Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Mütterchen.

Das Morgenlicht beeilte sich nicht sonderlich, die Gefängnismauern hinanzuklimmen und in die Fenster der Snuggery hineinzusehen; und als dies endlich geschah, wäre es weit willkommener gewesen, wenn es allein erschienen und nicht einen Regenschauer mit sich gebracht. Aber die Äquinoktialwinde stürmten draußen auf der See, und der unparteiische Südwestwind wollte auf seinem Flug selbst das enge Marschallgefängnis nicht versäumen. Während er durch die Türme von St. George brauste und durch alle Schirmkappen in der Nachbarschaft blies, trieb er plötzlich mit einem Stoß den Rauch von Southwark in den Kerker. Durch die Kamine einiger weniger Gefangener sich drängend, die bereits ihr Feuer anzündeten, hätte er diese beinahe erstickt.

Arthur Clennam hätte wenig Lust gehabt, länger im Bett zu verweilen, wenn dieses auch an einer abgeschiedeneren Stelle gestanden, und er von dem Herausscharren des Feuers von gestern, dem Anzünden eines neuen unter dem Siedetopf der Gefangenen, dem Füllen dieses spartanischen Kessels an der Pumpe, dem Fegen und Mit-Sägemehl-Bestreuen des gemeinschaftlichen Zimmers und dergleichen Vorbereitungen minder gestört worden wäre. Herzlich froh, den Morgen anbrechen zu sehen, obgleich er die Nacht wenig geruht, stand er, sobald er die Dinge um sich her unterscheiden konnte, auf und schritt zwei lange Stunden, ehe das Tor geöffnet wurde, im Hofe umher.

Die Mauern standen sich so nahe gerückt und die wilden Wolken eilten so rasch darüber hin, daß es ihm das Gefühl herannahender Seekrankheit gab, wenn er zum stürmischen Himmel emporblickte. Der Regen, der durch Windstöße in die Quere getrieben wurde, schwärzte die Wand des Hauptgebäudes, das er in der letzten Nacht besucht, ließ jedoch unter dem Lee der Mauer einen Raum trocken, wo er unter Stroh, Kehricht, Papierschnitzeln, dem verlorenen Getröpfel der Pumpe und den zerstreuten Gemüseabfällen von gestern auf und ab wallte. Es war ein so häßliches Lebensbild, wie man es sich nur denken kann.

Kein Schimmer des kleinen Geschöpfes, das ihn hierhergeführt, erhellte dieses Nachtbild. Vielleicht schlich sie aus ihrem Torweg in den, wo ihr Vater wohnte, während sein Gesicht von beiden abgewandt war. Aber er sah nichts von ihr. Es war zu früh für ihren Bruder; wer ihn einmal gesehen, hatte genug von ihm gesehen, um zu wissen, daß er zu träg war aufzustehen, mochte sein Bett, in dem er die Nacht zubrachte, auch noch so muffig sein. So sann Arthur Clennam, während er das Öffnen des Tores erwartend auf und nieder ging, mehr auf Mittel für die Fortsetzung seiner Nachforschungen, die er in Zukunft, als die er in der nächsten Gegenwart ins Werk setzen wollte.

Endlich bewegte sich die Tür des Pförtnerstübchens in den Angeln, und der Schließer, der seine Haare kämmend auf der Schwelle stand, war bereit, ihn hinauszulassen. Mit dem angenehmen Gefühl des Freiwerdens schritt er durch das Pförtnerstübchen und sah sich wieder in dem kleinen Vorhof, wo er vergangenen Abend den Bruder angeredet.

Von verschiedenen Seiten kamen bereits Menschen herbei, die unschwer als die noch unbeschriebenen Boten, Ausläufer und Unterhändler des Gefängnisses zu erkennen waren. Einige von ihnen hatten in dem Regen gelungert, bis das Tor sich öffnete. Andere, die ihre Ankunft mit größter Genauigkeit berechnet, waren nun gerade im Anzug und gingen mit feuchten, weißlich braunen Papiertüten vom Gewürzkrämer, Brotlaiben, Stücken Butter, Eiern, Milch und dergleichen in das Gefängnis. Die Lumpigkeit dieser Diener der Lumpigkeit, die Armut dieser zahlungsunfähigen Aufwärter der Zahlungsunfähigkeit war ein interessanter Anblick. Solche fadenscheinige Röcke und Hosen, solche muffige Kleider und Tücher, solche zerknüllte Hüte und Hauben, solche Stiefel und Schuhe, solche Schirme und Stöcke hatte man auf dem Trödelmarkt nie gesehen. Sie alle trugen die weggeworfenen Kleider anderer Männer und Frauen. Diese Kleider waren zusammengesetzt aus den Lappen und Stücken der Individualität anderer Leute und hatten keine eigne Existenz. Ihr Gang war der Gang einer ganz merkwürdigen Rasse. Sie hatten eine ganz eigentümliche Art, wie die Hunde um die Ecke zu schleichen, als ob sie beständig zu den Pfandleihern gingen. Wenn sie husteten, husteten sie wie Leute, die gewohnt sind, auf Türschwellen und in zugigen Gängen die Antwort auf Briefe zu erwarten, die mit blasser Tinte geschrieben sind und den Empfängern große geistige Unruhe bereiten und wenig Befriedigung gewähren. Wenn sie den Fremden im Vorübergehen betrachteten, betrachteten sie ihn mit bittenden Augen – hungrig, scharf, auf seine Güte spekulierend, als wenn sie auf ihn angewiesen wären, und auf die Wahrscheinlichkeit, daß etwas Schönes ihrer warte. Die Bettelei aus Auftrag bückte sich in ihren hohen Schultern, schlenkerte in ihren unsteten Beinen, knöpfte, band, stopfte und schleppte ihre Kleider, rieb ihre Knopflöcher ab, hing in kleinen schmutzigen Bandenden aus ihrem Anzug hervor und drang in Atem, der nach Alkohol roch, aus ihrem Munde.

Als diese Leute an ihm vorübergingen, während er noch in dem Vorhof stand, und einer von ihnen zurückkehrte, um ihn zu fragen, ob er ihm nicht zu Dienst sein könne, kam Arthur auf den Gedanken, er wolle noch einmal mit Dorrit sprechen, ehe er wegging. Sie würde sich wohl von ihrer ersten Überraschung erholt haben und sich ihm gegenüber unbefangener fühlen. Er fragte dies Glied der Brüderschaft (das zwei Bücklinge in der Hand und ein Brot und eine Stiefelbürste unter dem Arm trug), wo man in der Nähe eine Tasse Kaffee bekommen könne. Der Unbeschriebene antwortete in ermutigenden Worten und brachte ihn nach einer Kaffeewirtschaft, die nur einen Steinwurf entfernt war. »Kennt Ihr Miß Dorrit?« fragte der neue Klient.

Der Unbeschriebene kannte zwei Miß Dorrit; eine, die im Gefängnis geboren worden – das war sie! Das war sie! Der Unbeschriebene kannte sie seit vielen Jahren. Was die andre Miß Dorrit betraf, so wohnte der Unbeschriebene in demselben Hause mit ihr und ihrem Oheim.

Dies änderte den beinahe gefaßten Entschluß des Klienten, in der Kaffeewirtschaft zu bleiben, bis der Unbeschriebene ihm melde, daß Dorrit nach der Straße herauskomme. Er betraute den Unbeschriebenen mit einer vertraulichen Botschaft des Inhalts an sie, daß der Fremde, der vergangenen Abend ihrem Vater einen Besuch abgestattet hatte, um die Gunst einiger Worte in ihres Onkels Wohnung bitte. Er erhielt von derselben Quelle die genaueste Auskunft über die Lage des Hauses, das sehr nahe war, entließ den Unbeschriebenen mit dem Geschenk einer halben Krone und eilte, nachdem er sich rasch in der Kaffeewirtschaft erfrischt, nach der Wohnung des Klarinettisten.

Es wohnten so viele Leute in dem Hause, daß der Türpfosten so voll von Glockengriffen schien, wie die Kathedralorgel von Registern. Ungewiß, welches das Klarinettregister sei, war er noch in Erwägung dieser Frage begriffen, als ein Federball aus dem Parterrezimmer flog und ihm den Hut vom Kopf warf. Er bemerkte dann, daß an dem Parterrefenster ein Schirm mit der Aufschrift war: Mr. Cripples‘ Akademie; und in einer zweiten Linie stand: Abendunterricht. Hinter dem Fensterschirm befand sich ein kleiner blasser Knabe mit einer Butterbrotschnitte und einer Kinderfibel. Das Fenster war vom Fußweg aus erreichbar; er sah über den Fensterschirm, warf den Federball wieder hinein und stellte seine Frage.

»Dorrit?« sagte der kleine blasse Knabe (Master Cripples selbst). »Mr. Dorrit? Dritte Glocke und einmal klopfen.«

Die Zöglinge von Mr. Cripples schienen ein Diktatheft aus der Straßentür gemacht zu haben, so war sie über und über mit Bleistift beschmiert. Die zahlreichen Inschriften »der alte Dorrit« und »der schmutzige Dick« schienen Persönlichkeiten für die Zöglinge Mr. Cripples‘ zu sein. Es war reichlich Zeit zu diesen Beobachtungen, ehe die Tür von dem alten Manne selbst geöffnet wurde.

»Ach«, sagte er, sich sehr langsam auf Arthur besinnend, »Sie wurden vergangene Nacht eingeschlossen?«

»Ja, Mr. Dorrit. Ich hoffe, Ihre Nichte hier bei Ihnen sprechen zu können.«

»Oh!« sagte er nachdenkend. »Nicht bei meinem Bruder? Gut. Wollen Sie heraufkommen und auf sie warten?«

»Ich danke.«

So langsam sich umwendend, wie er alles in seinem Kopfe bewegte, was er hörte und sagte, führte er den Fremden die schmalen Treppen hinauf. Das Haus war sehr verschlossen und hatte einen dumpfigen Geruch. Die kleinen Treppenfenster sahen in die hinteren Fenster der andern ebenso dumpfigen Häuser, an denen Stangen und Stricke befestigt waren, worauf traurig aussehendes Linnen hing, als wenn die Bewohner nach Kleidern angelten und hätten einige elende Köder gehabt, die man kaum beachtet. In einer hinteren Bodenkammer – einem ungesunden Gemach mit einem Umschlagbett, das kaum erst und so in der Eile umgeschlagen sein mußte, daß die Pfühle noch hervorquollen und sozusagen das Augenlid offenzuhalten schienen – in diesem Gemach stand ein, halbbeendigtes Frühstück von Kaffee und gerösteten Brotschnitten für zwei Personen auf einem elenden Tische unordentlich durcheinander.

Es war niemand da. Der alte Mann, der nach einigem Bedenken vor sich hinmurmelte, daß Fanny davongelaufen, ging nach dem nächsten Zimmer, um sie zurückzuholen. Der Fremde, der bemerkte, daß sie die Tür von innen festhielt, und daß, als der Onkel sie aufzuziehen suchte, ihn jemand laut beschwor: »Laßt doch gehen!« während schlaffe Strümpfe und Flanellröcke umherlagen, schloß, daß das junge Mädchen im Negligé sei. Der Onkel, der keinen Schluß zu ziehen schien, schlürfte wieder herbei, setzte sich auf seinen Stuhl und begann die Hände an dem Feuer zu wärmen. Nicht daß es kalt gewesen oder daß er eine dunkle Vorstellung von Wärme und Kälte in diesem Augenblick gehabt – er tat es unbewußt.

»Was dachten Sie von meinem Bruder, Sir?« fragte er, als er nach und nach entdeckte, was er tat, die Hände zurückzog, nach dem Kaminmantel langte und seine Klarinettkapsel herunterholte.

»Ich freute mich«, sagte Arthur sehr verlegen; denn seine Gedanken waren bei dem Bruder, der vor ihm saß, »ich freute mich, ihn so wohl und heiter zu finden.«

»Ha!« murmelte der alte Mann. »Ja, ja, ja, ja, ja!“«

Arthur war begierig zu erfahren, wozu er die Klarinettkapsel brauche. Er brauchte sie aber durchaus nicht. Er entdeckte bald, daß es nicht die kleine Papiertüte mit Schnupftabak war (die gleichfalls auf dem Kamin lag), legte sie wieder an ihre Stelle, nahm den Schnupftabak dafür und tröstete sich mit einer Prise. Er war so schwach, sparsam und langsam in seinen Prisen wie in allem andern, aber ein gewisses leichtes Zucken des Genusses spielte um die armen ausgemergelten Nerven in den Winkeln seiner Augen und seines Mundes.

»Amy, Mr. Clennam. Was halten Sie von ihr?«

»Alles, was ich von ihr gesehen und über sie gedacht, Mr. Dorrit, hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht.«

»Mein Bruder wäre ohne Amy ganz verloren gewesen«, versetzte er. »Wir wären alle ohne Amy verloren gewesen. Sie ist ein vortreffliches Mädchen, die Amy. Sie tut ihre Pflicht.“

Arthur glaubte, wie am Abend vorher bei dem Vater, aus diesen Lobeserhebungen den Ton der Gewohnheit herauszuhören, während im Innern der Lobenden ein gewisses widerstrebendes Gefühl vorzuherrschen schien. Nicht daß sie ihrem Lob Abbruch getan oder gefühllos für das gewesen, was sie ihnen tat; aber sie waren beinahe bis zur Gleichgültigkeit an sie gewöhnt wie an alles übrige in ihrer Lage. Er glaubte, daß, obgleich sie tagtäglich den Vergleich zwischen ihr und einer andern und sich selbst anzustellen Gelegenheit hatten, sie sie doch als ein Wesen betrachteten, das eben einfach an ihrem notwendigen Platz stünde und eine Stellung zu ihnen allen einnehme, die ihr zu eigen sei wie ihr Name oder ihr Alter. Er glaubte, daß sie sie nicht als ein Geschöpf betrachteten, das über die Gefängnisatmosphäre erhaben sei, sondern als ein solches, das mitten darein gehöre, kurz als das, was sie von ihr erwarten konnten und nicht mehr.

Ihr Onkel nahm sein Frühstück wieder auf und kaute geröstetes Brot, das er in den Kaffee tauchte; er hatte seinen Gast längst vergessen, als man die dritte Glocke läuten hörte. Das sei Amy, sagte er, und ging hinab, um ihr aufzuschließen, während der Fremde noch immer das Bild seiner schmutzigen Hände, seines schmutzigen und abgezehrten Gesichtes, seiner gebeugten Gestalt vor sich zu haben glaubte, als säße er leibhaftig auf dem eben verlassenen Stuhle.

Sie kam hinter ihm die Treppe herauf, in dem gewöhnlichen einfachen Kleide und mit der gewöhnlichen schüchternen Haltung. Ihre Lippen waren etwas geöffnet, als ob ihr Herz heftiger denn sonst pochte.

»Amy«, sagte ihr Onkel, »Mr. Clennam hat einige Zeit auf dich gewartet.«

»Ich nahm mir die Freiheit, Ihnen etwas bestellen zu lassen.«

»Es wurde mir ausgerichtet, Sir.«

»Gehen Sie diesen Morgen zu meiner Mutter? Ich denke nicht; denn Ihre gewöhnliche Stunde ist vorbei.«

»Heute nicht, Sir. Man braucht mich heute nicht.«

»Wollen Sie mir gestatten. Sie einen Teil des Weges zu begleiten, wohin Sie auch gehen mögen? Ich kann dann während des Gehens mit Ihnen sprechen und brauche Sie auf solche Weise nicht hier aufzuhalten und mich selbst nicht länger hier aufzudrängen.«

Sie schien verlegen, sagte jedoch, wenn es ihm beliebe, so sei sie bereit. Er tat, als ob er seinen Spazierstock verlegt habe, um ihr Zeit zu lassen, die Bettstelle in Ordnung zu bringen, dem ungeduldigen Pochen der Schwester an der Wand zu antworten und ihrem Onkel etwas leise zu sagen. Dann fand er den Stock, und sie gingen die Treppe hinab; sie voraus, er hintendrein, während der Onkel auf der obersten Stufe stand und sie wahrscheinlich vergessen hatte, ehe sie unten angekommen waren.

Mr. Cripples‘ Zöglinge, die inzwischen zur Schule gekommen waren, hielten in ihrer Morgenbelustigung, sich mit Büchermappen und Büchern zu schlagen, inne, um restlos hingegeben einen Fremden anzustarren, der den »schmutzigen Dick« besucht hatte. Sie ertrugen schweigend die harte Probe dieses Schauspiels, bis der geheimnisvolle Fremde in sicherer Entfernung von ihnen war: dann warfen sie mit Kieselsteinen und schrien und machten höhnische Sprünge und zerbrachen die Friedenspfeife mit so vielen wilden Zeremonien, daß, wenn Mr. Cripples der Häuptling des kriegerischen Cripplewayboostammes gewesen, sie kaum seiner Erziehung größere Gerechtigkeit hätten widerfahren lassen können.

Während dieser Huldigung bot Mr. Arthur Clennam Klein-Dorrit seinen Arm an, und Klein-Dorrit nahm ihn. »Wollen Sie den Weg nach der Iron Bridge einschlagen?« sagte er, »dort entkommen wir dem Straßengeräusch.« Klein-Dorrit antwortete: »wenn’s ihm gefällig sei« und fügte die Erwartung hinzu, daß er sich nicht durch Mr. Cripples‘ Zöglinge »kränken lassen solle«; denn sie habe selbst ihre bisherige Erziehung in Mr. Cripples‘ Abendschule erhalten. Er erwiderte mit der größten Bereitwilligkeit von der Welt, daß er Mr. Cripples‘ Jungen von ganzer Seele verzeihe. Auf solche Weise wurde Cripples unbewußt der Zeremonienmeister zwischen ihnen und brachte sie auf natürlichere Weise zusammen, als es Beau Nash gelungen wäre, wenn sie in seinen goldenen Zeiten gelebt und er selbst aus seiner Kutsche mit sechs Pferden deshalb gesprungen wäre.

Der Morgen blieb stürmisch, und die Straßen waren sehr schmutzig, aber es fiel kein Regen, solange sie nach der Iron Bridge wandelten. Das kleine Geschöpf erschien ihm so jung, daß es Augenblicke gab, in denen er von ihr wie von einem Kinde dachte, wenn er sie auch im Gespräch nicht als solches behandelte. Vielleicht erschien er ihr so alt, wie sie ihm jung.

»Ich habe mit Bedauern gehört, daß Sie in vergangener Nacht die Unannehmlichkeit hatten, eingeschlossen zu werden. Es war wirklich sehr fatal.«

Es habe nichts zu bedeuten, antwortete er. Er habe ein sehr gutes Bett gehabt.

»O ja!« sagte sie lebhaft, sie glaube, daß es vortreffliche Betten in jenem Kaffeehaus geben müsse. Es schien, daß das Kaffeehaus in ihren Augen ein majestätisches Hotel war und daß sie seinen Ruf hoch anschlug.

»Ich glaube, es ist sehr teuer«, sagte Klein-Dorrit, »aber mein Vater sagte mir, daß man dort vortreffliche Diners mache, und der Wein erst«, fügte sie schüchtern hinzu.

»Waren Sie jemals dort?«

»O nein! Nur in der Küche, um heißes Wasser zu holen.«

Man denke sich, daß man mit einer Art heiliger Scheu vor dem Luxus dieses glänzenden Etablissements, des Marschallgefängnishotels, aufwachsen kann!

»Ich fragte Sie gestern abend«, sagte Clennam, »wie Sie mit meiner Mutter bekannt wurden? Haben Sie je ihren Namen gehört, ehe sie nach Ihnen schickte?«

»Nein, Sir.«

»Glauben Sie, daß Ihr Vater ihn kannte?« »Nein, Sir.«

Er begegnete ihren Augen, die mit so viel Verwunderung zu ihm erhoben waren (sie erschrak bei dieser Begegnung und blickte auf die Seite), daß er es für notwendig hielt, zu sagen:

»Ich habe einen Grund zu dieser Frage, den ich Ihnen nicht gut auseinandersetzen kann. Aber Sie dürfen ihn durchaus nicht für etwas ansehen, das Ihnen im mindesten Unruhe oder Angst einflößen könnte. Im Gegenteil. Und Sie glauben, daß der Name Clennam Ihrem Vater niemals bekannt gewesen?«

»Nein, Sir.«

Er fühlte an dem Ton, in dem sie sprach, daß sie mit halb geöffneten Lippen zu ihm aufsah. Deshalb blickte er vor sich hin, um ihr Herz durch eine neue Verlegenheit nicht noch heftiger schlagen zu machen.

So kamen sie nach Iron Bridge, die nach dem Geräusch der Straßen ihnen so ruhig und still erschien, als ob es das offne Feld wäre. Der Wind blies heftig, die nassen Windstöße stoben an ihnen vorüber, daß die Pfützen auf Straßen und Pflaster schäumten und nach dem Fluß hinuntergetrieben wurden. Die Wolken stürmten in wildem Ungestüm an dem bleifarbigen Himmel hin, Rauch und Nebel jagten ihnen nach, und der dunkle Strom wälzte sich mit dumpfem Rauschen in derselben Richtung fort. Klein-Dorrit schien das letzte, stillste und schwächste Geschöpf des Himmels.

»Lassen Sie mich einen Wagen für Sie holen«, sagte Arthur und fügte rasch: »Mein armes Kind« hinzu.

Sie lehnte es ebenso rasch ab und sagte, daß ihr trocken oder naß ziemlich gleichgültig sei. Sie sei gewöhnt, bei jeglichem Wetter auszugehen. Er wußte, daß dem so war, und fühlte noch größeres Mitleid, wenn er an das schwächliche Wesen an seiner Seite dachte, das seinen nächtlichen Weg durch die dumpfen, finstern, unruhigen Straßen nach jenem stillen Ort machte.

»Sie sprachen so gefühlvoll gestern abend mit mir, Sir, und ich fand später, daß Sie so freigebig gegen meinen Vater gewesen, daß ich Ihrer Aufforderung Folge leisten mußte, wenn auch nur, um Ihnen zu danken; namentlich, da ich sehr wünschte, Ihnen zu sagen« – sie zögerte und zitterte, und Tränen traten in ihre Augen, flossen jedoch nicht über ihre Wangen.

»Mir zu sagen?«

»Daß ich hoffe, Sie werden meinen Vater nicht mißverstehen. Beurteilen Sie ihn nicht mit dem Maßstab, mit dem Sie andere Menschen außerhalb des Gefängnisses beurteilen würden. Er war so lange darinnen! Ich sah ihn niemals hier außen, aber ich kann wohl begreifen, daß er in manchen Dingen sich sehr verändert haben muß.«

»Ich werde nie ungerecht oder streng über ihn denken, glauben Sie mir.«

»Nicht«, sagte sie mit einer stolzen Miene, da die Besorgnis in ihr aufstieg, sie möchte ihn preiszugeben scheinen, »nicht, daß er in irgendeiner Beziehung zu erröten hätte oder daß ich seinetwegen irgendwie erröten müßte. Er muß nur verstanden werden. Ich fordere bloß, daß man sein Leben genau berücksichtigt. Alles, was er sagte, ist vollkommen wahr. Es ist alles geschehen, wie er erzählte. Er ist sehr geachtet und geehrt. Jedermann, der hineinkommt, freut sich, ihn kennenzulernen. Es wird ihm mehr gehuldigt als irgend sonst jemandem. Man nimmt weit mehr Rücksicht auf ihn als auf den Marschall.«

Wenn je ein Stolz unschuldig war, so war es der Klein-Dorrits, als sie für ihren Vater in die Lobposaune stieß.

»Man hat häufig gesagt, daß sein Benehmen das eines echten Gentlemans und daß er ein wirkliches Vorbild sei. Ich kenne nichts Ähnliches an jenem Ort, aber man gibt auch seine Überlegenheit über alle zu. Dies ist ebensosehr der Grund, weshalb sie ihm Geschenke machen, wie weil sie wissen, daß er ihrer bedürftig ist. Man darf ihn wegen seiner Dürftigkeit nicht tadeln, den guten Vater. Wer wäre ein Vierteljahrhundert im Gefängnis und lebte noch in guten Vermögensverhältnissen!«

Welche Liebe in ihren Worten, welches Mitleid in ihren unterdrückten Tränen, welche treue Seele, wie wahr das Licht, das eine falsche Helle um sich verbreitete!

»Wenn ich es für gut fand zu verheimlichen, wo ich wohne, so geschah es nicht, weil ich mich seiner schäme. Gott verhüte es! Auch schäme ich mich des Gefängnisses nicht so sehr, wie man vielleicht vermutet. Die Leute sind nicht schlecht, weil sie dorthin kommen. Ich kannte viele vortreffliche, zuverlässige, ehrenwerte Menschen, die durch Unglück dahin kamen. Sie sind beinahe alle gutherzig gegeneinander. Und es wäre wirklich undankbar von mir, wenn ich vergessen wollte, daß ich manche ruhige, angenehme Stunde dort hatte; daß ich einen ausgezeichneten Freund dort besaß, als ich noch ein kleines Kind war, der mich innig liebte, daß ich dort erzogen wurde und dort arbeitete und eines gesunden Schlafes mich dort erfreute. Ich würde es beinahe für feig und grausam halten, wenn ich nach alledem nicht ein wenig Anhänglichkeit an jene Räume hätte.«

Sie hatte die Fülle ihres redlichen Herzens vor ihm ausgeschüttet und fühlte sich dadurch erleichtert. Bescheiden fuhr sie fort und sah ihn fragend an: »Ich wollte nicht soviel sagen; auch habe ich diese Sache nie zuvor noch berührt. Aber es scheint mir, sie in ein besseres Licht zu stellen, als es dies verflossenen Abend der Fall war. Ich sagte, ich wünschte, Sie wären mir nicht gefolgt, Sir. Ich wünsche dies jetzt nicht mehr in dem Maße, wenn Sie nicht etwa denken sollten – wahrhaftig, ich wünsche es gar nicht mehr, wenn ich nicht etwa so verwirrt gesprochen haben sollte, daß – daß Sie mich kaum verstehen konnten, was, wie ich fürchte, wirklich der Fall war.«

Er sagte ihr, wie es die Wahrheit war, daß dies nicht der Fall; und sich zwischen sie und den scharfen Wind und Regen stellend, schützte er sie, so gut es ging.

»Ich glaube, daß es mir nun gestattet ist«, sagte er, »Sie etwas mehr über die Verhältnisse Ihres Vaters zu befragen. Hat er viele Gläubiger?«

»Ach! leider sehr viele!«

»Ich meine solche Gläubiger, die ihn an dem Ort festhalten, wo er ist.«

»O ja, sehr viele.«

»Können Sie mir sagen – ich kann zweifelsohne anderwärts darüber Nachrichten einziehen, wenn Sie sie mir nicht zu geben imstande sind –, wer ist der einflußreichste von ihnen?«

Dorrit sagte, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht, daß sie vor langer Zeit häufig von Mr. Tite Barnacle als einem Mann von großer Macht habe sprechen hören. Er sei Kommissar, Ratsherr, Kurator oder »etwas der Art«. Er wohne auf dem Grosvenorplatz, glaube sie, oder dort in der Nähe. Er sei bei der Regierung – habe eine hohe Stellung bei dem Circumlocution Office. Sie schien in ihrer Kindheit einen unheimlichen Eindruck von der Macht dieses furchtbaren Mr. Tite Barnarle vom Grosvenorplatz oder dort in der Nähe und dem Circumlocution Office empfangen zu haben, daß es sie schauerte, wenn sie davon sprach.

»Ich begehe kein Unrecht«, dachte Arthur, »wenn ich mir diesen Mr. Tite Barnacle ansehe.«

Dieser Gedanke war nicht sobald in ihm aufgestiegen, als sie ihn auch schon wieder abschnitt. »Ach!« sagte Klein-Dorrit, den Kopf schüttelnd mit der milden Verzweiflung eines langen traurigen Lebens. »Schon viele Leute hatten die Absicht, meinen armen Vater aus dem Gefängnis zu befreien, aber Sie wissen nicht, wie hoffnungslos dieser Wunsch ist.«

Sie verlor in diesem Augenblick ihre Schüchternheit, da sie ihn von dem gesunkenen Wrack wegriß, das er wieder emporzuraffen sich träumen ließ, und sah ihn mit Augen an, die ihn in Verbindung mit ihrem geduldigen Gesicht, ihrer schwächlichen Gestalt, ihrem dürftigen Gewand und dem Wind und Regen sicher nicht von seinem Vorsatz, ihr zu helfen, abbrachten.

»Selbst wenn es möglich wäre«, sagte sie, »und es ist jetzt nie mehr möglich – wo sollte Vater wohnen oder wie könnte er leben? Ich habe oft daran gedacht, wenn ein solcher Glücksfall einträte, es würde ihm nichts weniger als nützlich sein. Die Leute hier draußen würden nicht so gut von ihm denken, wie sie es dort tun. Er würde hier nicht so freundlich behandelt werden wie dort. Er wäre nicht so geschaffen für das Leben außerhalb des Gefängnisses, wie für das innerhalb der vier Mauern.«

Hier konnte sie zum ersten Male nicht hindern, daß ihr die Tränen über die Wangen rollten, und die kleinen zarten Hände, die er beobachtet, als sie so geschäftig waren, zitterten, während sie sich falteten.

»Es wäre ein neuer Kummer für ihn, wenn er wüßte, daß ich etwas Geld erwerbe und daß Fanny etwas Geld erwirbt. Er ist so besorgt um uns, da er sich hilflos eingeschlossen fühlt. Ein guter, guter Vater!«

Er ließ diesen kleinen Gefühlsstrom sich etwas verlaufen, ehe er sprach. Es war bald vorüber. Sie war nicht gewöhnt, an sich zu denken oder irgend jemanden mit ihren Gemütsbewegungen zu belästigen. Er hatte sich nur die Masse der Dächer und Kamine der City betrachtet, zwischen denen sich der Rauch langsam hinzog, und den Wald von Masten auf dem Strom und die Wildnis von Türmen am Ufer, die sich bei dem Sturm und Nebel nur in unklaren Umrissen vor seinen Blicken zeigten, bis sie wieder so ruhig war, als wenn sie in seiner Mutter Zimmer mit der Nadel hantierte.

»Sie würden wohl froh sein, wenn Sie Ihren Bruder in Freiheit sähen?«

»Sehr froh, Sir, sehr froh.«

»Gut, so wollen wir wenigstens für ihn hoffen. Sie sagten mir verflossene Nacht von einem Freunde, den Sie besessen?«

Sein Name sei Plornish, sagte Klein-Dorrit.

Und wo wohnt Plornish? Plornish wohne in Bleeding Heart Yard. Er sei »nur ein Gipser«, sagte Klein-Dorrit, aus Vorsicht, damit er nicht zu große gesellschaftliche Erwartungen von Plornish hege. Er wohne in dem letzten Haus in Bleeding Heart Yard und sein Name stehe über einem kleinen Torweg.

Arthur schrieb sich die Adresse auf und gab ihr die seine. Er hatte jetzt alles getan, was er für den Augenblick tun wollte. Nur wünschte er ihr ein Gefühl des Vertrauens zu ihm auf den Weg zu geben und ihr etwas wie ein Versprechen abzulocken, daß sie dieses Gefühl in sich lebendig erhalte.

»Das ist ein Freund!« sagte er und steckte die Brieftasche ein. »Während ich Sie nun zurückbringe – Sie gehen doch zurück?«

»O ja! ich gehe direkt nach Hause!«

»Während ich Sie zurückbringe«, das Wort nach Hause widerstrebte ihm, »darf ich Sie bitten, überzeugt zu sein, daß Sie noch einen Freund haben. Ich mache keine Bekenntnisse und sage nicht mehr.«

»Sie sind wirklich sehr gütig gegen mich. Ich brauche keinen weiteren Beweis.«

Sie gingen durch die elenden schmutzigen Straßen und zwischen den armen, geringen Läden zurück und wurden jeden Augenblick von der Menge schmutziger Trödler gestoßen, die sich stets in einer ähnlichen Umgebung finden. Auf dem kurzen Weg war wirklich nichts, was einem der fünf Sinne angenehm gewesen. Aber es war doch kein gewöhnlicher Gang durch gewöhnlichen Regen, Schmutz und Lärm für Clennam, da er dieses kleine, schwache, schüchterne Geschöpf an seinem Arme führte. Wie jung sie ihm oder wie alt er ihr erschien, oder welches Geheimnis den Knoten ihrer nach Schicksalsschluß sich künftig durchkreuzenden Lebensgeschichte schürzte, ist hier gleichgültig. Es trat ihm in diesem Augenblick vor die Seele, wie sie in dieser Umgebung geboren und auferzogen worden, mit dieser schmutzigen Lebensnotdurft vertraut und doch so unschuldig sei, und wie sie stets für andre besorgt war, während sie noch so jung und ihr ganzes Wesen einen durchaus kindlichen Eindruck machte.

Sie waren nach der High Street gekommen, wo das Gefängnis stand, als eine Stimme: »Mütterchen! Mütterchen!« rief. Als Dorrit stehenblieb und sich umsah, sprang eine seltsame Erscheinung in so großer Aufregung auf sie zu (immer noch »Mütterchen« rufend), daß sie zu Boden stürzte und der Inhalt eines großen mit Gemüsen gefüllten Korbes in den Staub fiel.

»O Maggy«, sagte Dorrit, »was bist du für ein ungeschicktes Kind!«

Maggy hatte sich nicht weh getan. Sie stand rasch wieder auf und begann die Kartoffeln zusammenzulesen, wobei ihr Dorrit und Arthur Clennam halfen. Maggy las sehr wenig Kartoffeln, aber um so mehr Schmutz auf; aber es wurde alles gerettet und wieder in den Korb gelegt. Maggy wischte dann ihr schmutziges Gesicht mit ihrem Schal ab und zeigte es Mr. Clennam als ein Bild der Reinheit, wodurch er in den Stand gesetzt war, zu sehen, wes Geistes Kind sie sei.

Sie zählte ungefähr achtundzwanzig Jahre, hatte starke Knochen, grobe Gesichtszüge, breite Füße und Hände, große Augen und kein Haar. Diese ihre großen Augen waren hell und beinahe farblos; sie schienen wenig Licht in sich aufzunehmen und unnatürlich stillzustehen. Ihr Gesicht hatte den aufmerksam lauernden Ausdruck, den man in den Gesichtern der Blinden findet. Aber sie war nicht blind; denn sie besaß ein ziemlich brauchbares Auge. Ihr Gesicht war nicht ausnehmend häßlich, obgleich nur ein Lächeln daran schuld, daß dies nicht der Fall; ein gutmütiges und an und für sich angenehmes Lächeln, das jedoch Mitleid erregte, weil es immer da war. Eine große weite Haube mit einer Menge undurchsichtiger Krausen, die immer drum herumflatterten, waren die Ehrenretter von Maggys Kahlköpfigkeit und machten es ihrem alten schwarzen Hut so schwer, seinen Platz auf ihrem Kopfe zu behaupten, daß er sich um den Hals festklammerte wie das Kind einer Zigeunerin. Eine Kommission von Kurzwarenhändlern konnte allein entscheiden, woraus der Rest ihrer dürftigen Bekleidung gemacht war; aber das Ganze hatte eine große Ähnlichkeit mit Meergras und da und dort mit einem riesigen Teeblatt. Ihr Schal sah besonders wie ein Teeblatt nach oftmaligem Aufguß aus.

Arthur Clennam sah Dorrit mit dem Ausdruck an, als wollte er sagen: »Darf ich fragen, wer ist das?« Dorrit, deren Hand diese Maggy, die sie noch immer Mütterchen nannte, zu streicheln begonnen, antwortete (sie standen unter einem Torweg, in den der größere Teil der Kartoffeln gerollt war):

»Das ist Maggy, Sir.«

»Maggy, Sir«, wiederholte die Vorgestellte. »Mütterchen!«

»Sie ist die Enkelin« – sagte Dorrit.

»Enkelin«, wiederholte Maggy.

»– meiner alten Wärterin, die schon lange tot ist. Maggy, wie alt bist du?«

»Zehn, Mutter«, sagte Maggy.

»Sie können sich nicht denken, wie gut sie ist, Sir«, sagte Dorrit mit unendlicher Zärtlichkeit.

»Gut sie ist«, wiederholte Maggy, das Fürwort in ungemein ausdrucksvoller Weise von sich auf ihre kleine Mutter übertragend.

»Und wie geschickt«, sagte Dorrit. »Sie besorgt alles aufs beste.« Maggy lachte. »Und ist so zuverlässig wie die Bank von England.« Maggy lachte. »Sie erwirbt sich ihren Lebensunterhalt ganz allein. Ganz allein, Sir!« sagte Dorrit in leiserem und triumphierendem Tone. »Wirklich, die reine Wahrheit!«

»Was ist ihre Lebensgeschichte?« fragte Clennam.

»Denke dir, Maggy!« sagte Dorrit, nahm ihre beiden großen Hände und klatschte sie zusammen. »Ein Gentleman, der viele tausend Meilen weit herkommt, will deine Geschichte wissen!«

»Meine Geschichte?« rief Maggy. »Mütterchen.«

»Sie meint mich«, sagte Dorrit etwas verlegen; »sie ist sehr anhänglich an mich. Ihre alte Großmutter war nicht so freundlich gegen sie, wie sie hätte sein sollen; nicht wahr, Maggy?«

Maggy schüttelte den Kopf, machte ein Trinkgefäß aus ihrer Hand, trank daraus und sagte: »Branntwein.« Dann schlug sie ein eingebildetes Kind und sagte: »Besenstiele und Schürhaken.«

»Als Maggy zehn Jahre alt war«, sagte Dorrit, ihr ins Gesicht sehend, während sie sprach, »hatte sie ein böses Fieber, Sir, und sie ist seitdem nicht älter geworden.«

»Zehn Jahre alt«, sagte Maggy und nickte mit dem Kopf. »Aber was für ein hübsches Krankenhaus! So angenehm, nicht wahr? Oh, es war so schön. Ein himmlischer Ort.«

»Sie hatte nie zuvor Ruhe gehabt, Sir«, sagte Dorrit und wandte sich, leise sprechend, einen Augenblick zu Arthur hin. »Sie kommt immer wieder darauf zurück.«

»So gute Betten gibt es dort!« sagte Maggy. »So gute Limonade! Apfelsinen! Köstliche Brühe und Wein! Und vortreffliche Hühner! Oh, ist das nicht ein angenehmer Aufenthalt, wo man gern ist und bleibt?«

»Maggy blieb wirklich so lange dort, wie sie konnte«, sagte Dorrit in ihrem früheren Ton, mit dem sie die Geschichte eines Kindes erzählt hatte, dem Ton, der für Maggys Ohr berechnet war; »und zuletzt, als sie nicht länger dort bleiben konnte, kam sie heraus. Und weil sie nicht mehr als zehn Jahre alt werden sollte, wie lange sie auch lebte –«

»Wie lange sie auch lebte«, wiederholte Maggy.

»– und weil sie sehr schwach war, ja wirklich, so schwach, daß wenn sie zu lachen begann, sie nicht aufhören konnte – was sehr traurig anzusehen war –« (Maggy wurde plötzlich sehr ernst.)

»– wußte ihre Großmutter nicht, was mit ihr anzufangen, und ging einige Jahre lang sehr schlecht mit ihr um. Endlich im Verlauf der Zeit suchte Maggy sich zu vervollkommnen und auf alles aufmerksam und recht fleißig zu sein. Nach und nach wurde ihr gestattet, so oft hier aus und ein zu gehen, wie ihr beliebte, und sie bekam genug zu tun, um sich ihren Lebensunterhalt dadurch zu erwerben, und dazu ist sie nun auch wirklich imstande. Das«, sagte Klein-Dorrit die beiden großen Hände wieder zusammenschlagend, »ist Maggys Geschichte, wie sie Maggy weiß!«

Ach! Arthur hätte so gern gewußt, was zu ihrer Vervollständigung fehlte, auch wenn er nie das Wort Mütterchen gehört, auch wenn er das Liebkosen der kleinen schmalen Hand nie gesehen, auch wenn er keinen Blick für die Tränen hatte, die jetzt in den farblosen Augen standen, auch wenn er den Seufzer nicht hörte, der das plumpe Lachen unterbrach. Der schmutzige Torweg, durch den der Wind und Regen fegte, mit dem Korb voll schmutziger Kartoffeln, der auf das Umwerfen oder Aufnehmen wartete, schien ihm nicht mehr die gewöhnliche Höhle zu sein, die er wirklich war, wenn er sich bei dieser Beleuchtung nach ihm umsah. Nein, nein!

Sie hatten das Ziel ihres Weges beinahe erreicht und traten jetzt aus dem Torweg, um die letzte Strecke zurückzulegen. Maggy ließ es nicht anders zu, als daß sie am Fenster eines Krämers kurz vor ihrem Bestimmungsort hielten, damit sie ihre Gelehrsamkeit zeigen könne. Sie konnte ziemlich gut lesen und hob die fetten Zahlen in den Preislisten zum größten Teil korrekt heraus. Sie stolperte auch, ihre Fehltritte mit ziemlichem Glück aufwiegend, durch die verschiedenen menschenfreundlichen Empfehlungen wie: »Versucht unsre Mischung«, »Versucht unsre Stiefelwichse«, »Versucht unsern orangenduftenden Peko, der als der beste Blütentee jeden Vergleich aushält« und verschiedene Warnungen des Publikums gegen betrügerische Konkurrenzunternehmungen und gefälschte Artikel. Als er sah, wie Dorrits Gesicht eine freudige Röte überflog, wenn Maggy einen Treffer machte, fühlte er, daß er des Krämers Fenster gern in eine Büchersammlung verwandelt hätte, bis der Regen und Wind vorüber.

Der Vorhof empfing sie endlich, und dort sagte er Klein-Dorrit Lebewohl. So klein sie auch immer schon aussah, in dem Augenblick, als er sie in das Pförtnerstübchen des Marschallgefängnisses eintreten sah, erschien ihm das Mütterchen, dem das aufgedunsene Kind zur Seite ging, noch kleiner.

Die Tür des Käfigs öffnete sich, und als der kleine in der Gefangenschaft aufgewachsene Vogel zahm hineingeflattert war, sah er sie sich wieder schließen. Dann ging er.

Zehntes Kapitel,


Zehntes Kapitel,

das die ganze Wissenschaft des Regierens enthält.

Das Circumlocution Office9 war (wie jedermann weiß, ohne daß man es sagt) das wichtigste Departement der Regierung. Kein öffentliches Geschäft irgendwelcher Art konnte je erledigt werden ohne die Einwilligung des Circumlocution Office. Sein Finger war in der größten öffentlichen Pastete wie in der kleinsten öffentlichen Torte. Es war ebenso unmöglich, das offenbarste Rechte zu tun, als das offenbarste Unrecht zu vereiteln – ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Circumlocution Office. Wenn eine zweite Pulververschwörung10 eine halbe Stunde vor dem Anzünden des Schwefelfadens entdeckt worden wäre, hätte niemandem die Rettung des Parlaments zugestanden, bis seitens des Circumlocution Office einige zwanzig Sitzungen gehalten, ein halber Scheffel Protokolle verschrieben, mehrere Säcke amtlicher Memoranden aufgehäuft und eine Familiengruft voll unleserlicher Berichte abgefaßt worden wären.

Dieses herrliche Institut kam schon frühzeitig auf, als jenes eine erhabene Prinzip, das die schwierige Kunst, ein Land zu regieren, in sich schloß, sich zuerst den Staatsmännern enthüllte. Es galt zuvorderst diese glänzende Offenbarung zu untersuchen und seinen leuchtenden Einfluß auf alles amtliche Verfahren wirken zu lassen. Was auch zu tun war, das Circumlocution Office war stets allen öffentlichen Verwaltungen in der Kunst zu entscheiden – wie man’s nicht machen müsse – voran.

Durch diesen feinen Kniff, durch den Takt, mit dem es solche Praxis ausführte, und durch den Geist, mit dem es immer darauf hinwirkte, hatte das Circumlocution Office alle öffentlichen Verwaltungen verdunkelt; und es galt fortan, sich auf seine Höhe zu schwingen.

Es ist klar, daß, »wie man’s nicht machen müsse«, das große Studium und die große Aufgabe aller öffentlichen Beamten und Staatsmänner von Fach rings um das Circumlocution Office war. Es ist klar, daß jeder neue Premier und jede neue Regierung, die ans Ruder kamen, weil sie irgend etwas als durchaus notwendig geltend gemacht, sobald sie am Ruder waren, all ihr Sinnen und Trachten darauf richteten, zu ergründen: »wie man’s nicht machen müsse.« Es ist klar, daß von dem Augenblick, da eine allgemeine Wahl vorüber war, jeder Heimkehrende, der auf der Wahlbühne gewütet, weil etwas nicht geschehen, und der die Freunde des ehrenwerten Gentleman der Gegenpartei bei Strafe schwerer Verantwortung gefragt, warum es nicht getan worden, und der versicherte, daß es getan werden müsse, und der sich verbürgt, daß es getan werden solle, zu überlegen begann, »wie man’s nicht machen könne.« Es ist klar, daß die Debatten der beiden Parlamentshäuser die ganze Sitzung hindurch gleichmäßig und weitläufig den einen Punkt verhandelten: »wie man’s nicht machen müsse.« Es ist klar, daß die Thronrede bei der Eröffnung einer solchen Sitzung im wesentlichen nichts anderes sagt als: Meine Lords und Gentlemen, Sie haben eine bedeutende Arbeit vor sich, und Sie werden sich gefälligst in Ihre respektiven Häuser zurückziehen und beraten: »wie man’s nicht machen müsse.« Es ist klar, daß die Thronrede am Schlusse einer solchen Session nichts anderes sagen will als: Meine Lords und Gentlemen, Sie haben während mehrerer angestrengter Monate mit großer Hingebung und großem Patriotismus in Betracht gezogen: »wie man’s nicht machen müsse«, und es ist Ihnen gelungen, dies herauszufinden, und mit dem Segen der Vorsehung, der über der Ernte (der agrarischen, nicht der politischen) ruht, entlasse ich Sie. All dies ist natürlich klar, aber das Circumlocution Office ging noch weiter.

Weil das Circumlocution Office sich mechanisch drehte und jahraus, jahrein dieses wunderbare, alles vermögende Rad der Staatskunst: »wie man’s nicht machen müsse« in Bewegung erhielt. Weil das Circumlocution Office hinter jedem schlecht unterrichteten öffentlichen Diener her war, der etwas tun wollte oder der durch irgendeinen überraschenden Zufall in entfernter Gefahr war, etwas tun zu wollen, weil es, wie gesagt, hinter ihm mit einem Protokoll, einem Memorandum oder Verhaftungsbefehl her war, die ihn vernichteten. Es herrschte in dem Circumlocution Office der Geist nationaler Kraft, der nach und nach dazu führte, daß es überall seine Hände im Spiel hatte. Mechaniker, Naturphilosophen, Soldaten, Matrosen, Bittsteller, Leute mit Beschwerden, Leute, die Beschwerden zuvorkommen wollten, Leute, die Beschwerden abhelfen wollten, Makler und Leute, die durch Makler übernommen worden, Leute, die den ihren Verdiensten gebührenden Lohn nicht erhalten konnten, und Leute, die ihre Strafe für ihre Verschuldung nicht bekommen konnten, – alle ohne Unterschied wurden in das Propatriapapier des Circumlocution Office einregistriert.

Eine Menge Menschen verlor sich in dem Circumlocution Office. Unglückliche, denen ein Ungemach widerfahren, oder die Pläne für das allgemeine Wohlsein hatten (und sie waren besser daran, wenn ihnen ein Ungemach widerfuhr, als wenn sie jenes bittre englische Rezept, um sicher eines solchen teilhaftig zu werden, nahmen), die dann im langsamen und peinlichen Verlauf der Zeit den Weg durch andre öffentliche Bureaus gemacht und die dann, wie es immer zu geschehen pflegt, in dem einen überschrien, in dem andern übervorteilt, in dem dritten mit Ausflüchten abgespeist waren, bis sie zuletzt an das Circumlocution Office gewiesen wurden und nie mehr ans Tageslicht kamen. Es wurden Sitzungen ihretwegen gehalten, Sekretäre nahmen Protokolle auf, Unterhändler plauderten für sie, Schreiber registrierten, notierten, buchten und schrieben sie ein – und damit waren sie verschwunden. Kurz, alle Angelegenheiten des Landes gingen durch das Circumlocution Office, mit Ausnahme der Angelegenheiten, die nie daraus verschwanden: und deren war Legion.

Bisweilen erschienen Angriffe von aufgereizten Menschen gegen das Circumlocution Office. Bisweilen wurden im Parlament Anfragen um seinetwegen gemacht und sogar Anträge im Parlament gestellt oder damit gedroht, – freilich durch Volksfreunde von so geringer Bedeutung und so unwissenden Menschen, daß sie glauben konnten, das wirkliche Leitmotiv der Regierung sei: »wie man’s machen müsse«. Dann steckte der edle Lord oder sehr ehrenwerte Gentleman, in dessen Bereich die Aufgabe fiel, das Circumlocution Office zu verteidigen, eine Orange in seine Tasche und machte einen regulären Musterungstag aus der Sache. Er trat in das »Haus«, schlug auf den Tisch und griff den ehrenwerten Gentleman an. Weiter war er der Mann, dem ehrenwerten Gentleman von Anfragenden zu sagen, daß das Circumlocution Office nicht allein keinen Tadel wegen dieser Sache verdiene, sondern aller Empfehlung gerade wegen dieser Sache wert sei, ja bis in den Himmel wegen dieser Sache gefeiert werden müsse. Er war ferner der Mann, dem ehrenwerten Gentleman zu sagen, daß, obgleich das Circumlocution Office immer und unbezweifelt recht habe, es niemals so recht gehabt wie in dieser Sache. Er war endlich der Mann, dem ehrenwerten Gentleman zu sagen, daß es ihm mehr zur Ehre gereicht, mehr sein Ansehen gefördert, mehr seinen richtigen Geschmack bewiesen, mehr seinen guten Geist an den Tag gelegt hätte, und was das Wörterbuch der Phrasen sonst noch bietet, wenn er das Circumlocution Office unangetastet gelassen und die Sache nie berührt hätte. Dann faßte er einen Wagenlenker oder Diener von dem Circumlocution Office ins Auge, der hinter der Schranke saß, und schmetterte den ehrenwerten Gentleman mit dem Bericht des Circumlocution Office über diese Sache nieder. Und wenn auch immer eines von zwei Dingen der Fall war: nämlich, daß das Circumlocution Office nichts zu sagen hatte und doch etwas sagte oder daß es etwas zu sagen hatte, wovon der edle Lord oder der sehr ehrenwerte Gentleman die eine Hälfte verwischte und die andre Hälfte vergessen hatte: das Circumlocution wurde doch stets durch eine geringfügige Majorität für unschuldig erklärt.

Das Departement, von dem die Rede, war durch eine lange Karriere dieser Art eine solche Pflanzschule für Staatsmänner geworden, daß verschiedene ernste Lords in den Ruf überirdischer Wunder von Geschäftsgewandtheit kamen; bloß deshalb, weil sie an der Spitze des Circumlocution Office Übung darin bekommen: »wie man’s nicht machen müsse.« Was die geringeren Priester und Trabanten dieses Tempels betraf, so war das Resultat von alledem, daß sie in zwei Klassen geschieden waren und, bis zu dem jüngsten Boten herab, entweder an das Circumlocution Office als an ein dem Himmel entstammendes Institut glaubten, das ein Recht habe, zu tun, was ihm beliebe, oder zum totalen Unglauben ihre Zuflucht nahmen und es als ein fürchterliches Übel betrachteten.

Die Familie Barnacle hatte längere Zeit das Circumlocution Office verwalten helfen. Die Linie Tite Barnacle glaubte namentlich verbriefte Rechte in dieser Richtung zu haben und nahm es übel auf, wenn eine andere Familie viel darin zu sagen hatte. Die Barnacles waren eine sehr hohe und sehr große Familie. Sie waren über alle Bureaus verbreitet und hatten alle Arten von öffentlichen Stellen im Besitz. Entweder hatte die Nation große Verpflichtungen gegen die Barnacles oder hatten die Barnacles große Verpflichtungen gegen die Nation. Man konnte sich nicht entscheiden, was wirklich der Fall war: die Barnacles hatten ihre Ansicht, die Nation die ihrige.

Mr. Tite Barnacle, der zu jener Zeit, von der die Rede, den Beamten an der Spitze des Circumlocution Office gewöhnlich dirigierte oder festschnallte, wenn das edle oder sehr ehrenwerte Individuum etwas unbequem im Sattel saß, weil irgendein Vagabund in einer Zeitung eine Lanze mit ihm gebrochen, war reicher an Wut als an Geld. Als ein Barnacle hatte er seine Stelle, und zwar eine ziemlich bequeme; und als ein Barnacle hatte er natürlich auch seinen Sohn Barnacle junior im Bureau untergebracht. Aber er hatte sich mit einem Zweige der Familie Stelzenfuß verschwägert, die im Punkte des Blutes gleichfalls vermögender war als im Punkte des Grundbesitzes und des beweglichen Eigentums. Aus dieser Ehe waren Barnacle junior und drei junge Damen entsprossen. Was die patrizischen Anforderungen von Barnacle junior, den drei jungen Damen, Mrs. Tite Barnacle, einer geborenen Stelzenfuß, und ihm selbst betrifft, so fand Mr. Tite Barnacle den Zeitraum zwischen Quartal und Quartal weit länger, als er hätte wünschen mögen; ein Umstand, den er stets der Sparsamkeit des Landes in die Schuhe schob.

Es war die fünfte Nachfrage nach Mr. Tite Barnacle, die Mr. Arthur Clennam eines Tages auf dem Circumlocution Office machte. Er hatte den Gentleman zuvor nacheinander in einer Halle, einem Glassalon, einem Wartezimmer und einem feuerfesten Durchgang erwartet, die in dem Geschäftskreise des Bureaus zu liegen schienen. In diesem Augenblick war Mr. Barnacle nicht wie sonst mit dem edlen Wunder an der Spitze des Departements beschäftigt, er war abwesend. Barnacle junior dagegen wurde als ein geringerer, aber am Horizonte der Anstalt sichtbarer Stern angekündigt.

Er gab den Wunsch zu erkennen, mit Barnacle junior zu sprechen, und fand diesen jungen Gentleman, wie er seine Waden an dem väterlichen Feuer wärmte und das Schienbein an den Kaminmantel stemmte. Es war ein komfortables Zimmer, hübsch möbliert wie ein besseres Bureau, und trug den prunkhaften Charakter des abwesenden Barnacle zur Schau. Davon zeugten der dicke Bodenteppich, das mit Leder überzogene Schreibpult, das mit Leder überzogene Stehpult, der große bequeme Stuhl und der üppige Teppich vor dem Kamin, der Feuerschirm, das aufgeschnittene Papier, die Depeschenkapseln mit kleinen Zetteln, die daraus hervorsahen wie Zettel aus Medizinflaschen oder Preiszettel an Wildbret, der vorherrschende Leder- und Mahagonigeruch und das allgemeine betrügerische Gepräge des »wie man’s nicht machen müsse.«

Der anwesende Barnacle, der Mr. Clennams Karte in der Hand hielt, hatte ein jugendliches Aussehen und den zartesten Anflug von Backenbart, den man vielleicht je gesehen. Sein nacktes Kinn war so schwach mit Flaum umsäumt, daß es halb flügge schien wie ein junger Vogel. Ein mitleidvoller Beobachter wäre sicher der festen Überzeugung gewesen, daß, wenn er seine Waden nicht gewärmt hätte, er sicher vor Kälte gestorben wäre. Er hatte ein vorzügliches Monokel, das an seinem Hals hing, besaß jedoch unglücklicherweise so flache Augenhöhlen und so schwache kleine Augenlider, daß es nicht festhalten wollte, wenn er es in den Augenwinkel klemmte. Daher baumelte es beständig an seinen Westenknöpfen mit einem Ticktack hin und her, was ihm sehr ärgerlich war.

»Wie gesagt. Sehen Sie! mein Vater ist nicht zugegen und kommt auch heute nicht«, sagte Barnacle junior. »Kann ich Ihnen mit etwas dienen?«

(Tick! Das Augenglas herunter. Barnacle junior war sehr erschrocken und tappte überall umher, konnte es aber nicht finden.)

»Sie sind sehr gütig«, sagte Arthur Clennam. »Ich wünsche Mr. Barnacle selbst zu sprechen.«

»Aber wie gesagt! Sehen Sie, Sie haben keine Bestellung?« sagte Barnacle junior.

(Inzwischen hatte er sein Augenglas gefunden und es wieder eingeklemmt.)

»Nein«, sagte Arthur Clennam. »Das ist’s eben, was ich wünschte.«

»Aber wie gesagt. Sehen Sie! Ist es eine öffentliche Angelegenheit?« fragte Barnacle junior.

(Tick! Da hing das Augenglas wieder, und Barnacle war so ganz und gar mit Suchen beschäftigt, daß Mr. Clennam es im Augenblick für unnötig hielt, zu antworten.)

»Betrifft es vielleicht«, sagte Barnacle junior, das braune Gesicht des Fremden ins Auge fassend, »Schiffszoll oder etwas Derartiges?«

(Einen Augenblick auf Antwort wartend, öffnete er sein rechtes Auge mit der Hand und klemmte sein Glas so energisch hinein, daß das Wasser herauszulaufen begann.)

»Nein«, sagte Arthur, »es handelt sich um keinen Schiffszoll.«

»So, so. Ist es eine Privatangelegenheit?« »Ich weiß wirklich nicht genau. Es betrifft einen Mr. Dorrit.«

»Sehen Sie, ich will Ihnen etwas sagen! Sie würden besser tun, wenn Sie zu Hause bei uns vorsprächen, falls Sie etwa der Weg hinführt. Nummer vierundzwanzig, Mews Street, Grosvenor Square. Mein Vater hat einen leichten Anfall von Gicht und muß deshalb das Zimmer hüten.«

Der junge Barnacle, der jetzt offenbar auf der Augenglasseite blind werden mußte, schämte sich jedoch, in seinen peinigenden Anstrengungen wegen des Monokels sich Erleichterung zu verschaffen.

»Ich danke. Ich werde dort vorsprechen. Guten Morgen.«

Der junge Barnacle schien verdutzt, da er nicht erwartet hatte, daß der Fremde gehen werde.

»Sind Sie ganz gewiß«, sagte Barnacle junior, ihm nachrufend, als er zur Tür ging, da er die schöne Geschäftsidee, die er gefaßt, nicht ganz aufgeben wollte: »wirklich gewiß, daß es sich nicht um Schiffszoll handelt?«

»Ganz gewiß.«

Mit dieser Versicherung und nicht besonders begierig zu wissen, was geschehen würde, wenn es sich um Schiffszoll gehandelt hätte, zog sich Mr. Clennam zu weiteren Nachforschungen zurück.

Mews Street, Grosvenor Square war nicht gerade Grosvenor Square selbst, aber es war doch ziemlich nahe dabei. Es war eine häßliche, kleine Straße von einförmigen Mauern, Ställen und Düngerhaufen, mit einem Stockwerk über Wagenschuppen, der von Kutscherfamilien bewohnt wurde. Diese zeigten eine Leidenschaft für Wäschetrocknen und zierten ihre Fensterbänke mit Miniaturschlagbäumen. Der Hauptschornsteinfeger dieses vornehmen Viertels wohnte am einen Ende von Mews Street, und in derselben Ecke befand sich ein in der Dämmerung viel besuchtes Etablissement, worin Wein und Bratenfett verkauft wurde. Die Requisiten zum Kasperletheater pflegten an den Mauern von Mews Street zu lehnen, während deren Direktoren irgendwo speisten; und die Hunde der Nachbarschaft verabredeten sich, am gleichen Ort zusammenzukommen. Am Eingang in die Mews Street befanden sich zwei bis drei kleine dumpfige Häuser, die als elende Anhängsel einer fashionablen Lage große Miete abwarfen. Wenn einer von diesen schrecklichen kleinen Hühnerställen zu vermieten war (was selten geschah, denn es war große Nachfrage nach ihnen), kündigte ihn der Hausverwalter als eine noble Wohnung im aristokratischsten Teile der Stadt an, der nur von der Elite der beau monde bewohnt werde.

Wenn eine solche noble Wohnung, die gerade innerhalb dieser engen Grenzen gelegen, nicht dem Geschlecht der Barnacles gehört hätte, würde dieser Zweig die große Auswahl von mindestens zehntausend Häusern gehabt haben, die fünfzigmal mehr Bequemlichkeit für ein Drittel des Preises geboten hätten. Mr. Barnacle, der, wie die Sachen nun einmal standen, seine vornehme Wohnung außerordentlich unbequem und außerordentlich teuer fand, legte, als öffentlicher Diener, die Sache dem Lande zur Last und zählte es als einen weitern Punkt der Sparsamkeit desselben auf.

Arthur Clennam kam vor ein gequetschtes Haus mit einer verfallenen, nach vorne hängenden Front, kleinen schmutzigen Fenstern und einem kleinen dunkeln Vorplatz, der wie eine feuchte Westentasche aussah: es war Nummer vierundzwanzig Mews Street, Grosvenor Square. Für den Geruchsinn glich das Haus einer mit starkem Fenchelextrakt gefüllten Flasche; und als der Diener die Tür öffnete, war’s gerade, als nähme er den Stöpsel heraus.

Der Diener war gegenüber den Dienern von Grosvenor Square, was das Haus gegenüber den Häusern von Grosvenor Square. Bewundernswert in seiner Art war seine Art eine Unter- und Abart. Sein prächtiger Anzug war nicht ohne Schmutz; und sowohl in seiner Gesichtsfarbe als Gestalt hatte er unter der Verschlossenheit seiner Speisekammer gelitten. Er hatte etwas kränklich Schlaffes, als er den Stöpsel herauszog und die Flasche an Mr. Clennams Nase hielt.

»Haben Sie die Güte, diese Karte Mr. Tite Barnacle zu übergeben und zu sagen, daß ich soeben bei dem jüngern Mr. Barnacle gewesen, der mir geraten, bei seinem Vater vorzusprechen.«

Der Diener (der so viele große Knöpfe mit dem Wappen der Barnacles auf den Klappen seiner Taschen hatte, daß man hätte glauben sollen, er sei die Familiengeldkiste und trage hinter Knopf und Klappe das Silberzeug und die Juwelen mit sich herum) grübelte etwas über die Karte nach und sagte dann: »Treten Sie ein.« Es bedurfte einiger Gewandtheit, um nicht die Tür des innern Gangs damit aufzustoßen und in dem geistigen Muff und der physischen Dunkelheit nicht die Küchentreppe hinabzustürzen. Der Fremde schwang sich jedoch glücklich auf die Türmatte.

Der Diener sagte nochmal: »Treten Sie ein«, und der Fremde folgte ihm. An der innern Gangtür schien ihm eine zweite Flasche präsentiert und der Stöpsel herausgezogen zu werden. Diese zweite Phiole schien mit verstärkten Flüssigkeiten und dem Extrakt der Speisereste gefüllt zu sein. Erst gab es ein Scharmützel in dem engen Gange, das der Diener veranlaßte, als er das düstere Speisezimmer dreist öffnete, dort aber zu seiner Verwunderung jemanden vorfand und rasch zurückfuhr. Dabei prallte er auf den Fremden, und darauf wurde dieser, indes man ihn meldete, in ein kleines Besuchzimmer, das nach hinten ging, eingeschlossen. Dort hatte er Gelegenheit, sich an beiden Flaschen zugleich zu erlaben, während er auf eine drei Fuß entfernte niedere Mauer sah und darüber nachdachte, wie hoch die Sterblichkeitsziffer der Familien Barnacle sein mochte, die in solchen Rattenfallen aus freier Wahl wohnten.

Mr. Barnacle wollte ihn sprechen. Sollte er hinaufkommen? Ja; er tat es. In dem Empfangzimmer, das Bein auf einem Schemel, fand er Mr. Barnacle selbst, das leibhafte Bild und die Personifikation des »wie man’s nicht machen müsse.«

Mr. Barnacle stammte aus einer besseren Zeit, als das Land noch nicht so sparsam war und das Circumlocution Office noch nicht so gehetzt wurde wie ein Dachs in seinem Bau. Er hatte zahllose Falten einer weißen Krawatte um seinen Hals gewunden, wie er Falten von Papier und endlosen Aktenfaden um den Hals des Vaterlandes wand. Seine Hemdfalten und sein Kragen waren drückend wie sein Ton und Benehmen. Er hatte eine große Uhrkette und ein Siegelbündel, einen bis zur Unbequemlichkeit zugeknöpften Rock, eine bis zur Unbequemlichkeit zugeknöpfte Weste, ein faltenloses Beinkleid und ein steifes Paar Stiefel. Sein Aussehen hatte zu gleicher Zeit etwas Glänzendes, Massives, Überwältigendes und Unpraktisches. Er schien sein ganzes Leben lang Sir Thomas Lawrence zu seinem Porträt gesessen zu haben.11

»Mr. Clennam?« sagte Mr. Barnacle. »Bitte, setzen Sie sich.«

Mr. Clennam setzte sich.

»Sie haben, wenn ich recht weiß«, sagte Mr. Barnacle, »mich auf dem Circumlocution –« das Wort schien in seinem Munde fünfundzwanzig Silben zu bekommen – »Office aufgesucht.«

»Ich nahm mir die Freiheit.«

Mr. Barnacle verbeugte sich feierlich, als wolle er sagen: »Ich leugne nicht, daß das eine Freiheit ist; nehmen Sie sich die weitere Freiheit und sagen Sie mir, was Ihre Angelegenheit ist.«

»Erlauben Sie mir zu bemerken, daß ich längere Jahre in China war, gänzlich fremd in der Heimat bin und kein persönliches Motiv oder Interesse mich zu der Frage veranlaßt, die ich an Sie zu richten im Begriff bin.«

Mr. Barnacle trommelte mit seinen Fingern auf dem Tisch, und als ob er jetzt einem neuen fremden Künstler zu seinem Porträt säße, schien er diesem zu sagen: »Wenn Sie so freundlich sein wollten, mich mit meinem gegenwärtigen feierlichen Ausdruck aufzufassen, würde ich Ihnen sehr verbunden sein.«

»Ich fand einen Schuldgefangenen im Marschallgefängnis mit Namen Dorrit, der seit vielen Jahren sich dort befindet. Ich möchte gern seinen verwickelten Verhältnissen etwas auf den Grund kommen und mich überzeugen, ob es nicht möglich wäre, nach dieser langen Zeit seine unglückliche Lage einigermaßen zu verbessern. Der Name Tite Barnacle wurde mir als solcher genannt, der unter seinen Gläubigern von großer Bedeutung sei. Bin ich recht unterrichtet?«

Da es einer der Grundsätze des Circumlocution Office war, nie, was immer auch die Frage sein mochte, eine direkte Antwort zu geben, so sagte Mr. Barnacle: »Möglich!«

»Darf ich fragen: für die Krone oder für sich selbst als Privatmann?«

»Das Circumlocution Office, Sir«, antwortete Mr. Barnacle, »hat vielleicht – vielleicht, sage ich, denn ich weiß nicht gewiß – darum angesucht, daß eine gerichtliche Forderung an eine insolvente Firma oder Kompanie, zu der diese Person gehört haben mag, gestellt werde. Die Frage mag im Verlauf der gerichtlichen Verhandlung an das Circumlocution Office zur näheren Erörterung zurückgegangen sein, und das Departement hat vielleicht einen Akt, der jene Forderung stellte, aufgesetzt oder bestätigt.«

»Ich nehme also an, daß dies der Fall war.«

»Das Circumlocution Departement ist für keines Gentlemans Annahmen verantwortlich«, sagte Mr. Barnacle.

»Darf ich fragen, wie ich offizielle Aufklärung über den wirklichen Stand der Sache erhalten kann?«

»Es ist jedem Glied des – Publikums«, sagte Mr. Barnacle, dieses dunkle Wesen als seinen natürlichen Feind nicht ohne Widerstreben nennend, – »jedem Glied des Publikums gestattet, sich an das Circumlocution Office schriftlich zu wenden. Die Formalitäten, unter denen dies zu geschehen hat, kann man erfahren, wenn man sich an die besondere Branche dieses Departements wendet.«

»Welches ist diese besondere Branche?«

»Ich muß Sie«, entgegnete Mr. Barnacle und läutete, »wegen einer genauen Antwort auf diese Frage an das Departement selbst verweisen.«

»Erlauben Sie mir zu erwähnen –«

»Das Departement ist dem – Publikum zugänglich« (Mr. Barnacle stieß sich immer etwas an diesem Wort von so impertinenter Bedeutung), »wenn das – Publikum sich in den offiziellen Formen an dasselbe wendet. Wenn das – Publikum sich nicht in den offiziellen Formen an dasselbe wendet, so hat das – Publikum sich selbst den Schaden zuzuschreiben.«

Mr. Barnacle machte, als ein verletztes Glied der Familie, als ein verletzter Beamter und als ein verletzter Bewohner eines vornehmen Hauses – alles in einem – eine ernste Verbeugung; der Fremde machte Mr. Barnacle seine Verbeugung und wurde durch den schlottrigen Diener in die Mews Street abgeschoben.

Nachdem er soweit gekommen, beschloß er zur Übung in Geduld und Beharrlichkeit, sich wieder nach dem Circumlocution Office zu begeben und zu sehen, wie man seinem Verlangen dort entsprechen würde. Er ging denn nach dem Circumlocution Office zurück und schickte abermals seine Karte durch einen Diener zu Barnacle junior hinauf. Dieser Diener nahm es sehr übel, daß er wiederkam, weil er hinter einem Verschlag an dem Korridorfeuer Kartoffelbrei mit Soße aß.

Er wurde bei Mr. Barnacle junior vorgelassen und fand den jungen Mann noch immer damit beschäftigt, seine Knie zu wärmen und die langen Stunden bis vier Uhr wegzugähnen.

»Ja, sehen Sie! Sie hängen sich ja verteufelt an uns«, sagte Barnacle junior und sah ihn dabei von oben herab an. »Ich möchte wissen –«

»Sehen Sie. Bei meiner Seele, Sie müssen nicht hierherkommen und sagen, Sie möchten wissen, Sie verstehen«, warf Barnacle junior ein, indem er sich umwandte und sein Monokel aufsetzte.

»Ich möchte wissen«, sagte Arthur Clennam, der durch den kurz angebundenen Ton seinen Worten den Ausdruck der Beharrlichkeit gab, »ich möchte genau wissen, welcher Art die Forderung der Krone gegen einen Schuldgefangenen namens Dorrit ist.«

»Ja, sehen Sie! Sie gehen sehr rasch und entschieden zu Werke. Freilich, Sie haben keine Maßregeln erhalten«, sagte Barnacle junior, als wenn die Sache ernst würde.

»Ich möchte wissen«, sagte Arthur und wiederholte seine Frage.

Barnacle starrte ihn an, bis das Monokel herabfiel; er klemmte es wieder ein und starrte ihn an, bis es wieder herabfiel. »Sie haben kein Recht, so vorzugehen«, bemerkte er ungemein matt. »Sehen Sie. Was wollen Sie? Sie sagten mir ja, Sie wüßten nicht, ob es eine Staats- oder Privatangelegenheit sei.«

»Ich habe mich jetzt vergewissert, daß es eine Staatsangelegenheit ist«, versetzte der Bittsteller, »und ich möchte nur wissen«, – damit wiederholte er seine monotone Frage.

Der Erfolg derselben war, daß der junge Barnacle in seiner gleichmütig-gelangweilten Art wiederholte: »Sehen Sie! Bei meiner Seele, Sie sollten nicht hierherkommen und sagen, Sie möchten wissen, was Sie schon wissen.« Der Erfolg dieser Worte war, daß Arthur Clennam ihm seine Frage genau in denselben Worten und demselben Tone wie zuvor wiederholte. Der Erfolg seiner Worte auf den jungen Barnacle aber war, daß er ihm ein erstaunliches Schauspiel von Verlegenheit und Hilflosigkeit bot.

»Nun, ich will Ihnen etwas sagen. Sehen Sie, Sie würden sich weit besser an das Sekretariat wenden«, sprach er endlich, ergriff die Glocke und läutete, »Jenkinson«, sagte er zu dem Kartoffelbreidiener, »Mr. Wobbler!«

Arthur Clennam, der fühlte, daß er sich nun einem Sturmangriff auf das Circumlocution Office geweiht und nicht mehr zurück könne, folgte dem Diener nach einem andern Stockwerk des Gebäudes, wo ihm dieser das Zimmer Mr. Wobblers zeigte. Er trat ein und fand zwei Herren an einem großen und bequemen Schreibtisch einander gegenübersitzend, von dem der eine mit seinem Taschentuch einen Flintenlauf putzte, während der andere mit einem Papiermesser Marmelade aufs Brot strich.

»Mr. Wobbler?« fragte der Fremde.

Beide Herren sahen ihn an und schienen über diese Dreistigkeit erstaunt.

»Er ging«, sagte der Mann mit dem Flintenlauf, der ungemein bedächtig sprach, »er ging zu seinem Vetter und nahm den Hund auf der Eisenbahn mit. Ein unschätzbarer Hund. Der Hund fuhr den Pförtner an, als er in das Hundehaus gesperrt wurde, und fuhr den Wächter an, als man ihn herausließ. Sein Herr tat ein halbes Dutzend Burschen in eine Scheune und einen guten Zuschuß von Ratten und richtete den Hund ab. Und als der Hund imstande war, es mit einer tüchtigen Anzahl aufzunehmen, ließ er ihn sich messen und setzte eine große Summe auf den Hund. Als der Wettkampf heranrückte, wurde so ein verteufelter Bursche bestochen, Sir, der Hund besoffen gemacht, und der Herr des Hundes verlor die Wette.«

»Mr. Wobbler?« fragte der Supplikant.

Der Gentleman, der die Marmelade auf das Brot strich, versetzte, ohne von dieser Beschäftigung aufzusehen: »Wie nannte er den Hund?«

»Liebling«, erwiderte der andere. »Er sagte, der Hund sei das vollkommene Ebenbild der alten Tante, von der er Geld zu erwarten hat. Er fand ihn ihr dann namentlich ähnlich, wenn er von ihr in seinen Erwartungen getäuscht war.«

»Mr. Wobbler?« fragte der Supplikant.

Beide Herren lachten eine Zeitlang. Der Herr mit dem Flintenlauf, der ihn bei näherer Prüfung in befriedigendem Zustande fand, übergab ihn dem andern: und als er seinen Befund bestätigt sah, legte er ihn an seinen Platz in den Kasten, der vor ihm stand, nahm den Schaft heraus und polierte diesen, indem er leise dazu pfiff.

»Mr. Wobbler?« sagte der Supplikant.

»Was soll’s?« sagte endlich Mr. Wobbler, der den Mund voll hatte.

»Ich wünschte zu wissen –« begann Arthur Clennam und erklärte dann wieder ganz mechanisch, was er zu wissen wünschte.

»Kann’s Ihnen nicht sagen«, bemerkte Mr. Wobbler, der offenbar mit seinem Gabelfrühstück beschäftigt war. »Ich hörte nie davon. Habe durchaus nichts damit zu tun. Besser, Sie wenden sich an Mr. Clive, zweite Tür links auf dem nächsten Gang.«

»Womöglich wird er mir dieselbe Antwort geben.«

»Sehr wahrscheinlich. Weiß nichts davon«, sagte Mr. Wobbler.

Der Fragesteller ging weg und hatte das Zimmer bereits verlassen, als der Herr mit der Flinte ihm nachrief: »Mister! Heda!«

Er sah sich wieder um.

»Schließen Sie die Tür hinter sich zu. Es zieht ja verflucht herein.«

Einige Schritte brachten ihn nach der zweiten Tür auf der linken Seite im nächsten Gang. In diesem Gang fand er drei Herren: Nummer eins ohne besondere Beschäftigung; Nummer zwei ohne besondere Beschäftigung; Nummer drei ohne besondere Beschäftigung. Sie schienen jedoch direkter als die andern bei der wirklichen Durchführung des großen Grundsatzes des Office beteiligt zu sein, sofern sich ein ehrwürdiges inneres Gemach mit einer Doppeltür dort befand, in dem die Weisen des Circumlocution zum Rat versammelt schienen und aus dem beinahe beständig eine imposante Menge Papier hineinspazierte, womit ein weiterer Herr, Nummer vier, beschäftigt war. »Ich möchte wissen«, sagte Arthur – und brachte seine Sache in demselben Drehorgelton vor wie früher. Da Nummer eins ihn an Nummer zwei wies und da Nummer zwei ihn an Nummer drei wies, so hatte er Gelegenheit, die Sache dreimal vorzubringen, ehe sie ihn alle an Nummer vier wiesen, der er dann die Sache noch einmal wiederholte.

Nummer vier war ein lebhafter, hübscher, gut gekleideter, angenehmer junger Mann – er war ein Barnacle, aber einer von der heiteren Seite der Familie, und er sagte in ungezwungenem Ton: »Sie würden besser daran tun, wenn Sie sich nicht um diese Sache bemühten, Sir.«

»Mich nicht um die Sache bemühen?«

»Nein! Ich rate Ihnen, sich nicht um die Sache zu bemühen.«

Das war wieder ein so neuer Gesichtspunkt, daß Arthur Clennam verlegen war, wie er es aufnehmen sollte.

»Sie können freilich dabei beharren, wenn’s Ihnen beliebt. Ich kann Ihnen eine Menge von Formularen geben, die Sie nur auszufüllen brauchen. Da liegt ein ganzer Haufen. Sie können ein Dutzend haben, wenn Sie wollen. Aber es wird Ihnen nicht viel nützen«, sagte Nummer vier.

»Sollte das eine so hoffnungslose Sache sein? Entschuldigen Sie: ich bin fremd in England.«

»Ich sage nicht, daß es eine hoffnungslose Sache sei«, entgegnete Nummer vier mit einem offenen Lächeln. »Ich äußere keine Meinung in Beziehung auf die Sache, nur in Beziehung auf Sie. Ich glaube nicht, daß Sie damit Erfolg haben. Aber Sie können natürlich tun, was Ihnen beliebt. Ich vermute, daß es an der Erfüllung eines Kontraktes gemangelt hat, oder etwas dergleichen, nicht wahr?«

»Ich weiß wirklich nicht.«

»Nun, das werden Sie schon herausbringen. Dann werden Sie auch herausbringen, in welchen Bereich dieser Kontrakt gehört, und dann werden Sie überhaupt alles herausbringen.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Wie soll ich das herausbringen?«

»Nun, Sie werden – Sie werden so lange fragen, bis man’s Ihnen sagt. Dann werden Sie (nach den gesetzmäßigen Formen, die Sie herausfinden werden) bei jenem Departement um Erlaubnis nachsuchen, sich bittschriftlich an dieses Departement zu wenden. Wenn Sie diese Erlaubnis haben (was nach einiger Zeit der Fall sein wird), muß die Bittschrift an jenes Departement eingesandt, dann bei diesem Departement einregistriert, dann an jenes Departement zum Signieren geschickt und zum Kontrasignieren an dieses Departement gesandt werden, worauf endlich die Sache nach allen Formen vor jenem Departement verhandelt wird. Wann die Sache durch jeden von diesen Graden gelangt ist, werden Sie erfahren, wenn Sie bei den einzelnen Departements nachfragen, bis sie es Ihnen sagen.« »Aber das ist sicherlich nicht der Weg, zum Ziele zu kommen«, sagte Arthur Clennam unwillkürlich.

Den lustigen jungen Barnacle amüsierte die Einfalt des Fremden, der einen Augenblick hatte glauben können, daß es der Weg sei. Es liegt auf der Hand, daß der junge Barnacle wohl wußte, daß es nicht der Weg war. Dieser kluge junge Barnacle hatte im Departement sich in ein Privatsekretariat eingenistet, um für jeden kleinen fetten Bissen, der abfiele, bereit zu sein; und er sah ganz gut ein, daß das Departement ein Stück politisch-diplomatischer Hokus-Pokus-Maschinerie zur Unterstützung der Dummköpfe gegen die Philister sei. Nach alledem hatte der junge Barnacle die wohlberechtigte Aussicht, ein Staatsmann zu werden und eine Rolle zu spielen.

»Wenn die Sache in der gehörigen Form vor das Departement, gleichgültig vor welches, gelangt ist«, fuhr der heitere junge Barnacle fort, »dann können Sie sie von Zeit zu Zeit auf ihrem Weg durch das Departement beobachten. Kommt sie dann nach der Regel vor dieses Departement, so müssen Sie sie von Zeit zu Zeit auf dem Wege durch dieses Departement verfolgen. Wir werden sie nach rechts und links zum Referat zu verweisen haben; und wo wir sie auch hinsenden, müssen Sie Ihr aufmerksames Auge darauf haben. Sooft sie an uns zurückkommt, müssen Sie Ihr Augenmerk wieder auf uns richten. Stockt die Sache irgendwo, so müssen Sie ihr einen Stoß zu geben suchen. Wenn Sie an das eine Departement wegen der Sache schreiben und dann wieder an ein anderes, und Sie erhalten keine bestimmte Antwort, so tun Sie am besten, – wenn Sie das Schreiben fortsetzen.«

Arthur Clennam schien nicht zu wissen, was das alles bedeuten sollte. »Ich bin Ihnen jedenfalls für Ihre Güte sehr verpflichtet«, sagte er.

»Durchaus nicht«, versetzte der verpflichtende junge Barnacle. »Versuchen Sie es einmal und sehen Sie, wie’s Ihnen bekommt. Sie können es ja zu jeder Zeit wieder aufgeben. Sie nehmen besser gleich einen Packen Formulare mit. Geben Sie ihm einen Haufen Formulare.« Nach diesem Wink für Nummer zwei nahm der junge witzige Barnacle eine neue Handvoll Papiere von Nummer eins und drei und trug sie in das Heiligtum, um sie den den Vorsitz führenden Bonzen des Circumlocution Office vorzulegen.

Arthur Clennam steckte die Formulare ziemlich mißvergnügt in die Tasche und ging durch den langen steinernen Gang und über die lange steinerne Treppe hinab. Er war an das Gattertor gekommen, das auf die Straße führte, und wartete, nicht gerade sehr geduldig, bis die beiden Herren, die sich zwischen ihm und jenem befanden und hinter denen er ging, hinaus wären, als die Stimme des einen vertraut an sein Ohr schlug. Er sah den Sprechenden an und erkannte Mr. Meagles. Mr. Meagles war ganz rot im Gesicht – röter, als die Reise ihn gemacht haben konnte – und rief, indem er einen kleinen Mann, der mit ihm war, beim Kragen packte: »Komm heraus. Schuft, komm heraus!«

Es war ein so unerwartetes Wort und ein so unerwarteter Anblick, Mr. Meagles das Gattertor aufstoßen und den kleinen Mann, der ein höchst unschuldiges Aussehen hatte, auf die Straße hinausziehen zu sehen, daß Clennam für den Augenblick noch immer mit dem Portier Blicke des Erstaunens wechselnd dastand. Er folgte jedoch rasch und sah Mr. Meagles mit seinem Feinde an der Seite die Straße hinabgehen. Er hatte seinen alten Reisegenossen bald eingeholt und klopfte ihm auf die Schulter. Das zornige Gesicht, das Mr. Meagles nach ihm hinwandte, bekam einen milderen Ausdruck, als er sah, wer es war, und er bot ihm freundlich die Hand.

»Wie geht es Ihnen?« sagte Mr. Meagles. »Wie befinden Sie sich? Ich bin eben erst von der Reise zurückgekehrt und freue mich, Sie zu sehen.«

»Auch ich bin sehr glücklich, Sie zu finden.«

»Danke, danke!«

»Mrs. Meagles und Ihre Tochter –?«

»Befinden sich den Umständen nach wohl«, sagte Mr. Meagles. »Ich wünschte nur, Sie hätten mich in einer minder aufgeregten Stimmung getroffen.«

Obwohl es nichts weniger als ein heißer Tag war, befand sich Mr. Meagles doch in einem so erhitzten Zustand, daß die Vorübergehenden aufmerksam wurden, namentlich als er sich mit dem Rücken an einen Bretterzaun lehnte, Hut und Krawatte abnahm und seinen dampfenden Kopf, sein glühendes Gesicht, seine geröteten Ohren und den Nacken ohne die geringste Rücksicht auf die Meinung des Publikums tüchtig zu reiben begann.

»Uff!« sagte Mr. Meagles und zog sich wieder an. »Das ist angenehm. Nun bin ich etwas kühler.«

»Sie wurden aus der Fassung gebracht, Mr. Meagles. Was ist die Ursache?«

»Warten Sie ein wenig, und ich werde Ihnen die Sache erzählen. Haben Sie Zeit zu einem Gang in den Park?«

»Soviel Sie wollen.«

»So kommen Sie. Ah! sehen Sie sich ihn nur an.« Er hatte zufällig einen Blick auf den Beleidiger geworfen, den Mr. Meagles so zornig am Kragen gepackt. »Es lohnt sich wohl der Mühe, den Burschen anzusehen.«

Es lohnte sich aber weder in Hinsicht auf die Gestalt noch in Hinsicht auf die Kleidung der Mühe, ihn anzusehen; denn er war ein kleiner, vierschrötiger, werktätig aussehender Mann, mit grauem Haar, in dessen Gesicht und Stirn langes Nachdenken tiefe Furchen gegraben, die aussahen, als ob sie in hartes Holz geschnitten wären. Er war ganz schwarz gekleidet; sein Anzug trug jedoch die Spuren von Flecken: der kleine Mann schien ein geschickter Handwerker zu sein. Er hatte ein Brillenfutteral in der Hand, das er in einem fort hin und her drehte, solange von ihm die Rede war, wobei er den Daumen auf eine Art brauchte, wie man es nur bei einer an Werkzeuge gewöhnten Hand findet.

»Sie bleiben bei uns«, sagte Mr. Meagles in drohendem Ton, »ich werde Sie sogleich vorstellen – vorwärts denn.«

Clennam war sehr begierig, als sie den nächsten Weg nach dem Park einschlugen, zu erfahren, was dieser Unbekannte (der aufs bereitwilligste gehorchte) getan haben mochte. Seine Erscheinung rechtfertigte durchaus nicht den Verdacht, daß er bei einem Angriff auf Mr. Meagles‘ Taschentuch ertappt worden.12 Auch hatte er nichts weniger als das Aussehen eines streitsüchtigen und heftigen Menschen. Es war im Gegenteil ein ruhiger, einfacher Mann voller Haltung. Er machte keinen Fluchtversuch und schien etwas gebeugt, aber weder Grund zur Scham noch zur Reue zu haben. War er ein Verbrecher, so war er entschieden ein unverbesserlicher Heuchler; war er kein Verbrecher, warum hatte ihn dann Mr. Meagles im Circumlocution Office am Kragen gepackt? Er bemerkte, daß der Mann nicht bloß für ihn ein schwieriger Punkt war, sondern auch für Mr. Meagles; denn das Gespräch, das sie auf dem kurzen Weg bis zum Park miteinander führten, hielt sich nur schwer im Gange, und Mr. Meagles‘ Augen richteten sich immer wieder auf den Mann, auch wenn er von ganz anderen Dingen sprach.

Als sie endlich unter den Bäumen angekommen waren, blieb Mr. Meagles plötzlich stehen und sagte:

»Mr. Clennam, wollen Sie die Güte haben und sich diesen Mann ansehen? Sein Name ist Doyce, Daniel Doyce. Sie werden wohl nicht glauben, daß dieser Mann ein notorischer Schuft ist, nicht wahr?«

»Gewiß nicht.« Es war eine sehr fatale Frage in Gegenwart des Mannes.

»Nein. Sie würden es nicht; ich weiß, Sie würden es nicht. Sie würden nicht glauben, daß er ein Staatsverbrecher ist; nicht wahr?«

»Nein«.

»Nein. Aber er ist es dennoch. Er ist ein Staatsverbrecher. Was ist sein Verbrechen? Mord, Totschlag, Mordbrennerei, Fälschung, Gaunerei, Einbruch, Straßenraub, Diebstahl, Verschwörung, Betrug? Was meinen Sie?«

»Ich meine«, entgegnete Arthur Clennam, indem er ein flüchtiges Lächeln auf Daniel Doyces Gesicht bemerkte, »keines von allen.«

»Sie haben recht«, sagte Mr. Meagles. »Aber er war erfinderisch und wollte seinen Scharfsinn im Dienst seines Vaterlandes verwenden. Das macht ihn geradezu zum Staatsverbrecher, Sir.«

Arthur sah den Mann selbst an, der nur den Kopf schüttelte.

»Dieser Doyce«, sagte Mr. Meagles, »ist ein Schmied und Maschinenbauer. Er betreibt sein Geschäft nicht im großen, aber er ist als ein sehr erfinderischer Kopf weit und breit bekannt. Vor einem Dutzend Jahre vollendet er eine Erfindung (der ein äußerst merkwürdiges geheimes Verfahren zugrunde liegt) von großer Wichtigkeit für sein Land und seine Nebenmenschen. Ich will nicht sagen, wieviel Geld ihn die Sache kostete oder wie viele Jahre seines Lebens er damit zubrachte; aber er vollendete das Werk vor ungefähr zwölf Jahren. Werden es nicht zwölf Jahre?« sagte Mr. Meagles, sich an Doyce wendend. »Der Mensch könnte einen zur Verzweiflung bringen; er beklagt sich nie.«

»Ja, wohl mehr als zwölf Jahre.«

»Wohl mehr?« sagte Mr. Meagles. »Sie wollen sagen, leider mehr als zwölf Jahre. Nun, Mr. Clennam. Er wendet sich an die Regierung. In dem Augenblick, in dem er sich an die Regierung wendet, wird er ein Staatsverbrecher! Sir«, sagte Mr. Meagles, Gefahr laufend, sich wieder zu erhitzen, »er hört auf, ein unschuldiger Bürger zu sein, und wird ein Verbrecher. Er wird von dem Augenblick an als ein Mann behandelt, der eine höllische Tat begangen. Man glaubt ihn betrügen, herumstoßen, mit anmaßenden, unverschämten Behauptungen niederschlagen zu dürfen, der eine junge oder alte Gentleman von vornehmen Beziehungen liefert ihn an den andern jungen oder alten Gentleman von vornehmen Beziehungen aus: so wird er beständig an der Nase herumgeführt. Er hat nicht mal mehr ein Recht auf seine Zeit oder sein Eigentum; er ist ein völlig rechtloser Mensch, bei dem es gerechtfertigt ist, wenn sich jeder von ihm lossagt, ein Mann, der auf jede mögliche Weise gequält werden muß.«

Es war nicht so schwierig, das alles zu glauben, wie Mr. Meagles meinte, wenn man solche Erfahrungen gemacht, wie Arthur Clennam diesen Morgen.

»Stehen Sie doch nicht so da, Doyce, und drehen Sie nicht Ihr Brillenfutteral in einem fort in der Hand herum«, rief Mr. Meagles, »sondern sagen Sie Mr. Clennam, was Sie mir bekannt haben.«

»Man verfuhr allerdings mit mir«, sagte der Erfinder, »als wenn ich ein Verbrechen begangen. Bei meinen demütigen Aufwartungen auf den verschiedenen Bureaus wurde ich immer mehr oder weniger behandelt, als drehte es sich um ein großes Verbrechen. Ich mußte wirklich oft selbst zu meiner eignen Beruhigung mich innerlich vergewissern, daß ich in der Tat nichts begangen, was mich in das Gefängnis-Register bringen könnte, sondern daß ich nur eine große Ersparnis und Verbesserung ins Leben rufen wollte.«

»Da!« sagte Mr. Meaglee. »Urteilen Sie selbst, ob ich übertreibe! Nun werden Sie imstande sein, mir zu glauben, wenn ich Ihnen das übrige sage.«

Mit diesem Vorspiel ging Mr. Meagles zur Geschichte selbst über, einer Geschichte, die nach und nach ermüdend geworden, einer alltäglichen Geschichte, die wir alle auswendig kennen. Wie nach endlosem Aufwarten und Korrespondieren, nach unaufhörlichen Impertinenzen, Unwissenheiten und Beleidigungen die Herren ein Protokoll aufnahmen, Nummer dreitausendvierhundertundzweiundsiebenzig, und dem Verbrecher gestattet wurde, auf seine eigenen Kosten Versuche mit seiner Erfindung zu machen. Wie diese Versuche in Gegenwart eines Kollegiums von sechsen angestellt wurden, von denen zwei alte Mitglieder zu blind waren, um zu sehen, zwei andere alte Mitglieder zu taub, um zu hören, ein anderes altes Mitglied zu lahm, um näher zu kommen, und das letzte alte Mitglied zu eigensinnig, um sich die Sache genauer zu betrachten. Wie wieder mehrere Jahre darüber hingingen: der Erfinder neue Impertinenzen, Unwissenheiten und Beleidigungen zu erdulden hatte. Wie die Herren ein Protokoll machten, Nummer fünftausendeinhundertunddrei, wonach sie die ganze Sache an das Circumlocution Office übertrugen. Wie das Circumlocution Office im Verlauf der Zeit die Sache in die Hand nahm, als wäre es eine funkelnagelneue Sache, von der man nie zuvor gehört, und darin herumwühlte, sie unfruchtbar machte und zuletzt in eine nasse Decke hüllte. Wie die Impertinenzen, Unwissenheiten und Beleidigungen das Einmaleins durchmachten. Wie die Erfindung an drei Barnacles und einen Stiltstalking verwiesen wurde, die, nichts davon wußten und deren Köpfe gar nicht darüber nachzudenken imstande waren, die sich aber doch durcharbeiteten und in ihrem Bericht erklärten, daß die Sache tatsächlich unmöglich sei. Wie das Circumlocution Office in einem Reskript Nummer achttausendsiebenhundertundvierzig »keinen Grund sah, weshalb die Entscheidung, zu der Mylords gekommen waren, umzustoßen sei«. Wie das Circumlocution Office, als man ihm bedeutete, daß Mylords zu gar keiner Entscheidung gekommen, die Sache ad acta legte. Wie am heutigen Morgen eine letzte Unterredung mit dem Vorstand des Circumlocution Office stattgefunden und was diese eherne Stirn gesprochen und wie sie im ganzen, und unter allen Umständen und von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachtet, der Meinung gewesen, daß einer von den beiden Wegen in Beziehung auf diese Sache eingeschlagen werden müsse: entweder sie für immer auf sich beruhen zu lassen oder ganz von vorne zu beginnen.

»Worauf ich dann«, schloß Mr. Meagles, »als ein praktischer Mann Doyce in Gegenwart der Herrn am Kragen packte und ihm sagte, es sei mir klar, daß er ein infamer Schuft und verräterischer Störer des Friedens der Regierung sei, und ihn mit mir fortnahm. Ich schleppte ihn am Kragen zur Tür des Bureaus hinaus, damit der Portier erfuhr, daß ich ein praktischer Mann sei, der die Stellung eines solchen Charakters gegenüber einem öffentlichen Amte zu würdigen wisse: und so sind wir da!«

Wäre der lustige junge Barnacle zugegen gewesen, er würde ihnen vielleicht offen erklärt haben, daß das Circumlocution Office seine Funktionen alle erfüllt; daß es die Aufgabe der Barnacles sei, sich auf dem Staatsschiff solang als möglich zu halten, daß das Schiff aufzutakeln, zu erleuchten, auszubaggern, sich herausjagen hieße; daß sie nur einmal herausgejagt werden könnten, und daß, wenn das Schiff untergehe, während sie noch darauf festhielten, es des Schiffes Sache, nicht die ihre sei.

»So!« sagte Mr. Meagles, »jetzt wissen Sie alles, was Doyce betrifft. Nur das eine, ich gestehe es, will mich nicht beruhigen, daß Sie bis diesen Augenblick noch keine Klage aus seinem Munde vernommen.«

»Sie müssen große Geduld besitzen«, sagte Arthur Clennam und sah ihn recht bewundernd an, »große Gelassenheit.«

»Nein«, sagte er, »ich wüßte nicht, daß ich mehr besäße als sonst jemand.«

»Bei Gott, Sie haben doch mehr als ich!« rief Mr. Meagles.

Doyce lächelte und sagte zu Clennam: »Sie sehen, meine Erfahrung in solchen Dingen beginnt nicht bei mir. Ich hatte Gelegenheit, bisweilen von solchen Geschichten zu hören. Mein Fall ist kein besonderer. Man ist nicht schlimmer mit mir umgegangen als mit hundert andern, – ich wollte sagen, als mit allen, die in dieselbe Lage gekommen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das für einen Trost halten würde, wenn ich in diesem Falle wäre, aber es freut mich, daß Sie es tun.«

»Verstehen Sie mich recht! Ich sage nicht«, erwiderte er in seiner ruhig überlegenden Art und sah in die Ferne vor sich, als ob sein graues Auge diese messen wollte, »ich sage nicht, daß das eine Entschädigung für die Mühe und Hoffnung eines Mannes ist. Aber es ist doch eine Art Erleichterung, zu wissen, daß ich darauf hätte rechnen können.«

Er sprach in der ruhigen, umsichtigen Weise und in dem halblauten Ton, den man so oft bei Mechanikern beobachtet, die mit großer Genauigkeit zu erwägen und abzuwägen gewöhnt sind. Es war das ebenso charakteristisch für ihn, wie seine Gewandtheit mit dem Daumen oder seine eigentümliche Manier, dann und wann seinen Hut hinten in die Höhe zu rücken, als ob er über ein halbvollendetes Werk seiner Hand nachgrübelte.

»In meinen Erwartungen getäuscht?« fuhr er fort, als er so zwischen den beiden unter den Bäumen einherging. »Ja, kein Zweifel, ich bin in meinen Hoffnungen getäuscht. Zu Schaden gebracht? Ja. Kein Zweifel, ich bin zu Schaden gebracht. Das ist ganz natürlich. Aber was ich meine, ist, daß Leute, die sich selbst in dieselbe Lage versetzen, meist in derselben Weise behandelt werden –«

»In England«, sagte Mr. Meagles.

»O natürlich, in England, meine ich. Wenn Sie Ihre Erfindung in fremde Länder nehmen, so ist das ganz etwas anderes. Und das ist der Grund, weshalb so viele fortgehen.«

Mr. Meagles war schon wieder sehr heiß.

»Was ich meine, ist, daß, obwohl dies auch das gewöhnliche Verfahren unserer Regierung geworden sein mag, es nun eben einmal das gewöhnliche Verfahren ist. Haben Sie je von einem Entdecker oder Erfinder gehört, der die Regierung nicht völlig unzugänglich gefunden und den sie nicht auf jede Weise entmutigt und schlecht behandelt hätte?«

»Ich gestehe, nein.«

»Haben Sie sie je bei Annahme einer nützlichen Sache vorangehen gefunden? Haben Sie je gesehen, daß sie in irgendeiner Sache ein nützliches Beispiel gegeben?«

»Ich bin ein gutes Stück älter als mein Freund hier«, sagte Mr. Meagles, »und ich will diese Frage beantworten: Niemals!«

»Aber wir alle drei haben, wie ich erwarte«, sagte der Erfinder, »eine große Menge von Fällen gekannt, in denen sie fest entschlossen war, Meile um Meile und Jahr um Jahr hinter uns andern zurückzubleiben, und in denen man sie bei der Ausübung längst außer Brauch gesetzter Dinge beharren sah, selbst nachdem das Bessere bekannt und allgemein angenommen war?«

Sie stimmten alle mit dieser Ansicht überein.

»Nun gut«, sagte Doyce mit einem Seufzer, »wie ich weiß, was mit einem gewissen Metall bei einer bestimmten Temperatur und mit einem gewissen Körper bei einem bestimmten Druck vorgeht, so muß ich wissen (wenn ich einfach darüber nachdenken will), wie diese großen Lords und Gentlemen eine Sache, wie die meinige, behandeln werden. Ich habe kein Recht, überrascht zu sein – sobald ich einen Kopf auf den Schultern trage und ein Gedächtnis darin habe –, daß ich mit allen meinen Vorgängern in eine Linie gestellt werde. Ich hätte die Sache einfach unterlassen sollen. Ich war, glaube ich, genugsam gewarnt.«

Damit steckte er sein Brillenfutteral ein und sagte zu Arthur: »Wenn ich mich nicht beklage, Mr. Clennam, so kann ich doch Dankbarkeit fühlen; und ich versichere Sie, daß ich solche für unsern gemeinsamen Freund fühle. Oftmals und auf mancherlei Weise hat er mir den Rücken gedeckt.«

»Dummes Zeug, Unsinn!« sagte Mr. Meagles.

Arthur mußte während der darauffolgenden Pause beständig Daniel Doyce ansehen.

Obgleich es offenbar im Wesen seines Charakters lag und die Rücksicht auf seine Sache ihm gebot, sich unnützen Murrens zu enthalten, hatte ihn doch sein langes Mühen ersichtlich älter, ernster und ärmer gemacht. Er mußte unwillkürlich immer daran denken, wie segensreich es für diesen Mann gewesen wäre, wenn er sich an jenen Männern, die so freundlich sind, sich mit den Angelegenheiten der Nation zu befassen, eine Lehre genommen und gelernt hätte: »wie man es nicht machen müsse«.

Mr. Meagles war noch ungefähr fünf Minuten lang heiß und kleinmütig, dann begann er sich abzukühlen und aufzuklären.

»Nun, nun!« sagte er, »wir werden die Sache nicht besser machen, wenn wir auch zornig sind. Wohin beabsichtigen Sie zu gehen, Dan?«

»Ich gehe nach der Fabrik zurück«, sagte Dan.

»Nun gut, wir gehen alle nach der Fabrik zurück oder wenigstens in der Richtung«, versetzte Mr. Meagles freundlich. »Mr. Clennam wird nicht erschreckt werden, wenn er erfährt, daß sie im ›Hof zum blutenden Herzen‹ ist.«

»Im ›Hof zum blutenden Herzen?‹« fragte Clennam. »Ich muß gerade dorthin.«

»Um so besser«, rief Mr. Meagles.

Während sie so des Weges gingen, dachte gewiß einer von ihnen, und vielleicht mehr als einer, daß der »Hof zum blutenden Herzen« kein unpassender Bestimmungsort für einen Mann sei, der in offiziellem Verkehr mit Mylords und den Barnacles steht, – und hatte vielleicht sogar eine Ahnung, daß auch Britannien an einem traurigen Tage, wenn es das Circumlocution Office mit Arbeit überlüde, sich nach einer Wohnung im »Hof zum blutenden Herzen« umsehen müsse.

  1. Umschreibungs- oder Umschreibbureau – das Folgende ist eine zeitpolitische Satire.
  2. Die bekannte Verschwörung der Katholiken Englands gegen die Regierung König Jakobs.
  3. Sir Thomas Lawrence (1769–1830) gefeierter Modemaler seiner Zeit, der Könige und viele hohe Fürstlichkeiten porträtierte. Heute sind seine süßlich-leeren Gemälde meist vergessen.
  4. Taschentücher-Diebstahl war damals in England (vgl. Oliver Twist) ein beliebter Sport der Taschendiebe.

Erstes Kapitel. Fünf Jahre später.


Erstes Kapitel. Fünf Jahre später.

 

Tellsons Bank bei Temple Bar war schon im Jahr eintausendsiebenhundertachtzig ein altmodischer Platz, sehr klein, sehr dunkel, sehr häßlich und sehr unbequem. Man konnte sie aber auch einen altmodischen Platz mit Beziehung auf die moralische Eigentümlichkeit nennen, daß jeder der Geschäftsteilhaber stolz war auf das kleine Gebäude, stolz auf seine Dunkelheit, stolz auf sein garstiges Aussehen und stolz auf seine Unbequemlichkeit. Diese Eigenschaften schienen ihnen sogar hohe Vorzüge zu sein, denn sie lebten der zuversichtlichen Überzeugung, daß die Bank, wenn man weniger an ihr zu tadeln wüßte, auch weniger achtbar wäre. Dies war aber nicht bloß ein passiver Glaube, sondern eine aktive Waffe, die sie gern auf bequemer eingerichtete Geschäftshäuser schleuderten. Tellsons (sagten sie) brauchen keinen überflüssigen Raum, kein Licht, keine Verschönerung. Noakes & Komp. oder Gebrüder Snooks werden es nötig haben: aber Tellsons? Dem Himmel sei Dank, nein!

Jeder von den Geschäftsteilhabern würde seinen Sohn enterbt haben, wenn dieser an einen Umbau von Tellsons gedacht hätte. In der Beziehung erging es dem Hause gerade wie England, das sehr oft seine Söhne enterbte, weil sie Verbesserungen in Gesetzen und Bräuchen beantragten, die nichts weniger als löblich, aber ebendeshalb nur um so achtbarer waren.

So war es denn dahin gekommen, daß Tellsons die triumphierende Vervollkommnung der Unbequemlichkeit war. Nachdem man eine blödsinnig hartnäckige Tür knarrend gesprengt hatte, fiel man bei Tellsons ein paar Stufen hinab und kam in einem erbärmlichen Lädchen mit zwei kleinen Zahltischen wieder zur Besinnung, wo in den Händen der ältesten Männer der Wechsel eines Kunden wie im Wind zitterte, solange sie die Unterschrift an den schmutzigsten von allen Fenstern prüften, die von der Fleetstraße aus unter dem Einfluß eines stetigen Schlammregenbades standen und vor den eigenen eisernen Gittern und in dem tiefen Schatten von Temple Bar sich nur um so schmutziger ausnahmen. War jemand genötigt, geschäftehalber mit dem »Haus« zu verkehren, so wurde er an der Hinterseite in eine Art Verbrecherzelle gesteckt, wo er über ein übel zugebrachtes Leben nachdenken konnte, bis das Haus, die Hände in den Taschen, erschien, in dem unheimlichen Zwielicht aber sich kaum erkennen ließ. Die Geldbehälter, die der Ein- oder Auszahlung dienten, bestanden aus alten hölzernen Schubladen, aus denen beim Herausziehen oder Zurückschieben das Wurmmehl einem in Nase und Kehle flog. Die Banknoten hatten einen modrigen Geruch, als seien sie im Begriff, rasch sich wieder in Lumpen zu zersetzen. Das anvertraute Silbergerät wurde unter die übrigen Schutzsafes gestellt und hatte da so eine ungeschliffene Kameradschaft, so daß es schon in einem oder zwei Tagen seine feine Politur verlor. Die Urkunden fanden ein Unterkommen in aus Küchen und Spülplätzen entstandenen Verließen, und ihre Pergamente verloren in der Bankhausluft vor Ärger all ihr Fett. Leichtere Faszikel mit Familienpapieren gingen die Treppe hinauf nach einem Barmakidenzimmer, in dem stets ein großer Speisetisch stand, aber nie etwas zum Speisen gereicht wurde; und es war in dem Jahr eintausendsiebenhundertachtzig noch nicht lange her, daß man die Familienbriefe, die der Engländer statt dem Notar dem Bankier zu übergeben pflegt, von dem Schrecken befreit hatte, durch die Fenster jenes Zimmers von den Köpfen angestarrt zu werden, die man mit der eines Abessiniers oder Aschanti 1 würdigen unsinnigen Roheit auf Temple Bar auszustellen gewohnt war.

Doch damals war das Zu-Tode-Bringen ein bei allen Geschäftszweigen und Berufsarten sehr beliebter Prozeß und also auch bei Tellsons. Der Tod ist das Heilmittel gegen alles; warum sollte ihn nicht die Gesetzgebung in dem gleichen Lichte betrachten? Demgemäß traf den Fälscher Todesstrafe, den unrechtmäßigen Eröffner von Briefen Todesstrafe, den armen Schelmen, der vierzig Schillinge und sechs Pence stahl, Todesstrafe, den Burschen, der an Tellsons Tür ein Pferd hielt und sich damit davonmachte, Todesstrafe, den Münzer eines falschen Schillings Todesstrafe; kurz auf drei Vierteln der Noten in der Tonleiter des Verbrechens stand der Tod. Nicht daß dadurch auch nur im mindesten vorbeugend gewirkt worden wäre – man könnte fast eher das Gegenteil behaupten; sondern das summarische Verfahren räumte für diese Welt mit den Angelegenheiten jedes einzelnen Falles auf; und es wurde später nicht nötig, sich weiter damit zu befassen. So waren auch in ihrer Zeit Tellsons gleich andern größeren Geschäftshäusern jener Periode schuld an so vielen Todesurteilen, daß das bißchen Licht des Erdgeschosses wahrscheinlich in einer ziemlich bedeutsamen Weise beeinträchtigt worden wäre, wenn man statt der Einzelabfertigung die um ihretwillen gefallenen Köpfe insgesamt über Temple Bar aufgepflanzt hätte.

In alle Arten von dunklen Kästen und Verschlägen eingeengt, führten bei Tellsons die ältesten Männer gravitätisch das Geschäft. Nahmen sie je einmal einen jungen Menschen in Tellsons Londoner Haus auf, so versteckten sie ihn irgendwo, bis er alt war. Sie verwahrten ihn, gleich dem Käse, an einem dunkeln Platz, bis er den vollkommenen Geschmack und Charakter von Tellsons angenommen hatte. Dann erst wurde es ihm gestattet, öffentlich in den Hosen und Gamaschen des Etablissements, über großen Büchern brütend, sich sehen zu lassen.

Außen vor Tellsons – aber ja nie innen ohne eine besondere Berufung – sah man regelmäßig einen Aushelfer, bald Pförtner, bald Bote, der als lebendiges Hausschild diente. Er fehlte nie während der Bürostunden, wenn er nicht etwa einen Auftrag zu besorgen hatte, und in diesem Falle wurde er durch seinen Sohn, einen abscheulichen Knirps von zwölf Jahren, der sein getreues Ebenbild war, vertreten. Die Leute waren der Meinung, Tellsons duldeten dieses Anhängsel um der Ehre des Hauses willen, weil man immer eine Person in dieser Eigenschaft geduldet hatte und im Laufe der Zeit die gegenwärtige auf den Posten geschwemmt worden war. Sie hieß Cruncher mit dem Geschlechtsnamen und hatte bei einem jugendlichen Anlaß, als sie durch einen Bevollmächtigten den Werken der Finsternis entsagte, in der östlichen Pfarrkirche von Houndsditch die weitere Benennung Jerry erhalten.

Der Schauplatz war Mr. Crunchers Privatwohnung in Hangingsword-Alley, Whitefriars. Die Zeit war halb acht Uhr an einem windigen Märzmorgen Anno Domini Siebzehnhundertachtzig (Mr. Cruncher selbst nannte das Jahr unseres Herrn Anna Domino, augenscheinlich unter dem Eindruck, daß die christliche Zeitrechnung sich von der Erfindung eines beliebten Volksspiels durch eine Dame herschreibe, die diesem ihren Namen beigelegt habe).

Mr. Crunchers Wohngelasse lagen in keiner durch gesunde Luft sich empfehlenden Gegend und waren nur zwei an der Zahl, selbst wenn man den mit einer einzigen Glasscheibe versehenen Alkoven mitrechnete. Doch sah es darin sehr anständig aus; denn trotz des windigen frühen Märzmorgens war die Stube, in der er noch zu Bette lag, bereits sauber gefegt, und über den wackligen Tannentisch, auf dem die Frühstückstassen standen, lag ein reinliches Tischtuch gebreitet.

Mr. Cruncher ruhte unter einer aus verschiedenfarbigen Fleckchen zusammengesetzten Decke wie ein Harlekin in seinem Heimwesen. Anfangs schlief er tief; aber allmählich begann er im Bett hin und her zu wogen, bis er mit seinem Spießhaar, das die Überzüge in Fetzen zu zerreißen drohte, über die Oberfläche auftauchte. Nachdem er soweit gekommen war, rief er in einem Tone, der grimmige Gereiztheit verriet:

»Alle Hagel, ist sie schon wieder dran!«

Eine Frauensperson von ordentlichem und emsigem Aussehen erhob sich in einer Ecke von ihren Knien, und zwar mit einer Hast und Ängstlichkeit, die andeutete, daß sie die gemeinte Person sei.

»Wie!« rief Mr. Cruncher, aus dem Bett heraus sich nach seinen Stiefeln umsehend, »bist du schon wieder dran, he?«

Nachdem er den Morgen mit diesem zweiten Gruß bewillkommt hatte, warf er als dritten der Frau einen Stiefel nach. Es war ein sehr schmutziger Stiefel, und wir können hier eine sonderbare Eigentümlichkeit aus Mr. Crunchers häuslicher Ordnung berühren, daß er nämlich, während er oft nach den Bürostunden mit sauberen Stiefeln nach Hause kam, nicht selten beim Aufstehen dieselben Stiefel beschmutzt fand.

»Nun«, rief Mr. Cruncher, nachdem er sein Ziel verfehlt hatte, mit einer Variation in seiner Apostrophe, »was tust du jetzt, du Ekel?«

»Ich habe nur mein Gebet gesprochen.«

»Gebet gesprochen – du bist mir ein sauberes Weibsstück! Was soll das heißen, daß du hinsackst und Rache gegen mich erbetest?«

»Ich habe nicht gegen dich Rache erbetet, sondern für dich gebetet!«

»Ist nicht wahr. Und wenn’s auch wäre, so braucht man sich mit mir keine solche Freiheit zu nehmen. Hörst du, junger Jerry, deine Mutter ist eine feine Person und geht hin, um gegen deines Vaters Wohlfahrt zu beten. Ja, mein Sohn, du hast eine pflichtgetreue Mutter, du hast eine fromme Mutter, Junge – sie geht hin, sackt auf den Boden hin und betet, daß ihrem einzigen Kinde das Butterbrot aus dem Munde genommen werden möge!«

Der junge Herr Cruncher, der im Hemde dastand, nahm dies sehr übel und verbat sich, gegen seine Mutter gewandt, alles auf seine persönliche Verköstigung sich beziehende Gebet.

»Und was meinst du, du eingebildetes Weib«, fuhr Mr. Cruncher in nicht geahnter Inkonsequenz fort, »was wohl dein Gebet wert sein mag? Sag‘, wie hoch schlägst du dein Gebet an?«

»Es kommt nur aus dem Herzen, Jerry, und ist nicht mehr wert als dieses.«

»Nicht mehr wert als dieses?« wiederholte Mr. Cruncher. »Dann ist’s mit seinem Wert nicht weit her. Wie dem übrigens sei, ich erkläre dir, daß nicht gegen mich gebetet werden soll. Ich kann das nicht brauchen für meine Haushaltung und will mich nicht durch deine Schleicherei unglücklich machen lassen. Wenn du einmal hinsacken willst, so tu es für deinen Mann und dein Kind und nicht gegen sie. Hätte ich nicht ein so unnatürliches Weib und dieser arme Knabe eine unnatürliche Mutter, so wär‘ mir sicherlich in der letzten Woche einiges Geld zugeflossen; statt dessen aber muß ich gegen mich beten, mich unterminieren und auf die schlimmste religiöse Weise zu Grunde richten lassen. Hol‘ mich der Henker!« sagte Mr. Cruncher, der diese ganze Zeit über mit Anlegen seiner Kleider beschäftigt gewesen war, »wenn ich nicht durch die Frömmigkeit und dies und jenes letzte Woche in so schlimmes Malheur hineingejagt worden bin, wie es nur je einem armen Teufel von einem ehrlichen Geschäftsmann zugestoßen ist! Junger Jerry, zieh dich an, Bursche, und hab‘ von Zeit zu Zeit, während ich meine Stiefel putze, ein wachsames Auge auf deine Mutter. Merkst du, daß sie wieder niedersacken will, so ruf mir; denn ich sage dir« – dies galt seinem Weibe – »ich leid’s nicht, daß man mir immer so kommt. Ich werde so wacklig wie eine Mietkutsche, so schläfrig wie ein Murmeltier, und meine Glieder müssen dran, daß ich, wenn sie mir nicht so weh täten, nicht wüßte, ob sie mir oder jemandem anders gehören; und doch fährt bei alledem mein Portemonnaie nicht besser. Darum glaube ich, du hast von Morgen bis in die Nacht meinen Verdienst gehindert, so daß ich nicht vorwärtskommen kann. Nun, was sagst du jetzt, du Widerspruchsgeist?«

Unter weiter dazugefügten knurrenden Phrasen, als da waren: »Ah, ja. Du bist fromm. Du willst nicht gegen die Interessen deines Mannes und Kindes handeln – du natürlich nicht« und unterschiedlichen weiteren Geistesblitzen von dem schnurrenden Schleifstein seiner Entrüstung machte er sich ans Stiefelputzen und an die allgemeinen Vorbereitungen für sein Geschäft. Mittlerweile besorgte sein Sohn, dessen Kopf mit etwas feineren Spießen versehen war, und dessen junge Augen so nahe beieinander standen wie die seines Vaters, die ihm aufgetragene Wache über seine Mutter. Er ängstigte das arme Weib damit, daß er von Zeit zu Zeit aus dem Alkoven, wo er seine Toilette machte, mit dem Ruf herausfuhr: »Wollt Ihr wieder hinsacken, Mutter? – He, Vater!« und dann nach Erregung dieses falschen Lärms mit einem sehr unkindlichen Grinsen wieder hineinstürzte.

Mr. Cruncher war nicht in der besten Stimmung, als er sich endlich zum Frühstück niedersetzte. Das Gebet, das Mrs. Cruncher leise vor sich hin sprach, erregte bei ihm besonderen Anstoß.

»Nun, Ekel, was tust du? Schon wieder dabei?«

Sein Weib entgegnete, daß sie nur einen Segen gesprochen habe.

»Das läßt du mir bleiben!« rief Mr. Cruncher, indem er umherschaute, als erwarte er, daß unter der Wirksamkeit von seines Weibes Gebet der Laib vom Tische verschwinden werde. »Ich will nicht von Haus und Herd weggesegnet werden. Das segnet mir am Ende alle meine Lebensmittel vom Tisch. Ruhig also.«

Grämlich und mit ungemein roten Augen, als sei er die ganze Nacht auf und in einer Gesellschaft gewesen, in der es nichts weniger als gesellschaftlich zuging, würgte Jerry Cruncher sein Frühstück hinunter und brummte dazu wie nur irgendein vierfüßiger Menagerie-Insasse. Gegen neun Uhr glättete sich sein rauhborstiges Wesen. Er übertünchte sein natürliches Ich, so gut er konnte, mit einem Anstrich von Achtbarkeit und Geschäftseifer und trat seinen Tagesberuf an.

Man konnte diesen kaum ein Gewerbe nennen, obschon Mr. Cruncher es liebte, sich selbst als »ehrlichen Geschäftsmann« zu bezeichnen. Sein Geschäftsinventar bestand bloß in einem Schemel, gefertigt aus einem Stuhl, dessen zerbrochene Lehne abgesägt worden, und diesen hatte der junge Jerry jeden Morgen unter das zunächst an Temple Bar grenzende Bankhausfenster zu tragen, wo der Aushelfer mit ein paar Strohwischen als Zugabe, die er einem vorüberfahrenden Fuhrwerk ausraufte und mit denen er die Füße gegen Nässe und Kälte schützte, sein Standquartier aufschlug. Auf diesem seinem Posten war Mr. Cruncher der Fleetstraße und dem Temple so bekannt wie die Bar selbst und sah fast ebenso übel aus.

Um drei Viertel auf neun, also noch in guter Zeit, um vor den uralten Männern, wenn sie bei Tellsons eingingen, an den dreieckigen Hut zu greifen, bezog Jerry an jenem windigen Märzmorgen seinen Posten, und der junge Jerry nahm an seiner Seite seinen Stand, wenn er nicht gerade Streifzüge durch das Bar machte, um körperliche und geistige Verletzungen der wehtuendsten Art an vorübergehenden Knaben zu üben, die für seinen liebenswürdigen Zweck klein genug waren. Während Vater und Sohn, mit ihren Köpfen so nahe beieinander, wie bei jedem die Augen standen, schweigend dem Morgentreiben in der Fleetstraße zusahen, nahmen sie sich bei ihrer großen Ähnlichkeit auf und nieder wie ein paar Affen aus. Auch geschah dem Vergleich kein Abtrag durch den Umstand, daß der reife Jerry stets Stroh zerbiß und ausspie, während die zwinkernden Augen des jugendlichen Jerry aufmerksam auf ihm hafteten wie auf irgend etwas in der Fleetstraße.

Der Kopf eines regelmäßigen Hausdienstboten von Tellfons Etablissement tauchte durch die Tür auf und entsandte das Schlagwort:

»Portier, herein!«

»Heda, Vater! Schon ein frühes Geschäft zum Anfang!«

Nachdem der junge Jerry seinen Vater auf diese Weise ermutigt hatte, nahm er Platz auf dem Schemel, der in dem von seinem Vater gekauten Stroh ihm anwartschaftliches Interesse bot, und machte sich Gedanken.

»Immer rostig! Seine Finger sind immer rostig!« murmelte der junge Jerry. »Wo bringt nur mein Vater all den Eisenrost her? Es gibt doch hier keinen!«

  1. Afrikanische Volksstämme

Zweites Kapitel. Ein Spektakel.


Zweites Kapitel. Ein Spektakel.

»Ihr seid ohne Zweifel gut in Old Bailey bekannt?« sagte einer der Ältesten im Bankbureau zu Jerry, dem Aushelfer.

»Ja, Sir«, entgegnete Jerry brummig, »ich kenne mich aus in der Bailey.«

»Recht so. Und Ihr kennt auch Mr. Lorry?«

»Den Mr. Lorry, Sir, kenne ich viel besser als die Bailley. Viel besser«, fuhr Jerry in der Art eines unfreiwilligen Zeugen fort, der in der fraglichen Anstalt vernommen wird, »als ich, der ich ein ehrlicher Geschäftsmann bin, mit der Bailey bekannt zu werden wünsche.«

»Schön. Sucht die Tür auf, durch die man die Zeugen einläßt, und gebt dem Pförtner dieses Billett an Mr. Lorry. Man wird dann auch Euch einlassen.«

»In den Gerichtssaal, Sir?«

»In den Gerichtssaal.«

Mr. Crunchers Augen schienen noch enger zusammenzurücken und aneinander die Frage zu richten: »Was hältst du davon?«

»Muß ich im Gerichtssaal warten, Sir?« Diese Frage schien das Ergebnis der eben genannten Konferenz zu sein.

»Das sollt Ihr sogleich erfahren. Der Pförtner wird das Billett Mr. Lorry zufertigen, und Ihr macht Euch Mr. Lorry durch eine Gebärde bemerkbar, damit er weiß, wo Ihr steht. Dann habt Ihr weiter nichts zu tun, als dort zu warten, bis er Euch braucht.«

»Sonst nichts, Sir?« Mr. Cruncher sah schweigend zu, wie der alte Kontorist bedächtig daß Billett faltete und es überschrieb. Erst als endlich das Löschpapier zur Verwendung kam, erlaubte er sich die Bemerkung:

»Ich denke, man verhandelt diesen Morgen Fälschungen?«

»Hochverrat.«

»Darauf steht Vierteilen«, sagte Jerry. »Barbarisch!«

»So lautet das Gesetz«, entgegnete der alte Kontorist, erstaunt seine Brillengläser auf ihn richtend – »das Gesetz.«

»Es ist hart von dem Gesetz, einen Menschen so zuzurichten, denk ich. Es ist schon hart, einem das Leben zu nehmen, aber sehr hart, einen zu zerstückeln, Sir.«

»Durchaus nicht«, erwiderte der alte Kontorist. »Sprecht nicht uneben von dem Gesetz. Sorgt für Eure Brust und Eure Stimme, mein guter Freund, und laßt das Gesetz für sich selbst sorgen. Ich rate Euch dies wohlmeinend.«

»Es ist die Feuchtigkeit, die meiner Brust und meiner Stimme zusetzt«, sagte Jerry. »Ihr mögt selbst beurteilen, durch was für eine feuchte Hantierung ich meinen Unterhalt erwerben muß.«

»Na, schon gut, jeder muß sich auf seine eigene Art durch die Welt bringen. Bei dem einen ist der Weg feucht, beim andern trocken. Hier ist das Schreiben. Macht, daß Ihr weiter kommt.«

Jerry nahm das Billett und sagte mit weit weniger innerlicher Unterwürfigkeit, als er nach außen zur Schau stellte, zu sich selbst: »Jawohl, alter Knasterbart.« Dann machte er seinen Bückling, unterrichtete im Vorbeigehen seinen Sohn von dem ihm erteilten Auftrag und ging seines Weges.

Man hängte in jenen Tagen die Verbrecher zu Tyburn; die Straße von Newgate hatte also damals noch nicht die traurige Berühmtheit erlangt, die sie jetzt besitzt. Immerhin aber war das Gefängnis ein abscheulicher Platz, an dem Ausschweifungen und Schurkereien fast aller Art geübt und wo schlimme Krankheiten ausgebrütet wurden, die mit den Gefangenen in den Gerichtssaal kamen und bisweilen von dem Verbrecherverschlag aus geradewegs sogar auf den Lord Oberrichter zustürzten und ihn von der Bank herunterrissen. Mehr als einmal war es vorgekommen, daß der Richter in dem schwarzen Käppchen mit dem Urteilspruch über den Gefangenen selbst den Tod in sich aufnahm und sogar noch vor dem letzteren starb. Im übrigen stand die alte Bailey weit und breit im Rufe als eine Art Totenwirtshaus, von dessen Hof her man unaufhörlich bleiche Reisende auf Karren die Fahrt in die andere Welt antreten sah. Sie war ferner berühmt wegen des Prangers, einer weisen Einrichtung, die eine Strafe auferlegte, deren Ausdehnung niemand voraussehen konnte– wegen des Stäupepfahls, einer andern alten, lieben Einrichtung, deren Wirksamkeit einen recht humanisierenden, beruhigenden Eindruck übte –, und endlich wegen ausgedehnter Verhandlungen in Blutgeld, eines weiteren Bruchstücks von der Weisheit unserer Vorfahren, das systematisch Anlaß zu den schrecklichsten wohlfeilen Verbrechen gab, die unter der Sonne begangen wurden. Mit einem Wort, das Old Bailey jener Zelt war eine bündige Veranschaulichung des Grundsatzes, daß, was immer ist, auch recht ist – eine faule Lehre, die freilich schnell mit allem fertig wird, leider aber auch die unbequeme Konsequenz in sich faßt, daß von allem je Gewesenen nichts unrecht gewesen sei.

Der Bote bahnte sich einen Weg durch die unsaubere Menge, die sich in Gruppen um diesen unheimlichen Platz gesammelt hatte, mit dem Geschick eines Mannes, der sicher zu gehen gewohnt ist, fand bald die Tür, die er suchte, auf und bot sein Billett durch eine Falle hinein. Denn damals mußten die Leute ebensogut zahlen, wenn sie das Spiel in Old Bailey, wie wenn sie das in Bedlam sehen wollten, nur mit dem Unterschied, daß das erstere viel höher zu stehen kam. Deshalb waren auch alle Türen von Old Bailey wohl gehütet, natürlich die menschenfreundlichen Türen ausgenommen, durch die die Verbrecher hineinkamen, und die immer weit offen standen.

Nach einigem Verzug knarrte die Tür ärgerlich in ihren Angeln, ging aber nur so weit auf, daß sich Mr. Jerry Cruncher mit knapper Not in den Gerichtssaal hineinzwängen konnte.

»Was geht vor?« fragte er flüsternd seinen Nachbar.

»Noch nichts.«

»Was kommt?«

»Der Hochverratsfall.«

»Bei dem sich’s ums Vierteilen handelt, he?«

»Ja«, entgegnete der Nachbar im Vorgenuß der Szene; »er wird auf einer Schleife hinausgeführt und halb gehenkt; dann nimmt man ihn wieder herunter, läßt ihn zusehen, wie man ihm den Bauch aufschlitzt, seine Eingeweide herausnimmt und sie verbrennt, schlägt ihm dann den Kopf ab und zerhackt seinen Leib in vier Stücke. So lautet das Urteil.«

»Wenn er schuldig erfunden wird, wollt Ihr sagen«, bemerkte Jerry verklausulierend.

»Oh, sie sprechen ihn schon schuldig«, versetzte der Nachbar. »Dies darf Euch keine Sorge machen!«

Mr. Crunchers Aufmerksamkeit wurde jetzt durch den Portier in Anspruch genommen, den er mit dem Billett in der Hand auf Mr. Lorry zugehen sah. Letzterer saß an einem Tisch unter Herren in Perücken, nicht weit von einem beperückten Gentleman, dem Anwalt des Gefangenen, der einen großen Aktenstoß vor sich hatte, und fast unmittelbar einem anderen beperückten Herrn gegenüber, dessen ganze Geistestätigkeit, Mr. Cruncher mochte ihn ansehen, sooft er wollte, von der Decke des Gerichtssaales in Anspruch genommen zu werden schien. Es gelang Jerry, durch einige rauhe Hustenstöße, durch das Reiben seines Kinns und durch Winke mit der Hand die Aufmerksamkeit Mr. Lorrys auf sich zu ziehen, der aufgestanden war, um sich nach ihm umzusehen, seine Zeichen kopfnickend erwiderte und dann wieder Platz nahm.

»Was hat denn der mit dem Fall zu schaffen?« fragte der Mann, mit dem er früher gesprochen hatte.

»Will des Henkers sein, wenn ich’s weiß.«

Das Eintreten des Richters und das darauf folgende Geräusch, bis das Gerichtspersonal wieder Platz genommen, unterbrach dieses Zwiegespräch. Fortan wurde der Gefangenenverschlag der Hauptanziehungspunkt. Zwei Gefängniswärter, die dort gestanden hatten, gingen hinaus, führten den Angeklagten herein und stellten ihn vor die Gerichtsschranke.

Alle Anwesenden, mit Ausnahme des beperückten Herrn, der die Saaldecke betrachtete, starrten ihn mit großen Augen an. Jeder menschliche Atem in dem Raume wogte ihm wie ein Meer, ein Wind oder ein Feuer zu. Begierige Gesichter drängten sich um Säulen und Ecken, um seiner ansichtig zu werden; Zuschauer in den hinteren Reihen standen auf, um ja kein Haar von ihm zu verlieren. Leute in dem Parterre des Saals legten ihre Hände auf die Schultern ihrer Vordermänner, um sich auf irgend jemandes Kosten zu dem Anblick zu verhelfen; man stand auf den Zehen, suchte die Unterstützung von Leisten und stemmte sich sogar in die Höhe, um jeden Zoll von ihm zu sehen. Unter den letzteren stand Jerry wie ein lebendiges Stückchen von der mit Spitzeisen bewaffneten Newgate-Mauer und strömte in die Richtung des Gefangenen (er hatte nämlich im Herweg seinen Schnabel angefeuchtet) seinen Bieratem aus, auf daß er Bekanntschaft mache mit den wogenden Dünsten anderen Biers, Branntweins, Tees, Kaffees und so weiter, die dem Gegenstand des gemeinsamen Interesses zufluteten und an den großen Fenstern hinter ihm sich in der Form eines unreinen Nebels und Regens brachen.

Der Zielpunkt alles dieses Gaffens und Starrens war ein wohlgewachsener, gutaussehender junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, mit sonnverbrannten Wangen und dunklen Augen, der den besseren Ständen angehörte. Er war einfach in Schwarz oder Dunkelgrau gekleidet, und sein dunkles Haar wurde mehr um der Bequemlichkeit als um der Zierde willen an der Hinterseite seines Kopfes durch ein Band zusammengehalten. Wie eine Erregung des Geistes sich durch jede Hülle des Körpers bemerklich macht, so erkannte man die Blässe, die seiner Lage natürlich war, durch das Braun der Wange, zum Beweis, daß die Seele kräftiger ist als die Sonne. Im übrigen zeigte er eine vollkommene Fassung: er verbeugte sich gegen den Richter und blieb ruhig stehen.

Das Interesse, mit dem dieser junge Mann angegafft und angeatmet wurde, gereichte der Menschheit nicht eben zur Ehre. Wäre er nicht von einem so schrecklichen Urteil bedroht worden und wäre die Aussicht vorhanden gewesen, daß er mit einem oder dem andern Teil des grausamen Verfahrens verschont bleiben könnte, so hätte seine Persönlichkeit bedeutend an Reiz verloren. Die Gestalt, die so schändlich zerstückt werden sollte, war eine Augenweide, das unsterbliche Geschöpf, dem eine so entsetzliche Schlachtbank bevorstand, ein Kitzel für die Empfindung. Welchen Anstrich auch die verschiedenen Zuschauer nach Maßgabe der Kraft und Kunst ihrer Selbsttäuschung ihrem Interesse an dem Schauspiel beilegen mochten, seiner Grundwesenheit nach war es blutdürstig.

Stille im Gerichtssaal! Charles Darnay hatte sich für »Nicht schuldig« gegen eine Anklage erklärt, die ihm unter endlosem Geklingel und Geklapper zur Last legte, er sei ein falscher Verräter gegen unseren durchlauchtigsten, hochmächtigsten, erhabenen und so fort Fürsten, unsern Herrn, den König, weil er bei verschiedenen Gelegenheiten und auf unterschiedliche Weise dem französischen König Ludwig Beistand geleistet habe in seinen Kriegen und so fort; und zwar durch Ab- und Zugehen zwischen den Domänen unseres besagten, hochmächtigsten, erhabenen und so fort und denen des besagten französischen Ludwig in der boshaften, falschen, verräterischen und anderweitig hochverdächtigen Absicht, dem besagten französischen Ludwig zu enthüllen, welche Streitkräfte unser besagter, durchlauchtigster, hochmächtigster, erhabener und so fort nach Kanada und Nordamerika zu senden sich anschicke. So viel wenigstens fand Jerry, dessen Kopf unter den juridischen Ausdrücken immer spießiger wurde, mit großer Selbstbefriedigung heraus, wie er denn auch auf Umwegen zu dem Verständnis kam, daß der vorbesagte und aber- und abermal vorbesagte Charles Darnay hier vor Gericht stand, daß die Jury beeidigt wurde und daß der Herr Staatsanwalt sich anschickte, seinen Vortrag zu halten.

Der Angeschuldigte wußte recht wohl, daß er von jedem der Anwesenden im Geiste bereits als gehangen, enthauptet und gevierteilt betrachtet wurde. Trotzdem zagte er nicht vor seiner Lage und nahm ebensowenig ein theatralisches Wesen an. Er verhielt sich ruhig und aufmerksam, folgte dem Gang der Verhandlungen mit ernster Teilnahme und stand, die Hände auf den Sims seines Verschlags gestützt, so gefaßt da, daß auch nicht ein Blättchen von den darauf liegenden Kräutern verrückt wurde. Durch den ganzen Gerichtssaal waren dergleichen medizinische Pflanzen, die man noch obendrein mit Essig besprengt hatte, als Vorbeugungsmittel gegen Gefängnisluft und Nervenfieber ausgestreut.

Zu den Häupten des Gefangenen befand sich ein Spiegel, der das Licht auf ihn niederwarf. Scharen von Unglücklichen und Verworfenen haben sich schon darin bespiegelt und sind ebenso von seiner Fläche weg wie überhaupt von der Erde verschwunden. Das Dock müßte zum entsetzlichsten Spukplatz werden, wenn jener Spiegel je die in ihm reflektierten Gestalten nach Art des Meeres, das eines Tages seine Toten wieder ausfolgen wird, wieder zurückgeben könnte. Ein flüchtiger Gedanke an die Schmach und Entehrung, die durch die künstliche Bestrahlung beabsichtigt wurde, schien dem Angeklagten durch den Sinn zu gehen; denn als er bei einer zufälligen Veränderung seiner Stellung den Lichtschein über sich bemerkte, überflog beim Aufschauen sein Antlitz ein tiefes Rot, und seine Rechte schob die Kräuter beiseite.

Bei dieser Bewegung drehte sich sein Gesicht zufällig nach links. Ungefähr in gleicher Höhe mit seinen Augen saßen in dem Winkel der Gerichtsbank zwei Personen, auf denen sein Auge alsbald haften blieb. Dies geschah so plötzlich und mit einer so merklichen Veränderung in seinem Wesen, daß alle bisher ihm zugewandten Blicke ihm jetzt in dieser Richtung folgten.

Die Zuschauer entdeckten in den beiden Personen ein junges Frauenzimmer von wenig mehr als zwanzig und einen Herrn, der unverkennbar ihr Vater war. Dieser fiel namentlich auf durch das schneeige Weiß seiner Haare und durch einen gewissen unbeschreiblichen Ausdruck von Spannung in seinem Gesicht, der weniger einem tatkräftigen Affekt, als einem in sich gekehrten Brüten zu entstammen schien. Wenn dieser Ausdruck auf ihm lagerte, so sah er sehr alt aus; wich er aber für einige Augenblicke, wie dies zum Beispiel eben jetzt geschah, als er mit seiner Tochter sprach, so zeigte er sich als einen schönen, noch in der Vollkraft des Lebens stehenden Mann.

Die neben ihm sitzende Tochter hatte ihre eine Hand in seinen gebogenen Arm und die andere auf die Rückenfläche dieses Armes gelegt, auch aus Furcht vor dem bevorstehenden Auftritt und in ihrem Mitleid für den Gefangenen sich dicht an ihn angeschmiegt. Auf ihrer Stirn sprach sich ein unnennbarer Schmerz und eine Teilnahme aus, die für nichts weiter einen Sinn hatte als für die Gefahr des Gefangenen. Diese Züge taten sich so mächtig und naturgetreu kund, daß die Gaffer, die kein Mitleid für den Angeklagten hatten, doch für sie einiges empfanden, und das Geflüster ging im Kreise herum: »Wer sind sie?«

Jerry, der Aushelfer, der sich nach seiner Art seine Gedanken gemacht und dabei eifrig den Rost von seinen Fingern gesaugt hatte, streckte seinen Hals aus, um zu hören, wer sie wären. Das Gedränge um ihn her hatte durch Weitergeben die Frage allmählich bis zu dem nächsten Gerichtsdiener gebracht, und in derselben Wellenbewegung war die Antwort langsam zurückgekommen, bis sie endlich auch an Jerry gelangte:

»Zeugen.«

»Für welche Partei?«

»Gegen.«

»Gegen wen?«

»Gegen den Gefangenen.«

Der Richter hatte seine Blicke die allgemeine Richtung einschlagen lassen, jetzt aber wieder zurückgerufen; er machte sich breit in seinem Sitz und sah ständig auf den Mann hin, dessen Leben in seiner Hand lag, während der Staatsanwalt sich erhob, um den Strick zu drehen, das Beil zu schleifen und die Nägel in das Schafott zu hämmern.

Drittes Kapitel. Eine getäuschte Erwartung.


Drittes Kapitel. Eine getäuschte Erwartung.

Der Staatsanwalt hatte den Geschworenen mitzuteilen, daß der Gefangene vor ihnen, obschon noch jung an Jahren, alt sei in den hochverräterischen Praktiken, durch die er sein Leben verwirkt habe. Seine Korrespondenz mit dem Feind des Landes stamme nicht bloß von heute oder gestern, ja, nicht bloß aus dem abgelaufenen oder dem vorletzten Jahre. Es sei gewiß, daß der Gefangene schon viel länger zwischen Frankreich und England Hin- und Herreisen gemacht habe in geheimen Angelegenheiten, über die er keine befriedigende Auskunft geben könne. Wenn es in der Natur verräterischer Schleichwege läge, zu einem Erfolg zu führen, was zum Glück nie der Fall sei, so wäre vielleicht die Schändlichkeit und Schuld seines Treibens unentdeckt geblieben. Die Vorsehung aber habe es einer Person, die erhaben sei über üblen Leumund und Menschenfurcht, ins Herz gegeben, den schlimmen Entwürfen des Gefangenen nachzuspüren und dieselben voll Entsetzen Seiner Majestät erstem Staatssekretär und einem höchstpreislichen geheimen Rat zu enthüllen. Dieser Vaterlandsfreund werde ihnen vorgestellt werden. Seine Stellung und sein Verhalten trage im ganzen den Charakter der Erhabenheit. Er sei des Gefangenen Freund gewesen; als er aber einmal in einer günstigen üblen Stunde dessen Ehrlosigkeit entdeckte, habe er beschlossen, den Verräter, dessen Freundschaft er nicht länger in seinem Busen tragen konnte, auf dem heiligen Altar des Vaterlandes zu opfern. Wenn in Britannien, wie es in dem alten Rom und Griechenland üblich gewesen, den Wohltätern des Landes Ehrensäulen errichtet würden, so hätte dieser treffliche Bürger zuverlässig den ersten Anspruch auf eine solche Auszeichnung. Da dies aber in England nicht Sitte sei, so werde er sie wahrscheinlich auch nicht erhalten.

Es sei von den Dichtern an verschiedenen Stellen, die, wie er wisse, die Geschworenen auswendig kennen (freilich war auf den Gesichtern der Geschworenen das Schuldbewußtsein ihres gründlichen Nichtwissens zu lesen), ausgesprochen worden, daß die Tugend in gewisser Art eine ansteckende Kraft besitze, besonders aber die leuchtende Tugend, die man Patriotismus oder Liebe zum Vaterland nenne. Das erhabene Beispiel dieses reinen und unanfechtbaren Zeugen für die Krone habe auch günstig auf den Diener des Gefangenen gewirkt und in ihm den ehrenvollen Entschluß geweckt, die Schubladen und Taschen seines Herrn zu untersuchen und seine Papiere zu unterschlagen. Er (der Staatsanwalt) sei zwar darauf gefaßt, daß man versuchen werde, diesen bewunderungswürdigen Diener etwas herabzuwürdigen. Ihm für seine Person aber sei im ganzen dieser Ehrenmann eine teurere Person als seine (des Staatsanwalts) Brüder und Schwestern, und er schätze ihn höher als seinen eigenen Vater und seine Mutter. Er könne daher mit Zuversicht die Geschworenen auffordern, das gleiche zu tun. Die Angaben dieser beiden Zeugen in Verbindung mit den von ihnen beigebrachten Dokumenten würden den Nachweis liefern, daß der Gefangene sich Listen über Seiner Majestät Streitkräfte und deren Verwendung zu Land und zur See verschafft habe, und es über allen Zweifel erheben, daß von ihm dauernd solche Mitteilungen an den Feind gemacht, worden seien. Zwar lasse sich in den besagten Listen nicht die Handschrift des Gefangenen erweisen: dies komme jedoch nicht in Betracht und spreche eher für die Anklage, sofern sich daraus nur die Schlauheit und Vorsicht des Verbrechers ergebe. Die Beweisführung werde bis auf fünf Jahre zurückgreifen und zeigen, daß der Gefangene sein verräterisches Treiben schon damals, einige Wochen vor der ersten Schlacht zwischen den britischen Truppen und den Amerikanern, geübt habe. Die Jury sei, wie er wisse, eine loyale und habe, wie ihr selbst bekannt sei, Pflichten der Verantwortlichkeit. Sie müsse also aus den angeführten Gründen den Gefangenen schuldig sprechen und, möge sie es gern tun oder nicht, mit ihm ein Ende machen. Die Geschworenen können nie wieder ihre Häupter auf ihre Kissen niederlegen, ja dürfen nicht einmal den Gedanken aufkommen lassen, zu dulden, daß ihre Weiber, ihre Kinder oder ihre ganze Verwandtschaft ihre Häupter auf Kissen niederlegen, bis der Kopf des Gefangenen gefallen sei. Er verlange diesen Kopf von ihnen, schloß der Staatsanwalt, im Namen alles nur Erdenklichen und kraft seiner feierlichen Versicherung, daß er den Angeklagten bereits für einen toten Mann ansehe.

Nachdem der Staatsanwalt seinen Vortrag geschlossen hatte, erhob sich in dem Gerichtssaal ein Summen, als umschwärme eine Wolke großer Schmeißfliegen den Gefangenen im Vorgefühl dessen, was er bald sein werde. Es legte sich wieder, und nun erschien der unanfechtbare, Zeuge in der Zeugenloge.

Der Herr General-Prokurator nahm sofort, an dem Faden seines Vorgängers weiter spinnend, den Patrioten, John Barsad, Gentleman, mit Namen, ins Verhör. Die Geschichte seiner reinen Seele war ganz so, wie sie der Herr Staatsanwalt, wenn sie je einen Fehler hatte, nur zu genau vorgetragen. Nachdem er sein edles Herz erleichtert, wollte er sich bescheiden wieder zurückziehen. Aber der beperückte Gentleman mit dem Aktenstoß vor sich, der in Mr. Lorrys Nähe saß, bat um die Erlaubnis, ein paar Fragen an ihn richten zu dürfen. Der Gentleman in der Perücke, Mr. Lorry gegenüber, machte noch immer seine Studien an der Saaldecke.

War er nicht selbst schon ein Spion gewesen? Nein, er wies eine so schnöde Verleumdung mit Verachtung zurück. Von was lebte er? Von seinem Vermögen. Wo hatte er dieses Vermögen? Er konnte sich dessen nicht genau erinnern. In was bestand es? Ging niemanden etwas an. Hatte er geerbt? Ja. Von wem? Von einem entfernten Verwandten. Sehr entfernt? Ziemlich. Noch nie im Gefängnis gewesen? Gewiß nicht. Auch nicht in Schuldenhaft? Sah nicht ein, wie dies hergehörte. Nie in Schuldenhaft? Schon wieder diese Frage. Nie? Ja. Wie oft? Zwei- oder dreimal. Nicht fünf- oder sechsmal? Vielleicht. Von welchem Beruf? Gentleman. Nie Fußtritte gekriegt? Kann sein. Oft? Nein. Nie, die Treppe hinuntergeworfen worden? Gewiß nicht: nur einmal am Anfang einer Treppe einen Stoß erhalten und dann von freien Stücken hinuntergefallen. Bei jener Gelegenheit einen Fußstoß erhalten wegen Betrugs beim Würfelspielen? Etwas Derartiges wurde durch den betrunkenen Lügner ausgesprengt, der ihn angegriffen, war aber nicht wahr. Konnte dies beschworen werden? Zuverlässig. Nie von Betrug im Spiel gelebt? Nie. Nicht vom Spiel gelebt? Nicht mehr als andere Gentlemen auch. Nie von dem Gefangenen Geld geborgt? Ja. Ihn immer wieder bezahlt? Nein. War nicht die vertraute Beziehung zu dem Gefangenen nur eine sehr entfernte und dem Gefangenen in Postkutschen, Gasthäusern und Paketschiffen aufgedrungen? Nein. Wahrscheinlich sah er die Listen bei dem Gefangenen? Gewiß. Wußte er nichts Weiteres von den Listen? Nein. Hatte er nicht etwa selbst sie ihm geliefert? Nein. Hoffte er durch sein Zeugnis etwas zu gewinnen? Nein. Nicht in regelmäßigem Sold und Dienst der Regierung, um Fallen zu legen? O Himmel, nein. Oder sonst etwas zu tun? O Himmel, nein. Konnte dies beschworen werden? Zehn- für einmal. Keine andern Beweggründe als Patriotismus? Durchaus keine.

Der tugendhafte Diener schwur sich mit großer Geschwindigkeit durch die ganze Verhandlung. Er war voll guten einfältigen Glaubens vor vier Jahren bei dem Gefangenen in Dienst getreten. Er hatte denselben an Bord des Calais-Paketschiffes gefragt, ob er nicht einen geschickten Burschen brauche, und der Gefangene ihn angenommen. Von einer Bitte an den Gefangenen, er möchte an dem geschickten Burschen ein Werk der Barmherzigkeit üben, war keine Rede gewesen; an etwas der Art hatte er nie gedacht. Er begann bald nachher Argwohn zu schöpfen gegen den Gefangenen und hatte ein wachsames Auge auf ihn. Wenn er auf Reisen die Kleider des Gefangenen besorgte, gab sich ihm oft und oft Gelegenheit, in dessen Taschen ähnliche Listen zu sehen. Die vorliegenden hatte er einer Schublade in dem Pult des Gefangenen entnommen. Sie waren nicht zuerst von ihm hineingelegt worden. Er konnte als Augenzeuge bekräftigen, daß der Gefangene gerade diese Listen französischen Herren in Calais und ähnliche Listen französischen Herren zu Calais und Boulogne gezeigt hatte. Er liebte sein Land, konnte dies nicht ertragen und machte Anzeige. Er hatte nie im Verdacht gestanden, eine silberne Teekanne gestohlen zu haben; er war wohl boshafterweise wegen eines silbernen Senftopfes verleumdet worden, aber es hatte sich herausgestellt, daß es nur ein plattierter gewesen. Den letzten Zeugen kannte er seit sieben oder acht Jahren, aber dies war nur ein Zusammentreffen. Er nannte es nicht ein merkwürdiges Zusammentreffen; denn beim Zusammentreffen findet meist diese Eigenschaft statt. Auch erschien es ihm nicht als ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß bei ihm gleichfalls wahrer Patriotismus der einzige Beweggrund sein sollte. Er war ein echter Brite und hoffte, daß es noch viele geben werde wie er.

Die Schmeißfliegen summten wieder, und der Herr Staatsanwalt rief Mr. Jarvis Lorry auf.

»Mr. Jarvis Lorry, seid Ihr Bureaubeamter in Tellsons Bank?«

»Habt Ihr nicht an einem gewissen Freitag im November des Jahres eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig nachts den Postwagen zu einer Geschäftsreise von London nach Dover benutzt?«

»Ja.«

»Reisten noch andere Passagiere mit?«

»Zwei.«

»Sind sie nicht im Laufe der Nacht unterwegs ausgestiegen?«

»Ja.«

»Mr. Lorry, seht den Gefangenen an. War er einer von den beiden Passagieren?«

»Ich kann dies nicht behaupten.«

»Hat er Ähnlichkeit mit einem von jenen zwei Passagieren?«

»Beide waren so eingehüllt, die Nacht so dunkel und wir alle so zurückhaltend, daß ich auf die Frage keine Antwort zu geben weiß.«

»Mr. Lorry, betrachtet Euch den Gefangenen noch einmal. Denkt Euch ihn so eingehüllt, wie jene beiden Reisenden waren – liegt in seinem Körperbau und in seiner Haltung etwas, was es unwahrscheinlich macht, daß er einer davon gewesen sein könnte?«

»Nein.«

»Wollt Ihr darauf schwören, daß er keiner von ihnen gewesen?«

»Nein.«

»Aber Ihr könnt wenigstens sagen, es sei möglich, daß er einer davon war?«

»Ja, mit Ausnahme des mir noch erinnerlichen Umstandes, daß jene Männer sich gleich mir sehr vor Straßenräubern fürchteten; der Gefangene sieht nicht furchtsam aus.«

»Habt Ihr schon ein Bild der Furchtsamkeit gesehen, Mr, Lorry?«

»Jawohl.«

»Mr. Lorry, betrachtet Euch noch einmal den Gefangenen. Könnt Ihr Euch nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben?«

»O ja.«

»Wann?«

»Ich kehrte einige Tage später von Frankreich zurück. Der Gefangene kam zu Calais an Bord des Paketschiffes, das mich mit heimnahm, und machte mit mir die Reise.«

»Um welche Zeit kam er an Bord?«

»Ein wenig nach Mitternacht.«

»Bei totenstiller Nacht also. War er der einzige Passagier, der zu dieser ungewöhnlichen Stunde an Bord kam?«

»Er war zufällig der einzige.«

»Kümmert Euch nicht darum, ob es Zufall war oder nicht, Mr. Lorry. Er war also der einzige Passagier, der mitten in der Nacht an Bord kam?«

»Reistet Ihr allein, Mr. Lorry, oder wäret Ihr in Gesellschaft?«

»Ich hatte zwei Reisebegleiter, eine Dame und einen Herrn. Sie sind hier.«

»Sie sind hier. Habt Ihr mit dem Gefangenen Unterhaltung gepflogen?«

»Kaum. Wir hatten stürmisches Wetter, und während der langen Dauer der rauhen Überfahrt lag ich fast unausgesetzt auf dem Sofa.«

»Miß Manette!«

Die junge Dame, der sich jetzt wie früher alle Augen zuwendeten, stand von ihrem Sitze auf; ihr Vater, der ihre Hand mit seinem Arme unterstützt hielt, tat das gleiche.

»Miß Manette, betrachtet den Gefangenen.«

Die Konfrontation mit der ernsten, schönen, von Mitleid ergriffenen Jungfrau wirkte auf den Angeschuldigten weit erschütternder als das Begafftwerden durch die Menge. Er stand gewissermaßen beiseite mit ihr am Rande seines Grabes, und all die Neugier der maulaufsperrenden Zuschauer vermochte ihn nicht so weit zu kräftigen, daß er auch in jenem Augenblick ganz ruhig blieb. Seine Rechte teilte hastig die Kräuter vor ihm ab in eingebildete Gartenblumenbeete, und die Anstrengung, die es ihn kostete, seinen Atem gleichmäßig zu erhalten, machte seine Lippen beben, aus denen mit dem nach dem Herzen jagenden Blutstrom alle Farbe entwichen war. Die Schmeißfliegen summten wieder laut.

»Miß Manette, habt Ihr den Gefangenen früher gesehen?«

»Ja, Sir.«

»Wo?«

»An Bord des eben besprochenen Paketschiffes, Sir, und bei demselben Anlaß.«

»Ihr seid die junge Dame, von der die Rede war?«

»Leider ja.«

Der klagende Ton des Mitleids erstarb unter der weniger musikalischen Stimme des Richters, der etwas rauh entgegnete:

»Antwortet einfach auf die Fragen, die man an Euch stellt, und macht keine Bemerkungen dazu.«

»Miß Manette, habt Ihr Euch während jener Fahrt über den Kanal mit dem Gefangenen unterhalten?«

»Ja, Sir.«

»Vergegenwärtigt Euch dies wieder.«

Inmitten der tiefen Stille begann sie, mit tonloser Stimme:

»Als der Gentleman an Bord kam –«

»Meint Ihr damit den Gefangenen?« fragte der Richter, die Stirn runzelnd.

»Ja, gnädiger Herr.«

»Dann nennt ihn auch so.«

»Als der Gefangene an Bord kam, bemerkte er, daß mein Vater« – sie richtete ihre Blicke liebevoll auf den an ihrer Seite Stehenden – »sehr erschöpft und leidend war. Sein Gesundheitszustand flößte mir so viel Besorgnis ein, daß ich es nicht wagte, ihn aus der freien Luft fortzunehmen, sondern auf dem Deck neben der Kajütentreppe für ihn ein Bett herrichtete, an dessen Seite ich Platz nahm, um ihm Handreichungen leisten zu können. In jener Nacht waren keine anderen Passagiere an Bord als wir vier. Der Gefangene war so freundlich, um die Erlaubnis zu bitten, mir raten zu dürfen, wie ich meinen Vater besser gegen Wind und Wetter schützen könne, als ich getan habe; denn ich hatte mich nicht darauf verstanden, wie der Wind nach unserer Ausfahrt aus dem Hafen wehen würde, und er beriet mich jetzt. Er äußerte große Teilnahme für den Zustand meines Vaters, und ich bin überzeugt, daß er sie auch fühlte. So begann unsere Unterhaltung.«

»Laßt mich Euch für einen Augenblick unterbrechen. Kam er allein an Bord?«

»Nein.«

»Wer war bei ihm?«

»Zwei französische Herren.«

»Haben sie miteinander gesprochen?«

»Sie sprachen miteinander bis zu dem Augenblick, als die französischen Herren wieder in ihr Boot steigen mußten.«

»Habt Ihr in ihren Händen keine Papiere bemerkt, die Ähnlichkeit hatten mit diesen Listen?«

»Von Papieren habe ich wohl etwas gesehen, kann aber nicht sagen, welcher Art Papiere es waren.«

»An Form und Umfang etwa wie diese?«

»Möglich, aber ich weiß es in der Tat nicht, obschon sie in meiner unmittelbaren Nähe miteinander flüsterten; denn sie standen auf dem Absatz der Kajütentreppe, um das Licht der dort hängenden Laterne benutzen zu können. Das Licht brannte trüb, und sie sprachen sehr leise, so daß ich nicht verstand, was sie sagten. Ich sah nur, daß sie sich mit den Papieren befaßten.«

»Nun Eure Unterhaltung mit dem Gefangenen, Miß Manette.«

»Der Gefangene war sehr offen und zutraulich gegen mich; ich schreibe dieses meiner hilflosen Lage zu; denn er benahm sich sehr teilnehmend und suchte meinem Vater nützlich zu werden. Ich hoffe«, fügte sie bei, indem sie in Tränen ausbrach, »ich lohne es ihm nicht damit, daß ich ihm heute zum Schaden rede.«

Gesumm von seiten der Schmeißfliegen.

»Miß Manette, wenn der Gefangene nicht recht gut einsieht, daß Ihr das Zeugnis, das Ihr abzugeben verpflichtet seid, geben müßt und unter keinen Umständen umgehen könnet, nur mit Widerwillen ablegt, so steht er in diesem Saale mit seiner Anschauungsweise vollkommen vereinzelt. Ich bitte, fahrt fort.«

»Er sagte mir, seine Reise betreffe eine sehr zarte und verfängliche Sache, die leicht Leute in Angelegenheiten bringen könnte; er reise deshalb unter einem angenommenen Namen. Dann teilte er mir weiter mit, sein Geschäft habe ihn für einige Tage nach Frankreich geführt und werde ihm für die nächste Zeit ein öfteres Hin- und Herreisen zwischen Frankreich und England auferlegen.«

»Hat er nichts von Amerika gesprochen, Miß Manette? Ihr müßt auf Einzelheiten eingehen.«

»Er versuchte mir verständlich zu machen, wie der Streit entstanden war, und sagte, soweit er die Sache beurteilen könne, habe England dabei unrecht und töricht gehandelt. Auch fügte er scherzend bei, daß vielleicht Georg Washington in der Geschichte einen fast ebenso großen Namen erringen werde wie Georg der Dritte. In dieser Äußerung lag jedoch nichts Verfängliches; er hatte sie lachend getan, und man sprach eben, um sich die Zeit zu vertreiben.«

Jeder starkmarkierte Gesichtsausdruck einer Hauptperson in einer hochinteressanten Szene, auf der viele Augen haften, wird unbewußt von den Zuschauern nachgeahmt. Als sie dieses Zeugnis ablegte, zeigte sich ein Zug schmerzlicher Angst und Spannung auf ihrer Stirn, und während der Pausen, die durch das Aufzeichnen ihrer Angaben durch den Richter veranlaßt wurden, suchte sie die Wirkung derselben in den Gesichtern der Advokaten für und wider den Angeklagten zu lesen. Wo man nun in dem Gerichtssaal hinsehen mochte, begegnete man bei den Zuschauern demselben Ausdruck, und zwar in einem so hohen Grade, daß die große Mehrheit der Stirnen nur Spiegel der Stirn der Zeugin zu sein schienen, als der Richter von seinem Notizblatte aufschaute, um bei der schrecklichen Ketzerei über Georg Washington grimmig umherzublicken.

Der Herr Staatsanwalt bedeutete jetzt dem Lord Oberrichter, daß es aus formellen Rücksichten und vorsichtshalber notwendig sein dürfte, auch den Vater der jungen Dame, den Doktor Manette, zu vernehmen. Er wurde aufgerufen.

»Doktor Manette, betrachtet den Gefangenen. Habt Ihr ihn schon einmal gesehen?«

»Ja, einmal. Er besuchte mich in London. Dies mag vor drei oder vierthalb Jahren geschehen sein.«

»Erkennt Ihr in ihm einen Mitreisenden an Bord des Paketschiffes, oder wißt Ihr etwas von seiner Unterhaltung mit Eurer Tochter?

»Weder das eine noch das andere, Sir.«

»Warum dies? War vielleicht ein besonderer Grund dafür vorhanden?«

»Ja«, lautete die leise Antwort.

»Ihr habt in Eurem Vaterland das Unglück gehabt, ohne Urteilspruch, ja, sogar ohne Anklage eine lange Gefangenschaft durchmachen zu müssen, Doktor Manette?«

Er entgegnete in einem Ton, der jedem zu Herzen ging:

»Eine lange Gefangenschaft.«

»Ihr waret nur kurz vor dem fraglichen Anlaß in Freiheit gesetzt worden?«

»So sagt man mir.«

»Ihr erinnert Euch dessen nicht selbst?«

»Nein. In meinem Geist ist eine Lücke – ich weiß nicht, von welcher Dauer – von der Zeit an, als ich in meiner Gefangenschaft mich mit Schuhmachen beschäftigte, bis zu dem Augenblick, in dem ich mich hier zu London unter der pflegenden Hand meiner Tochter wiederfand. Ich hatte mich bereits an sie gewöhnt, als es dem Allbarmherzigen gefiel, mir mein geistiges Vermögen zurückzugeben, obschon ich nicht sagen kann, wie dies zugegangen war. Der ganze Vorgang meines früheren Verkehrs mit ihr ist in Nacht gehüllt.«

Der Herr Staatsanwalt setzte sich nieder, und der Vater und die Tochter folgten seinem Beispiele.

Nun ergab sich in der Verhandlung ein eigentümlicher Umstand. Das Beweisobjekt war, darzutun, daß der Gefangene mit einem noch nicht ermittelten Genossen vor fünf Jahren in jener Novembernacht den Postwagen benutzt habe und unterwegs zum Schein an einem Orte ausgestiegen sei, an dem er nicht blieb, sondern von wo aus er um fünf oder sechs Wegstunden nach einem Garnison- und Werftenplatze zurückreiste, um daselbst sich auf Spionage zu legen. Ein Zeuge wurde vernommen, der in ihm die Person erkennen wollte, die er genau um jene Zeit in dem Kaffeezimmer eines Gasthauses jener Garnison- und Werftenstadt in Erwartung eines anderen gesehen hatte. Der Verteidiger nahm diesen Zeugen scharf ins Verhör, konnte aber nichts weiter aus ihm herausbringen, als daß der Gefangene ihm von keiner andern Gelegenheit her bekannt sei. Jetzt beschrieb der beperückte Gentleman, der der Saaldecke ein so großes Interesse abgewann, einige Worte auf ein Stückchen Papier, rollte es zusammen und warf es dem Anwalt des Gefangenen zu. Dieser benutzte die nächste Pause, um das Röllchen zu öffnen und betrachtete darauf den Angeklagten mit großer Aufmerksamkeit.

»Ihr behauptet also wiederholt, Ihr wisset gewiß, daß es der Gefangene gewesen sei?«

Der Zeuge wußte es gewiß.

»Habt Ihr nie jemand gesehen, der Ähnlichkeit mit dem Gefangenen hatte?«

Wenigstens keine so große Ähnlichkeit, daß sie ihn hätte tauschen können, meinte der Zeuge.

»So betrachtet Euch einmal diesen Gentleman, meinen gelehrten Freund«, er deutete auf den Herrn, der ihm das Papier« zugeworfen hatte – »und dann den Gefangenen. Was sagt Ihr jetzt? Sind sie einander nicht sehr ähnlich?«

Abgesehen von dem Umstand, daß der gelehrte Freund eine ziemlich vernachlässigte, wo nicht liederliche Außenseite hatte, fand zuverlässig eine so große Ähnlichkeit statt, daß sie nicht nur den Zeugen stutzig, machte, sondern auch allen Anwesenden auffiel. An den Lord Oberrichter erging nun das Ersuchen, er möchte dem gelehrten Freund befehlen, seine Perücke abzunehmen, was dann auch von seiten Seiner Gnaden, obschon in sehr ungnädiger Weise, geschah, und die Ähnlichkeit trat jetzt um so schlagender hervor. Der Lord Oberrichter fragte Mr. Stryver, den Verteidiger, ob sie etwa zunächst dem Mr. Carton (Name des gelehrten Freundes) wegen Hochverrats den Prozeß machen sollten; doch Mr. Stryver antwortete darauf dem gnädigen Herrn mit Nein: er beabsichtige bloß, den Zeugen zu fragen, ob ihm, was ihm einmal zugestoßen, nicht auch zum zweiten Male habe begegnen können – ob er so zuversichtlich aufgetreten wäre, wenn man diesen Beweis von Übereilung ihm früher vor Augen gestellt hätte, und so weiter. Die Folge davon war, daß diese Zeugenaussage wie ein irdener Topf zerschmettert und der Zeuge selbst, sofern er zu dem Prozeß in Beziehung kam, zu dem nutzlosen Gerümpel gestellt wurde.

Mr. Cruncher hatte in seiner Aufmerksamkeit für die Verhandlung ein ganzes Frühstück Rost aus seinen Fingern gesogen. Er verwandte kein Auge von Mr. Stryver, während dieser den Sachverhalt im Interesse des Gefangenen vor den Geschworenen wie einen vollständigen Anzug zurechtlegte. Er zeigte ihnen, daß der Patriot Barsad ein gedungener Spion und Verräter, ein keckstirniger Verkäufer von Blut und einer der größten Schurken sei, die je auf Erden umhergewandelt seien seit dem fluchwürdigen Judas, dem er sicherlich auch gleichsehe. Der tugendhafte Diener Cly sei sein Freund und ein seiner würdiger Gehilfe: diese beiden Fälscher, und meineidigen Wichte hätten sich den Gefangenen als ihr Opfer ausersehen, weil dieser, ein Mann von französischer Abkunft, in Familienangelegenheiten, die seine Anwesenheit jenseits des Kanals nötig machten, öfters Frankreich besuchte. Von diesen Angelegenheiten könne aus Rücksicht für andere, die ihm nahe und teuer seien, und wenn das Leben des Gefangenen davon abhänge, kein öffentlicher Gebrauch gemacht werden. Das Zeugnis, das man der jungen Dame abgerungen, von deren Kummer über diesen Zwang man sich habe überzeugen können, enthalte nichts als unschuldige Galanterien und Höflichkeitsbezeigungen, wie sie zwischen jungen Personen verschiedenen Geschlechts bei zufälliger Begegnung häufig vorkämen: nur die Hinweisung auf Georg Washington mache davon eine Ausnahme, aber der Inhalt jener Rede sei zu überspannt und unmöglich, als daß sie in einem andern Licht denn in dem eines ungereimten Scherzes aufgefaßt werden könne. Es wäre ein Makel für die Regierung, wenn sie in diesem Versuch, durch eine Einwirkung auf die niedrigsten nationalen Gehässigkeiten und Besorgnisse sich populär zu machen, unterläge, und deshalb habe der Herr Staatsanwalt den Fall möglichst schreiend darzustellen gesucht: gleichwohl liege gar nichts vor als die Aussagen feiler, ehrloser Zeugen, wie man sie in Prozessen ähnlicher Art zur Schande des Landes nur zu oft finde. Doch jetzt legte sich der gnädige Herr Oberrichter mit einer so gravitätischen Miene, als habe der Verteidiger mit der Hinweisung auf die englischen Staatsprozesse eine Unwahrheit gesprochen, ins Mittel und erklärte, er könne, solange er auf der Gerichtsbank sitze, solche Anspielungen nicht dulden.

Mr. Stryver rief nun seine wenigen Zeugen auf, und dann hatte Mr. Crunchers Aufmerksamkeit dem Herrn Staatsanwalt zu folgen, wie dieser an dem Anzug, den Mr. Stryver für die Geschworenen zurechtgelegt hatte, das Innere nach außen kehrte und dabei zeigte, daß Barsad und Cly hundertmal besser seien, als sie seiner Meinung nach gewesen, der Gefangene aber hundertmal schlechter. Zum Schlusse kam der gnädige Herr Oberrichter selbst, wendete den Anzug noch einmal und kehrte die Außenseite wieder nach innen, im ganzen aber entschieden mit einer Zustutzung, daß er zu einem Leichengewand für den Gefangenen paßte.

Und nun traten die Geschworenen zur Erwägung zusammen, und die großen Fliegen schwärmten wieder.

Mr. Carton, der so lange in Bewunderung der Saaldecke dagesessen hatte, änderte selbst bei der jetzigen Aufregung weder seinen Platz noch seine Haltung. Während sein gelehrter Freund Mr. Stryver die Akten vor sich wieder übereinanderlegte, mit den ihm zunächst Stehenden flüsterte oder von Zeit zu Zeit einen ängstlichen Blick nach den Geschworenen hingleiten ließ – während die Zuschauer mehr oder weniger durcheinanderwogten und immer neue Gruppen bildeten – während selbst der Lord Oberrichter sich von seinem Sitz erhob und langsam unter dem Verdacht des Publikums, daß er sich in einem fieberischen Zustand befinde, auf der Plattform hin und her schritt – saß dieser einzige Mensch abgewandt da, den zerschlissenen Mantel nur halb an sich tragend, die zerknüllte Perücke in einer Weise auf dem Kopf, als sei sie nach dem Abnehmen ihm gefällig wieder hinaufgeflogen, die Hände in den Rocktaschen und die Augen wie im Laufe des ganzen Tages gegen die Decke gerichtet. Etwas besonders Unbekümmertes in seinem Wesen verlieh ihm nicht nur ein ziemlich unachtbares Äußeres, sondern beeinträchtigte auch die große Ähnlichkeit, die er ohne Frage mit dem Gefangenen hatte und die durch seinen augenblicklichen Ernst in dem Moment der Vergleichung sehr erhöht worden war, dermaßen, daß von den Zuschauern, die jetzt Notiz von ihm nahmen, viele unter sich bemerkten, sie hätten kaum geglaubt, daß sie einander glichen. Namentlich machte Mr. Cruncher diese Bemerkung gegen seinen nächsten Nachbar und fügte hinzu: »Ich wette eine halbe Guinee, daß man dem nie einen Prozeß anvertraut. Oder meint Ihr, er sehe danach aus, daß er Advokatenarbeit kriegen kann?«

Gleichwohl interessierte sich dieser Mr. Carton mehr für die Einzelheiten der Szene, als es den Anschein hatte; denn Miß Manette ließ jetzt ihr Haupt auf die Brust ihres Vaters sinken, und da er es zuerst bemerkte, so sagte er vernehmlich:

»Gerichtsdiener, seht nach der jungen Dame, und helft dem Gentleman, sie hinausbringen. Bemerkt Ihr nicht, daß sie umsinken will?«

Sobald sie entfernt war, gab sich viel Mitleid mit ihr und Teilnahme für ihren Vater kund. Die Erinnerung an die Tage seiner Gefangenschaft hatten augenscheinlich einen sehr schmerzlichen Eindruck auf ihn gemacht. Als ihrer Erwähnung geschah, war seine Aufregung so augenfällig geworden und der düster brütende Ausdruck, der ihn so alt erscheinen ließ, einer schweren Wolke gleich, nicht mehr von seiner Stirn gewichen. Nach seinem Abgehen gaben die Geschworenen, die für eine kurze Weile zurückgetreten waren, durch den Obmann ihre Erklärung ab.

Sie waren nicht einig und wünschten, sich zurückzuziehen. Der Herr Oberrichter, den vielleicht noch der Georg Washington wurmte, zeigte einige Überraschung über ihre Unschlüssigkeit, genehmigte aber ihre Beratung hinter Wache und Riegel in Gnaden und zog sich selbst auch zurück. Die Verhandlung hatte den ganzen Tag gedauert, und im Saal wurden jetzt Lampen angezündet. Es verbreitete sich das Gerücht, daß die Geschworenen lange zu ihrer Beratung brauchen würden, weshalb die Zuschauer sich entfernten, um Erfrischungen einzunehmen. Der Gefangene ging nach dem, Hintergrund seines Verschlags und setzte sich nieder.

Mr. Lorry hatte die junge Dame und ihren Vater hinausbegleitet und kehrte jetzt wieder zurück. Er winkte Jerry, der bei dem geminderten Interesse der Szene leicht zu ihm gelangen konnte.

»Jerry, wenn Ihr essen wollt, so könnt Ihr es tun: aber bleibt in der Nähe. Ihr werdet schon hören, wenn die Geschworenen wieder eintreten. Findet Euch dann eiligst ein, denn ich wünsche, daß der Wahrspruch unverweilt an die Bank gelange. Ihr seid der flinkste Bote, den ich kenne, und werdet lange vor mir Temple Bar erreichen.«

Jerry hatte gerade genug Stirne, um sich daran klopfen zu können: er stieg also in Anerkennung des Auftrages und des ihn begleitenden Shillings hinauf. In demselben Augenblick kam Mr. Carton heran und berührte Mr. Lorry am Arme.

»Was macht die junge Dame?«

»Sie ist sehr erschüttert: ihr Vater aber tröstet sie, und außerhalb des Gerichtssaales fühlt sie sich besser.«

»Ich will dies dem Gefangenen sagen. Ihr wißt, für einen achtbaren Bankherrn, wie Ihr seid, würde es sich nicht schicken, wenn man Euch öffentlich mit ihm reden sähe.«

Nr. Lorry errötete, als fühle er sich schuldig, gerade selbst diesen Gedanken gehabt zu haben, und Mr. Carton ging nach der andern Seite der Schranke hinüber. Der Hauptausgang des Saales lag in derselben Richtung, und Jerry folgte ihm, ganz Auge und Ohr.

»Mr. Darnay.«

Der Gefangene kam sogleich in den Vordergrund.

»Ihr seid natürlich begierig, etwas von der Zeugin Miß Manette zu hören. Es wird mit ihr schon wieder recht werden. Ihr habt das Schlimmste von der Aufregung gesehen.«

»Es tut mir sehr leid, die Ursache gewesen zu sein. Könntet Ihr wohl in meinem Namen ihr dies sagen und ihr zugleich meinen wärmsten Dank ausdrücken?«

»Ja, das kann ich wohl und will es auch tun, wenn Ihr es verlangt.«

Mr. Cartons Wesen war so unbekümmert, daß es fast an Unverschämtheit grenzte. Er stand halb von dem Gefangenen abgewendet da und hatte seinen Ellenbogen auf die Schranke gestützt.

»Ich bitte Euch darum. Nehmt meinen herzlichen Dank dafür.«

»Welche Hoffnung habt Ihr, Mr. Darnay?« fragte Mr. Carton, noch immer halb abgewandt.

»Eine schlechte.«

»Das ist klug von Euch, denn der schlimme Ausgang hat eine große Wahrscheinlichkeit für sich. Doch meine ich, das Abtreten der Geschworenen sei ein günstiges Zeichen.«

Da ein Stehenbleiben in den Gängen des Saals nicht gestattet war, so hörte Jerry nichts weiter; er verließ sie, wie sie nebeneinander standen und von dem Spiegel oben zurückgestrahlt wurden, beide sich so ähnlich an Gestalt und so unähnlich im Wesen.

Anderthalb Stunden entschwanden schleppend in den von Dieben und Spitzbuben wimmelnden Gängen unten, obschon Hammelpastetchen und Ale mithalfen. Der heisere Bote hatte, nachdem er die ebengenannte Stärkung eingenommen, auf einer unbequemen Bank Platz gefunden und war eingeduselt, als auf einmal ein Lärm ihn wieder weckte und ein Menschenstrom, der die zum Gerichtssaale führenden Treppen hinanwogte, ihn mit sich fortriß.

»Jerry! Jerry!«

Mit diesem Rufe empfing ihn Mr. Lorry schon an der Tür.

»Hier, Sir. Das hat Gewalt gebraucht, um wieder hereinzukommen. Hier bin ich, Sir!«

Mr. Lorry händigte ihm durch das Gedränge ein Blatt Papier ein.

»Hurtig! Habt Ihr’s?«

»Ja, Sir.«

Auf das Blatt war in Eile das Wort geschrieben: »Freigesprochen.«

»Wenn er mich heute wieder hätte ausrichten heißen: ›Ins Leben zurückgerufen‹«, murmelte Jerry, indem er sich umwandte, »so würde ich verstanden haben, was er diesmal damit sagen will.«

Er hatte keine Gelegenheit, noch etwas Weiteres zu sagen oder auch nur zu denken, bis er die alte Bailey hinter sich hatte; denn die Menge strömte mit solcher Gewalt nach, daß sie ihn fast vom Boden aufhob. Das laute Summen fegte in die Straße hinaus, als ob die in ihrer Erwartung getäuschten Schmeißfliegen sich nach allen Richtungen zerstreuten, um ein anderes Aas zu suchen.

Vierzehntes Kapitel. Ausgestrickt.


Vierzehntes Kapitel. Ausgestrickt.

Um dieselbe Zeit, als die zweiundfünfzig ihr Schicksal erwarteten, hielt Madame Defarge eine unheildrohende Beratung mit der Rache und Jacques drei von dem revolutionären Schwurgericht. Der Platz, wo Madame Defarge sich mit diesen ihren Ministern ins Einvernehmen setzte, war nicht die Weinstube, sondern der Schuppen des Holzspalters, weiland Wegknechts. Der letztere nahm keinen Teil an der Konferenz, harrte aber in einiger Entfernung als eine viel niedriger stehende Person, die nicht unaufgefordert sprechen und nur eine Ansicht kundgeben durfte, wenn sie darum befragt wurde.

»Aber unser Defarge ist doch unbezweifelt ein guter Republikaner, he?« fragte Jacques Drei.

»Es gibt keinen besseren in ganz Frankreich«, versicherte die zungenfertige Rache in schrillen Lauten.

»Still, meine kleine Rache«, sagte Madame Defarge, mit einem leichten Schmunzeln, die Hand auf die Lippen ihres Leutnants legend, »laß mich reden. Mein Mann, Mitbürger, ist ein guter Republikaner und ein kühner Mann; er hat sich wohl um die Republik verdient gemacht und besitzt ihr Vertrauen. Aber er hat auch seine Schwächen, und zu diesen gehört seine Anhänglichkeit an den Doktor.«

»Das ist recht schade«, krächzte Jacques Drei mit einem zweifelhaften Kopfschütteln, während seine grausamen Finger sich an seinem hungrigen Munde abarbeiteten; »es ziemt einem guten Bürger nicht und ist sehr zu bedauern.« »Ihr seht, ich für meine Person kümmere mich nichts um diesen Doktor«, sagte Madame. »Was liegt mir daran, ob er seinen Kopf behält oder verliert? Mir ist es gleichgültig. Aber die Evrésmondes sollen vertilgt werden, und das Weib mit ihrem Kinde muß dem Manne und Vater folgen.«

»Sie hat einen schönen Kopf dafür«, krächzte Jacques Drei. »Ich habe dort schon blaue Augen und goldiges Haar gesehen; sie nahmen sich prächtig aus, als Samson sie in die Höhe hielt.« Bei seiner Wolfsnatur sprach er wie ein Epikuräer.

Madame Defarge schlug ihre Augen nieder und sann eine Weile nach.

»Auch das Kind«, bemerkte Jacques Drei mit beschaulicher Lust, »hat goldiges Haar und blaue Augen, und wir sehen selten ein Kind dort. Es gibt einen allerliebsten Anblick.«

»Mit einem Wort«, sagte Madame Defarge, sich aus ihrem Nachsinnen aufraffend, »ich kann in dieser Sache meinem Manne nicht trauen. Seit gestern abend fühle ich, daß ich ihn nicht nur in die Einzelheiten meiner Pläne nicht einweihen darf, sondern auch, daß jede Zögerung die Gefahr der Warnung für sie in sich schließt und ihr Entkommen begünstigt.«

»Das darf nicht geschehen«, krächzte Jacques Drei. »Niemand darf entkommen. Wir haben noch nicht halb genug. Es müssen zehn Dutzend pro Tag werden.«

»Mit einem Wort«, sprach Madame Defarge weiter, »mein Mann hat nicht meine Gründe, diese Familie bis zur Vernichtung zu verfolgen, und seine Empfindsamkeit gegen diesen Doktor berührt mich nicht. Ich muß daher für mich handeln. Kommt her, kleiner Bürger.«

Der Holzspalter, der sie hoch in Ehren und aus heller Furcht sich selbst in tiefster Unterwürfigkeit hielt, trat mit seiner roten Mütze in der Hand heran.

»Wir sprechen von den Zeichen, die sie den Gefangenen gemacht hat, kleiner Bürger«, sagte Madame Defarge streng. »Ihr seid bereit, noch heute Zeugnis gegen sie abzulegen?«

»Ei ja, warum nicht?« versetzte der Holzspalter. »Jeden Tag, bei jedem Wetter von zwei bis vier Uhr; und stets Zeichen machend; bisweilen mit der Kleinen, bisweilen ohne sie. Ich weiß, was ich weiß, und hab‘ es mit eigenen Augen gesehen.«

Während seiner Rede machte er Gebärden aller Art, gleichsam in zufälliger Nachahmung einiger von den vielen und verschiedenen Signalen, die freilich nur in seinem Hirn spukten.

»Das ist sonnenklar eine Verschwörung«, sagte Jacques Drei. »Nicht anders möglich.«

»Das Schwurgericht wird doch darüber keinen Zweifel hegen?« fragte Madame Defarge, mit einem unheimlichen Lächeln ihre Augen auf ihn heftend.

»Verlaßt Euch auf die patriotischen Geschworenen, meine liebe Bürgerin. Ich stehe für meine Kollegen in der Jury.«

»Nun, laß mich sehen«, sagte Madame Defarge, abermals nachdenkend. »Um noch einmal auf diesen Doktor zu kommen kann ich ihn um meines Mannes willen schonen? Ich habe nichts für und nichts gegen ihn. Kann ich ihn schonen?«

»Er würde doch als ein Kopf zählen«, bemerkte Jacques Drei mit gedämpfter Stimme. »Wir haben wahrhaftig nicht Köpfe genug. Es wäre schade, mein‘ ich.«

»Er machte mit ihr Signale, als ich sie sah«, fuhr Madame Defarge fort, »und ich kann nicht von ihr sprechen, ohne auch ihn zu erwähnen. Schweigen darf ich nicht und will daher die ganze Sache diesem kleinen Bürger hier überlassen; denn ich bin kein schlechter Zeuge.«

Die Rache und Jacques Drei wetteiferten miteinander in warmen Versicherungen, daß sie der trefflichste, der bewundernswürdigste Zeuge sei, und der kleine Bürger, der sich von ihnen nicht überbieten lassen wollte, erklärte sie geradezu für einen himmlischen Zeugen.

»Wir müssen ihn für sich selbst sorgen lassen«, sagte Madame Defarge. »Nein, ich kann ihn nicht schonen. Ihr seid um drei Uhr in Anspruch genommen; Ihr geht doch hin, um heute den Hinrichtungen beizuwohnen Ihr?«

Diese Frage galt dem kleinen Holzspalter, der hastig mit Ja antwortete und die Gelegenheit benutzte, um hinzuzufügen, daß er der eifrigste Republikaner sei und sich wirklich als den unglücklichsten Republikaner fühlen würde, wenn ihn irgend etwas des Vergnügens beraubte, im Anblick des possierlichen Nationalbarbiers seine Nachmittagspfeife zu rauchen. Er benahm sich derart übertrieben, daß man ihn hätte beargwöhnen können (vielleicht lag auch dieser Sinn in dem Blick der Verachtung, den ihm die dunkeln Augen in Madame Defarges Kopf zuwarfen), er sei jede Stunde des Tages ein bißchen um seine, persönliche Sicherheit in Angst.

»Ich werde auch an dem gleichen Platz zu tun haben«, sagte Madame, »Wenn es vorüber ist ich will sagen, um acht Uhr heute abend , kommt Ihr zu mir nach Saint Antoine; wir wollen dann unsere Klage gegen diese Leute bei meiner Sektion vorbringen.«

Der Holzspalter versicherte, er werde stolz darauf sein und sich geschmeichelt fühlen, der Bürgerin zu dienen. Als die Bürgerin ihn ansah, wurde er verlegen; er wich ihrem Blick aus wie ein kleiner Hund, zog sich hinter sein Holz zurück und verbarg seine Verwirrung hinter dem Griff seiner Säge.

Madame Defarge winkte die Geschworenen und die Rache etwas näher an die Tür und erklärte ihnen ihre weiteren Absichten:

»Sie wird jetzt zu Hause sein und dort den Augenblick seines Todes erwarten. Natürlich trauert sie und grämt sich um ihn. Ich werde sie in einer Stimmung finden, in der sie die Republik der Ungerechtigkeit zeiht und mit den Feinden derselben sympathisiert. Ich will zu ihr gehen.«

»Welche wunderbare Frau welche anbetungswürdige Frau!« beteuerte Jacques Drei entzückt.

»Oh, meine Teuerste!« rief die Rache mit einer Umarmung.

»Nimm mein Strickzeug mit«, sagte Madame Defarge, indem sie den Knäuel ihrem Leutnant übergab, »und halt es mir auf meinem gewöhnlichen Sitz bereit. Hüte mir meinen Stuhl. Geh unverweilt hin; denn wahrscheinlich wird es heute einen größeren Zusammenlauf geben als sonst.«

»Ich gehorche bereitwillig den Befehlen meines Chefs«, erwiderte die Rache, indem sie Madame auf die Wange küßte. »Du wirst dich doch nicht verspäten?«

»Ich werde dort sein, noch ehe es anfängt.«

»Und bevor die Karren anlangen. Sieh zu, meine Seele«, rief ihr die Rache nach, denn sie war bereits auf der Straße draußen, »daß du noch vor dem Eintreffen der Karren dort bist.«

Madame Defarge winkte leicht mit der Hand, um ihr damit anzudeuten, sie möge sich darauf verlassen, daß sie in guter Zeit kommen werde, trabte durch den Staub und verschwand an der Ecke der Gefängnismauer. Die Rache und der Geschworene sahen ihr nach und belobten höchlich ihre schöne Figur und ihren hohen Sinn.

Es gab in jener Zeit viele Weiber, die die Hand eben dieser Zeit furchtbar verzerrt hatte, aber keine darunter, die schrecklicher gewesen wäre als das erbarmenlose Wesen, das gerade jetzt durch die Straßen schritt. Mit einem festen und furchtlosen Charakter, einer schnell sich zurechtfindenden Schlauheit, einem sehr entschiedenen Geist und jener Art von Schönheit begabt, die sich nicht nur mit Festigkeit und Leidenschaftlichkeit recht gut verträgt, sondern auch bei andern eine Anerkennung solcher Eigenschaften erzwingt, mußte sie unter allen Umständen in einer Periode wilder Erregung eine Rolle spielen. Da sie aber von Kindheit auf aus dem Gefühle erlittenen tiefen Unrechts den bittersten Haß gegen eine gewisse Klasse gesogen, so hatte die Gelegenheit sie zu einer Tigerin umgewandelt. Das Mitleid war ihr ein durchaus fremdes Gefühl, und wenn sie je einer solchen Regung zugänglich gewesen, so war diese doch längst in ihrer Seele erstorben.

Es machte ihr nichts aus, wenn ein Unschuldiger für die Verbrechen seiner Vorfahren starb; sie sah nicht ihn, sondern sie. Sie kehrte sich nicht daran, daß sein Weib zur Witwe, sein Kind zur Waise wurde. Ja, die Strafe genügte ihr nicht einmal, denn auch sie zählte sie zu ihren Feinden, die sie opfern wollte und die in ihrem Auge kein Recht zu leben hatten. Eine Berufung an ihr Herz wäre ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen, denn sie war sogar grausam gegen sich selbst. Hätte sie in einem der vielen Straßengefechte, in denen sie mitkämpfte, eine Todeswunde niedergestreckt, so hätte sie sich nicht bemitleidet, und wäre sie morgen zur Guillotine geführt worden, so würde sie auf dem Gange dahin keinem sanfteren Gefühle als dem wilden Wunsche Raum gegeben haben, ihren Platz mit dem Menschen zu wechseln, der sie hierher geliefert.

Solch ein Herz trug Madame Defarge unter ihrem rauhen Gewand, das trotz seiner Abnützung in einer gewissen unheimlichen Weise sich anständig genug ausnahm. Unter ihrer groben roten Mütze quoll reich das dunkle Haar hervor. In ihrem Busen hatte sie eine geladene Pistole und in den Schößen ihres Kleides einen scharfen Dolch verborgen. So ausgerüstet ging Madame Defarge mit dem zuversichtlichen Tritt eines solchen Charakters und mit der behenden Ungezwungenheit eines Weibes, das in seiner Kindheit barfuß den Seesand zu treten gewohnt war, die Straßen entlang.

Als am Abend vorher die Vorbereitungen zu der Reise erwogen wurden, für deren Antritt man jetzt nur noch das Eintreffen der letzten Person erwartete, hatte die Schwierigkeit, Miß Proß sogleich mitzunehmen, Mr. Lorrys Geist angelegentlich beschäftigt. Es war nicht bloß wünschenswert, ein Überladen der Kutsche zu vermeiden, sondern auch von höchster Wichtigkeit, daß die Personenkontrolle an der Barriere auf das geringste Zeitmaß beschränkt wurde, sofern der Erfolg ihrer Flucht vielleicht nur von dem Gewinn einiger Sekunden da oder dort abhing. Nach vielem ängstlichen Besinnen entschied er sich endlich dafür, daß Miß Proß und Jerry, die die Stadt beliebig verlassen konnten, um drei Uhr in dem leichtesten Gefährt jener Periode ihnen nachkommen sollten. Da sie nicht mit Gepäck belastet waren, so konnten sie die Kutsche bald einholen und ihr sogar vorausfahren. Dies setzte das Dienstpersonal in die Lage, für die Flüchtlinge im voraus Pferde zu bestellen und die Fahrt während der kostbaren Stunden der Nacht, in der Zögerung am meisten zu befürchten stand, zu beschleunigen.

Miß Proß willigte mit Freuden in diese Anordnung, die es ihr möglich zu machen schien, in dem obwaltenden dringlichen Falle wirklich nützlich zu werden. Sie und Jerry hatten die Kutsche abfahren sehen und, da sie den Mann, den Salomon brachte, recht gut kannten, zehn Minuten in der äußersten Spannung verlebt. Sie besprachen eben, wie sie es einrichten wollten, um der Kutsche zu folgen, als Madame Defarge auf ihrem Gang durch die Straßen der jetzt verlassenen Wohnung, in der sie ihre Beratung hielten, immer näher kam.

»Was meint Ihr, Mr. Cruncher«, sagte Miß Proß, die vor Aufregung nicht wußte, was sie mit sich anfangen sollte, »was meint Ihr, wenn wir unsere Reise nicht von diesem Hofe aus antreten? Da heut schon ein Wagen von hier abgegangen ist, so könnte es Argwohn erregen.«

»Ich bin der Ansicht, Miß«, versetzte Mr. Cruncher, »daß Ihr recht habt. Indes halt‘ ich’s unter allen Umständen mit Euch, auf Recht oder Unrecht.«

»Ich bin vor Furcht und Hoffnung wegen unserer kostbaren Herrschaft so von Sinnen«, sagte Miß Proß, in ein krampfhaftes Weinen ausbrechend, »daß ich außerstande bin, mir einen Plan zu bilden. Ihr könnt dies wohl eher, mein lieber guter Mr. Cruncher?«

»Was meinen künftigen Lebenspfad betrifft. Miß«, entgegnete Mr. Cruncher, »so hoffe ich, ja. Aber ich glaube nicht, daß für unsere gegenwärtige Lage mein alter Kopf etwas auszudenken imstande ist. Wollt Ihr mir den Gefallen erweisen. Miß, mich seinerzeit an zwei Versprechen oder Gelübde zu erinnern, die ich in unserer kritischen Lage hier abzulegen gedenke?« »Oh, um des Himmels willen!« erwiderte Miß Proß, noch immer in ihrem Weinen, »so legt sie ab und erleichtert Euer Herz wie ein ordentlicher Mann.«

»Zuerst«, sagte Mr. Cruncher mit aschfahlem feierlichem Gesicht, während er am ganzen Leibe zitterte, »daß ich jenen armen Dingern, die mit dem Zeitlichen fertig sind, nie mehr etwas tun will gewiß nie mehr.«

»Ich bin überzeugt, Mr. Cruncher«, erwiderte Miß Proß »daß Ihr’s nie wieder tun werdet, was es auch sein mag, und ich bitt‘ Euch, seht es für unnötig an, mir noch Weiteres auseinanderzusetzen, was es auch sei.«

»Nein, Miß, es soll nicht gegen Euch genannt werden«, versetzte Jerry. »Zweitens, abgesehen von jenen armen Dingern will ich nie mehr etwas aussetzen gegen Mrs. Crunchers Hinsacken nie mehr.«

»Was dies auch für eine Haushaltungseinrichtung sein mag«, sagte Miß Proß, die ihre Augen zu trocknen und ruhiger zu werden versuchte, »so zweifle ich nicht, daß man am besten tut, wenn man Mrs. Cruncher ganz ihren freien Willen läßt. O, meine Lieblinge!«

»Ich geh‘ noch obendrein so weit, um zu sagen«, fuhr Mr. Cruncher in seiner höchst beunruhigenden Manie, eine Art Kanzelvortrag zu halten, fort »und bitte Euch, meiner Worte zu gedenken und sie selbst Mrs. Cruncher zu hinterbringen , daß meine Ansichten vom Hinsacken ganz andere geworden sind und daß ich aus dem Grunde meiner Seele hoffe, Mrs. Cruncher möge eben jetzt hingesackt sein.«

»Recht, recht, recht so! Ich hoffe es auch, mein guter Mann«, rief Miß Proß außer sich, »und so Gott will, findet sie Erhörung ihrer Wünsche.«

»Gott verhüte«, sagte Mr. Cruncher mit besonderer Feierlichkeit, Langsamkeit und predigtartiger Salbung, »daß irgend etwas, was ich je gesagt oder getan habe, jetzt an meinen ernsten Wünschen für jene armen Geschöpfe heimgesucht werde. Verhüte Gott, daß wir nicht alle gerne hinsacken sollten (wenn es irgend anginge), um aus den schrecklichen Gefahren hier herauszukommen. Gott verhüt‘ es und noch einmal, Gott verhüt‘ es!«

So lautete Mr. Crunchers Schlußsatz, nachdem er lange vergeblich sich besonnen, um einen besseren zu finden.

Und immer näher und näher kam die die Straßen durchwandelnde Madame Defarge.

»Wenn wir je wieder in die Heimat zurückkommen«, sagte Miß Proß, »so dürft Ihr Euch darauf verlassen, daß ich Mrs. Cruncher von dem, was Ihr mir so ausdrücklich gesagt habt, so viel mitteilen will, wie ich behalten kann oder zu verstehen vermochte. Und jedenfalls dürft Ihr darauf bauen, daß ich Euch bezeugen werde, wie gründlich ernst es Euch gewesen sei in dieser schrecklichen Zeit. Aber jetzt müssen wir uns besinnen. Mein geschätzter Mr. Cruncher, laßt uns nachdenken.« Noch immer wandelte Madame Defarge durch die Straßen und kam näher und näher.

»Meint Ihr nicht«, sagte Miß Proß, »es war‘ am besten, wenn Ihr vorausginget und das Gefährt nicht hierherkommen, sondern irgendwo auf mich warten ließet?«

Mr. Cruncher hielt es für das beste.

»Wo könntet Ihr auf mich warten?« fragte Miß Proß.

Mr. Cruncher war so außer sich, daß er sich auf keine andere Örtlichkeit als auf Temple Bar besinnen konnte. Aber leider lag Temple Bar Hunderte von Meilen entfernt, und Madame Defarge war in der Tat schon sehr nahe.

»An der Domkirchentür«, sagte Miß Proß. »Wär‘ es sehr abseitig, wenn Ihr mich an der Tür, die sich zwischen den zwei Türmen befindet, aufnehmen müßtet?«

»Nein, Miß«, antwortete Mr. Cruncher.

»Dann seid ein guter Mann«, sagte Miß Proß, »und geht unverweilt nach dem Posthause, um diese Abänderung zu bestellen.«

»Ich bin zweifelhaft, seht Ihr«, entgegnete Mr. Cruncher zögernd und den Kopf schüttelnd, »ob ich Euch verlassen darf. Wir wissen nicht, was vorfallen kann.«

»Du mein Himmel, wir wissen das freilich nicht«, erwiderte Miß Proß; »aber habt keine Sorge um mich. Nehmt mich um drei Uhr oder ungefähr um diese Zeit bei dem Dom auf, und ich bin überzeugt, es ist besser, als wenn wir von hier aus abfahren. Ja, ich weiß es gewiß. So; jetzt behüt‘ Euch Gott, Mr. Cruncher! Denkt nicht an mich, sondern an die Leben, die vielleicht von uns beiden abhängen.«

Diese Einleitung und die beiden Hände, mit welchen Miß Proß in ihrer Herzensangst flehentlich die seinigen umfaßte, wirkten bestimmend auf Mr. Cruncher, der sofort mit einem ermutigenden Kopfnicken sich auf den Weg machte, um die beschlossene Abänderung anzuzeigen, und es ihr überließ, ihrem eigenen Vorschlag gemäß nachzukommen.

Es gereichte Miß Proß zu großer Erleichterung, Anlaß zu einer Vorsichtsmaßregel gegeben zu haben, deren Ausführung eben im Gange war. Die Notwendigkeit, ihr Äußeres so zu ordnen, daß sie in den Straßen keine besondere Aufmerksamkeit erregte, gab weiteren Anlaß zur Zerstreuung. Sie sah auf ihre Uhr und fand zwanzig Minuten über zwei. Da war keine Zeit mehr zu verlieren; sie mußte sich beeilen.

Während sie in ihrer äußersten Verstörung sich vor der Einsamkeit der verlassenen Zimmer fürchtete und durch jede offene Tür eingebildete Gesichter hereinschauen sah, holte sie ein Becken mit kaltem Wasser und begann sich ihre geschwollenen roten Augen zu waschen. Aber in ihrer fieberhaften Angst konnte sie es nicht ertragen, ihren Gesichtssinn für eine Minute über einmal durch das triefende Wasser verdunkelt zu sehen: sie hielt daher alle Augenblicke inne und schaute zurück, um sich zu überzeugen, ob sie nicht beobachtet werde. In einer von diesen Pausen fuhr sie zusammen und schrie laut auf; denn sie sah eine Gestalt in dem Zimmer stehen.

Da« Becken fiel zerbrochen zu Boden, und das Wasser strömte zu Madame Defarges Füßen hin, als fühle es, daß es hier gelte, viele Blutflecken abzuwaschen.

Madame Defarge sah kalt nach ihr hin und fragte:

»Wo ist Evrémondes Weib?«

Miß Proß schoß plötzlich der Gedanke durch das Gehirn, daß sämtliche Türen offen standen und sogleich auf eine Flucht schließen ließen; sie ging daher alsbald ans Werk, diese zuzumachen. Dann stellte sie sich vor die Tür des Gemaches, das Lucie bewohnt hatte.

Madame Defarges dunkle Augen folgten ihr bei allen diesen hastigen Bewegungen und blieben auf ihr haften, als sie fertig war. Miß Proß hatte nichts Schönes an sich. Das Wilde und Abenteuerliche ihres Aussehens war durch die Jahre nicht gezähmt oder gemildert worden. Aber auch sie konnte in ihrer Art als ein entschlossenes Frauenzimmer angesehen werden und maß die andere Zoll für Zoll mit ihren Augen.

»Du magst deinem Aussehen nach Madame Luzifer selber sein«, sagte Miß Proß für sich: »aber gleichwohl sollst du mir nichts anhaben können. Ich bin eine Engländerin.«

Madame Defarge betrachtete sie verächtlich, aber doch mit einer gewissen Ahnung, daß sie in Miß Proß eine Widersacherin habe. Sie sah dieselbe kräftige, eiserne Person vor sich wie Mr. Lorry, als er vor Jahren ihre starke Hand zu fühlen bekam, und wußte recht wohl, daß Miß Proß eine aufopferungsfähige Freundin der Familie war, während Miß Proß ihrerseits in dieser Madame Defarge den bösen Engel der Familie erkannte.

»Auf meinem Wege nach dem Orte«, sagte Madame Defarge mit einer leichten Bewegung der Hand nach der Richtstätte hin, »wo man mir meinen Stuhl und mein Strickzeug aufbewahrt, bin ich heraufgekommen, um ihr mein Kompliment zu machen. Ich wünsche sie zu sprechen.«

»Ich weiß, daß Ihr schlimme Absichten habt«, sagte Miß Proß, »und Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß ich ihnen entgegenarbeiten werde.«

Jede bediente sich ihrer eigenen Sprache, so daß keine die Worte der andern verstand; aber beide suchten wechselseitig aus Miene und Gebärden sich deutlich zu machen, was die andere sagen wollte.

»Es wird ihr nicht zu Frommen dienen, wenn sie sich in diesem Augenblick vor mir verbirgt«, fuhr Madame Defarge fort. »Gute Patrioten werden wissen, was dies heißen soll. Laßt mich zu ihr. Geht und bedeutet ihr, daß ich sie zu sprechen wünsche. Hört Ihr?«

»Wenn diese deine Augen Bohrer wären«, erwiderte Miß Proß, »und ich ein englischer Bettpfosten, so sollen sie doch keinen Splitter aus mir herauskriegen. Nein, du boshaftes Weibsbild; dir bin ich schon gewachsen.«

Madame Defarge war nicht in der Lage, diesen in der Heimatsprache gemachten Bemerkungen ins einzelne zu folgen, entnahm aber doch so viel daraus, daß ihr Wille keine Beachtung fand.

»Blödsinniges Schwein!« rief Madame Defarge zürnend: »ich verlange keine Gegenrede von dir, sondern will sie sehen. Entweder sag‘ ihr dies oder tritt von dieser Tür weg und mir aus dem Wege, damit ich zu ihr kann.«

Sie begleitete diese zornige Anrede mit einem Winken ihres rechten Armes.

»Ich habe nie daran gedacht«, sagte Miß Proß, »daß ich je nötig haben könnte, deine unsinnige Sprache zu verstehen; aber ich gäbe gerne alles, was ich habe, die Kleider auf meinem Leibe ausgenommen, darum, wenn ich wüßte, ob du eine Ahnung hast von der Wahrheit oder von einem Teil derselben.«

Sie verwandten nicht einen Moment die Augen voneinander. Madame Defarge war bisher auf derselben Stelle stehengeblieben, auf der Miß Proß sie zuerst erblickt hatte; jetzt aber kam sie um einen Schritt näher.

»Ich bin eine Britin«, sagte Miß Proß, »und in der Verzweiflung zu allem fähig. Ich kümmere mich kein englisches Zweipencestück um mich selbst; und je länger ich dich hier festhalte, desto größere Hoffnung ist für mein Vögelchen vorhanden. Du sollst mir keine Handvoll von deinem schwarzen Haar davontragen, wenn du mich nur mit einem Finger anrührst.«

So Miß Proß, die zwischen jedem Satz ihren Kopf schüttelte und ihre Augen blitzen ließ, während ihre Atemzüge hastig gingen dieselbe Miß Proß, die in ihrem ganzen Leben nie einen Schlag ausgeteilt hatte.

Aber ihr Mut war von jener erregbaren Beschaffenheit, der so gern seinen Besitzer in eine Tränenexaltation versetzt. Einen solchen Mut begriff Madame Defarge so wenig, daß sie ihn irrtümlich für Schwäche nahm. »Ha, ha!« lachte sie, »du erbärmliches Geschöpf, was soll ich mich mit dir einlassen? Ich will mich selbst an diesen Doktor wenden.« Dann erhob sie ihre Stimme und rief: »Bürger Doktor! Weib von Evrémonde! Wer da mich hört, außer dieser ärmlichen Törin, antworte der Bürgerin Defarge!«

Das nun folgende Schweigen, vielleicht auch ein geheimer Zug in dem Ausdruck von Miß Proß‘ Gesicht, vielleicht auch eine plötzliche, nicht von den Umständen an die Hand gegebene Ahnung mochte Madame Defarge auf den Gedanken bringen, daß sie fort seien. Sie öffnete hastig drei von den Türen und sah hinein.

»Diese Zimmer sind in Unordnung; man hat hier hastig gepackt, und es liegt allerlei durcheinander auf dem Boden. In dem Zimmer hinter Euch ist niemand. Laßt mich sehen!«

»Nein!« rief Miß Proß, die diese Aufforderung so gut verstand wie Madame Defarge ihre Antwort.

»Wenn sie sich nicht in diesem Zimmer befinden, sind sie fort und können verfolgt und zurückgebracht werden«, sagte Madame Defarge zu sich selbst.

»Solange du nicht weißt, ob sie in diesem Zimmer sind oder nicht, kannst du nicht handeln«, lautete das Selbstgespräch der Miß Proß: »und du sollst mir’s nicht erfahren, wenn ich’s hindern kann. Aber magst du’s nun wissen oder nicht, du kommst mir nicht von der Stelle, solange ich dich zu halten imstande bin.«

»Ich bin vom Anfang an bei den Straßenkämpfen gewesen: nichts hat mich zu hindern vermocht, und ich reiße dich in Stücke, wenn du nicht von dieser Tür weggehst«, sagte Madame Defarge.

»Wir sind allein in dem Giebelstock eines hohen, in einem einsamen Hofe stehenden Hauses, und man wird uns wahrscheinlich nicht hören. O Himmel, gib mir Kraft, sie hier aufzuhalten, denn jede Minute, die ich sie hier habe, ist für meinen Liebling hunderttausend Guineen wert«, sagte Miß Proß.

Madame Defarge wollte auf die Tür zu. Miß Proß, die sich instinktartig diese Bewegung deutete, faßte sie plötzlich mit beiden Armen um den Leib und hielt sie fest. Vergeblich kämpfte sich Madame Defarge ab und schlug um sich: Miß Proß umschlang sie mit der zähen Kraft der Liebe, die immer viel stärker ist als die des Hasses, noch fester und hob sie bei dem Ringen vom Boden auf. Madame Defarge zerarbeitete ihr mit ihren Fäusten das Gesicht; aber Miß Proß, die ihren Kopf senkte, hielt fortwährend ihren Leib mit der Gewalt eines Ertrinkenden umfaßt.

Bald hörte übrigens Madame Defarge auf, um sich zu schlagen, und tastete nach ihrem Gürtel.

»Er ist unter meinem Arme«, sagte Miß Proß mit erstickter Stimme, »und du sollst mir ihn nicht herausbringen. Ich bin stärker als du, Gott sei Dank, und ich will dich festhalten, bis eine von uns die Besinnung verliert oder tot ist.«

Madame Defarge fuhr mit der Hand nach ihrem Busen. Miß Proß schaute auf, sah, was es war, und schlug danach. Sie schlug einen Blitz, ein Krachen heraus und stand allein, von Rauch geblendet.

All dieses war das Werk einer Sekunde. Wie der Rauch sich verzog, herrschte eine schauerliche Stille; er schwebte in die Luft hinaus, als sei er die Seele des wütenden Weibes, deren Körper leblos am Boden lag.

In dem ersten Schrecken ihrer Lage eilte Miß Proß so fern als möglich an der Leiche vorbei und die Treppe hinunter, in ein vergebliches Hllfegeschrei ausbrechend. Zum Glück besann sie sich bald auf die Folgen ihres Tuns: sie hielt an und kehrte zurück. Es war freilich etwas Schreckliches, wieder zu dieser Tür hineinzugehen; aber sie tat es dennoch und machte sich ganz in ihre Nähe, um ihren Hut und andere Dinge, die sie brauchte, zu holen. Sie vollendete auf der Flur draußen ihren Anzug, schloß die Tür ab und zog den Schlüssel heraus. Eine kurze Weile setzte sie sich auf der Treppe nieder, um zu Atem zu kommen und ein Stückchen zu weinen; dann stand sie wieder auf und eilte von hinnen.

Zu gutem Glück hatte sie einen Schleier auf ihrem Hut, da sie sonst nicht durch die Straßen gekommen wäre, ohne angehalten zu werden. Ein weiteres Glück war, daß bei ihrem besonderen Äußeren die Unordnung nicht so auffiel wie an anderen Frauenspersonen. Sie bedurfte dieser Vorteile recht wohl, denn sie hatte in ihrem Gesicht tiefe Nägelrisse; ihr Haar war zerrauft und ihr Anzug, den sie nur hastig und mit unsteter Hand hatte ordnen können, zerrissen und kläglich zerknüllt.

Als sie über die Brücke kam, ließ sie den Schlüssel zu der Tür in den Fluß fallen. Sie mußte vor dem Dom einige Minuten auf ihr Geleite warten und quälte sich in der Zwischenzeit mit Vorstellungen ab, der Schlüssel könne bereits durch ein Netz aufgefischt und als der rechte erkannt worden sein. Ihre geängstigte Phantasie malte ihr bereits die geöffnete Tür, die Entdeckung der Leiche, ihre Verhaftung am Tor, Gefängnis und die Anklage auf Mord vor. Während noch solche Gedanken ihrem Gehirn zu schaffen machten, erschien das Gefährt, nahm sie, auf und fuhr weiter.

»Ist ein Lärm in den Straßen?« fragte sie ihren Begleiter.

»Nicht mehr als gewöhnlich«, versetzte Mr. Cruncher und sah sie erstaunt ob dieser Frage und ihrem Äußeren an.

»Ich höre Euch nicht«, fuhr Miß Proß fort. »Was habt Ihr gesagt?«

Vergeblich wiederholte Mr. Cruncher, was er gesagt hatte. Miß Proß konnte ihn nicht hören. »So will ich mit dem Kopfe nicken«, dachte Mr. Cruncher bestürzt; »jedenfalls wird sie dies sehen.« Er hatte damit nicht unrecht.

»Ist jetzt Lärmen in den Straßen?« fragte Miß Proß wieder.

Und Mr. Cruncher nickte wieder mit dem Kopfe.

»Ich höre ihn nicht.«

»Taub geworden in einer Stunde?« sagte Mr. Cruncher verstört vor sich hin. »Was mag an sie gekommen sein?«

»Ich meine, einen Blitz gesehen und ein Krachen gehört zu haben«, sagte Miß Proß, »und es ist mir, als sei dieses Krachen das letzte gewesen, was ich je in meinem Leben hören soll.«

»Ich will des Henkers sein, wenn dies nicht ein kurioser Zustand ist«, sagte Mr. Cruncher, in dessen Gehirn es immer unklarer wurde. »Hat sie vielleicht etwas zu sich genommen, um sich den Mut aufrechtzuerhalten? Horch! Da kommen die schrecklichen Karren einhergerollt! Die könnt Ihr doch hören. Miß?«

»Ich höre gar nichts«, versetzte Miß Proß, die es seinem Munde absah, daß er sprach. »O, mein guter Mann, zuerst kam ein schreckliches Krachen, und darauf folgte eine tiefe Stille; und diese Stille scheint so fest und wandellos zu sein, als solle sie nie mehr unterbrochen werden, solange ich lebe.«

»Wenn sie das Gerassel dieses schrecklichen Karren, die jetzt dem Ende ihrer Fahrt so nahe sind nicht hört«, sagte Mr. Cruncher über seine Schulter zurücksehend, »so ist wahrhaftig meine Meinung, daß sie in dieser Welt nichts anderes mehr hören wird.«

Und so war es auch.

Fünfzehntes Kapitel. Die Fußtritte verhallen für immer.


Fünfzehntes Kapitel. Die Fußtritte verhallen für immer.

Durch die Straßen von Paris rasseln die Karren des Todes hohl und rauh. Ihrer sechs führen den Wein des Tages nach der Guillotine. Alle die menschenfresserischen und unersättlichen Ungeheuer, die je der Phantasie entsprangen, sind verschmolzen in der einen Wesenheit Guillotine. Und doch konnte selbst in Frankreichs abwechslungsreichem Boden und Klima kein Grashalm, kein Blatt, keine Wurzel, kein Zweig, kein Pfefferkorn sicherer seine Reise finden als die Saat, die diese Schrecken veranlaßt hat. Ist die Menschheit einmal mit solchen Hämmern formlos geschlagen, so wird sie stets dieselben verzerrten Gestalten wieder annehmen. Streu‘ aufs neue den Samen ungezügelter Habsucht und Bedrückung aus, und er wird zuverlässig in seiner Art die nämlichen Früchte bringen.

Sechs Karren rollen durch die Straßen. Wandle sie, o mächtige Zauberin Zeit, wieder um in das, was sie waren, und sie stellen sich vielleicht dar als die Prachtwagen absoluter Monarchen, die Karossen großer Herren, die Putztische flunkernder Mätressen, die Kirchen, die nicht meines Vaters Haus sind, sondern Räuberhöhlen, die Hütten von Millionen hungernder Bauern! Nein; der große Magier, der majestätisch die von dem Schöpfer gesetzte Ordnung ausführt, ist nicht rückhaltig mit seinen Wandlungen. »Bist du durch den Willen Gottes in diese Gestalt versetzt«, sagen die Seher in Tausendundeiner Nacht zu dem Verzauberten, »so bleibe darin; trägst du sie aber nur als Folge einer Beschwörung, so nimm dein früheres Aussehen wieder an!« Unwandelbar und hoffnungslos rollen die Karren dahin.

Während die unheimlichen Näher der sechs Todesfuhren sich drehen, scheinen sie eine lange krumme Furche durch die Volksmassen in den Straßen zu pflügen. Rechts und links werden Gesichterreihen aufgewühlt, und die Pflüge gehen stetig fort. Die regelmäßigen Bewohner der Häuser sind an das Schauspiel so gewöhnt, daß viele Fenster leer stehen oder die dahinter Sitzenden ihre Handarbeit nicht unterbrechen, während ihre Augen die Gesichter auf den Karren mustern. Hier und da hat ein Hausbesitzer Gäste, die das Spektakel mit ansehen wollen; er deutet mit der Selbstgefälligkeit eines legitimierten Raritätenvorzeigers bald auf diesen, bald auf jenen Karren und scheint ihnen zu erzählen, wer gestern und wer vorgestern dagesessen hat.

Von den Fahrenden blicken einige auf diese Dinge und auf alles, was um sie vorgeht, mit einem teilnahmlosen Starren, während andere noch einiges Interesse für das Leben und Treiben der Menschen verraten. Einige, die mit gesenkten Häuptern dasitzen, brüten in stummer Verzweiflung vor sich hin, andere sind auf ihre äußere Erscheinung so sorgfältig bedacht, daß sie der Menge Blicke zuwerfen, wie sie solche auf Bildern und in Theatern gesehen haben. Mehrere schließen die Augen und suchen ihre irren Gedanken zusammenzuhalten. Nur einer, ein kläglich aussehendes Geschöpf, ist so verstört und trunken von Entsetzen, daß er singt und zu tanzen versucht. Aber niemand von der ganzen Schar läßt durch einen Blick oder eine Gebärde einen Appell an das Mitleid des Volkes ergehen.

Eine Wache von Berittenen zieht den Karren voraus, und oft erheben sich Gesichter zu ihnen und stellen Fragen an sie. Die Fragen scheinen immer die gleichen zu sein; denn stets erfolgt darauf ein Drängen des Pöbels nach dem dritten Karren hin. Die Reiter vor dem Karren deuten häufig mit ihren Säbeln nach einem Mann auf demselben. Jedermann will wissen, welcher es ist: er steht hinten in dem Karren, hat den Kopf gesenkt und unterhält sich mit einem einfachen Mädchen, das seitwärts sitzt und seine Hand festhält. Die Szene um ihn her ist ihm gleichgültig; er spricht ohne Unterlaß mit dem Mädchen. Da und dort erhebt sich in der langen Straße von St. Honoré ein Geschrei gegen ihn: wenn es anders einen Eindruck auf ihn macht, so entlockt es ihm bloß ein ruhiges Lächeln und ein Schütteln des Kopfes, das ihm das lose Haar tiefer ins Gesicht wirft. Er kann seinem Gesicht nicht leicht beikommen, da seine Arme gebunden sind. Auf den Stufen einer Kirche steht das Gefängnisschaf und erwartet die Karren. Er sieht in den ersten hinein nicht da; in den zweiten nicht da. Schon fragt er sich selbst: »Hat er mich geopfert?« Aber wie er den dritten erblickt, klärt sich sein Gesicht auf.

»Welches ist Evrémonde?«! fragt ein Mann hinter ihm.

»Der dort hinten.«

»Dessen Hand das Mädchen hält?«

Der Mann ruft: »Nieder mit Evrémonde. Zur Guillotine mit allen Aristokraten! Nieder mit Evrémonde!«

»Pst! Pst!« flüstert ihm der Spion schüchtern zu.

»Warum, Bürger?«

»Er geht hin, um seine Vergehen mit seinem Leben zu sühnen. In fünf Minuten hat er gebüßt. Laß ihn im Frieden.«

Da der Mann zu schreien fortfährt: »Nieder mit Evrémonde!«, so wendet ihm für einen Augenblick Evrémonde das Gesicht zu. Er sieht den Spion, betrachtet ihn aufmerksam und fährt weiter.

Die Uhren schlagen drei; die in dem Volkshaufen gepflügte Furche wendet um, und die aufwärts gerichteten Gesichter ziehen den letzten Karren nach, der Guillotine zu. Um das Gerüst her sitzt wie in einem öffentlichen Belustigungsgarten auf Stühlen eine Anzahl emsig strickender Weiber. Auf einem der vordersten Stühle steht die Rache und sieht sich nach ihrer Freundin um.

»Therese!« ruft sie mit ihrer schrillen Stimme. »Wer hat sie gesehen? Therese Defarge!«

»Sie hat sonst nie gefehlt« sagte eine von den Strickerinnen.

»Nein, und wird auch heute nicht fehlen«, versetzt die Rache ärgerlich. »Therese!«

Auf dem Weg zur Guillotine.

»Lauter!« bemerkt das Weib.

Ja! Lauter, Rache, viel lauter; und doch wird sie dich kaum hören. Noch lauter, Rache, und einen kleinen Fluch oder so etwas dazu; es wird sie kaum herbringen. Schick‘ die Weiber aus, um die Zögernde auf und ab zu suchen; die Sendlinge sind zwar vor dem Schrecklichsten nicht zurückgescheut, werden aber kaum aus freien Stücken dahin gehen wollen, wo sie sie finden können!

»Wie fatal!« ruft die Rache, auf dem Stuhl mit dem Fuße stampfend, »und die Karren sind schon alle da! Evrémonde wird abgefertigt sein im nächsten Augenblick, und sie fehlt. Seht da ihr Strickzeug in meiner Hand und ihren Stuhl, den ich ihr reserviert habe. Ich möchte weinen vor Verdruß und Ärger.«

Während die Rache von ihrem erhöhten Standpunkt herabsteigt, um ihren Unmut in der gedachten Weise austoben zu lassen, beginnen die Karren ihre Ladungen abzusetzen. Die Priester der Guillotine sind in ihrem Ornat und bereit. Ritsch! Ein Kopf wird in die Höhe gehalten, und die Strickerinnen, die kaum die Augen erhoben und nach ihm hingeschaut hatten, als er noch denken und sprechen konnte, zählen Eins.

Der zweite Karren entleert sich und fährt weiter. Der dritte kommt heran. Ritsch! Und die Strickerinnen, die sich keinen Moment in ihrer Arbeit stören lassen, zählen Zwei.

Der vermeintliche Evrémonde steigt ab, und nach ihm wird die Näherin heruntergehoben. Er hat beim Aussteigen ihre ungeduldige Hand nicht losgelassen und hält sie noch immer, wie er ihr versprochen. Er gibt ihr eine Stellung, daß sie der unheimlichen Maschine, die stets auf- und niedergeht, den Rücken zuwende; sie sieht zu ihm auf und dankt ihm.

»Ohne Euch, mein teurer Fremder, wäre ich nicht so gefaßt, denn ich bin von Natur ein furchtsames armes Geschöpf. Ich hatte nicht vermocht, meine Gedanken Dem zuzuwenden, der in den Tod gegangen ist, damit wir heute in ihm Trost und Hoffnung finden. Wahrhaftig, Euch hat der Himmel mir zugesendet.«

»Oder Euch mir«, sagt Sydney Carton. »Haltet Eure Augen auf mich gerichtet, mein liebes Kind, und achtet nicht auf die andern Dinge.«

»Ich habe keinen Sinn für sie, solange ich Eure Hand festhalte; und lass‘ ich sie los, so werden sie wohl rasch machen.«

»Sie machen rasch; seid unbesorgt.«

Die beiden stehen in dem schnell sich lichtenden Gedränge der Opfer, sprechen aber miteinander, als ob sie allein seien. Auge in Auge, Stimme gegen Stimme, Hand in Hand und Herz gegen Herz; die beiden Kinder der gemeinsamen Mutter, sonst so weit voneinander getrennt, haben sich zusammengefunden auf der dunkeln Heerstraße, um miteinander einzugehen in die Heimat und in ihrem Schoße auszuruhen.

»Wackerer, edler Freund, wollt Ihr mir noch eine letzte Frage erlauben? Ich bin so gar unwissend, und ein Umstand beunruhigt mich noch ein wenig.«

»Sprecht.«

»Ich habe ein Bäschen, eine einzige Verwandte, eine Waise wie ich, und ich liebe sie zärtlich. Sie ist fünf Jahre jünger als ich und lebt auf einem Bauernhofe im Süden. Die Armut hat uns getrennt, und sie weiß nichts von meinem Schicksale denn ich kann nicht schreiben , und wenn ich’s auch könnte, wie sollte ich’s ihr beibringen? Es ist besser so, wie es ist.«

»Ja, ja, es ist besser so.«

»Ich habe mir im Herfahren Gedanken gemacht, und ich beschäftige mich noch damit, während ich Kraft hole aus der Seelenstärke, die aus Eurem wohlwollenden Antlitze spricht ob sie wohl noch lange leben und vielleicht alt werden wird, wenn die Republik wirklich den Armen zugut kommt und dafür sorgt, daß sie weniger hungern und überhaupt weniger leiden müssen?«

»Wie kommt Ihr auf dies, meine sanfte Schwester?«

»Glaubt Ihr« die nicht klagenden Augen, die so viel Standhaftigkeit ausdrücken, füllen sich mit Tränen, und die Lippen öffnen sich bebend etwas weiter , »die Zeit werde mir dann lang vorkommen, wenn ich auf sie warte in dem besseren Land, wo wir beide, wie wir hoffen, einen barmherzigen Schutz gefunden haben werden?

»Unmöglich, mein Kind; dort gibt es keine Zeit und keine Sorge mehr.«

»Ihr werdet mir zum großen Troste. Ich bin so unwissend. Darf ich Euch jetzt küssen? Ist der Augenblick gekommen?«

»Ja.«

Sie küßt seine Lippen und er die ihrigen. Sie segnen einander feierlich. Die freie Hand zittert nicht, nachdem er sie losgelassen hat, und in den holden, strahlenden Mut des geduldigen Gesichts mischt sich kein unedler Zug. Sie geht unmittelbar vor ihm hin es ist vorbei. Die strickenden Weiber zählen Zweiundzwanzig.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben, sagt der Herr. Wer an mich glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebt und an mich glaubt, der wird nimmermehr sterben.«

Gemurmel vieler Stimmen. Viele Köpfe richten sich mehr in die Höhe; von dem äußeren Rande der Volksmasse drängen Fußtritte näher heran, so daß es massenhaft sich vorwärts arbeitet wie eine ungeheure, alles mit sich fortreißende Woge. Dreiundzwanzig.

Man sagte an jenem Abend in der Stadt von ihm, nie habe man dort ein friedvolleres Menschenantlitz gesehen. Ja, viele wollten sogar eine prophetische Erhabenheit darin erkannt haben.

Eines der denkwürdigsten Schlachtopfer der Revolution eine Frau hatte nicht lange vorher am Fuße des Schafotts um die Erlaubnis gebeten, die Gedanken niederzuschreiben, die sie erfüllten. Hätte er den seinigen sie waren prophetisch Ausdruck leihen wollen, so würden sie folgendermaßen gelautet haben.

»Ich sehe Barsad und Cly, Defarge, die Rache, den Geschworenen, den Richter und lange Reihen von neuen Unterdrückern, die aus dem Untergang der alten hervorsprossen, unter diesem vergeltenden Instrument fallen, ehe es seinem gegenwärtigen Gebrauch entzogen wird. Ich sehe eine schöne Stadt und ein prächtiges Volk aus diesem Abgrunde sich erheben; und in seinen Kämpfen um wahre Freiheit, in seinen Triumphen und Niederlagen durch eine lange Reihe von Jahren hindurch sehe ich das Böse dieser Zeit und der vergangenen, aus der es naturgemäß hervorwuchs, allmählich sich sühnen und untergehen.

Ich sehe die Leben, für die ich das meinige opferte, im Frieden und Wohlstand, nützlich und glücklich verrinnen in jenem England, das mein Auge nicht mehr schauen wird. Ich sehe sie mit einem Kind auf ihrem Schoße, das meinen Namen trägt. Ich sehe ihren Vater, alt und gebeugt, aber sonst vollkommen genesen, wie er prunklos und getreu die Pflichten seines Berufes gegen jedermann übt. Ich sehe, wie zehn Jahre später der wohlwollende alte Mann, der so lange ihr Freund war, ruhig in die Ewigkeit eingeht zu seinem Lohn, nachdem er sie mit seinem ganzen Besitztum bereichert hat.

Ich sehe, daß ich mir ein Heiligtum erbaut habe in ihren Herzen und in den Herzen ihrer Nachkommen auf Generationen hinein. Ich sehe sie, wie sie als eine alte Frau bei jeder Wiederkehr dieses Tages mir eine Träne weiht. Ich sehe, wie sie nach vollbrachtem Laufe an der Seite ihres Gatten in ihrem letzten Erdenbette ruht, und weiß, daß keines das andere in seinem Herzen mehr ehrte und heiliger hielt, als beide mich ehrten und heilig hielten.

Ich sehe das Kind, das auf ihrem Schoß ruhte und meinen Namen trägt, zum Manne gereift, wie er sich aufwärts schwingt auf dem Pfad, der vordem der meinige war. Ich sehe ihn meinen Namen herrlich machen durch das Licht des seinigen und sehe, wie die Flecken, die ich ihm anheftete, verblichen sind. Ich sehe ihn zuvörderst unter gerechten Richtern und geehrten Männern sehe, wie er einen Knaben meines Namens mit dem goldigen Haar und der Stirn, die ich kenne, zu diesem Platz bringt er ist jetzt schön anzusehen und zeigt keine Spur mehr von der Entstellung der Vergangenheit , und höre, wie er mit weicher, bebender Stimme dem Kleinen meine Geschichte erzählt.

Es ist etwas weit, weit Besseres, was ich tue, als was ich je getan habe; und die Ruhe, in die ich eingehe, ist eine weit, weit bessere, als mir je zuteil wurde.«

Fünftes Kapitel. Die Weinschenke.


Fünftes Kapitel. Die Weinschenke.

Ein großes Weinfaß war auf die Straße gefallen und geborsten. Der Unfall hatte sich zugetragen, als man es abladen wollte; man konnte es nicht mehr halten. Durch die Gewalt des Anpralls sprangen die Reifen, und da lag es nun unmittelbar vor der Kellertüre wie eine Nußschale zerschellt auf den Steinen.

Wer in der Nähe war, gab seine Arbeit oder seinen Müßiggang auf und eilte nach der Stelle, um von dem Wein etwas abzufangen. Die rauhen, unregelmäßigen Pflastersteine, mit denen die Straße überall belegt war und die ausdrücklich dazu bestimmt zu sein schienen, die Annäherung aller lebenden Wesen zu lähmen, hatten die kostbare Flüssigkeit in kleine Lachen abgedämmt, die nach dem Maßstab ihrer Größe von lärmenden Banden umlagert wurden. Dort knieten einige Männer nieder, machten aus den aneinandergefügten beiden Händen Löffel und schlürften daraus, oder versuchten den Weibern, die sich über ihre Schultern niederbeugten, zu etwas zu verhelfen, ehe der Wein zwischen ihren Fingern durchgelaufen war. Hier brauchten Männer und Weiber alte Topfscherben als Trinknäpfe oder tauchten die Kopftücher der Frauen ein, um sie in den Mund der Kinder auszuwringen. Die einen bauten kleine Schlammdämme, um den entströmenden Wein aufzuhalten, andere stürzten nach der Weisung von Leuten, die von den Fenstern aus zusahen, da und dorthin, um die Bächlein abzuschneiden, die eine neue Richtung einschlagen wollten, und wieder andere hielten sich an die mit Hefe gefärbten Faßdauben, deren vom Wein getränkte Teile sie mit besonderem Hochgenuß beleckten und sogar benagten. Man bedurfte keiner Rinnen, um den Wein abzulassen; aber gleichwohl verschwand er und mit ihm so viel Staub, daß kein Gassenkehrer sauberer hätte fegen können.

Während der Dauer dieses Weinspiels tönte helles Gelächter und der Schall fröhlicher Stimmen aus dem Mund von Männern, Weibern und Kindern durch die Straße. Es ging zwar ziemlich roh, aber auch spaßhaft genug her; denn rasch hatte sich geselliges Wesen und die augenfällige Neigung eines jeden, sich dem andern anzuschließen, entwickelt, so daß es namentlich unter den Glücklicheren oder Leichtherzigeren bald zu fröhlichen Umarmungen, wechselseitigen Toasten, Händedrücken und selbst zu lustigen Tänzen kam, zu denen man sich zu Dutzenden vereinigte. Die Demonstrationen hörten übrigens ebenso plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatten, sobald der Wein ausgeschlürft war und die rechenartig arbeitenden Finger jede Stelle, wo er besonders massenhaft gestanden, mit der Zeichnung eines Bratrostes versehen hatten. Der Holzspalter setzte die Säge, die er in dem Scheit hatte stecken lassen, wieder in Bewegung. Die Frau kehrte nach ihrem auf der Türschwelle abgesetzten Aschentopf zurück, mit dem sie an sich selbst oder an ihrem Kinde den Schmerz der durchfrorenen Finger und Zehen zu beschwichtigen versuchte; Männer mit nackten Armen, verfilzten Haaren und leichenfahlen Gesichtern, die aus Kellergeschossen an das winterliche Licht emporgekommen waren, verschwanden wieder in ihren Höhlen, und über den Schauplatz verbreitete sich ein Düster, das ihm weit natürlicher stand als der Sonnenschein.

Es war ein Rotwein gewesen und die Stelle, wo er ausgeflossen war, eine enge Straße der Vorstadt Saint Antoine in Paris. Er hatte auch viele Hände, viele Gesichter, manchen nackten Fuß und manchen Holzschuh gefärbt. Die Hände der Holzhacker ließen rote Fingerabdrücke an den Scheiten zurück, und die Stirn des Weibes mit dem Kind war von dem alten Lumpen befleckt, den sie sich wieder um den Kopf gewunden. Diejenigen, die sich an den Faßdauben erlabt hatten, zeigten ein getigertes Untergesicht, und ein auf diese Weise beschmierter, langer Spaßmacher, an dessen Kopfseite eine schmutzige, lange Zipfelmütze niederfiel, malte mit seinen in die trübe Weinhefe getauchten Fingern das Wort Blut an eine Wand.

Es sollte eine Zeit kommen, in der auch solcher Wein in den Straßen ausgegossen wurde und sein Rot viele Pflastersteine färbte.

Als nun auf Saint Antoine die Wolke wieder lagerte, die ein flüchtiger Sonnenblick von seinem Antlitz verdrängt hatte, trat abermals tiefe Finsternis ein; Kälte, Schmutz, Krankheit und Not waren die Kammerherrn des Heiligen – lauter mächtige Edle, namentlich der letztere. Abgezehrte Fabrikarbeiter standen fröstelnd an den Ecken, gingen in den Häusern aus und ein, schauten aus jedem Fenster und ließen ihre armseligen Fähnlein im Winde flattern. Die Fabrik, in der sie sich so heruntergearbeitet hatten, hatte nichts gemein mit jener fabelhaften Mühle, die alte Leute jung machte, sondern übte gerade die entgegengesetzte Wirkung aus. Die Kinder hatten alte Gesichter und tiefe Stimmen, und auf jedem derselben war mit stets erneuten, tiefen Furchen das Zeichen des Hungers eingegraben. Dies erschien als der vorherrschende Zug. Der Hunger sprach aus den hohen Häusern heraus in den armseligen Linnen, die an den ausgespannten Seilen hingen, und wurde mit Stroh und Lumpen, Holz und Papier in sie hineingeflickt. Hunger bedeutete jeder der kleinen Holzabschnitte, die unter der Säge des Holzhacker fielen. Hunger glotzte aus den rauchlosen Schornsteinen in die Tiefe und schoß aus der schmutzigen Straße auf, in deren Kehricht sich kein Abfall vom Essen befand. Hunger war die Inschrift der Bäckersimse, deutlich ausgedrückt in den kleinen Laiben und dem spärlichen Brotvorrat – die der Wurstläden, lesbar in den Präparaten aus krepierten Hunden, die zum Verkauf ausgeboten wurden. Der Hunger ließ seine dürren Knochen rasseln unter den in der gedrehten Walze röstenden Kastanien und zeigte sein Skelett auf jedem Teller mit schlechten, in einigen Tropfen widerstrebenden Öls gebratenen Kartoffeln.

Der Tummelplatz war in jeder Beziehung für ihn passend. Eine enge, krumme Straße voll Unflat und Gestank, die in die andern engen, krummen Straßen einmündete, alle bevölkert von Lumpen und Nachtmützen, alle riechend nach Lumpen und Nachtmützen, und in allen sichtbaren Dingen ein düsteres, brütendes Aussehen zeigend. In den abgezehrten Mienen der Menschen war da und dort noch so eine Art Raubtiergedanke von der Möglichkeit eines Widerstandes zu lesen. Wie gedrückt sie auch dahinschlichen, fehlte es ihnen doch nicht an Augen voll Feuer, an zusammengepreßten Lippen, blaß von dem, was sie unterdrückten, und an Stirnen, gefurcht nach Art des Stricks, den zu erdulden oder zu handhaben ihnen beschieden war. Die Geschäftschilde, deren es fast so viele gab wie Läden, zeigten lauter grauenhafte Schilderungen des Mangels. Der Rindvieh- und der Schweinemetzger hatten nur die magersten Fleischstücke, die Bäcker die kleinsten Laibe rauhen Brotes abbilden lassen. Die abgemalten Gäste in dem Schilde der Weinbuden krächzten in hohläugiger Vertraulichkeit über dem spärlich zugemessenen dünnen Wein oder Bier. Nichts war in einem ordentlichen Zustand dargestellt als das Arbeitsgerät und die Waffen; allerdings, die Messer und Äxte waren scharf, die Schmiedehämmer schwer und die Vorräte des Büchsenmachers mörderisch. Das lahmmachende Pflaster mit seinen vielen kleinen Schlamm- und Wasserpfützen hatte keine Trottoirs, sondern begann unmittelbar vor der Tür. Zur Schadloshaltung lief die Gosse durch die Mitte der Straße – das heißt, wenn sie überhaupt lief, und das geschah nur nach schweren Regengüssen, die dann auch gelegentlich durch ihre exzentrischen Kundgebungen die Häuser füllten. In weiten Zwischenräumen sah man quer über die Straßen je eine einzige schwerfällige Laterne an einem Seil und einem Klobenpfahl aufgehangen, und wenn sie dann nachts von dem Lampenwärter niedergelassen, angezündet und wieder aufgezogen wurde, pendelte über den Köpfen eine weit auseinandergezerrte Reihe von düster brennenden Dochten so krankhaft, als wären sie auf dem Meer. Und so konnte man es auch nennen; sie zitterten auf einem Meer, und Schiff und Mannschaft stand in Sturmesgefahr.

Denn es sollte eine Zeit eintreten, in der die hagern Vogelscheuchen jenes Stadtteils in ihrem Müßiggang und Hunger dem Lampenwärter so lang zugesehen hatten, daß ihnen der Gedanke kam, seine Methode zu verbessern und an jenen Seilen und Klobenpfählen Menschen in die Höhe zu ziehen, damit sie grell hineinleuchten möchten in die Nacht ihrer Lage. Aber die Stunde war noch nicht gekommen, und jeder Wind, der über Frankreich hinblies, schüttelte vergeblich die Lumpen der Vogelscheuchen; die Vögel mit ihrem schönen Gesang und Gefieder ließen sich nicht warnen.

Der Weinschank war ein Eckhaus von besserem Aussehen als die meisten anderen, und der Besitzer desselben stand in gelber Weste und grünen Beinkleidern vor der Tür und sah dem Kampf um den ausgelaufenen Wein zu. »Geht mich nichts an«, sagte er mit einem schließlichen Achselzucken. »Die Lieferung geschah auf Gefahr des Verkäufers; er mag für eine andere sorgen.«

Seine Augen fielen zufällig auf den langen Spaßmacher, als er mit seinem Witz die Wand bekleckste, und er rief ihm über die Straße hinüber zu:

»He, Gaspard, was macht Ihr da?«

Der Kerl schien in seinem Spaß, wie es bei Leuten seines Schlages gern der Fall ist, große Bedeutung zu sehen, verfehlte aber doch, wie es bei Leuten dieser Gattung gleichfalls oft zutrifft, vollständig seinen Zweck.

»Was soll das? Seid Ihr denn fürs Tollhaus reif?« sagte der Weinwirt, über die Straße hinübergehend und den Spaß mit einer Handvoll Gassenkot austilgend, den er aufnahm und darüber hinschmierte. »Warum schreibt Ihr das in offener Straße? Gibt es denn – hört Ihr – gibt es denn keinen andern Platz, um solche Worte hinzuschreiben?«

Während dieser Vorstellung ließ er, vielleicht zufällig, vielleicht auch nicht, seine reinlichere Hand in die Richtung von des Spaßmachers Herzen sinken. Dieser klopfte mit seiner eigenen darauf, tat einen hurtigen Sprung in die Höhe und nahm dann die Haltung eines phantastischen Tänzers an, schuppte sich seinen beschmutzten Schuh vom Fuß in die Hand, und streckte ihn aus … Unter diesen Umständen erschien der Spaßmacher in einer außerordentlich, um nicht zu sagen wolfartig praktischen Rolle.

»Zieht ihn nur wieder an, zieht ihn an«, sagte der andere. »Bestellt Wein, Wein, und laßt’s dabei bewenden.«

Nach diesem Rat wischte er sich ganz bedächtig seine beschmutzte Hand an dem Kleid des Spaßmachers ab, als sei dieser schuld gewesen an der Verunreinigung, kehrte nach seinem Haus zurück und trat in seine Weinstube.

Der Wirt war ein stiernackig, martialisch aussehender Mann von dreißig und mußte wohl von sehr hitziger Körperbeschaffenheit sein, da er trotz des bitter kalten Tages seinen Rock nicht auf dem Leib, sondern über die Schultern geschlenkert trug. Seine Hemdärmel waren aufgerollt und seine braunen Arme bis zum Ellbogen nackt. Auch hatte er keine andere Kopfbedeckung als sein kurzgeschnittenes, krauses, schwarzes Haar. Er selbst war ein dunkelfarbiger Mann mit grauen Augen und einer breiten, kühnen Nasenbrücke dazwischen. Im ganzen sah er gutlaunig, dabei aber auch unversöhnlich aus, und Entschiedenheit des Willens und des Entschlusses waren ihm auf die Stirne gezeichnet, Juan mußte sich wohl vorsehen, ihm entgegenzutreten, wenn er eine enge Steige mit einem Abgrund auf jeder Seite hinabstürmte, da diesen Mann nichts zum Ausweichen gebracht haben würde.

Als er hereinkam, saß seine Frau, Madame Defarge, hinter dem Zahltisch der Gaststube. Sie war eine stämmige Frau von dem Alter ihres Gatten und hatte ein wachsames Augenpaar, das selten auf etwas hinzuschauen schien. Ihre große Hand war mit schweren Ringen geschmückt, und ihr gesetztes, derbzügiges Gesicht verriet große Selbstbeherrschung. Überhaupt zeigte Madame Defarge etwas so Charakteristisches, daß man von ihr zum voraus sagen konnte, sie mache in den Rechnungen, denen sie vorstand, nicht leicht einen Verstoß zu ihrem Nachteil. Da sie sehr empfindlich gegen Kälte war, hatte sie sich in einen Pelz gehüllt und außerdem ein mächtiges, hellfarbiges Tuch um den Kopf gebunden, das jedoch nicht bis zu den großen Ohrenringen niederreichte. Ihr Strickzeug lag müßig vor ihr, da sie eben mit dem Ausstochern ihrer Zähne beschäftigt war, und in dieser Arbeit mußte ihre linke Hand den rechten Ellenbogen unterstützen. Als ihr Eheherr eintrat, sagte sie nichts, sondern hustete nur ganz leichthin. Dies mit dem Erheben ihrer dunkel gezeichneten Augenbrauen um die Breite einer Linie über ihren Zahnstocher deutete dem Gatten an, daß er gut tun werde, sich im Zimmer nach den Gästen umzusehen, da während seiner kurzen Abwesenheit neue Kundschaft eingetreten sei.

Der Weinwirt ließ seine Augen umherschweifen, bis sie auf einem ältlichen Herrn und einem jungen Frauenzimmer, die in einer Ecke saßen, haften blieben. Es war auch andere Gesellschaft da; ein Paar spielte Karten, ein anderes machte eine Dominopartie, und drei standen neben dem Schenktisch und schlürften sparsam den kleinen Rest ihres Weines. Als der Wirt hinter den Tisch trat, fiel ihm auf, daß der ältliche Herr mit einem Blick auf die junge Dame die Worte fallen ließ:

»Dies ist unser Mann.«

»Was Teufels wollt ihr in dieser Galeere da?« sagte Monsieur Defarge zu sich selbst; »ich kenne euch nicht.«

Er stellte sich an, als nehme er keine Notiz von den beiden Fremden, sondern ließ sich mit dem Kundentriumvirat, das neben dem Schenktisch trank, in ein Gespräch ein.

»Wie geht es, Jacques?« sagte einer von den dreien zu Monsieur Defarge. »Ist aller ausgeflossener Wein schon versorgt?«

»Bis auf den letzten Tropfen, Jacques«, antwortete Monsieur Defarge.

Nach diesem Austausch von Taufnamen hustete Madame Defarge, die noch immer ihre Zähne mit dem Stocher bearbeitete, wieder ein klein wenig und zog die Brauen um eine Linie höher.

»Es kommt nicht oft vor«, bemerkte der zweite von den dreien gegen Monsieur Defarge, »daß dieser Haufe unglücklichen Viehs Wein oder überhaupt etwas anderes zu kosten kriegt als Schwarzbrot und Tod. Ist es nicht so, Jacques?«

»Jawohl, Jacques«, entgegnete Monsieur Defarge.

Nach diesem abermaligen Taufnamenaustausch hustete Madame Defarge, die in gründlicher Fassung noch immer ihren Zahnstocher handhabte, abermals ein wenig und erhob die Brauen um die Breite einer weitern Linie.

Nun brachte der Letzte von den dreien sein Sprüchlein an, nachdem er zuvor sein leeres Trinkglas schmatzend auf den Tisch niedergesetzt hatte.

»Ah, um so schlimmer. Dieses arme Gesindel hat immer einen bitteren Mund und ein saures Leben, Jacques. Hab‘ ich nicht recht, Jacques?«

»Sicherlich, Jacques«, lautete Monsieur Defarges Erwiderung. Dieser dritte Taufnamenaustausch war kaum beendigt, als Madame Defarge ihren Zahnstocher beiseite steckte, die Augenbrauen scharf in die Höhe zog und leicht in ihrem Sitze raschelte.

»Halt, da; richtig«, murmelte der Ehemann. »Messieurs, meine Frau.«

Die drei Gäste nahmen vor Madame Defarge die Hüte ab und schwenkten sie achtungsvoll. Sie dankte für diese Huldigung durch eine Verbeugung des Kopfes und durch einen raschen Blick, den sie über das Kleeblatt hingleiten ließ. Dann schaute sie sich rasch, als geschehe es nur zufällig, in der Zechstube um und nahm endlich mit dem Anschein großer Ruhe und geistiger Fassung ihr Strickzeug auf, in das sie sich alsbald völlig vertieft hatte.

»Meine Herren«, sagte ihr Gatte, der sein helles Auge nicht von ihr verwandte, »guten Tag. Das Zimmer für einen ledigen Herrn, das ihr zu sehen wünschtet und nach dem ihr mich fragtet, eh‘ ich hinausging, ist im fünften Stock. Die Treppe dazu findet ihr dort links in dem kleinen Hof (er deutete die Richtung mit der Hand an) neben dem Fenster meiner Wirtschaft. Doch ich erinnere mich – einer von euch ist ja schon dagewesen und kann den Weg zeigen. Adieu, meine Herren.«

Sie zahlten ihren Wein und entfernten sich. Monsieur Defarges Augen hafteten noch immer auf der strickenden Frau, als der ältliche Herr aus seiner Ecke hervortrat und um geneigtes Gehör bat.

»Recht gern, Herr«, versetzte Monsieur Defarge und trat ruhig mit ihm unter die Tür.

Ihr Gespräch war sehr kurz, aber auch sehr entschieden. Schon bei den ersten Worten fuhr Monsieur Defarge zusammen und wurde sehr aufmerksam. Er hatte keine Minute zugehört, als er nickte und hinausging. Der Herr winkte dann dem jungen Frauenzimmer und verließ mit ihr gleichfalls das Zimmer. Madame Defarge strickte mit hurtigen Fingern und ruhigen Augenbrauen und sah nichts.

Mr. Jarvis Lorry und Miß Manette trafen, sobald sie die Tür der Weinstube hinter sich geschlossen, in der Flur, nach der eben zuvor das Kleeblatt gewiesen worden war, wieder mit Monsieur Defarge zusammen. Die Flur führte zu einem stinkenden, kleinen Hinterhof und war der allgemeine Zugang zu einer ansehnlichen Häusergruppe, die von einer großen Menschenmenge bewohnt wurde. In dem dunkeln, mit Backsteinen gepflasterten Vorplatz zu der finsteren Backsteintreppe ließ sich Monsieur Defarge vor dem Kind seines alten Herrn auf ein Knie nieder und führte ihre Hand an seine Lippen. Die Handlung war zart, wurde aber nichts weniger als zart ausgeführt, und unmittelbar darauf kam eine merkwürdige Veränderung über den Mann. Sein Gesicht zeigte keinen Frohsinn, keine Offenheit mehr und verriet jetzt einen heimlichen, finsteren, gefährlichen Mann.

»Es ist sehr hoch und der Zugang etwas beschwerlich. Besser, wir fangen langsam an.« So sprach Monsieur Defarge mit rauher Stimme zu Mr. Lorry, als sie die Treppe hinanzusteigen begannen.

»Ist er allein?« flüsterte dieser.

»Allein! Gott behüte, wer sollte bei ihm sein?« antwortete der andere ebenso leise.

»Er ist also immer einsam?«

»Ja.«

»Auf sein Verlangen?«

»Aus Notwendigkeit. Wie er war, als ich ihn sah, nachdem man mich aufgefunden und befragt hatte, ob ich ihn aufnehmen und auf meine Gefahr hin verschwiegen sein wolle, – wie er damals war, so ist er auch jetzt.«

»Wohl sehr verändert?«

»Verändert!«

Der Wirt hielt an, um mit seiner Hand gegen die Mauer zu schlagen und einen schweren Fluch vor sich hinzumurmeln. Keine unmittelbare Antwort hätte nur halb so nachdrücklich sein können. Mr. Lorry fühlte sich bedrückter und bedrückter, je höher er mit seinen beiden Begleitern hinaufkam.

Eine solche Treppe mit ihren Zugaben in den älteren, übervölkerten Stadtteilen von Paris würde schon heutzutage schlimm genug sein, war aber damals für nicht daran gewöhnte und nicht abgehärtete Sinne etwas Abscheuliches. Jede kleine Wohnung innerhalb der großen Kloake eines einzigen hohen Hauses, das heißt jede Stube, jede Räumlichkeit hinter der nach der gemeinsamen Treppe hinausführenden Tür setzte ihren Haufen Unrat, den Rest von dem, was nicht zu den Fenstern hinausgeworfen wurde, auf ihrem Vorplatz ab. Die nicht zu bewältigende, hoffnungslose Masse von Fäulnis, zu der in solcher Weise die Bedingungen gegeben waren, würde die Luft verpestet haben auch ohne die nicht greifbaren Verunreinigungen, die im Gefolge von Armut und Elend auftreten. Beide zusammen aber bildeten ein fast unerträgliches Gemenge. Durch eine solche Atmosphäre und über Haufen giftigen Abfalls führte der Weg. Die Unruhe des eigenen Geistes und die Aufregung des Mädchens, die sich mit jedem Augenblick steigerte, bewogen Mr. Jarvis Lorry zweimal, haltzumachen und auszuruhen. Dies geschah jedesmal vor einem kläglichen Fenstergitter, durch das jedes noch gesund gebliebene Lüftchen zu entweichen und alle verderbten, eklen Dünste einzudringen schienen. Durch die rostigen Eisenstäbe gewahrte man eher durch das Geruch- als durch das Gesichtsorgan die aufeinander hockenden Nachbarhäuser, unter denen, soweit man sehen konnte, nichts auf gesundes Leben und Streben deutete als die beiden hohen Türme der Kirche von Notre-Dame.

Endlich war die Höhe der Treppe erreicht, und sie machten zum drittenmal halt. Aber es führte eine steilere und engere Obertreppe noch weiter hinauf, bis man in das Dachgeschoß gelangte. Der Wirt, der immer vorausging und sich auf der Seite hielt, auf der sich Mr. Lorry befand, weil er vielleicht von der jungen Dame befragt zu werden fürchtete, wandte sich hier um, betastete sorgfältig die Taschen des über seinen Rücken hängenden Rockes und nahm einen Schlüssel heraus.

»Ist denn die Tür verschlossen, mein Freund?« fragte Mr. Lorry erstaunt.

»Ja«, lautete Monsieur Defarges grämliche Antwort.

»Ihr haltet es also für nötig, daß der unglückliche Mann so zurückgezogen lebe?«

»Ich halte es für nötig, den Schlüssel umzudrehen«, flüsterte ihm Monsieur Defarge mit gerunzelter Stirn ins Ohr.

»Warum?«

»Warum? Weil er so lang eingesperrt gelebt hat, daß er sich fürchten, rasend werden, sich selbst in Stücke reißen, sterben oder weiß Gott welchen Schaden nehmen würde, wenn ich seine Tür offen ließe.«

»Ist es möglich!« rief Mr. Lorry.

»Ob es möglich ist?« entgegnete Defarge mit Bitterkeit. »Jawohl. Wir leben in einer sauberen Welt, wo so etwas möglich ist und wo so viele andere Dinge möglich und nicht nur möglich sind, sondern wirklich geschehen – ja, seht Ihr, unter diesem Himmel, jeden Tag wirklich geschehen. Es lebe der Teufel! Laßt uns weitergehen.«

Dieses Zwiegespräch war in einem so leisen Geflüster abgehalten worden, daß keine Silbe davon das Ohr der jungen Dame erreichte. Jetzt aber zitterte sie unter einer so gewaltigen Aufregung, und ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck von so tiefer Angst, vor allem aber von Furcht und Schrecken, daß Mr. Lorry sich für verpflichtet hielt, ein paar Worte der Ermutigung an sie zu richten.

»Mut, meine teure Miß! Mut! Geschäft! Das Schlimmste wird in einem Augenblick vorüber sein; es ist herum, sobald man die Schwelle überschritten hat. Dann beginnt all das Gute, das Ihr ihm bringt, aller Trost und alles Glück, das Ihr ihm schaffen könnt. Erlaubt unserem guten Freund hier, Euch auf der andern Seite zu unterstützen. Recht so, Freund Defarge. Kommt jetzt. Geschäft, Geschäft!«

Sie stiegen langsam und leise vollends hinan. Die Treppe war kurz und das Ende bald erreicht. Da sie jedoch auf dem halben Wege einen Winkel machte, wurden sie plötzlich drei Männer gewahr, die neben der Tür die Köpfe zusammengesteckt hielten und augenscheinlich durch einige Risse oder Löcher der Mauer in das dahinter befindliche Gemach hineinsahen. Die nahen Fußtritte bewogen die drei sich aufzurichten und umzuwenden; es waren die Männer mit dem gleichen Vornamen, die unten Wein getrunken hatten.

»In der Überraschung Eures Besuches habe ich sie vergessen«, bemerkte Monsieur Defarge erklärend. »Geht jetzt, meine guten Kinder; wir haben ein Geschäft da.«

Die drei glitten vorüber und leise die Treppe hinab.

Da sich auf diesem Boden augenscheinlich keine andere Tür befand und der Wirt, sobald sie allein waren, geradewegs auf diese einzige zuging, so fragte ihn Mr. Lorry flüsternd, aber mit einigem Unwillen:

»Stellt Ihr denn Monsieur Manette zur Schau aus?«

»Ich zeige ihn auf diese Weise, wie Ihr’s gesehen habt, einigen wenigen Auserwählten.«

»Ist dies recht?«

»Ich denke wohl.«

»Wer sind die wenigen? Wie wählt Ihr sie?«

»Ich sehe dabei auf reelle Männer meines Namens – Jacques ist mein Name –, von denen ich glaube, daß ihnen der Anblick gut tun werde. Genug – Ihr seid ein Engländer; das ist etwas anderes. Habt die Güte, einen Augenblick hier stehenzubleiben.«

Mit einer abwehrenden Gebärde beugte er sich nieder und schaute durch den Spalt in der Mauer, erhob den Kopf aber bald wieder und schlug zwei- oder dreimal gegen die Tür, augenscheinlich in keiner andern Absicht, als um Lärm zu machen. Ebenso rasselte er etlichemal mit dem Schlüssel über die Tür hin, ehe er diesen derb in das Schloß stieß und so geräuschvoll wie nur möglich darin umdrehte.

Die Tür ging unter seiner Hand langsam nach innen auf. Er sah hinein und sagte etwas. Eine schwache Stimme antwortete darauf. Es konnte beiderseits wenig mehr als eine Silbe gesprochen worden sein.

Monsieur Defarge schaute über die Schulter zurück und winkte seinen Begleitern, einzutreten. Mr. Lorry schlang seinen Arm um den Leib seiner Begleiterin und hielt sie fest; denn er fühlte, daß sie ohnmächtig werden wollte.

»Ein – ein – ein Geschäft, Geschäft!« drängte er, und auf seiner Wange zeigte sich ein Naß, das jedenfalls dort kein Geschäft hatte. »Kommt mit – kommt!«

»Ich fürchte mich«, entgegnete das Mädchen schaudernd.

»Vor was?«

»Vor ihm – vor meinem Vater.«

Durch Miß Manettes Zustand und das Winken des Führers in Verzweiflung gebracht, schlang er den Arm, der auf seiner Schulter zitterte, um seinen Hals, hob sie ein wenig empor und eilte mit ihr in das Gemach; dann setzte er sie unmittelbar hinter der Schwelle wieder ab, ohne die sich an ihn Anklammernde loszulassen.

Defarge nahm den Schlüssel wieder heraus, machte die Tür zu und schloß sie von innen ab, dann zog er den Schlüssel ab und behielt ihn in der Hand. Alles dies tat er methodisch und so geräuschvoll wie nur möglich. Endlich ging er gemessenen Schritts durch die Kammer nach dem Fenster hin, wo er haltmachte und sich umwandte.

Die Dachkammer hatte ursprünglich die Bestimmung, zur Aufbewahrung von Brennholz und dergleichen zu dienen, und bestand in einem düstern, dunklen Gelaß. Das Fenster im Dach war eigentlich eine Tür mit einem kleinen Kran darüber, um von der Straße aus Vorräte in die Höhe ziehen zu können, hatte keine Scheiben und bestand wie jede andere Tür von französischer Konstruktion aus zwei Flügeln. Um die Kälte abzuwehren, war der eine Flügel fest geschlossen und der andere nur ein wenig geöffnet; durch den schmalen Spalt aber drang das Licht nur so spärlich ein, daß man unmittelbar nach dem Eintreten nichts sehen konnte, und nur lange Gewohnheit vermochte irgend jemand in die Lage zu bringen, bei solcher Beleuchtung eine Arbeit vorzunehmen. Und doch wurde in diesem Dachraume gearbeitet. Den Rücken der Tür und das Gesicht dem Fenster zugewandt, vor dem der Wirt zusehend stand, saß ein weißhaariger Mann auf einer niedrigen Bank. Er hatte den Körper vorwärts gebeugt und machte eifrig Schuhe.

Sechstes Kapitel. Der Schuhmacher.


Sechstes Kapitel. Der Schuhmacher.

»Guten Tag!« sagte Monsieur Defarge, auf den über einen Schuh hingebeugten weißen Kopf niederblickend.

Der Kopf richtete sich für einen Augenblick auf, und eine sehr schwache Stimme, als komme sie aus weiter Ferne, antwortete auf den Gruß:

»Guten Tag!«

»Ich sehe, Ihr seid eifrig beim Geschäft?«

Nach einer langen Pause erhob sich der weiße Kopf abermals, und die Stimme versetzte:

»Ja – ich arbeite.«

Diesmal hatten auch ein Paar hohle Augen den Frager angeblickt, ehe sich das Gesicht wieder senkte.

Die Schwäche der Stimme war erschütternd mitleiderregend. Man konnte sie keine körperliche Schwäche nennen, obschon langer Kerker und schlechte Kost ohne Zweifel mit zu den Ursachen gehörten. Ihre bejammernswürdige Eigentümlichkeit bestand in dem Umstand, daß sie eine Frucht der Einsamkeit und des völligen Mangels an Übung war. Die Stimme klang wie das letzte matte Echo eines lange zuvor ins Weite gerufenen Tons und hatte das Leben, den Klang der menschlichen Stimme so ganz und gar verloren, daß sie auf die Sinne den Eindruck einer Farbe machte, die einmal schön war, jetzt aber zu einem matten Fleck verblichen ist. Sie klang so gedämpft und verfallen, daß sie unter dem Boden hervorzukommen schien, und deutete so ausdrucksvoll auf ein hoffnungsloses, verlorenes Wesens, daß der Ton den Hörenden unwillkürlich an einen in der Wüste verirrten, verhungernden Reisenden erinnerte, der der Heimat und seinen Freunden noch ein Lebewohl zuruft, ehe er sich hinlegt, um zu sterben.

Einige Minuten stummer Arbeit waren vergangen, und die hohlen Augen hatten wieder aufgeblickt – nicht etwa aus Interesse oder Neugier, sondern vorläufig nur unter dem mechanischen Eindruck, daß die Stelle, wo der einzige zu ihrer Wahrnehmung gekommene Besuch stand, noch nicht leer sei.

»Ich möchte etwas mehr Licht einlassen«, sagte Defarge, der seinen Blick nicht von dem Schuhmacher verwandt hatte. »Könnt Ihr ein bißchen mehr Helle vertragen?«

Der Schuhmacher hielt in seiner Arbeit inne, schaute mit einer ausdruckslosen Miene des Horchen« bald rechts, bald links von sich auf den Boden und sah endlich zu dem Sprecher auf.

»Was habt Ihr gesagt?«

»Ob Ihr mehr Helle vertragen könnet?«

»Ich muß wohl, wenn Ihr sie hereinlaßt.«

Er legte einen blassen Schatten von Nachdruck auf das zweite Wort.

Die angelehnte Halbtür wurde ein wenig weiter geöffnet und vorderhand unter diesem Winkel befestigt. Ein breiter Lichtstreifen fiel in die Kammer und beleuchtete den ruhenden Arbeiter mit einem unvollendeten Schuh auf seinem Schoß. Sein Werkzeug und einige Stücke Leder lagen zu seinen Füßen und auf der Bank. Er hatte einen weißen, struppigen, aber nicht sehr langen Bart, ein hageres Gesicht und ungemein helle Augen. Letztere hätten in den tiefen Höhlen, dem welken Zug unter den noch immer dunkeln Augenbrauen und unter dem weißen Haar groß erscheinen müssen, wenn sie auch das Gegenteil gewesen wären. Bei ihrer natürlichen Größe aber hatten sie ein wahrhaft unheimliches Aussehen gewonnen. Das zerfetzte gelbe Hemd ließ die Brust offen und zeigte einen völlig maroden Körper. Er, sein altes Kanevaswams, seine losen Strümpfe und die übrigen Kleiderlumpen waren in der langen Abgeschiedenheit von Licht und Luft zu einem so gleichförmigen Pergamentgelb verblichen, daß man kaum einen Unterschied mehr entdecken konnte.

Er hatte seine Hand zwischen seine Augen und das Licht gebracht, und sogar die Knochen schienen durchsichtig zu sein. So saß er mit leerem Blicke da und ließ seine Arbeit ruhen. Er schaute nie auf die Gestalt vor ihm, ohne vorher rechts und links an sich niederzusehen, als habe er die Gewohnheit verlernt, den Ton mit einem Ort in Verbindung zu bringen: auch sprach er nie, ohne sich zuvor in dieser unsteten Weise zu ergehen, die ihn gelegentlich auch das Reden ganz und gar vergessen ließ.

»Werdet Ihr wohl heute noch dieses Paar Schuhe fertigbringen?« fragte Defarge, indem er Mr. Lorry winkte, näher zu treten.

»Was habt Ihr gesagt?«

»Ob Ihr Eure Schuhe heute noch fertigzubringen gedenkt.«

»Ich kann nicht sagen, ob ich’s imstande bin. Vermutlich. Ich weiß es nicht.«

Die Frage erinnerte ihn jedoch an seine Arbeit, und er beugte sich wieder darüber hin.

Mr. Lorry trat schweigend vor und ließ die Tochter an der Tür zurück. Er mochte ein paar Minuten neben Defarge gestanden haben, als der Schuhmacher wieder aufschaute. Dieser zeigte kein Erstaunen über das Vorhandensein einer weiteren Person; aber die unsteten Finger seiner einen Hand verirrten sich, während er so aufblickte, zu seinen Lippen, die mit den Nägeln die blasse Bleifarbe teilten. Dann ließ er die Hand wieder auf seine Arbeit sinken und beugte sich abermals über den Schuh. Das Aufsehen und die Gebärde hatte nur einen Augenblick gedauert.

»Ihr seht. Ihr habt einen Besuch«, sagte Monsieur Defarge.

»Was habt Ihr gesagt?«

»Hier ist ein Besuch.«

Der Schuhmacher schaute wieder wie zuvor auf, ohne jedoch die Hand von seiner Arbeit zu entfernen.

»Gebt her«, sagte Defarge, »Hier ist ein Herr, ein Kenner von guten Schuhen, wenn er welche sieht. Zeigt ihm die Arbeit, die Ihr vor Euch habt. Nehmt, Monsieur.«

Mr. Lorry nahm den Schuh in seine Hand.

»Sagt dem Herrn, was für ein Schuh dies ist und wer ihn gemacht hat.«

Es trat eine mehr als gewöhnlich lange Pause ein, bis der Schuhmacher endlich erwiderte:

»Ich vergaß, was Ihr mich fragtet. Was habt Ihr gesagt?«

»Ich sagte, ob Ihr nicht Monsieur darüber belehren wollet, was für ein Schuh dies sei.«

»Es ist ein Frauenzimmerschuh – ein Schuh zum Ausgehen für eine junge Dame. Ganz nach der gegenwärtigen Mode. Ich kenne zwar die Mode nicht aus eigener Anschauung, habe aber ein Muster in der Hand gehabt.«

Er blickte mit einem kleinen Anflug von Stolz auf seinen Schuh.

»Und wie heißt der Verfertiger?« fragte Defarge.

Da der alte Mann jetzt keine Arbeit zu halten hatte, so legte er zuerst die Knöchel seiner rechten Hand in die hohle Fläche der linken und dann die Knöchel der linken in die Fläche der rechten. Darauf fuhr er mit einer Hand über das bärtige Kinn. Dies trieb er eine Weile in regelmäßiger Abwechslung, ohne auch nur einen Augenblick auszusetzen. Die Aufgabe, ihn aus der Gedankenlosigkeit, in die er nach jeder seiner Reden versank, zu wecken, ließ sich mit den Belebungsversuchen an einem Ohnmächtigen oder mit der Bemühung vergleichen, den Geist eines rasch dahinsterbenden Menschen, von dem man noch eine Enthüllung wünscht, zurückzuhalten.

»Habt Ihr mich nach meinem Namen gefragt?«

»Jawohl.«

»Hundertundfünf, Nordturm.«

»Ist dies alles?«

»Hundertundfünf, Nordturm.«

Mit einem müden Ton, der weder ein Seufzen noch ein Stöhnen war, beugte er sich wieder vor, bis die Stille aufs neue unterbrochen wurde.

»Ihr seid kein Schuhmacher von Gewerbe?« sagte Mr. Lorry, ihn fest ansehend.

Die hohlen Augen richteten sich auf Defarge, als erwarteten sie von ihm die Beantwortung der Frage; da aber von dieser Seite her keine Hilfe kam, so suchten sie eine Weile den Boden und blieben endlich auf dem Frager haften.

»Ob ich ein Schuhmacher von Gewerbe sei? Nein, ich bin es nicht. Ich – ich habe es hier gelernt – aus mir selbst – ohne Lehrmeister. Ich bat um die Erlaubnis, mich –«

Er war aufs neue für einige Minuten weg und wiederholte während dieser Zeit die vorhin beschriebenen Gesten. Endlich kehrten seine Augen langsam zu dem Gesicht zurück, von dem sie abgeschweift waren, und ruhten darauf eine Weile, bis er zusammenfuhr und in der Art eines Schlafenden in dem Moment des Erwachens den unterbrochenen Gegenstand wiederaufnahm.

»Ich bat um die Erlaubnis, mich unterrichten zu dürfen, und erhielt sie auch lange Zeit nachher mit vieler Mühe. Seitdem habe ich immer Schuhe gemacht.«

Als er die Hand nach dem Schuh ausstreckte, der ihm abgenommen worden war, sagte Mr. Lorry, sein Gesicht unverwandt betrachtend:

»Monsieur Manette, erinnert Ihr Euch meiner nicht mehr?«

Der Schuh sank zu Boden, und der alte Mann starrte den Frager an.

»Monsieur Manette«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er seine Hand auf Desarges Arm legte, »erinnert Ihr Euch nicht mehr dieses Mannes? Seht ihn an. Seht mich an. Entsinnt Ihr Euch nicht eines alten Bankiers, eines alten Geschäfts, eines alten Dieners und einer früheren Zeit, Monsieur Manette?«

Wahrend der vieljährige Gefangene dasaß und mit seinem starren Blicke bald Mr. Lorry, bald Defarge ansah, drängten sich allmählich in der Mitte der Stirne einige längst verwischte Spuren tätigen Verstandes durch die dichte Nebelhülle. Aber sie traten schnell wieder in den Schatten zurück, wurden schwächer und waren entschwunden. Jedoch sie waren wenigstens dagewesen. Und so genau wiederholte sich der Ausdruck auf dem Antlitz des schönen jungen Wesens, das an der Wand hin nach einer Stelle geschlichen war, von der aus es ihn sehen konnte, und wo es jetzt stand, die Hände anfangs nur in angstvoller Teilnahme, vielleicht wohl gar in der Absicht erhebend, ihn zurückzuhalten oder seinen Anblick auszuschließen, jetzt aber sie gegen ihn ausstreckend, zitternd vor Begier, das gespenstische Gesicht an die warme jungfräuliche Brust zu drücken und es durch Liebe dem Leben und der Hoffnung zurückzugeben – ich sage, der Ausdruck wiederholte sich, obschon in kräftigeren Zügen, so genau auf dem schönen jugendlichen Antlitz, daß es den Anschein gewann, als sei es wie ein bewegliches Licht von ihm auf sie übergegangen.

Bei ihm war es wieder dunkel geworden. Er betrachtete die beiden weniger und weniger achtsam. Seine Augen suchten in düsterer Zerstreutheit abermals den Boden und schauten aufs neue in der alten Weise umher. Endlich nahm er mit einem tiefen Seufzer den Schuh auf und arbeitete weiter.

»Habt Ihr ihn erkannt, Monsieur?« fragte Defarge flüsternd.

»Ja, für einen Augenblick. Anfangs hatte ich keine Hoffnung, aber ein einziger Augenblick zeigte mir unzweifelhaft das Gesicht, das mir früher gut bekannt war. Pst! Wir wollen uns ein wenig zurückziehen. Pst!«

Sie war von der Wand der Kammer weg- und der Bank nahegetreten, auf der er saß. Es lag etwas Unheimliches in dem Umstand, daß er, während er mit seiner Arbeit beschäftigt war, so gar keine Ahnung hatte von der Gestalt, die, wenn sie ihre Hand ausstreckte, ihn berühren konnte.

Kein Wort wurde gesprochen, kein Laut fiel; sie stand wie ein Gespenst an seiner Seite, und er arbeitete fort.

Endlich fügte sich’s, daß er das Werkzeug in der Hand weglegen und die Zange nehmen mußte. Sie lag auf der andern Seite, nicht auf der, wo das Mädchen stand. Er hatte sie ergriffen und beugte sich wieder über seine Arbeit hin, als seine Augen den Schoß ihres Kleides bemerkten. Er richtete sich auf und sah ihr Gesicht. Die beiden Zuschauer wollten vorwärts eilen, aber sie winkte ihnen zurück. Sie fürchtete nicht, daß er sie mit der Zange beschädigen könnte; nur ihnen war nicht wohl zumute bei der Sache.

Er starrte sie mit einem besorgniserregenden Blick an, und nach einer Weile begannen seine Lippen einige Worte zu bilden, ohne jedoch Laute hervorzubringen. Endlich hörte man ihn während einer der Pausen zwischen seinen raschen und schweren Atemzügen sagen:

»Was ist das?«

Tränen entströmten ihren Augen, während sie ihre beiden Hände an die Lippen führte und ihm einen Kuß zuwarf. Dann drückte sie die Hände an die Brust, als wolle sie das welke Haupt hier zur Ruhe bringen.

»Ihr seid doch nicht des Schließers Tochter?«

»Nein«, seufzte das Mädchen.

»Wer seid Ihr?«

Der Kraft ihrer Stimme noch nicht trauend, setzte sie sich auf der Bank an seine Seite. Er wich zurück, aber sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Ein seltsames Gefühl durchschauerte dabei seinen ganzen Körper; er legte sachte das Messer nieder und starrte sie an.

Sie hatte ihr goldiges Haar, das sie in langen Locken trug, rasch zurückgestrichen, so daß es über ihren Nacken niederfiel. Er brachte seine Hand allmählich näher und näher, faßte es an und betrachtete es. Dann aber wurde sein Geist plötzlich wieder irre, und er nahm mit einem abermaligen Seufzer aufs neue seine Arbeit auf.

Aber nicht für lange. Sie hatte seinen Arm losgelassen und die Hand auf seine Schulter gelegt. Nachdem er zweifelnd zwei- oder dreimal danach hingesehen, als wolle er sich überzeugen, daß sie wirklich daliege, schob er die Arbeit beiseite, griff nach seinem Hals und nahm von demselben eine geschwärzte Schnur, an der ein zusammengelegter Lappen befestigt war. Diesen breitete er sorgfältig auf seinem Knie auseinander und brachte ein kleines Löckchen hervor; es waren nur einige lange, goldige Haare, die er in irgendeiner alten Zeit wohl oft um seinen Finger gewunden hatte.

Er nahm ihr Haar wieder in seine Hand und betrachtete es aufmerksam.

»Es ist dasselbe. Wie kann dies sein? Wann war es? Wie war es?«

Die Furche auf seiner Stirn kehrte zurück, und er schien eines ähnlichen Ausdrucks auf der ihrigen sich bewußt zu werden. Er drehte sich voll gegen das Licht und sah sie an.

»Sie hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt an jenem Abend, als ich hinausgerufen wurde – sie fürchtete sich, als ich ging, obschon ich unbesorgt war –, und als man mich nach dem Nordturm brachte, fand man dies auf meinem Ärmel. ›Ihr laßt sie mir doch? Sie können nichts dazu beitragen, daß ich mich körperlich den Kerkermauern entwinde, obschon sie mich ihnen vielleicht geistig entziehen.‹ Dies waren die Worte, die ich sagte. Ich erinnere mich ihrer recht wohl.«

Seine Lippen mußten oftmal ansetzen, bis sie diese Rede hervorbrachten. Nachdem er aber einmal die Worte gefunden hatte, kamen sie zwar langsam, aber doch zusammenhängend zur Äußerung.

»Wie war dies? – Bist du’s gewesen

Abermals wollten die zwei Zuschauer sich ins Mittel legen, da er mit einer beängstigenden Hast sich zu ihr wandte. Sie aber rührte sich nicht unter seiner Hand, sondern sagte nur mit leiser Stimme:

»Ich bitte euch, meine guten Herrn, bleibt zurück – sprecht nicht, rührt euch nicht.«

»Horch!« rief er. »Wessen Stimme war dies?«

Bei diesem Ausruf ließen seine Hände sie los und fuhren nach dem weißen Haar, das sie wahnsinnig zerrauften. Doch auch diese Aufregung erstarb, wie alles in ihm erstorben war, sein Schuhmachen ausgenommen. Er faltete sein Päckchen wieder zusammen und versuchte, es in seiner Brust zu verbergen. Dabei sah er sie fortwährend an und schüttelte düster den Kopf.

»Nein, nein, nein: Ihr seid zu jung, zu blühend. Es kann nicht sein. Seht, was aus dem Gefangenen geworden ist. Dies sind nicht die Hände, die sie kannte. Dies Gesicht ist ihr fremd, und eine solche Stimme hat sie nie gehört. Nein, nein. Es sind Menschenalter, seit sie warseit er war – vor den langsamen Jahren des Nordturms. Wie heißt Ihr, mein zarter Engel?«

Den sanfteren Ton, das mildere Wesen mit Freude begrüßend, fiel die Tochter vor ihm auf die Knie nieder und legte bittend ihre Hände auf seine Brust.

»Oh, Herr, zu einer andern Zeit sollt Ihr erfahren, wie ich heiße, wer meine Mutter, wer mein Vater war, und wie ich nie etwas von ihrer schmerzlichen Geschichte erfahren habe. Jetzt aber, und hier, kann ich Euch dies nicht sagen. Nur eines jetzt und hier – ich bitte, rührt mich an und segnet mich. Küßt mich, küßt mich! O Himmel! o Himmel!«

Sein kalter weißer Kopf kam in Berührung mit ihrem wallenden Haar, das ihn wärmte, als sei es das Licht der Freiheit, das auf ihn niederschien.

»Wenn Ihr in meiner Stimme – ich weiß nicht, ob es so ist, aber ich hoffe es – wenn Ihr in meiner Stimme eine Ähnlichkeit mit einer andern erkennt, die früher wie süße Musik in Eurem Ohre klang, so weinet, weinet um sie! Wenn Ihr durch die Berührung meiner Haare an ein geliebtes Haupt erinnert werdet, das an Eurer Brust lag, als Ihr noch jung und frei waret, so weinet, weinet darum. Wenn Euch der Hinweis auf eine Heimat, in der Euch meine treuen Dienste zuteil werden sollen, eine andere ins Gedächtnis ruft, die längst verödet ist, während Euer armes Herz verschmachtete, so weint, weint um sie!«

Sie hielt seinen Hals inniger umschlungen und wiegte ihn an ihrer Brust wie ein Kind.

»O mein Lieber, Guter, wenn meine Versicherung, daß Euer Jammer vorüber ist und daß ich hierher gekommen bin, um Euch fort, hinüber nach England zu nehmen, wo Ihr Frieden und Ruhe finden werdet – wenn diese Versicherung den Gedanken an Euer zugrunde gerichtetes nützliches Leben und an unser heimatliches Frankreich, das so schändlich an Euch gehandelt hat, in Euch wachruft, so weinet. Und wenn Ihr aus der Nennung meines Namens, aus dem Namen meines noch lebenden Vaters und dem meiner heimgegangenen Mutter erkennt, ich habe kniefällig einen verehrten Vater um Verzeihung zu bitten, weil ich mich nicht für ihn tagtäglich abmühte und um seinetwillen nachts die bittersten Tränen vergoß, weil die Liebe meiner armen Mutter mir seinen schrecklichen Zustand verborgen hatte, so weinet, weinet darüber. Ja, weint um sie – und um mich! Meine guten Herren, Gott sei Dank! Ich fühle diese heiligen Tränen auf meinem Antlitz, und sein Schluchzen schlägt gegen mein Herz. Oh, seht – danket, danket Gott statt unserer.«

Wiederfinden von Vater und Tochter.

Er war in ihre Arme und sein Haupt an ihre Brust gesunken – ein Anblick, so rührend und doch so schrecklich in dem Gedanken an die vorausgegangenen erschütternden Leiden, daß die beiden Zuschauer das Gesicht verhüllten.

Die Stille der Dachkammer erlitt keine Störung, und seine wogende Brust, sein erschütterter Körper hatte längst die Ruhe gefunden, die, ein Sinnbild des Menschenlebens, jedem Sturm folgt. Endlich kamen sie heran, um Vater und Tochter von dem Boden aufzuheben. Er war allmählich hingesunken und lag in der Ohnmacht der Erschöpfung da; sie hatte sich zu ihm niedergeworfen, damit ihr Arm ihm zum Kissen, ihr wallendes Haar zum Schirm gegen das Licht dienen möge.

»Man sollte ihn nicht weiter stören«, sagte sie, ihre Hand gegen Mr. Lorry erhebend, als sich dieser nach unterschiedlichen Schneuzversuchen zu ihnen niederbeugte, »sondern alles zur Abreise von Paris in einer Weise vorbereiten, daß man ihn von dieser Tür aus fortnehmen kann.«

»Aber bedenkt doch. Wird er eine solche Reise machen können?« fragte Mr. Lorry.

»Viel besser, denke ich, als wenn er länger in dieser für ihn so schrecklichen Stadt bleiben müßte.«

»Es ist wahr«, sagte Defarge, der neben dem Ohnmächtigen niedergekniet war. »Auch sprechen außerdem alle Gründe dafür, Monsieur Manette aus Frankreich fortzuschaffen. Soll ich einen Wagen und Postpferde bestellen?«

»Das ist ein Geschäft«, versetzte Mr. Lorry, der nicht lange brauchte, um sich wieder in sein methodisches Wesen zu finden, »und wo sich’s um Geschäfte handelt, bin ich der Mann auf dem Platz.«

»Dann seid so gut, uns jetzt allein zu lassen«, drängte Miß Manette. »Ihr seht, wie ruhig er geworden ist, und habt wohl nichts mehr zu fürchten, wenn ich bei ihm bleibe. Warum auch? Wenn ihr die Tür abschließen wollt, um uns vor Störung zu bewahren, so zweifle ich nicht, daß ihr bei eurer Rückkehr ihn ebenso finden werdet, wie ihr ihn verlaßt. Jedenfalls will ich für ihn Sorge tragen, bis ihr wiederkommt, und dann werden wir ihn fortnehmen können.«

Sowohl Mr. Lorry als Defarge erhoben Einwände gegen diesen Vorschlag und wollten, daß wenigstens einer von ihnen bei ihr bleiben solle. Aber man hatte nicht nur einen Wagen und Pferde, sondern auch Reisepapiere zu besorgen. Die Zeit drängte, der Tag neigte sich zu Ende, und so kamen sie rasch zu der Übereinkunft, daß sie sich in die nötigen Geschäfte teilen und sich unverweilt an ihre Ausführung machen wollten.

Als nun die Dunkelheit einbrach, legte die Tochter an der Seite ihres Vaters das Haupt auf den harten Boden und wachte bei ihm. Es wurde immer dunkler, und sie beide lagen ruhig da, bis ein Lichtstrahl durch die Wundrisse blinkte.

Mr. Lorry und Monsieur Defarge hatten alles für die Reise vorbereitet und brachten außer einem Mantel und Schaltüchern auch Brot, Fleisch, Wein und heißen Kaffee mit. Monsieur Defarge stellte den Korb und die Laterne, die er bei sich hatte, auf die Schuhmacherbank – es war sonst außer dem Pritschenbett kein anderes Möbel mehr in der Kammer –, weckte den Gefangenen und half ihm unter Mr. Lorrys Beihilfe auf die Beine.

Kein menschlicher Verstand vermochte in der scheuen, leeren Verwunderung des Gesichtes die Geheimnisse seines Geistes zu lesen. Wußte er wohl, was vorgegangen? Erinnerte er sich dessen, was gesprochen worden? Hatte er eine Vorstellung davon, daß er frei war? Diese Fragen war kein Scharfsinn zu lösen imstande. Sie versuchten, mit ihm zu reden. Aber er war so verwirrt und konnte sich so wenig ins Antworten hineinfinden, daß sein Geisteszustand sie erschreckte und sie miteinander übereinkamen, ihn vorläufig nicht weiter zu behelligen. Er fuhr gelegentlich in einer eigentümlich wirren Weise, die man nie zuvor an ihm wahrgenommen, mit den Händen gegen den rasch vorgeschobenen Kopf, schien aber doch schon den bloßen Ton von seiner Tochter Stimme gern zu hören; denn er wandte sich demselben zu, sooft sie sprach.

In der unterwürfigen Weise eines Menschen, der durch langen Zwang zu gehorchen gewöhnt ist, aß und trank er, was man ihm vorsetzte, und legte den Mantel und die Schals um, die man ihm gab. Auch ließ er sichs gerne gefallen, daß seine Tochter ihren Arm in den seinigen legte. Er faßte dann ihre Hand mit den seinigen und hielt sie fest.

Sie begannen hinabzusteigen. Monsieur Defarge ging mit der Laterne voran, und Mr. Lorry bildete die Nachhut. Sie hatten auf der langen Haupttreppe noch nicht viele Stufen zurückgelegt, als er haltmachte und das Dach und die Wände anstarrte.

»Entsinnt Ihr Euch dieses Platzes, Vater? Ihr werdet Euch erinnern, daß Ihr hier heraufgekommen seid.«

»Was habt Ihr gesagt?«

Aber ehe sie ihre Frage wiederholen konnte, murmelte er eine Antwort, als ob es schon geschehen sei.

»Erinnern? Nein, ich erinnere mich nicht. Es ist schon gar so lange her.«

Es war klar, daß er nicht wußte, wie er aus seinem Gefängnis in dieses Haus gekommen war. Sie hörten ihn murmeln: »Hundertundfünf, Nordturm«, und wenn er umherschaute, sah er sich augenscheinlich nach den starken Festungsmauern um, die ihn so lange umschlossen hatten. Wie sie im Hof unten anlangten, änderte er instinktartig seinen Tritt in der Erwartung einer Zugbrücke, und als diese nicht kam und er dafür in der Straße draußen den harrenden Wagen sah, ließ er die Hand seiner Tochter fallen und fuhr wieder nach seinem Kopf.

Es war kein Gedränge um die Tür. An keinem der vielen Fenster ließ sich ein Menschengesicht blicken, und nicht einmal zufällig kam jemand durch die Straße. Es herrschte eine unnatürliche Stille und Verödung. Nur eine Person war um den Weg – Madame Defarge, die strickend an dem Türpfosten lehnte und nichts sah.

Der Gefangene war eingestiegen und seine Tochter ihm gefolgt. Als aber Mr. Lorry nachfolgen wollte, wurde er auf dem Tritt durch eine in kläglichem Ton vorgebrachte Frage angehalten, wo das Schuhmacherwerkzeug und die halbfertigen Schuhe seien, Madame Defarge rief ihrem Gatten zu, daß sie das Vermißte holen wolle, und hatte sich fortstrickend rasch im Dunkel des Hofes verloren, kam aber bald wieder zurück und langte Schuhe und Werkzeug in den Wagen hinein. Dann nahm sie ihren Posten wieder an der Tür, strickte und sah nichts.

Defarge lud den Koffer auf und gab das Zeichen: »Nach der Barriere!« Der Postillion knallte mit der Peitsche, und sie rasselten unter den mattblinkenden Straßenlaternen dahin.

Unter den Laternen hin – die in den besseren Straßen immer heller und in den schlechteren immer trüber brannten –, an den beleuchteten Läden, fröhlichen Menschenhaufen, lichtstrahlenden Kaffeehäusern und Theatertüren vorbei nach einem der Stadttore. Hier Soldaten mit Laternen vor dem Wachhause. »Eure Papiere, Reisende!« – »Bitte, Herr Offizier«, sagte Defarge, indem er ausstieg und den Mann ernst beiseite nahm, »dies sind die Papiere des weißhaarigen Herrn im Wagen. Man übergab sie mir mit ihm auf dem –«

Er dämpfte seine Stimme. Es fand nun ein hastiges Durcheinander unter den militärischen Laternen statt, und eine derselben drang an einem uniformierten Arm in den Wagen, um in dem weißhaarigen Herrn einen Anblick zu enthüllen, dem man nicht jeden Tag oder jede Nacht begegnete.

»Es ist gut. Vorwärts!« rief die Uniform.

»Adieu! Defarge.«

Und so ging es aus dem spärlicher und spärlicher werdenden Geflimmer der Laternen hinaus unter die Unzahl flimmernder Sterne.

Unter diesem Gewölbe mit seinen unbeweglichen ewigen Lichtern, von denen manche unserer kleinen Erde so fern sind, daß die Gelehrten uns versichern, es sei zweifelhaft, ob ihre Strahlen überhaupt schon als ein Punkt in dem Raum, in dem so viel Ringen und Leiden stattfindet, entdeckt seien – breiteten sich die Schatten der Nacht weit und dunkel hin. Während der ganzen kalten, ruhelosen Nachtfahrt bis zum dämmernden Morgen trieben sie wieder ihr Spiel mit Mr. Jarvis Lorry, der dem begraben gewesenen und nun ausgegrabenen Manne gegenübersaß, und flüsterten ihm, während er sich Gedanken über die vielleicht auf immer verlorenen und die vielleicht noch zu rettenden Geistesvermögen des Gefangenen machte, die alte Frage zu:

»Ich hoffe, es ist Euch lieb, wieder ins Leben zurückgerufen zu sein.«

Und die alte Antwort war: »Ich kann es nicht sagen.« Eine Geschichte von zwei Städten.

Viertes Kapitel. Die Vorbereitung.


Viertes Kapitel. Die Vorbereitung.

Als der Postwagen im Laufe des Vormittags glücklich Dover erreichte, öffnete wie gewöhnlich der Oberkellner des Royal-George-Hotel den Kutschenschlag. Er tat dies mit einem gewissen zeremoniösen Schnörkel; denn im Winter war eine Postreise von London her ein Unternehmen, zu dessen Vollbringung man einen wagehalsigen Reisenden wohl beglückwünschen konnte.

Diesmal galt der Glückwunsch nur einem einzigen Passagier; denn die zwei anderen hatten sich unterwegs an ihren Bestimmungsorten absetzen lassen. Das moderige Innere des Wagens mit seinem nassen, schmutzigen Stroh, dem widerlichen Geruch und seiner Dunkelheit nahm sich ungefähr wie ein großer Hundestall aus, während Mr. Lorry, der Passagier, als er sich aus dem Loch und aus den Strohfesseln herausschüttelte, in den dichten, zottigen Umhüllungen, den niederhängenden Hutkrempen und den schmutzbespritzten Beinen den dazu gehörigen Hund vorstellen konnte.

»Geht morgen ein Paketschiff nach Calais, Kellner?«

»Ja, Sir, wenn das Wetter hält und der Wind sich ordentlich macht. Die Flut wird nachmittags zwei Uhr der Ausfahrt zustatten kommen. Ein Bett, Sir?«

»Das werde ich heute nacht nicht brauchen. Doch wünsche ich ein Schlafzimmer zu haben. Schickt mir einen Barbier.«

»Und ein Frühstück, Sir? Ja, Sir. Hier hinauf, Sir, wenn’s beliebt! Führt den Herrn ins Concord! Den Reisesack des Gentleman und heiß Wasser auf Concord! Zieht im Concord dem Gentleman die Stiefel ab! Ihr werdet ein schönes Seekohlenfeuer finden, Sir! Schickt den Barbier auf Concord! Hurtig da, auf Concord.«

Das Concordzimmer wurde immer den Postreisenden angewiesen und ließ in Anbetracht des Umstandes, daß die Postpassagiere vom Kopf bis zu den Füßen eingemummt anzukommen pflegten, die interessante Beobachtung machen, daß nur eine einzige Art von Menschen hineinzugehen schien, während doch die allerverschiedensten wieder herauskamen. Als daher zufällig ein anderer Kellner, zwei Portiers, mehrere Dienstmädchen und die Wirtin an unterschiedlichen Punkten des Weges zwischen dem Concord- und dem Kaffeezimmer einherschlenderten, sahen sie einen Gentleman von etwa sechzig in einem förmlichen, zwar ziemlich verbrauchten, aber doch gut erhaltenen, braunen Anzug mit breiten Ärmelaufschlägen und großen Taschen auftauchen, um unten sein Frühstück einzunehmen.

Selbigen Vormittag barg das Kaffeezimmer keinen anderen Gast als den Gentleman in Braun. Der Frühstückstisch war vor den Kamin gerückt, und als der Fremde in der vollen Beleuchtung des Feuers dasaß und der Bedienung harrte, verhielt er sich so regungslos, als sei er im Begriff, sich porträtieren zu lassen.

Die Hände auf die Knie gelegt, sah er sehr regelmäßig und exakt aus, und eine laute Uhr tickte in seiner Westentasche eine helltönende Predigt, als wolle sie ihre Würde und ihr hohes Alter zu dem Leichtsinn und der raschen Vergänglichkeit der lodernden Flamme in einen Gegensatz bringen. Er hatte einen hübschen Fuß und war ein bißchen eitel darauf, denn die braunen Strümpfe vom feinsten Gewebe lagen glatt und knapp an, und auch seine Schnallenschuhe nahmen sich trotz ihrer Einfachheit recht sauber aus. Eine flachsfarbige Stutzperücke mit kurzem krausem Haar, das jedoch eher aus Seiden- oder Glasfädchen als aus natürlichen Haaren zu bestehen schien, bedeckte seinen Kopf. Die Leinwand entsprach in Feinheit allerdings nicht den Strümpfen, war aber so weiß wie der Schaum der Wellen, die sich am nahen Ufer brachen, oder wie die von der Sonne beleuchteten Reusenpunkte weit draußen in der See. Ein an Ruhe gewöhntes Gesicht wurde unter der wunderlichen Perücke durch ein Paar feuchte klare Augen erhellt, mit denen ihr Eigentümer wohl manche Not gehabt haben mochte, bis sie im Lauf der Jahre an den zurückhaltenden und abgemessenen Ausdruck von Tellsons Bank gewöhnt waren. Auf seinen Wangen lag ein frisches Rot, und sein furchiges Antlitz trug nur wenige Spuren der Sorge. Nun, vielleicht hatten die unverheirateten Kontoristen in Tellsons Bank hauptsächlich mit den Sorgen anderer Leute, mit Sorgen zweiter Hand zu tun, die wahrscheinlich wie die Kleider aus zweiter Hand schneller ein Ende nehmen.

Um das Bild des Mannes, der einem Porträtmaler sitzt, vollständig zu machen, schlummerte Mr. Lorry endlich ein. Die Ankunft des Frühstücks weckte ihn wieder. Als er seinen Stuhl an den Tisch rückte, sagte er zu dem Kellner:

»Ich wünsche, daß Ihr Vorbereitungen trefft für die Aufnahme eines jungen Frauenzimmers, das heute noch hier anlangen wird. Sie fragt vielleicht nach Mr. Jarvis Lorry, vielleicht auch einfach nach einem Herrn von Tellsons Bank. Habt die Güte, mich von ihrer Ankunft in Kenntnis zu setzen.«

»Ja, Sir. Tellsons Bank in London, Sir?«

»Ja.«

»Ja, Sir. Die Herren Reisenden dieses Hauses beehren uns auf dem Hin- und Herweg von London nach Paris oft mit ihrem Besuch, Sir. Tellson und Kompanie lassen außerordentlich viel reisen, Sir.«

»Ja. Wir sind ebensogut ein französisches wie ein englisches Geschäftshaus.«

»Ja, Sir. Ihr selbst aber seid wohl an das Reisen nicht sehr gewöhnt, Sir?«

»In letzter Zeit nicht mehr. Es ist schon fünfzehn Jahre her, seit wir – seit ich – meine letzte Reise nach Frankreich machte.«

»Wirklich, Sir? Nun, damals war ich noch nicht im Hause; auch mein Chef noch nicht, Sir. Der George befand sich zu jener Zeit in andern Händen, Sir.«

»Ich glaube das gern.«

»Aber ich wollte eine schöne Wette darauf eingehen, Sir, daß ein Haus wie das von Tellson und Kompanie, ich will nicht sagen vor fünfzehn, sondern schon vor fünfzig Jahren florierte.«

»Ihr könnt die Zahl dreifach nehmen und hundertfünfzig sagen, ohne weit gegen die Wahrheit zu verstoßen.«

»Wirklich, Sir?«

Und Augen und Mund weit aufsperrend, trat der Kellner von dem Tisch zurück, warf seine Serviette vom rechten unter den linken Arm, nahm eine imposante Haltung an und betrachtete den Gast, während dieser aß und trank, wie von einem Wachturm oder einer Sternwarte aus, nach dem stereotypen Brauch der Kellner in allen Jahrhunderten.

Nach Beendigung des Frühstücks erhob sich Mr. Lorry, um einen Spaziergang am Ufer zu machen. Die kleine, schmale, winkelige Stadt Dover lag kaum beachtenswert an der Küste hin und verbarg wie eine Art Meeresanemone ihren Kopf in den Kalksteinklippen. Das Gestade war eine Wüste, in der Wasser und Steine sich untereinander tummelten; die See tat, was sie vermochte; und ihr Lieblingsgeschäft war Zerstören. Sie donnerte gegen die Stadt, donnerte gegen die Klippen und hauste wie toll an der Küste. Die Luft um die Häuser her hatte einen so starken Fischgeruch, daß man hätte meinen sollen, kranke Fische brauchten darin eine Luftkur, wie die kranken Menschen im Wasser drunten einer Seekur obzuliegen pflegten. In dem Hafen wurde etwas Fischerei betrieben; doch diente er noch weit mehr müßigen Spaziergängern zum Tummelplatz, die abends, namentlich um die Zeit der Fluthöhe, sich am Anblick des Meeres vergnügen wollten. Kleine Gewerbsleute ohne Geschäft kamen oft auf eine unerklärliche Weise zu großem Vermögen, und es war merkwürdig, daß in der ganzen Nachbarschaft niemand den Lampenanzünder ausstehen konnte.

Es wurde Nachmittag, und die Luft, die mitunter so klar gewesen, daß man die französische Küste sehen konnte, füllte sich aufs neue mit Dunst und Nebel. Auch Mr. Lorrys Gedanken schienen sich zu umwölken. Als er nach Einbruch der Dunkelheit neben dem Feuer des Kaffeezimmers saß, und wie am Morgen auf das Frühstück, so jetzt auf das Diner wartete, beschäftigte sich sein Geist emsig mit Graben, Graben und Graben in den glühroten Kohlen.

Eine Flasche guten Bordeaux‘ nach dem Essen konnte einem Kohlengräber bei so heißer Arbeit nicht schaden, indem sie höchstens dazu diente, ihm das Geschäft ein wenig zu verleiden. Mr. Lorry war schon geraume Zeit müßig gewesen und hatte eben mit einer so vollkommen befriedigten Miene, wie man sie nur bei einem ältlichen Gentleman mit frischer Gesichtsfarbe am Schluß einer Flasche finden kann, das letzte Glas voll eingeschenkt, als sich von der engen Straße her das Gerassel eines Wagens vernehmen ließ, der bald darauf in dem Wirtshaushof haltmachte.

Er stellte das Glas ungekostet wieder auf den Tisch und sagte zu sich selber:

»Dies ist die Mamsell.«

Einige Minuten später trat der Kellner ein, um zu melden, daß Miß Manette von London angelangt sei und sich darauf freue, den Gentleman von Tellson zu empfangen.«

»So bald?«

Miß Manette hatte unterwegs einige Erfrischungen zu sich genommen und brauchte für den Augenblick nichts, brannte aber vor Begier, den Gentleman von Tellson sogleich bei sich zu sehen, wofern es ihm gelegen und nicht unangenehm sei.

So blieb dem Gentleman von Tellson keine andere Wahl, als mit einer Miene stummer Verzweiflung sein Glas zu leeren, sein wunderliches Flachsperücklein zurechtzurücken und dem Kellner in Miß Manettes Zimmer zu folgen. Es war ein großes dunkles Gemach mit schwarzen Roßhaarmöbeln und schweren dunkelfarbigen Tischen, so, daß man an eine Trauerparade gemahnt wurde. Man hatte diesen Hausrat so lange geölt und geölt, bis die zwei hohen Lichter der mittleren Tafel auf jedem Tischblatt düster widerstrahlten, als seien sie tief in das schwarze Mahagoniholz eingesenkt und könne kein der Rede wertes Licht von ihnen erlangt werden, bevor sie ausgegraben wären.

Es war so dunkel, daß Mr. Lorry, der sich durch den abgenutzten türkischen Bodenteppich leiten ließ, schon glaubte, Miß Jeanette sei für einen Augenblick in das anstoßende Zimmer getreten. Als er aber die zwei hohen Kerzen hinter sich hatte, bemerkte er neben dem Tische zwischen diesem und dem Kamin, zu seinem Empfang bereit, eine junge Dame von nicht mehr als siebzehn in einem Reitkleid, die den Strohreisehut am Bande in der Hand hielt. Seine Augen ruhten auf einer kleinen, schmächtigen, hübschen Figur, einer Fülle goldenen Haars, einem Augenpaar, das dem seinigen mit fragenden Blicken begegnete, und einer Stirn, die die bei solcher Jugend und Glätte befremdliche Eigenschaft besaß, durch Heben und Zusammenziehen der Brauen eine Miene anzunehmen, die nicht gerade ein Ausdruck von Verwirrung, von Staunen, von Unruhe oder auch nur von gespannter Aufmerksamkeit genannt werden konnte, wohl aber etwas von allen diesen vier Eigenarten in sich faßte. Während nun seine Blicke auf diesem Bilde hafteten, fiel ihm plötzlich die lebhafte Ähnlichkeit mit einem Kinde auf, das er bei seiner Fahrt über eben diesen Dover-Kanal bei kaltem Hagelwetter und hochgehender See in den Armen gehabt hatte. Die Erinnerung war jedoch nur flüchtig und einem Hauch auf der Oberfläche des einzigen Pfeilerspiegels ähnlich, auf dessen Rahmen eine Spitalprozession von verkrüppelten und kopflosen schwarzen Genien einer Versammlung von schwarzen weiblichen Gottheiten in schwarzen Körben Früchte vom toten Meer darbrachten. Er machte Miß Manette eine förmliche Verbeugung.

»Ich bitte, nehmt Platz, Sir«, begann eine sehr helle und angenehme junge Stimme mit einem ganz leichten Anflug von ausländischem Akzent.

»Ich küß‘ Euch die Hand, Miß«, sagte Mr. Lorry mit den Manieren eines früheren Datums, während er nach einer abermaligen förmlichen Verbeugung seinen Sitz einnahm.

»Ich habe gestern von der Bank einen Brief erhalten, der von einer Neuigkeit oder einer Entdeckung spricht –«

»Das Wort ist nicht wesentlich. Miß; Ihr könnt es so oder so nennen.«

»Das kleine Eigentum meines Vaters betreffend, den ich nie sah und der schon lange tot ist.«

Mr. Lorry rückte auf seinem Stuhl und warf einen ängstlichen Blick auf die Spitalprozession der schwarzen Genien. Als ob sie für irgend jemand Hilfe bringen konnten in ihren abgeschmackten Körben!

»Es soll dadurch notwendig werden, daß ich nach Paris reise und daselbst gemeinschaftlich handle mit einem Herrn, der ausdrücklich wegen dieser Angelegenheit auch nach Paris geschickt worden sei.«

»Der bin ich.«

»Das habe ich erwartet, Sir.«

Sie machte einen Knix gegen ihn (damals knixten die jungen Frauenzimmer noch), um ihm damit zu verstehen zu geben, daß sie fühle, um wieviel älter und weiser er sei. Und er verbeugte sich abermals.

»Ich habe darauf der Bank geantwortet, Sir, wenn meinen sachverständigen freundlichen Beratern meine Reise nach Paris nötig erscheine, so werde ich als eine Waise, die keinen Verwandten hat, der sie begleiten kann, mich glücklich schätzen, diesem Auftrag unter dem Schutz des würdigen Herrn nachzukommen. Der Gentleman hatte zwar London schon verlassen; aber ich glaube, es ist ihm ein Bote nachgeschickt worden mit der Bitte, er möchte die Güte haben, mich hier zu erwarten.«

»Ich bin so glücklich gewesen, mit diesem Dienst betraut zu werden«, erwiderte Mr. Lorry. »Und noch glücklicher wird mich seine Ausführung machen.«

»Ich danke Euch, danke Euch von ganzem Herzen, Sir. Man hat mir in der Bank gesagt, der Herr werde mir die ganze Angelegenheit auseinandersetzen, und ich müsse mich darauf gefaßt machen, überraschende Dinge zu hören. Ich habe mein Bestes getan, um mich darauf vorzubereiten, und bin natürlich in hohem Grade auf Eure Mitteilungen gespannt.«

»Natürlich«, versetzte Mr. Lorry. »Ja – ich –«

Nach einer Pause fügte er, die Perücke gegen das Ohr rückend, bei:

»Es ist sehr schwer, den Anfang zu finden.«

Und so fing er lieber nicht an, begegnete aber in seiner Unschlüssigkeit ihrem Blicke. Die junge Stirn furchte sich zu jenem eigentümlichen Ausdruck, der zwar auffallend, aber doch hübsch und charakteristisch war; dabei erhob sie ihre Hand, als greife sie mit dieser unwillkürlichen Bewegung nach einem flüchtigen Schatten oder wolle ihn festhalten.

»Seid Ihr mir ganz fremd, Sir?«

»Bin ich’s nicht?«

Mr. Lorry öffnete seine Hände und streckte sie mit einem beweisführenden Lächeln aus.

Die Linie zwischen den Brauen und unmittelbar über dem Mädchennäschen, die so zart und fein wie nur immer möglich war, wurde ausdrucksvoller, als sie nachdenkend sich auf den Stuhl niederließ, neben dem sie bisher gestanden hatte. Er verwandte keinen Blick von dem gedankenvollen Wesen, und sobald sie ihre Augen wieder erhob, fuhr er fort:

»Ich vermute, daß ich in Eurem Adoptivvaterland nichts Besseres tun kann, als wenn ich mich gegen Euch wie gegen eine junge englische Lady benehme, Miß Manette?«

»Wenn es Euch so beliebt, Sir.«

»Miß Manette, ich bin ein Geschäftsmann und als ein solcher beauftragt, ein Geschäft auszurichten. Diesem meinem Auftrag gegenüber braucht Ihr mich nicht anders zu betrachten, als ob ich eine sprechende Maschine sei – in der Tat, ich bin auch kaum etwas anderes. Mit Eurer Erlaubnis, Miß, will ich Euch die Geschichte eines unserer Kunden erzählen.«

»Geschichte?«

Er schien absichtlich das Wort, das sie wiederholt hatte, mißzuverstehen, indem er hastig fortfuhr:

»Ja, eines Kunden. Im Bankgeschäft nennen wir gewöhnlich diejenigen, die mit uns in Geldbeziehungen treten, unsere Kunden. Er war ein Herr aus Frankreich, ein Gelehrter, ein Mann von ausgedehnten Kenntnissen, ein Doktor.«

»Nicht aus Beauvais?«

»Nun ja, von Beauvais. Gleich Eurem Vater, dem Monsieur Manette, war der Herr aus Beauvais und wie Euer Vater auch in Paris sehr angesehen. Ich hatte die Ehre, ihn dort kennenzulernen. Unsere Beziehungen waren geschäftlicher, aber doch vertraulicher Art. Ich arbeitete damals in unserem französischen Haus und wäre nicht – oh! zwanzig Jahre.«

»Damals, Sir – darf ich fragen, was Ihr mit diesem damals meint?«

»Ich spreche von der Zeit vor zwanzig Jahren, Miß. Er heiratete – eine englische Dame –, und ich war einer der Administratoren. Seine Angelegenheiten befanden sich wie die vieler französischer Herren und Familien ganz in Tellsons Händen. So bin ich denn oder war ich in der einen oder anderen Weise Güterpfleger für viele unserer Kunden. Dies sind bloß geschäftliche Beziehungen, die mit besonderem Interesse, Gefühl und Freundschaft nichts zu schaffen haben. Ich übernahm im Laufe meines Geschäftslebens bald diesen bald jenen Dienst, geradeso wie ich im Laufe des Geschäftstages von einem unserer Kunden zum anderen übergehe. Kurz, ich habe keine Gefühle – bin eine bloße Maschine. Um fortzufahren –«

»Aber Eure Geschichte betrifft wohl meinen Vater, Sir, und ich fange an zu glauben« – die seltsam gefurchte Stirn war ihm mit großer Angelegentlichkeit zugewendet –, »daß Ihr es wart, der mich nach England brachte, als ich nach dem Tod meiner Mutter, die meinen Vater nur um zwei Jahre überlebte, verwaist in der Welt stand. Ja, ich bin fest überzeugt davon.«

Mr. Lorry ergriff die zögernde kleine Hand, die sich ihm vertrauensvoll genähert hatte, um die seinige zu ergreifen, und brachte sie mit einiger Förmlichkeit an seine Lippen. Dann führte er die junge Dame wieder nach ihrem Stuhl, stützte seine Linke auf die Lehne und benutzte seine Rechte abwechselnd, um sich das Kinn zu reiben, die Stutzperücke gegen das Ohr zu ziehen oder seinen Worten Nachdruck zu geben, während er auf das achtsam zu ihm aufschauende Gesichtchen niederblickte.

»Ja, ich war es, Miß Manette. Und Ihr werdet sehen, wie wahr ich eben von mir selbst gesprochen, als ich sagte, daß ich keine Gefühle habe und meine Beziehungen zu meinen Nebenmenschen bloß geschäftlicher Natur seien, wenn Ihr Euch vergegenwärtigt, daß ich Euch seitdem nie wieder gesehen habe. Nein, Ihr wart von jener Zeit an Tellsons Mündel, und ich hatte in anderen Geschäften des Hauses Tellson zu tun. Gefühle? Dafür finde ich weder Zeit noch Gelegenheit. Ich verbringe mein Leben damit, Miß, daß ich stets eine ungeheure finanzielle Waschanstalt im Gang halte.«

Nach dieser eigentümlichen Schilderung seines täglichen Geschäftslebens strich Mr. Lorry mit beiden Händen die flachsfarbige Perücke auf seinem Kopfe glatt (wohl ein unnötiges Bemühen, da ihre glänzende Oberfläche vorher schon nicht glatter hätte sein können) und nahm seine frühere Haltung wieder an.

»Wie Ihr bemerkt habt, Miß, paßt die seitherige Geschichte auf Euren bedauerten Vater; jetzt aber kommt der Unterschied. Wenn Euer Vater nicht gestorben wäre, als er – Ihr müßt nicht erschrecken. Warum fahrt Ihr so zusammen?«

Sie war wirklich zusammengefahren und faßte jetzt seinen Arm mit ihren beiden Händen.

»Ich bitte«, fuhr Mr. Lorry in beschwichtigendem Ton fort, indem er seine Linke von der Stuhllehne entfernte, um sie auf die flehenden Finger zu legen, die mit so heftigem Zittern seinen Arm umfaßt hielten – »ich bitte, bekämpft Eure Aufregung – eine Geschäftssache. Ich wollte sagen –«

Ihr Blick brachte ihn dermaßen außer Fassung, daß er innehielt, eine Abschweifung versuchte und dann von neuem anhub.

»Ich wollte sagen – wenn Monsieur Manette nicht gestorben, sondern nur plötzlich in aller Stille verschwunden und nach irgendeinem schrecklichen Platze entrückt worden wäre, den man wohl erraten, aber nicht ermitteln konnte; wenn er einen Feind gehabt hätte in einem Landsmann, dem ein Vorrecht zu Gebot stand, von dem zu meiner Zeit auch die kecksten Männer dort über dem Wasser drüben nur mit Flüstern sprachen – die Befugnis zum Beispiel, Förmlichkeiten auszufüllen, die irgend jemand für beliebige Zeit dem Vergessenwerden in einem Gefängnis überantworteten: wenn seine Gattin um Kunde von ihm sich vor König und Königin, Hof und Geistlichkeit in den Staub geworfen hätte, aber alles vergeblich – dann wäre die Geschichte Eures Vaters auch die jenes unglücklichen Mannes, des Doktor von Beauvais gewesen.«

»Ich bitte Euch flehentlich, mir alles zu sagen, Sir.«

»Es soll geschehen. Ich bin im Begriff. Könnt Ihr es ertragen?«

»Ich kann alles ertragen, nur nicht die Ungewißheit, in der Ihr mich schweben laßt.«

»Ihr sprecht gefaßt, und Ihr seid es wohl auch. Recht so.« Freilich schien er innerlich weniger befriedigt zu sein, als seine Worte ausdrückten. »Eine Geschäftssache. Betrachtet es als ein Geschäft, das abgetan werden muß. Wohlan, wenn die Frau dieses Doktors trotz ihres hohen Geistes und Mutes um dieses Umstandes willen so sehr gelitten hätte, daß sie noch vor der Geburt ihres Kindes« –

»Dieses Kind war eine Tochter, Sir.«

»Eine Tochter. Eine – eine – Geschäftsache – laßt Euch nicht beunruhigen, Miß. Wenn die arme Dame so furchtbar gelitten hätte, daß sie vor der Geburt ihres Kindes den Entschluß faßte, dem armen Wesen die Teilnahme an ihren eigenen Qualen zu ersparen, indem sie es in dem Glauben erzog, daß sein Vater tot sei – – Nein, kniet nicht nieder. Um Himmels willen, warum kniet Ihr denn vor mir?«

»Die Wahrheit. O mein lieber, guter, mitleidiger Herr, die Wahrheit!«

»Eine – eine Geschäftsache. Ihr bringt mich in Verwirrung, und wie kann ich ein Geschäft bereinigen, wenn mein Kopf nicht klar ist? Wir müssen uns zusammennehmen. Wenn Ihr nur so gut sein wolltet, mir zum Beispiel zu sagen, was neunmal neun Pence ausmacht, oder wie viele Schillinge man zu zwanzig Guineen braucht. Das wäre schon ermutigender und würde mich über den Zustand Eures Geistes beruhigen.«

Er führte sie sanft nach ihrem Stuhl; hier blieb sie, ohne auf seine Berufung unmittelbar zu antworten, so ruhig sitzen, und ihre Hände, die noch immer seinen Arm umfaßt hielten, zeigten gegen früher eine so augenfällig erhöhte Stetigkeit, daß er wieder ein Herz faßte.

»Recht so, recht so. Nur Mut. Geschäft – es handelt sich um ein Geschäft, um ein belangreiches Geschäft. Miß Manette, Eure Mutter hat es in der angeregten Weise mit Euch gehalten. Und als sie starb – ich glaube an gebrochenem Herzen, weil sie nie in dem fruchtlosen Forschen nach Eurem Vater innehielt –, konnte die von ihr zurückgelassene Waise zu einem blühend schönen, glücklichen Wesen heranwachsen, ohne daß die schwere Wolke der Ungewißheit, ob sich die Kräfte Eures Vaters im Kerker früh verzehrten oder eine Reihe von Jahren hinsiechten, Euer Dasein trübte.«

Während er diese Worte sprach, blickte er mit mitleidsvoller Bewunderung auf das wallende Goldhaar nieder, als komme es ihm vor, daß es sich bereits mit Grau zu mengen beginne.

»Ihr wißt, daß Eure Eltern kein großes Vermögen besaßen, und daß es Eurer Mutter und Euch gesichert worden ist. Etwas Neues, Gold oder sonstiges Eigentum betreffend, kann ich Euch also nicht mitteilen, wohl aber die Kunde –«

Er fühlte einen festeren Druck an seinem Handgelenk und hielt darum inne. Der Zug auf ihrer Stirn, der ihm schon so sehr aufgefallen war, hatte den Ausdruck des Schmerzes und Schreckens angenommen.

»Daß er – daß er aufgefunden worden ist. Er lebt. Daß er sich sehr verändert hat, ist freilich nur allzu wahrscheinlich; möglich, daß wir nur noch eine Ruine in ihm finden: doch wollen wir das Beste hoffen. Er lebt noch. Man hat Euren Vater nach dem Haus eines alten Dieners in Paris gebracht, und wir sind auf dem Wege zu ihm – ich, um seine Identität zu bestätigen, wenn ich kann. Ihr, um ihm durch Liebe und Kindesdienst das Leben ruhig und behaglich zu machen.«

Ein Schauder überströmte ihren Körper und ging von ihr aus auf ihn über. Vernehmlich zwar, aber mit leiser und angstvoller Stimme, als rede sie im Traum, sprach sie:

»Ich gehe hin, um seinen Geist zu sehen! Es wird sein Geist sein, nicht er.«

Mr. Lorry rieb ruhig die Hände, die seinen Arm festhielten.

»So, so. Jetzt wär‘ es heraus. Von dem Besten und dem Schlimmsten seid Ihr nunmehr unterrichtet. Ihr befindet Euch auf dem Weg zu dem armen, schwer mißhandelten Herrn; noch eine schöne Seereise und eine schöne Landreise, und Ihr werdet an seiner Seite sein.«

In demselben Ton, aber noch gedämpfter, fuhr sie fort:

»Ich bin frei, ich bin glücklich gewesen; und doch ist mir sein Geist nie nahe gekommen.«

»Noch eines«, sagte Mr. Lorry mit Nachdruck, als sehe er darin das beste Mittel, Aufmerksamkeit zu erzwingen; »er ist unter einem andern Namen aufgefunden worden. Sein eigener wurde entweder seitdem stets verheimlicht oder vergessen. Es wäre schlimmer als nutzlos, darüber Nachforschungen anzustellen – schlimmer als nutzlos, ausfindig machen zu wollen, ob er diese lange Reihe von Jahren übersehen oder absichtlich gefangen gehalten wurde. Solche Nachforschungen würden jetzt zu nichts Gutem führen, sondern im Gegenteil gefährlich werden. Besser, man schweigt ganz und gar über die Sache und schafft ihn, jedenfalls für eine Weile, fort aus Frankreich. Sogar ich vermeide es, davon zu reden, obschon mich meine Nationalität sicherstellt, und Tellsons nehmen sich in acht, trotz ihrer Bedeutung für den französischen Kredit. Ich trage keinen Fetzen Papier bei mir, der eine offene Beziehung darauf hätte. Es handelt sich ganz und gar um ein Dienstgeheimnis. Meine Beglaubigungs-, Einführungs- und Empfehlungsbriefe beschränken sich auf die paar Worte: ›Ins Leben zurückgerufen‹, und man kann unter ihnen alles verstehen. Doch was ist das? Sie hört mich nicht! Miß Manette!«

Sie saß vollkommen still und unbewegt unter seiner Hand und war nicht einmal gegen die Stuhllehne zurückgesunken, trotz des Zustandes von Bewußtlosigkeit, in dem sie sich befand. Ihre Augen standen offen und waren auf ihn gerichtet: auch schien der vorerwähnte Ausdruck mit dem Meißel oder dem Brandeisen in ihre Stirn eingegraben zu sein. Sie hielt seinen Arm so fest umschlungen, daß er sich, um ihr nicht weh zu tun, scheute, ihre Hände loszumachen, und in dieser Not rief er, ohne sich von der Stelle zu rühren, laut um Hilfe.

Eine wild aussehende Weibsperson – Mr. Lorry bemerkte sogar in seiner Aufregung, daß sie selbst bis auf die Haare ganz rot aussah, in eine merkwürdig knapp anliegende Tracht gekleidet war und eine höchst wundersame Haube von der Gestalt eines mächtigen hölzernen Grenadierkübels oder eines großen Stiltoner Käses auf dem Kopf hatte – kam als Vortrab des Wirtshausgesindes in das Zimmer gerannt und erledigte alsbald die Frage seines Gebanntseins an die arme junge Dame damit, daß sie ihm mit sehniger Faust einen Stoß vor die Brust versetzte, demzufolge er gegen die nächste Wand flog.

»Das muß wahrhaftig ein Mannsbild sein«, dachte der atemlose Mr. Lorry in seinem Innern, als er den Widerstand der Mauer fühlte.

»Was soll eure Gafferei da!« rief die Weibsperson, gegen die Gasthausdienerschaft gewandt. »Warum geht ihr nicht, um das Nötige zu holen, und steht her, um mich anzuglotzen? Ist denn so viel an mir zu sehen, he? Warum bringt ihr mir nichts? Gebt acht, ich mach‘ euch Beine, wenn nicht rasch Riechsalz, kalt Wasser und Weinessig herkommt. Nun, wird’s bald?«

Es flog alles auseinander, um die gewünschten Belebungsmittel herbeizuschaffen, nur die Frau legte in der Zwischenzeit die Ohnmächtige sanft auf das Sofa. Sie zeigte dabei viel Geschick und Zartheit, nannte sie ihr »Schätzchen«, ihr »Vögelchen« und streifte mit Sorgfalt und Stolz das goldne Haar aus dem Antlitz der Patientin gegen die Schultern zurück.

»Und Ihr, Brauner, da«, sagte sie, entrüstet sich gegen Mr. Lorry umwendend, »konntet Ihr dem armen Kind nicht sagen, was Ihr ihm zu sagen hattet, ohne es auf den Tod zu erschrecken? Schaut sie an mit ihrem hübschen, blassen Gesicht und ihren kalten Händen. Treiben es alle Bankiers so?«

Mr. Lorry war von dieser schwer zu beantwortenden Frage so übermäßig betroffen, daß er nur aus der Ferne mit viel schwächerer Sympathie und Zerknirschung zuzuschauen vermochte, während das Mannweib, nachdem es die Hausdienerschaft unter der geheimnisvollen Drohung verbannt hatte, sie etwas nicht namhaft Gemachtes wissen zu lassen, wenn sie gaffend stehenbleibe, ihren Pflegling allmählich zur Besinnung brachte und durch Schmeichelworte bewog, das haltlose Köpfchen auf ihre Schulter zu legen.

»Ich hoffe, es macht sich jetzt bei ihr«, sagte Mr. Lorry.

»Dann ist jedenfalls Euer brauner Rock unschuldig daran. Mein Herzkäferchen.«

»Ich hoffe«, bemerkte Mr. Lorry nach einer abermaligen Pause schwacher Sympathie und Zerknirschtheit, »daß Ihr Miß Manette nach Frankreich begleiten werdet?«

»Sehr wahrscheinlich«, versetzte die entschiedene Frau. »Wenn es mir je beschieden gewesen wäre, daß ich über das Salzwasser soll, meint Ihr, die Vorsehung hätte mir dann meine Bestimmung auf meiner Insel angewiesen?«

Abermals eine schwer zu beantwortende Frage, weshalb Mr. Jarvis Lorry sich zurückzog, um darüber nachzudenken.