Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Verschworene und andere Leute.
Die Privatwohnung von Mr. Pancks war in Pentonville, wo er auf außerordentlich bescheidenem Fuß im zweiten Stock bei einem Rechtsgelehrten hauste, der eine innere Tür hinter der Straßentür hatte, die auf einer Feder ruhte und mit einem Klirren wie eine Falle aufsprang. An dem fächerartigen Fenster stand geschrieben: Rugg, Generalagent, Rechnungsführer und Schuldeneintreiber.
Dieser Streifen, majestätisch in seiner strengen Einfachheit, bestrahlte ein schmales Stück Garten vor dem Hause, der an die durstige Landstraße stieß, wo einige von den staubigsten Blättern ihre traurigen Häupter hängen ließen und ein verschmachtendes Leben führten. Ein Professor der Kalligraphie bewohnte den ersten Stock und belebte das Gartengitter durch Glaskasten, die ausgewählte Proben von dem enthielten, was seine Zöglinge vor sechs Lektionen gewesen, als seine junge Familie am Tische rüttelte, und was sie nach sechs Lektionen geworden, als die Familie sich ruhig verhielt. Der Raum, den Mr. Pancks innehatte, beschränkte sich auf ein luftiges Schlafzimmer, er war jedoch mit Mr. Rugg, seinem Hausherrn, übereingekommen, daß er gegen Entrichtung einer gewissen genau bestimmten Skala von Bezahlungen und nach zuvor gegebener mündlicher Notiz das Frühstück, Mittagessen, den Tee oder das Nachtessen, eines von diesen oder alle zusammen bei Mr. und Miß Rugg, seiner Tochter, im hintern Zimmer sollte einnehmen dürfen.
Miß Rugg war eine Dame von ein wenig Vermögen, das sie sich mit großer Auszeichnung in der Nachbarschaft dadurch erworben, daß ihr Herz schwer zerrissen und ihre Gefühle tief verletzt worden waren, und zwar durch einen in der Nähe wohnenden Bäcker von mittlerem Alter, gegen den sie durch die Vermittlung Mr. Ruggs einen Entschädigungsprozeß wegen Bruchs eines Heiratsversprechens einzuleiten für nötig befunden. Der Bäcker, der bei dieser Gelegenheit durch den Anwalt der Miß aussaugerisch auf den vollen Betrag von zwanzig Guineen angeklagt wurde, achtzehn Pence pro Titel, und zu entsprechender Entschädigung verurteilt worden, hatte von der Jugend von Pentonville auch noch gelegentlich Verfolgungen auszustehen. Miß Rugg dagegen, von der Majestät des Gesetzes umgeben und besorgt, ihr Geld in Staatspapieren anzulegen, wurde mit großer Achtung behandelt.
In der Gesellschaft von Mr. Rugg, der ein rundes, weißes Gesicht hatte, als wäre ihm längst alle Röte entzogen, und einen zerzausten, gelben Kopf wie ein alter Flederwisch, und in der Gesellschaft von Miß Rugg, die kleine Nankingflecke wie Hemdknöpfe über das ganze Gesicht verbreitet hatte, und deren gelbe Haare mehr ruppig als üppig waren, hatte Mr. Pancks seit einigen Jahren gewöhnlich Sonntags gespeist und ungefähr zweimal in der Woche ein Abendessen, bestehend aus Brot, holländischem Käse und Porter eingenommen. Mr. Pancks war einer von den sehr wenigen heiratsfähigen jungen Männern, vor denen sich Miß Rugg nicht fürchtete; die Gründe, mit denen sie sich beruhigte, waren zweierlei Art, nämlich erstlich: »daß es nicht zweimal anginge«, und zweitens: »daß er’s nicht wert wäre.« Mit dieser doppelten Waffe ausgerüstet, konnte sich Miß Rugg leicht von Mr. Pancks anschnauben lassen. Bis zu dieser Zeit hatte Mr. Pancks wenig oder kein Geschäft in seinem Quartier in Pentonville besorgt, außer dem des Schlafens; aber jetzt, da er Wahrsagerei trieb, saß er oft nach Mitternacht mit Mr. Rugg in seinem kleinen Bureau, das nach vorn ging; und sogar nach dieser späten Stunde brannte Talglicht in seinem Schlafzimmer. Obgleich seine Obliegenheiten als Ausjäter seines Herrn in keiner Weise sich vermindert hatten, und obschon dieser Dienst keine größere Ähnlichkeit mit einem Rosenbeet hatte als die, die sich in seinen vielen Dornen entdecken ließ, nahm ihn doch irgendein neuer Industriezweig beständig in Anspruch. Wenn er sich am Abend von dem Patriarchen losband, geschah es nur, um eine ungetaufte Barke ins Schlepptau zu nehmen und in andern Gewässern wieder frisch draufloszuarbeiten. Der Schritt von einer persönlichen Bekanntschaft mit dem ältern Mr. Chivery zu einer Bekanntschaft mit seiner liebenswürdigen Frau und seinem trostlosen Sohn mochte leicht gewesen sein; aber leicht oder nicht, Mr. Pancks machte ihn sehr bald. Eine Woche oder zwei nach seinem ersten Erscheinen im Kollegium nistete er bereits in dem Tabakgeschäft und suchte hauptsächlich ein gutes Einverständnis mit dem jungen John herbeizuführen. Dies gelang ihm in solchem Grade, daß er den sich abquälenden Schäfer von den Hainen weglockte und ihm geheimnisvolle Missionen gab, bei welchen Gelegenheiten dieser dann in unbestimmten Zeiträumen für zwei bis drei Tage zu verschwinden begann. Die kluge Mrs. Chivery, die über diese Veränderung höchlich erstaunt war, würde dagegen, als etwas dem Hochländlerbild an dem Türpfosten Widerstrebendes protestiert haben, wenn sie nicht zwei zwingende Gründe gehabt hätte: erstens, daß ihr Sohn lebhaftes Interesse an dem Geschäft zu nehmen gezwungen war, das diese Reisen fördern mußten, – und das hielt sie gut für seine gebeugten Geister; zweitens, daß Mr. Pancks im Vertrauen ihr das Versprechen machte, für die Zeit, die ihr Sohn ihm widme, die hübsche Summe von sieben Schillingen und sechs Pence für den Tag zu bezahlen. Der Vorschlag, der von ihm selbst kam und in die energischen Worte gekleidet wurde: »Wenn Ihr Sohn schwach genug ist, Ma’am, es nicht zu nehmen, so ist das noch kein Grund, warum Sie das auch sein sollten, nicht wahr? Somit ganz unter uns: das Geschäft ist abgemacht!«
Was Mr. Chivery von diesen Sachen dachte und wieviel oder wie wenig er von denselben wußte, war nicht zu erfahren. Es ist bereits von ihm bemerkt worden, daß er ein Mann von wenigen Worten war; und es mag hier erwähnt werden, daß er von seinem Geschäft die Gewohnheit angenommen, alles zu verschließen. Er verschloß sich selbst so sorgfältig wie die Schuldner im Marschallgefängnis. Selbst seine Gewohnheit, sein Essen zu verriegeln, mag ein Teil eines gleichförmigen Ganzen gewesen sein, aber es ist keine Frage, daß er in allen andern Dingen seinen Mund verschloß, wie er das Marschallgefängnis verschloß. Er öffnete ihn nie ohne Veranlassung. Wenn es notwendig war, sich über etwas zu äußern, öffnete er ihn ein wenig, hielt ihn so lange offen, wie für den Zweck genügte, und schloß ihn dann wieder. Gerade wie er seine Mühe an der Tür des Marschallgefängnisses sparte und einen Fremden, der hinausgehen wollte, einige Augenblicke warten ließ, wenn er einen andern Fremden den Hof herabkommen sah, so daß ein Umdrehen des Schlüssels für beide genügte, ähnlich behielt er häufig eine Bemerkung zurück, wenn er eine andere auf dem Wege zu seinen Lippen bemerkte, und entließ sie dann beide zu gleicher Zeit. Suchte man in seinem Gesicht irgendeinen Schlüssel zur Kenntnis seines Innern, so war der Marschallgefängnisschlüssel ein ebenso leserlicher Index der Charaktere und Geschichten, die er verschloß.
Daß Mr. Pancks sich veranlaßt sehen sollte, irgend jemand nach Pentonville einzuladen, war ein Fall, der in seinem Kalender noch nicht bemerkt war. Er lud jedoch den jungen John zum Mittagessen und brachte ihn in die Schußweite des gefährlichen (weil sehr verschwenderischen) Zaubers von Miß Rugg. Das Bankett war auf einen Sonntag bestimmt, und Miß Rugg füllte bei dieser Gelegenheit mit eigener Hand einen Hammelbraten mit Austern und schickte ihn zum Bäcker, nicht zu dem Bäcker, sondern zu einem Gegner desselben. Große Vorräte von Orangen, Apfel und Nüssen wurden gleichfalls aufgekauft. Auch Rum brachte Mr. Pancks Samstag abend nach Hause, um das Herz des Gastes zu erfreuen.
Dieser Überfluß an körperlichen Labsalen war nicht das Wichtigste bei dem Empfang des Fremden. Sein wesentlicher Zug war die vorhergängige Vertraulichkeit und Sympathie der Familie. Als der junge John um halb zwei Uhr ohne die Elfenbeinhand und die Weste mit den Goldzweigen erschien, wie eine Sonne, die durch tückische Wolken ihrer Strahlen beraubt ist, stellte ihn Mr. Pancks den gelbhaarigen Ruggs als den so oft erwähnten jungen Mann vor, der Miß Dorrit liebe.
»Ich freue mich«, sagte Mr. Rugg, ihn hauptsächlich in dieser Richtung anredend, »das außerordentliche Vergnügen zu haben, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir. Ihre Gefühle machen Ihnen Ehre. Sie sind jung; mögen Sie nie Ihre Gefühle überleben. Sollte ich je meine Gefühle überleben, Sir«, sagte Mr. Rugg, der ein Mann von vielen Worten war und für einen sehr gewandten Sprecher galt, »sollte ich meine Gefühle überleben, so würde ich in meinem Testament fünfzig Pfund dem Manne aussetzen, der mich aus dem Leben schaffte.«
Miß Rugg seufzte tief auf.
»Meine Tochter, Sir«, sagte Mr. Rugg. »Anastasia, dir sind die Gefühle dieses jungen Mannes nicht fremd. Meine Tochter hatte auch ihre Prüfungen« (Mr. Rugg hätte das Wort ruhig in der Einzahl brauchen sollen), »und sie kann mit Ihnen fühlen.«
Der junge John, beinahe betäubt von dieser rührenden Art des Empfangs, gab dies durch einige Worte zu erkennen.
»Um was ich Sie beneide, Sir«, sagte Mr. Rugg, »– erlauben Sie, daß ich Ihren Hut nehme, wir haben etwas wenig Haken, ich will ihn in die Ecke stellen, niemand wird dort darauf treten – um was ich Sie beneide, Sir, ist der Reichtum Ihrer Empfindungen. Ich gehöre zu einem Stande, dem dieser Reichtum bisweilen versagt ist.«
Der junge John antwortete, indem er seinen Dank aussprach, daß er die Hoffnung hege, er tue, was recht sei und was beweise, wie sehr er Miß Dorrit ergeben sei. Er wünsche, unselbstsüchtig zu sein, und hoffe es zu sein. Er wünsche, alles, was in seiner Macht stünde, zu tun, um Miß Dorrit zu dienen, indem er sich dabei ganz aus den Augen setzte; und er hoffe, daß dies der Fall sei. Es sei nur wenig, was er tun könne, über er wünsche es zu tun.
»Sir«, sagte Mr. Rugg, indem er ihn bei der Hand nahm. »Sie sind ein junger Mann, dem zu begegnen einem wohltut. Sie sind ein junger Mann, den ich auf die Zeugenbank setzen möchte, um die Herren vom Recht menschlicher zu machen. Ich hoffe, Sie haben Appetit mitgebracht und beabsichtigen, eine gute Klinge zu schlagen?«
»Ich danke, Sir«, versetzte der junge John, »ich esse gegenwärtig nicht viel.«
Mr. Rugg zog ihn ein wenig auf die Seite. »Ganz meiner Tochter Fall«, sagte er, »als sie, um ihre verletzten Gefühle und ihr Geschlecht zu rächen, in Sachen Ruggs gegen Bawkins klagbar wurde. Ich glaube, Mr. Chivery, ich hätte, wofern ich es der Mühe wert gehalten, mit Beweisen belegen können, daß das Gewicht solider Nahrungsmittel, die meine Tochter zu jener Zeit konsumierte, zehn Unzen wöchentlich nicht überstieg.«
»Ich glaube, etwas darüber hinauszugehen, Sir«, versetzte der andere zögernd, als ob er mit einer gewissen Scham dies Geständnis machte.
»Aber in Ihrem Falle ist auch kein Teufel in Menschengestalt im Spiel«, sagte Mr. Rugg, mit einem Lächeln und einer Handbewegung, die seinen Ausspruch bekräftigten. »Bemerken Sie wohl, Mr. Chivery, kein Teufel in Menschengestalt!«
»Nein, Sir, allerdings nicht«, fügte der junge John einfach hinzu, »es würde mir auch großen Kummer machen, wenn das der Fall wäre.«
»Dieses Gefühl«, sagte Mr. Rugg, »konnte ich nach Ihren bekannten Grundsätzen erwarten. Es würde meine Tochter sehr rühren, Sir, wenn sie das hörte. Da ich den Hammelbraten rieche, so bin ich froh, daß sie es nicht gehört. Mr. Pancks, bitte, setzen Sie sich bei dieser Gelegenheit mir gegenüber. Meine Liebe, nimm gegenüber von Mr. Chivery Platz. Für das, was wir zu genießen im Begriff sind, dürfen wir (und Miß Dorrit) wahrhaft dankbar sein!«
Ohne die scheinbar ernste Schalkhaftigkeit, die in Mr. Ruggs Art, das Mahl einzuleiten, lag, hätte es scheinen können, man erwarte, Miß Dorrit werde mit von der Partie sein. Pancks anerkannte den Einfall in seiner gewöhnlichen Weise und nahm seine Provisionen in der gewöhnlichen Weise. Miß Rugg, die vielleicht einige von ihren Rückständen tilgen wollte, hielt sich gleichfalls sehr freundlich an den Hammelbraten, der rasch bis auf den Knochen zusammenschwand. Ein Brot- und Butterpudding verschwand ganz und gar, und eine beträchtliche Masse Käse und Rettiche verschwanden in gleicher Weise. Dann kam das Dessert.
Bald erschien, noch ehe der Grog angegriffen worden, auch Mr. Pancks‘ Notizbuch. Die folgenden Geschäftsverhandlungen waren kurz, aber seltsam und hatten viel Ähnliches mit einer Verschwörung. Mr. Pancks beschäftigte sich eifrig mit seinem Notizbuch, das nach und nach voll wurde, und machte kleine Auszüge, die er auf einzelne Zettel auf dem Tisch schrieb. Mr. Rugg sah ihn indes mit großer Aufmerksamkeit an, während der junge John sein auf nichts Bestimmtes gerichtetes Auge in den Nebeln der Beschaulichkeit umherschweifen ließ. Als Mr. Pancks, der die Rolle eines Hauptverschwörers spielte, seine Auszüge vollendet hatte, überschaute er sie, korrigierte sie, steckte sie in sein Notizbuch und hielt sie eine Zeitlang wie ein Spiel Karten in der Hand.
»Na, da ist ein Kirchhof in Bedfordshire«, sagte Pancks. »Wer nimmt ihn?«
»Ich will ihn nehmen«, erwiderte Mr. Rugg, »wenn niemand darauf bietet.«
Mr. Pancks teilte ihm seine Karte zu und sah wieder auf seine Hand.
»Da ist eine Nachfrage in York zu machen«, sagte Pancks. »Wer übernimmt diese?«
»Ich tauge nicht für York«, sagte Mr. Rugg.
»Dann werden Sie vielleicht so gut sein, John Chivery«, fuhr Pancks fort.
Der junge John erklärte sich bereit. Pancks teilte ihm seine Karte zu und blickte wieder auf seine Hand.
»Da ist eine Kirche in London; die kann ich ebensogut übernehmen. Ferner eine Familienbibel, die kann ich auch übernehmen. Das ist zweierlei für mich. Zweierlei für mich«, wiederholte Pancks, tief aufatmend über seinen Karten. »Hier ist ein Kaufmannsdiener in Durham für Sie, John, und ein alter Seekapitän in Dunstable für Sie, Mr. Rugg. Zwei für mich, nicht wahr? Ja, zwei für mich. Hier ist ein Grabstein: drei Sachen für mich. Und ein totgeborenes Kind: vier Sachen für mich. Das ist alles für den Augenblick.«
Als er so seine Karten verteilt, was alles sehr ruhig und mit gedämpftem Tone geschah, steuerte Mr. Pancks pustend in seine Brusttasche und schleppte ein Leinwandsäckchen heraus, aus dem er mit zögernder Hand das Geld für die Reisekosten in zwei kleinen Portionen abzählte. »Die Kasse leert sich schnell«, sagte er ängstlich, indem er seinen beiden männlichen Geschäftsgenossen eine Portion zuschob, »sehr schnell.«
»Ich kann Sie nur versichern, Mr. Pancks«, sagte der junge John, »daß ich tief bedauere, in Verhältnissen zu sein, die mir nicht gestatten, meine Auslagen selbst zu bestreiten, und daß es nicht ratsam ist, mir die nötige Zeit zu nehmen, den Weg zu Fuß zu machen. Denn nichts würde mir größere Befriedigung gewähren, als mir ohne Lohn und Entschädigung die Beine abzulaufen.«
Die Uneigennützigkeit dieses jungen Mannes erschien in Miß Ruggs Augen so lächerlich, daß sie sich genötigt sah, sich eiligst aus der Gesellschaft zu entfernen und auf die Treppe zu setzen, bis sie sich ausgelacht. Indessen drehte Mr. Pancks, indem er nicht ohne Mitleid auf den jungen John sah, langsam und nachdenklich sein Leinwandsäckchen zusammen, als ob er ihm den Hals umdrehte. Die Dame, die gerade zurückkam, als er ihn in die Tasche steckte, mischte Rum und Wasser für die Gesellschaft, des eignen lieben Ichs nicht vergessend, und reichte jedem ein Glas. Als alle versehen waren, stand Mr. Rugg auf, und sein Glas armlang über die Mitte des Tisches haltend, lud er schweigend durch diese Gebärde die drei andern ein, anzustoßen und sich zu einem allgemeinen verschwörerischen Klingen zu vereinigen. Die Zeremonie war bis zu einem gewissen Grade effektvoll und wäre dies ganz und gar gewesen, wenn Miß Rugg, während sie ihr Glas, um den Schwur zu vollenden, zu den Lippen erhob, nicht zufällig auf den jungen John gesehen, dessen wirklich lächerliche Uneigennützigkeit wieder einen so überwältigend komischen Eindruck auf sie machte, daß sie einige ambrosische Tropfen Grog verschüttete und sich in Verlegenheit davonschlich. Das war das Mahl, ohne vorgängiges Beispiel, das Pancks in Pentonville gab; und dies das geschäftige und seltsame Leben, das Pancks führte. Die einzigen wachen Momente, in denen er von seinen Sorgen sich zu zerstreuen und sich zu erholen schien, indem er dahin und dorthin ging und dies und jenes schwatzte, ohne einen bestimmten Zweck im Auge zu haben, waren die, wo er ein dämmerndes Interesse für den lahmen Fremden mit dem Stock hatte, der im Hof zum blutenden Herzen wohnte.
Der Fremde, der Johann Baptist Cavaletto hieß – sie nannten ihn Mr. Baptist auf dem Hofe –, war solch ein piepsender, leichter, hoffnungsvoller kleiner Bursche, daß die Anziehungskraft, die er für Pancks hatte, wahrscheinlich in der Stärke des Kontrastes lag. Einsam, schwach und spärlich bekannt mit den notwendigsten Worten der einzigen Sprache, in der er mit den Leuten um ihn her verkehren konnte, schwamm er heiter, wie es in diesen Regionen neu war, mit dem Strome des Schicksals. Mit wenig zu essen und noch weniger zu trinken und nichts sich zu kleiden, als was er auf dem Leibe trug oder in dem kleinsten Bündel, das je gesehen worden, zusammengeschnallt mitgebracht, machte er ein so fröhliches Gesicht, als ob er sich in den glänzendsten Umständen befände, als er zum erstenmal auf dem Hofe auf- und niederhumpelte und mit seinen weißen Zähnen sich demütig das allgemeine Wohlwollen erbat.
Es war keine geringe Sache für einen Fremden, lahm oder gesund, mit den »blutenden Herzen« fortzukommen. Erstens waren sie der unklaren Überzeugung, daß jeder Fremde ein Messer bei sich habe; zweitens hielten sie es für ein gesundes konstitutionell-nationales Axiom, daß er sich in seine Heimat scheren solle. Sie dachten nicht daran, zu untersuchen, wie viele von ihren eigenen Landsleuten von den verschiedenen Teilen der Welt zurückgeschickt werden würden, wenn dieser Grundsatz allgemeine Anerkennung fände; sie betrachteten ihn als besonders und spezifisch englisch. Drittens hatten sie die Ansicht, daß es eine Art göttlicher Heimsuchung für den Fremden sei, kein Engländer zu sein, und daß sein Land von allen Arten von Unglücksfällen heimgesucht wurde, weil es Dinge tat, die England nicht tat, und Dinge unterließ, die England tat. In diesem Glauben waren sie lange von den Barnacles und Stiltstalkings erzogen worden, die ihnen immer amtlich und nichtamtlich verkündeten, daß kein Land, das versäumte, sich diesen beiden großen Familien zu unterwerfen, hoffen könne, unter dem Schutze der Vorsehung zu stehen; und die, wenn sie es glaubten, sie privatim als das vorurteilsvollste Volk unter der Sonne verschrien.
Dies konnte deshalb eine politische Stellung der blutenden Herzen genannt werden, aber sie hatten noch andere Einwürfe dagegen, daß Fremde auf dem Hofe wohnten. Sie glaubten, daß Fremde sich stets übel befänden, und obgleich sie selbst sich so übel befanden, wie sie nur wünschen konnten, so schwächte dies doch die Kraft des Einwurfes nicht ab. Sie glaubten, daß Fremde mit Dragonern und Bajonetten behandelt werden mußten, und obgleich ihre eigenen Schädel bald eingeschlagen wurden, wenn sie irgendeine üble Laune zeigten, so geschah dies doch mit einem stumpfen Instrument, und das zählte nicht. Sie glaubten, Fremde seien immer unmoralisch, und obgleich sie zuweilen einen Gerichtstag zu Hause hatten und dann und wann einen Scheidungsfall oder dergleichen, so hatte das nichts damit zu schaffen. Sie glaubten, Fremde hätten keinen Unabhängigkeitssinn, weil sie nie herdenweise von Lord Decimus Tite Barnacle mit fliegenden Fahnen und im Takt von Rule Britannia nach der Wahlurne getrieben wurden. Um nicht langweilig zu werden, sagen wir, sie hatten noch gar manche Glaubensartikel der Art.
Gegen diese Vorurteile mußte der Fremde mit dem Stock sich so gut stemmen, wie er konnte; er war dabei nicht ganz verlassen, weil Mr. Arthur Clennam ihn an die Plornishs empfohlen (er wohnte im Dachgeschoß desselben Hauses), aber immerhin war es eine schwierige Sache. Die blutenden Herzen waren indes gute Herzen; und als sie den kleinen Mann mit wohlgelauntem Gesicht heiter umhergehen sahen und merkten, daß er niemand etwas Böses zufügte, keine Messer zog, keine furchtbaren Unsittlichkeiten beging, hauptsächlich von Mehl- und Milchspeisen lebte und abends mit den Kindern von Mr. Plornish spielte, begann die Ansicht in ihnen aufzutauchen, obgleich er nie der Hoffnung sich hingeben könnte, je ein Engländer zu werden, würde es doch hart sein, dieses Unglück an ihm heimzusuchen. Sie begannen sich seinem Gesichtskreise anzubequemen, indem sie ihn Mr. Baptist nannten, ihn jedoch wie ein Wickelkind behandelten und unbändig über sein lebhaftes Mienenspiel und sein kindisches Englisch lachten – mehr vielleicht, weil er selbst sich nichts daraus machte und auch darüber lachte. Sie sprachen sehr laut mit ihm, als ob er stocktaub wäre. Sie bildeten Sätze, um ihm die Sprache in ihrer Reinheit beizubringen, wie sie die Wilden an Kapitän Cook oder Freitag an Robinson richteten.
Mrs. Plornish war besonders erfinderisch in dieser Kunst und gewann eine solche Berühmtheit, indem sie sagte: »Ik offen, daß Ihr Pein bald kesund«, daß man im Hof glaubte, das sei nur noch wenig vom Italienischen entfernt. Ja, Mrs. Plornish selbst begann zu glauben, sie habe eine natürliche Begabung für diese Sprache. Als er beliebter wurde, brachte man Haushaltungsgegenstände herbei, um ihm einen reichhaltigeren Wörterschatz zu verschaffen; und sooft er im Hofe erschien, kamen die Mädchen an ihre Türen und riefen: »Mr. Baptist – Teekanne!« – »Mr. Baptist – Kehrichtkorb!« – »Mr. Baptist – Mehlstreubüchse!« – »Mr. Baptist – Kaffeesack!« Dabei zeigten sie ihm diese Gegenstände und erfüllten ihn mit dem Gefühl der enormen Schwierigkeiten der angelsächsischen Sprache.
In diesem Stadium seiner Fortschritte und ungefähr in der dritten Woche seiner Beschäftigung mit der Sprache wurde Mr. Pancks‘ Phantasie auf den kleinen Mann gerichtet. Begleitet von Mrs. Plornish als Dolmetscherin, stieg er zu seinem Kämmerchen hinauf und fand Mr. Baptist ohne alle andern Möbel als sein Bett auf dem Boden, einen Tisch und einen Stuhl, wie er mit Hilfe einiger weniger einfache Werkzeuge in der heitersten Weise Schnitzereien machte.
»Na, alter Junge«, sagte Mr. Pancks, »bezahle.«
Er hatte sein Geld, in ein Stück Papier gewickelt, in Bereitschaft und händigte es ihm lachend ein; dann streckte er mit einer freien Aktion so viele Finger seiner rechten Hand in die Höhe, als es Schillinge waren, und machte dann einen Hieb kreuzweise in die Luft, für den Sixpence darüber.
»Oh!« sagte Pancks, indem er ihn staunend beobachtete. »Soviel ist’s, nicht wahr? Du bist ein pünktlicher Kunde. Es ist ganz recht. Ich dachte nicht, daß ich’s bekommen würde.«
Mrs. Plornish mischte sich hier mit großer Herablassung in die Sache und erklärte sie Mr. Baptist. »Er große Freude. Er froh sein Geld kriegen.«
Der kleine Mann lächelte und nickte. Sein heiteres Gesicht schien eine ungewöhnliche Anziehungskraft für Mr. Pancks zu haben. »Wie geht es ihm mit seinem Bein?« fragte er Mrs. Plornish.
»Oh, er ist viel besser, Sir«, sagte Mrs. Plornish. »Wir hoffen, daß er nächste Woche imstande sein wird, seinen Stock ganz missen zu können.« Da die Gelegenheit zu günstig war, um sie zu verlieren, so legte sie ihre große Geschicklichkeit an den Tag, indem sie mit verzeihlichem Stolz Mr. Baptist verdolmetschte: »Er offen, Ihr Pein werden bald kesund sein.«
»Er ist außerdem ein lustiger Bursche«, sagte Pancks, indem er ihn bewunderte, als wäre er eine mechanische Spielpuppe. »Wovon lebt er denn?«
»Nun, Sir«, erwiderte Mrs. Plornish, »er scheint sehr geschickt im Blumenschnitzeln, womit Sie ihn eben beschäftigt sehen.« Mr. Baptist, der ihre Gesichter beobachtet, während sie sprachen, hielt seine Arbeit in die Höhe. Mrs. Plornish verdolmetschte in ihrer italienischen Manier zugunsten Mr. Pancks‘: »Gefällt ihm. Sehr gut.«
»Kann er davon leben?« fragte Pancks.
»Er hat sehr wenig Bedürfnisse, Sir, und es ist zu erwarten, daß er mit der Zeit imstande sein wird, sich ein gutes Auskommen zu verdienen. Mr. Clennam verschaffte ihm diese Arbeit und gibt ihm noch mancherlei sonst zu tun in der Werkstätte nebenan, kurz, sorgt für ihn, wenn er weiß, daß er’s braucht.«
»Und was fängt er an, solange er noch nicht viel zu tun hat?« sagte Pancks.
»Nun, für jetzt nicht viel, Sir, vermutlich, weil er nicht imstande ist, viel zu gehen; aber er spaziert im Hofe herum und plaudert, ohne besonders viel verstanden zu werden oder die Leute zu verstehen, oder spielt mit den Kindern und sitzt in der Sonne – er würde sich überall hinsetzen, als wär’s ein Armstuhl – und singt und lacht.«
»Lacht!« wiederholte Mr. Pancks. »Er kommt mir vor, als ob jeder Zahn in seinem Munde beständig lachte.« »Aber sooft er auf die oberste Stufe am andern Ende des Hofes kommt«, sagte Plornish, »guckt er in der wunderlichsten Weise von der Welt hinaus! So daß einige von uns es sich nicht nehmen lassen, er sehe nach der Stelle, wo sein Vaterland ist; andere denken wieder, er schaue sich nach jemandem um, den er nicht zu sehen wünscht, und wiederum andere wissen nicht, was sie denken sollen.«
Baptist schien im allgemeinen zu verstehen, was sie sagte; oder vielleicht bemerkte sein Scharfblick die flüchtige Gebärde des Sichumschauens und machte sich seine Folgerungen. Genug, er schloß die Augen und warf den Kopf zurück mit der Miene eines Mannes, der genügend Gründe zu dem hat, was er tut, und sagte in seiner Muttersprache, es habe nichts zu bedeuten. Altro!
»Was ist Altro?« fragte Pancks.
»Hm! ’s ist ein Ausdruck für alles mögliche, Sir«, sagte Mrs. Plornish.
»So?« sagte Pancks. »Nun denn Altro, alter Junge. Guten Abend. Altro!«
Mr. Baptist wiederholte das Wort in seiner lebhaften Weise mehrmals. Mr. Pancks gab es ihm in seiner düsteren Art einmal zurück. Von dieser Zeit an wurde es eine stehende Gewohnheit bei Pancks dem Zigeuner, wenn er abends ermüdet heimging, den Weg an dem Bleeding Heart Yard vorüber zu nehmen, ruhig die Treppe hinaufzugehen, in Mr. Baptists Zimmer hineinzusehen und, wenn er ihn drinnen fand, zu sagen: »Holla, alter Junge, Altro!« Worauf dann Mr. Baptist mit unermüdlichem Nicken und Lächeln antwortete: »Altro, Signore, altro, altro, altro!« Nach dieser sehr gedrängten Unterhaltung ging Mr. Pancks gewöhnlich seiner Wege, wie es schien, ungemein erleichtert und erfrischt.