Sechzehntes Kapitel.

Niemandes Schwäche.

Da es endlich Zeit war, die Bekanntschaft mit der Familie Meagles zu erneuern, richtete Clennam zufolge des Übereinkommens, das zwischen ihm und Mr. Meagles innerhalb des Hofes zum blutenden Herzen getroffen worden, an einem Sonnabend seine Schritte nach Twickenham, wo Mr. Meagles ein Landhaus bewohnte, das ihm gehörte. Da das Wetter schön und trocken war und jede englische Straße für ihn, der so lange fort gewesen, das größte Interesse bot, so schickte er sein Gepäck mit der Post voraus und machte sich auf den Weg. Ein Spaziergang war an und für sich schon ein neues Vergnügen für ihn und eines, das, soweit er auch zurückdachte, stets in sein Leben Abwechselung gebracht.

Er ging über Fulham und Putney, um sich das Vergnügen zu verschaffen, über die Heide zu streifen. Es war heiter und sonnig in der freien Natur, und als er sich so weit auf seinem Weg nach Twickenham sah, fand er, daß er eine lange Strecke auf seinem Wege zu luftigeren und weniger substanziellen Bestimmungsorten zurückgelegt. Sie waren ihm durch die gesunde Bewegung und den angenehmen Weg nahegetreten. Man kann nicht leicht allein auf dem Lande gehen, ohne über etwas nachzusinnen, und er hatte der unentschiedenen Motive genug, über die er nachdenken konnte, selbst wenn er auch bis ans Ende der Welt zu gehen gehabt hätte.

Zunächst eine Sache, die ihm selten aus dem Sinn kam, die Frage nämlich, was er künftig tun, welche Beschäftigung er ergreifen sollte, und in welcher Richtung er sie am besten suchen würde. Er war durchaus nicht reich, und jeder Tag der Unentschiedenheit und Untätigkeit machte sein Erbe zu einer Quelle größerer Besorgnis für ihn. Sooft er in Betracht zu ziehen begann, wie dieses Erbe zu vermehren wäre, oder wie er es anlegen könnte, stieg auch die Besorgnis in ihm auf, es möchte jemand mit einem unbefriedigten Anspruch auf seine Gerechtigkeit existieren, und diese Betrachtung allein hätte für den längsten Gang genügt. Dann die Beziehungen zu seiner Mutter, mit der er auf einem höflichen und friedlichen, aber keineswegs vertraulichen Fuße stand, und zu der er mehrere Male in der Woche kam. Klein-Dorrit war ein Hauptgegenstand seiner Betrachtungen, der ihm niemals aus dem Sinn kam: denn die Schicksale seines Lebens in Verbindung mit denen des ihrigen stellten ihm das kleine Geschöpf als das einzige Wesen dar, bei dem Bande unschuldigen Vertrauens ihrerseits und liebevollen Schutzes seinerseits bestanden: Bande der Teilnahme, des Respektes, des uneigennützigen Interesses, der Dankbarkeit und des Mitleids. Wenn er an sie und die Möglichkeit der Befreiung ihres Vaters aus dem Gefängnis durch die entfesselnde Hand des Todes dachte – die einzige Wendung der Dinge, die seiner Voraussicht nach ihn in die Lage setzen konnte, ihr ein Freund zu werden, wie er es wünschte, indem er ihre ganze Lebensweise änderte, ihren rauhen Pfad ebnete und ihr eine Heimat bot – dann betrachtete er sie, in solcher Perspektive, als seine Adoptivtochter, sein armes Kind aus dem Marshallsea, das endlich zur Ruhe gebracht worden. Gab es noch etwas, das seine Gedanken beschäftigte, und es lag in der Richtung von Twickenham, so hatte es eine so verschwimmende Gestalt, daß es keine festeren Umrisse annahm als die allgemeine Atmosphäre, in der diese und andere Dinge vor ihm schwebten.

Er hatte die Heide überschritten und ließ sie eben hinter sich, als er einen Menschen einholte, der ihm um einiges voraus gewesen und den er beim Näherkommen zu erkennen glaubte. Diesen Eindruck machte die Art, wie er den Kopf drehte, und die sinnende Haltung bei dem ziemlich derben Gang. Als der Mann jedoch – denn es war eine männliche Gestalt – seinen Hut hinten hinausschob und stehenblieb, um etwas vor sich zu betrachten, wußte er, daß es Daniel Doyce war.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Doyce?« sagte Clennam, ihn einholend. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen, und zwar an einem gesünderen Orte als dem Circumlocution Office.«

»Ah! Mr. Meagles‘ Freund!« rief dieser Staatsverbrecher, aus seinem Nachsinnen, womit sein Geist beschäftigt gewesen, erwachend, und bot dem Herankommenden die Hand. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Sir. Entschuldigen Sie, ich vergaß Ihren Namen.«

»Das kann leicht geschehen. Es ist kein berühmter Name. Kein Barnacle.«

»Nein, nein«, sagte Daniel lachend. »Jetzt fällt es mir ein: Clennam. Wie befinden Sie sich, Mr. Clennam?«

»Ich darf wohl hoffen«, sagte Arthur, während sie zusammen weitergingen, »daß wir dasselbe Ziel haben, Mr. Doyce?«

»Sie meinen Twickenham?« versetzte Daniel. »Ich freue mich, das zu hören.«

Sie waren bald sehr vertraut und erheiterten sich den Gang durch wechselseitige Unterhaltung. Der erfinderische Verbrecher war ein Mann von großer Bescheidenheit und klarem Geist, und obgleich ein einfacher Mann, war er doch zu sehr gewöhnt, die Originalität und Kühnheit der Auffassungsgabe mit geduldiger und pünktlicher Ausführung zu verbinden, um ein schlechthin gewöhnlicher Mann zu sein. Es war anfangs schwer, ihn zu veranlassen, von sich zu sprechen, und er wich Arthurs Aufforderungen nach dieser Richtung durch die flüchtige Einräumung aus: o ja, er habe dies und habe das getan. Das sei etwas von seiner Arbeit und jenes von seiner Erfindung, aber es sei auch sein Geschäft, sein Gewerbe, wie er wisse; bis er endlich, als er nach und nach die Gewißheit bekam, daß sein Begleiter wirkliches Interesse an ihm nehme, diesem offen entgegenkam. Da ergab es sich, daß er der Sohn eines im Norden wohnenden Grobschmiedes sei und ursprünglich von seiner verwitweten Mutter zum Schlosser bestimmt gewesen; daß er bei dem Schlosser »etwas erfunden«, weshalb er mit einem Geschenk aus der Lehre entlassen worden war. Dieses Geschenk setzte ihn in den Stand, seinen heißen Wunsch zu befriedigen, bei einem Maschinenmacher einzutreten, bei dem er sieben Jahre viel gearbeitet, viel gelernt und viel erlebt. Nachdem seine Zeit vorüber war, hatte er weitere sieben bis acht Jahre um Wochenlohn gearbeitet und sich dann an die Ufer der Clyde begeben, wo er weitere sechs bis sieben Jahre studiert, gefeilt, gehämmert und seine theoretischen und praktischen Kenntnisse erweitert hatte. Dort bekam er ein Anerbieten, nach Lyon zu gehen, das er annahm; von Lyon wurde er nach Deutschland engagiert, und in Deutschland erhielt er ein Anerbieten nach St. Petersburg. Dort war es ihm sehr gut gegangen, – nirgends besser. Er hatte jedoch eine natürliche Vorliebe für sein Vaterland und hegte den Wunsch, sich dort Auszeichnungen zu verschaffen und dort lieber als anderswo Dienste zu leisten, soweit es in seinen Kräften stand. So war er denn heimgekehrt. Er hatte sich ein Geschäft gegründet und hatte Erfindungen gemacht und ausgeführt, hatte fort und fort gearbeitet, bis er nach ungefähr zwölf Jahren angestrengten Fleißes und Mühens in die große englische Ehrenlegion, die Legion der vom Circumlocution Office Zurückgestoßenen, aufgenommen und mit dem großen englischen Verdienstorden, dem Orden der Unordnung der Barnacles und Stilstalkings, geschmückt worden war.

»Es ist sehr zu bedauern«, sagte Clennam, »daß Sie je Ihre Gedanken dahin gerichtet haben, Mr. Doyce.«

»Wahr, Sir, wahr bis auf einen gewissen Punkt. Aber was soll der Mensch tun? Wenn er das Unglück hat, etwas der Nation Nützliches zu erfinden, so muß er seinem Drange folgen.«

»Würde er nicht besser tun, wenn er es ganz sein ließe?« fragte Clennam.

»Er kann’s nicht lassen«, sagte Doyce, mit gedankenvollem Lächeln den Kopf schüttelnd. »Es ist ihm nicht in den Kopf gelegt, um begraben zu werden. Es ist ihm in den Kopf gelegt, es nutzbar zu machen. Sie haben Ihr Leben, damit Sie bis zum letzten Augenblick mit aller Kraft darum ringen. Dasselbe ist mit den Erfindungen der Fall.«

»Das heißt«, sagte Arthur mit wachsender Bewunderung seines ruhigen Begleiters: »Sie sind auch jetzt noch nicht entmutigt?«

»Wenn ich’s wäre, hätt‘ ich kein Recht dazu«, versetzte der andere. »Die Sache ist so wahr, als sie es je war.«

Als sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander hergegangen waren, fragte Clennam, um dem Hauptthema des Gespräches eine andere Wendung zu geben und doch nicht zu rasch abzubrechen, Mr. Doyce, ob er einen Geschäftsteilhaber hätte, der ihm einen Teil seiner Sorgen abnehmen könne?

»Nein«, antwortete er, »im Augenblick nicht. Ich hatte einen solchen, als ich mein Geschäft begann, und es war ein sehr guter Mann. Aber er starb vor einigen Jahren; und da ich mich nicht leicht zu einem andern entschließen konnte, als ich ihn verlor, kaufte ich seinen Anteil für mich und habe nun seit jener Zeit auf eigne Faust fortgearbeitet. Und dann noch eins«, sagte er, einen Augenblick stehenbleibend, mit einem freundlichen Lächeln im Blicke und die geschlossene Rechte mit der ihm eigenen Gewandtheit des Daumens auf Clennams Arm legend, »kein Erfinder kann, wie Sie wissen, ein guter Geschäftsmann sein.«

»Nein?« sagte Clennam.

»Nein, die Geschäftsleute sagen das«, antwortete er weitergehend und laut auflachend. »Ich weiß nicht, weshalb wir unglücklichen Geschöpfe als des gemeinen Verstandes bar angesehen werden; aber es wird allgemein als entschieden angenommen, daß es der Fall ist. Selbst der beste Freund, den ich in der Welt habe, unser ausgezeichneter Freund dort unten«, sagte Doyce, auf Twickenham deutend, »übt eine Art Protektion auf mich aus, müssen Sie wissen, gleichsam wie auf einen Mann, der nicht imstande ist, für sich selbst zu sorgen.«

Arthur Clennam mußte unwillkürlich in das gutmütige Lächeln einstimmen; denn er kannte die Wahrheit der Darstellung.

»So finde ich, daß ich einen Kompagnon haben muß, der ein Geschäftsmann, aber an keiner Erfindung schuldig ist«, sagte Daniel Doyce, indem er seinen Hut abnahm, um mit der Hand über die Stirn zu fahren, »geschähe dies auch nur, um der geläufigen Meinung nachzugeben und den Kredit der Arbeit aufrechtzuerhalten. Ich denke nicht, daß er finden wird, ich sei in der Art, sie zu leiten,

nachlässig und verwirrt gewesen, aber das ist seine Sache, wer er auch sein mag, – nicht die meine, sich darüber auszusprechen.«

»Sie haben somit noch nicht gewählt?«

»Nein, Sir, nein. Ich bin erst zu dem Entschluß gekommen, jemanden zu suchen. Die Sache ist nämlich die, es gibt jetzt mehr zu tun als je, und die Arbeit ist genug für mich, da ich immer älter werde. Die Bücher und die Korrespondenz und die Reisen ins Ausland, für die ein Chef notwendig ist, – das kann ich nicht alles besorgen. Ich will mich über die beste Art, die Sache ins reine zu bringen, mit meinem Pflegevater und meinem Beschützer beraten, wenn ich zwischen heute und Montagmorgen eine halbe Stunde finden kann«, sagte Doyce wieder mit lachendem Blicke. »Er ist ein kluger Geschäftsmann und hat eine gute Lehre genossen.«

Darauf unterhielten sie sich noch über verschiedene Gegenstände, bis sie das Ziel ihrer Wanderschaft erreichten. Daniel Doyce hatte eine ruhige und bescheidene Haltung – das sichere Bewußtsein sprach sich in seinem Wesen aus, daß, was wahr sei, wahr bleiben müsse, trotz aller Barnacles in dem Familienozean, und daß es gerade die Wahrheit sein würde und nicht weniger noch mehr, selbst wenn jener See ausgetrocknet wäre – was etwas Großartiges bedeutete, wenn auch nicht von der offiziellen Art.

Da er das Haus wohl kannte, so führte er Arthur auf dem Weg, von dem es sich am besten präsentierte, dahin. Es war ein reizender Ort (nicht um so schlechter, weil etwas außergewöhnlich), am Weg beim Flusse und ganz so, wie man sich den Aufenthalt der Meagles‘ denken mußte. Das Haus stand in einem Garten, der im Mai des Jahres ohne Zweifel so frisch und schön war, wie Pet jetzt im Mai ihres Lebens, und wurde durch eine Reihe hübscher Bäume und üppigen Immergrüns geschützt, wie Pet durch Mr. und Mrs. Meagles. Es war aus einem alten Backsteinhaus entstanden, von dem ein Teil ganz abgebrochen war. Der andere aber war in dieses Landhaus verwandelt worden; ein unverletzter, älterer Teil repräsentierte somit Mr. und Mrs. Meagles und ein junger, malerischer, sehr hübscher Teil Pet. Das später hinzugekommene Gewächshaus, das sich daran lehnte und dessen dunkles buntes Glas keine bestimmte Farbe hatte, während die durchsichtigeren Partien im Sonnenlicht bald wie Feuer, bald wie harmlose Wassertropfen glänzten, mochte Tattycoram repräsentieren. Im Hintergrund sah man den Fluß und die Fähre, die allen Bewohnern des Hauses zuzurufen schien: Ihr alle, jung und alt, leidenschaftlich und ruhig, aufgeregt und zufrieden – so fließt der Strom eures Lebens unaufhaltsam dahin. Laßt das Herz steigen, bis zu welchem Mißklang es will, das rauschende Wasser am Bug der Fähre wird immer dieselbe Melodie singen. Mag man das Boot auch Jahr für Jahr noch so wild forttreiben lassen, mag der Strom noch so viele Meilen in einer Stunde dahinrauschen, mögen hier die Binsen, dort die Lilien an diesem Wege, den stetig sein Lauf nimmt, erblühen, nichts ist ungewiß oder unruhig, während ihr auf dem flutenden Weg des Lebens so launisch und zerstreut seid.

Die Glocke an dem Tor hatte kaum geklingelt, als Mr. Meagles erschien, um sie zu empfangen. Mr. Meagles war kaum erschienen, als Mrs. Meagles erschien. Mrs. Meagles war kaum erschienen, als Pet erschien. Pet war kaum erschienen, als Tattycoram erschien. Niemals waren Fremde gastfreundlicher aufgenommen worden.

»Hier sind wir«, sagte Mr. Meagles, »in unsere vier Pfähle eingeschachtelt, wie Sie sehen, Mr. Clennam, als ob wir uns nie wieder ausbreiten – das heißt reisen – wollten. Nicht wie in Marseille, he? Nichts von Allons und Marchons?«

»Eine andere Art von Schönheit, in der Tat!« sagte Clennam sich umsehend.

»Aber, bei Gott!« rief Mr. Meagles, indem er sich behaglich die Hände rieb, »es war ein ungewöhnlich angenehmes Ding um die Quarantäne, nicht wahr? Wissen Sie, ich habe mich oft wieder dahin zurückgewünscht. Wir waren eine prächtige Gesellschaft.«

Das war Mr. Meagles‘ unabänderliche Gewohnheit. Immer auf alles zu schimpfen, solange er auf der Reise war, und sich stets darnach zurückzusehnen, wenn er nicht mehr auf der Reise war.

»Wenn es Sommer wäre«, sagte Mr. Meagles, »was ich um Ihretwillen wünschen möchte, damit Sie den Ort in seinem größten Reize sähen, würden Sie kaum vor den Vögeln Ihr eigenes Wort hören. Als praktische Leute erlauben wir niemandem, die Vögel zu verjagen; und da auch die Vögel praktische Tiere sind, so kommen sie in Myriaden zu uns. Wir sind entzückt. Sie zu sehen, Clennam (wenn Sie gestatten, so lasse ich den Mister fallen); ich versichere Sie von ganzem Herzen, wir sind entzückt.«

»Ich wurde nie so freundlich begrüßt«, sagte Clennam, – dann erinnerte er sich, was Klein-Dorrit in seinem Zimmer zu ihm gesagt, und fügte ehrlich hinzu, »ausgenommen einmal – seit wir zum letzten Male spazierengingen und auf das Mittelländische Meer hinabblickten.«

»Ah!« versetzte Mr. Meagles. »Das war eine Aussicht, nicht wahr? Ich vermisse das Militärgouvernement nicht, aber ich würde mir aus ein bißchen Allons und Marchons – nur ein ganz klein wenig – in der Nachbarschaft nichts machen. Es ist hier verdammt still.«

Diese Lobrede auf den einsamen Charakter seines Ruhesitzes mit einem zweifelhaften Kopfschütteln begleitend, führte ihn Mr. Meagles nach dem Hause. Es war gerade groß genug, und so hübsch von innen wie von außen, wohl eingerichtet und behaglich. Einige Spuren von dem Wanderleben der Familie waren in den zugedeckten Rahmen und Möbeln und den eingehüllten Vorhängen zu bemerken. Aber man konnte leicht sehen, daß es eine von Mr Meagles‘ Eigenheiten war, das Landhaus während ihrer Abwesenheit stets so gehalten zu wissen, als wenn sie immer übermorgen zurückkämen. Von Dingen, die er auf seinen verschiedenen Reisen gesammelt, war so reiches Durcheinander vorhanden, daß man sich in die Wohnung eines liebenswürdigen Korsaren versetzt glaubte. Antiquitäten von Mittelitalien, von den besten modernen Häusern in dieser Branche der Industrie verfertigt; Stücke von ägyptischen (vielleicht Birminghamer) Mumien; Gondelmodelle von Venedig; Dörfermodelle aus der Schweiz; Bruchstücke von Mosaikböden aus Herkulanum und Pompeji, die wie versteinertes, zerhacktes Kalbfleisch aussahen; Asche von Gräbern und Lava vom Vesuv; Spanische Fächer, Strohhüte von Spezzia, Maurische Pantoffel, Toskanische Haarnadeln, Karrarische Bildwerke, Trasteverinische Schärpen, Genuesische Samt- und Filigranarbeiten, Neapolitanische Korallen, Römische Kameen, Genfer Juwelen, Arabische Laternen, Rosenkränze, sämtlich vom Papst gesegnet, und eine endlose Masse Plunder. Ansichten, ähnliche und unähnliche von einer Menge von Orten; ein kleines Gemäldezimmer für einige von den gewöhnlichen, klebrigen, alten Heiligen, mit Sehnen wie Peitschenschnüre, Haaren wie Neptun, Runzeln wie bei Tätowierten und so dick gefirnißten Kleidern, daß jeder Heilige als Fliegenfalle diente, was man in der Volkssprache eine »Fang sie lebendig« nennen würde. Von diesen Bildererwerbungen sprach Mr. Meagles in seiner gewöhnlichen Weise. Er sei kein Kenner, sagte er, und urteile nur nach Gefallen. Er habe sie schändlich billig gekauft, und die Leute halten sie für etwas ziemlich Bedeutendes. Ein Mann, der jedenfalls etwas davon verstehen müsse, habe diesen »lesenden Gelehrten« (einen besonders öligen, alten Mann in einer Pferdedecke, mit einem Schwanendunenkragen statt des Bartes und mit einem Gewebe von Rissen über das ganze Bild wie eine gute Pastetenkruste) für einen schönen Guercino erklärt. Was den Sebastian del Piombo betreffe, so möge man selbst urteilen; wenn es nicht seine spätere Manier sei, so sei die Frage: von wem es sei? Das könne ein Tizian sein oder auch nicht, vielleicht habe er es nur berührt. Daniel Doyce sagte, vielleicht habe er es auch nicht berührt, aber Mr. Meagles schien die Bemerkung überhören zu wollen.

Als er seine ganze Beute gezeigt, führte sie Mr. Meagles in sein eignes, reines Zimmer, von dem man den Rasenplatz im Park übersah, und das teils als Ankleidezimmer, teils als Schreibzimmer eingerichtet war. Auf einer Art Zahltisch lagen ein paar Messingwagen, um Gold zu wägen, und eine Schaufel, um Geld herauszuschaufeln.

»Hier sind sie«, sagte Mr. Meagles. »Ich war hinter diesen beiden Artikeln fünfunddreißig Jahre unausgesetzt her, als ich so wenig ans Umherschlendern in der Welt dachte, wie ich jetzt an das Zuhausebleiben denke. Als ich die Bank für immer verließ, bat ich darum und nahm sie mit mir fort. Ich sage das sogleich, damit Sie nicht meinen, ich sitze in meinem Kontor (wie Pet behauptet) wie der König in dem Gedicht von den vierundzwanzig Amseln und zähle mein Geld.«

Clennams Augen schweiften nach einem einfachen Bild von zwei hübschen kleinen Mädchen, die die Arme ineinander geschlungen hatten. »Ja, Clennam«, sagte Mr. Meagles mit leiserer Stimme. »Da sind sie beide. Es ist vor ungefähr siebenzehn Jahren gemalt. Wie ich oft zu der Mutter sage, sie waren damals noch Puppen.«

»Ihre Namen?« sagte Arthur.

»Ach, ja! Sie haben nie einen andern Namen gehört als Pet. Pets Name ist Minnie; ihre Schwester hieß Lillie.«

»Würden Sie erkannt haben, Mr. Clennam, daß eines von den beiden Mädchen ich sein soll?« fragte Pet, die nun unter der Tür stand.

»Ich hätte beide für Sie selbst gehalten, so sehr sehen Ihnen beide ähnlich. Wahrhaftig«, sagte Clennam, von dem schönen Urbild nach dem Gemälde und wieder zurück blickend, »ich kann auch jetzt noch nicht sagen, welches Ihr Porträt nicht ist.«

»Hörst du, Mutter?« rief Mr. Meagles seiner Frau zu, die ihrer Tochter gefolgt war. »Es ist immer dasselbe, Clennam: niemand kann entscheiden. Das Kind zu Ihrer Linken ist Pet.«

Das Bild war zufällig in der Nähe eines Spiegels. Als Arthur es wieder anblickte, sah er im Spiegel Tattycoram im Vorübergehen bei der Tür stehenbleiben, lauschend, was hier vorging, und dann mit ärgerlichem und verächtlichem Zusammenziehen des Gesichtes, das ihre Schönheit in Häßlichkeit verwandelte, weggehen.

»Doch kommen Sie!« sagte Mr. Meagles. »Sie hatten einen langen Weg zu machen und werden sich freuen, die Stiefel von den Füßen zu bekommen. Daniel, dem würde es wohl nicht einfallen, seine Stiefel abzulegen, wenn wir ihm nicht einen Stiefelknecht zeigten.«

»Warum nicht?« fragte Daniel mit einem bezeichnenden Lächeln gegen Clennam.

»O, Sie haben an so vielerlei zu denken«, versetzte Clennam, ihm auf die Schulter klopfend, als wenn seine Schwäche unter keiner Bedingung sich selbst überlassen werden dürfte. »Zahlen und Räder und Zähne und Hebel und Schrauben und Zylinder und tausend andere Dinge.«

»In meinem Beruf«, sagte Daniel heiter, »schließt das Größere gewöhnlich das Geringere ein. Aber das ist gleichgültig, ganz gleichgültig. Was Ihnen recht ist, ist mir auch recht.«

Clennam mußte, als er sich in seinem Zimmer an das Feuer setzte, unwillkürlich daran denken, ob nicht in der Brust dieses ehrenwerten, liebevollen und herzlichen Mr. Meagles irgendein mikroskopischer Teil von dem Senfkorn sei, das zu dem großen Baume des Circumlocution Office emporgewachsen. Das eigentümliche Gefühl, das er von seiner Ueberlegenheit über Daniel Doyce besaß, und das nicht so sehr auf irgend etwas in Doyces persönlichem Charakter als auf dem einfachen Schein begründet war, daß dieser ein Erfinder sei und außerhalb des gebahnten Weges anderer Menschenkinder einherwandere, brachte ihn auf diesen Gedanken. Es hätte ihn wohl auch bis zum Essen beschäftigt, zu dem er sich eine Stunde später begab, wenn nicht eine andere Frage in Betracht gekommen, deren er sich, seit er in Marseille in der Quarantäne gewesen, nicht hatte entschlagen können. Keine geringere Frage als: ob er sich’s erlauben sollte, sich in Pet zu verlieben?

Er war doppelt so alt wie sie. (Er wechselte mit dem Beine, das er über das andere geschlagen, und stellte die Berechnung noch einmal an, konnte aber doch die Summe nicht geringer herausbringen.) Er war doppelt so alt wie sie. Nein! Er war jung seinem Äußern nach, jung an Gesundheit und Kraft, jung an Herz. Ein Mann ist mit vierzig Jahren noch nicht alt, und viele Männer waren nicht in den Umständen zu heiraten oder heirateten nicht, bis sie dieses Lebensalter erreichten. Auf der andern Seite war die Frage, nicht was er von der Sache denke, sondern was sie davon denke.

Er glaubte, daß Mr. Meagles ihm seine volle Achtung zu zollen geneigt sei, und wußte, daß er Mr. Meagles und seine gute Frau gleichfalls von Herzen achte. Er konnte voraussehen, daß dieses schöne, einzige Kind, das sie so innig liebten, an irgendeinen Gatten wegzugeben, eine Prüfung für ihre Liebe sein würde, die sie vielleicht noch nie den Mut gehabt hatten, in Betracht zu ziehen. Aber je schöner und gewinnender und reizender sie war, desto mehr mußten sie die Notwendigkeit einsehen, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Und warum nicht ebensogut zu seinen Gunsten wie zu denen irgendeines andern?«

Als er soweit gekommen war, trat es ihm wieder vor die Seele, daß es sich nicht darum handelte, was sie davon dächten, sondern, was die Tochter davon denke.

Arthur Clennam war ein bescheidener Mann mit dem Gefühl von mancherlei Schwächen; er übertrieb die Vorzüge der schönen Minnie in solchem Grad und setzte die seinen so tief herab, daß, wenn er sich auf diese Wertung einstellte, seine Hoffnungen in die Brüche gingen. Er kam schließlich, als er sich zu Tisch anzog, zu dem Entschluß, sich nicht zu gestatten, sich in Pet zu verlieben.

Sie waren nur zu fünf und saßen um einen runden Tisch, alle in der heitersten, besten Stimmung. Sie hatten sich an so viele Orte und Menschen zu erinnern; es herrschte ein so leichter, angenehmer Ton (Daniel Doyce saß entweder zuhörend dabei, wie ein amüsierter Zuschauer beim Kartenspiel, oder er warf einige kluge, eigene Erfahrungen, wenn es gerade paßte, ein), daß sie zwanzigmal hätten zusammengewesen sein können, ohne soviel voneinander zu erfahren.

»Und Miß Wade«, sagte Mrs. Meagles, nachdem sie sich an eine Anzahl von Reisegefährten erinnert hatte, »hat jemand Miß Wade wiedergesehen?«

»Ich«, sagte Tattycoram.

Sie hatte einen kleinen Mantel gebracht, nach dem ihre junge Herrin geschickt, und beugte sich beim Umlegen über sie herab, als sie plötzlich ihre dunklen Augen erhob und diese unerwartete Antwort gab.

»Tatty!« rief ihre junge Herrin aus. »Du hast Miß Wade gesehen? – wo?«

»Hier, Miß«, sagte Tattycoram.

»Wie das?«

Ein ungeduldiger Blick von Tattycoram schien, als Clennam ihn sah, sagen zu wollen: »Mit meinen Augen!« Aber ihre einzige Antwort in Worten war: »Ich begegnete ihr in der Nähe der Kirche.«

»Ich möchte wissen, was sie dort tat!« sagte Miß Meagles. »Hinein ging sie nicht, sollte ich denken.«

»Sie hatte mir zuerst geschrieben!« sagte Tattycoram.

»O Tatty!« murmelte die Herrin, »nimm deine Hände weg. Es ist mir, als ob mich ein anderer berührte!«

Sie sagte das rasch und unwillkürlich, aber halb scherzend und nicht mutwilliger und unangenehmer, als es ein Liebling getan, der im nächsten Augenblick lachte. Tatty preßte die vollen roten Lippen zusammen und kreuzte die Arm auf ihrer Brust.

»Wünschen Sie zu wissen, Sir«, sagte sie, Mr. Meagles anblickend, »was mir Miß Wade schrieb?«

»Nun, Tattycoram«, versetzte Mr. Meagles, »da du fragst und wir hier lauter Freunde sind, so kannst du es wohl sagen, wenn du Lust hast.«

»Sie wußte, als wir auf der Reise waren, wo wir wohnen«, sagte Tattycoram, »und sie hatte mich in etwas – in etwas –«

»Schlechtem Humor gesehen, Tattycoram?« ergänzte Mr. Meagles, den dunklen Augen mit ruhiger Warnung zunickend. »Nimm dir etwas Zeit – zähle fünfundzwanzig, Tattycoram.«

Sie preßte ihre Lippen wieder zusammen und holte tief Atem.

»Sie schrieb an mich, um mir zu sagen, daß, wenn ich mich je gekränkt fühle«, sie blickte auf ihre junge Herrin herab, »oder geplagt würde«, sie blickte wieder auf sie herab, »so möchte ich zu ihr kommen und dürfe auf gute Behandlung zählen. Ich sollte mir die Sache überlegen und könne sie bei der Kirche sprechen. Ich ging deshalb hin, um ihr zu danken.«

»Tatty«, sagte ihre junge Herrin und legte die Hand so über ihre Schulter, daß die andere sie nehmen konnte, »Miß Wade hat mich beinahe erschreckt, als wir uns trennten, und ich hätte mir nicht gern gedacht, daß ich ihr so nahe wäre, ohne es zu wissen, liebe Tatty!«

Tatty stand einen Augenblick unbeweglich da.

»He?« rief Mr. Meagles. »Zähle wieder fünfundzwanzig, Tattycoram.«

Sie mochte bis zwölf gezählt haben, als sie sich herabbeugte und die liebkosende Hand küßte. Diese tätschelte ihre Wange, als sie die schönen Locken ihrer Besitzerin berührte, und Tattycoram ging weg.

»Da sehen Sie«, sagte Mr. Meagles sanft, indem er den Drehtisch zu seiner Rechten bewegte, um den Zucker an sich zu bringen. »Das Mädchen wäre verloren und ruiniert, wenn sie sich nicht unter praktischen Leuten befände. Mutter und ich wissen, einzig und allein, weil wir praktisch sind, daß es Zeiten gibt, in denen die ganze Natur dieses Mädchens sich dagegen sträubt, uns so vernarrt in Pet zu sehen. Kein Vater freilich und keine Mutter waren vernarrt in sie, in die arme Seele. Ich mag mir nicht denken, was das unglückliche Kind bei seiner Leidenschaftlichkeit und seinem trotzigen Charakter fühlt, wenn es das fünfte Gebot am Sonntag hört. Ich möchte immer rufen: Kirche, zähle fünfundzwanzig, Tattycoram.«

Neben seinem Drehtisch hatte Mr. Meagles zwei andere nicht stumme Aufwärterinnen13 in der Person von zwei Stubenmädchen, mit rosigen Gesichtern und hübschen Augen, die eine Zierde der Tafeldekoration bildeten. »Und warum nicht?« sagte Mr. Meagles über diesen Punkt. »Wie ich immer zu Mutter sage, warum nicht etwas Hübsches zum Ansehn haben, wenn man überhaupt etwas hat.«

Eine gewisse Mrs. Tickit, die Köchin und Haushälterin war, wenn die Familie daheim, und Haushälterin allein, wenn die Familie auf Reisen war, vervollständigte den Haushalt. Mr. Meagles bedauerte, daß die Art der Pflichten, die sie zu erfüllen habe, für den Augenblick ihm nicht erlaube, Mrs. Tickit vorzustellen, er hoffe, sie jedoch morgen dem neuen Besuch vorführen zu können. Sie sei ein wichtiger Teil des Landhauses, sagte er, und alle seine Freunde kennten sie. Das dort in der Ecke sei ihr Bild. Wenn sie wegzögen, trage sie immer das seidene Kleid und die onyxdunklen Locken, die das Bild zeige (ihr Haar war in der Küche rötlich-grau), setze sich in das Frühstückszimmer, lege ihre Brille zwischen zwei besondere Blätter von Doktor Buchans »Hausarzt« und sehe die ganze Zeit aus den Fensterläden, bis sie wiederkamen. Man war der Ansicht, daß man keinen Überredungsgrund erfinden könnte, Mrs. Tickit zu vermögen, den Posten an dem Fensterladen zu verlassen, wie lange auch ihre Abwesenheit dauern möchte, oder sich der Gesellschaft Doktor Buchans zu entschlagen; obgleich Mr. Meagles blindlings glaubte, daß sie die Arbeiten dieses gelehrten Praktikers noch nicht um ein Jota befragt.

Abends spielten sie einen altväterlichen Rubber; und Pet saß dabei und sah über ihres Vaters Hand oder sang abwechselnd an dem Piano vor sich hin. Sie war ein verzogenes Kind, aber wie wäre das anders möglich gewesen? Wer konnte gegenüber einem so sanften und schönen Geschöpf stark sein und sich dem entzückenden Einfluß entziehen? Wer konnte einen Abend im Haus zubringen und sie nicht um des Reizes und der Anmut willen, die ihre bloße Gegenwart über das Zimmer verbreitete, lieben? Das waren Clennams Gedanken, trotz des endgültigen Entschlusses, zu dem er im ersten Stock gekommen war.

Mit diesem Gedanken schwor er auch seine Absicht ab.

»Nein, woran denken Sie, mein guter Herr?« fragte Mr. Meagles, der mit ihm spielte, erstaunt.

»Ich bitte um Verzeihung. Nichts«, erwiderte Mr. Clennam.

»Denken Sie ein andermal an etwas; das wäre mir ein hübscher Mitspieler«, sagte Mr. Meagles.

Pet glaubte lachend, er habe an Miß Wade gedacht.

»Warum an Miß Wade, Pet?« fragte ihr Vater.

»Warum, ja warum?« sagte Arthur Clennam.

Pet errötete leicht und ging wieder an das Piano.

Als sie aufbrachen, um zu Bett zu gehen, hörte Arthur Doyce seinen Wirt fragen, ob er ihm nicht am andern Morgen vor dem Frühstück ein halbstündiges Gespräch gewähren könnte. Der Wirt sagte es bereitwillig zu, und Arthur blieb noch einen Augenblick zurück, da er in dieser Richtung selbst etwas hinzuzufügen hatte.

»Mr. Meagles«, sagte er, als sie allein waren, »erinnern Sie sich, daß Sie mich aufforderten, direkt nach London zurückzukehren?«

»Gewiß, ganz gut.«

»Und daß Sie mir noch einen andern guten Rat gaben, dessen ich damals bedurfte?«

»Ich kann nicht sagen, wieviel er wert war«, antwortete Mr. Meagles, »aber ich erinnere mich wohl noch, daß wir sehr heiter und vertraulich zusammen waren.«

»Ich habe nach Ihrem Rat gehandelt, und nachdem ich ein Geschäft erledigt hatte, das aus mancherlei Gründen peinlich für mich war, wünsche ich, meine Kräfte und meine Mittel einem andern Geschäfte zu widmen.«

»Gut. Sie können das nicht bald genug tun«, sagte Mr. Meagles.

»Als ich nun heute hierherging, fand ich, daß Ihr Freund, Mr. Doyce, sich nach einem Geschäftsteilhaber sehnt – nicht nach einem, der mechanische Kenntnisse besitzt, sondern einem, der das Geschäft merkantilisch auf die höchste Stufe hebt.«

»Ganz richtig«, sagte Mr. Meagles, die Hände in den Taschen und mit dem alten Geschäftsausdruck des Gesichts, der zu der Goldwage und Geldschaufel gehört.

»Mr. Doyce erwähnte gelegentlich im Verlauf unseres Gesprächs, daß er sich Ihren wichtigen Rat wegen der Wahl eines solchen Geschäftsteilhabers erbitten wolle. Wenn Sie glauben sollten, daß unsere Ansichten und Verhältnisse im ganzen zusammenpassen, so würden Sie ihm vielleicht meine vorteilhafte Lage auseinandersetzen. Ich spreche natürlich vollständig der Details unkundig: diese mögen auf beiden Seiten unangemessen sein.«

»Allerdings, allerdings«, sagte Mr. Meagles mit der Vorsicht, die zu der Goldwage und Geldschaufel gehört.

»Aber sie werden eine Frage bilden, die sich durch Zahlen und Berechnungen erörtern läßt.«

»Gewiß, gewiß«, sagte Mr. Meagles mit der arithmetisch-soliden Art, die zu der Goldwage und Geldschaufel gehört.

»– und ich werde mit Vergnügen zu einer Beratung bereit sein, vorausgesetzt, daß es Mr. Doyce angenehm ist und Sie auch damit einverstanden sind. Wenn Sie mir deshalb vorderhand gestatten wollen, die Sache in Ihre Hände zu legen, so werden Sie mich sehr verbinden.«

»Ich nehme das Vertrauen bereitwillig an, Clennam«, sagte Mr. Meagles. »Und ohne irgendeinen der Punkte vorwegzunehmen, die Sie als Geschäftsmann sich natürlich vorbehalten haben, kann ich Ihnen wohl sagen, daß ich hoffe, die Sache wird sich machen. Eines Punktes können Sie vollkommen gewiß sein. Daniel ist ein Ehrenmann.«

»Ich bin so überzeugt davon, daß ich mich rasch entschloß, mit Ihnen davon zu sprechen.«

»Sie müssen ihn leiten, wissen Sie; Sie müssen ihn lenken; Sie müssen ihn regieren; er gehört zu den unbeholfenen Menschen«, sagte Mr. Meagles, offenbar nichts weiter meinend, als eröffne er damit neue Perspektiven; »aber er ist so ehrenhaft wie die Sonne, und damit gute Nacht!«

Clennam ging in sein Zimmer, setzte sich wieder vor sein Feuer und nahm sich vor, froh zu sein, daß er beschlossen habe, sich nicht in Pet zu verlieben. Sie war so schön, so liebenswürdig, so empfänglich für jeden wahren Eindruck, den ihre edle Natur, ihr unschuldiges Herz erhielt, und mußte den Mann, dem es vergönnt war, ihn zu teilen, so gewiß zum glücklichsten und beneidenswertesten aller Männer machen, daß er wirklich froh war, zu jenem Entschluß gekommen zu sein.

Da dies jedoch eigentlich ein Grund gewesen, zum entgegengesetzten Entschluß zu kommen, so überlegte er sich die Sache noch einmal. Vielleicht um sich zu rechtfertigen.

»Angenommen, ein Mann«, so dachte er, »der seit einigen zwanzig Jahren mündig gewesen, der durch die Umstände seiner Jugend etwas mißtrauisch, durch den Verlauf seines Lebens ernst geworden, der wußte, daß ihm mancherlei anziehende Eigenschaften, die er an andern bewunderte, fehlen, weil er lange in fremden Ländern und von jedem zartern Einfluß entfernt gelebt, der ihr keine lieben Schwestern zu bieten hätte, der kein dem ihren ähnliches Haus besaß, in das er sie einführen könnte, der ein Fremder in seinem Vaterlande wäre, der kein Vermögen hätte, das groß genug, um in irgendeiner Weise die Mängel zu decken, zu dessen Gunsten nichts spräche als seine ehrbare Liebe und sein allgemeiner Wunsch, Gutes zu tun – angenommen, ein solcher Mann käme in dieses Haus und ließe sich von diesem reizenden Mädchen in Fesseln schlagen und überredete sich, er könne hoffen, sie zu erringen, welch eine Schwäche wäre das!«

Er öffnete leise das Fenster und sah auf den klaren Fluß hinaus, Jahr um Jahr, mag man das Boot auch noch so wild forttreiben lassen, mag der Strom noch so viele Meilen in einer Stunde zurücklegen, rechts die Binsen, links die Lilien, auf diesem Weg, der stetig seinen Lauf nimmt, ist nichts ungewiß oder unruhig.

Warum sollte er auch Kummer oder Schmerz im Herzen hegen? Es war nicht seine Schwäche, an die er dachte. Es war niemandes, niemandes Schwäche von allen seinen Bekannten, warum sollte er sich dadurch beunruhigen lassen? Und doch beunruhigte es ihn. Und er dachte – wer hätte es nicht bisweilen einen Augenblick gedacht – daß es besser sei, monoton wie der Fluß fortzufließen, und für seine Unempfindlichkeit gegen das Glück in der Unempfindlichkeit gegen das Unglück Ersatz zu finden.

  1. Wortspiel mit ›dumb-waiters‹ – Drehtische und ›dumb waiters‹ – stumme Aufwärterinnen.