Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Familienangelegenheiten.

Als die Glocken der Stadt am Montagmorgen neun schlugen, wurde Mrs. Clennam von Jeremiah Flintwinch, dem Mann mit dem niedergeschlagenen Blick, vor ihren großen Schreibtisch gerollt. Nachdem sie diesen aufgeschlossen und geöffnet und sich vor dem Pult zurechtgerückt, entfernte sich Jeremiah – wahrscheinlich, um sich mit einem noch wirksameren Spitzbubenblick anzutun –, und ihr Sohn erschien.

»Geht es Ihnen heute morgen etwas besser, Mutter?«

Sie schüttelte den Kopf mit derselben ernsten Miene der Selbstherrlichkeit, die sie am vorhergehenden Abend, als vom Wetter die Rede war, gezeigt hatte. »Ich werde nie mehr besser werden, Arthur. Es ist ein Glück für mich, daß ich meinen Zustand kenne und ihn zu tragen weiß.«

Wie sie so dasaß, die Hände getrennt auf dem Pult und den hohen Schreibtisch vor sich, sah es aus, als ob sie auf einer tonlosen Kirchenorgel spielte. Auf ihren Sohn machte es diesen Eindruck (und nicht erst heute, sondern schon vor Jahren war ihm dieser Gedanke gekommen), als er sich neben sie setzte.

Sie öffnete einige Schiebladen, sah mehrere Geschäftspapiere durch und legte sie dann wieder an ihren früheren Platz. Kein Muskel ihres strengen Gesichts verlor seine Spannung; es war deshalb auch für den Beobachter unmöglich, in das dunkle Labyrinth ihrer Gedanken zu dringen.

»Soll ich von unsern Angelegenheiten sprechen, Mutter? Sind Sie geneigt, auf Geschäftssachen einzugehen?«

»Ob ich geneigt bin? Vielmehr, bist du es? Dein Vater ist seit länger als einem Jahre tot. Ich war seit jenem Augenblick bereit und wartete, bis es dir beliebe.«

»Es war noch so viel zu ordnen, ehe ich abreisen konnte; und als ich endlich freie Hand hatte, reiste ich ein wenig zur Erholung.«

Sie wandte ihr Gesicht nach ihm hin, als ob sie seine letzten Worte nicht gehört oder verstanden.

»Zur Erholung.«

Sie blickte in dem düstern Zimmer umher und schien, nach der Bewegung ihrer Lippen zu urteilen, jene Worte zu wiederholen, als wollte sie diese Räume zu Zeugen auffordern, wie wenig sie daran teilhabe.

»Und dann, Mutter, da Sie die einzige Testamentsvollstreckerin sind und die Sachen ordnen können, wie es Ihnen beliebt, so blieb mir wenig, oder ich möchte sagen, nichts zu tun übrig, bis Sie Zeit hätten, die Dinge zu Ihrer Zufriedenheit zu arrangieren.«

»Die Rechnungen sind ausgefertigt«, versetzte sie, »ich habe sie hier. Die Urkunden sind alle geprüft und richtig befunden. Du kannst Einsicht davon nehmen, wann es dir beliebt, Arthur; jetzt, wenn du Lust hast.«

»Es genügt, Mutter, wenn ich weiß, daß das Geschäft besorgt ist. Soll ich fortfahren?«

»Warum nicht?« sagte sie in ihrer frostigen Weise.

»Mutter, unser Haus hat in den letzten Jahren immer weniger Geschäfte gemacht, und unsre Handelsverbindungen nahmen bedeutend ab. Wir haben nie viel Vertrauen gezeigt oder uns auf viel eingelassen; wir haben die Leute nicht an uns gefesselt. Die Richtung, die wir einschlugen, war nicht die Richtung der Zeit, und wir blieben zuletzt weit zurück. Ich brauche nicht bei diesem Punkt zu verweilen, Mutter. Sie sind hinlänglich davon unterrichtet.«

»Ich weiß, was du meinst«, antwortete sie in ihrem charakteristischen Ton.

»Auch dieses alte Haus, in dem wir sprechen«, fuhr ihr Sohn fort, »ist ein Beispiel von dem, was ich sage. In meines Vaters früheren Zeiten, und zu seines Onkels Zeiten noch früher, war es ein Geschäftsplatz – wirklich ein Geschäftsplatz mit lebhaftem Verkehr. Jetzt ist es eine reine Anomalie, eine Ungereimtheit, außer der Zeit und völlig unzweckmäßig. Alle unsere Verbindungen gingen seit langer Zeit an das Kommissionsgeschäft von Rovingham; und obgleich man, um dieses zu kontrollieren und die Geldmittel meines Vaters gut zu verwalten, Ihr Urteil und Ihre Wachsamkeit lebhaft in Anspruch nahm, so hätten doch diese Eigenschaften den gleichen Einfluß auf meines Vaters Vermögen haben können, wenn Sie irgendeine Privatwohnung bezogen: das müssen Sie zugeben?«

»Denkst du denn«, entgegnete sie, ohne auf seine Frage zu antworten, »daß ein Haus völlig zwecklos sei, Arthur, wenn es deine kränkliche und leidende – deine mit vollem Recht leidende – Mutter beherbergt?«

»Ich sprach nur von geschäftlichen Beziehungen.«

»Und in welcher Absicht?« »Ich komme schon darauf zu sprechen.«

»Ich sehe voraus«, entgegnete sie und heftete ihre Augen auf ihn, »was es ist. Aber der Herr bewahre mich, daß ich unter irgendeiner Heimsuchung murre. Um meiner Sünden willen verdiene ich die bitterste Enttäuschung, und ich nehme sie gelassen hin.«

»Mutter, es schmerzt mich, Sie so sprechen zu hören, obgleich ich ahnte, daß es so kommen würde –«

»Du wußtest, daß es so kommen würde. Du kanntest mich«, unterbrach sie ihn.

Ihr Sohn schwieg einen Augenblick. Er hatte Feuer aus ihr hervorgelockt und war überrascht. »Nun«, sagte sie und sank wieder in ihre steinerne Starrheit zurück. »Fahre fort. Laß mich hören.«

»Sie haben vorausgesehen, Mutter, daß ich mich dahin entscheiden werde, das Geschäft aufzugeben. Ich gebe es wirklich auf. Ich will mir nicht anmaßen, Ihnen zu raten: Sie werden es fortsetzen, ich sehe das voraus. Wenn ich irgendeinen Einfluß auf Sie hätte, würde ich ihn einfach dazu benutzen, Ihr Urteil in Beziehung auf die Enttäuschung, die ich Ihnen bereite, zu mildern und Ihnen vorzustellen, daß ich die Hälfte einer langen Lebenszeit gelebt, ohne je meinem Willen dem Ihren entgegenzusetzen. Ich kann nicht sagen, daß ich imstande war, mich mit Herz und Sinn in Ihre Grundsätze zu fügen; ich kann nicht sagen, daß ich glaube, meine vierzig Jahre seien mir selbst oder irgendwem sonst nützlich oder angenehm gewesen. Aber ich habe gewöhnlich nachgegeben, und ich bitte nur, daß Sie sich daran erinnern.«

Wehe dem Flehenden von jetzt und ehedem, der von dem unerbittlichen Gesicht an dem Schreibtisch ein Zugeständnis erwartete! Wehe dem Verbrecher, dessen Appellation einem Tribunal unterbreitet war, bei dem so strenge Augen den Vorsitz führten! Die harte Frau brauchte all ihre mystische Religion, die in Dunkel und Finsternis gehüllt war, um nur Fluch-, Rache- und Vernichtungsblitze durch die Sandwolken zu schleudern. Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern, war eine Bitte, die ihr zu geistesarm erschien. Züchtige meine Schuldner, o Herr, vertrockne sie, zermalme sie; tu mit ihnen, wie ich tun würde, und ich werde dich anbeten: das war der gottlose Turm von Stein, den sie aufbaute, um himmelan zu steigen.

»Bist du zu Ende, Arthur, oder hast du mir noch etwas zu sagen? Ich glaube, es wird nichts mehr übrig sein. Du warst kurz, aber deine Worte waren inhaltsschwer!«

»Mutter, ich habe noch etwas zu sagen. Es lastete die ganze lange Zeit Tag und Nacht auf meinem Herzen. Es ist weit schwieriger zu sagen, als was ich bisher gesagt. Dies betraf nur mich selbst: was nun kommt, uns alle.«

»Uns alle! Wer sind diese ›uns alle?‹«

»Sie, ich, mein verstorbener Vater.«

Sie nahm ihre Hände von dem Schreibtisch, faltete sie in ihrem Schoß und saß, mit der Unerforschlichkeit einer alten ägyptischen Skulptur in das Feuer blickend, da.

»Sie kannten meinen Vater ungleich besser, als ich ihn je gekannt; und seine Zurückhaltung gegen mich wich gegenüber Ihnen. Sie waren der stärkere Teil, Mutter, und leiteten ihn. Ich wußte das schon als Kind so gut wie jetzt. Ich wußte, daß Ihr Einfluß auf ihn die Ursache war, weshalb er nach China ging, um dort das Geschäft zu besorgen, während Sie sich dessen hier annahmen (wenn ich auch jetzt noch nicht weiß, ob dies wirklich der Grund zur Trennung war, wegen dessen Sie einwilligten); so wußte ich auch, daß es Ihr Wille war, daß ich hier bleibe, bis ich zwanzig Jahre alt sei, und dann zu ihm gehe, wie es wirklich geschah. Sie werden nicht ungehalten sein, wenn ich nach zwanzig Jahren daran erinnere?«

»Ich warte auf den Grund, weshalb du daran erinnerst.«“

Er dämpfte seine Stimme und sagte sichtbar ungern und mit Widerwillen:

»Ich möchte Sie fragen, Mutter, ob es Ihnen je in den Sinn gekommen, Verdacht zu hegen –«

Bei dem Worte »Verdacht« richtete sie den Blick mit finstrem Zusammenziehen der Brauen auf ihren Sohn. Dann ließ sie die Augen wieder das Feuer suchen, aber die Brauen blieben zusammengezogen, als ob der Bildhauer des alten Ägypten dem harten granitnen Gesicht für Jahrhunderte diesen finstern Ausdruck geben wollte.

»– daß er irgendeine geheime Erinnerung habe, die ihn beunruhige, ihn mit Reue quäle? Haben Sie je in seinem Benehmen etwas bemerkt, was zu diesem Verdacht führen konnte, oder je mit ihm davon gesprochen, oder je ihn auf etwas Derartiges anspielen hören?«

»Ich verstehe nicht, welcher Art die geheime Erinnerung gewesen sein sollte, der du deinen Vater zum Opfer werden läßt«, entgegnete sie nach einer Pause. »Du sprichst so geheimnisvoll.«

»Wäre es möglich, Mutter«, sagte der Sohn, indem er sich vorbeugte, um ihr näher zu sein, solange er flüsterte, und legte dabei seine Hand ängstlich besorgt auf das Schreibpult, »wäre es möglich, Mutter, daß er irgend jemandem ein Unrecht zugefügt und es nicht wieder gutgemacht hat?«

Zornig ihn anblickend, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, um ihn von sich fernzuhalten, antwortete jedoch nicht.

»Ich fühle wohl, Mutter, daß, wenn dieser Gedanke Ihnen niemals in den Sinn gekommen, es grausam und unnatürlich von mir erscheinen muß, selbst in diesem vertraulichen Augenblick, ihn auch nur leise auszusprechen. Aber ich kann ihn nicht loswerden. Zeit und Veränderung des Orts (ich habe beides versucht, ehe ich mein Schweigen brach) vermögen nichts gegen ihn. Bedenken Sie, ich lebte bei meinem Vater. Bedenken Sie, ich blickte ihm ins Auge, als er mir die Uhr anvertraute und sich mir zu sagen mühte, daß er sie Ihnen als ein Zeichen sende, das Sie wohl verstehen würden. Bedenken Sie, ich sah ihn im letzten Augenblick, als er mit dem Bleistift in der zitternden Hand einige Worte, denen er jedoch keine Form geben konnte, für Sie zu schreiben suchte. Je entfernter und grausamer dieser vage Verdacht, den ich hege, desto gewichtiger sind die Umstände, die ihm einen Schein von Wahrscheinlichkeit zu geben vermögen. Um des Himmels willen, lassen Sie uns ernstlich forschen, ob hier irgendein Unrecht wieder gutzumachen ist. Niemand kann mir dabei helfen, Mutter, als Sie.«

Noch immer in ihrem Lehnstuhl so zurückgelehnt, daß ihr Übergewicht von Zeit zu Zeit diesen ein wenig auf seinen Rädern bewegte, und daß sie das Aussehen eines vor ihm zurückweichenden zornglühenden Phantoms hatte, stemmte sie, den Rücken ihrer Hand am Gesicht, den Arm zwischen ihn und sich, während sie ihn schweigend ansah.

»Bei diesem Haschen nach Geld und den kühnen Handelsspekulationen – ich habe begonnen und muß nun von solchen Dingen sprechen, Mutter – ist ohne allen Zweifel jemand beeinträchtigt, benachteiligt, ruiniert worden. Sie waren die Triebfeder der ganzen Maschine, ehe ich geboren wurde. Ihr starker Geist hat während mehr als vierzig Jahren an allen Geschäften meines Vaters teilgenommen. Sie können diese Zweifel lösen, hoffe ich, wenn Sie mir wirklich zur Ergründung der Wahrheit behilflich sein wollen. Wollen Sie das, Mutter?«

Er hielt inne, in der Hoffnung, sie werde sprechen. Aber ihre starren Lippen waren nicht beweglicher als ihr graues, in zwei Scheitel gelegtes Haar.

»Wenn wir irgend etwas ersetzen, wenn wir irgend etwas wieder gutmachen können, so lassen Sie es uns wissen und es tun. Ja, Mutter, wenn es in meinen Kräften liegt, so lassen Sie es mich tun. Ich habe so wenig Glück vom Golde kommen sehen: es hat, soweit mein Wissen reicht, weder diesem Haus noch irgendeinem, der dazu gehört, Frieden gebracht: darum hat es in meinen Augen auch weit geringeren Wert als in irgendeines andern. Ich kann mir nichts damit erwerben, das mir nicht ein Vorwurf oder eine Pein wäre, solange mich noch der Argwohn quält, daß meines Vaters letzte Stunden von Gewissensbissen umnachtet waren, und daß das Geld nicht mein ehrlicher und gerechter Besitz sei.«

Zwei bis drei Ellen von dem Schreibtisch hing eine Klingelschnur an der gefelderten Wand. Durch eine rasche und plötzliche Bewegung ihres Fußes schob sie ihren Räderstuhl schnell nach jener hin und zog heftig daran –, während sie den Arm noch immer in einer schildartigen Stellung hielt, als ob Arthur mit ihr kämpfte und sie den Schlag abwehren wollte.

Ein Mädchen trat erschrocken ein.

»Sende Flintwinch her!«

Im nächsten Augenblick war das Mädchen verschwunden, und der alte Mann stand in der Tür. »Wie! Sind Sie schon in Streit?« sagte er, sich sein Gesicht streichend. Ich dachte mir’s doch. Ich war fest davon überzeugt.«

»Flintwinch!« sagte die Mutter. »Sehen Sie meinen Sohn an. Sehen Sie ihn an!«

»Nun! Ich sehe ihn an«, sagte Flintwinch.

Sie streckte den Arm aus, mit dem sie sich gedeckt, und zeigte, während sie fortfuhr, auf den Gegenstand ihrer Entrüstung.

»Beinahe in derselben Stunde, in der er ankommt, – ehe noch der Schuh an seinem Fuß trocken ist – verleumdet er das Gedächtnis seines Vaters vor seiner Mutter! Verlangt, daß seine Mutter die Handlungen seines Vaters mit ihm auskundschafte! Spricht Befürchtungen aus, daß die Güter dieser Welt, die wir früh und spät mit Müh‘ und Sorgen, mit Arbeit und Selbstverleugnung zusammengebracht, so gut wie Raub seien; und fragt mich, wem sie als Ersatz und Vergütung wieder zurückerstattet werden sollen!«

Obgleich sie dies mit größter Entrüstung sagte, sprach sie doch in einem Ton, den sie so ganz beherrschte, daß er sogar leiser als gewöhnlich war. Auch sprach sie mit großer Deutlichkeit.

»Ersatz!« sagte sie, »ja wahrhaftig! Es ist leicht von Ersatz zu sprechen, wenn man frisch vom Reisen und Wohlleben in fremden Ländern herkommt und ein Leben voll Lust und Vergnügen führt. Er soll mich ansehen in meinem Gefängnis, in Ketten und Banden. Ich ertrage mein Schicksal ohne Murren, weil es mir beschieden, auf solche Weise meine Sünden zu büßen. Ersatz! Liegt denn keiner in diesem Zimmer? Habe ich denn während dieser fünfzehn Jahre nichts wieder gutgemacht?«

So wog sie immer ihren Handel mit der Majestät des Himmels ab, indem sie den Eingang zu ihrem »Haben« schrieb, streng an ihrer Gegenforderung festhielt und auf ihren Gebühren beharrte. Sie war darin nur wegen der Strenge und des Nachdrucks, mit denen sie das tat, merkwürdig. Tausende und aber Tausende tun dasselbe alle Tage, jeder nach seiner Weise.

»Flintwinch, geben Sie mir das Buch!«

Der alte Mann gab es ihr vom Tische. Sie steckte zwei Finger zwischen die Blätter, schloß das Buch und hielt es ihrem Sohne drohend hin.

»In alten Zeiten, Arthur, von denen dieses Buch spricht, gab es fromme, von dem Herrn geliebte Männer, die ihre Söhne um geringerer Ursachen als diese verflucht und aus ihrer Nähe verbannt, ja ganze Nationen, wenn sie sie unterstützt, ins Exil geschickt, daß sie verlassen von Gott und Menschen bis herab zum Säugling an der Mutterbrust umgekommen wären. Ich erkläre dir jedoch nur so viel, daß, wenn du jemals dieses Thema wieder in meiner Gegenwart zur Sprache bringst, ich dich verleugnen werde; ja, ich werde dich so von dieser Schwelle weisen, daß es dir besser wäre, du würdest von deiner Wiege an mutterlos gewesen sein. Ich werde dich nimmer ansehen noch kennen. Und wenn du endlich in dieses dunkle Gemach trätest, um mich im Tod noch zu sehen, sollte, wo es irgend in meiner Macht stände, mein Leichnam bluten, wenn du mir nahe kämest.«

Erleichtert teils durch die Heftigkeit dieses Fluches, teils (so seltsam dies auch scheinen mag) durch den allgemeinen Eindruck, daß es eine Art religiösen Aktes war, gab sie dem alten Manne das Buch zurück und schwieg.

»Jetzt«, sagte Jeremiah, »vorausgeschickt, daß ich nicht die Absicht habe, mich zwischen Sie zu stellen, erlauben Sie mir zu fragen (da ich einmal hereingerufen und zum Dritten gemacht worden bin), was soll dies alles bedeuten?«

»Lassen Sie sich’s von meiner Mutter erklären«, erwiderte Arthur, da er sah, daß das Sprechen ihm überlassen blieb. »Oder lassen Sie die Sache lieber ruhen. Was ich gesagt, war nur zu meiner Mutter gesagt.«

»Oh!« versetzte der alte Mann, »von Ihrer Mutter? Von Ihrer Mutter erklären lassen? Schon gut! Aber Ihre Mutter sagte, daß Sie Ihren Vater verdächtigt haben. Das ist nicht recht, Mr. Arthur. Wer wird nun bei den Verdächtigungen an die Reihe kommen?«

»Genug«, sagte Mrs. Clennam, ihr Gesicht so wendend, daß es für den Augenblick nur dem alten Manne zugekehrt war. »Wir wollen nicht weiter davon sprechen.«

»Ja, aber nur noch etwas, nur noch etwas«, drängte der alte Mann. »Lassen Sie uns sehen, wie wir stehen. Haben Sie Mr. Arthur gesagt, daß er keine Beleidigungen auf seinen Vater häufen darf? Daß er kein Recht dazu, – daß er keinen Grund zu solchem Betragen hat?«

»Ich werde es ihm jetzt sagen.«

»Ha! Wirklich«, sagte der alte Mann. »Sie werden es ihm jetzt sagen. Sie hatten es ihm bisher noch nicht gesagt und wollen es ihm jetzt sagen. Ah, ah, das ist recht! Sie wissen, ich stand so lange zwischen Ihnen und seinem Vater, daß es scheint, als hätte der Tod keinen Unterschied gemacht, und ich stehe noch zwischen Ihnen. So soll es denn auch sein, und in aller Güte fordre ich, daß der Sache ein Ende gemacht werde. Arthur, ich muß Sie bitten, sich wohl zu merken, daß Sie kein Recht haben, Ihren Vater zu verdächtigen, und keinen Grund, so zu verfahren.«

Er legte seine Hände auf die Lehne des Rollstuhls, und etwas in sich hineinmurmelnd, rollte er seine Herrin wieder an den Schreibtisch zurück. »Aber«, fuhr er hinter ihr stehend fort, »für den Fall, daß ich bei meinem Weggang die Sache auf halbem Wege lasse und man meiner wieder bedürfte, wenn Sie zur Beratung der andern Hälfte kommen, möchte ich doch wissen, ob Arthur Ihnen gesagt, was er in bezug auf das Geschäft beabsichtigt?«

»Er hat es aufgegeben.«

»Vermutlich doch zu keines andern Gunsten?« Mrs. Clennam sah ihren Sohn an, der an einem der Fenster lehnte. Er bemerkte den Blick und sagte: »Natürlich zugunsten meiner Mutter. Sie kann tun, was ihr beliebt.«

»Und wenn irgendeine Freude«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »mir aus der Täuschung meiner Erwartung, daß mein Sohn in der besten Jugendfrische seines Lebens ihm neue Kraft und neuen Schwung verleihen und es nutzbringend und ergiebig machen würde, – wenn irgendeine Freude mir aus dieser Enttäuschung erwächst, so ist es die, daß sie einen alten und treuen Diener im Wert steigen ließ. Jeremiah, der Kapitän verläßt das Schiff, aber du und ich werden untergehen oder auf ihm fortschwimmen.«

Jeremiah, dessen Augen blitzten, als ob sie Geld sähen, warf einen raschen Blick auf den Sohn, der zu sagen schien: »Ich bin Ihnen keinen Dank dafür schuldig; Sie haben nichts dafür getan!« und dann der Mutter bedeutete, daß er ihr danke und daß Affery ihr danke und daß er sie nimmer verlassen werde und daß Affery sie nimmer verlassen werde. Endlich zog er seine Uhr aus ihren Tiefen empor und sagte: »Elf! Die Zeit für Ihre Austern!« und mit dieser Änderung des Themas, die jedoch nicht auch eine Änderung des Ausdrucks oder der Haltung in sich schloß, zog er die Glocke.

Aber Mrs. Clennam beschloß, mit noch größerer Strenge gegen sich zu verfahren, da man sie im Verdacht einer Ersatzverweigerung gehabt, und wies die Austern zurück, als man sie ihr brachte. Sie sahen verführerisch aus: acht an der Zahl, im Kreise auf einem weißen Teller, der auf einer mit weißer Serviette bedeckten Präsentierplatte stand, und daneben eine Schnitte mit Butter bestrichenen Weißbrots und ein kleines volles Glas kühlen Weins mit Wasser; aber sie widerstand aller Überredungskunst und schickte sie wieder hinunter –, indem sie ohne Zweifel diesen Akt zu ihrem »Haben« im Buch der Ewigkeit schrieb.

Bei diesem Austernfrühstück war Affery nicht zugegen, wohl aber das Mädchen, das auf das Läuten erschienen war; dasselbe, das in dem düster beleuchteten Zimmer am vorhergehenden Abend anwesend gewesen. Jetzt, da er Gelegenheit hatte, sie zu beobachten, fand Arthur, daß ihre winzig kleine Figur, ihre kleinen Gesichtszüge und ihr leichter, dürftiger Anzug ihr ein weit jüngeres Aussehen gaben, als es in Wirklichkeit der Fall war. Obgleich ein Mädchen von nicht weniger als zweiundzwanzig Jahren, mochte die Kleine bei einer Begegnung auf der Straße für wenig mehr als halb so alt gegolten haben. Nicht gerade, daß ihr Gesicht so jugendlich ausgesehen; denn die Züge hatten etwas Reiferes und durch Kummer Ausgeprägteres, als dies sonst in solchem Alter der Fall zu sein pflegt. Aber sie war so klein und zart, so still und menschenscheu, und schien so deutlich zu fühlen, sie sei zwischen den drei weit Älteren nicht am Platze, daß sie ganz das Benehmen und viel von dem Wesen eines unterdrückten Kindes hatte.

Die Art und Weise, wie Mrs. Clennam ihr Interesse für dieses abhängige Wesen an den Tag legte, hielt die unbestimmte schwankende Mitte zwischen Gönnerhaftigkeit und Unterdrückung, zwischen dem Strom eine Gießkanne und einer hydraulischen Presse.

Selbst in dem Augenblick, als sie auf das heftige Klingeln eintrat und die Mutter sich mit der eigentümlichen Aktion gegen den Sohn schützte, hatten die Augen von Mrs. Clennam noch etwas besonders Forschendes, das sie für sie aufgespart. Wie es selbst bei dem härtesten Metall Grade von Härte und Schattierungen selbst im Schwarz gibt, so war auch in dem rauhen Wesen von Mrs. Clennams Verhalten zur ganzen übrigen Menschheit und zu Klein-Dorrit eine feine Steigerung vorhanden.

Klein-Dorrit arbeitete als Hausnäherin. So lange der Tag dauerte, oder so kurz er dauerte – von acht zu acht Uhr –, konnte man Klein-Dorrit haben. Pünktlich mit dem Glockenschlag erschien Klein-Dorrit; pünktlich mit dem Glockenschlag verschwand Klein-Dorrit. Was zwischen den beiden Acht aus Klein-Dorrit wurde, wußte man nicht.

Eine weitere Seite im Wesen Klein-Dorrits war dies. Neben der Geldvergütung schloß ihr täglicher Kontrakt auch das Essen ein. Sie hatte einen außerordentlichen Widerwillen gegen das Essen in Gesellschaft und tat es auch nie, wenn sie solchem dann irgendwie ausweichen konnte. Sie schützte, wo es anging, vor, daß sie diese Kleinigkeit schon anzufangen oder jene Kleinigkeit noch fertigzumachen habe; immer dachte, immer überlegte sie, wie sie es einrichten könne, um allein zu essen. Ihr Verfahren war freilich nicht sehr geschickt. Denn sie täuschte niemanden. Aber es gelang ihr doch: und sie war glücklich, wenn sie ihre Platte irgendwohin tragen und ihren Schoß, oder eine Schachtel, oder den Boden, oder sonst einen Fleck zu ihrem Tische machen, oder gar auf den Zehenspitzen stehen und ihr bescheidenes Mal auf dem Kaminsims verzehren konnte; die größte Angst von Klein-Dorrits Tag war dann überwunden.

Es war nicht leicht, Klein-Dorrits Antlitz zu Gesicht zu bekommen. Sie hielt sich ungemein zurückgezogen, nähte in den verstecktesten Winkeln und blickte scheu zur Seite, wenn sie jemandem auf der Treppe begegnete. Aber es schien ein blasses, durchsichtiges Gesicht von lebhaftem Ausdruck, wenn auch nicht schönen Zügen zu sein: nur ihre nußbraunen Augen machten eine Ausnahme. Ein zart gebeugter Kopf, eine kleine Gestalt, ein Paar kleine, geschäftige Hände und ein abgeschabtes Kleid – es mußte wirklich überaus abgeschabt gewesen sein, obgleich es ganz nett aussah –, das war Klein-Dorrits Erscheinung, wenn sie bei der Arbeit saß.

Diese besonderen und allgemeinen Züge Klein-Dorrits verdankte Mr. Arthur im Laufe des Tages seinen eigenen Augen und Mrs. Afferys Zunge. Wenn Mrs. Affery irgendeinen Willen für sich gehabt, so wäre dieser sicher Klein-Dorrit nicht sehr günstig gewesen. Da jedoch »die beiden Gescheiten« – Mrs. Afferys beständige Instanz, in der ihre Persönlichkeit aufgegangen – einverstanden waren, Klein-Dorrit als eine Sache der Gewohnheit zu betrachten,

Klein-Dorrit im Hause Mrs. Clennams

so hatte sie nichts zu tun, als sich darein zu fügen und desgleichen zu tun. Wären die beiden Gescheiten miteinander einverstanden gewesen, Klein-Dorrit bei Licht umzubringen, würde Affery, wenn man sie zum Lichthalten aufgefordert, sich ohne Zweifel keinen Augenblick geweigert haben.

Während sie das Rebhuhn für das Krankenzimmer briet und eine Backschüssel mit Ochsenfleisch und Pudding für das Speisezimmer zubereitete, machte sie Mr. Arthur die eben erwähnten Mitteilungen, indem sie beständig den Kopf in die Tür steckte, nachdem sie ihn wieder zurückgezogen, um den Widerstand gegen die beiden Gescheiten zu verstärken. Es schien für Mrs. Flintwinch eine wirkliche Leidenschaft geworden zu sein, daß der einzige Sohn ihnen feindlich gegenübergestellt werde.

Im Verlauf des Tages machte Arthur einen Gang durch das ganze Haus. Er fand es dunkel und düster. Die großen, seit Jahren leer dastehenden Räume schienen in finstere Totenstarre versunken, aus der sie wohl nichts wieder aufrütteln konnte. Die dürftigen und unordentlich durcheinander gewürfelten Möbel waren mehr in den Zimmern versteckt, als daß sie dieselben geziert, und im ganzen Hause war keine Spur von Farbe zu sehen. Der Anstrich, der je einmal dagewesen, war von verlorenen Sonnenstrahlen gebleicht – die dann wahrscheinlich möglichst rasch in Blumen, Schmetterlinge, Vogelgefieder, kostbare Steine und andere Dinge untertauchten. Es war nicht ein gerader Boden vom Grund des Hauses bis unter das Dach zu finden; die Decken waren so phantastisch von Rauch und Dunst umwölkt, daß alte Frauen besser das Schicksal daraus hätten prophezeien können, als aus dem Bodensatz des Tees. Die eiskalten Herde zeigten keine Spuren, daß sie je erwärmt worden, aber Haufen von Ruß waren von den Kaminen herabgefallen und flogen in kleinen, dunklen Wirbelwinden auf, wenn die Türen geöffnet wurden. In dem ehemaligen Wohnzimmer befanden sich ein paar armselige Spiegel mit häßlichen schwarzen Figuren, die schwarze Girlanden tragend auf den Rahmen einhergingen. Aber selbst diese hatten Plattköpfe und kurze Beine; ein unternehmend aussehender Cupido hatte sich um seine eigene Achse gedreht und das Unterste nach oben gekehrt; ein anderer war sogar ganz herabgefallen. Das Zimmer, das Arthur Clennams verstorbener Vater als Geschäftszimmer in der Zeit benutzt, aus der seine ersten Erinnerungen stammten, war so unverändert, daß man hätte glauben können, er bewohne es noch immer unsichtbar, wie seine sichtbare Witwe das ihrige oben, und Jeremiah stehe noch immer vermittelnd zwischen ihnen. Sein dunkles und finsteres Bild, das in sprachlosem Ernst an der Wand hing, die Augen fest auf den Sohn geheftet, wie sie auf ihn gerichtet waren, als die Lebensgeister ihn verließen, schien ihn unheimlich zu der Vollendung der Tat zu drängen, die er begonnen. Aber es blieb ihm jetzt keine Hoffnung, daß seine Mutter je nachgeben würde, und auch auf andere Weise seinen Argwohn zu beschwichtigen, hatte er für lange Zeit alle Hoffnung verloren. Drunten in den Kellern wie droben in den Schlafzimmern hatte manches, dessen er sich noch wohl erinnerte, durch Alter und Verfall ein anderes Aussehen bekommen, obgleich es an derselben Stelle wie früher stand, selbst bis auf die leeren, mit Spinngeweben überzogenen, schimmeligen Bierfäßchen und die leeren Weinflaschen herab, deren Hälse mit Schleim und Pilzen verstopft waren. Dort befand sich auch unter ungebrauchten Flaschengestellen und von schwachen Lichtstreifen aus dem darüberliegenden Hofe erhellt der feste, mit alten Lagerbüchern angefüllte Raum. Die Bücher hatten einen so dunstigen Modergeruch, als ob sie regelmäßig in der Totenstunde von einer allnächtlich spukenden Versammlung alter Buchhalter abgeschlossen würden.

Die Backschüssel wurde um zwei Uhr auf einem zerknitterten Tischtuch an einem Ende des Speisetisches serviert, als gälte es Büßende zu bewirten. Arthur aß zugleich mit Mr. Flintwinch. Dieser teilte ihm mit, daß seine Mutter ihre frühere Gemütsruhe wiedergewonnen, und daß er nicht zu befürchten brauche, sie werde je auf das anspielen, was diesen Morgen geschehen. »Und häufen Sie nun auch ferner keine Beleidigungen auf Ihren Vater, Mr. Arthur«, fügte Jeremiah hinzu, »einmal für allemal, unterlassen Sie das! Die Sache ist damit abgemacht!«

Mr. Flintwinch hatte bereits sein eigenes kleines Bureau in Ordnung gebracht, als gälte es der Erlangung seiner neuen Würde alle Ehre zu erweisen. Er nahm seine Beschäftigung wieder auf, als er sich mit Ochsenbraten angefüllt, allen Saft in der Backschüssel mit dem flachen Messer ausgeschöpft und aus einem auf dem Küchentisch stehenden Krug mit Halbbier sich erquickt hatte. So erfrischt, schlug er seine Hemdärmel hinauf und ging wieder an die Arbeit. Mr. Arthur, der ihn dabei beobachtete, merkte bald, daß seines Vaters Bild oder seines Vaters Grab ebenso mitteilsam sein würden wie dieser alte Mann.

»Nun, Affery, Frau«, sagte Mr. Flintwinch, als sie durch den Gang ging. »Du hattest Mr. Arthurs Bett noch nicht gemacht, als ich das letztemal oben war. Eile dich! Rühre dich!“

Aber Mr. Arthur fand das Haus so öde und traurig und hatte so wenig Lust, einem zweiten unversöhnlichen Zusammentreffen der Feinde seiner Mutter (unter denen er vielleicht selbst war) zum Ärgernis diesseits und zum Verderben jenseits beizuwohnen, daß er die Absicht zu erkennen gab, nach dem Kaffeehaus, wo er sein Gepäck gelassen, zu ziehen. Da Mr. Flintwinch den Gedanken, ihn loszuwerden, freundlich aufnahm und seine Mutter, abgesehen vom Sparen, sich um die meisten häuslichen Angelegenheiten, die nicht an die vier Wände ihres eigenen Zimmers gebunden waren, wenig kümmerte, so ging die Sache ohne neue Kränkung vor sich. Man bestimmte täglich einige Stunden, die seine Mutter, Mr. Flintwinch und er dem Ordnen der Bücher und Papiere gemeinschaftlich widmen wollten; und er verließ das Haus, in das er nach so langer Zeit wieder eingekehrt, mit gebeugtem Herzen.

Aber Klein-Dorrit?

Die Geschäftsstunden, in die die Krankendiät der Austern und Rebhühner eine Unterbrechung brachte, während deren Mr. Clennam sich durch einen Gang erfrischte, dauerten ungefähr vierzehn Tage lang von zehn bis sechs. Bisweilen war Klein-Dorrit im Hause als Näherin beschäftigt, bisweilen nicht, bisweilen erschien sie als demütiger Besuch: das muß wohl auch bei Gelegenheit seiner Ankunft der Fall gewesen sein. Seine angeborene Neugier nahm mit jedem Tag zu, solange er sie beobachtete, sie sah oder nicht sah und über sie nachsann. Ganz nur von einem Gedanken beherrscht, wurde es ihm nach und nach zur Gewohnheit, die Möglichkeit, daß sie in irgendeiner Weise dazu in Beziehung stehe, zu erwägen. Zuletzt beschloß er, Klein-Dorrit scharf zu beobachten und sich genauere Kenntnis von ihrer Lebensgeschichte zu verschaffen.

Sechstes Kapitel.


Sechstes Kapitel.

Der Vater des Marschallgefängnisses.

Vor dreißig Jahren stand, unfern von der St. Georgskirche in dem Flecken von Southwark, zur linken Hand des südlich führenden Weges das Marschallgefängnis. Es hatte dort manches Jahr zuvor gestanden und stand dort noch manches Jahr nachher; aber es ist jetzt verschwunden, und die Welt ist deshalb nicht schlimmer geworden.

Es war eine lange Reihe von armseligen Gebäuden, in schmutzige Häuser abgeteilt, die Rücken an Rücken standen, so daß kein Zimmer nach hinten ging; rings herum zog sich ein schmaler, gepflasterter Hof, der von hohen, oben mit Spitzhaken versehenen Mauern umgeben war. An und für sich schon ein festes und streng abgesperrtes Gefängnis für Schuldner, umschloß es einen noch festeren und noch strenger abgeschlossenen Kerker für Schmuggler. Verbrecher gegen die Zoll-, Akzise- und Steuergesetze, die sich Strafen zugezogen und dann nicht imstande waren, sie zu bezahlen, wurden hinter eisenbeschlagener Tür eingesperrt. Diese verschloß ein zweites Gefängnis, das aus ein bis zwei festen Zellen und einem dunklen, ein bis anderthalb Ellen breiten Gang bestand, der den geheimnisvollen Schluß der sehr beschränkten Kegelbahn bildete, auf der die Schuldner des Marschallgefängnisses ihre Sorgen niederschoben.

Denken wir uns dort also Menschen eingesperrt; denn die Zeit hat die festen Zellen und den dunklen Gang überlebt. In der Praxis galten die Zellen als etwas gar zu schlecht, obgleich sie in der Theorie so gut wie je waren. Das erstere mag in unseren Tagen wohl der Fall mit anderen Zellen sein, die nichts weniger als fest sind, und mit andern dunklen Gängen, die stockdunkel sind. Von hier aus verkehrten die Schmuggler gewöhnlich mit den Schuldnern (die sie mit offenen Armen aufnahmen), gewisse reglementsmäßige Momente ausgenommen, wenn jemand vom Dienst kam, um irgend etwas nachzusehen, von dem weder er noch sonst wer etwas wußte.

Beim Vater des Marschallgefängnisses.

Bei solchen echt britischen Momenten taten die Schmuggler, als ob sie nach den festen Zellen oder nach dem dunklen Gang gingen, während dieser jemand sich auch den Anschein gab, als ob er irgend etwas täte, und zuletzt in der Tat wieder hinausging, sobald er sein Nichts getan – ein Beispiel im kleinen von der Verwaltung der meisten öffentlichen Angelegenheiten unserer kleinen, ganz kleinen Insel.

Lange vor jenem Tag, an dem die Sonne über Marseille glühte und unsere Erzählung ihren Anfang nahm, wurde in das Marschallgefängnis ein Schuldner eingeliefert, mit dem diese Erzählung in einiger Beziehung steht.

Er war zu jener Zeit ein sehr liebenswürdiger, aber sehr hilfloser Mann von mittlerem Alter, der sogleich wieder hätte von dannen gehen können. Notwendigerweise hätte das geschehen müssen; denn das Marschallgefängnis schloß sich nie hinter einem Schuldner, der nicht wirklich ein solcher war. Er brachte einen Mantelsack mit sich, den er auszupacken für nicht der Mühe wert hielt; er war so vollkommen schuldlos wie alle übrigen, und der Schließer an der Tür sagte, daß er sogleich wieder hätte gehen können.

Es war ein scheuer und zurückhaltender Mann; hübsch, obgleich etwas weiblicher Typus; mit einer sanften Stimme, gewelltem Haar und unschlüssigen Händen – zu jener Zeit mit Ringen an den Fingern –, die er hundertmal während der ersten halben Stunde seiner Bekanntschaft mit dem Kerker ängstlich an seine zitternden Lippen führte. Am meisten besorgt war er um seine Frau.

»Glauben Sie, Sir«, fragte er den Schließer, »daß sie sehr unangenehm berührt sein wird, wenn sie morgen früh an das Tor kommt?«

Der Schließer teilte ihm als Resultat seiner Erfahrung mit, daß einige es seien, andere wiederum nicht. Im allgemeinen häufiger nein, als ja. »Von welcher Konstitution ist sie?« fragte er philosophisch, »darauf kommt alles an, wie Sie wissen.«

»Sie ist sehr zart und ganz unerfahren.«

»Das ist schlimm«, sagte der Schließer.

»Sie ist so wenig gewöhnt, allein auszugehen«, sagte der Schuldner, »daß ich nicht weiß, wie sie hierherkommen wird, wenn sie zu Fuß geht.«

»Vielleicht nimmt sie einen Mietwagen«, versetzte der Schließer.

»Vielleicht.« Die unschlüssigen Finger wanderten nach den zitternden Lippen. »Ich hoffe, sie wird es tun. Sie denkt aber vielleicht nicht daran.«

»Oder vielleicht«, sagte der Schließer, seine Vermutungen von der Höhe seines abgenutzten hölzernen Stuhles austeilend, wie wenn er es mit einem Kinde zu tun hätte, für dessen Schwäche er Mitleid fühlte, »vielleicht wird sie ihren Bruder oder ihre Schwester veranlassen, mit ihr zu gehen.«

»Sie hat weder Bruder noch Schwester.«

»Nichte, Neffe, Vetter, Diener, Kammerjungfer, Gemüsehändlerin. Eins oder das andere von diesen«, sagte der Schließer, im voraus der Zurückweisung aller dieser Vermutungen vorbeugend.

»Ich fürchte – ich hoffe, es ist nicht gegen die Vorschriften –, daß sie die Kinder mit sich bringt.«

»Die Kinder?« fragte der Schließer. »Und die Vorschriften? Beruhigen Sie sich, wir haben einen besonderen Spielplatz für Kinder. Kinder? Wir tummeln uns mit ihnen. Wie viele haben Sie?«

»Zwei«, sagte der Schuldner, indem er seine unschlüssige Hand wieder zu den Lippen führte und in das Gefängnis trat.

Der Schließer folgte ihm mit den Blicken. »Und Sie eins«, bemerkte er bei sich selbst, »das macht drei. Und Ihre Frau eins, ich will eine Krone wetten, das macht vier. Und eines in Aussicht, ich wollte eine halbe Krone wetten, das wird fünf machen. Und ich möchte sieben Schillinge und sechs Pence wetten, daß ich weiß, wer das Hilfloseste von beiden ist, das ungeborene Kind oder Sie!«

Er hatte in allen Einzelheiten recht. Sie kam am folgenden Tage mit einem kleinen dreijährigen Knaben und einem zweijährigen Mädchen, und er sah wie neu gekräftigt und gestärkt aus.

»Haben Sie jetzt ein Zimmer oder noch nicht?« fragte der Schließer den Schuldner nach ein oder zwei Wochen.

»Ja, ich habe ein sehr gutes Zimmer bekommen.«

»Haben Sie schon einige Stücke zum Ausmöblieren?« fragte der Schließer weiter.

»Ich erwarte einige nötige Möbel, die heute nachmittag durch einen Lastträger hier abgegeben werden sollen.«

»Missis und die Kleinen werden Ihnen Gesellschaft leisten?« fuhr der Schließer fort.

»Ja, es schien uns besser, uns nicht zu trennen, und wär‘ es auch nur für ein paar Wochen.«

»Nur für ein paar Wochen, natürlich«, versetzte der Schließer. Und er folgte ihm wieder mit den Blicken und nickte siebenmal mit dem Kopf, als er bereits weggegangen war.

Die Vermögensangelegenheiten dieses Schuldners waren durch die Beteiligung an einem Geschäft, von dem er nicht mehr wußte, als daß er Geld hineingeschossen, durch legale Wechselübertragungen und Saldierungen, Übergabe hier und Übergabe dort, Verdacht ungesetzlicher Bevorzugung von Gläubigern in dieser Richtung und geheimnisvollen Wegschaffens des Eigentums in jener in Verwirrung geraten. Da aber niemand auf diesem Erdenrund weniger imstande war, irgendein Belastungsargument in dieser wirren Masse zu erklären als der Schuldner selbst, so war die Sache auch auf keine Weise zu entwirren. Ihn im Detail zu fragen und seine Antworten unter sich in Einklang zu bringen suchen, ihn mit Rechnern und geübten Praktikern, die in Insolvenz- und Bankerottränken erfahren waren, einschließen, hätte bedeutet, die Unentwirrbarkeit nur auf Zinseszinsen anzulegen. Die unschlüssigen Finger bewegten sich bei jeder solchen Gelegenheit immer unwirksamer um die zitternden Lippen, und die gewandtesten Praktiker gaben ihn als hoffnungslos auf.

»Fort«, sagte der Schließer, »er geht nie mehr fort. Wenn ihn seine Gläubiger nicht bei den Schultern nehmen und hinausschieben.«

Er war fünf bis sechs Monate da gewesen, als er eines Vormittags zu dem Schließer hereingestürzt kam, um ihm zu sagen, daß seine Frau krank sei.

»Wenn jemand es wissen konnte, so war sie es«, sagte der Schließer.

»Wir beabsichtigten«, versetzte er, »sie morgen aufs Land zu bringen. Was soll ich nun tun? O mein Gott im Himmel, was soll ich nun tun?«

»Verlieren Sie die Zeit nicht mit Händeringen und Fingerbeißen«, antwortete der praktische Schließer, indem er ihn beim Ellbogen nahm, »sondern kommen Sie mit mir.«

Der Schließer führte den armen Mann, der von Kopf bis zu Fuß zitterte und beständig halb atemlos »Was soll ich tun?« rief, während seine unschlüssigen Finger sich mit den Tränen seiner Wangen netzten – auf einer der gemeinschaftlichen Treppen des Gefängnisses nach einer Tür des Dachgeschosses. An diese Tür pochte der Schließer mit dem Griff seines Schlüssels.

»Herein!« rief eine Stimme drinnen.

Der Schließer, der öffnete, schloß ein elendes, übelriechendes kleines Zimmer auf, in dem zwei heisere, aufgedunsene Menschen mit roten Gesichtern an einem verkrüppelten Tisch Karten spielend, Pfeifen rauchend und Branntwein trinkend saßen.

»Doktor«, sagte der Schließer, »die Frau dieses Herrn hier bedarf unverzüglich Ihres Beistandes.«

Der Freund des Doktors stand auf der Höhe von Heiserkeit, Aufgedunsenheit, Gesichtsröte, Skat, Tabak, Schmutz und Branntwein; der Doktor auf dem noch höheren Gipfel – er war heiserer, aufgedunsener, röter, skatversessener, tabakiger, schmutziger und branntweiniger. Der Doktor war erstaunlich abgeschabt und trug eine zerrissene, geflickte und wasserdichte Matrosenjacke, die an den Ellbogen offen und schwach mit Knöpfen versehen war (er hatte seinerzeit als erprobter Chirurg auf einem Passagierschiff Dienste getan), die schmutzigsten weißen Hosen, die der Mensch sich denken kann, Teppichpantoffel. »Kindbett«, sagte der Doktor, »dazu bin ich der Mann!«

Mit diesen Worten nahm der Doktor einen Kamm, der auf dem Kamin lag, und strich sein Haar in die Höhe –, was seine Art, sich zu waschen, zu sein schien, holte ein Kästchen oder Futteral von elendem Aussehen aus dem Schrank, worin sich seine Ober- und Untertasse und seine Kohlen befanden, hüllte sein Kinn in das muffige Umschlagtuch um seinen Hals und sah zuletzt wie eine gräßliche, medizinische Vogelscheuche aus.

Der Doktor und der Schuldner eilten die Treppe hinab, ließen den Schließer zu dem Schlosse zurückkehren und begaben sich schleunigst nach dem Zimmer des Schuldners.

Klein-Dorrits Geburt.

Alle Frauen des Gefängnisses hatten die Neuigkeit vernommen und befanden sich im Hofe. Einige von ihnen hatten bereits Besitz von den Kindern ergriffen und sie gastfreundlich weggeführt; andere boten leihweise von den kleinen Bequemlichkeiten ihres eigenen dürftigen Vorrats an; noch andere sprachen mit größter Beredsamkeit ihre Teilnahme aus. Die männlichen Gefangenen, die sich im Nachteil fühlten, hatten sich meistens auf ihre Zimmer zurückgezogen, um nicht zu sagen, geschlichen; und von den offenen Fenstern begrüßten einige den unten vorübergehenden Doktor mit Pfeifen, während andere mehrere Stockwerke weiter oben sarkastische Bemerkungen über die allgemeine Aufregung miteinander wechselten.

Es war ein heißer Sommertag, und die Gefängnisse brieten zwischen den hohen Mauern. In dem engen Zimmer des Schuldners leistete die Taglöhnerin und Ausläuferin Mrs. Bangham, die nicht selbst Gefangene war (obgleich sie es früher gewesen), aber das Verbindungsglied mit der Außenwelt bildete, freiwillige Dienste als Fliegenfängerin und Aufwärterin. Die Wände und die Decke waren von Fliegen geschwärzt. Mrs. Bangham, in mancherlei Kunstgriffen erfahren, wedelte mit der einen Hand den Patienten mit einem Kohlblatt, während sie mit der andern Insektenfallen von Zucker und Essig in Apothekertöpfe stellte und zu gleicher Zeit Gefühle ermutigender und glückwünschender Natur, die für den Augenblick paßten, äußerte.

»Die Fliegen quälen Sie, nicht wahr, meine Liebe?« sagte Mrs. Bangham; »aber vielleicht werden Sie dadurch abgelenkt, und das wird Ihnen guttun. Was die Fliegen des Marschallgefängnisses zwischen Kirchhof, Gewürzkrämerladen, Wagenremisen und Punschkneipen zu naschen bekommen, macht sie so fett. Vielleicht sind sie Ihnen zum Trost gesandt, wenn wir’s nur wüßten. Wie geht es Ihnen jetzt, mein Liebe? Nicht besser? Nein, es läßt sich auch nicht erwarten. Es wird für Sie im Gegenteil zuvor noch schlimmer werden, ehe es Ihnen wieder besser gehen kann, das wissen Sie wohl, nicht wahr? Ja. Das ist recht. Daß ein kleiner süßer Cherub hinter Schloß und Riegel geboren wird! Ist das nicht hübsch, muß Sie das nicht guter Laune machen? Das ist wahrhaftig noch niemals hier geschehen, meine Liebe, ich könnte mich wirklich nicht entsinnen. Und Sie weinen gar noch?« sagte Mrs. Bangham, die Patientin immer mehr neckend. »Sie machen sich ja berühmt! Die Fliegen fallen zu fünfzig in den Topf! Alles geht so vortrefflich! Da kommt«, sagte Mrs. Bangham, als die Tür aufging, »da kommt ja Ihr lieber Herr Gemahl mit Doktor Haggage! Nun sind wir wirklich ein vollkommenes Kleeblatt, hoffe ich!«

Der Doktor war kaum eine derartige Erscheinung, daß er einem Patienten das Gefühl absoluter Vollkommenheit hätte einflößen können. Da er jedoch für den Augenblick die Absicht zu erkennen gab: »Wir sind bereit, alles zu tun, was in unsern Kräften steht, Mrs. Bangham; auch werden wir uns aus der Affäre ziehen, wie ein Haus aus einer Feuersbrunst«, und da er und Mrs. Bangham von dem armen, hilflosen Paar, wie alle Welt draußen es stets getan, Besitz nahmen, so waren die vorhandenen Mittel im ganzen so gut, wie bessere es hätten sein können. Der Grundzug in Doktor Haggages Behandlung war sein Vorsatz: Mrs. Bangham im Augenmerk zu behalten.

»Mrs. Bangham«, sagte der Doktor, ehe er noch zwanzig Minuten da war, »geht und holt ein wenig Branntwein, Ihr werdet mir sonst ohnmächtig.«

»Ich denke, Sir, aber nicht auf meine Rechnung«, sagte Mrs. Bangham.

»Mrs. Bangham«, versetzte der Doktor, »ich bin in Ausübung meines Berufes bei dieser Dame und habe nicht Lust, mich in Verhandlungen mit Euch einzulassen. Geht und holt ein wenig Branntwein, oder ich sehe noch, daß Ihr mir zusammenbrecht.«

»Man muß Ihnen gehorchen, Sir«, sagte Mrs. Bangham und stand auf; »wenn Sie aber die eigenen Lippen daran setzten, so denke ich, würde es nicht weniger schaden; denn Sie sehen recht elend aus, Sir!«

»Mrs. Bangham«, versetzte der Doktor. »Ihr habt nichts mit mir zu schaffen, sondern ich mit Euch. Laßt mich gefälligst aus dem Spiel. Eure Sache ist, zu tun, was man Euch heißt, und zu gehen und zu holen, was ich Euch befehle.«

Mrs. Bangham gehorchte; und der Doktor nahm, nachdem er ihr den Trank eingegeben, gleichfalls davon zu sich. Er wiederholte dies jede Stunde; denn er war sehr streng mit Mrs. Bangham. Drei bis vier Stunden verflossen auf diese Weise; die Fliegen gingen zu Hunderten in die Falle; und endlich erschien ein kleines Leben, kaum stärker als das ihre, unter der Menge von Halbtoten.

»Wirklich, ein recht hübsches kleines Mädchen«, sagte der Doktor; »klein, aber wohlgeformt. Hallo, Mrs. Bangham! Sie machen ja ein wunderliches Gesicht. Rasch fort, Ma’am, augenblicklich fort und etwas Branntwein geholt, oder Sie bekommen auch Mutterbeschwerden.«

Indessen hatten die Ringe von den unschlüssigen Händen des Schuldners wie Blätter von einem wintrigen Baume zu fallen begonnen. Keiner blieb in jener Nacht an seinem Finger, als er etwas Klingendes in des Doktors fette Hand legte. Inzwischen war Mrs. Bangham nach einer benachbarten, mit drei goldenen Kugeln gezierten Anstalt geeilt, wo sie wohlbekannt war.

»Danke«, sagte der Doktor, »danke. Eure gute Frau hat sich ziemlich erholt. Es geht ganz vortrefflich.«

»Ich bin sehr glücklich und dankbar, das zu hören«, sagte der Schuldner, »wenn es mir auch anfangs etwas schwer fiel, zu denken, daß –«

»Daß Ihnen ein Kind an solchem Ort geboren werden sollte?« sagte der Doktor. »Aber, ach was, Sir! was hat das weiter zu bedeuten? Etwas mehr Ellbogenraum ist alles, was wir brauchen. Wir leben hier ganz ruhig; wir werden hier nicht gehetzt; da gibt’s keine Türklingel, Sir, mit dem die Gläubiger mahnen und uns Angst einjagen können. Niemand kommt hierher, um zu fragen, ob man zu Haus ist, oder sagt gar, er wolle auf der Türmatte warten, bis man nach Hause kommt. Niemand schickt Drohbriefe wegen Geldes hierher. Das ist Freiheit, Sir; das ist Freiheit! Ich hatte in der Heimat und Fremde, auf dem Marsch und an Bord eine gute Praxis, das versichere ich Sie. Aber ich wüßte nicht, daß ich sie je unter so ruhigen Umständen besorgt wie jetzt hier. Anderwärts sind die Leute gequält, gehetzt und gejagt, bald ängstlich um das eine, bald um das andere besorgt. Nichts dergleichen hier, Sir! Wir haben das alles selbst erlebt, – wir kennen das Schlimmste davon; wir sind bis auf den Grund gedrungen, wir können nicht mehr fallen, und was haben wir gefunden? Frieden. Das ist das rechte Wort, Frieden.«

Mit diesem Glaubensbekenntnis kehrte der Doktor, der ein alter Zuchthäusler und aufgedunsener denn sonst war, nun gar mit dem erhöhten Reizmittel, Geld in seiner Tasche, zu seinem heiseren, aufgedunsenen, roten, skatspielenden, tabakrauchenden, schmutzigen, branntweintrinkenden Kameraden und Stubenburschen zurück.

Der Schuldner war ein ganz anderer Mann als der Doktor, aber auch er hatte bereits von seiner solcherlei entgegengesetzten Lebensperipherie aus nach demselben Endziel seine Wanderung begonnen. In seiner Gefangenschaft sich anfangs gedrückt fühlend, empfand er bald eine gewisse Behaglichkeit, wenn diese auch nicht gerade ein heiteres Gepräge trug. Er war hinter Schloß und Riegel; aber Schloß und Riegel, die ihn gefangenhielten, schlossen viele von seinen Sorgen aus. Wenn er ein Mann gewesen, der den festen Vorsatz hätte fassen können, diesen Sorgen ins Angesicht zu sehen und sie zu bekämpfen, so würde er wohl auch das Netz durchbrochen haben, das ihn umfing, oder sein Herz wäre gebrochen. Aber so wie er nun einmal war, glitt er langsam an diesem glatten Abhang hinab und machte nie wieder einen Schritt aufwärts.

Als er die verwickelten Sachen erledigt hatte, die nichts zu entwirren vermochten und die von einem Dutzend Maklern hintereinander wieder in seine Hände zurückgewandert, da jene weder einen Anfang noch eine Mitte oder ein Ende darin herausfinden konnten, fand er seinen elenden Zufluchtsort behaglicher denn je zuvor. Er hatte seinen Reisesack schon längst ausgepackt; seine älteren Kinder spielten jetzt gewöhnlich auf dem Hofe, und jedermann kannte das Wickelkind und machte ein Eigentumsrecht auf dieses geltend.

»Wahrhaftig, ich bin stolz auf Sie«, sagte sein Freund, der Schließer, eines Tages: »Sie werden bald der älteste Bewohner des Gefängnisses sein. Das Marschallgefängnis wäre ohne Sie und Ihre Familie nicht mehr das Marschallgefängnis.«

Der Schließer war wirklich stolz auf ihn. Er gedachte seiner in rühmenden Worten bei jedem neuen Ankömmling, sobald er den Rücken kehrte. »Haben Sie ihn bemerkt?« sagte er dann, »den, der gerade mein Stübchen verließ?«

Der neue Ankömmling antwortete mit »Ja.«

»Wie ein echter Gentleman erzogen, wenn’s je einen solchen gab; keine Kosten bei seinem Unterricht gespart; kam einst in des Marschalls Haus, um ein neues Piano zu probieren. Er spielte es wie aus einem Guß – herrlich! Und was Sprachen betrifft – er spricht alle. Wir hatten mal einen Franzosen hier; meiner Ansicht nach wußte er mehr Französisch als dieser. Wir hatten einmal einen Italiener hier, und er schloß, ehe eine halbe Minute vorbei war, den Mund. Sie finden wohl interessante Charaktere auch hinter andern Schlössern, ich will das nicht bestreiten; aber wenn Sie die Krone alles Wissens in solchen Dingen wie die erwähnten haben wollen, so müssen Sie nach dem Marschallgefängnis kommen.«

Als sein jüngstes Kind acht Jahre alt war, ging seine Frau, die schon lange an der Schwindsucht litt – eine Folge ihrer eigenen Schwäche, nicht daß ihr der Aufenthaltsort peinlicher gewesen als ihrem Gatten – zu Besuch zu einer armen Freundin und ehemaligen Amme auf dem Lande und starb dort. Er schloß sich nach diesem Schlage vierzehn Tage lang ein, und der Schreiber eines Anwalts, der bei dem Gerichtshof in Bankerottsachen zu tun hatte, setzte ein Beileidsschreiben an ihn auf, das wie ein Pachtkontrakt aussah und von allen Gefangenen unterzeichnet wurde. Als er sich endlich wieder zeigte, war er grauer geworden (er hatte frühzeitig grau zu werden begonnen); und der Schließer bemerkte, daß er seine Hände wieder häufiger zu seinen zitternden Lippen führte, wie er zu tun pflegte, als er zuerst in das Gefängnis eingeliefert wurde. Aber er erholte sich während der nächsten ein bis zwei Monate wieder so ziemlich, und die Kinder spielten inzwischen so regelmäßig wie sonst auf dem Hofe, nur mit dem Unterschied, daß sie schwarze Kleider trugen.

Dann begann Mrs. Bangham, das langjährige, beliebte Verbindungsglied mit der Außenwelt, schwach zu werden; man fand sie öfter denn sonst in ohnmachtähnlichem Zustand auf dem Boden, den Korb zum Einkaufen umgeworfen und das Geld, das sie für ihre Kunden wechseln lassen sollte, um neun Pence verkürzt. Sein Sohn begann Mrs. Bangham zu ersetzen und besorgte die Kommissionen mit großer Gewandtheit: im Gefängnis war er ganz Gefangener und auf den Straßen ganz Straßenjunge.

Die Zeit ging ihren Gang, und der Schließer wurde immer schwächer. Seine Brust schwoll, seine Beine wurden schwach, und der Atem wurde kürzer. Der abgenutzte hölzerne Stuhl war nicht mehr sein Thron, das machte ihm Kummer. Er saß in einem Armstuhl mit einem Kissen und keuchte hier und da ganze Minuten lang so stark, daß er seinem Dienst nicht mehr obliegen konnte. Hatte er einen solchen heftigen Anfall, so besorgte der Schuldner das Geschäft für ihn.

»Sie und ich«, sagte der Schließer an einem schneeigen Wintertag, als sein gut erwärmtes Stübchen voll von Gesellschaft war, »wir sind die ältesten Bewohner des Gefängnisses. Ich bin kaum sieben Jahre länger hier als Sie. Es wird nicht mehr lange mit mir dauern. Wenn ich das Schloß für immer schließe, so sind Sie der Vater des Marschallgefängnisses.« Der Schließer verließ am folgenden Tage das Schloß dieser Welt. Man erinnerte sich seiner Worte, die von Mund zu Mund gingen, und eine Tradition vererbte sich von Generation zu Generation – eine Generation des Marschallgefängnisses dauert ungefähr drei Monate –, daß der alte abgeschabte Schuldner mit dem sanften Wesen und dem weißen Haar der Vater des Marschallgefängnisses sei.

Und er wurde stolz auf diesen Titel. Wenn ein Betrüger aufgestanden wäre und ihn für sich beansprucht, würde er bittere Tränen über diesen Angriff auf seine Rechte vergossen haben. Man sah ihn sogar geneigt, die Zahl der Jahre, die er bereits an diesem Orte verbracht, zu übertreiben; man wußte allgemein, daß man einige von seiner Rechnung abziehen mußte. Er sei eitel, sagten die wechselnden Schuldnergenerationen.

Alle neuen Ankömmlinge wurden ihm vorgestellt. Er war sehr genau in Vollziehung dieser Zeremonie. Witzige Köpfe hätten gerne die Feierlichkeit der Vorstellung durch übertriebenes Gepränge und pomphafte Umständlichkeit ins Lächerliche gezogen, aber an seinem würdevollen Ernst scheiterte jeder derartige Versuch. Er empfing sie in seinem dürftigen Zimmer (eine Vorstellung im Hofe mißfiel ihm wegen der Formlosigkeit und Alltäglichkeit) mit herablassendem Wohlwollen. Er heiße sie willkommen im Marschallgefängnis, sagte er zu ihnen. Ja, er war der Vater des Hauses. So nannte ihn die freundliche Welt, und er war wirklich der »Vater«, wenn zwanzigjähriger Aufenthalt ihm ein Recht auf diesen Titel gab. Anfangs war er wohl verlegen darüber; aber es war ja sehr gute Gesellschaft unter diesem Gemisch von Menschen – man kann sich denken welch Gemisch –, und es herrschte ein sehr guter Ton.

Es war nicht ungewöhnlich, daß bei Nacht Briefe vor seine Tür gelegt wurden, die eine halbe Krone, zwei halbe Kronen und dann und wann in langen Zwischenräumen einen halben Sovereign für den Vater des Marschallgefängnisses enthielten, »mit den Grüßen eines Abschied nehmenden Mitgefangenen.« Er empfing diese Gaben wie einen Tribut, den die Bewunderung einem öffentlichen Charakter darbringt. Bisweilen nahmen diese Briefsteller scherzhafte Namen an wie: Backstein, Blasebalg, Alte Stachelbeere, Weitweg, Aufpasser, Fegewisch, Schneidab, Hundefütterer. Aber er nahm den Scherz übel auf und fühlte sich immer etwas gekränkt dadurch.

Diese Art von Korrespondenz trug nach und nach die Zeichen der Erschöpfung an sich und schien von seiten der Korrespondenten eine Anstrengung zu erfordern, die manchen bei der Eile, in der er das Gefängnis verließ, genieren mochte, und er begann zuletzt die Sache so einzurichten, daß er die Gefangenen von einem gewissen Rang am Tor erwartete, um von ihnen Abschied zu nehmen. Der Betreffende blieb dann, nachdem er ihm die Hand geschüttelt und weggegangen, plötzlich stehen, wickelte etwas in ein Stück Papier, kehrte zurück und rief: »Halt!« Der Schuldner sah sich erstaunt um. »Rufen Sie mich?« sagte er mit einem Lächeln.

Währenddem war der andere zu ihm herangetreten. In väterlichem Tone fügte er dann hinzu: »Was haben Sie vergessen? was kann ich für Sie tun?«

»Ich vergaß dies für den Vater des Marschallgefängnisses zurückzulassen«, antwortete gewöhnlich der Mitgefangene.

»Mein guter Herr«, erwiderte er darauf, »er ist Ihnen sehr verbunden.« Aber die sonst unschlüssige Hand blieb dann während eines zwei- bis dreimaligen Ganges durch den Hof in der Tasche, in die er das Geld gesteckt, damit dieser Vorgang für die Korporation seiner übrigen Mitgefangenen nicht gar so auffallend werde.

Eines Nachmittags hatte er einer großen Anzahl von Gefangenen, die so glücklich waren entlassen zu werden, das Geleit gegeben, als er bei der Zurückkehr einem von der armen Seite begegnete, der wegen einer kleinen Summe in der Woche zuvor eingeliefert worden war, nun aber seine Sache geordnet hatte und das Gefängnis soeben verlassen wollte. Der Mann war ein gewöhnlicher Gipser und trug sein Arbeitskleid; er hatte seine Frau bei sich und ein Bündel und schien sehr heiter zu sein.

»Gott segne Sie!« sagte er im Vorbeigehen.

»Das gleiche wünsche ich Euch«, versetzte der Vater des Marschallgefängnisses freundlich.

Sie waren schon ziemlich weit auseinander, da jeder seines Weges ging, als der Gipser ausrief: »Noch etwas! – Sir!« und zu ihm zurückkam.

»Es ist nicht viel«, sagte der Gipser, indem er einen kleinen Stoß Kupferdreier in seine Hände legte, »aber es ist gut gemeint.«

Dem Vater des Marschallgefängnisses war bis jetzt noch nie ein Tribut in Kupfer dargebracht worden. Seine Kinder freilich hatten schon manches Kupfer empfangen, und es war mit seiner Zustimmung in den allgemeinen Beutel geflossen, woraus Speise gekauft wurde, die er gegessen, und Getränk, das er getrunken; daß jedoch mit Gips bespritzter Barchent ihm in eigner Person Dreier in die Hand drückte, das war neu für ihn.

»Wie könnt Ihr es wagen!« sagte er zu dem Mann und brach in Tränen aus.

Der Gipser führte ihn nach der Mauer, daß man sein Gesicht nicht sehen konnte, und die Art und Weise, wie er dies tat, war so zart, und der Mann war so von Reue durchdrungen, bat so aufrichtig um Verzeihung, daß er ihm keine geringere Anerkennung zuteil werden lassen konnte als: »Ich weiß, Ihr meintet es gut. Sprecht nicht weiter davon.«

»Gott segne Sie, Sir«, drängte der Gipser. »Wahrhaftig, es ist so. Ich möchte so gern mehr für Sie tun als alle andern.«

»Was möchtet Ihr tun?« fragte er.

»Ich möchte Euch wieder besuchen, wenn ich frei bin.« »Gebt mir das Geld wieder«, sagte der andere lebhaft, »ich will es aufbewahren und niemals ausgeben. Danke Euch dafür, ich werde Euch also wiedersehen?«

»Wenn ich die nächste Woche lebe.«

Sie schüttelten sich die Hand und schieden. Die Gefangenen, die in jener Nacht zu einem Gelage in der Snuggery versammelt waren, fragten sich in der Stille, was wohl ihrem Vater begegnet sein möge: er ging so spät noch im Schatten des Hofes auf und ab und schien so niedergeschlagen.

Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Das Kind des Marschallgefängnisses.

Das Kind, dessen erster Atemzug einen Beigeschmack von Doktor Haggages Branntwein hatte, ging unter den Generationen der Gefangenen, wie die Tradition von ihrem gemeinschaftlichen Vater, von Hand zu Hand. In den ersten Lebensstationen ging es wirklich in wörtlichem und prosaischem Sinne von Hand zu Hand; da es gleichsam ein Eintrittsgeld jedes neuen Gefangenen war, das Kind zu begrüßen, das innerhalb dieser vier Mauern geboren worden.

»Von Rechts wegen«, bemerkte der Schließer, als es ihm zum erstenmal gezeigt wurde, »sollte ich Pate sein.«

Der Schuldner war einen Augenblick unschlüssig und sagte dann: »Sie hätten vielleicht nichts dagegen, wirklich sein Pate zu werden?«

»Oh! ich habe nichts dagegen«, versetzte der Schließer, »wenn es Ihnen recht ist.«

So geschah es, daß das Kind eines Sonntagnachmittags getauft wurde, als der Schließer von seinem Schlüsselamt abgelöst worden, und daß dieser an das Taufbecken der St.-George-Kirche trat, ein feierliches Gelöbnis ablegte und »als guter Christ« in des Kindes Namen dem Teufel entsagte, wie er selbst erzählte, als er nach Hause kam.

Dieser Akt gab dem Schließer ein neues Eigentumsrecht auf das Kind, ganz abgesehen von seinem früheren dienstlichen. Als das Mädchen zu gehen und zu sprechen anfing, wurde er ganz vernarrt in dasselbe. Er kaufte einen kleinen Armstuhl und stellte ihn an das hohe Kamingitter im Pförtnerstübchen; immer wollte er es bei sich haben, wenn er Schließerdienste besorgte. Auch wußte er es mit wohlfeilen Spielsachen stets zu locken, daß es zu ihm kam und mit ihm plauderte. Das Kind seinerseits gewann den Schließer bald so lieb, daß es aus eignem Antrieb zu allen Stunden des Tages die Treppe zum Pförtnerstübchen hinaufkletterte. Wenn es in dem kleinen Armstuhl an dem hohen Kamingitter einschlief, bedeckte der Schließer sein Gesichtchen mit dem Taschentuch, und wenn das Kind mit An- und Auskleiden einer Puppe beschäftigt dasaß – die bald den Puppen außerhalb des Gefängnisses sehr unähnlich wurde, aber dafür eine furchtbare Familienähnlichkeit mit Mrs. Bangham bekam –, da betrachtete er es von der Höhe seines Stuhles herab mit ausnehmender Freundlichkeit. Waren die Mitgefangenen Zeuge solcher Momente, so äußerten sie gewöhnlich, der Schließer, der ein Junggeselle, sei von der Natur wie zum Familienvater geschaffen. Aber der Schließer dankte für dieses Kompliment und sagte: »Nein, im ganzen genügten ihm vollkommen anderer Leute Kinder!«

In welchem Augenblick seiner Jugend das kleine Geschöpf zu merken begann, daß nicht die ganze Welt die Gewohnheit habe, in engen Höfen, die von hohen Mauern mit Spitzen umgeben waren, zu leben, ist eine schwer zu entscheidende Frage. Aber das Mädchen war noch ein sehr, sehr kleines Geschöpf, als es zu der Erkenntnis kam, daß es ihres Vaters Hand immer an der Türe loslassen mußte, die der große Schlüssel öffnete; und daß, während ihre eignen leichten Füße frei hin und her gehen konnten, die seinen diese Linie niemals überschreiten durften. Ein mitleidiger und teilnahmsvoller Blick, mit dem sie ihn zu betrachten pflegte, als sie noch sehr jung war, war vielleicht eine Folge dieser Entdeckung.

Mit einem mitleidigen und teilnahmsvollen Blick für alles, aus dem jedoch noch ein besonderer Funke leuchtete, der Schutz zu versprechen schien und ihm allein galt, saß während der ersten acht Jahre seines Lebens dieses Kind des Marschallgefängnisses und Kind des Vaters des Marschallgefängnisses bei seinem Freund, dem Schließer, im Pförtnerstübchen, im Familienzimmer, oder es tummelte sich im Gefängnishof. Mit einem mitleidigen und teilnahmsvollen Blicke betrachtete die Kleine ihr eigensinniges Schwesterchen, ihren faulen Bruder, die hohen weißen Mauern, die traurige Masse, die sie einschlossen, die Spiele der blassen Gefangenenkinder, wenn sie schrien und sprangen und Verstecken spielten und die eisernen Gitter am innern Torweg zu ihrem »Häuschen« machten.

Aufmerksam und neugierig saß sie gewöhnlich an Sommertagen bei dem hohen Kamingitter im Pförtnerstübchen und sah durch das vergitterte Fenster zum Himmel hinauf, bis sich zwischen ihr und dem Freunde Lichtgitter vor ihren Blicken bildeten, wenn sie ihre Augen wegwandte, und sie ihn in einem Gefängnis zu sehen glaubte.

»Denkst du nicht auch an die Felder?« sagte der Schließer einst, nachdem er sie eine Zeitlang beobachtet.

»Wo sind sie?« fragte sie.

»Nun – da drüben, meine Liebe«, sagte der Schließer mit einer leichten Schwenkung des Schlüssels. »Ungefähr dort.«

»Öffnet und schließt sie jemand? Sind sie verriegelt?«

Der Schließer war verlegen. »Nun!« sagte er. »Gewöhnlich nicht.«

»Sind sie sehr hübsch, Bob?« Sie nannte ihn auf seine besondre Bitte und Anweisung Bob.

»Reizend. Voll von Blumen. Da finden sich Hahnenfüße, Gänseblümchen und dann –« der Schließer stockte, da er in der Botanik etwas schwach war – »dann Löwenzahn und lauter Lust und Freude.« »Es ist also sehr angenehm dort, Bob?«

»Im Frühling«, sagte der Schließer.

»War Vater auch schon dort?«

»Hm!« hustete der Schließer. »O ja, er war bisweilen dort.«

»Tut es ihm weh, daß er nicht mehr dort ist?«

»N–nicht besonders«, sagte der Schließer.

»Auch den andern nicht?« fragte sie mit einem Blick auf die apathisch umhersitzenden Gefangenen. »Weißt du das ganz gewiß, Bob?«

Als das Gespräch bis zu diesem schwierigen Punkt gediehen war, sprach Bob von Backwerk: es war dies immer sein letztes Mittel, wenn ihn seine kleine Freundin auf eine politische, soziale oder theologische Materie brachte. Es war dies Gespräch jedoch der Ursprung einer Reihe von Sonntagsausflügen, die diese beiden seltsamen Gefährten miteinander machten. Sie schritten gewöhnlich je am zweiten Sonntagnachmittag mit großer Feierlichkeit aus dem Pförtnerstübchen und begaben sich nach einer der Wiesen oder einem der grünen Feldwege, die der Schließer im Verlaufe der Woche genau bezeichnet hatte; dort pflückte sie Gläser und Blumen, um sie nach Hause zu bringen, während er seine Pfeife rauchte. Später gab’s Tee, Seegarneelen, Aale und andere Delikatessen; dann kehrten sie Hand in Hand zurück, wenn sie nicht ungewöhnlich ermüdet und auf seiner Schulter eingeschlafen war.

In diesen frühen Tagen schon begann der Schließer alles Ernstes eine Frage bei sich zu erwägen, die ihm so viel Kopfzerbrechen machte, daß sie bis zu seinem Todestage unentschieden blieb. Er beschloß nämlich, sein kleines Vermögen, das er sich erspart, seinem Patchen testamentarisch zu vermachen, und die Frage war nur, wie konnte er die Sache »verklausulieren«, daß der Vorteil ihr allein zugute käme? Seine Erfahrung als Pförtner gab ihm einen so klaren Begriff von der ungeheuren Schwierigkeit, sein Geld testamentarisch nur einigermaßen genau zu verklausulieren, und sagte ihm, wie es dagegen so außerordentlich leicht sei, damit fertig zu werden, daß er während einer Reihe von Jahren diese schwierige Frage regelmäßig jedem neuen insolventen Sachwalter und Sachverständigen, der bei ihm aus- und einging, vorlegte.

»Gesetzt«, sagte er dann gewöhnlich, indem er die Sache mit seinem Schlüssel auf der Weste des Sachverständigen darlegte, »gesetzt, ein Mann wünschte sein Vermögen einer jungen weiblichen Person zu hinterlassen und es testamentarisch so zu ›verklausulieren‹, daß niemand sonst imstande wäre, es anzutasten; wie würden Sie dies Testament machen?«

»Ich würde es mit klaren, scharf bestimmten Worten ausdrücklich ihr allein vermachen«, antwortete der Sachverständige gefällig.

»Aber sehen Sie wohl«, antwortete dann der Schließer. »Gesetzt, sie hätte einen Bruder, einen Vater, einen Mann, die aller Wahrscheinlichkeit nach Hand an dieses Vermögen legen würden, wenn es in ihren Besitz gekommen – wie dann?« »Es wäre ja ihr allein zugesprochen, und jene hätten keine größeren gesetzlichen Ansprüche darauf als Sie«, antwortete der Sachverständige.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte dann der Schließer. »Gesetzt, sie wäre ein gutherziges Mädchen, und sie wüßten sie zu beschwatzen, welches Mittel gibt Ihr Gesetz in solchem Falle an die Hand, um dies durch Klauseln zu verhindern?«

Der tiefsinnige Charakter, an den sich der Schließer deshalb wandte, war außerstande, einen Punkt des Gesetzes herauszufinden, um einen solchen Knoten zu verklausulieren. Und der Schließer dachte sein ganzes Leben darüber nach und starb ohne Testament.

Aber dies geschah lange nachher, als seine Pate bereits sechzehn Jahre alt geworden war. Die erste Hälfte dieses Zeitraums ihres Lebens war kaum verflossen, als ihr mitleidiger und teilnahmvoller Blick ihren Vater Witwer werden sah. Von dieser Zeit verkörperte sich der Schutz, den ihre fragenden Augen ausgesprochen, zur Tat, und das Kind des Marschallgefängnisses trat in ein neues Verhältnis zu seinem Vater.

Anfangs konnte ein so kleines Kind nichts tun, als den angenehmen Platz an dem hohen Kamingitter aufgeben, bei ihm sitzen und auf seine Wünsche lauschen. Aber dies machte ihm die Kleine so unentbehrlich, daß er ganz an sie gewöhnt wurde und sie schwer vermißte, wenn sie nicht um ihn war. Durch diese kleine Tür trat sie aus der Kindheit in die sorgenbeladene Welt.

Was ihr mitleidiger Blick in jenen frühen Tagen in ihrem Vater, ihrer Schwester, ihrem Bruder, in dem Gefängnis erblickte; wieviel oder wie wenig von der traurigen Wahrheit Gott ihrem Blick zu enthüllen für gut gefunden, bleibt uns wie manches andere Geheimnis verborgen. Genug, daß sie den begeisterten Drang in sich fühlte, etwas zu sein, was die übrigen nicht waren, und dieses Etwas – anders und fleißig – um der übrigen willen. Begeistert? Ja. Sollen wir denn allein von der Begeisterung eines Dichters oder Priesters sprechen und nicht auch von der Begeisterung eines Herzens, das durch Liebe und Selbstaufopferung zu der niedrigsten Arbeit in der niedrigsten Lebenssphäre gedrängt wird?

Ohne menschlichen Freund, der sie unterstützt oder sich nur um sie bekümmert, als den einen, mit dem sie das Schicksal so seltsam zusammengewürfelt; ohne alle Kenntnis des alltäglichen Lebens und der Gewohnheiten der Glieder der freien Gemeinde, die nicht in Gefängnissen eingeschlossen ist: geboren und erzogen in sozialen Verhältnissen, für die sich selbst in den falschesten Verhältnissen der Welt außerhalb der Gefängnismauern kein ebenbürtiger Vergleich findet; von Kindheit an aus einer Quelle trinkend, deren Wasser eigentümlich gefärbt war und einen eigentümlich ungesunden und unnatürlichen Geschmack hatte, begann das Kind des Marschallgefängnisses seinen Lebenslauf.

Es gilt gleich, durch welche Irrtümer und Entmutigungen, durch welche Verspottungen ihrer kindischen und kleinen Figur (die, wenn auch nicht bös gemeint, doch bitter empfunden wurden), durch welches demütigende Bewußtsein ihrer Dürftigkeit und Schwäche, selbst im Heben und Tragen, durch wieviel Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit, wie viele stille Tränen sie sich durchgerungen, bis man sie als ein nützliches, ja unentbehrliches Wesen anerkannte. Diese Zeit konnte nicht ausbleiben. Sie trat bald, mit Ausnahme der Erstgeburt, in alle Rechte des Ältesten unter den drei Geschwistern ein; sie wurde das Haupt der gefallenen Familie und trug in ihrem Herzen die Sorgen und die Schmach derselben.

Als sie dreizehn Jahre alt war, konnte sie lesen und Rechnung führen – das heißt, sie konnte in Worten und Zeichen sagen, wieviel ihre nötigsten Bedürfnisse kosten würden und wieviel ihnen zur Anschaffung derselben mangelte. Sie war öfter einige Wochen lang verstohlenerweise in eine Abendschule in der Stadt gegangen und wußte ihre Schwester und ihren Bruder während drei oder vier Jahren zeitweise in eine Tageschule zu bringen. Zu Hause war für keines irgendwelcher Unterricht; aber sie sah es wohl ein – niemand besser als sie –, daß ein Mann, der so gebrochen, um Vater des Marschallgefängnisses zu sein, für seine Kinder kein Vater im vollen Sinn des Wortes sein könne.

Zu diesen schwachen Mitteln der Ausbildung fügte sie noch ein anderes aus eigener Findigkeit. Unter der bunten Masse von Schuldgefangenen erschien einst ein Tanzmeister. Ihre Schwester hatte ein großes Verlangen, die Kunst dieses Mannes zu lernen, und schien auch Talent dafür zu besitzen. Dreizehn Jahre alt, trat das Kind des Marschallgefängnisses mit einem Beutelchen in der Hand vor den Tanzmeister und brachte ihre bescheidene Bitte vor.

»Erlauben Sie, mein Herr, ich bin hier geboren.«

»Oh! Sie sind das junge Mädchen, wirklich?« sagte der Tanzmeister, ihre kleine Gestalt und ihr zu ihm aufsehendes Gesicht betrachtend.

»Ja, Sir.«

»Und was kann ich für Sie tun?« sagte der Tanzmeister.

»Nichts für mich, Sir, ich danke«, antwortete sie, die Schnüre des kleinen Beutels verlegen aufziehend; »aber wenn Sie während Ihres Hierseins so freundlich sein wollten, meiner Schwester billigen Unterricht –«

»Mein Kind, ich werde ihr umsonst Unterricht geben«, sagte der Tanzmeister, den Beutel zurückweisend. Er war ein so gutmütiger Tanzmeister, wie je einer in das Schuldgefängnis getanzt war, und er hielt sein Wort. Die Schwester war eine so gelehrige Schülerin, und der Tanzmeister hatte so überflüssige viele Zeit für sie (denn es dauerte zehn Wochen, bis er sich mit seinen Gläubigern ins klare gesetzt, die Kommissare bestellt und von der Sachlage unterrichtet und zu seiner Berufstätigkeit zurückkehren konnte), daß das Mädchen ausgezeichnete Fortschritte machte. Der Tanzmeister war wirklich so stolz darauf und so begierig, die Erfolge seiner Kunst, ehe er das Gefängnis verließ, vor einigen auserlesenen Freunden unter den Mitgefangenen zu produzieren, daß an einem schönen Morgen um sechs Uhr ein Menuett à la cour im Hofe getanzt wurde – die Räume des Gefängnisses waren für einen solchen Zweck zu beschränkt –, und dabei setzte die Schülerin die Füße so angemessen und machte die Schritte so gewissenhaft, daß der Tanzmeister, der die Stoßgeige dazu spielte, ganz begeistert war.

Der Erfolg dieses Anfangs, der den Tanzmeister veranlaßte, seinen Unterricht nach seiner Freilassung fortzusetzen, ermutigte das arme Mädchen, weitere Versuche zu machen. Sie wartete und wartete monatelang, ob nicht eine Näherin in das Gefängnis eingeliefert würde. Endlich nach langer Zeit erschien eine Putzhändlerin, und an diese wandte sie sich in eignem Interesse.

»Ich bitte um Entschuldigung, Ma’am«, sagte sie und sah sich ängstlich an der Tür der Putzhändlerin um, die sie in Tränen und im Bette fand; »aber ich wurde hier geboren.«

Jedermann schien, sobald er in das Gefängnis kam, von ihr zu hören; denn die Putzhändlerin saß im Bett auf und sagte, die Augen trocknend, ganz wie der Tanzmeister gesagt:

»Oh! Sie sind das Kind, wirklich?«

»Ja, Ma’am!«

»Ich bedaure, ich habe nichts, womit ich Ihnen dienen könnte«, sagte die Putzhändlerin mit Kopfschütteln.

»Das will ich auch gar nicht, Ma’am. Wenn es Ihnen angenehm wäre, wünschte ich nähen zu lernen.«

»Wie können Sie das wünschen«, versetzte die Putzhändlerin, »da Sie doch an mir ein Beispiel haben? Es hat mir nicht sonderlich viel Glück gebracht.«

»Nichts – was es auch sei – scheint denen, die hierher kommen, Glück gebracht zu haben«, versetzte sie in ihrer Einfalt; »aber ich möchte doch nähen lernen.«

»Ich fürchte, Sie sind zu schwach«, warf die Putzhändlerin ein.

»Ich halte mich nicht für zu schwach, Ma’am.«

»Und dann sind Sie auch so sehr klein«, erwiderte die Putzhändlerin.

»Ja, ich bin leider sehr klein«, entgegnete das Kind des Marschallgefängnisses und begann über diesen unglücklichen Mangel ihres Körpers, der ihr so oft hindernd in den Weg trat, zu weinen. Die Putzhändlerin – die nicht grämlich und hartherzig war, sondern nur in letzter Zeit nicht hatte bezahlen können – war gerührt, nahm sich ihrer freundlich an und fand in ihr die geduldigste und fleißigste Schülerin, die sie im Lauf der Zeit zu einer geschickten Arbeiterin machte.

Im weiteren Verlauf der Zeit, und zwar in derselben Zeit entfaltete auch der Vater des Marschallgefängnisses eine neue Blüte des Charakters. Je väterlicher er für das Marschallgefängnis und je abhängiger er von den Beiträgen seiner wechselnden Familie wurde, desto starrer hielt er an seinem verlorenen Standesadel fest. Mit derselben Hand, mit der er vor einer halben Stunde die halbe Krone eines Mitgefangenen in die Tasche schob, wischte er die Tränen weg, die über seine Wangen rollten, wenn man auf seiner Tochter Broterwerb anspielte. So hatte das Kind des Marschallgefängnisses außer ihren andern täglichen Sorgen auch noch die, ihm die vornehme Einbildung zu erhalten, daß sie lauter müßige Bettler seien.

Die Schwester wurde Tänzerin. Es war ein ruinierter Onkel in der Familie, ruiniert durch seinen Bruder, den Vater des Marschallgefängnisses, und so wenig als der, der ihn ruiniert, wissend weshalb. Aber ein Mann, der die Tatsache als ein unvermeidliches Schicksal hinnahm, – diesem wurde die Sorge für sie übertragen. Von Haus aus ein stiller und einfacher Mann, hatte er, als das Unglück über ihn kam, keinen größeren Schmerz über den Ruin an den Tag gelegt, als daß er mitten im Waschen aufhörte, als ihm das Unglück angekündigt wurde, und nie mehr zu diesem Luxus griff. Er war in seinen bessern Tagen ein ziemlich oberflächlicher Musikliebhaber gewesen, und als er mit seinem Bruder fiel, spielte er zu seinem Lebensunterhalt in einem kleinen Theaterorchester eine Klarinette, die so schmutzig war wie er selbst. Es war das Theater, an dem seine Nichte Tänzerin wurde. Er hatte schon lange seine feste Stellung an diesem, als sie ihre bescheidene Stellung dort antrat; und er übernahm die Aufgabe, sie zu leiten und zu schützen, wie er eine Krankheit, eine Erbschaft, ein Gastmahl, den Hungertod – alles außer der Seife hingenommen haben würde.

Um das Mädchen in den Stand zu setzen, ihre wenigen wöchentlichen Schillinge zu verdienen, mußte das Kind des Marschallgefängnisses einen großen Umweg bei dem Vater machen.

»Fanny hat die Absicht, künftig nicht all ihre Zeit im Gefängnis zu verbringen, Vater. Sie wird zwar noch ein gutes Stück des Tages bei uns sein, aber sie beabsichtigt, draußen bei dem Onkel zu wohnen.«

»Du überraschst mich. Weshalb?«

»Ich denke, der Oheim braucht Gesellschaft. Er braucht jemanden, der für ihn sorgt und ihn pflegt.«

»Gesellschaft? Er bringt ja einen großen Teil seiner Zeit hier zu. Und du sorgst für ihn und pflegst ihn weit besser, als deine Schwester je imstande wäre. Ihr geht alle so viel aus; ihr geht alle so viel aus.«

Dies sagte er, um den Glauben und den Schein aufrechtzuerhalten, als habe er keine Idee davon, daß Amy selbst tagsüber an die Arbeit gehe.

»Aber wir freuen uns immer so sehr auf das Heimkommen, Vater, das wirst du mir doch glauben? Und was Fanny betrifft, so wird es ihr, abgesehen davon, daß sie Onkel Gesellschaft leistet und für ihn sorgt, ganz gut bekommen, wenn sie sich nicht immer hier aufhält. Sie wurde nicht wie ich hier geboren, Vater.«

»Schon gut, Amy, schon gut. Ich kann deine Meinung nicht ganz teilen, aber es ist ganz natürlich, daß Fanny, ja daß selbst du oft draußen zu sein vorziehst. So mögt ihr denn, du und Fanny und euer Onkel, tun, was euch beliebt. Gut, gut. Ich will mich nicht darein mischen; kümmert euch nicht um mich!«

Ihren Bruder aus dem Gefängnis wegzubekommen und damit von dem Besorgen der Obliegenheiten, die er an Mrs. Banghams Stelle übernommen, sowie von dem nicht sehr einwandfreien Verkehr mit verdächtigen Kameraden loszureißen, war ihre schwierigste Aufgabe. Er würde von seinem achtzehnten Jahre bis in sein achtzigstes von der Hand in den Mund, von Stunde zu Stunde, von Pfennig zu Pfennig gelebt haben. Niemand kam in das Gefängnis, von dem er etwas Nützliches oder Gutes gelernt hätte, und sie konnte keinen Gönner für ihn gewinnen als ihren alten Freund und Paten.

»Lieber Bob«, sagte sie, »was soll aus dem armen Tip werden?« Sein Name Ted war in den vier Mauern des Gefängnisses in Tip umgeändert worden.

Der Schließer hatte seine besondern bestimmten Ansichten darüber, was aus dem armen Tip werden würde, und war in der Absicht, dem vorzubeugen, so weit gegangen, daß er Tip in dieser Beziehung dringend zu dem Auskunftsmittel riet, sich auf und davon zu machen und unter die Soldaten zu gehen. Aber Tip dankte für die Ehre und sagte, er glaube nicht sehr für sein Vaterland besorgt zu sein.

»Ja, mein liebes Kind«, sagte der Schließer, »etwas sollte mit ihm geschehen. Soll ich’s versuchen, ihn in einer Gerichtsstube unterzubringen?«

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen, Bob.«

Der Schließer hatte jetzt zwei Punkte, deretwegen er die Sachverständigen, die bei ihm aus und ein gingen, befragen mußte. Er betrieb diesen zweiten Punkt mit solchem Eifer, daß sich endlich für Tip ein Stuhl und zwölf Schillinge wöchentlich fanden, und zwar in dem Bureau eines Rechtsanwalts in einem großen Nationalpalladium, genannt Pallace Court, damals ein Stück aus der beträchtlichen Liste ewiger Bollwerke der Würde und Sicherheit Altenglands, die längst dahin sind.

Tip harrte sechs Monate lang in Cliffords Inn aus, und als die Zeit vorüber war, schlenderte er eines Abends, die Hände in den Hosentaschen, nach dem Gefängnis und erklärte seiner Schwester beiläufig, daß er nicht wieder in die Gerichtsstube zurückkehren werde.

»Nicht wieder zurückkehren?« sagte das arme, kleine, ängstliche Kind des Marschallgefängnisses, das immer in erster Reihe Pläne für Tips Zukunft entwarf.

»Ich bin der Sache so überdrüssig«, sagte Tip, »daß ich sie kurz und gut hingeschmissen habe.«

Tip wurde aller Dinge überdrüssig.

Mit Unterbrechungen eines kürzeren Müßiggangs im Marschallgefängnis und nach Besorgung von Mrs. Banghams früheren Geschäften brachte ihn seine kleine zweite Mutter, unterstützt von ihrem treuen Freunde, in ein Exportgeschäft, in einen Gemüse- und Blumenverkauf, in ein Hopfengeschäft, dann wieder in die Gerichtsstube, zu einem Auktionator, in eine Brauerei, zu einem Börsenmakler, dann wieder in eine Gerichtsstube, in ein Droschkenvermietungsbureau, in ein Wagenvermietungsbureau, dann wieder in eine Gerichtsstube, in ein gemischtes Warengeschäft, in eine Brennerei, dann wieder in eine Gerichtsstube, in ein Wollgeschäft, in ein Schnittwarengeschäft, in das Geschäft der Billingsgate, in ein Südfrüchtegeschäft und in die Docks. Aber wohin Tip auch kam, stets kehrte er überdrüssig zurück und erklärte, daß er diese Sache »hingeschmissen«. Wohin er seine Schritte wandte, schien dieser schicksalsmäßig vorherbestimmte Tip die Mauern des Gefängnisses mitzunehmen und sie in jedem Geschäft oder Beruf aufzurichten und sich innerhalb ihrer engen Grenzen planlos in den hinten heruntergetretenen alten Pantoffeln umherzubewegen, bis die unbeweglichen Mauern des Marschallgefängnisses wieder ihren Zauber auf ihn ausübten und ihn zurückbrachten.

Nichtsdestoweniger war das gute kleine Geschöpf so sehr für das Wohl seines Bruders besorgt, daß, während er diesen traurigen Tauschhandel trieb, sie so viel zusammengeizte und -scharrte, um ihn nach Kanada einschiffen zu können. Als er des Nichtstuns müde und selbst dieses »hinzuschmeißen« geneigt war, gab er seine gnädige Zustimmung zur Reise nach Kanada. Während der Schmerz über sein Scheiden ihr Herz bewegte, mußte sie sich doch der Hoffnung freuen, daß er endlich in ein gerades Lebensgeleis einlenken werde.

»Gott segne dich, lieber Tip. Sei nicht zu stolz, uns zu besuchen, wenn du dein Glück gemacht.«

»Schon gut!« sagte Tip und ging.

Aber nicht ganz bis Kanada; sondern nicht weiter als Liverpool. Nachdem er die Reise von London nach diesem Hafen gemacht, fühlte er einen so heftigen Drang, die Sache mit dem Schiff hinzuschmeißen, daß er wieder zurückzugehen beschloß. So erschien er nach Verfluß eines Monats vor seiner Schwester in Lumpen, ohne Schuhe, und geschäftsüberdrüssiger als je.

Endlich, nach einer weiteren Unterbrechung, währenddessen er wieder Mrs. Banghams Geschäfte besorgte, hatte er einen Beruf für sich herausgefunden und teilte den Fund seiner Schwester mit.

»Amy, ich habe eine Stelle gefunden.«

»Wirklich und wahrhaftig, Tip?«

»Ganz gewiß. Ich werde jetzt arbeiten. Du brauchst dich nicht mehr um meinetwillen zu grämen, gutes Mädchen.«

»Was ist es denn, Tip?«

»Nun, du kennst doch Slingo vom Ansehen?«

»Doch nicht den Kerl, den sie den Händler heißen?«

»Das ist der Kerl. Er wird am Montag kommen und will mir eine Hängematte geben.«

»Womit handelt er denn, Tip?«

»Mit Pferden. Es ist alles in Ordnung. Ich hoffe, es zu etwas zu bringen, Amy.«

Sie verlor ihn für Monate aus dem Gesicht, und man hörte nur einmal von ihm. Ein Geflüster ging unter den älteren Gefangenen, daß man ihn bei einer falschen Auktion in Moorfields gesehen, wo er plattierte Artikel für massives Silber gekauft und mit der größten Freigebigkeit in Banknoten bezahlt; aber das Gerücht drang nicht bis zu ihren Ohren. Eines Abends war sie allein bei der Arbeit – sie stand am Fenster, um von dem Zwielicht, das noch über der Mauer weilte, zu profitieren –, als er die Tür öffnete und eintrat.

Sie küßte und bewillkommnete ihn, fürchtete sich jedoch, irgendeine Frage an ihn zu richten. Er sah ihre Angst und Verlegenheit und schien betrübt.

»Ich fürchte, Amy, du wirst diesmal ärgerlich sein. Bei meinem Leben, ich fürchte das wirklich.«

»Es schmerzt mich, dich so sprechen zu hören. Bist du ganz in die Heimat zurückgekehrt?«

»Nun – ja.«

»Da ich diesmal nicht erwartete, daß das, was du gefunden, viel taugen werde, bin ich weniger überrascht und betrübt, als ich wohl sonst gewesen, Tip.«

»Ach! Das ist nicht das Schlimmste.«

»Nicht das Schlimmste?«

»Sieh nicht so erschrocken drein. Nein, Amy, nicht das Schlimmste. Ich bin zurück, wie du siehst; aber – sieh mich nicht so erschrocken an – ich bin auf eine neue Art, möcht‘ ich das nennen, zurück. Ich bin ganz und gar von der Liste der Freiwilligen gestrichen. Ich gehöre jetzt zu den regulären Insassen hier.«

»Oh! Du wolltest doch nicht sagen, daß du ein Gefangener bist, Tip! Sage das nicht, sage das nicht!«

»Gut, ich brauche das nicht zu sagen«, versetzte er in zögerndem Ton. »Aber wenn du mich nicht begreifen willst, ohne daß ich’s sage, was soll ich dann tun? Ich bin wegen vierzig Pfund und etwas darüber hier.«

Zum ersten Male seit langen Jahren brach sie unter der Last ihrer Sorgen zusammen. Sie schrie, die Hände über dem Kopfe ringend, es werde ihren Vater töten, wenn er es je erfahre, und sank vor Tips unbarmherzigen Füßen nieder.

Es war leichter für Tip, sie wieder zur Besinnung zu bringen, als für sie, ihm begreiflich zu machen, daß der Vater des Marschallgefängnisses außer sich geraten würde, wenn er die Wahrheit erführe. Das war für Tip eine unbegreifliche Sache, und es schien ihm eine phantastische Einbildung. Er fügte sich einzig aus diesem Gesichtspunkt darein, als er ihren Bitten, die von Onkel und Schwester unterstützt wurden, nachgab. An Vorwänden für seine Rückkehr fehlte es nicht. Man erklärte sie dem Vater auf die gewöhnliche Weise, und die Mitgefangenen, die für den frommen Betrug ein besseres Verständnis hatten als Tip, unterstützten ihn getreulich.

Das war das Leben und die Geschichte des Kindes des Marschallgefängnisses bis zum zweiundzwanzigsten Jahre. Mit einer unüberwindlichen Anhänglichkeit an den traurigen Hof und die Häusermasse, die ihr Geburtsort und ihre Heimat waren, ging sie jetzt verlegen und mit dem peinlichen Bewußtsein, daß man sie jedermann zeige, aus und ein. Seit sie draußen zu arbeiten begonnen, hatte sie es für nötig befunden, ihren Wohnort zu verheimlichen und so geheim als möglich zwischen der freien City und dem eisernen Tor, außerhalb dessen sie niemals in ihrem Leben geschlafen, hin und her zu gehen. Ihre angeborene Schüchternheit hatte durch diese Heimlichkeit noch zugenommen: ihr leichter Tritt und ihre kleine Gestalt huschten unbemerkt durch das Straßengedränge. Weltklug in Dingen der Armut, war sie sonst die lautere Einfalt. Ein unschuldiges Wesen stand sie mitten in dem Nebel, in dem sie ihren Vater sah und das Gefängnis und den trüben lebendigen Strom, der durch dieses flutete und weiterfloß.

Das war das Leben und die Geschichte von Klein-Dorrit, die eben an einem düstern Septemberabend, aus einiger Entfernung von Arthur Clennam beobachtet, nach Hause ging, am Ende der London Bridge umkehrte, zurückging, sich dann wieder umwandte, den Weg nach der St.-George-Kirche einschlug, plötzlich noch einmal umwandte und durch das offne äußere Tor in den Hof des Marschallgefängnisses schlüpfte.

Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Im Gefängnis.

Arthur Clennam stand in der Straße und wartete auf einen Vorübergehenden, den er fragen könnte, was dies für ein Ort sei. Er ließ mehrere Leute an sich vorübergehen, in deren Gesichtern keine Aufmunterung zu dieser Frage lag, und stand noch zögernd in der Straße, als ein alter Mann erschien, der den Weg nach dem Hofe einschlug.

Er ging sehr gebückt und brütete ganz in Gedanken versunken vor sich hin, was die von Menschen und Wagen wimmelnden Durchfahrten Londons nicht besonders sicher für ihn machten. Er war schmutzig und dürftig gekleidet und trug einen fadenscheinigen Rock, der einst blau gewesen, bis an die Knöchel hinabreichte und bis an das Kinn zugeknöpft war, wo er sich in dem blassen Geist eines Samtkragens verlor. Ein Stück roten Zeugs, mit dem dieses Phantom zu seinen Lebzeiten gesteift gewesen, lag nun offen da und wühlte hinten am Nacken des alten Mannes in einem Wirrwarr von grauen Haaren und einer rostigen Krawattenschnalle, die alle zusammen seinen Hut beinahe herabgeworfen. Es war ein fettigglänzender und kahler Hut, der über seine Augen herabhing, an der Krempe gebrochen und zerknittert war und einen Zipfel von dem Taschentuch heraussehen ließ. Seine Beinkleider waren so lang und schlottrig und seine Schuhe so plump und groß, daß er wie ein Elefant einherwackelte. Niemand hätte zu sagen vermocht, wieviel davon Gang und wieviel nachgeschlepptes Kleid und Leder war. Unter dem einen Arm trug er eine abgeriebene und abgenutzte Kapsel, die ein Blasinstrument enthielt; in der Hand hatte er für einen Penny Schnupftabak in einer kleinen Tüte von weißlich braunem Papier, aus der er gerade seine arme blaue Nase mit einer großen Prise beglückte, als Arthur Clennam seiner ansichtig wurde.

An diesen alten Mann, der eben über den Vorhof ging, richtete er seine Frage, indem er ihn an der Schulter berührte. Der alte Mann blieb stehen und sah sich um, mit einem Ausdruck in seinen schwachen grauen Augen, als ob seine Gedanken weit weg wären und er zugleich etwas schwer hörte.

»Bitte, mein Herr«, sagte Arthur, seine Frage wiederholend, »was ist das für ein Ort?«

»Ah, dieser Ort?« entgegnete der alte Mann, mit seiner Prise innehaltend und nach dem Gebäude zeigend, ohne daß er zugleich hingesehen. »Das ist das Marschallgefängnis, Sir.«

»Das Schuldgefängnis?«

»Sir«, sagte der alte Mann mit einem Ausdruck, als hielte er es nicht gerade für nötig, auf dieser Bezeichnung zu beharren, »ja, das Schuldgefängnis.«

Er drehte sich um und ging weiter.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Arthur und hielt ihn noch einmal an, »wollen Sie mir noch eine Frage erlauben? Darf hier jeder hineingehen?«

»Jeder kann hier hineingehen«, versetzte der alte Mann, durch den bezeichnenden Ton die Bedeutung des Wortes ins rechte Licht rückend, „aber nicht jeder kann wieder herausgehen.«

»Entschuldigen Sie noch eins. Sind Sie hier bekannt?«

»Sir«, entgegnete der alte Mann, indem er das kleine Paket Schnupftabak in seiner Hand preßte, und mit einem Blick auf den Fragenden, der deutlich zu sagen schien, daß ihn solche Fragen verletzen, »ja.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Es ist nicht zudringliche Neugier, die mich zu diesen Fragen drängt, sondern eine gute Absicht. Kennen Sie den Namen Dorrit hier?«

»Mein Name, Sir«, versetzte der alte Mann höchst unerwarteterweise, »ist Dorrit.«

Arthur nahm den Hut vor ihm ab. »Vergönnen Sie mir noch ein halbes Dutzend Worte. Ich war auf diese Mitteilung völlig unvorbereitet und hoffe, daß diese Versicherung mich hinlänglich für die Freiheit, mit der ich mich an Sie gewandt, entschuldigen werde.

Ich kehrte kürzlich nach langer Abwesenheit nach England zurück. Ich habe bei meiner Mutter – Mrs. Clennam in der City – ein junges Mädchen gesehen, das dort nähte und das ich nur Klein-Dorrit nennen hörte. Ich fühlte ein aufrichtiges Interesse für sie und hegte den lebhaften Wunsch, etwas mehr von ihr zu erfahren. Ich sah sie, kaum eine Minute, ehe Sie kamen, durch dieses Tor gehen.“

Der alte Mann sah ihn aufmerksam an. „Sind Sie ein Seemann, Sir?“ fragte er. Er schien durch das Kopfschütteln, das ihm antwortete, etwas enttäuscht. „Kein Seemann? Ich glaubte dies aus Ihrem sonnverbrannten Gesicht schließen zu dürfen. Ist es Ihnen auch Ernst, Sir?“

„Ich versichere Sie, daß es mir Ernst ist mit dem, was ich sage, und bitte Sie, sich völlig davon überzeugt zu halten.“

„Ich weiß sehr wenig von der Welt, Sir“, versetzte der andere, der eine schwache und zitternde Stimme hatte. „Ich schreite über die Erde wie der Schatten über die Sonnenuhr. Es lohnt sich nicht, mich zu hintergehen: das Gelingen wäre eine gar zu leichte – gar zu nutzlose Sache. Das junge Mädchen, das Sie hineingehen sahen, ist meines Bruders Tochter. Mein Bruder heißt William Dorrit; ich Frederik. Sie sagten, Sie hätten sie bei Ihrer Mutter gesehen (ich weiß, Ihre Mutter ist sehr gütig gegen sie). Sie hätten ein Interesse für sie gefaßt und wünschten zu wissen, was sie hier tut. Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst.“

Er ging weiter, und Arthur begleitete ihn.

„Mein Bruder“, sagte der alte Mann, einen Augenblick stehenbleibend und sich umsehend, „mein Bruder ist seit vielen Jahren hier, und manches, was draußen selbst mit uns vorgeht, wird ihm aus Gründen, auf die ich jetzt nicht einzugehen brauche, verheimlicht. Haben Sie die Güte, nichts davon zu sagen, daß meine Nichte in der Stadt näht. Haben Sie überhaupt die Güte, nicht mehr zu sagen als wir selbst. Wenn Sie sich innerhalb unserer Schranken bewegen, werden Sie niemanden verletzen. Nun, kommen Sie und sehen Sie selbst.“

Arthur folgte ihm durch einen engen Gang, an dessen Ende ein Schlüssel umgedreht wurde, worauf sich eine schwere Tür von innen öffnete. Sie traten in ein Pförtnerstübchen oder Vorzimmer und gelangten durch dieses und ein zweites Gittertor in das Gefängnis. Der alte Mann, der bislang immer vor sich hingegrübelt, drehte sich in seiner langsamen, steifen und demütigen Manier um, als sie zu dem diensttuenden Schließer kamen und er diesem seinen Begleiter vorstellen wollte. Der Schließer nickte, und der Begleiter trat ein, ohne daß man ihn fragte, zu wem er wolle.

Die Nacht war dunkel; und die Gefängnislampen im Hof und die Lichter, die aus den Zimmern der Gefangenen durch alte Vorhänge und Jalousien einen schwachen Schimmer verbreiteten, schienen diese ganze Welt nicht heller zu machen. Einige von den Gefangenen spazierten im Hofe umher, der größere Teil befand sich jedoch bereits

Der Klarinettspieler auf dem Wege.

auf den Zimmern. Der alte Mann, der den Weg nach der rechten Seite des Hofes einschlug, trat in den dritten oder vierten Torweg und begann die Treppen hinaufzusteigen. »Es ist hier ziemlich finster, Sir, aber Sie werden nichts im Wege finden.«

Er blieb einen Augenblick stehen, ehe er eine Tür im zweiten Stockwerk öffnete. Er hatte kaum die Klinke aufgedrückt, als der Fremde Dorrit sah und den Grund wußte, weshalb sie so großen Vorrat aufhäufte, wenn sie allein speiste.

Sie hatte die Mahlzeit mit nach Hause gebracht, die sie selbst hätte essen sollen, und wärmte sie bereits auf einem Rost über dem Feuer für ihren Vater, der einen alten grauen Rock und eine schwarze Mütze trug. Er wartete auf sein Abendessen am Tische. Ein reinliches Tischtuch war vor ihm ausgebreitet; darauf lagen und standen Gabel, Messer und Löffel, Salzbüchse, Pfefferbüchse, Glas und ein zinnerner Bierkrug. Auch fehlten solche Zutaten wie eine besondere kleine Büchse mit Cayennepfeffer und für einen Penny Mixed Pickles in einem Schälchen nicht.

Sie erschrak und wurde bald rot, bald blaß. Der Fremde forderte sie mehr durch seine Blicke als durch seine leichte Handbewegung auf, sich zu beruhigen und ihm zu vertrauen.

»Ich fand diesen Herrn«, sagte der Onkel, »Mr. Clennam, den Sohn von Amys Gönnerin – an dem äußeren Tor, in der Absicht begriffen, im Vorübergehen seinen Besuch abzustatten, unschlüssig jedoch, ob er hereingehen sollte oder nicht. Dies ist mein Bruder William, Sir.«

»Ich hoffe«, sagte Arthur, ungewiß, was er sagen sollte, »daß meine Achtung für Ihre Tochter meinen Wunsch, Sie kennenzulernen, erklären und rechtfertigen wird.«

»Mr. Clennam«, versetzte der andere, indem er aufstand, seine Mütze abnahm und sie in der Hand hielt, bereit sie wieder aufzusetzen, »Sie erweisen mir eine Ehre. Seien Sie willkommen, Sir.« Dabei machte er eine tiefe Verbeugung. »Frederik, einen Stuhl. Bitte, setzen Sie sich, Mr. Clennam.«

Er setzte seine schwarze Kappe auf, wie er sie abgenommen, und ließ sich wieder am Tische nieder. Es lag etwas eigentümlich Wohlwollendes und Herablassendes in seinem Wesen. Das waren die Zeremonien, mit denen er die Mitgefangenen gewöhnlich empfing.

»Seien Sie willkommen im Marschallgefängnis, Sir. Ich habe manchen Gentleman in diesen Mauern bewillkommt. Vielleicht wissen Sie bereits – meine Tochter Amy hat es Ihnen ohne Zweifel mitgeteilt –, daß ich der Vater dieses Hauses bin.«

»Ich – ja allerdings habe ich das gehört«, sagte Arthur, keck diese Behauptung aussprechend.

»Sie wissen ohne Zweifel ferner, daß meine Tochter Amy hier geboren ist. Ein gutes Mädchen, Sir, ein liebes Mädchen, und seit lange ein Trost und eine Stütze für mich. Amy, mein liebes Kind, setze das Essen auf; Mr. Clennam wird die einfachen Gewohnheiten,

Die Entdeckung des Geheimnisses von Klein-Dorrit.

auf die wir hier angewiesen sind, entschuldigen. Darf ich Sie fragen, ob Sie mir die Ehre geben wollen, Sir, –«

»Ich danke«, erwiderte Arthur. »Nicht einen Bissen.«

Er war lauter Staunen über das Benehmen des Mannes, der gar nicht daran zu denken schien, daß seine Tochter irgendeine Zurückhaltung über die Geschichte ihrer Familie beobachten könnte.

Sie füllte sein Glas, stellte alle die Kleinigkeiten auf den Tisch vor ihn und setzte sich neben den Vater, während dieser aß. Offenbar nach ihrer allnächtlichen Gewohnheit legte sie ein Stück Brot vor sich und berührte sein Glas mit ihren Lippen. Der Blick, mit dem sie halb bewundernd und stolz, halb verlegen, aber doch lauter Liebe und Hingebung, ihren Vater ansah, drang ihm tief ins Herz.

Der Vater des Marschallgefängnisses war gegen seinen Bruder, als einen liebreichen und wohlmeinenden Mann, einen stillen Charakter, der es zu keiner Auszeichnung gebracht, sehr herablassend. »Frederik«, sagte er, »du und Amy essen heute zu Hause zu Nacht, nicht wahr? Wo ist Fanny, Frederik?«

»Sie geht mit Tip spazieren.«

»Tip – müssen Sie wissen – ist mein Sohn, Mr. Clennam. Er war etwas wild und schwer in Ordnung zu halten, aber sein Eintritt in die Welt war auch ziemlich« – er zuckte die Schulter mit einem leichten Seufzer und blickte im Zimmer umher – »ziemlich seltsam. Ihr erster Besuch hier, Sir?«

»Mein erster.«

»Sie könnten auch seit Ihrer Knabenzeit kaum hier gewesen sein, ohne daß ich es erfahren. Es geschieht höchst selten, daß jemand – von Bedeutung, von irgendwelcher Bedeutung – hierherkommt, ohne daß er mir vorgestellt würde.“

»Vierzig bis fünfzig wurden oft an einem Tage meinem Bruder vorgestellt«, sagte Frederik, plötzlich stolz aufleuchtend.

»Jas, sagte der Vater des Marschallgefängnisses bestätigend. »Es waren ihrer sogar noch mehr. An einem schönen Sonntag zur Zeit der Sitzungen der Gerichtshöfe ist es ein wahrer Empfang – ja ein Empfang. Amy, liebes Kind, ich habe mir den halben Tag den Kopf zerbrochen über den Namen des Gentleman von Camberwell, den mir letzte Christwoche der angenehme Kohlenhändler, der auf sechs Monate wieder zurückgeschickt wurde, vorstellte.«

»Ich erinnere mich seines Namens nicht, Vater.«

»Frederik, erinnerst du dich seiner?«

Frederik bezweifelte, daß er ihn je gehört. Niemand konnte aber bezweifeln, daß Frederik die letzte Person auf Erden sei, an die man eine solche Frage richten könnte, mit irgendeiner Aussicht auf Auskunft.

»Ich meine«, sagte der Bruder, »den Gentleman, der jene Handlung mit so viel Zartheit ausführte. Ha! Still! Der Name ist mir ganz und gar entfallen. Mr. Clennam, da ich gerade eine schöne und zarte Handlung erwähnte, so werden Sie vielleicht auch wissen wollen, was es war.« »Allerdings«, sagte Arthur und wandte seine Augen von dem zarten Kopf, der sich zu senken begann, und dem blassen Gesicht ab, über das eine neue Besorgnis hinzog.

»Diese Tat ist so edel und zeugt von so viel Zartgefühl, daß es wohl Pflicht ist, ihrer zu gedenken. Ich sagte damals, daß ich bei jeder passenden Gelegenheit ohne Rücksicht auf persönliche Gefühle davon sprechen werde. Ja – es nützt nichts, die Tatsache zu verheimlichen – Sie müssen wissen, Mr. Clennam, daß es bisweilen vorkommt, daß Leute, die hierher kommen, dem Vater des Ortes ein kleines – Attestat ihrer Achtung – geben wollen.«

Es war ein sehr, sehr trauriger Anblick, ihre Hand auf seinem Arm stumm bittend ruhen und die schüchterne kleine Gestalt halb abgewandt zu sehen.

»Bisweilen«, fuhr er in leisem, sanftem, aber ernstem Ton fort, indem er sich dann und wann räusperte, – »bisweilen, – hm – unter der einen, bisweilen unter der andern Form; im allgemeinen ist es – hm – Geld. Und es ist – ich muß es gestehen – nur zu häufig – hm – recht annehmbar. Der erwähnte Gentleman wurde mir in einer für meine Gefühle höchst wohltuenden Weise vorgestellt und sprach nicht nur mit großer Höflichkeit, sondern entwickelte auch – hm – große Kenntnisse.“ Während der ganzen Zeit bewegte er, obgleich sein Nachtessen bereits beendet war, Messer und Gabel immer unruhig auf dem Teller hin und her, als ob er noch etwas vor sich hätte. »Es ging aus seinem Gespräch hervor, daß er einen Garten hatte, obgleich er anfangs aus Zartgefühl nur obenhin desselben erwähnte, da ich – hm – keinen Garten besuchen darf. Aber es kam dadurch heraus, daß ich einen sehr schönen Geraniumbüschel bewunderte – einen wirklich sehr schönen Geraniumbüschel –, den er aus seinem Gewächshaus gebracht. Als ich etwas über die reiche Farbe sagte, zeigte er mir ein Stück Papier rings um den Büschel, auf dem geschrieben stand: ›Für den Vater des Marschallgefängnisses‹, und überreichte ihn mir. Aber das war – hm – noch nicht alles. Er fügte eine seltsame Bitte hinzu, als er Abschied nahm, indem er sagte, ich möchte das Papier in einer halben Stunde wegnehmen. Ich – ha – tat so; und fand, daß es – hm – zwei Guineen enthielt. Ich versichere Sie, Mr. Clennam, ich erhielt – hm – Dankesbezeugungen aller Art und von mancherlei Wert, und sie waren unglücklicherweise alle sehr annehmbar. Aber keines hat mich mehr gefreut, als diese – hm – diese eigentümliche Dankesbezeugung.«

Arthur war gerade im Begriff, das wenige, was er über dieses Thema sagen konnte, auszusprechen, als eine Glocke zu läuten begann und Tritte sich der Tür näherten. Ein hübsches Mädchen von viel schönerem Wuchs und weit mehr entwickelt als Klein-Dorrit, obgleich sie viel jünger im Gesicht aussah, wenn man beide zugleich ins Auge faßte, blieb auf der Schwelle stehen, als sie einen Fremden erblickte; und ein junger Mann, der mit ihr war, blieb gleichfalls stehen.

»Mr. Clennam, Fanny. Meine älteste Tochter und mein Sohn, Mr. Clennam. Die Glocke ist ein Zeichen für die Fremden, daß sie das Gefängnis zu verlassen haben, deshalb kommen sie, um Abschied zu nehmen; aber es ist noch reichlich Zeit, reichlich Zeit, Mädchen. Mr. Clennam wird entschuldigen, wenn ihr Haushaltungsgeschäfte hier besorgt. Er weiß ohne Zweifel, daß ich nur ein Zimmer habe.«

»Ich brauche nur mein reines Kleid von Amy, Vater«, sagte das andere Mädchen.

»Und ich meine Wäsche«, sagte Tip.

Amy öffnete die Schublade eines alten Möbels, das oben ein Weißzeugschrank war und unten eine Bettstatt bildete, und nahm zwei kleine Bündel heraus, die sie ihrem Bruder und ihrer Schwester gab. »Ist es ausgebessert und zusammengenäht?« hörte Mr. Clennam die Schwester flüsternd fragen, worauf Amy »Jas antwortete. Er war nun aufgestanden und nutzte die Gelegenheit, sich im Zimmer umzusehen. Die nackten Wände waren früher, wie man noch erkennen konnte, von einer ungeschickten Hand grün angestrichen worden und spärlich mit ein paar Stichen geschmückt. Das Fenster war mit einem Vorhang, der Boden mit einem Teppich versehen; auch Ständer und Kleiderhaken und andre dergleichen Bequemlichkeiten hatten sich im Laufe der Jahre angesammelt. Es war ein kleines, beschränktes, ärmlich möbliertes Zimmer, und der Kamin rauchte überdies, sonst wäre der blecherne Windschirm am Feuerherd überflüssig gewesen; aber andauernde Sorgfalt und Mühe hatten es hübsch und in seiner Art sogar behaglich gemacht.

Die Glocke läutete noch immer, und der Onkel wünschte endlich zu gehen. »Komm, Fanny, komm, Fanny«, sagte er mit seiner zerfetzten Klarinettkapsel unter dem Arm; »es wird geschlossen, Kind, es wird geschlossen!«

Fanny bot ihrem Vater gute Nacht und flog federleicht fort. Tip war die Treppe schon hinabgeeilt. »Mr. Clennam«, sagte der Onkel, indem er zurücksah, während er ihnen nachschlürfte, »es wird geschlossen, Sir, es wird geschlossen.«

Mr. Clennam hatte zweierlei zu tun, ehe er folgte; erstens dem Vater des Marschallgefängnisses seine Anerkennung auszusprechen, ohne das Kind zu kränken; und dann dem Kinde etwas – nur ein einziges Wort – zur Erklärung seines Hierherkommens zu sagen.

»Erlauben Sie mir«, sagte der Vater, »Sie die Treppe hinabzubegleiten.«

Sie war hinter den andern hinausgeschlüpft, und der Vater und der Fremde waren allein. »Unter keiner Bedingung«, sagte der Fremde rasch. »Bitte, erlauben Sie mir –« kling, kling, kling.

»Mr. Clennam«, sagte der Vater, »ich bin tief, tief –« Aber der Fremde hatte seine Hand geschlossen, um dem Klingen ein Ende zu machen, und war mit großer Hast die Treppe hinabgeeilt.

Er sah keine Klein-Dorrit auf dem Weg oder im Hof drunten. Die letzten zwei oder drei Nachzügler eilten nach dem Pförtnerstübchen, und er folgte ihnen, als er plötzlich im Torweg des ersten Hauses vom Eingang ihrer gewahr wurde. Er kehrte rasch zurück.

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie hier anspreche«, sagte

Arthur neben Klein-Dorrit beim Besuch des Marschallgefängnisses.

er; »ich bitte um Entschuldigung, daß ich überhaupt hierher gekommen! Ich folgte Ihnen heute abend. Ich tat es in der Absicht, zu sehen, ob ich nicht Ihnen und Ihrer Familie irgendeinen Dienst erweisen könnte. Sie wissen, wie ich mit meiner Mutter stehe, und werden es nicht befremdlich finden, daß ich mich Ihnen nicht genähert habe in ihrem Hause, da ich sie dadurch hätte ohne Absicht leicht eifersüchtig oder empfindlich machen oder Ihnen gar in ihrer Achtung eine Kränkung zufügen können. Was ich hier in dieser kurzen Zeit gesehen, hat den herzlichen Wunsch, Ihnen ein Freund zu werden, bedeutend vermehrt. Es würde mir für manche Enttäuschung Ersatz bieten, wenn ich hoffen könnte, Ihr Vertrauen zu gewinnen.«

Sie war anfangs sehr scheu, schien jedoch Mut zu fassen, während er mit ihr sprach.

»Sie sind sehr gut, Sir. Sie sprechen sehr ernst mit mir. Aber – ich wünschte. Sie hätten mich nicht beobachtet.«

Er wußte die Bewegung, mit der sie dies sagte, zu ihres Vaters Gunsten zu deuten, und er respektierte dieses Gefühl und schwieg.

»Mrs. Clennam hat mir große Gefälligkeiten erwiesen; ich weiß nicht, was aus uns ohne die Arbeit geworden wäre, die sie mir gegeben; ich fürchte, es ist keine gute Vergeltung, Geheimnisse vor ihr zu haben; ich kann heute abend nicht mehr sagen, Sir. Ich bin überzeugt, Sie meinen es gut mit uns. Ich danke Ihnen herzlich dafür.«

»Gestatten Sie mir nur eine Frage, ehe ich gehe. Kennen Sie meine Mutter schon lange?«

»Ich glaube, zwei Jahre, Sir. – Die Glocke hat zu läuten aufgehört.«

»Wie lernten Sie sie kennen? Schickte sie nach Ihnen?«

»Nein. Sie weiß nicht einmal, daß ich hier wohne. Wir haben einen Freund, Vater und ich – einen armen, fleißigen Mann, aber der beste Freund –, und ich schrieb aus, daß ich im Taglohn zu nähen wünsche, und gab seine Adresse an. Und er ließ, was ich geschrieben, an einigen Orten anschlagen, wo es nichts kostete, und Mrs. Clennam fand auf diese Weise meinen Namen und schickte nach mir. Das Tor wird geschlossen werden, Sir.«

Sie war so unruhig und aufgeregt, und er von Teilnahme für sie und durch das lebhafte Interesse für ihre Lebensgeschichte, wie sie sich vor ihm entfaltete, so tief bewegt, daß er sich kaum losreißen konnte. Aber das Aufhören des Geläutes und die Stille im Gefängnis waren eine Mahnung zum Aufbruch, und mit einigen flüchtigen freundlichen Worten ließ er sie zu ihrem Vater zurückkehren.

Aber er hatte zu lange verweilt, das innere Tor war verriegelt und das Pförtnerstübchen geschlossen. Nach kurzem fruchtlosen Pochen mit der Hand stand er mit der unangenehmen Ueberzeugung da, daß er die Nacht hier zubringen müsse, als ihn eine Stimme von hinten anredete:

»Gefangen, Mr.?« sagte die Stimme, »Sie werden vor morgen früh nicht nach Hause kommen. – Oh! sind Sie es, Mr. Clennam?«

Es war Tips Stimme, und sie standen sich noch im Gefängnishof gegenüber, als es zu regnen begann.

»Es ist nun schon geschehen«, bemerkte Tip: »Sie müssen das nächste Mal pünktlicher kommen.«

»Aber Sie sind ja auch eingeschlossen«, sagte Arthur.

»Ich glaube allerdings«, sagte Tip sarkastisch. »Ungefähr, aber nicht ganz wie Sie. Ich gehöre zu der Bude; meine Schwester meint freilich, der Alte dürfe es nicht wissen. Ich sehe aber nicht ein, weshalb.«

»Kann ich hier irgendein Quartier finden?« fragte Arthur. »Was soll ich sonst machen?«

»Wir sollten vor allem Amy zu sprechen suchen«, sagte Tip, der gewohnt war, alle Schwierigkeiten auf sie abzuladen.

»Ich würde lieber die ganze Nacht hier herumgehen – es läßt sich ja doch sonst nichts tun –, als sie zu beunruhigen.«

»Sie brauchen das nicht zu tun, wenn Ihnen nichts daran liegt, ein Bett zu bezahlen. Wenn Ihnen nichts daran liegt, zu bezahlen, so werden sie Ihnen unter solchen Umständen eines auf dem Snuggerytisch zurechtmachen. Wenn Sie mir folgen wollen, werde ich Sie dort einführen.«

Als sie den Hof hinabgingen, sah Arthur zu dem Fenster des Zimmers hinauf, das er kürzlich verlassen und wo noch Licht brannte.

»Ja, Sir!« sagte Tip, der seinem Blick folgte. »Das ist das Zimmer unsres alten Herrn, Sie sitzt noch eine Stunde lang bei ihm und liest ihm die Zeitungen von gestern oder etwas der Art vor; und dann kommt sie heraus wie ein kleiner Geist und verschwindet geräuschlos.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Der Alte schläft droben in dem Zimmer, aber sie hat ihre Wohnung bei dem Schließer, das erste Haus das, sagte Tip und deutete auf den Torweg, in den sie sich zurückgezogen. »Das erste Haus, in der Dachkammer. Sie bezahlt zweimal so viel dafür, als sie für ein zweimal so gutes Zimmer außerhalb des Gefängnisses bezahlen müßte. Aber sie will Tag und Nacht bei dem Alten sein, das arme gute Mädchen.«

Inzwischen waren sie zu der Schenkwirtschaft am obern Ende des Gefängnisses gelangt, wo die Gefangenen gerade ihren Abendklub verließen. Das Zimmer im Erdgeschoß, in dem der Klub sich versammelte, war die fragliche Snuggery; der Präsidentenstuhl des Vorsitzenden, die zinnernen Krüge, Gläser, Pfeifen, Tabakasche und die allgemeinen Dünste der Mitglieder waren noch vorhanden, auch nachdem die Zechbrüderschaft sich verzogen hatte. Die Snuggery hatte zwei von den Eigenschaften, die man gemeiniglich für Damengrog als wesentlich erachtet, nämlich, daß sie heiß und stark war; im dritten Punkt der Analogie, nämlich, daß davon im Ueberfluß vorhanden sei, blieb sie zurück: denn es handelte sich bei ihr um ein sehr kleines Zimmer.

Der ungewohnte Fremde von draußen glaubte natürlich, jeder sei hier Gefangener – Wirt, Kellner, Kellnerin, Bierausträger und alle übrigen. Ob sie es wirklich waren oder nicht, ließ sich nicht erkennen. Alle aber hatten das Aussehen von Unkraut. Der Besitzer eines Kramladens in einem Vordergebäude, der einigen Gefangenen Kost gab, half beim Bettmachen. Er war früher Schneider gewesen und hatte einen Promenaden-Sportwagen besessen, wie er sagte. Er rühmte sich, daß er die Ehre und die Interessen des Gefängnisses nachdrücklich verteidige; und er hatte die unklare und unerklärliche Idee, daß der Marschall einen »Fonds« unterschlage, der den Gefangenen zugute kommen sollte. Er war davon überzeugt und teilte diesen dunkeln Schmerz allen Neulingen und Fremden mit, obgleich er um keine Welt hätte erklären können, welchen »Fonds« er meinte und wie dieses Hirngespinst in seiner Seele Wurzel gefaßt. Er hatte sich trotzdem Gewißheit darüber verschafft, daß sein Anteil an dem Fonds drei Schillinge und neun Pence die Woche ausmache, und daß er als einzelner Gefangener regelmäßig jeden Montag von dem Marschall darum beschwindelt werde. Er half offenbar beim Bettmachen nur, um keine Gelegenheit zu verlieren, diese Sache an den Mann zu bringen; und als er sein Herz ausgeschüttet und angekündigt (wie er immer zu tun schien, ohne daß etwas zuwege kam), daß er einen Brief an die Zeitungen schreiben und den Marschall denunzieren wolle, ließ er sich in ein Gespräch über allerlei Dinge mit den übrigen ein. Aus dem vorherrschenden Ton in der ganzen Gesellschaft ging hervor, daß sie Zahlungsunfähigkeit als den Normalzustand der Menschen und die Bezahlung der Schulden als eine Krankheit, die zuweilen ausbreche, betrachtete.

In dieser seltsamen Umgebung, und während diese seltsamen Gespenster ihn umgaukelten, sah Arthur Clennam den Vorbereitungen zu seinem Nachtlager zu, als ob sie ein Traum wären. Inzwischen wies ihn der hier lange schon heimische Tip mit einer unheimlichen Freude an den Hilfsmitteln der Snuggery auf das gewöhnliche Küchenfeuer, das durch die gemeinsamen Beiträge der Gefangenen, und den Kessel für heißes Wasser, der auf gleiche Weise unterhalten wurde, und andere Vorteile hin, die beweisen zu wollen schienen, daß das Mittel, um gesund, wohlhabend und weise zu werden, sich im Marschallgefängnis einsperren zu lassen, sei.

Die beiden in einer Ecke zusammengestellten Tische waren endlich in ein wirklich bequemes Bett umgewandelt, und der Fremde wurde mit den Windsorstühlen, dem Präsidentensitz, der Bieratmosphäre, dem Sägemehl, den Fidibussen, den Spucknäpfen und dem Lager allein gelassen. Aber die Tatsache des letzteren verband sich lange, lange nicht mit den andern Tatsachen dieser Umwelt. Die Neuheit des Ortes, der unvorbereitete Eintritt, das Gefühl, eingeschlossen zu sein, die Erinnerung an das Zimmer im zweiten Stock, an die beiden Brüder und vor allem an die schüchterne kindliche Gestalt und das Gesicht, in dem er Jahre unzulänglicher Nahrung, wenn nicht gar Mangel an allem las, hielt ihn wach und machte ihn traurig.

Betrachtungen, die in seltsamster Beziehung zu dem Gefängnis standen, aber eben doch immerhin noch in Beziehung dazu standen, lasteten wie ein Alp auf seiner Seele, während er wachend dalag. Ob man Särge für Leute bereit halte, die hier sterben, wo sie aufbewahrt würden, wie sie aufbewahrt würden, wo die Leute, die im Gefängnis sterben, begraben würden, wie man sie fortschaffe, welche Formen man dabei beobachte, ob ein unversöhnlicher Gläubiger auch noch den Toten Arrest auferlegen könne? Welche Möglichkeit zu entfliehen vorhanden sei? Ob ein Gefangener die Mauern mit einem Strick und Haken erklettern könne, wie er auf der andern Seite hinabkäme? Ob er sich auf einen Hausgiebel herablassen, eine Treppe hinabschleichen, zur Tür hinauskommen und sich in der Menge verlieren könnte? Ob Feuer im Gefängnis ausbrechen würde, so lange er hier läge?

Diese bunt sich ihm aufdrängenden Einfälle waren nichts anderes als der Rahmen eines Bildes, in dem drei Gestalten vor ihm standen. Sein Vater, mit dem starren Blick bei seinem Tode, der prophetisch in dem Porträt hervortrat; seine Mutter, wie sie seinen Verdacht abwehrend den Arm emporhielt; und Klein-Dorrit, die die Hand auf den entehrten Arm legte und den gesenkten Kopf abwendete.

Wie, wenn seine Mutter einen alten Grund hatte, den sie wohl kannte, das Unglück dieses armen Kindes zu lindern! Wie, wenn der Gefangene, der jetzt ruhig schlief – wollt‘ es der Himmel! – beim Licht des jüngsten Tages seinen Fall auf sie wälzen würde! Wie, wenn irgendeine ihrer Handlungen oder sein Vater auch nur entfernt die grauen Häupter der beiden Brüder so tief gebeugt!

Ein Gedanke fuhr ihm blitzschnell durch den Sinn. Konnte seine Mutter nicht in der langen Gefangenschaft des Marschallgefängnisses und in ihrer eignen langen Beschränkung auf ihr Zimmer einen offensichtlichen Ausgleich finden? »Ich gebe zu, ich war Mitschuldige an dieses Mannes Gefangenschaft. Ich habe gewissermaßen dafür gelitten. Er ist in seinem Gefängnis abgestorben; ich in dem meinen. Ich habe die Strafe bezahlt.«

Als alle übrigen Gedanken in ihr Nichts sich aufgelöst, bemächtigte sich dieser seiner ganz und gar. Als er einschlief, erschien sie ihm in ihrem Rollstuhl und wehrte ihn durch diese Rechtfertigung ab. Als er erwachte und ohne Ursache erschrocken aufsprang, klangen diese Worte noch in seinen Ohren, als ob ihre Stimme an seinem Lager erklungen sei, um seine Ruhe zu stören: »Er siecht in seinem Gefängnis hin, ich in dem meinen; der unerbittlichen Gerechtigkeit ist ihr Recht geschehen; sollte die Rechnung hier noch nicht abgeschlossen sein?“

Dreiunddreißigstes Kapitel.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Mrs. Merdles Übel.

Mrs. Gowan faßte, in das unvermeidliche Schicksal sich fügend, indem sie die vorteilhafteste Seite dieser Miggles herauskehrte, den edelmütigen Entschluß, sich der Heirat ihres Sohnes nicht zu widersetzen. Auf dem Wege zu diesem Entschluß, zu dem sie endlich glücklich gekommen, wurde sie vielleicht nicht bloß durch ihre mütterliche Liebe, sondern auch durch dreierlei Erwägungen der Klugheit beeinflußt.

Von diesen mag die erste die gewesen sein, daß ihr Sohn niemals die leiseste Absicht zu erkennen gegeben hatte, ihre Einwilligung einzuholen. Ferner hatte er nie ein Mißtrauen in seine Fähigkeit, sich von dieser Pflicht zu dispensieren, offenbart. Die zweite war die, daß die Pension, die ihr ein dankbares Land (und ein Barnacle) zuerkannt, von allen, selbst den kleinsten kindlichen Eingriffen fortan befreit sein würde, sobald ihr Sohn Henry mit dem einzigen Liebling eines Mannes in sehr vermöglichen Umständen verheiratet wäre; die dritte, daß Henrys Schulden von seinem Schwiegervater bei Heller und Pfennig auf dem Altargeländer bezahlt werden müßten. Wenn zu diesen dreifachen Klugheitsrücksichten das Faktum hinzugefügt wird, daß Mrs. Gowan ihre Zustimmung in dem Augenblick gab, als sie erfuhr, daß Mr. Meagles die seinige gegeben, und daß Mr. Meagles‘ Einspruch gegen die Heirat bislang das einzige Hindernis gewesen war, so erreicht es die Höhe der Wahrscheinlichkeit, daß die Witwe des verstorbenen Unterhändlers, der eigentlich nichts zu unterhandeln hatte, diese Ideen in ihrem schlauen Geiste wohl erwogen hatte.

Unter ihren Verwandten und Bekannten bewahrte sie jedoch ihre persönliche Würde und die Würde des Bluts der Barnacles, indem sie fleißig die Behauptung wiederholte, daß es ein sehr unglücklicher Handel wäre. Sie sei sehr betrübt darüber, daß Henry unter einem wahren Zauberbanne stehen müsse; daß sie sich lange widersetzt habe, aber was könne eine Mutter tun, und dergleichen.

Sie hatte sich sogar auf Arthur Clennam, als auf einen Freund der Familie Meagles, berufen, um diese Fabel zu bekräftigen, und sie ging noch weiter, indem sie sogar die Familie selbst zu gleichem Zweck in Anspruch nahm. Bei der ersten Zusammenkunft, die sie Mr. Meagles zugestand, gab sie sich das Ansehen, als ob sie mit schwerem Herzen, aber doch voll Güte, in das unwiderstehliche Drängen einwillige. Mit der größten Höflichkeit und Feinheit tat sie, als ob sie – nicht er – die Schwierigkeiten gemacht und endlich nachgegeben hätte, und als ob das Opfer ihrerseits – nicht seinerseits – bestände. Dieselbe Finte wandte sie mit derselben feinen Geschicklichkeit gegen Mrs. Meagles an, als ob ein Verschwörer etwa dieser unschuldigen Dame eine Karte aufgedrungen hätte. Als dann die künftige Schwiegertochter ihr von ihrem Sohne vorgestellt wurde, sagte sie, während sie sie umarmte: »Mein liebes Kind, was haben Sie Henry angetan, daß er so bezaubert ist!« indem sie zu gleicher Zeit einigen Tränen erlaubte, das kosmetische Pulver auf ihrer Nase in kleinen Pillen vor sich herzutreiben, als ein zartes, aber rührendes Zeichen, daß sie innerlich viel leide, obgleich sie äußerlich mit großer Fassung ihr Unglück trage.

Unter den Freundinnen von Mrs. Gowan, die sich zu gleicher Zeit darauf spitzte, zur Gesellschaft zu zählen und intimen und ungezwungenen Verkehr mit dieser Macht zu pflegen – unter diesen Freundinnen stand Mrs. Merdle in erster Reihe. Die Zigeuner von Hampton Court rümpften ohne Ausnahme die Nase über die Merdles als Emporkömmlinge; aber sie senkten auch wieder die Nasen, indem sie aus Achtung vor ihrem Reichtum flach auf den Boden fielen. In dieser sich ausgleichenden Stellung ihrer Nasen waren sie der Schatzkammer, dem Stande der Rechtsanwälte und der Bischöfe, bzw. deren Vertretern und allen übrigen ungemein ähnlich.

Mrs. Gowan machte Mrs. Merdle einen Beileidsbesuch in eigner Sache, sozusagen, nachdem sie die erwähnte gnädige Einwilligung gegeben. Sie fuhr zu diesem Ende in einem einspännigen Wagen, in jener Periode der englischen Geschichte unehrfürchtigerweise Pillenschachtel genannt, nach der Stadt. Der Wagen gehörte einem armseligen Makler, der ihn selbst führte und tage- oder stundenweise an die meisten alten Damen in Hampton Court vermietete; aber es war ein heiliger Gebrauch dieses Wagens, daß die ganze Equipage stillschweigend als das Privateigentum des Mieters für die Dauer der Miete angesehen wurde und daß der Makler niemand persönlich kennen sollte als den Mieter, der im momentanen Besitz des Wagens war. So behaupteten ja auch die Barnacles vom Circumlocution-Office, die die größten Makler des Universums waren, keinen andern Mieter zu kennen als den, der gerade im Augenblick im Besitz einer Sache war.

Mrs. Merdle war zu Hause und saß in ihrem Nest von Scharlach und Gold, während der Papagei in der Nähe auf einer Stange saß und sie mit zur Seite geneigtem Kopf betrachtete, als wenn er sie ebenfalls für einen glänzenden Papagei, nur von einer größeren Gattung, hielte. Mrs. Gowan trat mit ihrem grünen Lieblingsfächer, der das Licht auf den roten Flecken ihres allzu blühenden Antlitzes dämpfte, bei ihr ein.

»Meine teure Freundin«, sagte Mrs. Gowan und klopfte mit dem Fächer nach einem kurzen gleichgültigen Gespräch den Handrücken ihrer Freundin: »Sie sind mein einziger Trost! Die Geschichte mit Henry, von der ich Ihnen erzählte, wird demnächst vor sich gehen. Nun, was denken Sie davon? Ich sterbe vor Ungeduld, es zu wissen, da Sie die Gesellschaft so vortrefflich repräsentieren und die Meinung derselben klar kundzugeben imstande sind.«

Mrs. Merdle musterte den Busen, den die Gesellschaft zu mustern pflegte, und nachdem sie sich überzeugt, daß das Schaufenster von Mr. Merdle und den Londoner Juwelieren in bester Ordnung sei, antwortete sie:

»Bei einer Heirat, meine Liebe, verlangt die Gesellschaft auf seiten des Mannes, daß er durch die Verbindung seinen Vermögensverhältnissen aufhilft. Die Gesellschaft verlangt, daß er durch die Verbindung gewinnt. Die Gesellschaft verlangt, daß er durch die Verbindung in eine hübsche Stellung kommt. Die Gesellschaft begreift sonst nicht, was er mit einer Heirat will. Vogel, sei still!« Der Papagei, der nämlich in seinem Käfig über ihnen bei der Verhandlung den Vorsitz führte, als wenn er Richter wäre, sah ziemlich wie ein solcher aus und hatte die Auseinandersetzung mit einem entsprechenden Spektakel abgeschlossen.

»Es gibt Fälle«, sagte Mrs. Merdle, indem sie den kleinen Finger ihrer Lieblingshand sanft krümmte und ihre Bemerkungen durch diese zierliche Aktion noch zierlicher machte, »es gibt Fälle, wo ein Mann nicht jung oder elegant, aber reich ist und bereits eine hübsche Stellung hat. Diese sind von anderer Art. In solchen Fällen –«

Mrs. Merdle zuckte die schneeweißen Schultern und legte ihre Hand auf das Juwelenkissen, indem sie ein kleines Hüsteln unterdrückte, als wenn sie hinzufügen wollte: »Warum sollte ein Mann auf solche Dinge sehen, meine Liebe?« Dann schrie der Papagei wieder, und sie setzte ihr Glas auf, um nach ihm zu sehen, und sagte: »Vogel, sei still!«

»Aber junge Leute«, fuhr Mrs. Merdle fort, »und Sie wissen, was ich unter jungen Leuten verstehe, meine Liebe – ich meine die Söhne gewöhnlicher Leute, die noch die Welt vor sich haben, – solche müssen sich durch eine Heirat in eine bessere Stellung zur Gesellschaft bringen, sonst wird die Gesellschaft sich unbarmherzig lustig über sie machen. Schrecklich eigennützig klingen diese Worte«, sagte Mrs. Merdle, indem sie sich in ihr Nest zurücklehnte und ihren Kneifer wieder aufsetzte, »nicht wahr?«

»Aber es ist richtig«, sagte Mrs. Gowan mit einer höchst moralischen Miene.

»Meine Liebe, es läßt sich keinen Augenblick bestreiten«, versetzte Mrs. Merdle, »weil die Gesellschaft sich mal darauf gespitzt hat; es läßt sich nichts weiter darüber sagen. Wenn wir in einem ursprünglicheren Zustand lebten, wenn wir unter Dächern von Laub wohnten und Kühe und Schafe und Vieh hielten, statt Wechselgeschäfte zu machen – was köstlich wäre, meine Liebe, ich bin von Hause aus bis zu einem gewissen Grade sehr für das Landleben eingenommen – dann gut und schön. Aber wir leben mal nicht unter Laubdächern und halten keine Kühe und Schafe und Vieh. Ich schwatze mich bisweilen ganz außer Atem, wenn ich Edmund Sparkler diesen Unterschied auseinandersetze.«

Mrs. Gowan, die über ihren grünen Fächer hinsah, als der Name dieses jungen Mannes genannt wurde, antwortete wie folgt:

»Meine Liebe, Sie kennen den heruntergekommenen Zustand dieses Landes – die unglückseligen Zugeständnisse von John Barnacle! – und Sie wissen somit den Grund, weshalb ich so arm wie – bin.«

»Wie eine Kirchenmaus!« warf Mrs. Merdle lächelnd ein.

»Ich dachte an die andre sprichwörtliche Kirchenperson – Hiob«, sagte Mrs. Gowan. »Beides richtig. Es wäre deshalb umsonst, sich zu verhehlen, daß ein großer Unterschied zwischen der Stellung Ihres Sohnes und der meines Sohnes ist. Ich darf hinzufügen, daß Henry Talent hat –«

»Was Edmund freilich nicht hat«, sagte Mrs. Merdle mit der größten Freundlichkeit.

»– und daß sein Talent verbunden mit Enttäuschungen«, fuhr Mrs. Gowan fort, »ihn auf eine Bahn brachten – ach, Gott! Sie wissen, meine Liebe. In solcher Lage Henrys war die Frage, was die unterste Klasse von Heiraten ist, mit der ich mich einverstanden erklären kann.«

Mrs. Merdle war so sehr mit der Betrachtung ihrer Arme beschäftigt (herrlich geformter Arme, wie für Armbänder gemacht), daß sie einen Augenblick zu antworten vergaß. Durch die eingetretene Stille endlich aufgeschreckt, faltete sie ihre Arme, sah ihrer Freundin mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart offen ins Gesicht und sagte fragend: »Ja–a? Und dann?«

»Und dann, meine Liebe«, sagte Mrs. Gowan, nicht ganz so artig wie zuvor, »ich wünschte sehr zu hören, was Sie dazu zu sagen haben.«

Hier brach der Papagei, der, seit er zuletzt geschrien, auf einem Beine stand, in ein lautes Gelächter aus, baumelte höchst komisch mit beiden Füßen auf und nieder, stand zuletzt wieder auf einem Fuße und hielt zu einer Antwort inne, indem er den Kopf so schief wie möglich drehte.

»Es klingt kaufmännisch, zu fragen, was der Mann mit der Frau tun soll«, sagte Mrs. Merdle: »aber die Gesellschaft ist nun mal etwas kaufmännisch, wie Sie wissen, meine Liebe.«

»Nach dem, was ich ausfindig machen konnte«, sagte Mrs. Gowan, »glaube ich sagen zu dürfen, daß Henry sich von seinen Schulden loszumachen imstande sein wird –-«

»Sehr viel Schulden?« fragte Mrs. Merdle durch ihren Kneifer.

»Nun ziemlich, glaube ich«, sagte Mrs. Gowan.

»Und daß der Vater ihnen ein Einkommen von dreihundert Pfund jährlich, vielleicht auch etwas mehr, aussetzen wird. Was in Italien –-«

»Oh! Sie gehen nach Italien –-«

»Henrys wegen, der dort Studien machen will. Sie können leicht ahnen, weshalb, meine Liebe. Diese schreckliche Kunst –-«

»Wahr.« Mrs. Merdle beeilte sich, die Gefühle ihrer bekümmerten Freundin zu schonen. Sie verstand. »Sagen Sie nichts mehr!«

»Und das«, sagte Mrs. Gowan, ihr gebeugtes Haupt schüttelnd, »das ist alles. Das«, wiederholte Mrs. Gowan, ihren grünen Fächer für den Augenblick faltend und ihr Kinn damit klopfend (es war auf dem Wege, ein Doppelkinn zu werden, und konnte für den Augenblick ein Anderthalbkinn genannt werden), »das ist alles! Nach dem Tod der alten Leute wird vermutlich mehr herausspringen: aber wie es zusammengehalten oder bewahrt wird, weiß ich nicht. Und was das betrifft, mögen sie ewig leben. Meine Liebe, dazu sind sie ganz die rechten Leute.«

Mrs. Merdle, die ihre Freundin, die Gesellschaft, sehr gut kannte und wußte, wer die Mütter der Gesellschaft waren, und wer die Töchter der Gesellschaft waren, und welcher Art der Freiermarkt der Gesellschaft war, und wie die Preise auf demselben stehen, und wie für die großen Käufer geboten und gegengeboten wurde, und wie man handelte und feilschte – Mrs. Merdle dachte in der Tiefe ihres geräumigen Busens, daß es ein sattsam glücklicher Fang sei. Da sie jedoch wußte, was man von ihr verlangte, und sah, wie man diese umgedichtete Angelegenheit hätschelte und wartete, so nahm sie sie sanft in ihre Arme und legte den verlangten Beitrag von Randbemerkungen darauf.

»Und das ist alles, meine Liebe?« sagte sie, freundlich aufseufzend. »Nun, nun, der Fehler liegt nicht an Ihnen. Sie haben sich dabei nichts vorzuwerfen. Sie müssen die Stärke des Geistes, wegen der Sie berühmt sind, hier an den Tag legen und sich so gut wie möglich aus der Sache ziehen.«

»Die Familie des Mädchens«, sagte Mrs. Gowan, »hat natürlich die größten Anstrengungen gemacht, Henry – wie die Rechtsanwälte sagen – ›niet- und nagelfest zu machen‹.«

»Natürlich taten sie das, meine Liebe«, sagte Mrs. Merdle.

»Ich beharrte bei allen möglichen Einwänden und habe Tag und Nacht auf Mittel gesonnen, Henry von dieser Bekanntschaft loszureißen.«

»Kein Zweifel, daß Sie das getan haben«, sagte Mrs. Merdle.

»Und alles umsonst. Alles ist unter mir zusammengebrochen. Nun sagen Sie, meine Liebe: bin ich zu rechtfertigen, daß ich endlich, wenn auch mit größtem Widerstreben, meine Einwilligung zu Henrys Verbindung mit Leuten gab, die nicht zur Gesellschaft zählen; oder habe ich mit nicht zu entschuldigender Schwäche gehandelt?«

Auf diese direkte Aufforderung antwortend, versicherte Mrs. Merdle, indem sie als eine Priesterin der Gesellschaft sprach, Mrs. Gowan, daß sie im höchsten Grade zu loben sei, daß man mit ihr in hohem Maße sympathisieren müsse, daß sie das beste Teil erwählt und gereinigt aus dem Fegefeuer gekommen sei. Und Mrs. Gowan, die natürlich durch ihren eigenen abgenützten Schleier ganz gut sah und wußte, daß Mrs. Merdle durch denselben gleichfalls ganz gut sehe, und wußte, daß die Gesellschaft durch denselben gleichfalls ganz gut sehe, trat dessenungeachtet mit ungeheurer Selbstgefälligkeit und Würde aus dieser Umhüllung, wie sie hineingetreten.

Die Verhandlung fand zwischen vier und fünf Uhr nachmittags statt, wo die ganze Gegend von Harley Street, Cavendish Square, von Wagenrädern und Türklopfen widerhallt. Sie waren so weit gekommen, als Mr. Merdle, von seiner täglichen Beschäftigung, den britischen Namen in allen Teilen der zivilisierten Welt immer geachteter zu machen, kommerzielle Unternehmungen, die die ganze Welt umfassen, und riesenhafte Kombinationen des Talents und Kapitals zu würdigen fähig, nach Hause kehrte. Denn obgleich niemand auch nur entfernt genau angeben konnte, was Mr. Merdles Geschäft sei, außer Geldaufhäufen, so war dies doch immer der Ausdruck, mit dem man dasselbe bei allen feierlichen Gelegenheiten bezeichnete, und die neueste höfliche Lesart von der Parabel von dem Kamel mit dem Nadelöhr, die man ohne Prüfung annehmen mußte. Für einen Mann, der sich diese hohe Aufgabe gestellt, sah Mr. Merdle etwas einfach, ja ziemlich so aus, als wenn er, im Verlauf seiner großen Unternehmungen, seinen Kopf mit einem untergeordneten Geist verwechselt hätte. Er erschien vor den beiden Damen nach einem trübseligen Streifzug durch sein Haus, der offenbar keinen andern Zweck hatte, als dem Oberhaushofmeister zu entfliehen.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er verlegen innehaltend, »ich wußte nicht, daß jemand außer dem Papagei hier sei.«

Da aber Mrs. Merdle sagte: »Sie können hereinkommen!« und Mrs. Gowan äußerte, daß sie im Begriff sei zu gehen, und bereits aufgestanden war, um Abschied zu nehmen, trat er ein und stellte sich, um hinauszusehen, an ein entferntes Fenster. Dabei legte er die Hände unter seinen unbequemen Rockaufschlägen übereinander und hielt sich an seinen Handgelenken fest, als wollte er sich selbst in Bewachung nehmen. In dieser Stellung versank er alsbald in eine Träumerei, aus der er erst durch den Ruf seiner Frau vom Diwan her aufgescheucht wurde, als sie bereits eine Viertelstunde allein waren.

»Hm? Ja?« sagte Mr. Merdle und wandte sich nach ihr um. »Was gibt es?«

»Was es gibt?« wiederholte Mr. Merdle. »Das glaube ich, daß Sie nicht ein Wort von meiner Klage gehört haben.«

»Ihrer Klage, Mrs. Merdle?« sagte Mr. Merdle. »Ich wußte nicht, daß Sie etwas zu leiden haben. Was ist es?«

»Ich beklage mich über Sie«, sagte Mrs. Merdle.

»Oh! Eine Klage über mich«, sagte Mr. Merdle. »Was ist das – was habe ich – worüber haben Sie sich, was mich betrifft, zu beklagen, Mrs. Merdle?«

In seiner ausweichenden, abstrakten, überlegenden Weise kostete es ihm einige Zeit, diese Frage zu bilden. Als eine Art schwachen Versuchs sich zu überzeugen, ob er Herr vom Hause sei, schloß er damit, daß er seinen Zeigefinger dem Papagei hinbot, der seine Meinung in dieser Hinsicht dadurch aussprach, daß er ihn augenblicklich mit dem Schnabel biß.

»Sie sagten, Mrs. Merdle«, fuhr Mr. Merdle, mit dem verwundeten Finger im Munde fort, »Sie hätten eine Klage gegen mich?«

»Eine Klage, deren Gerechtigkeit ich kaum nachdrücklicher darzulegen vermöchte als dadurch, daß ich sie wiederholen muß«, sagte Mrs. Merdle. »Ich könnte sie ebensogut der Wand vorgehalten haben. Ich hätte sie sogar weit besser dem Vogel vorgehalten. Er würde wenigstens geschrien haben.« »Sie verlangen doch nicht, daß ich schreien soll, Mrs. Merdle?« sagte Mr. Merdle, indem er einen Stuhl nahm.

»Wahrhaftig, ich weiß nicht«, erwiderte Mrs. Merdle, »ob Sie nicht besser schreien würden, als so launisch und zerstreut zu sein. Man wüßte wenigstens, daß Sie wissen und fühlen, was um Sie her vorgeht.«

»Ein Mann könnte schreien und doch nichts wissen, Mrs. Merdle«, sagte Mr. Merdle schwerfällig.

»Und könnte verfolgt sein, wie Sie es in diesem Augenblick sind, ohne zu schreien«, versetzte Mrs. Merdle. »Das ist sehr wahr. Wenn Sie die Klage zu wissen wünschen, die ich gegen Sie vorzubringen habe, so ist es in wenigen einfachen Worten die, daß Sie wirklich nicht in Gesellschaft gehen sollten, bis Sie sich der Gesellschaft anzupassen verstehen.«

Mr. Merdle fuhr so heftig mit seinen Händen in die Haare, die er noch auf dem Kopfe hatte, daß er sich selbst in die Höhe zu heben schien; denn er fuhr aus seinem Stuhl auf und rief:

»Im Namen aller höllischen Mächte, Mrs. Merdle, wer tut mehr für die Gesellschaft als ich? Sehen Sie diese Gebäude, Mrs. Merdle? Sehen Sie diese Möbel, Mrs. Merdle? Sehen Sie in den Spiegel und betrachten Sie sich selbst, Mrs. Merdle! Wissen Sie, was das alles gekostet? Für wen ist es angeschafft worden? Und Sie wollen mir noch sagen, ich sollte mich nicht in der Gesellschaft bewegen? Ich, der ich das Geld in solcher Weise über die Gesellschaft ausschütte? Ich, von dem man beinahe sagen könnte, er – er – er – schirre sich an einen Wasserkarren voll Geld und gehe umher, um jeden Tag die Gesellschaft zu sättigen?«

»Bitte, werden Sie nicht heftig, Mr. Merdle«, sagte Mrs. Merdle.

»Heftig?« sagte Mr. Merdle. »Sie könnten mich wirklich zur Verzweiflung bringen. Sie wissen nicht die Hälfte von dem, was ich tue, um mich der Gesellschaft anzupassen. Sie wissen nicht das geringste von den Opfern, die ich ihr bringe.«

»Ich weiß«, versetzte Mrs. Merdle, »daß Sie die Besten des Landes empfangen. Ich weiß, daß Sie sich in der ganzen Gesellschaft des Landes bewegen. Aber ich glaube, ich weiß (wahrhaftig, es ist keine lächerliche Anmaßung), ich weiß, ich weiß, wer Sie in derselben hält, Mr. Merdle.«

»Mrs. Merdle«, entgegnete der Angegriffene, indem er sein dunkelrotes und gelbes Gesicht wischte, »ich weiß das so gut wie Sie. Wenn Sie nicht eine Zierde der Gesellschaft und ich nicht ein Wohltäter der Gesellschaft wäre, würden Sie und ich nie zusammengekommen sein. Wenn ich sage ein Wohltäter, so verstehe ich darunter einen Mann, der sie mit allen Arten kostbarer Dinge zum Essen und Trinken und Beschauen versieht. Aber nun zu sagen, daß ich nicht für sie geschaffen sei, nach allem, was ich für sie getan, nach allem, was ich für sie getan«, wiederholte Mr. Merdle mit heftigem Nachdruck, der seiner Frau die Augen öffnete, – »nach alledem! – alledem! – mir zu sagen, ich habe kein Recht, mich unter sie zu mischen. Das ist ein hübscher Lohn.«

»Ich sage«, antwortete Mrs. Merdle gelassen, »Sie sollten sich mehr für die Gesellschaft bilden, indem Sie sich aufgeschlossener, weniger mit Ihren Gedanken beschäftigt zeigen. Es liegt etwas entschieden Ordinäres darin, Ihre Geschäftssachen überall mit sich herumzuschleppen, wie Sie es machen.«

»Inwiefern schleppe ich sie mit mir herum, Mrs. Merdle?« fragte Mr. Merdle.

»Inwiefern Sie sie mit sich herumschleppen?« sagte Mrs. Merdle. »Sehen Sie sich nur mal im Spiegel.«

Mr. Merdle richtete seine Blicke unwillkürlich nach dem nächsten Spiegel und fragte, während sein dickes Blut langsam in seine Schläfe stieg, ob ein Mensch für seine Verdauung verantwortlich gemacht werden könne?

»Sie haben einen Arzt«, sagte Mrs. Merdle.

»Er behandelt mich nicht richtig«, sagte Mr. Merdle.

Mrs. Merdle wechselte den Boden.

»Ach«, sagte sie. »Ihre Verdauung, das ist Unsinn. Ich spreche nicht von Ihrer Verdauung. Ich spreche von Ihren Manieren.«

»Mrs. Merdle«, versetzte ihr Gatte, »ich überlasse das Ihnen, Sie liefern die Manieren, ich das Geld.«

»Ich erwarte nicht von Ihnen«, sagte Mrs. Merdle, indem sie sich bequem in ihre Kissen zurücklehnte, »daß Sie die Leute fesseln sollen. Ich will nicht, daß Sie sich irgendwie beunruhigen oder bemühen sollen, bezaubernd zu sein. Ich verlange einfach, daß Sie sich um nichts kümmern, – oder sich um nichts zu kümmern scheinen – wie alle andern Leute.«

»Sage ich je, daß ich mich um etwas kümmere?« fragte Mr. Merdle.

»Sagen? Nein! Niemand würde darauf achten, wenn Sie es täten. Aber Sie zeigen es.«

»Zeigen, was? Was zeige ich?« fragte Mr. Merdle rasch.

»Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Sie zeigen, daß Sie Ihre Geschäftssorgen und Pläne mit sich herumtragen, statt sie in der City zu lassen, oder wohin sie sonst gehören«, sagte Mrs. Merdle. »Oder zu gehören scheinen. Scheinen wäre vollkommen genug: ich verlange nicht mehr. Während Sie im Gegenteil nicht mehr mit den alltäglichen Kalkulationen und Geschäftsproblemen beschäftigt sein könnten, als Sie es gewöhnlich zeigen, selbst wenn Sie ein Zimmermann wären.«

»Ein Zimmermann?« wiederholte Mr. Merdle, etwas wie einen Seufzer zurückhaltend. »Es wäre mir nicht so unangenehm, wenn ich ein Zimmermann wäre.«

»Und meine Klage ist die«, fuhr die Dame fort, auf diese leise Bemerkung nicht achtend, »daß das nicht der Ton der Gesellschaft ist und daß Sie ihn verbessern sollten, Mr. Merdle. Wenn Sie gegen mein Urteil irgend mißtrauisch sind, so fragen Sie Edmund Sparkler.« Die Tür des Zimmers war aufgegangen, und Mrs. Merdle erblickte den Kopf ihres Sohnes in dem Spiegel. »Edmund, wir brauchen dich hier.«

Mr. Sparkler, der bloß seinen Kopf hereingesteckt und im Zimmer umhergesehen hatte, ohne einzutreten (als suchte er im Hause nach der jungen Dame, die keinen Unsinn an sich habe), ließ auf diese Aufforderung seinen Körper seinem Kopf folgen und stand vor ihnen. Mrs. Merdle legte ihm in wenigen einfachen, seiner Fassungsfähigkeit angemessenen Worten die spruchreife Frage vor.

Der junge Mann sagte, nachdem er verlegen nach seinem Hemdkragen gegriffen hatte, als wenn dies sein Puls und er Hypochonder wäre: er habe diese Bemerkung von Kameraden gehört.

»Edmund Sparkler hörte diese Bemerkung machen«, sagte Mrs. Merdle mit mattem Triumph. »Nun, natürlich, jedermann hat es bemerkt!« Das war wirklich keine unvernünftige Folgerung, wenn sie bedachte, daß Mr. Sparkler wahrscheinlich in jeder menschlichen Gesellschaft die letzte Person sein würde, die von irgend etwas, was in seiner Gegenwart vorging, einen Eindruck empfinge.

»Und Edmund Sparkler wird Ihnen zuversichtlich sagen können«, fuhr Mrs. Merdle fort, indem sie mit ihrer liebenswürdigen Hand ihrem Gatten winkte, »wie er hörte, daß man es bemerkt.«

»Ich könnte nicht«, sagte Mr. Sparkler, nachdem er wie zuvor seinen Puls gefühlt, »könnte wirklich nicht sagen, wie es kam – ich habe ein verzweifelt schlechtes Gedächtnis. Als ich jedoch zur erwähnten Zeit mich in Gesellschaft mit dem Bruder eines sehr feinen – und wohlerzogenen – Mädchens befand –, das wahrhaftig keinen Unsinn im Kopfe hat –«

»Na! Laß die Schwester aus dem Spiel«, versetzte Mrs. Merdle etwas ungeduldig. »Was sagte der Bruder?«

»Sagte kein Wort, Ma’am«, antwortete Mr. Sparkler. »Ein ebenso schweigsamer Junge wie ich, aus dem ebenso schwer eine Bemerkung herauszubringen ist.«

»Es sagte doch jemand etwas«, versetzte Mrs. Merdle. »Tut nichts, wer es war.«

»Ich versichere Sie, ich war´s wenigstens nicht«, sagte Mr. Sparkler.

»Aber sag‘ uns, was es war.«

Mr. Sparkler griff wieder an seinen Puls und nahm sich zuvor unter strenge geistige Zucht, ehe er antwortete:

»Die Leute sprachen von meinem Erzieher – nicht mein Ausdruck – und rühmten dabei auf sehr freundliche Weise den ungeheuren Reichtum und das Wissen meines Erziehers – er sei ein wahres Phänomen von Geschäftsmann und Bankier und – aber sie behaupteten, der Kramladen sitze ihm schwer auf dem Nacken. Sie sagen, er schleppe den Kramladen mit sich auf seinem Rücken herum – wie der Kleiderjude, mit zuviel Geschäftigkeit.«

»Das«, sagte Mrs. Merdle, indem sie aufstand und die faltigen Stoffe um sie her flatterten, »das ist ja meine Klage. Edmund, gib mir deinen Arm. Ich will hinaufgehen.«

Mr. Merdle, der nun allein war und über ein besseres Anschmiegen an die Gesellschaft nachdenken konnte, sah nach und nach aus neun Fenstern und schien neun öde Räume zu sehen. Als er sich damit sattsam unterhalten, ging er hinab und sah eifrig auf alle die Teppiche, die auf dem Boden lagen. Dann ging er wieder hinauf und sah eifrig auf alle Teppiche des ersten Stocks, als ob es dunkle Tiefen wären, die mit seinem gedrückten Geiste harmonierten. Er ging durch alle Zimmer, wie er es immer tat, als ob er der letzte Mensch auf Erden wäre, der irgendein Recht hätte, sich ihnen zu nahen. Mochte Mrs. Merdle mit all ihrem Ansehen kundtun, daß sie jeden Abend während der Saison »zu Hause« sei, sie konnte es nicht allgemeiner und unzweideutiger erklären, als Mr. Merdle erklärte, daß er nie zu Hause sei.

Zuletzt begegnete er dem Oberhaushofmeister, dessen glänzender Anblick ihm immer den Todesstoß gab. Verdunkelt durch diese große Kreatur, schlich er sich in sein Arbeitszimmer und blieb dort eingeschlossen, bis er mit Mrs. Merdle in ihrem eigenen hübschen Wagen zum Essen ausfuhr. Beim Diner wurde er als eine Macht beneidet und mit Schmeicheleien überhäuft, wurde vom Schatzamte, vom Rechtsanwaltsstand, vom Bischofsstuhl über die Maßen geehrt, wie er es nur wünschen konnte; und eine Stunde nach Mitternacht kam er allein nach Hause. Alsbald wurde er dort wieder von dem Oberhaushofmeister wie ein Binsenlicht in seinem eignen Flur ausgelöscht und ging seufzend zu Bett.

Vierunddreißigstes Kapitel.


Vierunddreißigstes Kapitel.

Eine ganze Sandbank voll Barnacles.

Mr. Henry Gowan und der Hund waren ständige Gäste auf dem Landhause, und der Tag für die Hochzeit wurde festgesetzt. Es sollte eine Zusammenberufung der Barnacles bei dieser Gelegenheit stattfinden, damit diese sehr hohe und sehr große Familie der Heirat so viel Lustre verleihe, als ein so trübes Ereignis in sich aufnehmen konnte.

Die ganze Familie Barnacle zusammenzubringen, wäre aus zwei Gründen unmöglich gewesen. Erstens, weil kein Gebäude alle Glieder und Bekannte dieses berühmten Hauses hätte fassen können. Zweitens, weil, wo ein viereckiges Grundstück unter der Sonne oder dem Monde in britischem Besitze und ein öffentlicher Posten dabei war, dieser Posten sich in den Händen eines Barnacle befand. Kein unerschrockener Seemann konnte eine Flaggenstange auf irgendeinem Flecke der Erde aufstecken und von demselben im Namen der britischen Nation Besitz ergreifen, wohin, sobald die Entdeckung bekannt wurde, das Circumlocution Office nicht einen Barnacle und eine Depeschenkapsel abgesandt hätte. So waren die Barnacles über die ganze Welt zerstreut – nach allen Richtungen depeschenkapselten sie den Kompaß.

Während aber selbst die so mächtige Kunst Prosperos nicht imstande gewesen wäre, die Barnacles aus allen Orten des Ozeans und des trockenen Landes, wo nichts zu tun (als Unsinn) und alles einzusacken war, herbeizurufen, war es doch vollkommen möglich, eine große Menge Barnacles zusammenzubringen. Das übernahm Mrs. Gowan selbst, indem sie häufig bei Mr. Meagles vorsprach, um neue Namen zu der Liste hinzuzufügen, und Konferenzen mit dem Vater der Braut hielt, wenn er nicht (was in dieser Zeit beständig der Fall) mit Prüfung und Bezahlung der Schulden seines künftigen Schwiegersohnes in dem Zimmer der ausgleichenden Gerechtigkeit beschäftigt war.

Unter den Hochzeitsgästen befand sich einer, dessen Anwesenheit Mr. Meagles mehr interessierte und am Herzen lag als die Teilnahme des erhabensten Barnacle, den man erwartete, obgleich er durchaus nicht gleichgültig gegen die Ehre solcher Gesellschaft war. Dieser Gast war Clennam. Clennam hatte sich unter den Bäumen in jener Sommernacht ein Versprechen gegeben, das er heilig hielt, und das ihn in der Ritterlichkeit seines Herzens zu manchen stillschweigenden Verpflichtungen verband. Ganz sich selbst vergessend, ihr bei allen Gelegenheiten seine zarten Dienste zu weihen, war seine unverbrüchliche Pflicht; um damit zu beginnen, antwortete er Mr. Meagles: »Ich werde ganz gewiß kommen.«

Sein Kompagnon Daniel Doyce war ein Stein des Anstoßes für Mr. Meagles, da der würdige 3üann in seinem ängstlichen Gemüt befürchtete, das Zusammenbringen Daniels mit dem offiziellen Barnacleismus möchte selbst bei einem Hochzeitsfrühstück eine Explosion herbeiführen. Der Nationalbeleidiger jedoch befreite ihn von seiner Verlegenheit, indem er nach Twickenham kam, um mit der Offenheit, die einem alten Freunde vergönnt sei, und als eine Gunst, die ein solcher verdiene, zu bitten, daß man ihn nicht einlade. »Denn«, sagte er, »da mein Geschäft mit diesen Herren einer öffentlichen Pflicht und einem öffentlichen Dienst galt und ihr Geschäft mit mir darin bestand, mich daran zu hindern, indem sie mich auf jede Weise schikanierten, so denke ich, es wäre besser, wenn wir nicht miteinander essen und trinken würden; denn es könnte scheinen, als ob wir einerlei Sinnes wären.« Mr. Meagles war durch diese Schrulle seines Freundes sehr erfreut und behandelte ihn mit noch gnädigerer Gönnermiene als gewöhnlich, indem er nachgebend sagte: »Ja, ja, Dan, Sie sollen Ihrem wunderlichen Willen folgen.«

Clennam suchte, als die Zeit heranrückte, Mr. Henry Gowan durch alle ruhigen und einfachen Mittel beizubringen, daß er offen und ohne Interesse wünsche, ihm jede Freundschaft, die er nur wünschen könne, zu erweisen. Mr. Gowan behandelte ihn dagegen mit seiner gewöhnlichen Leichtigkeit und seinen gewöhnlichen Beweisen von Vertrauen, die nichts weniger als Vertrauen waren. »Sie sehen, Clennam«, bemerkte er zufällig eines Tages im Verlaufe eines Gesprächs, als sie eine Woche vor der Hochzeit in der Nähe des Landhauses spazierengingen, »ich bin ein getäuschter Mann. Das wissen Sie bereits.«

»Wahrhaftig«, antwortete Clennam etwas verlegen, »ich wüßte kaum, wie.«

»Nun«, versetzte Gowan. »Ich gehöre zu einem Geschlecht, oder einer Gemeinschaft, oder einer Familie, oder einer Verwandtschaft, oder wie Sie es nennen wollen, die auf fünfzigerlei Weise für mich hätte sorgen können, die sich’s aber in den Kopf gesetzt, es nicht zu tun. So bin ich nun ein armer Teufel von Künstler.«

Clennam begann: »Aber auf der andern Seite –«, als Gowan ihm ins Wort fiel.

»Ja, ja, ich weiß. Ich habe das große Glück, von einem schönen und liebenswürdigen Mädchen geliebt zu werden, das auch ich von ganzem Herzen liebe.«

»Ist das viel?« dachte Clennam. Und als er es gedacht, schämte er sich über sich selbst.

»Und habe das Glück, einen Schwiegervater zu finden, der ein Kapitaljunge ist und ein freigebiger, guter, alter Junge. Es wurden mir freilich andre Aussichten in den Kopf gewaschen und gekämmt, als man mir diesen wusch und kämmte, und ich nahm sie in eine öffentliche Schule mit, als ich mir ihn selbst kämmte und wusch, und nun bin ich verlassen von all diesen Aussichten, ein getäuschter Mann.«

Clennam dachte, und als er es dachte, schämte er sich wieder über sich selbst: ist diese Idee eines getäuschten Lebens die Behauptung einer Stellung, die der Bräutigam als sein Eigentum in die Familie bringt, nachdem er sich bereits damit geschadet? Und ist überhaupt etwas Hoffnungsvolles oder Vielversprechendes dabei?

»Ich denke, Sie sind nicht bitter enttäuscht«, sagte er laut.

»Zum Teufel, nein! nicht bitter«, lachte Gowan, »meine Leute sind das nicht wert, daß – obgleich es liebenswürdige Jungen sind und ich die größte Zuneigung für sie besitze. Und dann ist es herrlich, ihnen zu zeigen, daß ich ohne sie existieren kann und daß sie alle zum Teufel gehen können. Und dann sind ja auch die meisten Menschen im Leben auf die eine oder andre Art getäuscht worden und durch diese ihre Täuschung präpariert. Aber es ist eine schöne gute Welt, und ich liebe sie!«

»Sie liegt jetzt sehr schön vor Ihnen!« sagte Arthur.

»Schön wie dieser sommerliche Fluß«, rief der andre mit Enthusiasmus, »und ich glühe, beim Jupiter, vor Bewunderung und vor Begierde, den Wettlauf in ihr zu beginnen. Es ist die beste der alten Welten! Und mein Beruf! Die beste aller Berufsarten, nicht wahr?«

»Voll Interesse und Ehrgeiz, denke ich«, sagte Clennam.

»Und Betrug«, fügte Gowan lachend hinzu; »wir dürfen den Betrug nicht vergessen. Ich hoffe, ich werde nicht darunter erliegen; aber hier wird es sich zeigen, daß ich ein getäuschter Mann bin. Ich werde nicht imstande sein, ihm keck genug zu trotzen. Zwischen Ihnen und mir, glaube ich, ist eine Gefahr vorhanden, daß ich, der ich schon erbittert genug bin, das nicht werde tun können.«

»Was tun?« fragte Clennam.

»Es zu behaupten. Mir meinerseits zu helfen, wie mein Vordermann seinerseits sich hilft, und die Rauchflasche weitergehen zu lassen. Den Schein bewahren, als wenn man arbeitete, studierte, Geduld übte und seiner Kunst treu wäre, ihr manchen einsamen Tag widmete und ihr manches Vergnügen opferte und ganz in ihr lebte und so weiter – kurz, die Rauchflasche der Regel gemäß herumgehen zu lassen.«

»Aber es ziemt dem Mann, seinen Beruf zu respektieren, welcher Art er auch sei, und sich für verpflichtet zu erachten, ihn geltend zu machen und die Achtung für ihn zu fordern, die er verdient, nicht wahr?« behauptete Arthur. »Und Ihr Beruf, Gowan, kann wirklich diese Aufopferung und diesen Dienst verlangen. Ich gestehe, ich hätte geglaubt, jede Kunst verdiene das?«

»Was für ein guter Mensch Sie sind, Clennam!« rief der andre stehenbleibend, um ihn mit ununterdrückbarer Bewunderung anzusehen. »Was für ein herrlicher Mensch. Sie sind nie getäuscht worden, das ist leicht zu sehen.«

Es wäre so grausam gewesen, wenn er das wirklich gemeint hätte, daß Clennam fest entschlossen war, zu glauben, dies könne nicht seine Meinung sein. Gowan legte, ohne sich zu unterbrechen, die Hand auf seine Schulter und fuhr lachend und in leichtem Ton fort:

»Clennam, ich möchte Ihre schönen Visionen nicht zerstören und würde alles Geld (wenn ich welches hätte) geben, um in solch rosigem Nebel zu leben. Aber was ich bei meinem Geschäft tue, geschieht, um zu verkaufen. Was wir Kunstgenossen machen, machen wir, um zu verkaufen. Wenn wir nicht so teuer wie möglich zu verkaufen brauchten, würden wir’s gewiß nicht tun. Da es eine Arbeit ist, muß sie auch getan werden, aber sie ist leicht genug getan. Alles übrige ist Hokuspokus. Das ist einer von den Vorteilen oder Nachteilen, einen getäuschten Mann zu kennen. Sie hören die Wahrheit.«

Was er gehört, und mochte es diesen oder einen andern Namen verdienen, es prägte sich in Clennams Geiste tief ein. Es faßte solchermaßen Wurzel darin, daß er zu fürchten begann, Henry Gowan werde sein ganzes Leben trüben und er habe am Ende durch die Abdankung jenes Niemand mit all seinen Widersprüchen, Besorgnissen und Unbeständigkeiten nichts gewonnen. Er fühlte in seiner Brust noch immer einen Kampf zwischen seinem Versprechen, Gowan vor Mr. Meagles im hellsten Lichte zu zeigen, und dem dunklen Lichte, in dem ihm unwillkürlich Gowan beständig erschien. Auch konnte er seine gewissenhafte Natur gegen den Vorwurf, daß er ihn entstelle und verzerre, dadurch nicht wappnen, daß er sich vorhielt, er sei auf diese Entdeckungen ja nicht selbst ausgegangen und würde sie mit der größten Bereitwilligkeit und Freude sogar vermieden haben. Denn er konnte nie vergessen, was gewesen; und er wußte, daß ihm Gowan einst aus keinem andern Grunde mißfallen hatte, als weil er ihm in den Weg gekommen war.

Durch solche Gedanken beunruhigt, begann er zu wünschen, die Hochzeit wäre vorüber, Gowan und seine junge Frau wären abgereist und er wäre selbst mit der Erfüllung seines Versprechens und der Entledigung von der edlen Aufgabe, die er übernommen, beschäftigt. Die letzte Woche war in Wirklichkeit für das ganze Haus eine unbehagliche Zeit. Vor Pet und vor Gowan strahlte Mr. Meagles. Clennam hatte ihn jedoch mehr als einmal allein und sehr entstellt vor seiner Wage und Schaufel getroffen und hatte ihn oft den Liebenden im Garten oder sonstwo, da man ihn nicht sehen konnte, mit dem alten umwölkten Gesicht, auf das Gowan wie ein Schatten gefallen war, nachblicken sehen. Bei der Zurichtung des Hauses für die große Feierlichkeit mußte manches, was an die früheren Reisen von Vater, Mutter und Tochter erinnerte, anderswohin gestellt werden und ging von Hand zu Hand. Zuweilen konnte bei dem Anblick dieser stummen Zeugen des Lebens, das sie miteinander geführt hatten, auch Pet dem Schluchzen und Weinen nicht widerstehen. Mrs. Meagles, die heiterste und beschäftigtste aller Mütter, ging singend und aufmunternd umher; aber die ehrliche Seele flüchtete sich dann gewöhnlich in die Vorratskammern, wo sie weinte, bis ihre Augen rot waren, und schrieb, wenn sie wieder zum Vorschein kam, diese Erscheinung eingemachten Zwiebeln und Pfeffer zu und sang heiterer, denn zuvor. Mrs. Tickit, die keinen Balsam für ihr verwundetes Herz in Buchans »Hausarzt« fand, hatte viel unter ihrer Niedergeschlagenheit und den Erinnerungen, die ihr aus Minnies Kindheit aufstiegen, zu leiden. Wenn die letzteren recht lebendig vor ihre Seele traten, schickte sie gewöhnlich einen geheimen Boten hinauf, der auszurichten hatte, daß sie nicht salonmäßig angezogen sei und »ihr Kind« bitten lasse, ihr einen Augenblick in der Küche zu gönnen; da segnete sie dann ihres Kindes Gesicht und segnete ihres Kindes Herz und liebkoste ihr Kind unter Tränen und Glückwünschen, Hackbrettern, Rollhölzern, Pastetenkrusten mit der Zärtlichkeit einer anhänglichen alten Dienerin, der schönsten Zärtlichkeit, die es nur geben kann.

Aber es kommen die Tage, die kommen sollen; und der Hochzeitstag sollte kommen und kam; und mit ihm kamen alle die Barnacles, die zu dem Feste gebeten waren.

So Mr. Tite Barnacle, vom Circumlocution Office und News Street, Großvenor Square, mit der verschwenderischen Mrs. Tite Barnacle, geborenen Stiltstalking, die machte, daß die Quartale so langsam herbeikamen, und den drei verschwenderischen Miß Tite Barnacles, doppelt geladen mit Talenten und bereit loszugehen, und doch nicht mit der Schärfe von Blitz und Knall losgehend, wie man erwarten konnte, sondern höchstens schwelend. Ferner Barnacle junior, gleichfalls vom Circumlocution Office, der den Schiffszoll des Landes, von dem man annahm, daß er ihn unter seinen besondern Schutz genommen habe, in diesem Augenblick sich selbst überließ und, aufrichtig gesagt, dadurch der Wirksamkeit seines Schutzes nicht den geringsten Eintrag tat. Ferner der einnehmende junge Barnacle, von der heitern Seite der Familie abstammend und gleichfalls vom Circumlocution Office, half bei der ganzen Feierlichkeit in heiterer und angenehmer Weise und behandelte sie in seiner glänzenden Art, als eine der offiziellen Formen und Nebeneinkünfte des Kirchendepartements vom »Wie man’s nicht machen müsse«. Noch drei andere Barnacles von drei andern Bureaus waren zugegen, unschmackhaft für alle Sinne und des Einsalzens äußerst bedürftig, die die Hochzeit behandelten, wie sie den Nil, das alte Rom, den Dichter Milton oder Jerusalem »behandelt« hätten.

Aber es war noch feineres Wildbret zugegen als dieses, nämlich Lord Decimus Tite Barnacle selbst, mit dem Geruch des Circumlocution Office – mit dem echten Depeschenkapselgeruch an sich. Ja, Lord Decimus Tite Barnacle war zugegen, der auf den Schwingen eines Gedankens voll Entrüstung zu diesen bureaukratischen Höhen sich emporgeschwungen hatte, des Gedankens nämlich: Meine Lords, man sagt mir noch immer, daß es einem Minister dieses freien Landes zieme, der Philanthropie Ketten anzulegen, die Wohltätigkeit zu beschränken, den öffentlichen Geist zu fesseln, die Spekulation zu hemmen, das unabhängige Selbstvertrauen seines Volkes zu dämpfen. Das hieß mit andern Worten, man lasse diesen großen Staatsmann beständig wissen, dem Schiffspiloten zieme alles, nur nicht, daß er in dem privaten Brot- und Fischhandel am Ufer prosperiere, da die Menge imstande sei, durch angestrengtes Pumpen das Schiff ohne ihn über Wasser zu erhalten. In dieser erhabenen Entdeckung, in der großen Kunst, wie es nicht zu tun war, hatte Lord Decimus lange den höchsten Ruhm der Familie Barnacle gesucht. Mochte irgendein übelberichtetes Glied irgendeines Hauses versuchen, wie man es machen müsse, indem es eine Bill, die Sache doch noch zu erledigen, einbrachte: diese Bill war so gut wie tot und begraben, wenn Lord Decimus Tite Barnacle von seinem Platz aufstand und feierlich sagte, indem er sich in entrüsteter Majestät erhob – wobei auch die Circumlocution Office sich jauchzend um ihn erhob –, er müsse sich noch immer sagen lassen, es zieme ihm, als dem Minister dieses freien Landes, der Philanthropie Bande anzulegen, die Wohltätigkeit zu beschränken, den öffentlichen Geist zu fesseln, die Spekulation zu hemmen, das unabhängige Selbstvertrauen seines Volkes zu dämpfen. Die Entdeckung dieser Schicklichkeitsmaschine war die Entdeckung des politischen Perpetuum mobile. Sie nützte sich nie ab, obwohl sie in allen Abteilungen der Staatsverwaltung beständig in Bewegung war.

Mit seinem edlen Freund und Verwandten Lord Decimus war William Barnacle erschienen, der die ewig denkwürdige Koalition mit Tudor Stiltstalking begründet und der immer sein besonderes Rezept »Wie man’s nicht machen müsse« bereit hatte. Indem er bald den Sprecher leicht berührte und, um die Sache frisch aus ihm herauszulocken, zu ihm sagte: »Zuerst möchte ich Sie bitten, Sir, das Haus davon zu unterrichten, welche Vorgänge wir für das Verfahren haben, in das uns der ehrenwerte Herr hineinreißen will«, bald den ehrenwerten Herrn bat, ihm seine Ansicht von den Vorgängen mitzuteilen, bisweilen gar dem ehrenwerten Herrn sagte, er (William Barnacle) wolle nach einem Präzedenzfall suchen, oft aber auch den ehrenwerten Herrn mit der Bemerkung, daß kein Präzedenzfall existiere, auf der Stelle niederschlug. Präzedenzfall und Überstürzung waren jedoch unter allen Umständen das gut zusammenpassende Paar Schlachtrosse dieses gewandten Circumlocutionisten. Es half deshalb nichts, daß der unglückliche ehrenwerte Herr seit fünfundzwanzig Jahren vergeblich William hineinzureißen suchte – William Barnacle überließ es dem Haus und (in zweiter Hand) dem Land, ob er hineingerissen werden sollte. Abgesehen davon, daß es gänzlich unvereinbar mit der Natur der Dinge und dem Lauf der Ereignisse war, daß der unglückliche ehrenwerte Herr möglicherweise einen Präzedenzfall für die Sache beibringen konnte – William Barnacle dankte ihm gewöhnlich für diese ironische Freude, verständigte sich mit ihm über diesen Streitpunkt und sagte ihm ins Gesicht, daß es keinen Präzedenzfall für die Sache gebe. Es möchte vielleicht eingeworfen werden, die Weisheit William Barnacles sei keine große Weisheit, oder die Erde, die sie betrog, sei nie geschaffen worden oder, wenn durch einen raschen Mißgriff geschaffen, rein verrückt geblieben. Aber die Einwände Präzedenzfall und Überstürzung schreckten die meisten Leute von einem weiteren Einwurf ab.

Noch ein anderer Barnacle war erschienen, ein sehr lebendiger, der in rascher Reihenfolge zwanzig Stellen eingenommen und stets zwei bis drei innehatte und der sehr geachtete Erfinder einer Kunst war, die er mit großem Erfolg und vieler Bewunderung in allen Regierungsbranchen der Barnacles übte. Diese Kunst bestand darin, wenn eine parlamentarische Frage über irgendeinen wichtigen Punkt an ihn gerichtet wurde, eine Antwort über einen andern zu geben. Es hatte ihm dies ungeheure Dienste geleistet und ihn in große Achtung beim Circumlocution gebracht.

Außerdem war eine kleine Anzahl von weniger ausgezeichneten Barnacles vom Parlament anwesend, die sich noch keine Stellung errungen und ihre Probezeit bestanden, um sich würdig zu erweisen. Diese Barnacles saßen auf Treppen und standen in Gängen, den Befehl erwartend, ein Haus zu machen oder kein Haus zu machen. Und sie verrichteten all ihr »Hört! Hört!«- und »Oho«-Rufen, Beifallsäußern und Murren unter der Leitung der Häupter der Familie; und sie brachten Strohmannsanträge vor, um den Anträgen anderer Leute in den Weg zu treten. Sie verzögerten die Aussprache über unbequeme Dinge bis tief in die Nacht oder spät in die Sitzung. Dann aber riefen sie mit kräftigem Patriotismus, es sei zu spät; und sie gingen in das Land hinein, sooft man sie sandte, und schworen, daß Lord Decimus das Gewerbe aus einer Ohnmacht wieder ins Leben gerufen und den Handel aus einer Krise zur Gesundung gebracht, die Kornernte verdoppelt, die Heuernte vervierfacht und kein Stückchen Gold aus der Bank gelassen habe. Auch diesen Barnacles wurden, wie so viele andere Karten unter den Hauptkarten, durch die Häupter der Familie zu den öffentlichen Versammlungen und Diners ausgegeben, wo sie von allen Arten von Diensten ihrer edlen und ehrenwerten Verwandten Zeugnis ablegten und die Barnacles auf alle Arten von Toasten als Butter strichen. Sie standen bei allen Arten von Wahlen unter ähnlichem Befehl und verließen ihre Sitze auf den leisesten Wink und die unvernünftigsten Gründe hin, um für andre Platz zu machen. Sie holten und brachten, machten die Makler und bestachen, verschlangen Haufen von Schmutz und waren unermüdlich im öffentlichen Dienste. Und es war im ganzen Circumlocution Office keine Liste von Stellen, die innerhalb eines halben Jahrhunderts hätten vakant werden können, vom Lord Großschatzmeister bis zum chinesischen Konsul, und wieder hinauf bis zum Generalgouverneur von Indien, auf der nicht die Namen eines oder aller dieser hungrigen und sich überall anhängenden Barnacles als Bewerber geprangt hätten.

Es konnte natürlich nur eine kleine Zahl von jeder Klasse von Barnacles der Hochzeit anwohnen, denn es waren im ganzen nicht volle zwei Schock, und was will das heißen bei einer Legion! Aber diese kleine Anzahl erschien wie ein Schwarm in dem Landhause von Twickenham und füllte es vollständig. Ein Barnacle (assistiert von einem Barnacle) vollzog die Trauung des glücklichen Paares, und es ziemte sich, daß Lord Decimus Tite Barnacle selbst Mrs. Meagles zum Frühstück führte.

Die Unterhaltung war nicht so angenehm und ungezwungen, wie sie hätte sein können. Mr. Meagles, durch seine gute Gesellschaft umgelegt, während er sie im vollem Maß zu schätzen wußte, war nicht er selbst. Mrs. Meagles war sie selbst, aber das erhöhte seine Stimmung nicht. Die Einbildung, daß es nicht Mr. Meagles gewesen, der im Wege gestanden hatte, sondern die hohe Familie, und daß die hohe Familie eine Konzession gemacht, und daß nun eine schmeichelhafte Einmütigkeit herrsche, dieses Gefühl zog sich durch das ganze Fest, wenn es auch nicht offen ausgesprochen wurde. Und dann fühlten die Barnacles auch, daß sie ihrerseits mit den Meagles‘ abgeschlossen hätten, wenn der gegenwärtige herablassende Vorgang vorüber sei; und die Meagles‘ fühlten ihrerseits dasselbe. Gowan, der seine Rechte als getäuschter Mann geltend machte, der seinen Groll gegen die Familie hegte und seiner Mutter vielleicht nur darum gestattet hatte, sie hierherzubringen, weil er hoffte, sie würden sich ärgern, oder aus irgendeinem andern wohlwollenden Grunde – Gowan hielt ihnen seinen Pinsel und seine Armut mit großem Gepränge unter die Augen und sagte, er hoffe, mit der Zeit seiner Frau damit eine Kruste Brot und Käse zu erwerben, und bitte diejenigen von ihnen, die (reicher als er selbst) auf irgend etwas Gutes Anspruch machen und ein Bild kaufen könnten, sich gefälligst des armen Malers zu erinnern. Lord Decimus, der ein Wunder auf seinem Parlamentssockel war, manifestierte sich hier als der einfältigste Mensch von der Welt. Er wünschte nämlich der Braut und dem Bräutigam Glück in einer Reihe von Plattheiten, die jedem einfachen Schüler und Gläubigen das Haar hätte zu Berge stehen machen, und er trottelte mit der Selbstgefälligkeit eines dummen Elefanten in heulenden Labyrinthen von Sentenzen umher, die er für Landstraßen hielt, und aus denen er sich nur mit großer Mühe wieder herausfand. Mr. Tite Barnacle fühlte unwillkürlich, daß eine Person in der Gesellschaft sei, die ihn daran gehindert hatte, Sir Thomas Lawrence sein Leben lang in voller Amtstracht zu sitzen, wenn eine solche Störung möglich gewesen wäre. Während Barnacle junior mit Entrüstung zwei schalen jungen Leuten, seinen Verwandten, mitteilte: »Es ist ein Mensch hier, sehen Sie bloß mal an, der kam in unsere Verwaltungsabteilung ohne Vorladung und sagte, er möchte etwas wissen, wissen Sie; ja, und nun sehen Sie bloß mal an, wenn er jetzt loslegen könnte, wie er wollte, nicht wahr (denn man kann nie sagen, was solch ein ungebildeter Radikaler im nächsten Moment tut), und sagte, nicht wahr, er möchte im Augenblick etwas wissen, nicht wahr, das wäre hübsch, nicht wahr?«

Der schönste Teil dieses Festes war für Clennam bei weitem der schmerzlichste. Als Mr. und Mrs. Meagles zuletzt Pet in dem Zimmer mit den beiden Bildern (wo die Gesellschaft nicht war) umarmten, ehe sie sich mit ihr zu der Schwelle hinabbegaben, über die sie nie wieder als die alte Pet und die alte Freude schreiten sollte, konnte nichts natürlicher und einfacher sein, als diese drei Menschen waren. Gowan selbst war gerührt und antwortete auf Mr. Meagles‘: »O Gowan, sorgen Sie für sie, sorgen Sie für sie!« mit großem Ernst: »Grämen Sie sich nicht so sehr, Sir. Beim Himmel, ich werde für sie sorgen!« Mit einigen letzten Seufzern und noch einigen liebevollen Worten und einem letzten Blick auf Clennam, in dem das volle Vertrauen auf sein Versprechen lag, sank Pet in den Wagen zurück. Ihr Gatte winkte mit der Hand, und sie fuhren nach Dover, nicht früher freilich, als bis die getreue Mrs. Tickit in ihrem seidenen Kleid und mit ihren achatschwarzen Locken aus einem Schlupfwinkel hervorgekommen und ihre beiden Schuhe dem Wagen nachgeworfen hatte:17 eine Erscheinung, die großes Aufsehen bei der vornehmen Gesellschaft an den Fenstern erregte.

Da die Anwesenheit der genannten Gesellschaft nun nicht weiter erforderlich war und die ersten Barnacles ziemlich wichtig zu tun hatten (denn sie waren gerade in diesem Augenblick dabei, einen oder zwei Vasallen abzusenden und sie wie der fliegende Holländer in den Meeren umherschießen zu lassen, damit sie möglichst viel Verwirrung anrichteten und sich so für die Hemmung einer Menge wichtiger Geschäfte bemühten, die sonst womöglich erledigt worden wären), stob die Gesellschaft nach verschiedenen Richtungen auseinander, indem sie mit größter Freundlichkeit Mr. und Mrs. Meagles deutlich zu verstehen gab, daß sie das, was sie hier getan, als ein Opfer zum Besten von Mr. und Mrs. Meagles dargebracht hatte. Dies brachten diese Herrschaften denn auch stets Mr. John Bull bei ihrer amtlichen Herablassung zu diesem unglücklichen Geschöpf zum Ausdruck.18

Eine traurige Leere entstand in dem Haus und in den Herzen des Vaters, der Mutter und Clennams. Mr. Meagles rief jedoch eine Erinnerung zu Hilfe, die ihm sehr wohl tat.

»Es ist immerhin sehr angenehm, Arthur«, sagte er, »darauf zurückzublicken.«

»Auf die Vergangenheit?« sagte Clennam.

»Ja – aber ich meine die Gesellschaft.«

Es hätte ihn sonst weit mehr niedergedrückt und unglücklich gemacht, aber nun tat es ihm wirklich wohl. »Es ist sehr angenehm«, sagte er noch oft im Verlauf des Abends diese Bemerkung wiederholend: »Solch hohe Gesellschaft!«

  1. Ein alter Hochzeitsbrauch, der aber nur bei den einfachen Volksklassen noch üblich war.
  2. John Bull: die humoristische Personifikation des englischen Volkes; entsprechend dem deutschen Michel.

Fünfunddreißigstes Kapitel.


Fünfunddreißigstes Kapitel.

Was Mr. Pancks in Klein-Dorrits Hand gelesen hatte.

Es geschah um dieselbe Zeit, daß Mr. Pancks, getreu seinem Vertrag mit Clennam, ihm seine ganze Zigeunergeschichte enthüllte und Klein-Dorrits Geschichte erzählte. Ihr Vater war gesetzlicher Erbe eines großen Vermögens, das lange unbekannt dagelegen hatte, ohne daß jemand einen Anspruch erhoben hätte, und das sich inzwischen bedeutend vergrößert hatte. Sein Recht war jetzt klar; nichts lag im Wege, die Marschallgefängnispforten standen offen, einige Züge seiner Feder, und er war außerordentlich reich.

Bei dem Nachspüren nach den Ansprüchen auf den vollständigen Besitz hatte Mr. Pancks einen Scharfsinn an den Tag gelegt, den nichts aus der Fassung bringen, und eine Verschwiegenheit, die nichts ermüden konnte. »Ich vermutete, Sir«, sagte Pancks, »als Sie und ich in jener Nacht über Smithfield gingen und ich Ihnen sagte, was für eine Art von Einnehmer ich sei, daß das herausspringen würde. Ich dachte, Sir, als ich Ihnen sagte, Sie seien nicht von den Clennams von Cornwall, daß ich Ihnen einmal sagen könnte, wer zu den Dorrits von Dorsetshire gehöre.« Dann ging er zu den Einzelheiten über, wie, nachdem er jenen Namen in sein Notizbuch eingetragen, ihn anfangs der Name allein angezogen habe. Wie er, nachdem er schon oft gefunden, daß zwei ganz gleiche Namen, selbst wenn sie dem gleichen Orte angehören, keine nachweisbare nähere oder fernere Blutsverwandtschaft in sich schlössen. Wie er anfangs auch kein großes Gewicht darauf gelegt, wenn nicht in der Richtung, daß es ihn gereizt habe, zu wissen, welch eine überraschende Wendung in der Lage einer armen Näherin vorgehen würde, wenn man ihr zeigen könnte, daß sie an einem so großen Vermögen Anteil habe. Wie er selbst glaube, daß er die Sache weiter verfolgt, weil etwas Ungewöhnliches an dieser stillen, kleinen Näherin gewesen, das ihm gefiel und seine Neugier reizte. Wie er sich seinen Weg Zoll um Zoll fortgebahnt, und wie er sich Sandkorn um Sandkorn weiter »gemaulwurft« (das sein eigner Ausdruck) habe. Wie er im Anfang der Arbeit, die er durch jenes Wort bezeichnet – und das suchte Mr. Pancks noch ausdrucksvoller dadurch zu machen, daß er dazu die Augen schloß und sein Haar darüber schüttelte – wie er von plötzlichen Lichtblicken und Hoffnung in plötzliche Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit verfallen und wieder umgekehrt und so fort. Wie er im Gefängnisse Bekanntschaften gemacht, ausdrücklich, um aus- und eingehen zu können wie alle andern Aus- und Eingehenden; wie ihm der erste Lichtstrahl unbewußt von Mr. Dorrit und seinem Sohne gegeben worden, mit welchen beiden er leicht bekannt geworden, mit denen er viel gesprochen, scheinbar zufällig (»aber wohlgemerkt, immer wie ein Maulwurf wühlend«, sagte Mr. Pancks), und von denen er, ohne den geringsten Verdacht zu erwecken, zwei bis drei Punkte ihrer Familiengeschichte herausgebracht habe, die ihm, als er einmal den Leitfaden in der Hand hatte, weitere an die Hand gaben. Wie es endlich Mr. Pancks klar geworden, daß er den Erben eines großen Vermögens wirklich entdeckt und daß seine Entdeckung nur zu legaler Form und Vollendung zu reifen brauche. Wie er darauf seinen Wirt, Mr. Rugg, habe schwören lassen, das Geheimnis zu bewahren, und ihn ins Vertrauen gezogen hatte, damit er mit ihm »maulwurfe«. Wie sie John Chivery als einzigen Schreiber und Agenten angenommen, da sie gesehen, wem er ergeben war. Und wie sie bis zu dem Augenblick, wo angesehene Leute, die etwas in der Bank zu sagen haben und im Gesetze erfahren seien, ihre erfolgreichen Arbeiten für beendet erklärt, keinem andern menschlichen Wesen etwas verraten hätten.

»Wenn somit zuletzt noch alles zusammengebrochen wäre, Sir«, schloß Pancks, »wir wollen sagen vorgestern am Tage, ehe ich Ihnen unsre Papiere im Gefängnishof zeigte, oder sogar heute, so würde niemand anders als wir selbst grausam getäuscht oder einen Penny schlimmer daran gewesen sein.«

Clennam, der ihm beinahe beständig die Hände schüttelte, während er seinen Bericht abstattete, fühlte sich dadurch veranlaßt, mit einer Bestürzung, die selbst seine Vorbereitung auf die wichtige Entdeckung nicht mäßigen konnte, zu sagen: »Mein lieber Mr. Pancks, das muß Sie ja eine große Summe Geldes gekostet haben.«

»Allerdings, Sir«, sagte Pancks triumphierend. »Keine Kleinigkeit, obgleich wir es so billig machten, wie es möglich war. Und die Auslage war eine Schwierigkeit, lassen Sie mich Ihnen das sagen.«

»Eine Schwierigkeit?« wiederholte Clennam. »Aber die Schwierigkeiten haben Sie ja so wundervoll bei der ganzen Sache überwunden!« setzte er hinzu und schüttelte ihm wieder die Hand.

»Ich will Ihnen sagen, wie ich’s machte«, sagte der entzückte Pancks, indem er sein Haar so hoch strich, wie er selbst es war. »Zuerst verwandte ich alles, was ich selbst besaß. Das war nicht viel.«

»Das bedaure ich sehr«, sagte Clennam, »obgleich es jetzt nichts zu sagen hat. Was taten Sie dann?«

»Dann«, sagte Pancks, »borgte ich eine Summe von meinem Eigentümer.«

»Von Mr. Casby?« sagte Clennam. »Er ist ein herrlicher alter Mann.«

»Ein edler alter Junge, nicht wahr?« sagte Pancks, indem er eine Reihe trockenster Schnauber vernehmen ließ. »Ein großherziger alter Bock. Ein vertrauensvoller alter Knabe. Ein philantropischer alter Knabe. Ein wohlwollender alter Knabe! Zwanzig Prozent. Ich verpflichtete mich, ihn zu bezahlen, Sir. Wir machen in unserm Hause nie Geschäfte für weniger.«

Arthur hatte das drückende Gefühl, daß er in seinem Entzücken etwas zu voreilig gewesen.

»Ich sagte zu dem von christlicher Liebe übersprudelnden alten Mann«, fuhr Mr. Pancks fort, indem er großen Geschmack an diesem bezeichnenden Beiwort zu finden schien, »ich hätte ein kleines Projekt unter der Hand; ein hoffnungsvolles; ich sagte ihm, ein hoffnungsvolles, das ein kleines Kapital erfordere. Ich schlug ihm vor, mir das Geld auf meine Verschreibung zu leihen, was er auch tat, zu zwanzig Prozent; er hielt fest an den zwanzig Prozent und setzte sie in den Schuldschein, daß es aussah, als wär’s ein Teil von der Hauptsumme. Wenn die Sache mißlungen, wäre ich für die nächsten sieben Jahre sein Ausjäter zu halbem Lohn mit doppelter Arbeit geworden. Aber er ist ein vollkommener Patriarch; und es würde einem Manne gut anstehen, ihm auch unter solchen Bedingungen – ja unter jeder Bedingung zu dienen.«

Arthur hätte um sein Leben nicht mit Zuversicht sagen können, ob Pancks wirklich so dachte oder nicht.

»Als dies verbraucht war, Sir«, fuhr Pancks fort, »und es geschah, obgleich ich es tropfenweise, wie wenn es Blut wäre, ausgab, hatte ich Mr. Rugg ins Vertrauen gezogen. Ich nahm mir vor, von Mr. Rugg zu leihen (oder von Miß Rugg, was das nämliche ist; sie gewann einst etwas Geld durch eine Spekulation, die sie mit einem Prozesse machte). Er lieh zu zehn Prozent und hielt das für sehr hoch. Aber Mr. Rugg ist ein rothaariger Mann, Sir, und läßt sein Haar schneiden. Und der Boden seines Hutes ist hoch. Und die Krempe seines Hutes ist schmal. Und es sprudelt nicht mehr Wohlwollen aus ihm als aus einem Kegel.« »Ihre Belohnung für all das, Mr. Pancks«, sagte Clennam, »müßte sehr groß sein.«

»Ich zweifle auch nicht, daß ich sie erhalten werde«, sagte Pancks. »Ich habe keinen Vertrag gemacht. Ich war Ihnen allerdings einen solchen schuldig; aber jetzt ist der Handel perfekt. Ist die bare Auslage erledigt, der Zeitaufwand vergütet und Mr. Ruggs Rechnung bezahlt, so würden tausend Pfund eine glänzende Belohnung für mich sein. Diese Sache übergebe ich jedoch ganz in Ihre Hände. Ich ermächtige Sie, es der Familie in der Art, die Sie für die beste halten, mitzuteilen. Miß Amy Dorrit wird diesen Morgen bei Mrs. Finching sein. Je früher je besser. Kann nicht zu früh getan werden.«

Dies Gespräch fand in Clennams Schlafzimmer statt; er lag noch im Bett. Denn Mr. Pancks hatte sehr frühzeitig am Haus gepocht und sich Eingang verschafft; und ohne sich einen Augenblick niederzusetzen oder stille zu stehen, sich all seiner Einzelheiten (durch eine Menge von Dokumenten illustriert) vor dem Bett entledigt. Er sagte nun, er wolle »gehen und nach Mr. Rugg sehen«, von dem sein aufgeregtes Gemüt einen zweiten Purzelbaum zu erwarten schien. Nachdem er seine Papiere zusammengebunden und Clennam nochmals herzlich die Hand geschüttelt hatte, ging er in voller Eile die Treppe hinab und dampfte davon.

Clennam natürlich beschloß direkt zu Mr. Casby zu gehen. Er zog sich an und ging so rasch aus, daß er beinahe eine Stunde früher, als sie dahin kam, an der Ecke der patriarchalischen Straße stand; es war ihm dies jedoch nicht unangenehm, da er dadurch Gelegenheit hatte, sich durch einen gemächlichen Gang zu beruhigen.

Als er nach der Straße zurückkam und mit dem schönen Messingklopfer gepocht hatte, erfuhr er, daß sie da sei, und man wies ihn nach Floras Frühstückszimmer die Treppe hinauf. Klein-Dorrit selbst war nicht zugegen, dagegen Flora, die das größte Erstaunen an den Tag legte, ihn zu sehen.

»Mein Gott – Arthur – Doyce und Clennam!« rief die Dame. »Wer hätte je gedacht, daß ich Sie sehen würde; und bitte, entschuldigen Sie meinen Morgenrock, aber wahrhaftig, ich dachte nicht, und eine abgeschossene Jacke dazu, was noch schlimmer; aber unsre kleine Freundin macht mir einen, ich kann das wohl vor Ihnen sagen, denn Sie müssen wissen, daß es dergleichen gibt, einen Leib, und da ich es so arrangiert, daß nach dem Frühstück anprobiert werden sollte, so konnte ich nicht schon so steif angezogen sein.«

»Ich müßte mich entschuldigen«, sagte Arthur, »daß ich so früh und so unerwartet einen Besuch mache; aber Sie werden mich entschuldigen, wenn ich Ihnen die Ursache sage.«

»In jenen Zeiten, die für immer dahin sind, Arthur«, versetzte Mrs. Finching, »bitte entschuldigen Sie, Doyce und Clennam wäre unendlich passender, und obgleich sie unleugbar fern sind, die Entfernung verleiht den Dingen Reiz, ist das mindestens nicht meine Ansicht – wenn sie es wäre, glaube ich, würde viel von der Natur jener Dinge abhängen, aber ich laufe da wieder mit meinen Gedanken davon, und Sie haben mir ja all das aus dem Kopf vertrieben.“

Sie blickte ihn zärtlich an und fuhr fort:

»In Zeiten, die für immer dahin sind, wollte ich sagen, würde es wirklich sehr seltsam für Arthur Clennam geklungen haben – Doyce und Clennam sind natürlich ganz verschieden –, sich wegen irgendeiner Stunde seines Besuches zu entschuldigen, aber das ist vorbei, und was vorbei ist, kann nimmer zurückgerufen werden, ausgenommen in seiner eignen Sache, wie der arme Mr. Finching sagte, wenn er in seiner Gurkenstimmung war; deshalb aß er nie welche.«

Sie machte den Tee, als Arthur eintrat, und beendigte dies Geschäft nun in aller Eile.

»Papa«, sagte sie ganz geheimnisvoll und flüsternd, indem sie den Deckel des Teekessels schloß, »Papa sitzt prosaisch im hintern Zimmer und klopft sich sein frisches Ei über dem Cityartikel auf, genau wie ›der Specht klopft‹, und braucht nicht zu wissen, daß Sie hier sind: und unsre kleine Freundin, wissen Sie wohl, der kann man alles anvertrauen, wenn sie herunterkommt: denn sie schneidet droben auf dem großen Tisch zu.«

Arthur sagte ihr dann in wenigen Worten, daß er gekommen sei, ihre kleine Freundin aufzusuchen, und was er ihrer kleinen Freundin anzukündigen habe. Bei dieser erstaunlichen Mitteilung schlug Flora die Hände zusammen, verfiel in ein Zittern und vergoß Tränen der Teilnahme und Freude, da sie wirklich ein gutmütiges Geschöpf war.

»Um des Himmels willen lassen Sie mich fort»«, sagte Flora, ihre Hände an die Ohren legend und nach der Türe zu gehend, »sonst weiß ich, ich sterbe und schreie laut auf und mache alles schlimmer, und das gute kleine Ding, das noch diesen Morgen so sauber und nett und gut und doch so arm aussah, – nun ist sie wirklich reich, und sie verdient es! Und darf ich es Mr. Finchings Tante sagen, Arthur, nicht Doyce und Clennam dies eine Mal, oder wenn Sie etwas dagegen einzuwenden haben, unter keiner Bedingung.«

Arthur nickte ihr seine bereitwillige Erlaubnis zu, da Flora allen wörtlichen Austausch unmöglich machte. Flora nickte wieder, um zu danken, und eilte aus dem Zimmer.

Klein-Dorrits Schritte waren bereits auf der Treppe, und im nächsten Augenblick stand sie an der Tür. Er mochte tun, was er wollte, um sich zu fassen, er konnte es doch nicht zu dem gewöhnlichen ruhigen Ausdruck bringen, denn als sie ihn erblickte, ließ sie ihre Arbeit sinken und rief: »Mr. Clennam! Was gibt es!«

»Nichts, nichts. Das heißt, es ist kein Unglück geschehen. Ich bin gekommen, um Ihnen eine Mitteilung zu machen. Aber es ist etwas sehr Glückliches.«

»Glückliches?«

»Ein großes Glück.«

Sie standen an dem Fenster, und ihre lichtvollen Augen waren auf sein Gesicht geheftet. Er schlang einen Arm um sie, da er sah, daß sie nahe daran war, umzusinken. Sie legte eine Hand auf diesen Arm, teilweise, um darauf auszuruhen, teilweise, um so ihre gegenseitige Stellung zu bewahren, damit ihr gespannter Blick auf ihn durch keine Veränderung in der Stellung beider zueinander erschüttert werde. Ihre Lippen schienen zu wiederholen: »Ein großes Glück?« Er wiederholte es laut.

»Liebe Klein-Dorrit! Ihr Vater!«

Das Eis des blassen Gesichts brach bei diesem Worte zusammen, und kleine Lichter und Blitze voll Ausdrucks flogen darüber hin. Es waren lauter Ausdrücke des Schmerzes. Ihr Atem ging schwach und rasch. Ihr Herz schlug heftig. Er hätte die kleine Gestalt fester umfaßt, aber er sah, daß die Augen ihn baten, sich nicht zu bewegen.

»Ihr Vater kann in dieser Woche noch frei sein. Er weiß es nicht; wir müssen von hier aus zu ihm gehen, um es ihm zu sagen. Ihr Vater wird in wenigen Tagen frei sein. Ihr Vater wird in wenigen Stunden frei sein. Vergessen Sie nicht, wir müssen von hier aus zu ihm gehen, um es ihm zu sagen.«

Das brachte sie zu sich. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie öffneten sich wieder.

»Das ist nicht alles Glück. Das ist nicht all das große Glück, meine teure Klein-Dorrit. Soll ich Ihnen noch mehr sagen?«

Ihre Lippen bewegten sich zu einem »Ja«.

»Ihr Vater wird kein Bettler sein, wenn er frei ist. Es wird ihm nichts mangeln. Soll ich Ihnen mehr sagen? Vergessen Sie nicht. Er weiß nichts davon, wir müssen von hier aus zu ihm gehen, um es ihm zu sagen.«

Sie schien ihn um etwas Zeit zu bitten. Er hielt sie in seinen Armen und beugte nach einer Pause sein Ohr hinab, um zu lauschen.

»Wollen Sie, daß ich fortfahre?«

»Er wird ein reicher Mann sein. Er ist ein reicher Mann. Eine große Summe Geldes liegt bereit, um ihm als seine Erbschaft ausbezahlt zu werden; Sie sind von nun an alle sehr reich. Bravstes und bestes der Kinder, ich danke dem Himmel, daß er Sie belohnt.«

Als er sie küßte, wandte sie ihren Kopf nach seiner Schulter und erhob ihren Arm nach seinem Hals; dann rief sie laut: »Vater! Vater! Vater!« und sank in Ohnmacht.

In diesem Augenblick kehrte Flora zurück; sie nahm sich ihrer an und hob sie auf ein Sofa, indem sie ihre freundlichen Dienste in so verwirrender Weise mit unzusammenhängenden Gesprächssplittern vermischte, daß niemand mit einigem Sinn für Verantwortlichkeit hätte zu entscheiden wagen können, ob sie das Marschallgefängnis nötigte, einen Löffel voll ungeforderter Dividenden zu nehmen, weil es ihm gut tun würde, oder ob sie Klein-Dorrits Vater gratulierte, daß er in den Besitz von hunderttausend Riechfläschchen komme; oder ob sie erkläre, daß sie fünfundsiebenzigtausend Tropfen Lavendelspiritus auf fünfzigtausend Pfund Stückzucker setze und Klein-Dorrit bitte, dieses sanfte Stärkungsmittel zu nehmen, oder ob sie die Stirn von Doyce und Clennam in Essig bade und dem verstorbenen Mr. Finching mehr Luft gebe. Ein Nebenstrom von Verwirrung kam ferner aus einem anstoßenden Schlafzimmer, wo Mr. Finchings Tante nach dem Ton ihrer Stimme in einer horizontalen Lage das Frühstück zu erwarten schien. Aus diesem Verließ schleuderte diese unerbittliche Dame kurze Schmähungen herein, sooft sie merkte, daß man sie hören konnte, wie: »Glaubt ihm nicht, daß er dies tut!« und »Er braucht keinen Glauben für sich deshalb in Anspruch zu nehmen!« und »Es wird lange genug dauern, denke ich, bis er etwas von seinem Geld hergibt!« – alles in der Absicht, Clennams Anteil an der Entdeckung herunterzusetzen und die eingewurzelten Gefühle, mit denen ihn Mr. Finchings Tante beehrte, auszusprechen.

Aber Klein-Dorrits Wunsch, zu ihrem Vater zu kommen und ihm die freudige Nachricht zu bringen und ihn nicht einen Augenblick länger in seinem Kerker zu lassen, während dies Glück auf ihn wartete und ihm noch unbekannt war, trug mehr zu ihrer raschen Erholung bei, als alle Geschicklichkeit und Wartung auf Erden hätten tun können. »Kommen Sie mit mir zu meinem teuren Vater. Bitte, kommen Sie mit und sagen Sie es meinem teuren Vater!« waren die ersten Worte, die sie sprach. Ihr Vater, ihr Vater. Sie sprach von nichts als von ihm, dachte an nichts als an ihn. Sie kniete nieder und ergoß sich mit aufgehobenen Händen in Dank gegen Gott; sie dankte für ihren Vater.

Floras zartes Herz war ganz angegriffen, und sie ergoß sich mitten unter Tassen und Untertassen in einen herrlichen Strom von Tränen und Reden.

»Ich gestehe«, seufzte sie, »ich war nie so ergriffen, seit Ihre Mama und mein Papa, nicht Doyce und Clennam, nur dies eine Mal, aber geben Sie doch dem köstlichen kleinen Ding eine Tasse Tee und machen Sie, daß sie sie wenigstens an die Lippen setzt, bitte Arthur, nicht mal bei Mr. Finchings letzter Krankheit; denn sie war von ganz anderer Art, und Gicht ist keine Kinderkrankheit, obgleich sehr schmerzlich für alle Teile, und Mr. Finching war ein Märtyrer mit seinem Bein auf einem Schemel; und der Weinhandel an und für sich ist entzündlich; denn man trinkt mehr oder weniger selbst, und wer kann sich wundern, es scheint mir wahrhaftig wie ein Traum diesen Morgen noch an gar nichts zu denken und nun Bergwerke von Gold. Es ist merkwürdig, aber Sie müssen mein Liebling weil Sie nicht stark genug sein werden ihm alles zu sagen, Teelöffel zu nehmen, wäre es nicht am besten die Anweisungen meines Arztes zu befolgen; denn obgleich der Geschmack alles nur nicht angenehm ist, zwinge ich mich doch dazu, weil es mal vorgeschrieben und finde daß es gut tut, Sie haben vielleicht keine Lust, warum nicht meine Liebe, ich möchte auch lieber nicht; aber ich tue es doch, weil’s eine Pflicht ist. Alle Leute werden Ihnen gratulieren, die einen im Ernst, die andern nicht und viele werden Ihnen aus vollem Herzen gratulieren, aber niemand so von ganzer Seele, das darf ich Sie versichern, als ich wenn ich auch fühle, daß ich unbesonnen herausplatze und töricht bin und darnach von Arthur, diesmal nicht Doyce und Clennam beurteilt werde. Leben Sie wohl denn und Gott segne Sie und mögen Sie glücklich sein und entschuldigen Sie meine Freiheit. Ich gelobe Ihnen, das Kleid von niemand anderem fertig machen zu lassen. Es soll, wie es ist, als Andenken aufbewahrt und Klein-Dorrit genannt werden, obgleich ich nie wußte und nun auch nie mehr erfahren werde, woher dieser seltsamste aller Namen kommt.«

So sprach Flora, als sie von ihrem Liebling Abschied nahm. Klein-Dorrit dankte ihr und umarmte sie wieder und wieder; und verließ zuletzt das Haus mit Clennam und nahm einen Wagen nach dem Marschallgefängnis.

Es war eine seltsam, gleichsam träumerische Fahrt durch die alten schmutzigen Straßen. Sie hatte ein Gefühl, über sich hinaus in eine luftige Welt des Reichtums und der Größe gehoben zu sein. Als Arthur ihr sagte, daß sie bald in ihrem eigenen Wagen durch ganz andere Gegenden fahren würde, wo all diese schlimmen Erfahrungen vorüber wären, schien sie bange Furcht zu ergreifen. Als er jedoch ihren Vater an ihre Stelle setzte und ihr sagte, wie er in seinem Wagen fahren und wie groß und stolz er sein würde, da flossen die Tränen der Freude und des unschuldigen Stolzes in Strömen. Als er sah, daß das Glück, das ihr Geist sich vorstellen konnte, alles auf jenen fiel, hielt Arthur ihr diese einzelne Gestalt vor Augen, und sie fuhren strahlend durch die armen Straßen in der Nähe des Gefängnisses, um ihm die wichtige Neuigkeit zu bringen.

Als Mr. Chivery, der heute das Schließeramt hatte, sie in das Pförtnerstübchen einließ, sah er etwas in ihren Gesichtern, das ihn mit Staunen erfüllte. Er blickte ihnen nach, wie sie in das Gefängnis eilten, als ob er sähe, daß jedes von beiden in Begleitung eines Gespenstes zurückgekommen. Zwei oder drei Kollegen, an denen sie vorübergegangen, sahen ihnen ebenfalls nach und bildeten, zu Mr. Chivery tretend, auf der Treppe des Pförtnerstübchens eine Gruppe, unter der von selbst die flüsternde Bemerkung entstand, der Vater werde wohl seine Freiheit erhalten. Nach wenigen Minuten hörte man es in dem entferntesten Winkel des Gefängnisses.

Klein-Dorrit öffnete die Tür von außen, und sie traten ein. Er saß in seinem alten grauen Rock und seiner alten schwarzen Mütze im Sonnenlicht am Fenster und las seine Zeitung. Er hielt die Brille in der Hand und sah sich gerade um. Ohne Zweifel war er anfangs erstaunt, als er ihren Tritt auf der Treppe hörte, da er sie nicht vor Nacht erwartet hatte, und war nun wieder erstaunt, als er Arthur Clennam in ihrer Gesellschaft sah. Als sie eintraten, machte ihn derselbe ungewohnte Blick bei beiden, der schon unten im Hofe Aufsehen erregt, verdutzt. Er stand nicht auf und sprach nicht, sondern legte seine Brille und seine Zeitung auf den Tisch neben sich und sah sie mit offenem Munde und zitternden Lippen an. Als Arthur seine Hand ausstreckte, berührte er sie, aber nicht mit seiner gewöhnlichen Würde; dann wandte er sich nach seiner Tochter um, die sich dicht neben ihn gesetzt und die Hände auf seine Schulter gelegt hatte, während sie ihm aufmerksam ins Gesicht sah.

»Vater! ich bin diesen Morgen so glücklich gemacht worden!«

»Du bist so glücklich gemacht worden, meine Liebe?«

»Durch Mr. Clennam, Vater. Er brachte mir eine so heitere und herrliche Nachricht über dich! Wenn er mich nicht mit seiner großen Freundlichkeit und Güte darauf vorbereitet hätte, Vater – mich darauf vorbereitet, Vater – ich glaube, ich hätte es nicht ertragen.«

Ihre Aufregung war außerordentlich groß, und die Tränen rollten ihr über das Gesicht. Er legte seine Hand plötzlich auf sein Herz und sah Clennam an.

»Beruhigen Sie sich, mein Herr«, sagte Clennam, »und nehmen Sie sich ein wenig Zeit, zu denken. Zu denken an die glänzendsten und glückseligsten Ereignisse des Lebens. Wir haben alle schon von großen freudigen Überraschungen gehört. Es gibt noch immer welche. Sie sind selten, aber es gibt noch immer welche.«

»Mr. Clennam? Es gibt noch immer welche? noch immer welche für –-« Er legte die Hand auf die Brust, statt »mich« zu sagen.

»Ja«, versetzte Clennam.

»Was für eine Überraschung«, fragte er, indem er seine linke Hand auf dem Herzen ruhen ließ und sich unterbrach, während er seine Brille flach auf den Tisch legte: »was für eine Überraschung kann mir vorbehalten sein?«

»Lassen Sie mich mit einer andern Frage antworten. Sagen Sie mir, Mr. Dorrit, welche Überraschung könnte für Sie die unerwartetste und erwünschteste sein? Fürchten Sie nicht, sie sich zu denken oder zu sagen, was es sein könnte.«

Er sah Clennam fest ins Auge und schien, während er ihn so anblickte, sich in einen sehr alten, häßlichen Mann zu verwandeln. Die Sonne schien hell auf die Mauer gegenüber von dem Fenster und auf die Eisenspitzen oben. Er streckte langsam die Hand aus, die auf seinem Herzen geruht, und deutete auf die Mauer.

»Sie sind niedergerissen«, sagte Clennam. »Fort!«

Er blieb in derselben Stellung und sah ihn noch immer unbewegt an.

»Und statt ihrer«, sagte Clennam langsam und deutlich, »sind Ihnen die Mittel geboten, das Höchste zu besitzen und zu genießen, was man so lange Ihnen genommen hatte. Mr. Dorrit, es ist nicht der geringste Zweifel mehr vorhanden, daß Sie in wenigen Tagen frei und unendlich glücklich sein werden. Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen zu diesem Glückswechsel und zu der heitern Zukunft, in die Sie bald den Schatz führen werden, mit dem Sie hier gesegnet waren – den besten aller Reichtümer, die Sie jemals besitzen können – den Schatz an Ihrer Seite.«

Mit diesen Worten drückte er seine Hand und ließ sie los; und seine Tochter, die ihr Gesicht an das seine lehnte, umarmte ihn in dieser Stunde des Glücks, wie sie ihn in den langen Jahren seines Unglücks mit ihrer Liebe, Mühe und Treue umfangen, und ergoß ihr volles Herz in Dankbarkeit, Hoffnung, Freude, glücklicher Begeisterung, und alles für ihn.

»Ich werde ihn sehen, wie ich ihn noch nie gesehen. Ich werde meinen teuren, lieben Vater sehen, wenn keine dunkle Wolke mehr ihn beschattet. Ich werde ihn sehen, wie ihn meine Mutter vor langem gesehen. O mein Lieber, mein Lieber! O Vater, Vater! O Dank dir, Gott, Dank dir, Gott!«

Er gab sich ihren Küssen und Liebkosungen hin, erwiderte sie jedoch nicht, nur seinen Arm schlang er um sie. Auch sagte er kein Wort. Sein fester Blick war nun zwischen ihr und Clennam geteilt, und er begann zu erschauern, als ob er fröre. Arthur sagte Klein-Dorrit, daß er eiligst eine Flasche Wein aus dem Kaffeehaus holen wollte, und tat dies so rasch er konnte. Während der Wein vom Keller heraufgeschafft wurde, fragten ihn eine Anzahl aufgeregter Leute, was geschehen sei, worauf er ihnen in der Eile mitteilte, daß Mr. Dorrit zu Vermögen gekommen.

Als er mit dem Wein wieder zurückkam, fand er, daß sie ihren Vater in seinen Lehnstuhl gebracht und sein Hemd und Halstuch bequemer gemacht. Sie füllten ein Glas mit Wein und hielten es an seine Lippen. Als er etwas geschluckt, nahm er das Glas selbst und leerte es. Bald darauf lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und weinte mit seinem Taschentuch vor dem Gesicht.

Nachdem dies eine Weile gedauert, hielt es Clennam für den rechten Augenblick, seine Aufmerksamkeit von der bloßen Überraschung abzulenken, indem er ihm die Einzelheiten erzählte. Langsam und mit ruhigem Ton setzte er ihm deshalb, so gut er konnte, alles auseinander und verbreitete sich über die Art der Dienste, die Pancks geleistet.

»Er soll – hm – soll schön belohnt werden, Sir«, sagte der Vater aufspringend und rasch im Zimmer auf und ab gehend. »Ich versichere Sie, Mr. Clennam, daß jedermann, der dabei beteiligt ist, – hm – nobel belohnt werden soll. Niemand, mein Herr, soll sagen, daß er einen unbefriedigten Anspruch an mich habe. Ich werde die – hm – die Vorschüsse, die Sie mir gemacht haben, Sir, mit besonderem Vergnügen zurückbezahlen. Ich bitte Sie ferner, sobald es Ihnen bequem ist, mir mitzuteilen, welche Vorschüsse Sie meinem Sohn gemacht.«

Er hatte keine Absicht bei seinem Im-Zimmer-auf-und-ab-Gehen, aber er konnte keinen Augenblick stillstehen.

»Jedermann soll bedacht werden«, sagte er. »Ich will nicht von hier weggehen, solange ich noch in jemandes Schuld stehe. Alle Leute, die sich – hm – gegen mich und meine Familie gut benommen haben, sollen belohnt werden. Chivery soll belohnt werden. Der junge John soll belohnt werden. Ich wünsche ausdrücklich und beabsichtige höchst freigebig zu handeln, Mr. Clennam.«

»Wollen Sie mir erlauben«, sagte Arthur, indem er seine Börse auf den Tisch legte, »Sie für die nächsten Bedürfnisse mit Geld zu versehen, Mr. Dorrit? Ich hielt es für das Beste, Ihnen eine Summe Geldes für diesen Zweck zu bringen.«

»Ich danke Ihnen, Sir, ich danke Ihnen. Ich nehme bereitwillig im gegenwärtigen Augenblick an, was ich noch vor einer Stunde nicht mit gutem Gewissen hätte annehmen können. Ich bin Ihnen für die zeitweilige Aushilfe zu Dank verpflichtet, nur ganz zeitweilig, aber wohl angebracht – wohl angebracht.« Seine Hand hatte sich über dem Geld geschlossen, und er trug es mit sich herum. »Seien Sie so freundlich, Sir, den Betrag zu den früheren Vorschüssen zu schreiben, von denen ich vorhin sprach! und seien Sie gefälligst besorgt, die meinem Sohne gemachten Vorschüsse nicht zu vergessen. Eine einfache mündliche Nachweisung der Totalsumme ist alles, was ich – hm – verlange.«

Sein Blick fiel hierbei auf seine Tochter, und er hielt einen Augenblick inne, um sie zu küssen und ihr über den Kopf zu streichen.

»Es wird nötig sein, eine Putzmacherin aufzusuchen, meine Liebe, und in deinem sehr einfachen Anzug eine rasche und vollständige Änderung eintreten zu lassen. Etwas muß auch mit Maggy geschehen, die im Augenblick – hm – nur leidlich, nur leidlich aussieht. Und deine Schwester, Amy, und dein Bruder. Und mein Bruder, dein Oheim – die arme Seele, ich hoffe, das wird ihn aufraffen – man muß zu ihm schicken und ihn holen lassen. Sie müssen davon unterrichtet werden. Wir müssen es ihnen vorsichtig mitteilen, aber man muß sie sogleich davon unterrichten. Wir sind es ihnen und uns als Pflicht schuldig, von diesem Augenblick sie nichts mehr – hm – nichts mehr tun zu lassen.«

Dies war die erste Andeutung, die er je gegeben hatte, daß er darum wußte, daß sie für den Lebensunterhalt arbeiteten.

Er ging immer noch im Zimmer umher, die Börse fest in der Hand haltend, als ein großes Jubelgeschrei in dem Hofe drunten entstand. »Die Nachricht hat sich bereits verbreitet«, sagte Clennam vom Fenster hinabblickend. »Wollen Sie sich ihnen zeigen, Mr. Dorrit? Sie sind sehr begeistert und wünschen es offenbar.«

»Ich – hm – ha – ich gestehe, ich hätte gewünscht, meine liebe Amy«, sagte er, mit noch größerer Unruhe als zuvor im Zimmer hin und her gehend, »ich hätte gewünscht, vorher mit meiner Kleidung einige Aenderung vornehmen zu können und eine – hm – eine Uhr und Kette zu kaufen. Aber wenn es so geschehen muß, wie die Sachen stehen, – hm – so muß es eben geschehen. Knüpfe mir das Hemd oben zu, meine Liebe. Mr. Clennam, wollen Sie die Güte haben, mir – hm – ein blaues Halstuch zu geben, das Sie in der Schublade neben Ihrem finden werden. Knöpfe meinen Rock über der Brust zusammen, meine Liebe. Er sieht besser aus, – hm – wenn er geknöpft ist.«

Mit seiner zitternden Hand strich er sein Haar in die Höhe und erschien, auf Clennam und seine Tochter gestützt, am Fenster, indem er einen Arm auf beide lehnte. Die Kollegen begrüßten ihn ungemein herzlich, und er warf ihnen mit großer Urbanität und Herablassung Kußhände zu. Als er sich wieder in das Zimmer zurückzog, sagte er: »Die armen Geschöpfe!« in einem Tone voll Mitleid für ihre elende Lage.

Klein-Dorrit war von dem eifrigen Wunsch beseelt, daß er sich niederlegen möchte, um etwas Ruhe und Fassung zu gewinnen. Als Arthur ihr seine Absicht kundgab, daß er gehen wolle, um Pancks zu benachrichtigen, daß er jetzt so bald kommen könne, wie er wolle, um das heitere Geschäft zu Ende zu bringen, bat sie ihn flüsternd zu bleiben, bis ihr Vater ganz ruhig sei. Es bedurfte keiner zweiten Bitte; und sie richtete ihres Vaters Bett her und bat ihn, sich niederzulegen. Die nächste halbe Stunde ließ er sich zu nichts bewegen, sondern ging im Zimmer umher und verhandelte mit sich die Wahrscheinlichkeit für und wider des Marschalls Erlaubnis, daß die ganze Masse der Gefangenen an den Fenstern des Amtsgebäudes, die nach der Straße gingen, sich aufstellen dürfe, um ihn und seine Familie in einem Wagen für immer scheiden zu sehen – was, wie er sagte, seiner Ansicht nach ein großes Schauspiel für sie wäre. Nach und nach begann er jedoch das Haupt zu senken und müde zu werden und legte sich zuletzt auf das Bett.

Sie nahm ihren treuen Platz neben ihm ein und fächelte ihm Luft zu und kühlte seine Stirn; und er schien einzuschlafen (immer mit dem Geld in der Hand), als er sich plötzlich unerwartet aufsetzte und sagte:

»Mr. Clennam, ich bitte um Verzeihung. Soll ich es so verstehen, daß ich – hm – jetzt gleich durch das Pförtnerstübchen gehen und – hm – einen Spaziergang machen dürfte?«

»Ich denke nicht, Mr. Dorrit«, lautete die zögernde Antwort. »Es sind gewisse Formen zu beobachten: und obgleich Ihre Gefangenhaltung hier an und für sich nur noch eine Form ist, so fürchte ich doch, daß es eine Form sei, die noch etwas länger beobachtet werden muß.«

Er vergoß bei diesen Worten wiederum Tränen.

»Nur noch wenige Stunden, Sir«, drängte Clennam freundlich.

»Noch wenige Stunden«, entgegnete er mit plötzlich erwachender Leidenschaftlichkeit. »Sie sprechen sehr leicht von Stunden, Sir! Wie lange glauben Sie, Sir, daß eine Stunde für einen Mann dauert, der nach Luft schmachtet?«

Es war eine letzte Demonstration für diesmal, denn nachdem er noch einige Tränen geweint und sich jammernd beklagt, daß er nicht atmen könne, fiel er nach und nach in Schlummer. Clennam hatte reichliche Beschäftigung für seine Gedanken, als er in dem stillen Zimmer saß und den Vater auf seinem Bett und die Tochter betrachtete, die seinem Gesicht Kühlung zufächelte.

Klein-Dorrit sann gleichfalls nach. Nachdem sie sanft sein graues Haar auf die Seite gestrichen und mit ihren Lippen seine Stirn berührt, sah sie Arthur an, der näher zu ihr herankam und in einem leisen Geflüster den Gegenstand ihrer Gedanken fortsetzte.

»Mr. Clennam, wird er alle Schulden bezahlen können, ehe er von hier weggeht?«

»Ohne Zweifel alle.«

»Alle Schulden, wegen deren er, solange ich lebe und noch länger, hier gefangen sitzt?«

»Ohne Zweifel.«

Es lag etwas wie Ungewißheit und Einwendung in ihrem Blick, etwas, das nichts weniger als Befriedigung war. Er hätte gerne gewußt, was es sei, und sagte:

»Sie freuen sich, daß er es tut?«

»Und Sie?« fragte Klein-Dorrit neugierig.

»Ob ich? Gewiß von Herzen freut es mich!«

»Dann weiß ich, daß es auch mich freuen darf.«

»Freut es Sie nicht?«

»Es erscheint mir hart«, sagte Klein-Dorrit, »daß er so viele Jahre verloren und so viel gelitten und zuletzt doch alle Schulden bezahlen soll. Es erscheint mir hart, daß er mit seinem Leben und seinem Geld bezahlen soll.«

»Mein liebes Kind« – begann Clennam.

»Ja, ich weiß, ich habe unrecht«, verteidigte sie sich ängstlich, »denken Sie nichts Schlechtes von mir. Es ist hier mit mir aufgewachsen.«

Das Gefängnis, das einem so manches rauben kann, hatte Dorrits Gemüt nicht weiter befleckt. Nachdem einmal Verwirrung in die Teilnahme für ihren Vater, den armen Gefangenen, eingetreten, war dies der erste Fleck der Gefängnisatmosphäre, den Clennam je an ihr gesehen hatte, und war der letzte Fleck, den Clennam je an ihr sah.

Er dachte dies und unterließ es, ein weiteres Wort zu sagen. Mit diesem Gedanken traten ihre Reinheit und Güte vor ihm in das hellste Licht. Der kleine Fleck machte sie noch schöner.

Erschöpft durch ihre eignen Gemütsbewegungen und den Einfluß der Stille des Zimmers, ermattete ihre Hand nach und nach, und das Fächeln hörte auf; ihr Kopf sank auf das Pfühl an ihres Vaters Seite nieder. Clennam stand langsam auf, öffnete und schloß die Tür ohne Geräusch und verließ das Gefängnis, indem er das Gefühl der Stille in die geräuschvollen Straßen mit sich hinausnahm.

Sechsunddreißigstes Kapitel.


Sechsunddreißigstes Kapitel.

Das Marschallgefängnis wird verwaist.

Der Tag rückte heran, an dem Mr. Dorrit und seine Familie das Gefängnis für immer verlassen und die Steine seines vielbetretenen Pflasters sie nicht mehr kennen sollten. Die Zwischenzeit war von kurzer Dauer, aber er beklagte sich lebhaft über ihre Länge und ließ sich sehr hochfahrend gegen Mr. Rugg wegen der Verzögerung vernehmen. Er war überhaupt sehr stolz gegen Mr. Rugg und hatte ihm gedroht, jemanden anders mit seinen Sachen zu beauftragen. Er hatte Mr. Rugg aufgefordert, sich nichts auf den Ort hin, an dem er ihn finde, herauszunehmen, sondern seine Pflicht zu tun und sie pünktlich zu tun. Er hatte Mr. Rugg gesagt, daß er wisse, was für Leute Anwälte und Agenten seien, und daß er sich keiner Täuschung fügen werde. Als dieser Herr ihm demütig vorhielt, er strenge sich außerordentlich an, war Miß Fanny sehr kurz gegen ihn, indem sie zu wissen wünschte, was er weniger tun könnte, da man ihm doch schon ein dutzendmal gesagt, daß Geld kein Gegenstand sei, und vor ihm die Vermutung aussprach, daß er vergesse, mit wem er rede.

Gegen den Marschall, der bereits seit vielen Jahren das Amt eines Marschalls verwaltete, und mit dem er nie zuvor ein Zerwürfnis gehabt, benahm er sich sehr hart. Dieser Beamte bot ihm, als er persönlich seine Glückwünsche darbrachte, die freie Benutzung von zwei Zimmern in seinem Hause bis zu seinem Weggang an. Mr. Dorrit dankte ihm für den Augenblick und antwortete, er wolle sich die Sache überlegen; aber der Marschall war kaum fort, als er sich niedersetzte und ihm einen unfreundlichen Brief schrieb, in dem er ihm bemerkte, daß er nie und bei keiner frühern Gelegenheit die Ehre gehabt, seine Glückwünsche zu empfangen (was allerdings wahr war, obgleich auch wirklich keine besondere Gelegenheit vorhanden gewesen, bei der man ihm hätte gratulieren können), und daß er deshalb sich erlaube, für sich und seine Familie das Anerbieten des Marschalls mit all dem Dank auszuschlagen, den sein uneigennütziger Charakter und seine vollkommene Unabhängigkeit von allen weltlichen Rücksichten fordere.

Obgleich sein Bruder einen so dunklen Schimmer von Interesse an ihren veränderten Glücksumständen zeigte, daß es sehr zweifelhaft war, ob er sie überhaupt begreife, ließ ihm doch Mr. Dorrit für einen neuen Anzug das Maß von den Schnitthändlern, Schneidern, Hutmachern und Schuhmachern nehmen, die er für sich selbst hatte kommen lassen, und befahl, daß man ihm seine alten Kleider wegnehme und verbrenne. Miß Fanny und Mr. Tip brauchten keinen Wink, um sich den feinsten und elegantesten Anzug zuzulegen, und diese drei brachten die Zwischenzeit in dem besten Hotel der Nachbarschaft zu – obgleich das Beste, wie Miß Fanny sagte, kaum gut genug war. In Verbindung mit dieser Wahl einer Wohnung mietete Mr. Tip eine Equipage, nebst Pferd und Groom, ein sehr hübsches Ding, das man zu Zeiten zwei bis drei Stunden lang die Borough Hill Street, Außenseite des Marschallgefängnishofes, beehren sah. Ein bescheidener, kleiner, gemieteter Wagen mit zwei Pferden war gleichfalls häufig dort zu sehen; beim Aussteigen und Einsteigen in dieses Gefährt ärgerte Miß Fanny die Töchter des Marschalls durch Entfaltung eines unerhörten Kleiderluxus.

Eine große Menge von Geschäften wurde in dieser kurzen Periode abgemacht. Unter anderen Items wurden die HH. Peddle und Pool, Sachwalter im Monument Yard, durch ihren Klienten Edward Dorrit, Esquire, instruiert, einen Brief an Mr. Arthur Clennam mit der Summe von vierundzwanzig Pfund, neun Schillingen und acht Pence zu richten, dem Betrag des Darlehens und der Interessen von fünf Prozent pro Jahr, den ihr Klient Mr. Clennam schuldig zu sein glaubte. Bei dieser Mitteilung und Rückzahlung wurden die HH. Peddle und Pool ferner durch ihren Klienten beauftragt, Mr. Clennam zu erinnern, daß dieses gütige Darlehen, das jetzt (mit Einschluß des Schließergeldes) zurückbezahlt sei, nicht von ihm verlangt worden war, und ihm mitzuteilen, daß es auch nicht angenommen worden wäre, wenn man es ihm offen in seinem Namen angeboten hätte. Womit sie einen gestempelten Empfangschein verlangten und seine ergebenen Diener verblieben. Eine große Menge Geschäfte mußten ebenfalls in dem nun bald verwaisten Marschallgefängnis von Mr. Dorrit besorgt werden, der so lange sein Vater gewesen, und zwar hauptsächlich Gesuche, die einzelne Kollegen wegen kleiner Summen an ihn richteten. Diesen entsprach er mit der größten Liberalität und ließ es nie an Formalitäten fehlen; indem er immer zuerst schriftlich eine Zeit bestimmte, wo sie ihn in seinem Zimmer erwarten sollten, und sie dann inmitten eines großen Haufens von Dokumenten empfing und seine Schenkung (denn er sagte in jedem solchen Fall, »es ist eine Schenkung, kein Darlehen«) mit vielem guten Rat begleitete, daß er, der scheidende Vater des Marschallgefängnisses, hoffe, man werde seiner noch lange als eines Beispiels gedenken, daß ein Mann seine eigne und die allgemeine Achtung auch hier sich noch erhalten könne.

Die Kollegen waren nicht neidisch. Abgesehen von ihrer persönlichen und traditionellen Achtung vor einem Kollegen, der so lange schon im Gefängnis war, brachte das Ereignis dem Kollegium Kredit und machte viel in den Zeitungen von ihm sprechen. Vielleicht dachten auch mehrere von ihnen, ohne daß sie sich dessen wirklich bewußt waren, daß dies bei der Lotterie der Zufälle ihnen ebensogut hätte begegnen können, oder daß ihnen noch etwas der Art eines Tages passieren könnte. Sie nahmen es sehr gut auf. Nur wenige machte der Gedanke, zurückgelassen, oder arm zurückgelassen zu werden, niedergeschlagen; aber auch diese sahen den glänzenden Glückswechsel der Familie nicht mit mißgünstigen Augen an. Es wäre an vornehmen Orten sicher weit mehr Neid gewesen. Es dünkt uns wahrscheinlich, daß mittelmäßiges Vermögen weit weniger geneigt gewesen, großmütig zu sein als die Kollegen, die von der Hand in den Mund – von des Pfänderleihers Hand zum täglichen Essen – lebten.

Sie setzten eine Adresse an ihn auf, die sie ihm in hübschem Glas und Rahmen präsentierten (doch wurde sie später nicht im Familienhause aufgehängt oder unter den Familienpapieren aufbewahrt ); er erließ aber eine gnädige Antwort darauf. In diesem Dokument versicherte er sie in echt königlicher Weise, daß er den Ausdruck ihrer Anhänglichkeit mit der vollen Gewißheit der Aufrichtigkeit entgegennehme, und ermahnte wiederum alle, seinem Beispiel zu folgen – welches sie, insoweit wenigstens, als es die Erlangung eines großen Vermögens betraf, sicherlich mit Freuden nachgeahmt hätten. Er ergriff zu gleicher Zeit diese Gelegenheit, sie zu einem alle umfassenden Gastmahl einzuladen, das dem ganzen Kollegium im Gefängnishofe gegeben werden sollte, und bei dem er, wie er andeutete, die Ehre haben werde, ein Abschiedsglas auf die Gesundheit und das Glück all derer zu trinken, die er zurückzulassen im Begriff stünde.

Er aß nicht in Person bei diesem öffentlichen Gastmahl mit (es fand um zwei Uhr nachmittags statt, und seine Diners kamen nun um sechs Uhr aus dem Hotel), aber sein Sohn hatte die Güte, den obersten Platz an der Haupttafel einzunehmen und sehr leutselig und liebenswürdig zu sein. Er selbst ging unter der Gesellschaft umher, unterhielt sich mit den einzelnen und sah, ob die Gerichte von der Art waren, wie er sie befohlen, und daß alle bedient würden. Im ganzen nahm er sich wie ein Baron aus der alten Zeit aus, der in selten guter Stimmung war. Am Schluß des Mahles tat er seinen Gästen mit einem vollen Glase alten Madeiras Bescheid und sagte, er hoffe, sie seien vergnügt gewesen, und was mehr, sie würden sich auch noch den übrigen Teil des Abends gut unterhalten; daß er ihnen alles Gute wünsche und ihnen herzlich Lebewohl sage. Als seine Gesundheit unter lautem Jubel getrunken wurde, war er nicht so sehr Baron, daß er nicht, als er versuchen wollte, seinen Dank auszusprechen, wie ein bloßer Knecht mit einem Herzen in seiner Brust zusammengebrochen wäre und vor ihnen allen geweint hätte. Nach diesem großen Erfolg, den er für eine Niederlage hielt, ließ er »Mr. Chivery und seine Amtsbrüder« leben, von denen er zuvor jedem zehn Pfund geschenkt, und die alle zugegen waren. Mr. Chivery antwortete auf den Toast, indem er sagte: »Was du einsperren willst, das sperre ein; aber erinnere dich, daß du nach den Worten des gefesselten Afrikaners Mensch und Bruder bist.« Nachdem die Reihe der Toaste vorüber war, hatte Mr. Dorrit die Artigkeit, eine Partie Kegel mit dem Kollegen zu machen, der der nächstälteste Bewohner des Gefängnisses nach ihm war, und überließ seine Vasallen ihren Belustigungen.

All diese Vorkommnisse gingen jedoch dem letzten Tag voraus. Nun kam der Tag, wo seine Familie das Gefängnis für immer verlassen und die Steine seines vielbetretenen Pflasters sie nicht mehr kennen sollten.

Mittag war die für das Scheiden bestimmte Stunde. Als sie heranrückte, war kein Kollege mehr innerhalb der Türen, kein Schließer abwesend. Diese letztere Klasse der Herren erschien in ihren Sonntagskleidern, und der größere Teil der Kollegen war so guter Laune, als die Umstände es erlaubten. Auch zwei bis drei Fahnen wurden entfaltet und die Kinder mit allen Arten von Bändern behängt. Mr. Dorrit selbst bewahrte bei dieser wichtigen Gelegenheit eine ernste, aber anmutsvolle Würde. Viele Aufmerksamkeit widmete er dem Bruder, wegen dessen Benehmen bei der großen Feierlichkeit er etwas besorgt war.

»Mein lieber Frederick«, sagte er, »wenn du mir deinen Arm geben willst, so werden wir zusammen durch die Reihe unserer Freunde schreiten. Ich denke, es ist das richtige, wenn wir Arm in Arm von hier weggehen, mein lieber Frederick.«

»Hah!« sagte Frederick. »Ja, ja, ja, ja.«

»Und wenn, mein lieber Frederick, – wenn du, ohne dir großen Zwang anzulegen (bitte, entschuldige mich, Frederick), etwas Schliff in dein gewöhnliches Benehmen bringen könntest –«

»William, William«, sagte der andere, seinen Kopf schüttelnd, »das ist deine Sache, all das zu tun. Ich weiß nicht, wie das machen. Alles vergessen, vergessen!«

»Aber, mein lieber Junge«, entgegnete William, »gerade aus diesem Grunde, rein aus keinem andern, mußt du wirklich versuchen, dich etwas aufzuraffen. Was du vergessen hast, mußt du wieder in dein Gedächtnis zurückzurufen beginnen, mein lieber Frederick. Deine Stellung –-«

»Hm?« sagte Frederick.

»Deine Stellung, mein lieber Frederick.«

»Meine?« Er sah zuerst sich und dann seinen Bruder an, worauf er tief Atem holend ausrief: »Ha, allerdings. Ja, ja, ja!«

»Deine Stellung, mein lieber Frederick, ist jetzt eine sehr vornehme. Deine Stellung, als mein Bruder, ist jetzt eine sehr vornehme. Und ich weiß, daß es in deiner gewissenhaften Natur liegt, den Versuch zu machen, derselben würdig zu werden und zu streben, mein lieber Frederick, ihr Ehre zu machen. Ihr nicht Unehre, sondern Ehre zu machen.«

»William«, sagte der andere weich und mit einem Seufzer, »ich will alles tun, was du wünschest, vorausgesetzt, daß es in meiner Macht liegt. Bitte, erinnere dich aber daran, daß meine Macht sehr beschränkt ist. Was wünschest du, mein Bruder, daß ich heute tun soll? Sage, was du willst, sage nur, was du willst.«

»Mein liebster Frederick, nichts. Es ist nicht der Mühe wert, ein so gutes Herz wie das deine zu quälen.«

»Bitte, quäle es«, versetzte der andere. »Es ist mir keine Qual, William, wenn ich etwas für dich tun kann.«

William fuhr mit der Hand über die Augen und murmelte mit erhabener Befriedigung: »Gott segne deine Anhänglichkeit, mein armer, lieber Junge!« Dann sagte er laut: »Nun, mein lieber Frederick, wenn du nur versuchen wolltest, wenn wir weggehen, zu zeigen, daß du die Bedeutung des Augenblicks lebhaft fühlst – daß du darüber etwas denkst –-«

»Was rätst du mir zu denken?« versetzte sein unterwürfiger Bruder.

»Oh, mein lieber Frederick, wie kann ich dir antworten? Ich kann dir nur sagen, was ich selbst denke, wenn ich diese guten Leute verlasse.«

»Das ist’s!« rief sein Bruder. »Das wird mir helfen.«

»Ich finde, daß ich, mein lieber Frederick, mit gemischten Gefühlen, in denen ein sanftes Mitleid vorherrscht, denke: Was werden sie ohne mich anfangen?«

»Wahr«, versetzte sein Bruder, »ja, ja, ja, ja. Ich werde das denken, wenn wir weggehen. Was werden sie ohne meinen Bruder anfangen? Die armen Menschen! Was werden sie ohne ihn tun?«

Es hatte soeben zwölf geschlagen; und da man meldete, daß der Wagen im äußern Hof warte, stiegen die Brüder Arm in Arm die Treppe herab. Edward Dorrit, Esquire, (ehedem Tip) und seine Schwester Fanny folgten, gleichfalls Arm in Arm; Mr. Plornish und Maggy, denen die Wegschaffung der Familiensachen anvertraut war, die des Wegschaffens wert erachtet wurden, folgten mit Bündeln und Paketen, die in einen neuen Wagen gepackt werden sollten. Im Hof waren die Kollegen und Schließer. Im Hof waren Mr. Pancks und Mr. Rugg, die gekommen waren, um die letzte Hand an ihr Werk legen zu helfen. Im Hof war der junge John, der eine neue Grabschrift auf sein Sterben an gebrochenem Herzen machte. Im Hof war der patriarchalische Casby, der so entsetzlich wohlwollend aussah, daß viele enthusiastische Kollegen begeistert seine Hand faßten und die Frauen und weiblichen Verwandten manches andern Kollegen seine Hand küßten, fest überzeugt, daß er das alles getan hätte. Im Hof war der gewöhnliche Chor von Leuten, wie sie an solchen Orten zu sein pflegen. Im Hof war der Mann mit dem Schatten von Schmerz wegen des Fonds, den der Marschall unterschlagen hatte; er war morgens um fünf aufgestanden, um die Kopie einer vollständig unverständlichen Geschichte dieses Handels zu vollenden, die er Mr. Dorrit als ein Dokument von der äußersten Wichtigkeit übergab, das darauf berechnet war, die Regierung in Staunen zu setzen und des Marschalls Sturz herbeizuführen. Im Hof war der Insolvente, dessen äußerste Energie immer darauf bedacht war, Schulden zu kontrahieren, der mit ebensoviel Mühe ins Gefängnis hineinbrach, wie andere hinausgebrochen sind, und der immer freigelassen und bekomplimentiert wurde; während der Insolvente zu seiner Seite – ein sehr kleiner, lumpiger, strebsamer Handelsmann, halbtot vor ängstlicher Besorgnis, schuldenfrei zu bleiben, – wirklich große Mühe hatte, einen Vermittler zu finden, der ihn mit großen Vorwürfen und Zurechtweisungen frei machte. Im Hof war der Mann mit den zahlreichen Kindern und Lasten, dessen Bankerott jedermann wunderte; im Hof war der Mann, mit keinen Kindern und großen Hilfsquellen, dessen Bankerott niemand wunderte. Ferner zugegen waren die Leute, die immer schon morgen hinausgingen und es immer aufschoben; ferner die Leute, die gestern gekommen und weit eifersüchtiger und empfindlicher über diese Laune des Schicksals waren als die zahmen Vögel. Ferner solche, die aus bloßer niedriger Gesinnung sich bückten und beugten vor dem reichgewordenen Kollegen; noch andere, die dies taten, weil ihre Augen, an die Dunkelheit des Gefängnisses oder der Armut gewöhnt, das Licht solch hellen Sonnenscheins nicht ertragen konnten. Es waren manche da, deren Schillinge in seine Tasche geflossen, um ihm Speise und Trank zu kaufen; aber keine, die jetzt auf Grund dieser Unterstützung in aufdringlicher Weise den vertrauten Kameraden mit ihm spielten. Man konnte eher bemerken, daß die gefangenen Vögel etwas scheu vor dem Vogel waren, der nun so großartig frei werden sollte, und daß sie das Streben hatten, sich etwas nach dem Gitter zurückzuziehen und etwas unruhig zu sein, als er vorüberkam.

Durch diese Reihe von Zuschauern bewegte sich die kleine Prozession, an deren Spitze die beiden Brüder gingen, langsam nach dem Tor zu. Mr. Dorrit, den der große Gedanke bewegte, was die armen Geschöpfe ohne ihn anfangen sollten, war ernst und traurig, aber nicht davon völlig überwältigt. Er fand noch Gedanken dazu, die Köpfe der Kinder zu streicheln, wie Sir Roger de Coverley bei seinem Kirchgang; er redete die Leute im Hintergrund bei ihrem Taufnamen an, er benahm sich gegen alle Anwesenden äußerst herablassend und schien zu ihrem Trost bei seinem Gang von dem Spruch in goldenen Buchstaben umgeben zu sein: »Sei getrost, mein Volk! Ertrag es!«

Zuletzt kündigten drei kräftige Jubelrufe an, daß er das Tor passiert habe und daß das Marschallgefängnis verwaist sei. Ehe das Echo in den Mauern des Gefängnisses verhallt war, hatte die Familie ihren Wagen bestiegen und der Diener den Tritt in der Hand.

Dann und nicht früher rief Miß Fanny plötzlich: »Gott im Himmel! Wo ist Amy?«

Ihr Vater hatte geglaubt, sie sei bei ihrer Schwester. Ihre Schwester hatte geglaubt, sie sei irgendwo. Sie hatten alle erwartet, wie es immer der Fall gewesen, sie im rechten Moment am rechten Platz zu finden. Dies Weggehen war wirklich die erste Handlung in ihrem gemeinsamen Leben, die sie ohne sie vollbracht hatten.

Eine Minute mochte in der Vergewisserung dieser Angelegenheit verflossen sein, als Miß Fanny, die von ihrem Sitz im Wagen den langen engen Weg überschaute, der nach dem Pförtnerstübchen führte, entrüstet errötete.

»Nein, das muß ich sagen. Papa«, rief sie, »das ist schändlich!«

»Was ist schändlich, Fanny?«

»Ich sage«, wiederholte sie, »es ist wahrhaft niederträchtig! Wahrhaftig so entehrend, daß man selbst in einem Augenblick wie diesem wünschen möchte, man wäre tot! Da ist dieses Kind, diese Amy, in ihrem häßlichen und abgeschabten Anzug, wegen dessen sie so eigensinnig war, Papa, und den ich sie zu ändern unermüdlich im Bitten und Flehen war, wogegen sie Einwürfe zu machen gleichfalls unermüdlich war, den sie jedoch heute zu ändern versprach, indem sie sagte, sie wünsche ihn nur so lange noch zu tragen, als sie hier mit dir verweile – ein absolut romantischer Unsinn der geringsten Art – hier ist dieses Kind Amy, das uns bis zum letzten Moment und im letzten Moment Unehre macht, indem sie sich in diesem Anzug heraustragen läßt. Und dieser Mr. Clennam dazu!«

Das Vergehen erwies sich als richtig, sobald sie die Anklage ausgesprochen. Clennam erschien an dem Wagenschlag, die kleine bewußtlose Gestalt in seinen Armen tragend.

»Sie wurde vergessen«, sagte er in dem Ton des Mitleids, der nicht frei von Vorwurf war. »Ich eilte nach ihrem Zimmer hinauf (das Mr. Chivery mir zeigte) und fand die Tür offen und das arme Kind auf dem Boden in einer Ohnmacht liegen. Sie schien weggegangen zu sein, um ihr Kleid zu wechseln, und war, überwältigt von den Eindrücken, zusammengebrochen. Es mag der Jubel gewesen oder auch schon früher geschehen sein. Nehmen Sie die arme kalte Hand in acht, Miß Dorrit. Lassen Sie sie nicht fallen!«

»Danke Ihnen, Sir«, erwiderte Miß Dorrit in Tränen ausbrechend. »Ich glaube, ich weiß, was ich zu tun habe, wenn Sie mir’s erlauben wollen. Liebe Amy, öffne deine Augen, liebes Kind! O Amy, Amy, ich bin wirklich so ärgerlich und beschämt. Ermanne dich, mein Liebling! Oh, warum fahren Sie nicht fort! Bitte, Papa, fahre fort!«

Der Diener trat mit einem schroffen: »Mit Ihrer Erlaubnis!« zwischen Clennam und den Wagenschlag, legte den Tritt zusammen, und sie fuhren fort.

Drittes Kapitel.


Drittes Kapitel.

Zu Hause.

Es war ein düsterer, stiller und öder Sonntagabend in London. Tollmachende Kirchenglocken von allen Graden des Mißklangs, schneidend und klar, dumpf und hell, schnell und langsam, weckten häßliche Echos aus Ziegel und Mörtel. Melancholische Straßen, im Büßergewand von Ruß, versetzten die Seele der Leute, die verdammt waren, aus ihren Fenstern auf sie herabzusehen, in die traurigste Niedergeschlagenheit. In jeder Durchfahrt, beinahe in jedem Gäßchen und fast an jeder Ecke hörte man eine klägliche Glocke schlagen, läuten, wimmern, als ob die Pest in der Stadt wäre und die Totenwagen die Runde machten. Alles war verriegelt und verschlossen, was nur entfernte Möglichkeit bieten konnte, 34 ein von der Arbeit müdes Volk zu zerstreuen. Keine Bilder, keine seltenen Tiere, keine seltenen Pflanzen oder Blumen, keine natürlichen oder künstlichen Wunder der Alten Welt – alles war durch die Strenggläubigkeit für tabu4 erklärt, daß die häßlichen Götter der Südsee im Britischen Museum sich nach Hause versetzt glauben konnten. Nichts war zu sehen als Straßen und Straßen und wiederum Straßen. Nichts zu atmen als Straßen und Straßen und wiederum Straßen. Nichts, um das gedrückte Gemüt zu zerstreuen oder zu erheitern. Nichts blieb dem müden Arbeiter, als die Monotonie des siebenten Tages mit der Monotonie seiner sechs Tage zu vergleichen, darüber nachzudenken, wie langweilig sein Leben, und je nach der Wahrscheinlichkeit sich die beste oder schlimmste Seite desselben herauszukehren.5

Zu dieser so glücklichen und für die Interessen der Religion und Moral so günstigen Stunde saß Mr. Arthur Clennam, soeben von Marseille mit dem Doverer Wagen, dem »blauäugigen Mädchen«,6 angekommen, an dem Fenster eines Kaffeehauses in Ludgate Hill. Zehntausend gewissenbelastete Häuser umgaben ihn, so finster auf die Straßen blickend, zu denen sie gehören, als ob jedes von den zehn Jünglingen aus der Geschichte vom Calander bewohnt wäre, die jede Nacht ihre Gesichter schwarz machten und ihr Schicksal bejammerten. Fünfzigtausend Höhlen umgaben ihn, so ungesunde Wohnungen für Menschen, daß reines Wasser, das man Sonnabendabend in ihre überfüllten Zimmer stellte, bis zum Sonntagmorgen abgestanden war: obgleich Mylord, das Mitglied für ihre Grafschaft, erstaunt war, daß sie nicht das Fleisch vom Metzger über Nacht in dasselbe Zimmer legten, in dem sie schliefen. Meiler von tiefen Brunnen und Fallgruben von Häusern, in denen die Bewohner nach Luft schnappten, streckten sich weit hinaus nach allen Richtungen des Kompasses. Durch das Herz der Stadt ebbte und flutete eine pestaushauchende Kloake statt eines schönen, erfrischenden Stromes. Welches weltliche Bedürfnis konnte diese Million oder mehr Menschen haben, deren tägliche Arbeit – sechs Tage die Woche – inmitten dieser arkadischen Umgebung verrichtet werden mußte, aus deren süßer Einförmigkeit zwischen Wiege und Grab kein Entrinnen war, – welch weltliches Bedürfnis konnten sie am siebenten Tage haben? Natürlich brauchten sie nichts als einen strengen Polizeidiener.

Mr. Arthur Clennam saß am Fenster des Kaffeehauses in Ludgate Hill, zählte die Schläge einer der nahen Glocken, machte unwillkürlich Sentenzen und Refrains daraus und dachte daran, wie vielen kranken Leuten sie wohl im Laufe eines Jahres den Tod verkünde. Als die Stunde zu Ende ging, wurde ihr Takt immer rascher.

Beim dritten Viertel kam sie in eine Stimmung ungemein lebhaften Ungestüms und mahnte das Volk in geläufiger Rede: »Kom–mt zur Kirche, kom–mt zur Kirche, kom–mt!« Binnen zehn Minuten wurde sie gewahr, daß die Gemeinde sich spärlich versammelte und hämmerte langsamer mit niedergeschlagenem Tone: »Sie wollen nicht kommen, sie wollen nicht kommen, sie wollen nicht kommen!« Bei den letzten fünf Minuten verzichtete sie auf die letzte Hoffnung und erschütterte jedes Haus in der Nachbarschaft dreihundert Sekunden lang mit einem furchtbaren Schlage jede Sekunde, der wie das Gestöhn eines Verzweifelnden klang.

»Gott sei Dank!« sagte Mr. Clennam, als die Uhr schlug und die Glocke innehielt.

Aber ihr Klang hatte eine lange Reihe langweiliger Sonntage in die Erinnerung gerufen, und die Prozession wollte nicht enden, wie die Glocke, sondern setzte ihren Weg fort. »Der Himmel möge mir vergeben«, sagte er, »und denen, die mich erzogen haben. Wie ich diesen Tag von je gehaßt!«

Er gedachte des traurigen Sonntags seiner Kindheit, wo er die Hände gefaltet dasaß, geschreckt durch ein gräßliches Traktätchen, das damit anfing, daß es gleich auf dem Titel den armen Knaben fragte: warum er in die Verdammnis gehe? – eine Neugierde, die der Knabe im Kinderröckchen und Höschen zu befriedigen außerstande war, – und das zur weiteren Erbauung des kindlichen Sinnes auf jeder zweiten Linie einen Spruch oder einen Hinweis hatte, an dem man sich verschlucken konnte, wie z.B. Thessaloniker Kap. III. V. 6 und 7.7 Er gedachte des schläfrigen Sonntags seiner Knabenjahre, wo er wie ein Sträfling durch den Lehrer dreimal des Tages, moralisch an einen andern Knaben gefesselt, nach der Kirche geführt wurde; und wo er bereitwillig zwei Platten unverdaulicher Predigt gegen einige Lote mittelmäßigen Hammelfleisches für sein dürftiges Mittagmahl im Fleische vertauscht. Er dachte des endlosen Sonntags seiner unmündigen Jahre, wo seine streng aussehende und hartherzige Mutter den ganzen Tag hinter der Bibel saß, die, wie ihre eigene Auslegung derselben, die härteste, kahlste und steifste Hülse hatte und nur einen Zierat auf dem Deckel besaß, der wie eine Kette aussah, und einen häßlich rotgesprenkelten Schnitt, als ob es vor allen Büchern ein Bollwerk gegen Weichheit des Gemüts, natürliche Zuneigung und freundlichen Verkehr des Menschen wäre. Er gedachte des nicht zu verschmerzenden Sonntags der späteren Jahre, wo er düster und mißvergnügt dem langsam verrinnenden Tag mit einem bittern Gefühl roher Kränkung im Herzen und mit nicht mehr Kenntnis von der heilverkündenden Geschichte des Neuen Testaments, als wenn er unter Götzendienern aufgewachsen, ins Antlitz schaute. Er gedachte einer Legion von Sonntagen, lauter Tage unnützer Bitterkeit und Kreuzigung, die langsam an seinem Blicke vorüberzogen.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte ein flinker Kellner, indem er den Tisch abrieb. »Wünschen Sie Schlafzimmer zu sehen?«

»Ja. Ich dachte eben daran.«

»Stubenmädchen!« rief der Kellner. »Der Herr von Numero 7 wünscht Zimmer zu sehen.«

»Halt!« sagte Clennam, indem er aufstand. »Ich habe nicht bedacht, was ich sagte; ich antwortete ganz mechanisch. Ich werde nicht hier wohnen. Ich gehe nach Hause.«

»So? Stubenmädchen, der Herr von Numero 7 schläft nicht hier, er geht nach Hause.«

Er saß immer noch am selben Platz, als der Tag zur Neige ging, sah nach den finstern Häusern drüben und dachte, wenn die körperlosen Geister der früheren Bewohner noch etwas von jenen wüßten, müßten sie sich doch wegen ihrer ehemaligen Kerker bemitleiden. Bisweilen erschien ein Gesicht hinter der trüben Scheibe eines Fensters und verging wieder in der Dunkelheit, als ob es genug vom Leben gesehen und daraus verschwunden wäre. Nun begann der Regen in schrägen Linien zwischen ihm und den Häusern zu fallen, und die Leute sammelten sich unter dem Schutzdach des gegenüberliegenden Durchgangs und sahen hoffnungslos zum Himmel hinauf, als der Regen dichter und schneller zur Erde strömte. Dann erschienen nasse Schirme und schmutzige Kleider; die Straße bedeckte sich mit Schmutz. Was der Kot früher getan oder woher er kam, wer konnte das sagen? Aber er schien sich in einem Augenblick zu sammeln wie ein Menschenknäuel und in fünf Minuten alle Söhne und Töchter Adams bespritzt zu haben. Die Lampenanzünder machten nun die Runde; und wenn die feurigen Zünglein unter ihrer Berührung hervorschossen, hätte man glauben können, sie seien erstaunt, daß man ihnen gestatte, diese häßliche Szene mit ihrem hellen Strahle zu beleuchten.

Mr. Arthur Clennam nahm seinen Hut, knüpfte den Rock zu und trat hinaus. Auf dem Lande würde der Regen tausend frische Wohlgerüche hervorgelockt und jeder Tropfen mit einer schönen Form des Wachstums und Lebens eine glänzende Verbindung eingegangen haben. In der Stadt erzeugte er nur faule abgestandene Gerüche und bildete einen pestartigen, lauen, schmutzigen und häßlichen Zufluß für die Gossen.

Er ging bei der St. Paulskirche über die Straße und in einem langen Winkel beinahe bis an das Wasser, durch einige von den krummen und jähen Straßen, die zwischen dem Fluß und der Cheapside liegen und damals noch krummer und enger waren. Vorüber an der dumpfen Halle einer verkommenen, ehrwürdigen Gesellschaft, vorüber an den hell erleuchteten Fenstern einer gemeindelosen Kirche, die auf einen abenteuernden Belzoni8 zu warten schien, der sie ausgraben und ihre Geschichte entdecken würde; vorüber an schweigenden Warenhäusern und Quais, und dann und wann an einem engen Gäßchen, das nach dem Strom führte, wo ein armer kleiner Zettel »Fund im Wasser« an der feuchten Wand weinte; – so kam er endlich nach dem Haus, das er suchte. Ein altes Haus von Backstein, so dunkel, daß es beinahe ganz schwarz war, stand es ganz isoliert hinter einem Torweg. Davor befand sich ein viereckiger Hof, in dem ein oder zwei Sträuche und ein Grasfleck so üppig wucherten wie der Rost auf dem eisernen Gitter, das sie umschloß; dahinter sah man ein Gewirr von Dächern. Es war ein Doppelhaus mit langen, schmalen, schwer eingefaßten Fenstern. Vor vielen Jahren war es auf den Gedanken gekommen, sich nach der Seite zu neigen. Man stützte es jedoch und lehnte es auf ein halbes Dutzend riesiger Krücken: ein Spielplatz für die benachbarten Katzen, der jedoch, vom Wetter benagt, vom Rauch geschwärzt und von Unkraut überwuchert, in neuester Zeit keine Sicherheit mehr bot.

»Nichts verändert«, sagte der Reisende, indem er stehenblieb und sich umsah. »Finster und elend wie immer. Ein Licht in meiner Mutter Zimmer, das nicht mehr ausgelöscht worden zu sein scheint, seit ich zweimal im Jahr von der Schule heimkam und meinen Koffer über das Pflaster zog. Ja, ja, ja!«

Er ging auf die Tür zu, die eine Art vorspringender Baldachin aus Schnitzwerk – Gewinde von Tüchern und Kinderköpfen mit Wasser im Hirn – nach der einst sehr beliebten Form der Ornamentik schmückte. Er pochte. Bald hörte man einen schlürfenden Schritt auf dem steinernen Boden des Flurs, und die Tür wurde von einem alten, gebückten und ausgemergelten Mann mit durchdringendem Blick geöffnet.

Er hatte ein Licht in der Hand und hielt es einen Augenblick in die Höhe, um seine scharfen Augen zu unterstützen. »Ah, Mr. Arthur«, sagte er ohne die geringste Bewegung, »sind Sie endlich da? Treten Sie ein.«

Arthur trat ein und schloß die Tür.

»Sie sind stärker und männlicher geworden«, sagte der alte Mann, indem er sich wieder umdrehte und, das Licht in die Höhe haltend, den Kopf schüttelte, »aber Sie sind doch, wie mich dünkt, noch nicht so groß wie Ihr Vater, auch nicht wie Ihre Mutter.«

»Wie geht es meiner Mutter?«

»Sie ist, wie sie jetzt immer ist! Sie hütet ihr Zimmer, wenn sie nicht gar bettlägrig ist, und war nicht fünfzehn Male in ebensoviel Jahren aus, Arthur.« Sie waren in ein ärmliches, ödes Speisezimmer getreten. Der alte Mann hatte den Leuchter auf den Tisch gestellt, und den rechten Ellbogen mit der linken Hand stützend, rieb er sich die ledernen Wangen, während er den Ankömmling betrachtete. Dieser bot ihm die Hand. Der alte Mann nahm sie ziemlich kalt und schien seine Wangen vorzuziehen; er kehrte auch, sobald er konnte, zu ihnen zurück.

»Ich möchte bezweifeln, daß Ihre Mutter Ihre Heimkehr am Sabbat billigen werde, Arthur«, sagte er und schüttelte bedächtig den Kopf.

»Sie wollen doch nicht, daß ich wieder fortgehen soll?«

»O! ich, ich? Ich bin ja nicht der Herr vom Haus. Das möchte ich um keinen Preis haben. Ich stand viele Jahre lang vermittelnd zwischen Ihrem Vater und Ihrer Mutter. Ich möchte mir nicht anmaßen, die gleiche Stellung zwischen Ihnen und Ihrer Mutter einzunehmen.«

»Wollen Sie ihr sagen, daß ich heimgekehrt bin.«

»Jawohl, Arthur, jawohl. Gewiß. Ich will ihr sagen, daß Sie heimgekehrt sind. Wollen Sie gefälligst hier warten. Sie werden das Zimmer nicht verändert finden.« Er nahm ein zweites Licht aus einem Speiseschrank, zündete es an, ließ das erste auf dem Tisch und ging, seinen Auftrag zu besorgen. Er war ein kleiner, kahlhäuptiger alter Mann, in einem hochhinaufstehenden schwarzen Frack und schwarzer Weste, schwarzbraunen Hosen und langen Gamaschen von gleicher Farbe. Er konnte seiner Kleidung nach Kommis oder Diener sein und war beides in der Tat längere Zeit gewesen. Er besaß nichts von Schmuck als eine Uhr, die an einem alten schwarzen Bande in der Tiefe seiner Uhrtasche hing und von der ein angelaufener kupferner Schlüssel oben heraussah, um zu zeigen, wo die Uhr versenkt war. Sein Kopf war schief; er hatte ein einseitiges, krebsartiges Wesen, als ob sein Fundament zur selben Zeit nachgegeben, wie das des Hauses, und er in ähnlicher Weise gestützt werden müßte.

»Wie schwach ich bin«, sagte Arthur, als dieser weggegangen, »daß ich Tränen über einen solchen Empfang weinen könnte! Ich, der nie etwas anderes erfahren, der nie etwas anderes erwartet hat.«

Er konnte nicht nur, er tat es auch. Es war das augenblickliche Nachgeben eines Mannes, der von dem ersten Dämmern seiner Wahrnehmungen nur Enttäuschungen erlebt und doch noch nicht all sein hoffnungsvolles Sehnen aufgegeben. Er drängte diese Empfindung zurück, nahm das Licht und betrachtete sich das Zimmer. Die alten Möbel standen am alten Platze; die ägyptischen Plagen, durch die Londoner Plagen – Fliegen und Rauch – dunkler geworden, hingen noch unter Glas und Rahmen an der Wand. Dort der alte Flaschenschrank, der jedoch leer stand, mit Blei ausgeschlagen wie eine Art Sarg in Abteilungen; hier das alte dunkle Kabinett, gleichfalls leer, dessen Inhalt er in den Tagen der Strafe oft ganz allein gebildet, und das er damals als die wahre Pforte zu jenem Lebensquell betrachtet, zu dem ihn das Traktätchen in gesprengtem Galopp eilen gesehen. Dort stand auf dem Seitentisch die große Uhr mit dem strengen Gesicht, deren gemalte Augenbrauen ihn immer mit roher Schadenfreude zu betrachten schienen, wenn er mit seinen Arbeiten im Rückstande war, und die, wenn sie einmal in der Woche mit einem eisernen Schlüssel aufgezogen wurde, gewöhnlich mit boshafter Ahnung der Leiden, die sie ihm bringen würde, zu brummen schien. Aber hier kam der alte Mann wieder und sagte: »Arthur, ich will vorausgehen und Ihnen leuchten.«

Arthur folgte ihm die Treppe hinauf, die grabsteinartig ziseliert war, in ein dunkles Schlafzimmer, dessen Boden sich allmählich so gesenkt hatte, daß der Kamin sich in einem Loch befand. Auf einem schwarzen, bahrenartigen Sofa in dieser Vertiefung, hinten mit einem großen, eckigen, schrägen Polster gestützt, gleich dem Bocke bei einer Hinrichtung in den guten alten Zeiten, saß die Mutter im Witwenkleid da.

Sie und sein Vater hatten, soweit sein Gedächtnis zurückreichte, miteinander im Hader gelebt. Sprachlos inmitten des strengsten Schweigens dazusitzen und schüchtern von dem einen abgewandten Gesicht nach dem andern zu blicken, war die friedlichste Beschäftigung seiner Kindheit gewesen. Sie gab ihm einen glasigen Kuß und vier steife Finger in wollenem Handschuh. Nachdem diese Umarmung vorüber war, setzte er sich ihr gegenüber an den kleinen Tisch. Auf dem Kaminrost brannte ein Feuer, wie seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht. An dem Haken des Kamins hing ein Kessel, wie seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht. Ein kleines Häufchen kalter Asche lag auf dem Feuer und ein anderes kleines Häufchen war unter dem Rost zusammengekehrt, wie seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht. In dem ungelüfteten Zimmer herrschte ein Geruch von schwarzer Farbe, den das Feuer seit fünfzehn Monaten aus dem Flor und dem Stoff des Witwenkleides und seit fünfzehn Jahren aus dem bahrenartigen Sofa gezogen.

»Mutter, das ist eine große Veränderung gegen Ihr früheres rühriges Leben.«

»Die Welt hat sich auf diesen engen Raum zusammengerückt, Arthur«, antwortete sie und sah im Zimmer umher. »Es ist gut für mich, daß ich nie mein Herz auf ihre leeren Eitelkeiten gerichtet.«

Der alte Einfluß ihrer Gegenwart und ihre ernste strenge Stimme beherrschte ihren Sohn wieder in solchem Grade, daß er aufs neue den bangen Schauer und die Schüchternheit seiner Kindheit fühlte.

»Verlassen Sie Ihr Zimmer nie, Mutter?«

»Teils durch meine Rheumatismen, teils durch die dadurch entstandene Hinfälligkeit und nervöse Schwäche – der Name tut nichts zur Sache – habe ich den Gebrauch meiner Glieder eingebüßt. Ich verlasse niemals dieses Zimmer. Ich war nicht vor dieser Tür seit – sagen Sie ihm, wie lange«, versetzte sie, indem sie die letzten Worte über die Achsel hin sprach.

»Nächste Weihnachten zwölf Jahre«, antwortete eine gebrochene Stimme aus der Dunkelheit hervor.

»Ist das Affery?« sagte Arthur und sah sich nach ihr um.

Die gebrochene Stimme antwortete, sie sei es; und eine alte Frau trat in das Zwielicht, küßte ihre Hand und verschwand dann wieder in das Dunkel.

»Ich bin imstande«, sagte Mrs. Clennam, mit einer leichten Bewegung der in den wollenen Handschuh gehüllten rechten Hand nach einem Armstuhl auf Rädern, der vor einem hohen verschlossenen Schreibtisch stand, »ich bin imstande, den Pflichten meines Geschäfts nachzukommen, und ich bin dem Himmel für diese Gnade dankbar. Es ist eine große Gnade. Aber nun heute nichts mehr von Geschäften. Es ist heute eine schlimme Nacht, nicht wahr?«

»Ja, Mutter.«

»Schneit es?«

»Schneien, Mutter? Wir sind ja erst im September.«

»Für mich sind alle Jahreszeiten gleich«, versetzte sie mit einer Art grausamer Wollust. »Ich weiß nichts von Sommer und Winter, hier zwischen meinen vier Mauern. Dem Herrn hat es gefallen, mich über all das hinwegzuheben.«

Mit ihren kalten grauen Augen und ihrem kalten grauen Haar, mit ihrem unbeweglichen Gesicht, das so steif wie die Falten ihres wie aus Stein gemeißelten Kopfputzes, – schien sie wirklich außerhalb des Bereichs der Jahreszeiten zu stehen, und dies wiederum schien eine Folge davon zu sein, daß sie überhaupt außer dem Bereich aller wechselnden Gemütsbewegungen stand.

Auf ihrem kleinen Tisch lagen zwei bis drei Bücher, ihr Taschentuch, eine stählerne Brille, die sie kurz vorher weggelegt, und eine altväterliche goldene Uhr in einem schweren doppelten Gehäuse. Auf diesem letzteren Gegenstand ruhten ihre und ihres Sohnes Augen in diesem Augenblick.

»Ich sehe, daß Sie das Paket, das ich Ihnen nach meines Vaters Tod sandte, richtig empfangen, Mutter.«

»Allerdings.«

»Ich sah meinen Vater um nichts in der Welt so besorgt wie darum, daß diese Uhr Ihnen sofort geschickt würde.«

»Ich bewahre sie als ein Andenken an deinen Vater auf.«

»Erst in seinem letzten Augenblick drückte er diesen Wunsch aus, als er nur noch seine Hand darauf legen und mit gebrochener Stimme zu mir sagen konnte: ›Deiner Mutter‹. Einen Augenblick vorher meinte ich noch, er phantasiere wie seit vielen Stunden – ich glaube, er hatte während der kurzen Krankheit keine Empfindung von den Schmerzen – als ich ihn sich umwenden und die Uhr zu öffnen bemüht sah.«

»Phantasierte dein Vater also nicht, da er sie zu öffnen versuchte?«

»Nein. Er war bei vollem Bewußtsein.«

Mrs. Clennam schüttelte den Kopf; ob sie die Erinnerung an den Toten loswerden oder der Ansicht ihres Sohnes widersprechen wollte, konnte man nicht entscheiden.

»Nach meines Vaters Tode öffnete ich sie selbst, da ich glaubte, es könnte doch vielleicht eine Notiz darin enthalten sein. Wie ich Ihnen jedoch kaum zu sagen brauche, Mutter, ich fand nichts darin als das alte seidene Uhrfleckchen mit Perlen, das Sie ohne Zweifel an seinem Platz zwischen den Gehäusen gefunden haben werden, wo auch ich es gefunden und belassen.«

Mr. Clennam nickte bejahend, fügte dann hinzu: »Nichts mehr heute von Geschäften« und sagte zuletzt: »Affery, es ist neun Uhr.«

Die alte Frau räumte den kleinen Tisch ab, verließ das Zimmer und kam bald wieder mit einem Präsentierbrett, auf dem ein Teller mit kleinen Zwiebäcken und einem kleinen und scharf abgeschnittenen Stückchen Butter, kalt, symmetrisch, weiß und rund, stand. Der alte Mann, der während der ganzen Unterhaltung unverrückt an der Tür stehengeblieben und die Mutter eine Treppe hoch ebenso anblickte, wie er den Sohn zu ebener Erde angeblickt, ging nun gleichfalls hinaus und kam mit einem zweiten Präsentierteller, auf dem eine beinahe volle Flasche Portwein (die er seinem Keuchen nach zu urteilen aus dem Keller geholt), eine Zitrone, eine Zuckerbüchse und eine Gewürzschale standen. Mit diesen Materialien und mit Hilfe des Teekessels füllte er ein Stangenglas mit einem heißen und duftenden Gebräu, das mit derselben Genauigkeit wie das Rezept eines Arztes gemischt und zubereitet wurde. In dieses Getränk tunkte Mrs. Clennam einige Zwiebäcke und aß sie, während die alte Frau einige andere mit Butter bestrich, die allein gegessen zu werden bestimmt waren. Als die Kranke alle die Zwiebäcke gegessen und das ganze Gebräu getrunken, wurden die beiden Präsentierteller entfernt und die Bücher und das Licht, Uhr, Taschentuch und Brille wieder an die alte Stelle auf dem Tischchen gelegt. Dann setzte sie die Brille auf und las einige Stellen laut aus einem Buche vor – finstere, strenge und zornige Worte – die Gott baten, daß er ihre Feinde (durch Ton und Gebärde drückte sie deutlich aus, daß es ihre Feinde waren) mit der Schärfe seines Schwertes schlagen, mit Feuer verzehren, mit Pest und Aussatz heimsuchen, ihre Gebeine zu Staub zermalmen und sie ganz und gar ausrotten möge. Wie sie so las, schienen die Jahre vor ihrem Sohne wie die Bilder eines Traumes zu vergehen und alle die alten finstern Schrecken seiner gewöhnlichen Vorbereitung zum Schlafe eines unschuldigen Kindes ihn wieder zu umringen.

Sie schloß ihr Buch und bedeckte einen Augenblick das Gesicht mit ihren Händen. Das tat auch der alte Mann, der sonst nichts in seiner Stellung verändert hatte; desgleichen wohl auch die alte Frau in dem dunkleren Teil des Zimmers. Dann war die kranke Frau bereit zu Bett zu gehen.

»Gute Nacht, Arthur. Affery wird für deine Bequemlichkeit sorgen. Rühre mich sanft an, denn meine Hand ist sehr empfindlich.« Er berührte den wollenen Handschuh an ihrer Hand – das tat nichts; wenn seine Mutter einen Harnisch von Erz gehabt; er würde keine neue Scheidewand zwischen ihnen gewesen sein. Dann folgte er dem alten Mann und der alten Frau die Treppe hinab.

Diese fragte ihn, als sie in dem tiefen Schatten des Speisezimmers allein waren, ob er ein Abendessen wünsche.

»Nein, Affery, kein Abendessen.«

»Wenn Sie wollen, können Sie eins haben«, sagte Affery, »ihr Rebhuhn für morgen ist in der Speisekammer; sagen Sie ein Wort, und ich bereite es zu.«

Nein, er habe noch nicht lange zu Mittag gegessen und könnte nicht schon wieder etwas zu sich nehmen.

»Aber etwas zu trinken«, sagte Affery; »Sie sollen es sogleich haben; etwas von ihrem Portwein, wenn Sie Lust haben. Ich will Jeremiah sagen, daß Sie mir befohlen, Ihnen die Flasche zu holen.“

Nein, auch davon wollte er nicht.

»Es ist wirklich kein Grund vorhanden, Arthur«, sagte die Alte, indem sie sich flüsternd zu ihm hinüberbeugte, »warum Sie sich vor ihnen fürchten sollten, wenn ich mich auch vor ihnen fürchte. Sie haben das halbe Vermögen bekommen, nicht wahr?“

»Ja, ja.«

»Nun gut, lassen Sie sich nicht einschüchtern. Sie sind klug, Arthur, nicht wahr?“

Er nickte, da sie eine bejahende Antwort zu erwarten schien.

»Dann treten Sie gegen sie auf. Sie ist furchtbar gescheit, und nur ein Gescheiter darf es wagen, ein Wort zu ihr zu sagen. Er ist gescheit, o er ist sehr gescheit! – und er sagt ihr die Meinung, wenn er mag, ganz gewiß.“

»Ihr Mann?«

»Allerdings. Ich zittre am ganzen Leibe, wenn ich ihn mit ihr sprechen höre. Mein Mann, Jeremiah Flintwinch, kann sogar Ihre Mutter zwingen. Und dazu gehört ein gescheiter Mann!«

Seine schlürfenden Schritte, die man näher kommen hörte, veranlaßten sie, sich nach dem anderen Ende des Zimmers zurückzuziehen. Obgleich eine große, starke, alte Frau mit groben Zügen, die in ihrer Jugend sich leicht unter die Fußgarde hätte einschmuggeln können, ohne befürchten zu müssen, entdeckt zu werden, schoß ihr doch vor dem kleinen krebsartigen Mann mit dem durchdringenden Blicke die Furcht in die Knie.

»Nun, Affery«, sagte er, »nun Frau, was tust du? Kannst du für Master Arthur nicht irgend etwas zu essen auftreiben?«

Master Arthur schlug aufs neue alles Essen aus.

»Nun gut«, sagte der Alte, »so mache sein Bett. Eile dich ein bißchen.« Sein Hals war so krumm, daß die geknüpften Zipfel seines weißen Halstuches gewöhnlich unter einem Ohr baumelten; seine natürliche Herbigkeit und Energie, die immer mit einer zweiten Natur, der ihm zur Gewohnheit gewordenen Zurückhaltung, im Kampfe war, gaben seinem Gesicht ein geschwollenes und unterlaufenes Aussehen, und im ganzen machte er den Eindruck, als ob er sich irgendeinmal aufgehängt, und als ob er nun mit dem Strick seit der Zeit herumliefe wie damals, als ihn eine milde Hand noch abgeschnitten.

»Sie werden morgen bittere Worte hören müssen, Arthur: Sie wie Ihre Mutter«, sagte Jeremiah. »Daß Sie bei Ihres Vaters Tod das Geschäft aufgegeben – was sie vermutet, obgleich wir es Ihnen überlassen, ihr die Sache mitzuteilen –-, das wird sie Ihnen nicht so ruhig hingehen lassen.«

»Ich habe im Leben alles um des Geschäftes willen aufgegeben, nun kam die Zeit für mich, das Geschäft aufzugeben.«

»Gut!« rief Jeremiah, während er offenbar ›Schlimm!‹ sagen wollte. »Sehr gut! Nur erwarten Sie nicht, daß ich vermittelnd zwischen Sie und Ihre Mutter treten werde, Arthur. Ich vermittelte zwischen Ihrer Mutter und Ihrem Vater, habe dieses und jenes Unheil abgewendet und habe Stöße und Schläge in Menge dabei abgekriegt: aber nun habe ich die Sache satt.«

»Ich werde weiter nicht von Ihnen fordern, Jeremiah, daß Sie sich für mich ins Mittel legen.«

»Gut, das freut mich zu hören: denn ich hätte es abschlagen müssen, wenn Sie dergleichen von mir verlangten. Genug – wie Ihre Mutter sagt, mehr als genug von solchen Dingen an einem Sonntagabend. Affery, Frau, hast du endlich gefunden, was du brauchst?«

Sie hatte Leintücher und Decken aus einem Wandschrank geholt und legte sie nun eiligst zusammen, worauf sie »Ja, Jeremiah« sagte. Arthur Clennam half ihr die Last tragen, wünschte dem alten Mann gute Nacht und ging mit ihr die Treppen hinauf bis unter das Dach.

Sie stiegen immer höher durch den dumpfen Geruch eines alten, dicht verschlossenen und wenig bewohnbaren Hauses nach einem großen Schlafzimmer im obersten Stockwerk: kahl und kärglich wie alle andern Zimmer, machte es dadurch noch einen häßlicheren und unheimlicheren Eindruck, daß es der Verbannungsort für allen abgenutzten Hausrat war. Die Möbel bestanden aus häßlichen alten Stühlen mit abgenutzten Sitzen, zwei häßlichen alten Stühlen ohne Sitze, einem fadenscheinigen musterlosen Teppich, einem tannenen Tisch, einem verkrüppelten Kleiderschrank, einem armseligen Sammelsurium von Kamingeräten, das wie ein Paar Skelette aussah, einem Waschtisch, der jahrhundertelang in einem Platzregen von schmutziger Seifenlauge gestanden zu haben schien, und einer Bettstelle mit vier nackten gerippartigen Eckpfosten, deren jeder in einem spitzen Nagel auslief, wie zur traurigen Bequemlichkeit der Insassen eingerichtet, die es vorziehen sollten, sich selbst aufzuspießen. Arthur öffnete das lange niedrige Fenster und blickte auf den alten ausgebrannten und geschwärzten Wald von Kaminen und den alten roten Glanz des Himmels, der ihm einst in früheren Tagen als der nächtliche Reflex der in Flammen stehenden Umgebung erschien, die sich seiner kindlichen Phantasie allerwärts, wohin er den Blick wenden mochte, darbot.

Er zog den Kopf wieder zurück, setzte sich neben das Bett und sah zu, wie Affery Flintwinch es machte.

»Affery, Sie waren nicht verheiratet, als ich von hier fortging.«

Sie verzog den Mund, als wollte sie »Nein« sagen, schüttelte den Kopf und schob ein Kissen in das Linnen.

»Wie kam das?«

»Nun, Jeremiah natürlich!« sagte Affery, mit dem Ende eines Kissenbezuges zwischen den Zähnen.

»Er machte Ihnen natürlich den Vorschlag, aber wie kam das alles? Ich hätte gedacht, keines von beiden würde heiraten; am wenigsten hätte ich mir aber träumen lassen, daß Sie sich heirateten.«

»Das dacht‘ ich auch«, sagte Mrs. Flintwinch, indem sie das Kissen in den Bezug drückte.

»Das ist’s, was ich meine. Wann wurden Sie denn andern Sinnes?«

»Ich wurde nie andern Sinnes«, sagte Mrs. Flintwinch.

Als sie sah, daß er, während sie das Kissen auf dem Polster zurechtrückte, sie noch immer ansah, als ob er auf eine Antwort warte, schlug sie mit der Faust tüchtig in die Mitte und fragte: »Was hätte ich tun sollen?«

»Was Sie hätten tun sollen, um sich nicht zu verheiraten?«

»Natürlich«, sagte Mrs. Flintwinch. »Das war ja nicht meine Sache. Ich hätte nie daran gedacht. Ich mußte wirklich etwas tun, ohne daran zu denken. Sie hielt mich tüchtig zur Arbeit an, solange sie noch ausging, und damals konnte sie noch ausgehen.«

»Nun?«

»Nun?« wiederholte Mrs. Flintwinch. »Das ist’s ja, was ich sagte. Nun? Was nützt das Überlegen? Wenn zwei so gescheite Leute wie sie wegen einer Sache einverstanden sind, was bleibt mir zu tun? Nichts.«

»So war es der Plan meiner Mutter?«

»Der Herr behüte Sie, Arthur, und verzeihe mir den Wunsch!« rief Affery, immer sonst leise sprechend. »Wenn sie beide nicht einverstanden gewesen, wie hätte die Sache geschehen können? Jeremiah hat mir nie den Hof gemacht. Es war auch gar nicht wahrscheinlich, daß er’s je tun würde, nachdem er so viele Jahre mit mir im selben Hause gelebt und nur ans Befehlen gewöhnt gewesen. Er sagte eines Tages zu mir: ›Affery‹, sagte er, ›ich will Euch jetzt etwas sagen. Was denkt Ihr von dem Namen Flintwinch?‹ – ›Was ich davon denke?‹ sagte ich. – ›Ja‹, sagt er; ›weil Ihr ihn künftig führen sollt‹, sagte er. – ›Führen soll?‹ sagte ich, ›Jeremiah?‹ Oh, er ist ein gescheiter Mensch!«

Mrs. Flintwinch breitete das obere Leintuch über das Bett und legte die wollene Decke darauf und die gesteppte Decke über diese, als ob sie mit ihrer Geschichte ganz zu Ende wäre.

»Nun?« sagte Arthur wieder.

»Nun?« wiederholte Mrs. Flintwinch. »Was könnt‘ ich machen? Er sagte zu mir: ›Affery, wir müssen uns heiraten, und ich will Euch sagen weshalb. Sie kränkelt und braucht deshalb beständige Pflege in ihrem Zimmer. Wir werden viel bei ihr sein müssen, und es wird niemand zur Hand sein, wenn wir nicht bei ihr sind – kurz, es ist passender, daß wir heiraten. Sie ist auch meiner Ansicht‹, sagte er, ›wenn Ihr deshalb nächsten Montag morgen um acht Uhr Euren Hut aufsetzen wollt, so können wir die Sache abmachen.‹« Mrs. Flintwinch schlug die Decke glatt.

»Nun?« »Nun?« wiederholte Mrs. Flintwinch. »Ich dachte so: Ich setze mich hin und sage Ja. Nun! – Jeremiah sagte darauf zu mir: ›Was das Aufgebot betrifft, so werden wir nächsten Sonntag zum dritten Male ausgerufen; denn ich habe es seit vierzehn Tagen besorgt, und deshalb will ich den Montag zur Hochzeit bestimmen. Sie wird selbst mit Euch über die Sache sprechen und Euch nun vorbereitet finden, Affery.‹ Noch am selben Tage sprach sie mit mir und sagte: ›So, Affery, ich höre, daß du Jeremiah heiraten willst. Ich freue mich darüber, und auch du kannst dich mit Recht freuen. Er ist sehr geeignet für dich und mir unter diesen Umständen sehr willkommen. Er ist ein gescheiter Mann und ein redlicher Mann und ein ausdauernder Mann und ein frommer Mann.‹ Was konnte ich sagen, wenn die Sache schon so weit gediehen? Und hätt‘ es einen – Erstickungsversuch statt einer Heirat gegolten«, Mrs. Flintwinch suchte mit großer Anstrengung nach dieser Form des Ausdrucks, »ich hätte ebensowenig gegen diese beiden gescheiten Leute ein Wort hervorbringen können.«

»Wahrhaftig, das glaube ich.«

»Das können Sie auch, Arthur.«

»Affery, was war das für ein Mädchen soeben in meiner Mutter Zimmer?«

»Mädchen?« sagte Mr«. Flintwinch in ziemlich scharfem Ton.

»Ja, es war ein Mädchen, das ich neben Ihnen stehen sah –, wenn sie auch in der dunklen Ecke sich den Blicken entzog.«

»Oh! Sie? Klein-Dorrit? Sie ist nichts – sie ist eine Grille von – ihr.« Es war eine Eigentümlichkeit von Affery Flintwinch, daß sie nie von Mrs. Clennam mit dem Namen sprach. »Aber es gibt noch andere Mädchen als dies. Haben Sie Ihre alte Neigung vergessen? Sicher schon lange, lange.«

»Ich litt genug unter dieser Trennung, die das Werk meiner Mutter war, um nicht noch an sie zu denken. Ich erinnere mich ihrer recht gut.«

»Haben Sie eine andre?«

»Nein.«

»So weiß ich Ihnen gute Botschaft. Sie ist jetzt wohlhabend und Witwe. Und wenn Sie sie noch haben wollen, läßt sichs leicht machen.«

»Und woher wissen Sie das, Affery?«

»Die beiden Gescheiten haben davon gesprochen. – Da ist Jeremiah auf der Treppe!« Sie war in einem Augenblick verschwunden.

Mrs. Flintwinch hatte in das Gewebe, das sein Geist beständig in der alten Werkstatt, wo der Stuhl seiner Jugend stand, zu weben beschäftigt war, den letzten Faden, der zum Muster fehlte, eingeschlossen. Das Luftgebilde der Liebe eines Knaben hatte seinen Weg auch in dieses Haus gefunden; und die Hoffnungslosigkeit hatte ihm so große Schmerzen bereitet, als wäre das Haus ein romantisches Schloß gewesen. Kaum mehr als vor einer Woche hatte in Marseille das Gesicht des hübschen Mädchens, von dem er mit Bedauern scheiden mußte, ein ungewöhnliches Interesse für ihn gehabt und ihn wunderbar gefesselt, da es eine wirkliche oder eingebildete Ähnlichkeit mit jenem ersten Gesicht hatte, das sich aus seinem düstern Lebenskreise in die lichten Sphären der Phantasie aufgeschwungen. Er lehnte sich auf die Brüstung des langen niedern Fensters, blickte wieder hinaus auf den geschwärzten Wald von Kaminen und begann zu träumen. Es war ja doch die gleichmäßige Richtung in dieses Mannes Leben gewesen –, das so viel Entbehrungen in sich schloß, die Stoff zum Nachdenken boten, so viele, denen man eine bessere Wendung geben und womit man glücklicher hätte spekulieren können –, daß er zuletzt ein Träumer wurde.

  1. Verboten – tabu bedeutet »Nicht anzurühren!«, »Verfehmt«, »Unheimlich« und ist ein religiöser Ausdruck der primitiven Völker Ozeaniens.
  2. Dickens geißelt hier die übertriebene puritanische Strenge der Sonntagsruhe.
  3. So genannt nach dem charakteristischen Anstrich, den die Reisewagen von Dover nach London hatten.
  4. Verse, in denen der Apostel Paulus die Gemeinde Thesallonien auffordert, Brüder, »die da unordentlich wandeln«, zu meiden. Von den Puritanern gegen alle weltlichen Freuden zugewandten Menschen ausgemünzt.
  5. Giambattista Belzoni (1778–1823), italienischer Athlet und Altertumsforscher, bereiste im Auftrag des englischen Konsuls Salt Ägypten und beschrieb ägyptische Tempelbauten.

Viertes Kapitel.


Viertes Kapitel.

Mrs. Flintwinch hat einen Traum.

Wenn Mrs. Flintwinch träumte, so träumte sie gewöhnlich anders als der Sohn ihrer alten Herrin, nämlich mit geschlossenen Augen. Sie hatte einen wunderbar lebhaften Traum in jener Nacht, noch ehe sie den Sohn ihrer alten Herrin vergessen. Es schien auch in der Tat gar nicht ein Traum zu sein, so sehr trug alles vielmehr das Gepräge der Wirklichkeit. Nämlich so.

Das Schlafzimmer von Mr. und Mrs. Flintwinch war nur wenig Schritte von dem entfernt, auf das Mrs. Clennam seit so vielen Jahren angewiesen war. Es lag nicht auf derselben Flur, denn es befand sich in einem Seitenflügel des Hauses, zu dem man über eine steile Treppe von einigen ausgetretenen Stufen gelangte, die von der Haustreppe beinahe gerade gegenüber von Mrs. Clennams Tür seitab führten. Man konnte kaum sagen, daß es im Bereiche der Stimme lag, da Wände, Türen und Getäfel des alten Hauses so schwer und dick waren; aber man konnte in jedem Kleid, zu jeder Zeit der Nacht und bei jeder Temperatur hinüberkommen. Zu Häupten des Bettes und einen Fuß von Mrs. Flintwinchs Ohr entfernt hing eine Glocke, deren Schnur bequem zur Hand Mrs. Clennams war. Sobald diese Glocke ertönte, fuhr Affery auf und stand in dem Zimmer der Kranken, ehe sie recht wach war.

Nachdem sie ihre Herrin zu Bett gebracht, die Lampe angezündet und ihr gute Nacht gesagt, ging Mrs. Flintwinch selbst wie gewöhnlich schlafen – nur war ihr Gatte noch nicht erschienen. Ihr Gatte – und nicht das, woran sie zuletzt gedacht, wie die meisten Philosophen meinen – wurde der Gegenstand ihres Traumes.

Sie glaubte zu erwachen, nachdem sie einige Stunden geschlafen, und fand Jeremiah noch nicht im Bett. Dann sah sie nach dem Licht, das sie hatte brennen lassen, so träumte sie, und danach die Zeit bemessend wie König Alfred der Große, wurde sie, da es schon ziemlich weit heruntergebrannt, in ihrer Überzeugung bestärkt, daß sie außerordentlich lange geschlafen haben müsse. Dann, träumte sie, sei sie aufgestanden, habe sich in ein Tuch gehüllt, die Schuhe angezogen und sei verwundert auf die Treppe hinausgegangen, um nach Jeremiah zu sehen.

Die Treppe war von Holz und sehr fest; Affery ging gerade hinab, ohne irgendwie abzuschweifen, wie es bei Träumenden gewöhnlich vorzukommen pflegt. Sie streifte auch nicht leicht über die Treppe hin, sondern ging wie gewöhnlich hinab und hielt sich an dem Geländer, da ihr das Licht ausgegangen war. An einer Ecke der Vorhalle, hinter der Haustür, war ein kleines Wartezimmer, einer Brunnenstube ähnlich, mit einem langen, schmalen Fenster, das aussah, als ob man einfach die Wand aufgeschlitzt. In diesem Zimmer, das nie benutzt wurde, brannte ein Licht.

Mrs. Flintwinch schritt über die Vorhalle, an den bloßen Füßen wohl fühlend, daß sie auf Steinen ging, und sah zwischen den rostigen Angeln der Tür hindurch, die offen stand. Sie erwartete Jeremiah in festem Schlaf oder in einer Ohnmacht zu sehen, aber er saß ruhig und ganz wach auf einem Stuhl; auch schien er gesund wie gewöhnlich. Doch wie? Der Herr verzeihe uns! Mrs. Flintwinch murmelte ein Stoßgebet und fing an zu taumeln.

Denn der wachende Mr. Flintwinch bewachte den schlafenden Mr. Flintwinch. Er saß an der einen Seite eines kleinen Tisches und beobachtete mit scharfem Blick sein Ebenbild auf der andern Seite, dessen Kinn auf die Brust herabgesunken, wahrend er laut schnarchte. Der wachende Flintwinch hatte sein ganzes Gesicht seiner Frau zugewendet, während man den schlafenden Flintwinch nur im Profil sah. Der wachende Flintwinch war das alte Original; der schlafende Flintwinch dagegen war der Doppelgänger. Gerade wie sie einen greifbaren Gegenstand von seinem Bild im Spiegel hätte unterscheiden können, so unterschied sie alles ganz deutlich, während es mit ihr im Kreise herumging.

Wenn sie noch einen Zweifel hätte haben können, welches ihr rechter Jeremiah sei, so wäre er durch seine Ungeduld gelöst worden. Er sah sich nach einer Angriffswaffe um, ergriff die Lichtschere, und ehe er damit das kohlköpfige Licht putzte, stieß er mit derselben auf den Schläfer los, als ob er sie ihm durch den Leib rennen wollte.

»Wer ist das? Was gibt es?« rief der Schläfer auffahrend.

Mr. Flintwinch machte eine Bewegung mit der Lichtschere, als wollte er ihn dadurch zum Schweigen zwingen, daß er sie ihm in den Hals stieß; als der andere zu sich kam, sagte er, die Äugen reibend: »Ich vergaß, wo ich war.«

»Sie haben geschlafen«, brummte Jeremiah und sah auf die Uhr, »zwei volle Stunden sind es. Sie sagten, Sie hätten genug geschlafen, wenn Sie einen kleinen Nicker machen würden.«

»Ich habe einen kleinen Nicker gemacht«, sagte der Doppelgänger.

»Halb drei Uhr in der Früh’«, murmelte Jeremiah. »Wo ist Ihr Hut? Wo ist Ihr Rock? Wo ist Ihr Kästchen?«

»Alles ist hier«, sagte der Doppelgänger, seinen Hals mit schläfriger Gleichgültigkeit in einen Schal wickelnd. »Warten Sie eine Minute. Geben Sie mir jetzt den Ärmel – nicht diesen Ärmel, den andern. Ach, ich bin nicht mehr so jung, wie ich war.« Mr. Flintwinch war ihm beim Anziehen des Rockes mit großem Eifer behilflich. »Sie versprachen mir ein zweites Glas, wenn ich geschlafen.«

»Trinken Sie!« versetzte Jeremiah, »und ersticken Sie, hätte ich beinahe gesagt, – gehen Sie, wollte ich sagen.« Damit stellte er die nämliche Portweinflasche wie bei seiner Herrin auf und füllte ein Weinglas.

»Ihr Portwein, dünkt mich?« sagte der Doppelgänger und kostete, als ob er in den Docks wäre.

»Ihre Gesundheit.«

Er trank einen Schluck.

»Eure Gesundheit!«

Er trank einen zweiten Schluck.

»Seine Gesundheit!«

Er trank einen dritten Schluck.

»Und die Gesundheit aller Freunde rings um St. Paul

Er leerte das Glas und schob es auf den Tisch, nachdem er dem alten feierlichen Toast Folge gegeben, und nahm das Kästchen auf. Es war ein eisernes Kästchen von ungefähr zwei Fuß im Geviert, das er ziemlich leicht unter dem Arme trug. Jeremiah beobachtete sein Tun mit eifersüchtigen Blicken, drückte auf das Kästchen, um zu sehen, ob er es auch festhalte, bat ihn, doch ja recht pünktlich seine Sache zu besorgen, und ging dann auf den Zehen hinweg, um ihm die Tür zu öffnen. Affery, die diese Absicht ahnte, war schon auf der Treppe. Das übrige war so gewöhnlich und so natürlich, daß sie, während sie auf der Treppe stand, das Öffnen der Tür hören, die Nachtluft fühlen und die Sterne draußen sehen konnte.

Aber nun kam der merkwürdigste Teil des Traumes. Sie fürchtete sich so sehr vor ihrem Gatten, daß sie, als sie so auf der Treppe stand, sich nicht imstande fühlte, in ihr Zimmer zurückzugehen (was so leicht gewesen, ehe er die Tür schloß), sondern, starr auf einen Punkt sehend, stehenblieb. Deshalb kam er, als er mit dem Licht die Treppe heraufging, um sich zu Bett zu begeben, gerade auf sie zu. Er sah verwundert aus, sagte jedoch nicht ein Wort. Er schaute sie fest an und ließ keinen Blick von ihr, während er weiterging; und sie trat, weil sie sich seinem Einfluß nicht entziehen konnte, immer weiter zurück. Auf diese Weise ging sie beständig rückwärts, während er vorwärts ging, bis sie endlich in ihrem Zimmer ankamen. Sie waren aber kaum dort, als Mr. Flintwinch sie am Halse packte und schüttelte, bis sie schwarz im Gesicht war.

»Nun, Affery, Frau! – Affery!« sagte Mr. Flintwinch. »Wovon hast du geträumt? Wach auf, wach auf! Was gibt es?«

»Was es gibt, Jeremiay?« keuchte Mrs. Flintwinch, die Augen rollend.

»Nun, Affery, Frau! – Affery! Du bist während des Schlafes aus dem Bett gefallen, meine Liebe! Ich komme herauf, nachdem ich unten etwas eingeschlafen war, und finde dich, in dein Tuch eingehüllt, vom Alp gepeinigt. Affery, Frau«, sagte Mr. Flintwinch mit einem freundlichen Grinsen in seinem ausdrucksvollen Gesicht, »wenn du je wieder einen Traum der Art hast, so ist es mir ein Zeichen, daß du Arznei brauchst. Und ich werde dir welche geben, Alte – ja, ich werde dir welche geben!«

Mrs. Flintwinch dankte ihm und kroch ins Bett.