! mit einer Armenhauskleidung kommen sah!« Diese Anspielung auf den Rock von keinem Schnitt und keiner Zeit brachte der alte Mann mit kaum hörbarer Stimme und sein zusammengedrücktes Taschentuch vor sich hinhaltend hervor. Seine aufgeregten Gefühle würden einen weiteren schmerzlichen Ausdruck gefunden haben, wenn nicht an die Tür gepocht worden wäre, was bereits schon zweimal geschehen. Darauf rief Fanny (die noch immer wünschte, sie wäre tot, und nun sogar so weit ging, hinzuzufügen, begraben): »Herein!«

»Ah, der junge John!« sagte der Vater in einem andern und ruhigeren Tone. »Was gibt es, lieber John?«

»Ein Brief für Sie, Sir, der soeben im Pförtnerstübchen abgegeben wurde, und eine Botschaft, die ich, da ich zufällig gerade anwesend war, selbst in Ihr Zimmer heraufbringen zu wollen dachte.« Die Aufmerksamkeit des Sprechenden wurde durch den mitleidweckenden Anblick Klein-Dorrits, die zu den Füßen ihres Vaters lag und den Kopf abgewandt hatte, bedeutend zerstreut.

»Wirklich, John? Danke Ihnen.«

»Der Brief ist von Mr. Clennam, Sir – es ist die Antwort –, und die Botschaft, Sir, lautet, Mr. Clennam lasse sich Ihnen empfehlen und sagen, daß er sich selbst das Vergnügen machen werde, heute abend vorzusprechen in der Hoffnung, Sie zu sehen und auch«, die Aufmerksamkeit wurde noch mehr als zuvor abgelenkt, »Miß Amy.«

»Oh!« Als der Vater in den Brief blickte (es befand sich eine Banknote darin), errötete er ein wenig und streichelte Amy wieder auf den Kopf. »Danke Ihnen, lieber John. Ganz gut. Sehr verbunden für Ihre Aufmerksamkeit. Wartet niemand?«

»Nein, Sir, es wartet niemand.«

»Danke, John. Wie befindet sich Ihre Mutter, lieber John?«

»Danke, mein Herr, sie ist nicht ganz so wohl, wie wir es wünschten – im ganzen ist keines von uns, ausgenommen der Vater, wohl –, aber sie ist ziemlich wohl, Sir.«

»Sagen Sie ihr gefälligst, wir lassen uns empfehlen, wollen Sie? Sagen Sie ihr gefälligst, recht freundlich empfehlen, lieber John.«

»Danke, mein Herr, ich werde das ausrichten.« Und Mr. Chivery junior ging weg, nachdem er unwillkürlich auf der Stelle eine gänzlich neue Grabschrift für sich verfaßt hatte, die ungefähr so lautete: »Hier liegt die irdische Hülle John Chiverys, der so und so alt geworden, das Ideal seines Lebens in Schmerz und Tränen gesehen hatte, der außerstande, dieses herzzerreißende Schauspiel zu ertragen, sogleich nach der Wohnung seiner untröstlichen Eltern zurückkehrte und seinem Leben durch seine eigne rasche Hand ein Ende machte.«

»Nun, nun, Amy!« sagte der Vater, als der junge John die Tür hinter sich geschlossen, »wir wollen nicht mehr davon sprechen.« Die letzten wenigen Minuten hatten seine Stimmung wesentlich gebessert, und er war wieder ganz heiter. »Wo bleibt mein alter Pensionär die ganze Zeit? Wir dürfen ihn nicht länger sich selbst überlassen. Sonst möchte er glauben, er sei nicht willkommen, und das würde mich peinigen. Willst du ihn holen, mein Kind, oder soll ich es tun?«

»Wenn dir’s nicht beschwerlich fällt, Vater«, sagte Klein-Dorrit, indem sie ihrem Schluchzen ein Ende zu machen suchte.

»Nein, ich werde gehen, meine Liebe. Ich vergaß, deine Augen sind ziemlich rot. Ermuntre dich, Amy. Gräme dich nicht um mich. Ich bin ganz wieder ich selbst, meine Liebe, ganz ich selbst. Geh in dein Zimmer, Amy, und mach‘, daß du wieder hübsch und heiter aussiehst, um Mr. Clennam empfangen zu können.«

»Ich möchte lieber auf meinem Zimmer bleiben, Vater«, versetzte Klein-Dorrit, die schwerer als früher ihre Fassung wiederzugewinnen vermochte. »Ich möchte viel lieber Mr. Clennam nicht sehen.«

»O pfui, pfui, meine Liebe, das ist Narrheit. Mr. Clennam ist ein sehr netter Mann. Etwas zurückhaltend manchmal; aber ich muß gestehen, außerordentlich artig und fein. Ich könnte mir’s nicht denken, daß du nicht hier wärest, um Mr. Clennam zu empfangen, meine Liebe, namentlich heute abend. Geh deshalb und mache dich wieder frisch, Amy; geh und mache dich wieder frisch, mein gutes Kind.«

Auf diesen Wink stand Klein-Dorrit pflichtgetreu auf und gehorchte. Einen Augenblick blieb sie jedoch stehen, als sie aus dem Zimmer ging, um ihrer Schwester einen Kuß zur Versöhnung zu geben. Diese junge Dame aber, die sich sehr niedergedrückt fühlte und für den Augenblick den Wunsch, mit dem sie es sonst erleichterte, erschöpft hatte, kam auf den glänzenden Gedanken, zu wünschen, der alte Nandy wäre lieber tot, als daß er als ein widerlicher, langweiliger, trauriger Mensch hierherkäme, sie quälte und Unfrieden zwischen den beiden Schwestern säte.

Der Vater des Marschallgefängnisses ging sogar summend und die schwarze Samtmütze etwas schief auf dem Kopf (so viel hatte sich seine Stimmung gebessert) in den Hof hinab und fand seinen alten Pensionär mit dem Hut in der Hand im Tore stehend, wie er die ganze Zeit gestanden hatte. »Kommen Sie, Nandy!« sagte er mit großer Weichheit. »Kommen Sie herauf, Nandy; Sie kennen ja den Weg! Warum kommen Sie nicht herauf?« Er tat bei dieser Gelegenheit sein Äußerstes, indem er ihm seine Hand gab und sagte: »Wie geht es Ihnen, Nandy? Sind Sie ganz wohl?« worauf dieser greise Sänger antwortete: »Ich danke Ihnen, geehrter Herr, ich befinde mich um viel besser, wenn ich Sie sehe.« Als sie durch den Hof gingen, stellte der Vater des Marschallgefängnisses ihn einem Kollegen von neuerem Datum vor. »Ein alter Bekannter von mir, Sir, ein alter Pensionär.« Dann sagte er mit großer Aufmerksamkeit: »Bedecken Sie sich, mein guter Nandy; setzen Sie Ihren Hut auf.« Seine Gönnerschaft blieb dabei nicht stehen; denn er beauftragte Maggy, den Tee bereit zu halten, und instruierte sie, einige Teekuchen, frische Butter, Eier, kalten Schinken und Krabben zu kaufen; zum Ankauf dieses Imbisses gab er ihr eine Zehnpfundnote, indem er ihr ans Herz legte, vorsichtig beim Wechseln zu sein. Diese Vorbereitungen waren ziemlich weit vorgeschritten und seine Tochter Amy mit ihrer Arbeit zurückgekommen, als Clennam eintrat. Er empfing ihn außerordentlich freundlich und bat ihn, an ihrem Mahl teilzunehmen.

»Amy, mein liebes Kind, du kennst Mr. Clennam sogar besser, als ich das Glück habe. Fanny, mein gutes Kind, du kennst Mr. Clennam gleichfalls.« Fanny bejahte stolz, denn die Voraussetzung, von der sie in allen solchen Fällen stillschweigend ausging, war die, daß eine große Verschwörung bestehe, die die Familie beleidigen wolle, indem man sie nicht zu verstehen oder sich nicht gehörig ihr unterwerfen zu wollen den Anschein gebe; und hier war einer von den Verschworenen. »Dies, Mr. Clennam, müssen Sie wissen, ist ein alter Pensionär von mir, der alte Nandy, ein sehr treuer, alter Mann.« (Er sprach stets von ihm als einem sehr alten Gegenstand, und doch war er zwei bis drei Jahre jünger als er selbst.) »Lassen Sie mich sehen. Sie kennen Plornish, denke ich? Ich glaube, meine Tochter Amy hat mir gesagt, daß Sie den armen Plornish kennen?«

»O ja!« sagte Arthur Clennam.

»Nun, Sir, das ist Mrs. Plornishs Vater.«

»Wirklich? Ich freue mich, ihn kennenzulernen.«

»Sie würden sich noch mehr freuen, wenn Sie seine zahlreichen guten Eigenschaften kennten, Mr. Clennam.«

»Ich hoffe, sie dadurch kennenzulernen, daß ich ihn kenne«, sagte Arthur und bemitleidete innerlich die gebeugte und demütige Gestalt.

»Es ist heute ein Festtag für ihn, und er kommt, seine alten Freunde zu besuchen, die sich immer freuen, ihn zu sehen«, bemerkte der Vater des Marschallgefängnisses. Dann fügte er hinter seiner Hand hinzu: »In der Union, der arme, alte Bursche. Durfte heute ausgehen.«

Maggy hatte inzwischen in der Stille, von ihrem Mütterchen unterstützt, den Tisch gedeckt, und das Mahl stand bereit. Da es heißes Wetter und das Gefängnis sehr eng war, stand das Fenster so weit offen, wie man es öffnen konnte. »Wenn Maggy diese Zeitung auf die Fensterbank legen will, meine Liebe«, bemerkte der Vater gelassen und halb flüsternd gegen Klein-Dorrit, »so kann mein alter Pensionär dort seinen Tee nehmen, während wir hier trinken.“

Wahrend so eine Kluft von ungefähr einem Fuß Breite, Originalmaß, zwischen ihm und der guten Gesellschaft geschaffen war, wurde Mrs. Plornishs Vater gut bewirtet. Clennam hatte nie etwas Ähnliches gesehen wie die großherzige Protektion dieses andern Vaters, des vom Marschallgefängnisse, und war ganz in die Betrachtung ihrer vielen Merkwürdigkeiten versunken. Das Merkwürdigste von alledem aber war vielleicht die selbstgefällige Art, wie er die Schwächen und Fehler des Pensionärs bemerkte, als wenn er ein herablassender Wärter wäre und einen fortlaufenden Kommentar zu dem traurigen Zustand des harmlosen Tiers gäbe, die er zeigte.

»Nicht Lust zu noch etwas Schinken, Nandy? Nun, wie langsam Sie essen!« (»Seine letzten Zähne«, erklärte er der Gesellschaft, »fallen aus, der arme Junge.«)

Ein andermal fragte er: »Keine Krabben, Nandy?« und als er nicht sogleich antwortete, bemerkte er: (»Sein Gehör ist sehr mangelhaft geworden. Er wird nächstens taub sein.«)

Nieder ein andermal fragte er ihn: »Gehen Sie viel innerhalb der Mauern im Hofe Ihres Hauses spazieren?«

»Nein, Sir, nein. Ich habe keine große Liebhaberei dafür.«

»Nun ja«, pflichtete er bei. »Ganz natürlich.« Dann unterrichtete er insgeheim den Kreis: (»Die Beine können nicht mehr recht gehen.«)

Einmal wandte er sich an den Pensionär mit seiner gewöhnlichen Huld, die nur irgend etwas fragte, um ihn flott zu erhalten, wie alt sein jüngerer Enkel sei?

»John Edward«, sagte der Pensionär, indem er langsam Messer und Gabel niederlegte, um sich zu besinnen: »Wie alt, Sir? Lassen Sie mich etwas nachdenken.«

Der Vater des Marschallgefängnisses berührte seine Stirn. (»Das Gedächtnis wird schwach.«)

»John Edward, Sir. Ja, ich habe wirklich vergessen. Ich könnt es in diesem Augenblick nicht sagen, ob er zwei Jahre und zwei Monate, oder zwei Jahre und fünf Monate alt ist. Eins oder das andere.«

»Beunruhigen Sie sich nicht dadurch, daß Sie Ihren Kopf anstrengen«, entgegnete jener mit unendlicher Nachsicht. (»Die geistigen Fähigkeiten lassen sichtlich nach – der alte Mann versauert bei dem Leben, das er führt!«)

Je mehr solche Entdeckungen er bei dem Pensionär zu machen sich überredete, desto besser schien er ihm zu gefallen; und als er nach dem Tee von seinem Stuhl aufstand, um dem Pensionär guten Abend zu sagen, da dieser zu verstehen gab, er fürchte, seine Zeit sei um, richtete er sich so hoch und stolz auf, wie es ihm nur immer möglich war.

»Wir nennen das nicht einen Schilling, Nandy, Sie wissen es«, sagte er, indem er ihm einen solchen in die Hand steckte. »Wir nennen es Tabak.«

»Edler Herr, ich danke Ihnen. Ich werde mir Tabak dafür kaufen. Meinen Dank und mein Kompliment, Miß Amy und Miß Fanny. Ich wünsche Ihnen gute Nacht, Mr. Clennam.«

»Und vergessen Sie uns nicht, Nandy, nicht wahr«, sagte der Vater. »Sie müssen wiederkommen, merken Sie sich’s, wenn Sie wieder einen Nachmittag frei haben. Sie dürfen nicht ausgehen, ohne uns zu besuchen, sonst werden wir eifersüchtig. Gute Nacht, Nandy. Geben Sie gut acht, wenn Sie die Treppen hinuntergehen; sie sind ziemlich uneben und ausgetreten.« Während er dies sagte, stand er auf der obersten Stufe der Treppe und sah dem alten Mann nach. Als er wieder in das Zimmer zurückkam, sagte er mit feierlicher Selbstzufriedenheit: »Ein melancholischer Anblick das, Mr. Clennam, wenn man auch den Trost hat, daß er selbst es nicht fühlt. Der arme, alte Junge ist ein trauriges Wrack. Der Geist gebrochen und dahin – zu Staub zermalmt – vollständig aus ihm herausgepreßt, Sir!«

Da Clennam die Absicht hatte zu bleiben, so sagte er, was er eben auf diese Gefühle antworten konnte, und stand am Fenster mit dem, der sie geäußert, während Maggy und ihr Mütterchen das Teeservice reinigten und wegschafften. Er bemerkte, daß dieser Mann, mit dem er sich hier unterhielt, mit der Miene eines herablassenden und gnädigen Souveräns am Fenster stand und daß, wenn jemand von den Leuten im Hofe unten heraufsah, die Art, wie er ihren Gruß erwiderte, wenig anders als wie ein Segenausteilen aussah.

Als Klein-Dorrit mit ihrer Arbeit am Tische und Maggy mit der ihrigen auf dem Bett beschäftigt war, begann Fanny den Hut als Vorbereitung zu ihrem Weggange zu binden. Arthur, der noch immer dieselbe Absicht hatte, blieb. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, ohne daß vorher gepocht worden wäre, und Mr. Tip trat ein. Er küßte Amy, als sie aufsprang, um ihm entgegenzugehen, nickte Fanny zu, nickte seinem Vater zu, sah den Fremden finster an, ohne sich weiter bekannt zu machen, und setzte sich nieder.

»Lieber Tip«, sagte Klein-Dorrit, die dies gekränkt hatte, in mildem Tone, »siehst du nicht –«

»Ja, ich sehe, Amy. Wenn du damit auf die Anwesenheit eines Besuchs, den du hier hast – ich sage, wenn du darauf anspielst«, antwortete Tip, indem er seinen Kopf energisch nach Clennams Seite warf, »so sehe ich wohl!«

»Ist das alles, was du sagst?«

»Das ist alles, was ich sage. Und ich vermute«, fügte der stolze junge Mann nach einer kurzen Pause hinzu, »der Fremde wird mich verstehen, wenn ich sage, das sei alles, was ich sage. Kurz, ich glaube, der Fremde wird verstehen, daß er mich nicht wie ein Gentleman behandelt.«

»Ich verstehe das nicht«, bemerkte die strafbare Person, von der die Rede war, mit größter Ruhe.

»Nicht? Nun denn, um es Ihnen klarer zu machen, Sir, gestatten Sie mir Ihnen zu bemerken, daß, wenn ich eine gutgesetzte Ansprache, eine dringende Ansprache – um eine kleine zeitweilige Unterstützung, die ihm leicht wird – sehr leicht wird, merken Sie sich das! – an jemanden richte, und dieser Jemand schreibt mir zurück, er bitte, ihn zu entschuldigen, so scheint es mir, er behandelt mich nicht als einen Gentleman.«

Der Vater des Marschallgefängnisses, der seinen Sohn schweigend beobachtete, hörte nicht sobald dieses Gefühl äußern, als er in zornigem Ton sagte:

»Wie kannst du es wagen –«

Aber sein Sohn unterbrach ihn. »Frage mich nicht, wie ich das wagen kann, Vater; denn es ist nichts. Was die Richtschnur meines Benehmens betrifft, das ich gegen die gegenwärtige Person zu wählen für gut fand, so solltest du stolz sein, daß ich Selbstgefühl an den Tag lege.«

»Allerdings!« rief Fanny.

»Ein Selbstgefühl?« sagte der Vater. »Ja, ein schönes Selbstgefühl, ein passendes Gefühl! Ist es so weit gekommen, daß mein Sohn mich – mich – lehrt, was Würde ist?«

»Laß uns nicht darüber streiten, Vater, sonst könnte es Spektakel geben. Ich habe mir’s nun mal in den Kopf gesetzt, daß mich gegenwärtiges Individuum nicht wie ein Gentleman behandelt hat. Und damit basta.«

»Nein, damit nicht basta, mein Herr«, versetzte der Vater. »Es soll damit nicht basta sein. Du hast dir’s in den Kopf gesetzt?«

»Ja, allerdings. Wozu das nochmals wiederholen?«

»Weil«, versetzte der Vater in großer Hitze, »du kein Recht hast, dir in den Kopf zu setzen, was widernatürlich – was – ha – unmoralisch, was – hm – vatermörderisch ist. Nein, Mr. Clennam, ich bitte Sie, Sir. Verlangen Sie nicht, daß ich davon abstehe; es handelt sich hier – hm – um Grundsätzliches – das selbst über die Rücksichten der Gastfreundschaft wegsehen muß. Ich muß mich der Behauptung meines Sohnes widersetzen. Ich – ha – weise sie persönlich zurück.«

»Nun, was geht es denn dich an, Vater?« versetzte der Sohn von oben her.

»Was es mich angeht, mein Herr! Ich habe eine – hm – Würde, Sir, die es nicht dulden will. Ich«, er nahm sein Taschentuch wieder heraus und wischte sich sein Gesicht, »ich bin beschimpft und beleidigt. Lassen Sie mich den Fall setzen, daß ich selbst einmal – ja – oder mehrmals eine Ansprache, eine gutgesetzte Ansprache, und eine feinfühlige Ansprache, und eine dringende Ansprache wegen einer zeitweiligen Unterstützung an jemanden gerichtet hätte. Lassen Sie mich den Fall setzen, daß diese Unterstützung leicht hätte gewährt werden können und nicht gewährt worden wäre, und dieser Jemand nur mitteilte, er bitte ihn zu entschuldigen. Soll ich mir deshalb von meinem eigenen Sohne sagen lassen, ich sei auf eine eines Gentlemans unwürdige Weise behandelt worden, und ich hätte mich – ha – zufrieden gegeben?«

Seine Tochter Amy suchte ihn sanft zu beruhigen, aber er wollte um keinen Preis beruhigt sein. Er sagte, seine Würde sei verletzt und er wolle das nicht dulden.

Ob er sich von seinem eignen Sohne, an seinem eignen Herd, das ins Gesicht sagen lassen müsse, wollte er wissen. Ob diese Demütigung ihm von seinem eignen Blute widerfahren dürfe? »Du spielst das auf dich selbst hinüber, Vater, und redest dich freiwillig in all diese Beleidigungen hinein«, sagte der junge Mensch mürrisch. »Was ich mir in den Kopf gesetzt, hat nichts mit dir zu tun. Warum mußt du andrer Leute Hüte ausprobieren?«

»Ich antworte, es hat alles wohl mit mir zu tun«, versetzte der Vater. »Ich gebe dir mit Entrüstung zu bedenken, daß – hm – die – ha – besondere und eigentümliche Stellung deines Vaters, wenn auch nichts andre, dich zum Schweigen bringen und dich solch – ha – unnatürliche Grundsätze aufzugeben zwingen sollte. Und dann, wenn du auch keine kindlichen Gefühle hegst, wenn du diese Pflicht aus den Augen lassest, bist du nicht wenigstens – hm – ein Christ? Bist du – ha – ein Atheist? Und ist es christlich, möcht‘ ich dich fragen, eine Person zu brandmarken und zu denunzieren, weil sie diesmal zu entschuldigen bat, während dasselbe Individuum das nächste Mal – ha – die erbetene Unterstützung gewährt? Ist es denn nicht die Aufgabe des Christen – hm – ihn noch einmal auf die Probe zu stellen?« Er hatte sich förmlich in einen religiösen Feuereifer hineingeredet.

»Ich sehe wohl«, sagte Tip und stand auf, »daß ich heute abend keine Überzeugungskraft besitze: deshalb ist es das beste, der Sache ein Ende zu machen. Gute Nacht, Amy. Laß es dich nicht grämen. Ich fürchte wirklich, daß du dich darüber grämst, und daß du gerade hier, bei meiner Seele, schmerzt mich; aber ich kann, selbst um deinetwillen, liebes Mädchen, auf meine Würde nicht verzichten.«

Mit diesen Worten setzte er seinen Hut auf und ging in Begleitung von Miß Fanny weg, die es ihrer Würde schuldig zu sein glaubte, den Gast mit keiner geringeren Bekundung ihrer Abneigung zu verlassen, als daß sie ihn mit einem starren Blick ansah, der die Bedeutung in sich schloß, daß sie ihn immer als einen von der großen Korporation der Verschwörer gekannt.

Als sie fortgegangen, war der Vater des Marschallgefängnisses anfangs geneigt, wieder in Kleinmut zu verfallen, und es wäre das wohl auch geschehen, wenn nicht glücklicherweise eine Minute später oder zwei ein Kollege heraufgekommen, um ihn in die Snuggery abzuholen. Es war derselbe, den Clennam in der Nacht seiner eigenen zufälligen Gefangenschaft gesehen, und der jenen unaussprechlichen Schmerz wegen des Schatzes geäußert, den der Marschall sich unrechtmäßigerweise angeeignet, um sich damit gütlich zu tun. Er stellte sich als Deputation vor, die den Vater zum Präsidentenstuhl abholen sollte, da es eine Gelegenheit sei, zu der er versprochen, den versammelten Kollegen bei der Belustigung einer kleinen Geselligkeit zu präsidieren.

»Sehen Sie, Mr. Clennam«, sagte der Vater, »das sind die Ungereimtheiten meiner hiesigen Stellung. Aber es ist eine öffentliche Pflicht! Ich bin jedoch überzeugt, niemand würde eine öffentliche Pflicht bereitwilliger anerkennen als Sie.«

Clennam bat ihn, keinen Augenblick zu zögern. »Amy, mein liebes Kind, wenn du Mr. Clennam zu überreden vermagst, länger zu bleiben, so kann ich dir mit Vertrauen die Honneurs unseres dürftigen Hauses überlassen, und vielleicht gelingt es dir, etwas dazu beitragen, den verdrießlichen und unangenehmen Zwischenfall, der sich seit dem Tee ereignet, in Mr. Clennams Erinnerung zu verwischen.«

Clennam versicherte ihn, daß er keinen Eindruck auf ihn gemacht und es deshalb keines Verwischens bedürfe.

»Mein lieber Herr«, sagte der Vater, indem er seine schwarze Mütze abnahm und Clennams Hand ergriff, wodurch er den richtigen Empfang seines Briefes nebst Einlage am heutigen Nachmittag andeuten wollte, »der Himmel segne Sie!«

So war endlich Clennams Absicht, zu bleiben, erreicht, und er konnte Klein-Dorrit ohne Zeugen sprechen. Maggy zählte für niemand; sie war dabei.

  1. Bezieht sich auf das bekannte Märchen von Feldmaus und Stadtmaus.

Zweiunddreißigstes Kapitel.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Mehr Wahrsagerei.

Maggy saß in ihrer großen weißen Haube mit der Masse undurchsichtiger Krausen, die verbargen, was sie an Profil hatte (sie hatte keinen Überfluß daran), an ihrer Arbeit, und ihr dienstfähiges Auge besorgte an der Fensterseite des Zimmers ihre Geschäfte. Durch ihre schlaff herabhängende Haube und ihr dienstunfähiges Auge aber war sie ganz geschieden von ihrem Mütterchen, das auf der entgegengesetzten Seite, entfernt vom Fenster, saß. Die Tritte und das Geschlürfe der Füße auf dem Pflaster des Hofes hatten sich bedeutend vermindert, seit der Präsidentenstuhl besetzt worden war, da die Flut der Kollegen sich stark nach der Richtung der Geselligkeit bewegte. Einige wenige, die keine Musik in ihrem Herzen oder kein Geld in ihren Taschen hatten, trieben sich noch umher, und das alte Schauspiel weiblicher Besuche und niedergedrückter, noch nicht abgelagerter Gefangener war noch immer in Ecken und Winkeln zu sehen, wie sich zerrissene Spinngewebe und dergleichen unscheinbare Trostlosigkeiten in Ecken und Winkeln anderer Orte im Staub herumziehen. Es war die ruhigste Zeit, die das Kollegium kannte, mit Ausnahme der Nachtstunden, wenn die Kollegen sich der Wohltat des Schlafes erfreuten. Das dann und wann hörbare Beifallsgerassel auf den Tischen der Snuggery deutete den glücklichen Schluß eines Stückes Festprogramms oder die entsprechende Aufnahme eines Toastes oder eines Trinkspruchs des Vaters von seiten der versammelten Kinder an. Bisweilen belehrte ein sonorer Gesang, der hier an der Tagesordnung war, den Zuhörer, daß ein prahlerischer Baß auf der blauen See, oder auf der Jagd, oder hinter einem Renntier her, oder auf den Bergen, oder in der Heide war; aber der Marschall des Marshalsea wußte es besser und hielt ihn hinter Schloß und Riegel fest. Als Arthur Clennam sich näherte, um sich neben Klein-Dorrit zu setzen, zitterte sie so sehr, daß sie Mühe hatte, ihre Nadel festzuhalten. Clennam legte sanft die Hand auf ihre Arbeit und sagte: »Liebe Klein-Dorrit, lassen Sie mich das weglegen.«

Sie ließ es zu, und er legte die Arbeit beiseite. Ihre Hände waren ängstlich ineinander geschlungen, aber er nahm eine derselben.

»Wie selten habe ich Sie in letzter Zeit gesehen, Klein-Dorrit!«

»Ich war beschäftigt, Sir!«

»Aber ich hörte erst heute«, sagte Clennam, »durch einen reinen Zufall, daß Sie bei den guten Leuten dicht neben mir waren. Warum besuchten Sie mich nicht?«

»Ich – ich weiß nicht. Oder vielmehr, ich dachte, auch Sie würden viel beschäftigt sein. Sie sind es doch jetzt gewöhnlich, nicht wahr?«

Er sah ihre zitternde kleine Gestalt und ihr gesenktes Gesicht und die Augen im selben Augenblick wieder niedergeschlagen, in dem sie sich zu den seinigen erhoben – er sah sie beinahe mit ebenso viel Unruhe wie Zärtlichkeit an.

»Mein Kind, Ihr Wesen ist so verändert!«

Nun ihres Zitterns nicht mehr Herr, entzog sie ihm sanft ihre Hand, legte sie in die andere und saß mit gesenktem Haupt vor ihm, während ihre ganze Gestalt zitterte.

»Meine liebe Klein-Dorrit«, sagte Clennam teilnahmsvoll.

Sie brach in Tränen aus. Maggy sah sich plötzlich um und betrachtete sie wenigstens eine Minute; aber sie mischte sich nicht darein. Clennam wartete einen kurzen Augenblick, ehe er wieder sprach.

»Ich kann es nicht ertragen«, sagte er dann, »Sie weinen zu sehen: aber ich hoffe, das wird ein übervolles Herz erleichtern.«

»Gewiß, Sir. Ganz gewiß!«

»Nun, nun! Ich fürchtete, Sie würden sich’s zu sehr zu Herzen nehmen, was soeben hier vorgegangen. Es ist von keiner Bedeutung; nicht der geringsten Bedeutung. Ich bedaure nur, eine Störung gemacht zu haben. Lassen Sie es mit diesen Tränen vergessen sein. Es ist nicht eine einzige wert. Nicht eine einzige! Solch eine nichtige Sache sollte, mit meiner freudigen Zustimmung, fünfzigmal des Tages wiederholt werden, wenn Ihnen der Schmerz eines Augenblicks damit erspart würde, Klein-Dorrit.«

Sie hatte jetzt Mut gefaßt und antwortete weit mehr in ihrer gewöhnlichen Weise: »Sie sind so gut! Aber wenn auch nichts sonst dabei wäre, worüber man sich zu grämen oder zu schämen hätte, es ist eine so schlechte Vergeltung –«

»Ach wo!« sagte Clennam lächelnd und berührte ihre Lippen mit seiner Hand. »Vergessen bei Ihnen, die Sie so mancherlei und so treu in Ihrem Gedächtnis bewahren, wäre wahrlich neu. Soll ich Sie daran erinnern, daß ich nichts anderes bin und nie war als der Freund, dem Sie zu trauen versprachen? Nun, Sie erinnern sich dessen, nicht wahr?«

»Ich suche es zu tun, sonst hätte ich das Versprechen eben jetzt gebrochen, als mein im Irrtum befindlicher Bruder hier war. Sie werden in Betracht ziehen, daß er hier erzogen worden, und werden den armen Jungen, ich weiß es, nicht hart beurteilen!« Indem sie bei diesen Worten ihre Augen erhob, betrachtete sie sein Gesicht noch näher als bisher und sagte mit einer lebhaften Änderung des Tones: »Sie waren doch nicht unwohl, Mr. Clennam?«

»Nein.«

»Haben Sie vielleicht Kummer und Sorgen? Wurden von der Welt verletzt?« fragte sie ihn besorgt.

Clennam wußte in diesem Augenblick seinerseits nicht, was er antworten sollte. Endlich erwiderte er:

»Aufrichtig gesagt, ich hatte einigen Kummer, aber es ist vorüber. Zeige ich es denn so offen? Ich sollte mehr Charakterstärke und Selbstbeherrschung besitzen. Ich glaubte, ich hätte sie. Ich muß das von Ihnen lernen. Wer könnte es mich besser lehren?«

Er hätte nie gedacht, daß sie in seinem Innern sehe, was niemand sonst sehen konnte. Er dachte nie, daß in der ganzen Welt je Augen seien, die mit demselben Licht und derselben Stärke wie die ihren auf ihn sähen.

»Aber das führt mich auf etwas, was ich sagen wollte«, fuhr er fort, »und deshalb will ich mit meinem Gesicht nicht hadern, daß es Geschichten erzählt und mir ungetreu ist. Auch ist es ein Privilegium und ein Vergnügen für mich, auf meine Klein-Dorrit zu vertrauen. Lassen Sie mich Ihnen denn gestehen, daß ich, vergessend, wie gesetzt ich war, und wie alt ich war, und wie die Zeit für solche Dinge bei mir mit den vielen eintönigen und wenig glücklichen Jahren, in denen sich mein langes Leben verzehrte, ohne eine Spur zurückzulassen, – daß ich, all dies vergessend, mir einbildete, ich liebe jemanden.«

»Kenne ich sie, Sir?« fragte Klein-Dorrit.

»Nein, mein Kind.«

»Nicht die Dame, die um Ihretwillen freundlich gegen mich war?«

»Flora. Nein, nein. Dachten Sie –«

»Ich dachte das nie so eigentlich,« sagte Klein-Dorrit, mehr zu sich selbst, als zu ihm. »Ich wunderte mich immer ein wenig darüber.«

»Nein!« sagte Clennam, in das Gefühl versunken, das ihn in jener Allee zur Nacht der Rosen ergriffen hatte, das Gefühl, daß er ein älterer Mann sei, der mit dieser sentimentalen Periode des Lebens abgeschlossen: »Ich habe meinen Irrtum erkannt, und ich dachte ein wenig – ja, ziemlich viel – darüber nach und wurde klüger. Klüger geworden, zählte ich meine Jahre und betrachtete, was ich bin, und sah rückwärts und sah vorwärts und fand, daß ich bald grau werden würde. Ich fand, daß ich den Hügel erklommen und die Hochebene hinter mir habe und nun rasch hinabsteige.«

Wenn er gewußt, welch herben Schmerz er dem geduldigen Herzen verursachte, als er so sprach! Und er tat es doch mit der Absicht, sie zu beruhigen und ihr zu dienen.

»Ich fand, daß der Tag, wo irgend etwas der Art in mir wertvoll, oder gut, oder Hoffnung erweckend, oder glückbringend für mich, oder irgend sonst etwas hätte durch mich sein können, untergegangen ist und mir nie wieder leuchten wird.«

O, wenn er gewußt, wenn er gewußt hätte! Wenn er den Dolch in seiner Hand und die grausamen Wunden hätte sehen können, die er in die treue blutende Brust seiner Klein-Dorrit wühlte!

»All das ist vorbei, und ich habe mein Gesicht davon abgewandt. Warum spreche ich davon mit Klein-Dorrit? Warum zeige ich Ihnen, mein Kind, die Kluft von Jahren, die zwischen uns ist, und erinnere Sie daran, daß ich um die ganze Summe von Jahren, die Sie zählen, älter bin als Sie?«

»Weil Sie mir hoffentlich vertrauen. Weil Sie wissen, daß nichts Sie berühren kann, was nicht auch mich berührt. Daß nichts Sie glücklich oder unglücklich machen kann, was nicht auch mich, die Ihnen zu so großem Dank verpflichtet ist, glücklich oder unglücklich machte.«

Er vernahm das Zittern in ihrer Stimme, sah den Ernst in ihrem Gesicht, sah in ihre klaren, wahren Augen, sah den bewegten Busen, der sich freudig vor ihm niedergeworfen hätte, um den Todesstoß, der auf seine Brust gezückt war, mit dem sterbenden Ausruf: »Ich liebe ihn!« zu empfangen, und auch die entfernteste Ahnung der Wahrheit tauchte nicht in ihm auf. Nein. Er sah dies hingebende, kleine Geschöpf mit ihren abgetragenen Schuhen, in ihrer dürftigen Kleidung, in ihrer Gefängnisheimat; ein schwaches Kind an Leib, eine starke Heldin an Seele: und das Licht ihrer häuslichen Geschichte ließ ihm alles andere dunkel erscheinen.

»Aus diesem Grunde allerdings, Klein-Dorrit, aus keinem andern. So entfernt, so verschieden und so viel älter, bin ich um so besser zu Ihrem Freund und Ratgeber geeignet. Ich glaube, man kann mir um so leichter vertrauen; und jeder kleine Zwang, den Sie vor einem andern fühlen, kann vor mir verschwinden. Warum sind Sie so fern von mir geblieben? Sagen Sie mir.«

»Ich bin besser hier. Mein Platz ist hier, hier kann ich nützen. Ich bin weit besser hier«, sagte Klein-Dorrit halblaut.

»So sagten Sie an jenem Tag auf der Brücke. Ich dachte später oft daran. Haben Sie mir kein Geheimnis anzuvertrauen, dessen Mitteilung Ihnen Hoffnung und Beruhigung einflößte?«

»Geheimnis? Nein, ich habe kein Geheimnis«, sagte Klein-Dorrit in einiger Verlegenheit.

Sie sprachen leise miteinander; mehr, weil es natürlich war, zu dem, was sie sich mitteilten, diesen Ton anzuschlagen, als weil sie besorgt gewesen, es vor Maggy, die an ihrer Arbeit saß, geheimzuhalten. Plötzlich sah Maggy sie starr an und sagte jetzt:

»Höre! Mütterchen!«

»Ja, Maggy.«

»Wenn du ihm kein Geheimnis von dir selbst zu sagen hast, so erzähle ihm das von der Prinzessin. Sie hat ein Geheimnis, weißt du.«

»Die Prinzessin hat ein Geheimnis?« sagte Clennam etwas überrascht. »Was für eine Prinzessin war das, Maggy?« »Na, na! Wie Sie das alles untereinander bringen«, sagte Maggy, »und fassen das arme Ding von zehn Jahren. Wer sagte denn, daß die Prinzessin ein Geheimnis hat? Ich habe das nicht gesagt.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich meinte, Sie sagten das.«

»Nein, ich nicht. Wie kann ich auch, da sie es war, die verlangte, daß man es enträtsle? Die kleine Frau war es, die das Geheimnis hütete, und sie spann immer an ihrem Rade. Und da sagt sie zu ihr, warum bewahrst du es da? Und da sagt die andere zu ihr, nein, ich tue es nicht; und so sagt die andere zu ihr, ja, du tust es; und dann gehen sie beide zu dem Speiseschrank, und da ist es. Und sie wollte nicht ins Hospital gehen, und so starb sie. Du weißt, Mütterchen, erzähle ihm das. Und es war gar ein schönes rechtes Geheimnis, das!« rief Maggy sich selbst umarmend.

Arthur sah Klein-Dorrit bittend an, daß sie es ihm verstehen helfe, was Maggy gesagt hatte, und war betroffen, da er sie verlegen und rot werden sah. Als sie ihm jedoch sagte, daß es nur eine Feengeschichte sei, die sie eines Tages für Maggy ersonnen, und daß nichts darin, was sie sich schämen würde, jedem wieder zu erzählen, wenn sie sich derselben erinnern könnte, ließ er die Sache auf sich beruhen.

Er begann dagegen wieder von seiner eigenen Sache zu sprechen und bat sie zuerst, ihn öfter zu besuchen und nicht zu vergessen. Er sagte, daß niemand ein größeres Interesse an ihrem Wohlergehen nehme als er und mehr bereit sei, es zu fördern, als er. Als sie lebhaft antwortete, sie wisse das wohl, sie habe das nie vergessen, berührte er den zweiten und zarteren Punkt – den Verdacht, der in ihm aufgestiegen war.

»Klein-Dorrit«, sagte er, indem er ihre Hand nahm und leiser sprach, als er bisher gesprochen, so daß selbst Maggy in dem kleinen Zimmer ihn nicht hören konnte, »noch ein Wort. Ich habe sehr verlangt, Ihnen dies zu sagen: ich habe nur auf eine Gelegenheit gelauert. Achten Sie nicht auf mich, der den Jahren nach Ihr Vater oder Ihr Oheim sein könnte. Betrachten Sie mich immer als einen alten Mann. Ich weiß, daß all Ihre Hingebung sich auf diesen Raum beschränkt und daß nichts bis ans Ende Sie je von den Pflichten, die Sie hier erfüllen, abbringen wird. Wenn ich dessen nicht gewiß wäre, würde ich Sie schon früher gebeten haben und Ihren Vater gebeten haben, mir zu erlauben, Ihnen an einem passenderen Ort eine Stellung zu verschaffen. Aber Sie haben vielleicht ein Interesse – ich will nicht sagen, obwohl auch das möglich ist – haben vielleicht später einmal ein Interesse für sonst jemanden, ein Interesse, das mit Ihrer Liebe hier nicht unvereinbar ist.«

Sie wurde sehr, sehr blaß und schüttelte schweigend den Kopf.

»Es ist vielleicht doch der Fall, liebe Klein-Dorrit.«

»Nein, nein, nein.« Sie schüttelte nach jeder langsamen Wiederholung des Wortes den Kopf mit einem Ausdruck ruhiger Verzweiflung, dessen er sich noch lange erinnerte. Die Zeit kam, wo er sich noch lange nachher innerhalb dieser Gefängnismauern, ja innerhalb dieses Zimmers selbst daran erinnerte.

»Aber wenn es je so wäre, so sagen Sie es mir, mein liebes Kind, vertrauen Sie mir die Wahrheit an, bezeichnen Sie mir den Gegenstand solchen Interesses, und ich werde mit allem Eifer, aller Verehrung, Freundschaft und Achtung, die ich für Sie, gute Klein-Dorrit, in meinem Herzen nähre, versuchen, Ihnen einen dauernden Dienst zu erweisen.«

»Ich danke Ihnen, danke Ihnen! Nein, nein, nein!« Sie sagte das, indem sie die von der Arbeit mageren Hände ineinander legte und ihn ansah, mit demselben resignierten Ton wie zuvor.

»Ich dringe auf kein Geständnis in diesem Augenblick. Ich bitte Sie nur, ein rückhaltloses Vertrauen in mich zu setzen.«

»Kann ich weniger tun als das, während Sie so gut gegen mich sind?«

»So werden Sie Ihr volles Vertrauen in mich setzen? Werden keinen geheimen Kummer, keine Besorgnis mir verheimlichen?«

»Beinahe keine.«

»Und Sie haben jetzt keinen Kummer?«

Sie schüttelte den Kopf. Aber sie war sehr blaß.

»Wenn ich zur Nacht mich niederlege, und meine Gedanken schweifen – wie dies der Fall sein wird, da sie es jede Nacht tun, auch wenn ich Sie nicht gesehen – nach diesem traurigen Ort zurück, darf ich dann glauben, daß hier in diesem Zimmer und unter seinen gewöhnlichen Bewohnern kein Kummer weilt, der an Klein-Dorrits Herzen nagt?«

Sie schien nach diesen Worten zu haschen – was er sich gleichfalls lange nachher erinnerte – und sagte heiterer: »Ja, Mr. Clennam; ja. Sie dürfen das!«

Die schwache Treppe, die gewöhnlich nicht faul war, bemerklich zu machen, wenn jemand hinauf- oder hinabging, ächzte jetzt unter einem raschen Tritt, und man vernahm noch ein weiteres Geräusch auf ihr; als wenn eine kleine Dampfmaschine mit mehr Dampf, denn sie zu verbrauchen weiß, nach dem Zimmer sich hinarbeitete. Als sie nahte, was sie sehr rasch tat, arbeitete sie mit vergrößerter Energie. Nachdem an die Tür gepocht worden, glaubte man zu hören, wie sie sich herabbeugte und in das Schlüsselloch hineinschnaubte.

Ehe Maggy die Tür öffnen konnte, stand Mr. Pancks, der sie von außen geöffnet hatte, ohne Hut und mit dem bloßen Kopf in wilder Unordnung auf der Schwelle und sah Clennam und Klein-Dorrit über ihre Schulter an. Er hatte eine angezündete Zigarre in seiner Hand und brachte Bier- und Tabakgeruch mit sich.

»Pancks der Zigeuner«, sagte er außer Atem, »beim Wahrsagen.«

Er stand mit einer ungemein seltsamen Miene da, lächelte schmutzig und atmete ihnen ins Gesicht. Er sah aus, als wenn er, statt seines Eigentümers Ausjäter, der triumphierende Eigentümer des Marschallgefängnisses, des Marschalls, aller Schließer und aller Kollegen wäre. In seiner großen Selbstzufriedenheit brachte er die Zigarre an seine Lippe (er war sichtlich kein Raucher) und nahm, während er das rechte Auge zu diesem Zweck fest schloß, einen solchen Zug, daß er krampfhaft zusammenfuhr und schauerte. Aber auch mitten in diesem Krampf suchte er noch seine Lieblingsweise sich vorzustellen zu wiederholen: »Pa–-ancks, der Zi–geuner, beim Wahr–sagen.«

»Ich bringe den Abend mit den andern zu«, sagte Pancks. »Ich habe gesungen. Ich habe eine Partie ›weißen Sand und grauen Sand‹ gemacht. Ich verstehe nichts davon, tut nichts. Ich mache bei allem mit. Es ist alles eins, wenn man nur laut genug ist.«

Anfangs glaubte Clennam, er sei berauscht. Aber er bemerkte bald, daß, wenn ihm auch etwas schlimmer (oder besser) durch das Bier geworden, der Sturm seiner Aufregung nicht aus Malz gebraut oder aus irgendeiner Beere oder einem Korn destilliert war.

»Wie geht es Ihnen, Miß Dorrit?« sagte Pancks. »Ich dachte, Sie würden nicht übelnehmen, wenn ich hier auf einen Augenblick vorspreche. Mr. Clennam, hörte ich von Mr. Dorrit, sei hier. Wie geht es Ihnen, Sir?«

Clennam dankte ihm und sagte, er freue sich, ihn so heiter zu sehen.

»Heiter!« sagte Pancks. »Ich bin in herrlicher Gesellschaft, Sir. Ich kann keinen Augenblick bleiben, sonst vermißt man mich, und ich will nicht, daß man mich vermisse – hm, Miß Dorrit?«

Er schien ein unersättliches Vergnügen daran zu finden, sie anzureden und sie anzusehen, während sein Haar zu gleicher Zeit starr in die Höhe stand wie die Federn einer dunklen Art von Kakadu.

»Ich bin noch nicht eine halbe Stunde hier. Ich wußte, daß Mr. Dorrit im Präsidentenstuhl sitzt, und ich sagte: Ich will gehen und ihn unterstützen. Ich sollte eigentlich im Hof zum blutenden Herzen drunten sein: aber ich kann sie morgen quälen. – Hm, Miß Dorrit?«

Seine kleinen schwarzen Augen funkelten elektrisch. Sein Haar sogar schien Funken zu sprühen, wenn er durch dasselbe strich. Er war in einem so aufgeregten Zustande, daß man hätte glauben können, er werde Funken und Schläge von sich geben, wenn man einen Muskel an irgendeinen Teil seines Körpers halte.

»Eine Kapitalgesellschaft hier«, sagte Pancks. – »Nicht wahr, Miß Dorrit?«

Halb fürchtete sie sich vor ihm, halb war sie unentschlossen, was sie sagen sollte. Er lachte und nickte Clennam zu.

»Seien Sie seinetwegen unbesorgt, Miß Dorrit. Er ist einer von den Unsrigen. Wir kamen überein, daß Sie vor den Leuten mich nicht kennen sollten. Aber wir meinen damit nicht Mr. Clennam. Er ist einer von den Unsrigen, Er hält zu uns. Nicht wahr, Mr. Clennam? – Hm, Miß Dorrit?«

Die Aufregung dieses seltsamen Menschen war nahe daran, sich auf Clennam zu übertragen. Klein-Dorrit sah dies mit Verwunderung und bemerkte, daß sie lebhafte Blicke wechselten.

»Ich machte eine Bemerkung«, sagte Pancks, »aber ich erkläre, daß ich vergesse, was es war. Oh, ich weiß! Eine Kapitalgesellschaft hier. Ich habe sie sämtlich bewirtet. – Hm, Miß Dorrit?« »Sehr freigebig von Ihnen«, versetzte sie, indem sie wieder einen der lebhaften Blicke zwischen den beiden bemerkte.

»Keineswegs«, sagte Pancks. »Sprechen Sie nicht davon. Ich komme in mein Eigentum, das ist die Sache. Ich kann gut freigebig sein. Ich denke, ich will sie bewirten. Die Tische werden im Hof gedeckt. Brot in Haufen. Pfeifen in Bündeln. Tabak in Heulasten. Roastbeef und Plumpudding für jeden. Ein Quart Doppelbier für den Kopf. Ein Viertel Wein dazu, wenn sie Lust haben und die Vorgesetzten es erlauben. – Hm, Miß Dorrit?«

Sie war durch sein Benehmen oder vielmehr durch Clennams wachsendes Verständnis seines Wesens so verwirrt (denn sie sah ihn nach jeder neuen Anrede und Kakadudemonstration des Mr. Pancks wieder an), so daß sie nur ihre Lippen zur Antwort bewegte, aber kein Wort hervorbrachte.

»Ja, ja, nach und nach!« sagte Pancks. »Sie sollen es erleben, daß Sie es sehen, was hinter uns auf Ihrer kleinen Hand ist. Das werden, das werden Sie, mein Liebling. – Hm, Miß Dorrit?«

Er hielt plötzlich inne. Woher er all die schwarzen Zinken bekam, die jetzt an seinem Kopf emporstarrten wie die Myriaden Spitzen, die im letzten Augenblick eines großen Feuerwerks hervorbrechen; das war ein unerklärliches Geheimnis.

»Aber man wird mich vermissen«, sagte er, darauf zurückkommend, »und ich möchte nicht, daß man mich vermißt. Mr. Clennam, Sie und ich machten einen Pakt. Ich sagte, Sie sollen finden, daß ich fest daran halte, und Sie werden finden, daß ich jetzt fest daran halte, Sir, wenn Sie einen Augenblick mit mir hinaus vor das Zimmer kommen wollen. Miß Dorrit, ich wünsche Ihnen gute Nacht. Miß Dorrit, ich wünsche Ihnen viel Glück.«

Er schüttelte ihr rasch beide Hände und fuhr die Treppen hinunter. Arthur folgte ihm so eilig, daß er auf dem letzten Absatz beinahe über ihn gestolpert wäre und ihn in den Hof hinausgeschleudert hätte.

»Was gibt es, um des Himmels willen?« fragte Arthur, als sie beide hinausstürzten.

»Warten Sie einen Augenblick, Sir. Mr. Rugg. Erlauben Sie mir, daß ich ihn vorstelle.«

Mit diesen Worten stellte er einen Mann vor ohne Hut, auch mit einer Zigarre, und gleichfalls mit einem Bier- und Tabakgeruch. Dieser Mann befand sich, obgleich nicht aufgeregt wie er selbst, in einem Zustand, der mit der Mondsucht verwandt gewesen, wenn er nicht im Vergleich zu Mr. Pancks‘ Ausschweifung nüchtern erschienen wäre.

»Mr. Clennam, Mr. Rugg«, sagte Pancks. »Warten Sie einen Augenblick. Kommen Sie zu der Pumpe.«

Sie begaben sich nach der Pumpe. Mr. Pancks hielt augenblicklich seinen Kopf unter die Röhre und bat Mr. Rugg tüchtig zu pumpen. Da Mr. Rugg seinen Wunsch wörtlich erfüllte, so kam Mr. Pancks schnaubend und blasend darunter hervor und trocknete sich mit seinem Taschentuch ab. »Ich sehe jetzt um so klarer«, fauchte er Clennam an, der erstaunt dastand. »Aber, auf Ehre, ihren Vater Reden im Präsidentenstuhl halten zu hören, wahrend wir wissen, was wir wissen, und sie droben in einem solchen Zimmer, in einem solchen Kleid zu sehen, während wir wissen, was wir wissen, das ist genug, und – geben Sie mir noch eins in den Nacken, Mr. Rugg, – etwas höher, Sir – das wird recht sein!«

Dann und hier, auf diesem Pflaster des Marschallgefängnisses, in der Abenddämmerung, flog Mr. Pancks, in eigener Person, über Kopf und Schultern von Mr. Rugg von Pentonoille, dem Generalagenten, Rechnungsführer und Schuldeneintreiber. Als er wieder auf seine Füße herabkam, nahm er Clennam am Knopfloch, führte ihn hinter die Pumpe und brachte keuchend ein Bündel Papiere aus der Tasche. Rugg brachte gleichfalls keuchend ein Bündel Papiere aus der Tasche.

»Ha!« sagte Clennam flüsternd. »Sie haben eine Entdeckung gemacht?« –

Mr. Pancks antwortete salbungsvoll, wie sie keine Sprache wiederzugeben vermag: »Wir glauben, ja.«

»Wird jemand dadurch kompromittiert?«

»Wie kompromittiert?«

»Durch eine Unterdrückung oder eine schlechte Handlung irgendwelcher Art?«

»Keineswegs.«

»Gott sei Dank!« sagte Clennam bei sich. »Nun, zeigen Sie mir.«

»Sie müssen wissen«, schnaubte Panck«, fieberhaft die Papiere entfaltend, indem er in kurzgestoßenen Sätzen sprach: »Wo ist der Stammbaum? Wo ist das Verzeichnis Nummer vier, Mr. Rugg? Ja, ganz recht! Hier sind wir. – Sie müssen wissen, daß wir eben heute tatsächlich fort sind. Rechtlich werden wir’s erst in zwei bis drei Tagen sein. Nehmen Sie höchstens eine Woche an. Wir waren, ich weiß nicht wie lange, Tag und Nacht bei der Sache. Mr. Rugg, Sie wissen, wie lange. Tut nichts zur Sache. Brauchen’s nicht zu sagen. Sie wollen mich nun verwirren. Sie werden es ihr sagen, Mr. Clennam. Aber nicht eher, als bis wir es Ihnen erlauben. Wo ist die rohe Bilanz, Mr. Rugg? Oh! Hier sind wir. Da, mein Herr. Das ist’s, was Sie ihr zu eröffnen haben. Dieser Mann ist Ihr Vater des Marschallgefängnisses.«