Fünftes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Familienangelegenheiten.
Als die Glocken der Stadt am Montagmorgen neun schlugen, wurde Mrs. Clennam von Jeremiah Flintwinch, dem Mann mit dem niedergeschlagenen Blick, vor ihren großen Schreibtisch gerollt. Nachdem sie diesen aufgeschlossen und geöffnet und sich vor dem Pult zurechtgerückt, entfernte sich Jeremiah – wahrscheinlich, um sich mit einem noch wirksameren Spitzbubenblick anzutun –, und ihr Sohn erschien.
»Geht es Ihnen heute morgen etwas besser, Mutter?«
Sie schüttelte den Kopf mit derselben ernsten Miene der Selbstherrlichkeit, die sie am vorhergehenden Abend, als vom Wetter die Rede war, gezeigt hatte. »Ich werde nie mehr besser werden, Arthur. Es ist ein Glück für mich, daß ich meinen Zustand kenne und ihn zu tragen weiß.«
Wie sie so dasaß, die Hände getrennt auf dem Pult und den hohen Schreibtisch vor sich, sah es aus, als ob sie auf einer tonlosen Kirchenorgel spielte. Auf ihren Sohn machte es diesen Eindruck (und nicht erst heute, sondern schon vor Jahren war ihm dieser Gedanke gekommen), als er sich neben sie setzte.
Sie öffnete einige Schiebladen, sah mehrere Geschäftspapiere durch und legte sie dann wieder an ihren früheren Platz. Kein Muskel ihres strengen Gesichts verlor seine Spannung; es war deshalb auch für den Beobachter unmöglich, in das dunkle Labyrinth ihrer Gedanken zu dringen.
»Soll ich von unsern Angelegenheiten sprechen, Mutter? Sind Sie geneigt, auf Geschäftssachen einzugehen?«
»Ob ich geneigt bin? Vielmehr, bist du es? Dein Vater ist seit länger als einem Jahre tot. Ich war seit jenem Augenblick bereit und wartete, bis es dir beliebe.«
»Es war noch so viel zu ordnen, ehe ich abreisen konnte; und als ich endlich freie Hand hatte, reiste ich ein wenig zur Erholung.«
Sie wandte ihr Gesicht nach ihm hin, als ob sie seine letzten Worte nicht gehört oder verstanden.
»Zur Erholung.«
Sie blickte in dem düstern Zimmer umher und schien, nach der Bewegung ihrer Lippen zu urteilen, jene Worte zu wiederholen, als wollte sie diese Räume zu Zeugen auffordern, wie wenig sie daran teilhabe.
»Und dann, Mutter, da Sie die einzige Testamentsvollstreckerin sind und die Sachen ordnen können, wie es Ihnen beliebt, so blieb mir wenig, oder ich möchte sagen, nichts zu tun übrig, bis Sie Zeit hätten, die Dinge zu Ihrer Zufriedenheit zu arrangieren.«
»Die Rechnungen sind ausgefertigt«, versetzte sie, »ich habe sie hier. Die Urkunden sind alle geprüft und richtig befunden. Du kannst Einsicht davon nehmen, wann es dir beliebt, Arthur; jetzt, wenn du Lust hast.«
»Es genügt, Mutter, wenn ich weiß, daß das Geschäft besorgt ist. Soll ich fortfahren?«
»Warum nicht?« sagte sie in ihrer frostigen Weise.
»Mutter, unser Haus hat in den letzten Jahren immer weniger Geschäfte gemacht, und unsre Handelsverbindungen nahmen bedeutend ab. Wir haben nie viel Vertrauen gezeigt oder uns auf viel eingelassen; wir haben die Leute nicht an uns gefesselt. Die Richtung, die wir einschlugen, war nicht die Richtung der Zeit, und wir blieben zuletzt weit zurück. Ich brauche nicht bei diesem Punkt zu verweilen, Mutter. Sie sind hinlänglich davon unterrichtet.«
»Ich weiß, was du meinst«, antwortete sie in ihrem charakteristischen Ton.
»Auch dieses alte Haus, in dem wir sprechen«, fuhr ihr Sohn fort, »ist ein Beispiel von dem, was ich sage. In meines Vaters früheren Zeiten, und zu seines Onkels Zeiten noch früher, war es ein Geschäftsplatz – wirklich ein Geschäftsplatz mit lebhaftem Verkehr. Jetzt ist es eine reine Anomalie, eine Ungereimtheit, außer der Zeit und völlig unzweckmäßig. Alle unsere Verbindungen gingen seit langer Zeit an das Kommissionsgeschäft von Rovingham; und obgleich man, um dieses zu kontrollieren und die Geldmittel meines Vaters gut zu verwalten, Ihr Urteil und Ihre Wachsamkeit lebhaft in Anspruch nahm, so hätten doch diese Eigenschaften den gleichen Einfluß auf meines Vaters Vermögen haben können, wenn Sie irgendeine Privatwohnung bezogen: das müssen Sie zugeben?«
»Denkst du denn«, entgegnete sie, ohne auf seine Frage zu antworten, »daß ein Haus völlig zwecklos sei, Arthur, wenn es deine kränkliche und leidende – deine mit vollem Recht leidende – Mutter beherbergt?«
»Ich sprach nur von geschäftlichen Beziehungen.«
»Und in welcher Absicht?« »Ich komme schon darauf zu sprechen.«
»Ich sehe voraus«, entgegnete sie und heftete ihre Augen auf ihn, »was es ist. Aber der Herr bewahre mich, daß ich unter irgendeiner Heimsuchung murre. Um meiner Sünden willen verdiene ich die bitterste Enttäuschung, und ich nehme sie gelassen hin.«
»Mutter, es schmerzt mich, Sie so sprechen zu hören, obgleich ich ahnte, daß es so kommen würde –«
»Du wußtest, daß es so kommen würde. Du kanntest mich«, unterbrach sie ihn.
Ihr Sohn schwieg einen Augenblick. Er hatte Feuer aus ihr hervorgelockt und war überrascht. »Nun«, sagte sie und sank wieder in ihre steinerne Starrheit zurück. »Fahre fort. Laß mich hören.«
»Sie haben vorausgesehen, Mutter, daß ich mich dahin entscheiden werde, das Geschäft aufzugeben. Ich gebe es wirklich auf. Ich will mir nicht anmaßen, Ihnen zu raten: Sie werden es fortsetzen, ich sehe das voraus. Wenn ich irgendeinen Einfluß auf Sie hätte, würde ich ihn einfach dazu benutzen, Ihr Urteil in Beziehung auf die Enttäuschung, die ich Ihnen bereite, zu mildern und Ihnen vorzustellen, daß ich die Hälfte einer langen Lebenszeit gelebt, ohne je meinem Willen dem Ihren entgegenzusetzen. Ich kann nicht sagen, daß ich imstande war, mich mit Herz und Sinn in Ihre Grundsätze zu fügen; ich kann nicht sagen, daß ich glaube, meine vierzig Jahre seien mir selbst oder irgendwem sonst nützlich oder angenehm gewesen. Aber ich habe gewöhnlich nachgegeben, und ich bitte nur, daß Sie sich daran erinnern.«
Wehe dem Flehenden von jetzt und ehedem, der von dem unerbittlichen Gesicht an dem Schreibtisch ein Zugeständnis erwartete! Wehe dem Verbrecher, dessen Appellation einem Tribunal unterbreitet war, bei dem so strenge Augen den Vorsitz führten! Die harte Frau brauchte all ihre mystische Religion, die in Dunkel und Finsternis gehüllt war, um nur Fluch-, Rache- und Vernichtungsblitze durch die Sandwolken zu schleudern. Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern, war eine Bitte, die ihr zu geistesarm erschien. Züchtige meine Schuldner, o Herr, vertrockne sie, zermalme sie; tu mit ihnen, wie ich tun würde, und ich werde dich anbeten: das war der gottlose Turm von Stein, den sie aufbaute, um himmelan zu steigen.
»Bist du zu Ende, Arthur, oder hast du mir noch etwas zu sagen? Ich glaube, es wird nichts mehr übrig sein. Du warst kurz, aber deine Worte waren inhaltsschwer!«
»Mutter, ich habe noch etwas zu sagen. Es lastete die ganze lange Zeit Tag und Nacht auf meinem Herzen. Es ist weit schwieriger zu sagen, als was ich bisher gesagt. Dies betraf nur mich selbst: was nun kommt, uns alle.«
»Uns alle! Wer sind diese ›uns alle?‹«
»Sie, ich, mein verstorbener Vater.«
Sie nahm ihre Hände von dem Schreibtisch, faltete sie in ihrem Schoß und saß, mit der Unerforschlichkeit einer alten ägyptischen Skulptur in das Feuer blickend, da.
»Sie kannten meinen Vater ungleich besser, als ich ihn je gekannt; und seine Zurückhaltung gegen mich wich gegenüber Ihnen. Sie waren der stärkere Teil, Mutter, und leiteten ihn. Ich wußte das schon als Kind so gut wie jetzt. Ich wußte, daß Ihr Einfluß auf ihn die Ursache war, weshalb er nach China ging, um dort das Geschäft zu besorgen, während Sie sich dessen hier annahmen (wenn ich auch jetzt noch nicht weiß, ob dies wirklich der Grund zur Trennung war, wegen dessen Sie einwilligten); so wußte ich auch, daß es Ihr Wille war, daß ich hier bleibe, bis ich zwanzig Jahre alt sei, und dann zu ihm gehe, wie es wirklich geschah. Sie werden nicht ungehalten sein, wenn ich nach zwanzig Jahren daran erinnere?«
»Ich warte auf den Grund, weshalb du daran erinnerst.«“
Er dämpfte seine Stimme und sagte sichtbar ungern und mit Widerwillen:
»Ich möchte Sie fragen, Mutter, ob es Ihnen je in den Sinn gekommen, Verdacht zu hegen –«
Bei dem Worte »Verdacht« richtete sie den Blick mit finstrem Zusammenziehen der Brauen auf ihren Sohn. Dann ließ sie die Augen wieder das Feuer suchen, aber die Brauen blieben zusammengezogen, als ob der Bildhauer des alten Ägypten dem harten granitnen Gesicht für Jahrhunderte diesen finstern Ausdruck geben wollte.
»– daß er irgendeine geheime Erinnerung habe, die ihn beunruhige, ihn mit Reue quäle? Haben Sie je in seinem Benehmen etwas bemerkt, was zu diesem Verdacht führen konnte, oder je mit ihm davon gesprochen, oder je ihn auf etwas Derartiges anspielen hören?«
»Ich verstehe nicht, welcher Art die geheime Erinnerung gewesen sein sollte, der du deinen Vater zum Opfer werden läßt«, entgegnete sie nach einer Pause. »Du sprichst so geheimnisvoll.«
»Wäre es möglich, Mutter«, sagte der Sohn, indem er sich vorbeugte, um ihr näher zu sein, solange er flüsterte, und legte dabei seine Hand ängstlich besorgt auf das Schreibpult, »wäre es möglich, Mutter, daß er irgend jemandem ein Unrecht zugefügt und es nicht wieder gutgemacht hat?«
Zornig ihn anblickend, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, um ihn von sich fernzuhalten, antwortete jedoch nicht.
»Ich fühle wohl, Mutter, daß, wenn dieser Gedanke Ihnen niemals in den Sinn gekommen, es grausam und unnatürlich von mir erscheinen muß, selbst in diesem vertraulichen Augenblick, ihn auch nur leise auszusprechen. Aber ich kann ihn nicht loswerden. Zeit und Veränderung des Orts (ich habe beides versucht, ehe ich mein Schweigen brach) vermögen nichts gegen ihn. Bedenken Sie, ich lebte bei meinem Vater. Bedenken Sie, ich blickte ihm ins Auge, als er mir die Uhr anvertraute und sich mir zu sagen mühte, daß er sie Ihnen als ein Zeichen sende, das Sie wohl verstehen würden. Bedenken Sie, ich sah ihn im letzten Augenblick, als er mit dem Bleistift in der zitternden Hand einige Worte, denen er jedoch keine Form geben konnte, für Sie zu schreiben suchte. Je entfernter und grausamer dieser vage Verdacht, den ich hege, desto gewichtiger sind die Umstände, die ihm einen Schein von Wahrscheinlichkeit zu geben vermögen. Um des Himmels willen, lassen Sie uns ernstlich forschen, ob hier irgendein Unrecht wieder gutzumachen ist. Niemand kann mir dabei helfen, Mutter, als Sie.«
Noch immer in ihrem Lehnstuhl so zurückgelehnt, daß ihr Übergewicht von Zeit zu Zeit diesen ein wenig auf seinen Rädern bewegte, und daß sie das Aussehen eines vor ihm zurückweichenden zornglühenden Phantoms hatte, stemmte sie, den Rücken ihrer Hand am Gesicht, den Arm zwischen ihn und sich, während sie ihn schweigend ansah.
»Bei diesem Haschen nach Geld und den kühnen Handelsspekulationen – ich habe begonnen und muß nun von solchen Dingen sprechen, Mutter – ist ohne allen Zweifel jemand beeinträchtigt, benachteiligt, ruiniert worden. Sie waren die Triebfeder der ganzen Maschine, ehe ich geboren wurde. Ihr starker Geist hat während mehr als vierzig Jahren an allen Geschäften meines Vaters teilgenommen. Sie können diese Zweifel lösen, hoffe ich, wenn Sie mir wirklich zur Ergründung der Wahrheit behilflich sein wollen. Wollen Sie das, Mutter?«
Er hielt inne, in der Hoffnung, sie werde sprechen. Aber ihre starren Lippen waren nicht beweglicher als ihr graues, in zwei Scheitel gelegtes Haar.
»Wenn wir irgend etwas ersetzen, wenn wir irgend etwas wieder gutmachen können, so lassen Sie es uns wissen und es tun. Ja, Mutter, wenn es in meinen Kräften liegt, so lassen Sie es mich tun. Ich habe so wenig Glück vom Golde kommen sehen: es hat, soweit mein Wissen reicht, weder diesem Haus noch irgendeinem, der dazu gehört, Frieden gebracht: darum hat es in meinen Augen auch weit geringeren Wert als in irgendeines andern. Ich kann mir nichts damit erwerben, das mir nicht ein Vorwurf oder eine Pein wäre, solange mich noch der Argwohn quält, daß meines Vaters letzte Stunden von Gewissensbissen umnachtet waren, und daß das Geld nicht mein ehrlicher und gerechter Besitz sei.«
Zwei bis drei Ellen von dem Schreibtisch hing eine Klingelschnur an der gefelderten Wand. Durch eine rasche und plötzliche Bewegung ihres Fußes schob sie ihren Räderstuhl schnell nach jener hin und zog heftig daran –, während sie den Arm noch immer in einer schildartigen Stellung hielt, als ob Arthur mit ihr kämpfte und sie den Schlag abwehren wollte.
Ein Mädchen trat erschrocken ein.
»Sende Flintwinch her!«
Im nächsten Augenblick war das Mädchen verschwunden, und der alte Mann stand in der Tür. »Wie! Sind Sie schon in Streit?« sagte er, sich sein Gesicht streichend. Ich dachte mir’s doch. Ich war fest davon überzeugt.«
»Flintwinch!« sagte die Mutter. »Sehen Sie meinen Sohn an. Sehen Sie ihn an!«
»Nun! Ich sehe ihn an«, sagte Flintwinch.
Sie streckte den Arm aus, mit dem sie sich gedeckt, und zeigte, während sie fortfuhr, auf den Gegenstand ihrer Entrüstung.
»Beinahe in derselben Stunde, in der er ankommt, – ehe noch der Schuh an seinem Fuß trocken ist – verleumdet er das Gedächtnis seines Vaters vor seiner Mutter! Verlangt, daß seine Mutter die Handlungen seines Vaters mit ihm auskundschafte! Spricht Befürchtungen aus, daß die Güter dieser Welt, die wir früh und spät mit Müh‘ und Sorgen, mit Arbeit und Selbstverleugnung zusammengebracht, so gut wie Raub seien; und fragt mich, wem sie als Ersatz und Vergütung wieder zurückerstattet werden sollen!«
Obgleich sie dies mit größter Entrüstung sagte, sprach sie doch in einem Ton, den sie so ganz beherrschte, daß er sogar leiser als gewöhnlich war. Auch sprach sie mit großer Deutlichkeit.
»Ersatz!« sagte sie, »ja wahrhaftig! Es ist leicht von Ersatz zu sprechen, wenn man frisch vom Reisen und Wohlleben in fremden Ländern herkommt und ein Leben voll Lust und Vergnügen führt. Er soll mich ansehen in meinem Gefängnis, in Ketten und Banden. Ich ertrage mein Schicksal ohne Murren, weil es mir beschieden, auf solche Weise meine Sünden zu büßen. Ersatz! Liegt denn keiner in diesem Zimmer? Habe ich denn während dieser fünfzehn Jahre nichts wieder gutgemacht?«
So wog sie immer ihren Handel mit der Majestät des Himmels ab, indem sie den Eingang zu ihrem »Haben« schrieb, streng an ihrer Gegenforderung festhielt und auf ihren Gebühren beharrte. Sie war darin nur wegen der Strenge und des Nachdrucks, mit denen sie das tat, merkwürdig. Tausende und aber Tausende tun dasselbe alle Tage, jeder nach seiner Weise.
»Flintwinch, geben Sie mir das Buch!«
Der alte Mann gab es ihr vom Tische. Sie steckte zwei Finger zwischen die Blätter, schloß das Buch und hielt es ihrem Sohne drohend hin.
»In alten Zeiten, Arthur, von denen dieses Buch spricht, gab es fromme, von dem Herrn geliebte Männer, die ihre Söhne um geringerer Ursachen als diese verflucht und aus ihrer Nähe verbannt, ja ganze Nationen, wenn sie sie unterstützt, ins Exil geschickt, daß sie verlassen von Gott und Menschen bis herab zum Säugling an der Mutterbrust umgekommen wären. Ich erkläre dir jedoch nur so viel, daß, wenn du jemals dieses Thema wieder in meiner Gegenwart zur Sprache bringst, ich dich verleugnen werde; ja, ich werde dich so von dieser Schwelle weisen, daß es dir besser wäre, du würdest von deiner Wiege an mutterlos gewesen sein. Ich werde dich nimmer ansehen noch kennen. Und wenn du endlich in dieses dunkle Gemach trätest, um mich im Tod noch zu sehen, sollte, wo es irgend in meiner Macht stände, mein Leichnam bluten, wenn du mir nahe kämest.«
Erleichtert teils durch die Heftigkeit dieses Fluches, teils (so seltsam dies auch scheinen mag) durch den allgemeinen Eindruck, daß es eine Art religiösen Aktes war, gab sie dem alten Manne das Buch zurück und schwieg.
»Jetzt«, sagte Jeremiah, »vorausgeschickt, daß ich nicht die Absicht habe, mich zwischen Sie zu stellen, erlauben Sie mir zu fragen (da ich einmal hereingerufen und zum Dritten gemacht worden bin), was soll dies alles bedeuten?«
»Lassen Sie sich’s von meiner Mutter erklären«, erwiderte Arthur, da er sah, daß das Sprechen ihm überlassen blieb. »Oder lassen Sie die Sache lieber ruhen. Was ich gesagt, war nur zu meiner Mutter gesagt.«
»Oh!« versetzte der alte Mann, »von Ihrer Mutter? Von Ihrer Mutter erklären lassen? Schon gut! Aber Ihre Mutter sagte, daß Sie Ihren Vater verdächtigt haben. Das ist nicht recht, Mr. Arthur. Wer wird nun bei den Verdächtigungen an die Reihe kommen?«
»Genug«, sagte Mrs. Clennam, ihr Gesicht so wendend, daß es für den Augenblick nur dem alten Manne zugekehrt war. »Wir wollen nicht weiter davon sprechen.«
»Ja, aber nur noch etwas, nur noch etwas«, drängte der alte Mann. »Lassen Sie uns sehen, wie wir stehen. Haben Sie Mr. Arthur gesagt, daß er keine Beleidigungen auf seinen Vater häufen darf? Daß er kein Recht dazu, – daß er keinen Grund zu solchem Betragen hat?«
»Ich werde es ihm jetzt sagen.«
»Ha! Wirklich«, sagte der alte Mann. »Sie werden es ihm jetzt sagen. Sie hatten es ihm bisher noch nicht gesagt und wollen es ihm jetzt sagen. Ah, ah, das ist recht! Sie wissen, ich stand so lange zwischen Ihnen und seinem Vater, daß es scheint, als hätte der Tod keinen Unterschied gemacht, und ich stehe noch zwischen Ihnen. So soll es denn auch sein, und in aller Güte fordre ich, daß der Sache ein Ende gemacht werde. Arthur, ich muß Sie bitten, sich wohl zu merken, daß Sie kein Recht haben, Ihren Vater zu verdächtigen, und keinen Grund, so zu verfahren.«
Er legte seine Hände auf die Lehne des Rollstuhls, und etwas in sich hineinmurmelnd, rollte er seine Herrin wieder an den Schreibtisch zurück. »Aber«, fuhr er hinter ihr stehend fort, »für den Fall, daß ich bei meinem Weggang die Sache auf halbem Wege lasse und man meiner wieder bedürfte, wenn Sie zur Beratung der andern Hälfte kommen, möchte ich doch wissen, ob Arthur Ihnen gesagt, was er in bezug auf das Geschäft beabsichtigt?«
»Er hat es aufgegeben.«
»Vermutlich doch zu keines andern Gunsten?« Mrs. Clennam sah ihren Sohn an, der an einem der Fenster lehnte. Er bemerkte den Blick und sagte: »Natürlich zugunsten meiner Mutter. Sie kann tun, was ihr beliebt.«
»Und wenn irgendeine Freude«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »mir aus der Täuschung meiner Erwartung, daß mein Sohn in der besten Jugendfrische seines Lebens ihm neue Kraft und neuen Schwung verleihen und es nutzbringend und ergiebig machen würde, – wenn irgendeine Freude mir aus dieser Enttäuschung erwächst, so ist es die, daß sie einen alten und treuen Diener im Wert steigen ließ. Jeremiah, der Kapitän verläßt das Schiff, aber du und ich werden untergehen oder auf ihm fortschwimmen.«
Jeremiah, dessen Augen blitzten, als ob sie Geld sähen, warf einen raschen Blick auf den Sohn, der zu sagen schien: »Ich bin Ihnen keinen Dank dafür schuldig; Sie haben nichts dafür getan!« und dann der Mutter bedeutete, daß er ihr danke und daß Affery ihr danke und daß er sie nimmer verlassen werde und daß Affery sie nimmer verlassen werde. Endlich zog er seine Uhr aus ihren Tiefen empor und sagte: »Elf! Die Zeit für Ihre Austern!« und mit dieser Änderung des Themas, die jedoch nicht auch eine Änderung des Ausdrucks oder der Haltung in sich schloß, zog er die Glocke.
Aber Mrs. Clennam beschloß, mit noch größerer Strenge gegen sich zu verfahren, da man sie im Verdacht einer Ersatzverweigerung gehabt, und wies die Austern zurück, als man sie ihr brachte. Sie sahen verführerisch aus: acht an der Zahl, im Kreise auf einem weißen Teller, der auf einer mit weißer Serviette bedeckten Präsentierplatte stand, und daneben eine Schnitte mit Butter bestrichenen Weißbrots und ein kleines volles Glas kühlen Weins mit Wasser; aber sie widerstand aller Überredungskunst und schickte sie wieder hinunter –, indem sie ohne Zweifel diesen Akt zu ihrem »Haben« im Buch der Ewigkeit schrieb.
Bei diesem Austernfrühstück war Affery nicht zugegen, wohl aber das Mädchen, das auf das Läuten erschienen war; dasselbe, das in dem düster beleuchteten Zimmer am vorhergehenden Abend anwesend gewesen. Jetzt, da er Gelegenheit hatte, sie zu beobachten, fand Arthur, daß ihre winzig kleine Figur, ihre kleinen Gesichtszüge und ihr leichter, dürftiger Anzug ihr ein weit jüngeres Aussehen gaben, als es in Wirklichkeit der Fall war. Obgleich ein Mädchen von nicht weniger als zweiundzwanzig Jahren, mochte die Kleine bei einer Begegnung auf der Straße für wenig mehr als halb so alt gegolten haben. Nicht gerade, daß ihr Gesicht so jugendlich ausgesehen; denn die Züge hatten etwas Reiferes und durch Kummer Ausgeprägteres, als dies sonst in solchem Alter der Fall zu sein pflegt. Aber sie war so klein und zart, so still und menschenscheu, und schien so deutlich zu fühlen, sie sei zwischen den drei weit Älteren nicht am Platze, daß sie ganz das Benehmen und viel von dem Wesen eines unterdrückten Kindes hatte.
Die Art und Weise, wie Mrs. Clennam ihr Interesse für dieses abhängige Wesen an den Tag legte, hielt die unbestimmte schwankende Mitte zwischen Gönnerhaftigkeit und Unterdrückung, zwischen dem Strom eine Gießkanne und einer hydraulischen Presse.
Selbst in dem Augenblick, als sie auf das heftige Klingeln eintrat und die Mutter sich mit der eigentümlichen Aktion gegen den Sohn schützte, hatten die Augen von Mrs. Clennam noch etwas besonders Forschendes, das sie für sie aufgespart. Wie es selbst bei dem härtesten Metall Grade von Härte und Schattierungen selbst im Schwarz gibt, so war auch in dem rauhen Wesen von Mrs. Clennams Verhalten zur ganzen übrigen Menschheit und zu Klein-Dorrit eine feine Steigerung vorhanden.
Klein-Dorrit arbeitete als Hausnäherin. So lange der Tag dauerte, oder so kurz er dauerte – von acht zu acht Uhr –, konnte man Klein-Dorrit haben. Pünktlich mit dem Glockenschlag erschien Klein-Dorrit; pünktlich mit dem Glockenschlag verschwand Klein-Dorrit. Was zwischen den beiden Acht aus Klein-Dorrit wurde, wußte man nicht.
Eine weitere Seite im Wesen Klein-Dorrits war dies. Neben der Geldvergütung schloß ihr täglicher Kontrakt auch das Essen ein. Sie hatte einen außerordentlichen Widerwillen gegen das Essen in Gesellschaft und tat es auch nie, wenn sie solchem dann irgendwie ausweichen konnte. Sie schützte, wo es anging, vor, daß sie diese Kleinigkeit schon anzufangen oder jene Kleinigkeit noch fertigzumachen habe; immer dachte, immer überlegte sie, wie sie es einrichten könne, um allein zu essen. Ihr Verfahren war freilich nicht sehr geschickt. Denn sie täuschte niemanden. Aber es gelang ihr doch: und sie war glücklich, wenn sie ihre Platte irgendwohin tragen und ihren Schoß, oder eine Schachtel, oder den Boden, oder sonst einen Fleck zu ihrem Tische machen, oder gar auf den Zehenspitzen stehen und ihr bescheidenes Mal auf dem Kaminsims verzehren konnte; die größte Angst von Klein-Dorrits Tag war dann überwunden.
Es war nicht leicht, Klein-Dorrits Antlitz zu Gesicht zu bekommen. Sie hielt sich ungemein zurückgezogen, nähte in den verstecktesten Winkeln und blickte scheu zur Seite, wenn sie jemandem auf der Treppe begegnete. Aber es schien ein blasses, durchsichtiges Gesicht von lebhaftem Ausdruck, wenn auch nicht schönen Zügen zu sein: nur ihre nußbraunen Augen machten eine Ausnahme. Ein zart gebeugter Kopf, eine kleine Gestalt, ein Paar kleine, geschäftige Hände und ein abgeschabtes Kleid – es mußte wirklich überaus abgeschabt gewesen sein, obgleich es ganz nett aussah –, das war Klein-Dorrits Erscheinung, wenn sie bei der Arbeit saß.
Diese besonderen und allgemeinen Züge Klein-Dorrits verdankte Mr. Arthur im Laufe des Tages seinen eigenen Augen und Mrs. Afferys Zunge. Wenn Mrs. Affery irgendeinen Willen für sich gehabt, so wäre dieser sicher Klein-Dorrit nicht sehr günstig gewesen. Da jedoch »die beiden Gescheiten« – Mrs. Afferys beständige Instanz, in der ihre Persönlichkeit aufgegangen – einverstanden waren, Klein-Dorrit als eine Sache der Gewohnheit zu betrachten,
Klein-Dorrit im Hause Mrs. Clennams
so hatte sie nichts zu tun, als sich darein zu fügen und desgleichen zu tun. Wären die beiden Gescheiten miteinander einverstanden gewesen, Klein-Dorrit bei Licht umzubringen, würde Affery, wenn man sie zum Lichthalten aufgefordert, sich ohne Zweifel keinen Augenblick geweigert haben.
Während sie das Rebhuhn für das Krankenzimmer briet und eine Backschüssel mit Ochsenfleisch und Pudding für das Speisezimmer zubereitete, machte sie Mr. Arthur die eben erwähnten Mitteilungen, indem sie beständig den Kopf in die Tür steckte, nachdem sie ihn wieder zurückgezogen, um den Widerstand gegen die beiden Gescheiten zu verstärken. Es schien für Mrs. Flintwinch eine wirkliche Leidenschaft geworden zu sein, daß der einzige Sohn ihnen feindlich gegenübergestellt werde.
Im Verlauf des Tages machte Arthur einen Gang durch das ganze Haus. Er fand es dunkel und düster. Die großen, seit Jahren leer dastehenden Räume schienen in finstere Totenstarre versunken, aus der sie wohl nichts wieder aufrütteln konnte. Die dürftigen und unordentlich durcheinander gewürfelten Möbel waren mehr in den Zimmern versteckt, als daß sie dieselben geziert, und im ganzen Hause war keine Spur von Farbe zu sehen. Der Anstrich, der je einmal dagewesen, war von verlorenen Sonnenstrahlen gebleicht – die dann wahrscheinlich möglichst rasch in Blumen, Schmetterlinge, Vogelgefieder, kostbare Steine und andere Dinge untertauchten. Es war nicht ein gerader Boden vom Grund des Hauses bis unter das Dach zu finden; die Decken waren so phantastisch von Rauch und Dunst umwölkt, daß alte Frauen besser das Schicksal daraus hätten prophezeien können, als aus dem Bodensatz des Tees. Die eiskalten Herde zeigten keine Spuren, daß sie je erwärmt worden, aber Haufen von Ruß waren von den Kaminen herabgefallen und flogen in kleinen, dunklen Wirbelwinden auf, wenn die Türen geöffnet wurden. In dem ehemaligen Wohnzimmer befanden sich ein paar armselige Spiegel mit häßlichen schwarzen Figuren, die schwarze Girlanden tragend auf den Rahmen einhergingen. Aber selbst diese hatten Plattköpfe und kurze Beine; ein unternehmend aussehender Cupido hatte sich um seine eigene Achse gedreht und das Unterste nach oben gekehrt; ein anderer war sogar ganz herabgefallen. Das Zimmer, das Arthur Clennams verstorbener Vater als Geschäftszimmer in der Zeit benutzt, aus der seine ersten Erinnerungen stammten, war so unverändert, daß man hätte glauben können, er bewohne es noch immer unsichtbar, wie seine sichtbare Witwe das ihrige oben, und Jeremiah stehe noch immer vermittelnd zwischen ihnen. Sein dunkles und finsteres Bild, das in sprachlosem Ernst an der Wand hing, die Augen fest auf den Sohn geheftet, wie sie auf ihn gerichtet waren, als die Lebensgeister ihn verließen, schien ihn unheimlich zu der Vollendung der Tat zu drängen, die er begonnen. Aber es blieb ihm jetzt keine Hoffnung, daß seine Mutter je nachgeben würde, und auch auf andere Weise seinen Argwohn zu beschwichtigen, hatte er für lange Zeit alle Hoffnung verloren. Drunten in den Kellern wie droben in den Schlafzimmern hatte manches, dessen er sich noch wohl erinnerte, durch Alter und Verfall ein anderes Aussehen bekommen, obgleich es an derselben Stelle wie früher stand, selbst bis auf die leeren, mit Spinngeweben überzogenen, schimmeligen Bierfäßchen und die leeren Weinflaschen herab, deren Hälse mit Schleim und Pilzen verstopft waren. Dort befand sich auch unter ungebrauchten Flaschengestellen und von schwachen Lichtstreifen aus dem darüberliegenden Hofe erhellt der feste, mit alten Lagerbüchern angefüllte Raum. Die Bücher hatten einen so dunstigen Modergeruch, als ob sie regelmäßig in der Totenstunde von einer allnächtlich spukenden Versammlung alter Buchhalter abgeschlossen würden.
Die Backschüssel wurde um zwei Uhr auf einem zerknitterten Tischtuch an einem Ende des Speisetisches serviert, als gälte es Büßende zu bewirten. Arthur aß zugleich mit Mr. Flintwinch. Dieser teilte ihm mit, daß seine Mutter ihre frühere Gemütsruhe wiedergewonnen, und daß er nicht zu befürchten brauche, sie werde je auf das anspielen, was diesen Morgen geschehen. »Und häufen Sie nun auch ferner keine Beleidigungen auf Ihren Vater, Mr. Arthur«, fügte Jeremiah hinzu, »einmal für allemal, unterlassen Sie das! Die Sache ist damit abgemacht!«
Mr. Flintwinch hatte bereits sein eigenes kleines Bureau in Ordnung gebracht, als gälte es der Erlangung seiner neuen Würde alle Ehre zu erweisen. Er nahm seine Beschäftigung wieder auf, als er sich mit Ochsenbraten angefüllt, allen Saft in der Backschüssel mit dem flachen Messer ausgeschöpft und aus einem auf dem Küchentisch stehenden Krug mit Halbbier sich erquickt hatte. So erfrischt, schlug er seine Hemdärmel hinauf und ging wieder an die Arbeit. Mr. Arthur, der ihn dabei beobachtete, merkte bald, daß seines Vaters Bild oder seines Vaters Grab ebenso mitteilsam sein würden wie dieser alte Mann.
»Nun, Affery, Frau«, sagte Mr. Flintwinch, als sie durch den Gang ging. »Du hattest Mr. Arthurs Bett noch nicht gemacht, als ich das letztemal oben war. Eile dich! Rühre dich!“
Aber Mr. Arthur fand das Haus so öde und traurig und hatte so wenig Lust, einem zweiten unversöhnlichen Zusammentreffen der Feinde seiner Mutter (unter denen er vielleicht selbst war) zum Ärgernis diesseits und zum Verderben jenseits beizuwohnen, daß er die Absicht zu erkennen gab, nach dem Kaffeehaus, wo er sein Gepäck gelassen, zu ziehen. Da Mr. Flintwinch den Gedanken, ihn loszuwerden, freundlich aufnahm und seine Mutter, abgesehen vom Sparen, sich um die meisten häuslichen Angelegenheiten, die nicht an die vier Wände ihres eigenen Zimmers gebunden waren, wenig kümmerte, so ging die Sache ohne neue Kränkung vor sich. Man bestimmte täglich einige Stunden, die seine Mutter, Mr. Flintwinch und er dem Ordnen der Bücher und Papiere gemeinschaftlich widmen wollten; und er verließ das Haus, in das er nach so langer Zeit wieder eingekehrt, mit gebeugtem Herzen.
Aber Klein-Dorrit?
Die Geschäftsstunden, in die die Krankendiät der Austern und Rebhühner eine Unterbrechung brachte, während deren Mr. Clennam sich durch einen Gang erfrischte, dauerten ungefähr vierzehn Tage lang von zehn bis sechs. Bisweilen war Klein-Dorrit im Hause als Näherin beschäftigt, bisweilen nicht, bisweilen erschien sie als demütiger Besuch: das muß wohl auch bei Gelegenheit seiner Ankunft der Fall gewesen sein. Seine angeborene Neugier nahm mit jedem Tag zu, solange er sie beobachtete, sie sah oder nicht sah und über sie nachsann. Ganz nur von einem Gedanken beherrscht, wurde es ihm nach und nach zur Gewohnheit, die Möglichkeit, daß sie in irgendeiner Weise dazu in Beziehung stehe, zu erwägen. Zuletzt beschloß er, Klein-Dorrit scharf zu beobachten und sich genauere Kenntnis von ihrer Lebensgeschichte zu verschaffen.