Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Der Oberhaushofmeister gibt sein Amtssiegel zurück.

Das Diner fand bei dem berühmten Arzt statt. Advokat war dort und in vollem Glanz. Ferdinand Barnacle war dort und in seiner gewinnendsten Erscheinung. Wenige Wege des Lebens waren dem Arzt verborgen, und er betrat die dunkelsten Orte häufiger als sogar Bischof. Es gab glänzende Damen in London, die ganz in ihn verliebt waren und ihn den reizendsten Mann und den liebenswürdigsten Mann nannten, und die geschaudert hätten, so dicht bei ihm zu stehen, wenn sie gewußt hätten, worauf diese gedankenvollen Augen vor ein oder zwei Stunden geruht und an welchen Betten und unter welchen Dächern seine ruhige Gestalt gestanden hatte. Aber der Arzt war eine stille Natur, die weder auf ihrer eigenen Trompete, noch auf der Trompete andrer Leute blies. Mancherlei wunderbare Dinge sah und hörte er, und unter vielen unversöhnlichen Widersprüchen sittlicher Art verbrachte er sein Leben; aber sein teilnahmvolles Herz blieb sich unverändert gleich wie das des göttlichen Meisters aller Heilkunst. Er kam wie der Regen zu den Gerechten und Ungerechten, tat so viel Gutes, als er konnte, und verkündete es weder in den Synagogen noch an den Straßenecken.

Wie kein Mann von großer Menschenkenntnis, so wenig er auch daraus machen mag, anders als ungemein interessant durch den Besitz solchen Wissens sein kann, so war auch der Arzt eine anziehende Persönlichkeit. Selbst die feineren Herren und Damen, die keine Idee von seinem Geheimnis hatten, und die vor Schrecken von mehr Verstand gekommen wären, als sie besaßen, wenn er ihnen den ungeheuer unpassenden Vorschlag gemacht: »Kommt und seht, was ich sehe!«, gestanden, daß er ein anziehender Mann sei. Wo er war, war etwas Reelles. Und ein halber Gran Wirklichkeit gibt wie der kleinste Teil einiger anderer kaum natürlicher Produkte einem unermeßlichen Quantum Verdünnungsstoff Geschmack.

Daher kam es auch, daß die kleinen Diners des Arztes die Leute in ihrem mindest konventionellen Licht zeigten. Die Gäste sagten sich, unbewußt oder nicht: »Hier ist ein Mann, der uns wirklich kennt, wie wir sind, der jeden Tag einige von uns bei seinen Besuchen ohne Perücke und Schminke sieht, der unsern Gedankengang kennt und den unverstellten Ausdruck unserer Züge sieht, wenn wir über beide keine Macht mehr haben; wir können ihm gegenüber schon mehr die natürliche Seite herauskehren, denn er ist im Vorteil uns gegenüber und ist uns zu sehr überlegen.« Deshalb ließen sich die Gäste an seinem Tisch so überraschend gehen, daß sie beinahe natürlich waren.

Advokats Kenntnis der Masse der Jurymänner, die man Menschheit nennt, war so scharf wie ein Rasiermesser, aber ein Rasiermesser ist kein allgemein anwendbares Instrument, und des Arztes einfaches, glänzendes Skalpiermesser, obgleich weit weniger scharf, war zu unendlich mehr Zwecken zu gebrauchen. Advokat kannte die Leichtgläubigkeit und Unredlichkeit der Menschen; aber der Arzt hätte ihm in einer Woche seiner Krankenbesuche eine bessere Einsicht in ihre zarten und liebevollen Gefühle geben können als Westminster Hall und alle Assisen zusammen in siebenzig Jahren. Advokat hatte immer eine Ahnung davon und bestärkte sie vielleicht gern (denn wenn die Welt wirklich ein großer Gerichtshof wäre, so sollte man denken, die Schlußsitzung könnte nicht früh genug kommen);, so hatte er den Arzt ebensogern und respektierte ihn ebensosehr als jede andere Menschenklasse.

Mr. Merdles Ausbleiben ließ einen Bankostuhl am Tische frei: aber wenn er auch dagewesen, wäre er eben nur Banko gewesen, und folglich war es kein Verlust. Advokat, der rings um Westminster Hall nichts unaufgelesen ließ, gerade wie ein Rabe, wenn er so viel Zeit dort zugebracht, hatte in den letzten Tagen viele Strohhalme dort aufgelesen und in die Luft geworfen, um zu sehen, woher der Merdlewind bliese. Er sprach jetzt ein paar Worte über diese Sache mit Mrs. Merdle selbst, auf die er, natürlich mit seinem doppelten Augenglas und einer Juryverbeugung, zugekommen war.

»Ein gewisser Vogel,« sagte Advokat, und er sah dabei aus, als ob es kein anderer Vogel hätte sein können als eine Elster, »zwitscherte neuerdings unter uns Advokaten, daß die betitelten Personen dieses Reiches einen Zuwachs erhalten sollten.«

»Wirklich?« sagte Mrs. Merdle.

»Ja«, sagte Advokat, »Hat dieser Vogel nicht auch in weit andere Ohren als die unsrigen – in liebliche Ohren gezwitschert?« Er sah dabei ausdrucksvoll auf Mrs. Merdles nächsten Ohrring.

»Meinen Sie die meinigen?« fragte Mrs. Merdle.

»Wenn ich sage lieblich«, sagte Advokat, »so meine ich immer Sie.«

»Ich glaubte, Sie meinen nie etwas«, versetzte Mrs. Merdle (nicht unangenehm berührt).

»Oh, wie grausam ungerecht!« sagte Advokat. »Aber der Vogel?«

»Ich bin die letzte Person in der Welt, die Neuigkeiten hört«, bemerkte Mrs. Merdle, nachlässig sich ihren festen Platz zurechtrückend. »Wer ist es?«

»Was für eine bewundernswerte Zeugin würden Sie abgeben!« sagte Advokat. »Keine Jury (wenn wir sie nicht etwa aus Blinden zusammensetzten) könnte Ihnen widerstehen, wenn Sie auch noch so schlecht aussagten; aber Sie würden sicher nur gut aussagen.«

»Warum, Sie lächerlicher Mann?« fragte Mrs. Merdle lachend.

Advokat bewegte sein doppeltes Augenglas drei- bis viermal zwischen sich und dem Busen, gewissermaßen als scherzhafte Antwort, und fragte dann in dem einschmeichelndsten Ton:

»Wie darf ich die eleganteste, vollkommenste und reizendste der Frauen in einigen Wochen oder vielleicht in einigen Tagen nennen?«

»Hat Ihr Vogel Ihnen nicht gesagt, wie Sie sie nennen sollen?« antwortete Mrs. Merdle. »Fragen Sie ihn morgen, und sagen Sie es mir, wenn wir uns wieder sehen, was er sagt!«

Dies führte zu weitern scherzhaften Reden zwischen den beiden; aber Advokat konnte trotz all seiner Schlauheit nichts aus ihr herausbringen. Der Arzt dagegen, der Mrs. Merdle zu ihrem Wagen hinabbrachte und ihr den Mantel umnehmen half, erkundigte sich mit seiner gewöhnlichen ruhigen Gewandtheit nach den Symptomen.

»Darf ich fragen«, sagte er, »ob es wahr ist, mit Merdle?«

»Mein lieber Doktor«, erwiderte sie, »Sie fragen mich dieselbe Frage, die ich Lust hatte, an Sie zu richten.«

»An mich? Warum an mich?«

»Auf meine Ehre, ich denke, Mr. Merdle schenkt Ihnen größeres Vertrauen als irgend jemand.« »Im Gegenteil, er sagt mir absolut gar nichts, selbst nicht mal in ärztlicher Beziehung. Sie haben natürlich von dem Gerede gehört?«

»Natürlich. Aber Sie wissen, wie Merdle ist; Sie wissen, wie schweigsam und zurückhaltend er ist. Ich versichere Sie, ich weiß nicht im mindesten, ob die Sage Grund hat. Ich wünschte, es wäre wahr; warum soll ich das leugnen! Sie würden es doch besser wissen, wenn es wahr wäre!«

»Allerdings!« sagte der Arzt.

»Aber ob es ganz wahr, oder halb wahr, oder ganz falsch, bin ich außerstande zu sagen. Es ist eine höchst ärgerliche Lage, eine höchst abgeschmackte Lage; aber Sie kennen Mr. Merdle und werden sich nicht darüber wundern.«

Der Arzt war nicht verwundert, half ihr in den Wagen und wünschte ihr gute Nacht. Er stand einen Augenblick an der Tür seines Hauses und sah ruhig der eleganten Equipage nach, wie sie davonrollte. Als er wieder hinaufkam, zerstreuten sich die übrigen Gäste auch bald, und er war allein. Da er sich fleißig in aller Art von Literatur bewegte (über welche Schwäche er nie ein Wort der Entschuldigung verlor), setzte er sich behaglich nieder, um noch zu lesen. Die Uhr auf seinem Studiertisch zeigte ein paar Minuten vor zwölf, als ein Läuten an der Hausglocke seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Als ein Mann von einfachen Gewohnheiten hatte er die Dienerschaft zu Bett gehen lassen und mußte nun selbst hinuntergehen, um die Tür zu öffnen. Er ging hinab und fand einen Mann ohne Hut und Rock, dessen Hemdärmel bis dicht unter die Schultern hinaufgestülpt waren. Einen Augenblick glaubte er, er komme von einer Boxerei; um so mehr, als er sehr aufgeregt und außer Atem war. Ein zweiter Blick jedoch zeigte ihm, daß der Mann besonders reinlich und an seinem Anzug nichts anderes in Unordnung war, als was eben beschrieben worden ist.

»Ich komme von den warmen Bädern, Herr, hier in der Straße nebenan.«

»Und was ist mit den warmen Bädern?«

»Wollten Sie so gefällig sein, sogleich hinzukommen. Wir fanden dies auf dem Tisch liegen.«

Er legte ein Stück Papier in die Hand des Arztes. Der Arzt betrachtete es und las seinen eigenen Namen und seine Adresse mit Bleistift geschrieben; nichts weiter. Er sah die Schrift näher an, blickte dann den Mann an, nahm seinen Hut von einem Haken, steckte den Hausschlüssel in die Tasche, und so eilten sie miteinander fort.

Als sie an das Badehaus kamen, erwarteten alle zu dem Etablissement gehörigen Leute sie an der Tür oder rannten in den Gängen auf und ab. »Bitte, lassen Sie niemand uns folgen«, sagte der Arzt laut zu dem Bademeister, »und führen Sie mich geradewegs an Ort und Stelle, mein Freund«, zu dem Boten.

Der Bote eilte ihm voraus an einer Reihe kleiner Kabinette vorüber und ging in eines am Ende der Reihe, indem er hineinblickte.

Der Arzt folgte ihm dicht auf dem Fuß und sah gleichfalls zur Tür hinein.

In dieser Ecke war ein Bad, aus dem man das Wasser in der Eile abgelassen hatte. In dem Bad lag wie in einem Grabe oder Sarkophag, flüchtig mit einem Leintuch und einer wollenen Bettdecke umwickelt, der Leichnam eines schwergebauten Mannes, mit aufgedunsenem Kopf und groben, gewöhnlichen Gesichtszügen. Ein Schrägfenster an der Decke war geöffnet, um den Dampf hinauszuschaffen, mit dem das Zimmer geschwängert war; aber er hing, zu Wassertropfen niedergeschlagen, schwer an den Wänden und auf dem Gesicht und der Gestalt im Bade. Das Zimmer war noch heiß und der Marmor des Bades noch warm; aber das Gesicht und der Körper war klebrig bei der Berührung. Der weiße Marmor am Boden des Bades war von einem schrecklichen Rot geädert. Auf dem Rand an der Seite sah man ein leeres Laudanumfläschchen und ein Schildpattfedermesser – befleckt, aber nicht mit Tinte.

»Durchschneiden der Halsader – rascher Tod – schon eine halbe Stunde tot.« Das Echo der Worte des Arztes schallte durch die Zimmer und Kabinette und durch das Haus, während er sich noch aus seiner gebückten Stellung emporrichtete, denn er hatte sich hinabgebeugt, um bis an den Boden des Bades zu reichen, und noch während er sich die Hände im Wasser abspülte, so daß dieses rötliche Adern durchzogen wie den Marmor, ehe dieser wie eine rote Wand aussah.

Er richtete seine Blicke auf die Kleider auf dem Sofa und die Uhr, das Geld und die Brieftasche auf dem Tisch. Ein gefaltetes Papier, halb umgebogen in dem Taschenbuch, halb aus demselben hervorsehend, fiel ihm in die Augen. Er sah es an, faßte es mit den Händen, zog es ein wenig weiter aus den Blättern heraus, sagte ruhig: »Das ist an mich gerichtet«, öffnete und las es.

Er hatte keine Anweisungen zu geben. Die Leute im Hause wußten, was sie zu tun hatten; die Beamten, deren Aufgabe dies war, fanden sich ein, und sie nahmen in gleichmütiger, geschäftsmäßiger Weise Besitz von dem Verstorbenen und was sein Eigentum gewesen, gerade so ruhig und gefaßt, wie wenn man eine Uhr aufzieht. Der Arzt war froh, wieder in die Nachtluft hinauszukommen – war sogar froh, trotz seiner großen Erfahrung, für einige Augenblicke auf eine Treppenstufe niederzusitzen; denn er fühlte sich unwohl und schwach.

Advokat wohnte nahe bei ihm, und als er vor das Haus kam, sah er ein Licht in dem Zimmer, wo er wußte, daß sein Freund oft noch spät bei seiner Arbeit saß. Da nie Licht dort war, wenn der Advokat nicht in seinem Zimmer war, so gab ihm dies die Gewißheit, daß Advokat noch nicht zu Bett gegangen war. In der Tat hatte der geschäftige Mann morgen ein Verdikt gegen die Zeugenaussagen zustandezubringen und benutzte die goldenen Morgenstunden, um den Herren von der Jury Schlingen zu legen.

Das Pochen des Arztes setzte Advokat in Erstaunen; da er aber augenblicklich Verdacht schöpfte, es komme jemand, um ihm zu sagen, daß ein anderer Jemand ihn zu bestehlen oder ihn anderweitig zu übervorteilen suchen wolle, so kam er rasch und leise herab. Er hatte sich den Kopf mit kaltem Wasser gekühlt, als gute Vorbereitung, die Köpfe der Jury mit heißem Wasser zu waschen, und las, während er den Hemdkragen weit offen hatte, damit er die Gegenzeugen um so besser würgen könnte. Er sah deshalb etwas wild aus. Als er den Arzt erblickte, den er am wenigsten erwartet hatte, sah er noch verstörter aus und sagte: »Was gibt’s?«

»Sie fragten mich einst, was Mr. Merdles Übel sei.«

»Seltsam! Ich erinnere mich dessen.«

»Ich sagte Ihnen, daß ich es noch nicht herausgefunden hätte.«

»Ja, ich weiß das.«

»Ich habe es nun gefunden.«

»Mein Gott!« sagte Advokat, erschrocken zurücktretend und seine Hand auf die Brust des andern legend. »Und ich weiß es jetzt auch! Ich lese es jetzt in Ihrem Gesicht.«

Sie gingen in das nächste Zimmer, wo der Arzt ihm einen Brief zu lesen gab. Er las ihn ein dutzendmal durch. Es stand nicht viel darin, aber er nahm seine volle und dauernde Aufmerksamkeit in Anspruch. Er konnte sein Bedauern nicht genug aussprechen, daß er nicht selbst den Schlüssel dazu gefunden. Der kleinste Schlüssel, sagte er, würde ihm genügt haben, und welch ein Glück wäre das gewesen, dieser Sache auf den Grund zu kommen!

Der Arzt hatte es übernommen, die Nachricht nach Harley Street zu bringen. Advokat war außerstande, sogleich wieder an seine Verlockungen der erleuchtetsten und bedeutendsten Jury zu gehen, die er je auf dieser Bank gesehen, bei denen, das konnte er seinem gelehrten Freunde sagen, keine seichte Sophisterei angebracht wäre, und die sich von keiner unglücklicherweise mißbrauchten advokatorischen Schlauheit und Geschicklichkeit imponieren lasse (auf diese Weise gedachte er zu beginnen); deshalb sagte er, er wolle seinen Freund begleiten und in der Nähe des Hauses auf und ab gehen, während sein Freund drinnen sei. Sie gingen zu Fuß, um in der Luft sich etwas zu erholen und zu fassen; und die Fittiche des Tages verscheuchten bereits die Nacht, als der Arzt an die Tür pochte.

Ein Bedienter, in den Farben des Regenbogens, so dünkte es dem Publikum, wartete auf seinen Herrn – das heißt, er schlief in der Küche vor ein paar Lichtern und einer Zeitung, indem er dadurch die große Masse mathematischen Übergewichts gegen die Wahrscheinlichkeit, daß ein Haus durch Zufall in Brand gerät, demonstrierte. Als dieser dienstbare Geist geweckt war, mußte der Arzt noch das Wecken des Oberhaushofmeisters abwarten. Endlich kam dieses vornehme Geschöpf in einem Flanellrock und Salbandschuhen in das Speisezimmer; aber er trug eine Krawatte und war von Kopf bis zu Fuß Haushofmeister. Es war jetzt Morgen. Der Arzt öffnete die Läden eines Fensters, während er wartete, um das Licht sehen zu können.

»Mrs. Merdles Kammerjungfer lassen Sie rufen, damit sie Mrs. Merdle aufwecke und sie so vorsichtig wie möglich auf meinen Besuch vorbereite. Ich habe ihr eine furchtbare Nachricht mitzuteilen.«

So sprach der Arzt zu dem Oberhaushofmeister. Der letztere, der ein Licht in der Hand hatte, rief dem Bedienten, daß er es nehme. Dann trat er würdevoll an das Fenster, indem er die Nachricht des Arztes genau so entgegennahm, wie er in demselben Zimmer den Diners zugesehen hatte.

»Mr. Merdle ist tot.«

»Ich wünschte in diesem Falle«, sagte der Oberhaushofmeister, »in einem Monat meine Stelle niederlegen zu dürfen.«

»Mr. Merdle hat sich das Leben genommen.«

»Sir«, sagte der Oberhaushofmeister, »das ist sehr unangenehm für die Gefühle eines Mannes in meiner Stellung, da es geeignet ist, Vorurteile zu erwecken; und ich wünschte meine Entlassung sogleich zu haben.«

»Wenn Sie auch nicht erschüttert sind, sind Sie nicht wenigstens erstaunt, Mann?« fragte der Arzt warm.

Der Oberhaushofmeister warf sich ruhig in die Brust und sagte die denkwürdigen Worte: »Sir, Mr. Merdle war nie ein Gentleman, und kein unnobler Akt von seiten Mr. Merdles würde mich überrascht haben. Kann ich Ihnen sonst jemand schicken oder irgend sonst etwas tun, was Sie wünschen sollten, ehe ich das Haus verlasse?«

Als der Arzt, nachdem er sich seiner Aufgabe oben entledigt, wieder zu Advokat auf die Straße hinabkam, sagte er nichts weiter von seiner Begegnung mit Mrs. Merdle, als daß er ihr noch nicht alles gesagt, daß sie aber, was er ihr gesagt, mit vieler Fassung getragen habe. Advokat hatte die Zeit, die er allein auf der Straße zubrachte, der Konstruktion einer höchst sinnreichen Falle, um die ganze Jury mit einem Schlage zu fangen, gewidmet; und nachdem er sich die Sache zurechtgelegt hatte, wurde es hell in seinem Geist, er konnte sich der letzten Katastrophe ganz hingeben, und sie gingen langsam miteinander nach Hause und besprachen sie nach allen Richtungen hin. Ehe sie an der Tür des Arztes schieden, sahen sie beide nach dem sonnenhellen Morgenhimmel auf, zu dem der Rauch einiger früher Feuer und der Atem und die Stimmen von einigen Frühaufgestandenen friedlich emporstiegen, blickten dann rund umher auf die ungeheure Stadt und sagten: Wenn alle diese Hunderte und Tausende von Bettlern, die noch schlafen, nur wissen könnten, wie sie beide, die jetzt miteinander sprachen, welches Verderben über ihnen schwebte, was für ein entsetzlicher Schrei gegen eine elende Seele würde zum Himmel aufgellen!

Das Gerücht, daß der große Mann tot sei, verbreitete sich mit erstaunlicher Schnelligkeit. Anfangs war er an allen Krankheiten gestorben, die man je gekannt, und an verschiedenen nagelneuen Krankheiten, die man mit Blitzesschnelligkeit für die Gelegenheit erfunden hatte. Er hatte von Kindheit an eine Wassersucht verheimlicht, er hatte vom Großvater eine große Masse Wasser auf der Brust geerbt, seit achtzehn Jahren wurde jeden Morgen eine Operation mit ihm vorgenommen, es platzten ihm zuweilen wichtige Adern (nach der Art von Feuerwerken), er hatte bald ein Lungenleiden, bald ein Herzleiden, bald auch ein Gehirnleiden. Fünfhundert Leute, die von nichts wissend sich zum Frühstück setzten, glaubten, ehe sie noch mit diesem zu Ende waren, daß sie privatim und persönlich in Erfahrung gebracht, der Arzt habe zu Mr. Merdle gesagt: »Sie müssen sich darauf gefaßt machen, eines Tages auszulöschen wie ein Licht«, und daß sie wüßten, Mr. Merdle habe geantwortet: »Der Mensch kann nur einmal sterben.« Gegen elf Uhr vormittags wurde die Gehirnkrankheit die Lieblingstheorie gegen alle übrigen; und um zwölf Uhr hatte man die Gehirnkrankheit näher als einen »Druck« bezeichnet.

Druck war so befriedigend für die öffentliche Meinung und schien jedermann so zu beruhigen, daß es den ganzen Tag hätte dabei bleiben können, wenn Advokat nicht um halb zehn Uhr den wirklichen Stand der Dinge im Gerichtshof mitgeteilt hätte. Dies führte anfangs dazu, daß man gegen ein Uhr in ganz London sich zuflüsterte, Mr. Merdle habe sich selbst entleibt. Aber das Wort »Druck« wurde, weit entfernt, durch diese Entdeckung beseitigt zu werden, mehr als je der Lieblingsausdruck. In jeder Straße moralisierten die Leute über den Druck. Alle Leute, die Geld zu gewinnen versucht hatten und denen es nicht gelungen war, sagten: Da habt ihr’s! Kaum fangt ihr an, dem Gelde nachzujagen, so bekommt ihr den Druck. Die Müßiggänger benutzten den Fall in ähnlicher Weise. Seht ihr, sagten sie, wohin ihr’s durch das ewige Arbeiten und wieder Arbeiten und wieder Arbeiten bringt! Ihr arbeitetet in einem fort, ihr übertriebt es, nun kam der Druck, und es war um euch geschehen! Diese Betrachtung machte an vielen Orten großen Eindruck, aber nirgends mehr, als bei den jungen Kommis und Associés, die noch niemals Gefahr gelaufen, daß sie sich überarbeiten würden. Diese erklärten einstimmig und feierlich, sie hofften ihr Leben lang diese Warnung nicht mehr zu vergessen und ihr Tun und Treiben so einzurichten, daß sie sich vor Druck bewahrten und sich selbst, zum Trost für ihre Freunde, noch lange am Leben erhielten.

Aber ungefähr um die Börsenzeit begann es mit dem Druck zu Ende zu gehen, und erschreckliches Geflüster verbreitete sich im Osten und Westen, Norden und Süden. Anfangs war es nur leise und ging nicht weiter als der Zweifel, ob Mr. Merdles Reichtum sich wohl so groß herausstellen würde, wie man vermutete; ob nicht eine augenblickliche Schwierigkeit eintreten würde, ihn zu »realisieren«; ob nicht sogar die wunderbare Bank eine Zeitlang (etwa einen Monat oder so) ihre Zahlungen einstellen würde. Je lauter das Geflüster wurde, was mit jeder Minute geschah, desto drohender wurde es. Er war aus nichts hervorgegangen und durch kein natürliches Wachstum oder Fortschreiten, soviel man wußte, in die Höhe gekommen; er war im Grunde doch ein gemeiner, nichtswissender Mensch; er hatte immer scheu zu Boden gesehen, und niemand war es je gelungen, einen Blick von ihm zu erhaschen; er war von allen Arten von Leuten in einer ganz unbegreiflichen Weise poussiert worden; er hatte nie eigenes Geld gehabt, seine Spekulationen waren außerordentlich planlos gewesen und seine Ausgaben unermeßlich. In stetigen Progressen nahm mit dem Dahinschwinden des Tages das Gerede an Stärke und Umfang zu. Er hatte in dem Bade einen an den Arzt adressierten Brief hinterlassen, und sein Arzt hatte den Brief erhalten, und der Brief würde morgen bei der Totenschau vorgelegt werden, und es werde die Tausende, die er betrogen, wie ein Donnerschlag treffen. Zahllose Menschen von jedem Stand und Gewerbe würden durch seine Zahlungsunfähigkeit vernichtet; alle Leute, die ihr ganzes Leben lang in behaglichen Umständen gewesen, würden ihr Vertrauen auf ihn an keinem andern Orte bereuen können als im Armenhause; Legionen von Frauen und Kindern würden ihre ganze Zukunft durch die Hand dieses mächtigen Schurken zerstört sehen. Jeder Gast bei seinen prachtvollen Festen würde sich als Teilnehmer an der Plünderung unzähliger Familien darstellen; jeder servile Verehrer des Reichtums, der ihn mit auf sein Piedestal zu heben geholfen, hätte besser daran getan, lieber gleich den Teufel selbst anzubeten. So schwoll das Gerede immer höher und wuchs durch eine Bestätigung um die andere, durch eine Abendzeitungsausgabe um die andere zu solchem Getöse an, daß man hätte glauben können, ein einsamer Wächter auf der Galerie an der St. Paulskirche hätte die Nachtluft von einem dumpfen Gemurmel des Namens Merdle geschwängert und mit jeder Art von Verwünschung erfüllt sehen müssen.

Denn um diese Zeit wußte man, daß das Übel des verstorbenen Mr. Merdle nichts als Fälschung und Betrug gewesen sei. Er, der wunderliche Gegenstand so weitverbreiteter Verehrung, der Gast bei den Festen der Vornehmen, das Wunder der großen Damengesellschaften, der Beseitiger der Ausschließlichkeit, der Vernichter des Stolzes, der Patron der Patrone, der Feilscher um die Lordschaften des Circumlocution Office, der Mann, der innerhalb von einigen zehn bis fünfzehn Jahren mehr Anerkennung gefunden, als seit mindestens zwei Jahrhunderten in England auf alle friedlichen öffentlichen Wohltäter und auf alle Führer von allen Arten der Kunst und Wissenschaft, trotz alles Zeugnisses ihrer Werke, gehäuft worden, – er, das leuchtende Wunder, der neue Stern, dem die Weisen mit Geschenken folgten, bis er stehenblieb über einem gewissen Aas am Boden einer Badewanne und verschwand – war einfach der größte Betrüger und der größte Dieb, der jemals den Galgen um seine Beute geprellt hatte.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Sturmernte.

Mr. Pancks, der sein Erscheinen durch ein ungestümes Keuchen und einen raschen Schritt angekündigt hatte, stürzte in Arthur Clennams Kontor. Die Totenschau war vorüber, der Brief publiziert, die Bank bankerott, die andern Musterbauten von Stroh hatten Feuer gefangen und waren in Rauch aufgegangen. Das bewunderte Piratenschiff war inmitten einer großen Flotte von Schiffen aller Art und Booten jeder Größe in die Luft geflogen, und auf dem Meere war nichts zu sehen als Trümmer; nichts als brennende Schiffsrümpfe, in die Luft fliegende Magazine, von selbst losgehende Kanonen, die Freunde und Nachbarn in Stücke zerrissen, Ertrinkende, die sich an untaugliche Bretter anklammerten und jede Minute unterzugehen drohten, todmüde Schwimmer, hin und her treibende Leichen und Haifische.

Der gewöhnliche Fleiß und die gewöhnliche Ordnung des Kontors der Fabrik war verschwunden. Uneröffnete Briefe und unsortierte Papiere lagen zerstreut auf dem Pult herum. Inmitten dieser Zeichen gebrochener Energie und erloschener Hoffnung stand der Herr des Kontors müßig an seinem gewöhnlichen Platz und hatte die Arme auf dem Pult gekreuzt, während sein Kopf darauf herabgesunken war.

Mr. Pancks stürzte herein, sah ihn und blieb stehen. In der nächsten Minute lagen auch Mr. Pancks‘ Arme auf dem Pult, und Mr. Pancks‘ Kopf lag auf den Armen; und sie blieben einige Zeit müßig und schweigend in dieser Stellung, nur durch die Breite des kleinen Zimmers voneinander getrennt.

Mr. Pancks war der erste, der den Kopf erhob und sprach.

»Ich habe Sie dazu überredet, Mr. Clennam. Ich weiß es. Sagen Sie, was Sie wollen. Sie können mir nicht mehr sagen, als ich mir selbst sage. Sie können mir nicht mehr sagen, als was ich verdiene.«

»Oh, Pancks, Pancks!« versetzte Mr. Clennam, »sprechen Sie nicht von verdienen. Was verdiene ich selbst!«

»Besseres Glück«, sagte Pancks.

»Ich«, fuhr Clennam fort, ohne auf ihn zu achten, »ich, der ich meinen Associé ruiniert habe! Pancks, Pancks, ich habe Doyle ruiniert! Den ehrlichen, sich selbst mühsam durchhelfenden, unermüdlichen, alten Mann, der alles durch sich selbst geworden ist; den Mann, der gegen so viele Enttäuschung angekämpft und aus dem Kampfe mit einer so guten und hoffnungsvollen Natur hervorgegangen ist; den Mann, für den ich so viel gefühlt und dem ich so treu und nützlich sein wollte; ich habe ihn ruiniert, habe ihn in Schande und Verderben gebracht – habe ihn ruiniert, ruiniert!«

Die Seelenqual, die ihm dieser Gedanke verursachte, bot einen so schmerzlichen Anblick, daß Mr. Pancks sich selbst beim Haar packte und es aus Verzweiflung über dies Schauspiel auszureißen schien.

»Machen Sie mir Vorwürfe!« rief Pancks. »Machen Sie mir Vorwürfe, Sir, oder ich tue mir ein Leid an. Sagen Sie: Du Narr, du Schurke. Sagen Sie: Esel, wie konntest du das tun; Vieh, was wolltest du damit! Packen Sie mich irgendwo. Sagen Sie mir irgend etwas Beleidigendes!« Während der ganzen Zeit zerrte Mr. Pancks auf die erbarmungsloseste und grausamste Weise an seinem struppigen Haar.

»Wenn Sie nie dieser unglückseligen Manie gefrönt hätten, Pancks«, sagte Clennam, mehr aus Mitleid als um der Wiedervergeltung willen, »wieviel besser für Sie wäre es gewesen und wieviel besser für mich!«

»Nur immer zu, Sir!« rief Pancks, indem er vor Reue mit den Zähnen knirschte. »Nur immer zu!«

»Wenn Sie sich nie auf diese verwünschten Berechnungen eingelassen und Ihre Resultate nicht mit so abscheulicher Klarheit dargelegt hätten«, seufzte Clennam, »wieviel besser wäre es für Sie, Pancks, und wieviel besser für mich!«

»Immer so fort, Sir!« rief Pancks, indem er sein Haar losließ, »immer so fort, so fort!«

Clennam jedoch, der fand, daß er bereits ruhiger wurde, hatte alles gesagt, was er sagen wollte, und sogar noch mehr. Er drückte ihm die Hand und fügte nur hinzu: »Blinde Führer der Blinden, Pancks! Blinde Führer der Blinden! Aber Doyce, Doyce, Doyce, mein zu Schaden gebrachter Kompagnon!« Damit legte er den Kopf wieder auf das Pult.

Die frühere Haltung und das frühere Schweigen wurden abermals von Pancks unterbrochen.

»Nicht zu Bett gewesen, Sir, seit es bekanntgeworden. Ich war an allen Ecken, in der Hoffnung, noch einige Kohlen aus dem Feuer zu retten. Alles vergeblich. Alles vorbei. Alles dahin!«

»Ich weiß es nur zu wohl«, erwiderte Clennam.

Mr. Pancks füllte eine Pause mit Seufzen aus, das aus der Tiefe seiner Seele kam.

»Erst gestern, Pancks«, sagte Arthur, »erst gestern, Montag, hatte ich die feste Absicht, alles zu verkaufen, zu realisieren und mich von der Sache ganz loszumachen.«

»Das kann ich nicht von mir sagen, Sir«, versetzte Pancks. »Obgleich es wunderbar ist, von wie vielen Leuten ich hörte, daß sie von allen dreihundertfünfundsechzig Tagen gerade gestern im Begriff gewesen seien zu realisieren, wenn es nicht zu spät gewesen wäre!«

Sein dampfmaschinenartiges Keuchen, gewöhnlich von drolliger Wirkung, war jetzt tragischer als ebenso viele Seufzer, während er von Kopf bis zu Fuß in dem rußigen, schmierigen und vernachlässigten Zustand war, daß man ihn für ein authentisches Porträt hätte halten können, das wegen mangelnder Reinigung kaum zu erkennen war.

»Mr. Clennam, haben Sie – alles verloren?« Er machte einen Gedankenstrich vor den letzten Worten und brachte sie nur mit großer Mühe hervor.

»Alles.«

Mr. Pancks packte wieder sein struppiges Haar und zerrte so heftig daran, daß er mehrere Zinken herausriß. Nachdem er sie mit dem Ausdruck wilden Zorns angesehen, steckte er sie in seine Tasche.

»Meine Maßregeln müssen sogleich getroffen werden«, sagte Clennam, indem er einige Tränen wegwischte, die ihm still über das Gesicht geflossen waren. »Das bißchen Ersatz, das ich leisten kann, muß geleistet werden. Ich muß den guten Ruf meines Kompagnons zu wahren suchen. Ich darf nichts für mich behalten. Ich muß in die Hände unsrer Gläubiger die Dispositionsbefugnis, die ich so sehr mißbraucht, niederlegen, und von meinem Fehler – oder Verbrechen – so viel wieder gutmachen, wie ich während meiner übrigen Lebenszeit noch gutmachen kann.«

»Ist es nicht möglich, Sir, über den Augenblick sich hinüberzuhelfen?«

»Durchaus nicht. Aufschub nützte doch nichts, Pancks. Je früher das Geschäft aus meinen Händen kommt, desto besser für dasselbe. Es sind diese Woche noch Verbindlichkeiten zu erfüllen, die die Katastrophe in wenigen Tagen herbeiführen müßten, selbst wenn ich sie nur einen Tag hinausschieben und das Geschäft so lange, trotz dem, was ich im stillen weiß, fortführen wollte. Die letzte Nacht habe ich bedacht, was ich tun will; es bleibt nur noch, was ich beschlossen, auszuführen.«

»Doch nicht ganz allein?« sagte Pancks, dessen Gesicht so feucht war, als wenn sein Dampf rasch zu Wasser würde, während er ihn in seiner Trübsal ausstieß. »Nehmen Sie juridischen Beistand an.«

»Vielleicht wäre es besser.«

»Nehmen Sie Rugg.«

»Es ist nicht viel zu tun, er wird es so gut machen wie ein anderer.«

»Soll ich Rugg holen, Mr. Clennam?«

»Wenn Sie Zeit dazu haben. Ich wäre Ihnen sehr verbunden.«

Pancks hatte auch schon den Hut auf und dampfte fort nach Pentonville. Während er fort war, richtete Arthur nicht einmal den Kopf vom Tische auf, sondern blieb unbeweglich in dieser Stellung.

Mr. Pancks brachte seinen Freund und Rechtsbeistand Mr. Rugg mit sich zurück. Mr. Rugg hatte unterwegs Mr. Pancks‘ unzurechnungsfähigen Zustand so genau kennengelernt, daß er seine geschäftliche Vermittlung damit eröffnete, diesen Herrn zu bitten, sich zu entfernen. Mr. Pancks gehorchte vernichtet und unterwürfig.

»Er ist geradeso, wie meine Tochter war, Sir, als wir den Prozeß wegen des gebrochenen Heiratsversprechens Rugg contra Bawkins einleiteten, in dem sie Klägerin war«, sagte Mr. Rugg. »Er nimmt ein zu lebhaftes und direktes Interesse an der Sache.

Seine Gefühle werden zu sehr davon in Mitleidenschaft gezogen. Und mit Gefühlen kommt man in unserm Berufe nicht vorwärts, Sir.«

Während er seine Handschuhe auszog und sie in seinen Hut legte, sah er mit einem oder zwei Seitenblicken, daß mit seinem Klienten eine große Veränderung vorgegangen war.

»Ich bedaure sehr zu bemerken, Sir«, sagte Mr. Rugg, »daß Sie Ihre Gefühle gleichfalls nicht aus dem Spiele zu lassen vermögen. Bitte, tun Sie das doch, bitte, tun Sie das doch. Die Verluste sind sehr zu beklagen, Sir, aber wir müssen ihnen ins Gesicht sehen.«

»Wenn das Geld, das ich geopfert habe, ganz mein eigenes gewesen wäre, Mr. Rugg«, seufzte Clennam, »so würde es mich weit weniger kümmern.«

»Wirklich, Sir?« sagte Mr. Rugg, indem er sich mit heiterer Miene die Hände rieb. »Sie setzen mich in Erstaunen. Das ist eigentümlich, Sir. Ich habe, soweit meine Erfahrung reicht, im allgemeinen gefunden, daß die meisten Leute mit ihrem eigenen Gelde am ängstlichsten sind. Ich habe Leute eine tüchtige Summe von anderer Leute Geld loswerden und es recht gut tragen sehen; wirklich recht gut.«

Mit diesen tröstenden Bemerkungen setzte sich Mr. Rugg auf einen Kontorstuhl am Pult und ging an die Arbeit.

»Jetzt, Mr. Clennam, lassen Sie uns mit Ihrer Erlaubnis an die Arbeit gehen. Lassen Sie uns sehen, wie die Sachen stehen. Die Frage ist einfach. Die Frage ist die gewöhnliche, simple, gerade, gemeinverständliche Frage. Was können wir für uns tun? Was können wir für uns tun?«

»Das ist für mich nicht die Frage, Mr. Rugg«, sagte Arthur. »Sie sind von vornherein im Irrtum. Die Frage ist, was kann ich für meinen Kompagnon tun, wie kann ich ihm am besten Entschädigung leisten?«

»Ich fürchte, Sir«, argumentierte Mr. Rugg mit überredendem Ton, »daß Sie sich noch immer von Ihren Gefühlen beeinflussen lassen? Ich höre das Wort ›Entschädigung‹ nicht gern, ausgenommen, wenn es ein Hebel in der Hand des Advokaten ist. Wollen Sie mir die Bemerkung erlauben, daß ich es für meine Pflicht halte, Sie zu warnen, daß Sie sich wirklich nicht von Ihren Gefühlen beeinflussen lassen?«

»Mr. Rugg«, sagte Clennam, indem er all seine Kraft zusammennahm, um das durchzuführen, was er beschlossen hatte, und diesen Herrn dadurch in Erstaunen versetzte, daß er trotz seiner Niedergeschlagenheit fest auf seinem Vorsatz beharrte, »Sie machen mir den Eindruck, als ob Sie nicht allzusehr geneigt wären, die Richtung einzuschlagen, die ich zu gehen entschlossen bin. Wenn Ihre Mißbilligung derselben Sie zu abgeneigt machen sollte, die notwendigen Geschäfte zu übernehmen, so tut es mir leid, und ich muß mich nach anderm Beistand umsehen. Aber ich versichere Sie einmal für allemal, daß es vergeblich wäre, dagegen zu argumentieren.«

»Gut, Sir«, antwortete Mr. Rugg achselzuckend. »Gut Sir. Da jemand die Sache in die Hand nehmen muß, so lassen Sie mich sie in die Hand nehmen. Das war mein Prinzip in der Sache Rugg contra Bawkins. Das ist mein Prinzip in den meisten Fällen.«

Clennam setzte dann Mr. Rugg seinen festen Vorsatz auseinander. Er sagte Mr. Rugg, daß sein Kompagnon ein Mann von großer Einfachheit und Rechtschaffenheit sei und daß er in allem, was er zu tun beabsichtige, sich ganz und einzig von der Kenntnis des Charakters seines Kompagnons und von der Rücksichtnahme auf seine Gefühle leiten lasse. Er setzte ferner auseinander, daß sein Kompagnon mit einem wichtigen Unternehmen im Ausland beschäftigt und daß es besonders seine Aufgabe sei, den Tadel für das, was unüberlegt geschehen, auf sich zu nehmen und seinen Kompagnon von aller Teilnahme an der Verantwortlichkeit für dasselbe zu entlasten, damit die erfolgreiche Leitung dieses Unternehmens auch nicht durch den leisesten Verdacht, der sich ungerechterweise an die Ehre und den Kredit seines Kompagnons im Auslande heften könnte, gefährdet werde. Er sagte Mr. Rugg, seinen Kompagnon moralisch im vollsten Sinne des Wortes zu reinigen und die öffentliche und rückhaltlose Erklärung abzugeben, er, Arthur Clennam, Teilhaber der Firma Clennam und Komp., habe aus eigenem freiem Antrieb und ausdrücklich gegen die Warnung seines Kompagnons die Kapitalien in den Schwindelspekulationen angelegt, die eben jetzt verunglückt – das sei die einzige wirkliche Sühne, die in seinem Bereich liege, für diesen Mann sogar eine weit bessere Sühne, als es für viele andere sein würde, und deshalb die Sühne, die er zuerst darzubringen habe. In dieser Absicht gedachte er eine Erklärung in dem angedeuteten Sinne drucken zu lassen – er hatte eine solche bereits aufgesetzt – und außer der Mitteilung derselben an alle die, die Geschäfte mit dem Hause hatten, sie auch in die öffentlichen Blätter einzurücken. Gleichzeitig mit dieser Maßregel (bei deren Auseinandersetzung Mr. Rugg unzählige Gesichter schnitt und eine große Unruhe in den Gliedern entwickelte) gedachte er ein Schreiben an alle Gläubiger zu erlassen, das seinen Kompagnon feierlich von aller Schuld freisprach, sie von der Zahlungseinstellung in Kenntnis setzte, die dann eintreten sollte, wenn ihre Wünsche bekannt wären und sein Kompagnon davon unterrichtet sein könnte, und sich ihnen ganz ergebenst zur Verfügung stellte. Wenn sie auf die Unschuld Rücksicht nehmen wollten und das Geschäft wieder so in Schwung gebracht werden könnte, um es mit Gewinn fortzusetzen und den gegenwärtigen Sturz zu verschmerzen, dann sollte sein Anteil an demselben seinem Kompagnon als die einzig mögliche Entschädigung anheimfallen, die er ihm an Geldeswert für die Sorgen und den Verlust geben konnte, die er unglücklicherweise veranlaßt, und er selbst wollte um Erlaubnis bitten, gegen ein so kleines Honorar wie zum Leben ausreichte, in dem Geschäft als Kommis tätig sein zu dürfen.

Obgleich Mr. Rugg deutlich sah, daß er sich nicht davon würde abbringen lassen, forderten doch die Verzerrungen seines Gesichts und die Unruhe seiner Glieder so gebieterisch einen Protest heraus, daß er ihn aussprach. »Ich mache keinen Einwand, Sir«, sagte er, »ich führe keine Gründe gegen Sie an. Ich will Ihre Ansichten durchführen, Sir; aber unter Verwahrung.« Mr. Rugg führte dann, nicht ohne Weitschweifigkeit, die Hauptpunkte seines Protestes an. Diese waren folgende: daß die ganze Stadt, oder er möchte sagen, das ganze Land noch in der ersten Aufregung über die Entdeckung der jüngsten Tage sei, und daß die Erbitterung gegen die Opfer sehr stark sein würde; diejenigen, die sich nicht hätten verführen lassen, würden sicherlich außerordentlich aufgebracht auf sie sein, weil sie nicht so klug gewesen waren wie sie; und diejenigen, die sich hätten verführen lassen, würden gewiß Entschuldigungen und Gründe für sich finden, von denen sie gleichfalls sicher sein könnten, daß sie sie bei den andern Leidenden vermissen würden; ganz abgesehen von der großen Wahrscheinlichkeit, daß sich jeder einzelne Leidende in seiner heftigen Entrüstung überreden würde, er habe sich nur durch das Beispiel aller andern Leidenden verleiten lassen.

Daß eine solche Erklärung, wie die von Clennam, zu einer solchen Zeit abgegeben, einen Sturm von Gehässigkeit auf ihn herabziehen und es unmöglich machen würde, auf Nachsicht bei den Gläubigern oder auf Einstimmigkeit unter ihnen zu rechnen, und ihn als vereinzelte Zielscheibe einem regellosen Kreuzfeuer aussetzte, das ihn von einem halben Dutzend Seiten aus zu gleicher Zeit zu Boden werfen würde.

Auf all dies antwortete Clennam bloß, daß, die Nichtigkeit des ganzen Protestes auch zugegeben, nichts die Kraft der freiwilligen und öffentlichen Schuldloserklärung seines Kompagnons schwächte oder schwächen könnte. Er forderte deshalb Mr. Rugg einmal für allemal auf, das Geschäft augenblicklich in Angriff zu nehmen. Mr. Rugg machte sich auch sofort an die Arbeit, und Arthur, der nichts für sich behielt als seine Kleider und Bücher und eine kleine Summe Geld, stellte sein kleines Privatkonto beim Bankier zu gleicher Zeit zu den Geschäftspapieren.

Die Auseinandersetzung erschien in der Öffentlichkeit, und der Sturm raste fürchterlich, tausende von Menschen suchten ungestüm nach einem Lebenden, auf den sie ihre Vorwürfe häufen könnten; und dieser ausgezeichnete Fall, der der Öffentlichkeit schmeichelte, stellte den so sehr gewünschten Lebendigen auf ein Schafott. Wenn Leute, die nichts mit der Sache zu tun haben, die Offenkundigkeit so übel aufnahmen, so war von Leuten, die Geld dabei verloren hatten, kaum zu erwarten, daß sie milde dabei verfahren würden. Es regnete Briefe von den Gläubigern, die voll von Vorwürfen und Beleidigungen waren; und Mr. Rugg, der täglich auf dem hohen Stuhl saß und sie alle las, benachrichtigte vor Ablauf der nächsten acht Tage seinen Klienten, er fürchte, es sei ein Verhaftsbefehl gegen ihn ausgestellt.

»Ich muß die Folgen von dem, was ich getan habe, auf mich nehmen«, sagte Clennam. »Die Verhaftsbefehle werden mich hier finden.«

Schon am nächsten Morgen, als er bei Mrs. Plornishs Ecke in den Hof zum blutenden Herzen einbog, stand Mrs. Plornish auf ihn wartend an der Tür und ersuchte ihn geheimnisvoll in die »Glückshütte« zu treten. Dort fand er Mr. Rugg.

»Ich dachte, ich wollte hier auf Sie warten. Wenn ich Sie wäre, ginge ich diesen Morgen nicht auf das Kontor.«

»Warum nicht, Mr. Rugg?«

»Es sind, soviel ich weiß, nicht weniger als fünf Verhaftsbefehle ausgewirkt.«

»Es kann nicht bald genug vorüber sein«, sagte Clennam. »Sie sollen mich nur gleich packen.«

»Wohl, aber«, sagte Mr. Rugg und trat zwischen ihn und die Tür, »nehmen Sie Vernunft an, nehmen Sie Vernunft an. Sie werden Sie bald genug festnehmen, Mr. Clennam, ich zweifle nicht daran; aber nehmen Sie Vernunft an. In solchen Fällen geschieht es immer, daß sich eine unbedeutende Sache in den Vordergrund drängt und viel Lärm macht. Nun finde ich, daß ein unbedeutender Verhaftsbefehl ausgewirkt ist – eine bloße Hausgerichtshofsache –, und ich habe Grund zu vermuten, daß man damit schon heute vorgeht. Ich möchte nicht, daß Sie deshalb verhaftet würden.«

»Warum nicht?« fragte Clennam.

»Ich möchte mich lieber wegen einer bedeutenden Sache verhaften lassen, Sir«, sagte Mr. Rugg. »Man muß auch den Schein aufrechterhalten. Als Ihr Rechtsbeistand würde ich es vorziehen, wenn Sie auf den Verhaftsbefehl eines höheren Hofes festgenommen würden; wenn Sie nichts dagegen haben, erweisen Sie mir diese Gefälligkeit. Es sieht besser aus.«

»Mr. Rugg«, sagte Arthur in seiner Niedergeschlagenheit, »mein einziger Wunsch ist, daß es vorbei wäre. Ich will gehen und es darauf ankommen lassen.«

»Noch ein vernünftiges Wort, Sir!« rief Mr. Rugg, »Das, werden Sie zugeben müssen, ist Verstand. Das andere mag Geschmacksache sein, aber das ist die reine Vernunft. Wenn Sie wegen der geringfügigen Sache verhaftet werden, Sir, so kommen Sie in das Marschallgefängnis. Nun, Sie wissen ja, was das Marschallgefängnis ist. Sehr beschränkt und außerordentlich eng, während die Kings Bench« – Mr. Rugg schwenkte die rechte Hand, um den Überfluß an Raum anzudeuten.

»Ich möchte mich lieber in das Marschallgefängnis einsperren lassen als in jedes andere Gefängnis«, sagte Clennam.

»Ist das Ihr Ernst, Sir?« versetzte Mr. Rugg. »Das ist Geschmacksache, und wir können gehen.« Er war anfangs etwas beleidigt, aber er dachte bald nicht mehr daran. Sie gingen durch den Hof nach dem andern Ende. Die »blutenden Herzen« nahmen an Arthur, seit es ihm schlecht ging, mehr Interesse als zuvor; sie betrachteten ihn jetzt als einen, der dem Charakter des Ortes treu war und sein Bürgerrecht erworben hat. Manche von ihnen kamen heraus, um ihm nachzusehen und mit großer Salbung die Bemerkung gegeneinander auszusprechen, daß es ihn »tief gebeugt« habe. Mrs. Plornish und ihr Vater standen sehr niedergeschlagen und den Kopf schüttelnd auf der Seite des Hofes, wo sie wohnten, oben an der Treppe.

Es war niemand da, der auf sie wartete, als Arthur und Mr. Rugg nach dem Kontor kamen. Aber ein ältliches Mitglied der jüdischen Gemeinde, in Rum konserviert, folgte ihnen dicht auf dem Fuße und sah zur Glastür herein, ehe Mr. Rugg einen von den heute eingetroffenen Briefen geöffnet hatte. »Oh!« sagte Mr. Rugg, indem er aufsah. »Wie geht es Ihnen? Kommen Sie herein. – Mr. Clennam, ich glaube, das ist der Herr, von dem ich sprach.«

Der »Herr« erklärte, der Zweck seines Besuches sei ein ganz »kleines unbedeutendes Geschäftchen«, und vollzog seine gesetzliche Funktion.

»Soll ich Sie begleiten, Mr. Clennam?« fragte Mr. Rugg höflich, indem er sich die Hände rieb.

»Ich will lieber allein gehen, ich danke Ihnen. Haben Sie die Güte, und senden Sie mir meine Kleider.« Mr. Rugg antwortete in sorglos heiterer Weise, daß er es besorgen werde, und schüttelte ihm die Hände. Er und sein Begleiter gingen dann die Treppe hinab, stiegen in den ersten besten Wagen, den sie fanden, und fuhren nach der alten Pforte.

»Ich dachte mir wahrhaftig nicht, der Himmel verzeihe mir, daß ich je unter solchen Umständen diese Schwelle betreten würde«, sagte Clennam bei sich.

Mr. Chivery hatte heute das Schließeramt, und der junge John war in dem Pförtnerstübchen; entweder eben erst abgelöst oder im Begriff abzulösen. Beide waren, da sie sahen, wer der neue Gefangene war, mehr erstaunt, als man es von Schließern je hätte erwarten sollen. Der ältere Mr. Chivery schüttelte ihm verlegen die Hand und sagte: »Ich erinnere mich nicht, Sir, daß ich Sie jemals so ungern gesehen habe.« Der junge Mr. Chivery, der entfernter stand, gab ihm nicht mal die Hand; er sah ihn im Gegenteil mit so sichtbarer Unentschlossenheit an, daß es selbst Clennam mit seinem schweren Herzen und seinen schweren Augen auffiel. Gleich darauf verschwand der junge John in dem Gefängnis.

Da Clennam die Ortsverhältnisse genau genug kannte, um zu wissen, daß er einige Zeit in dem Pförtnerstübchen warten müsse, nahm er einen Stuhl, setzte sich in eine Ecke und tat, als ob er mit Briefen beschäftigt wäre, die er aus der Tasche zog. Sie nahmen seine Aufmerksamkeit nicht so sehr in Anspruch, daß er nicht voll Dank hätte bemerken können, wie der ältere Mr. Chivery das Pförtnerstübchen von Gefangenen freihielt, wie er einigen mit den Schlüsseln winkte, daß sie nicht hereinkämen, wie er andre mit den Ellbogen stieß, daß sie hinausgingen, und wie er ihm sein Unglück so leicht machte, wie er konnte.

Arthur saß da, die Augen fest auf den Boden geheftet, während er die Vergangenheit an seinem Auge vorüberziehen ließ, über die Gegenwart brütete und wieder beide vergaß, als er fühlte, daß sich eine Hand auf seine Schulter legte. Der junge John tat dies und sagte: »Sie können jetzt kommen.«

Er stand auf und folgte dem jungen John. Als sie das innere Gittertor ein paar Schritte hinter sich hatten, drehte sich der junge John um und sagte zu ihm:

»Sie brauchen ein Zimmer. Ich habe eines für Sie in Bereitschaft.«

»Ich danke Ihnen herzlich.«

Der junge John wandte sich wieder um, führte ihn zum alten Torweg hinein, die alte Treppe hinauf, in das alte Zimmer. Arthur streckte seine Hand aus. Der junge John sah sie an, sah dann ihn an – ernst und stolz, und sagte etwas zurückhaltend:

»Ich weiß nicht, ob ich kann. Nein, ich kann’s nicht. Aber ich dachte nur, Sie würden das Zimmer gern haben, deshalb gab ich es Ihnen.«

Das Erstaunen über dies ungereimte Benehmen wich, als er weggegangen war (er ging sogleich weg), den Gefühlen, die das leere Zimmer in Clennams wunder Brust erweckte, und der Menge von Ideenassoziationen mit dem guten und lieben Wesen, das es geheiligt hatte. Ihre Abwesenheit bei seinen veränderten Glücksumständen ließen ihm das Zimmer und sich selbst darin so verlassen und so sehr eines so lieben und treuen Gesichtes bedürftig erscheinen, daß er sich gegen die Wand kehrte, um zu weinen, und seufzend sich der herzerleichternde Ausruf: »O, meine Klein-Dorrit!« aus seiner Brust losrang.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Der Zögling des Marschallgefängnisses.

Es war ein sonniger Tag, und das Marschallgefängnis lag in den heißen Mittagssonnenstrahlen ungewöhnlich still da. Arthur Clennam sank in einen einsamen Lehnstuhl, der so abgeschabt war wie die Schuldner in dem Gefängnis, und hing seinen Gedanken nach.

In dem unnatürlichen Frieden, der in dem Bewußtsein lag, die drohende Verhaftung überstanden zu haben, – dem ersten Wechsel der Gefühle, die das Gefängnis meist herbeiführt, und von welchem gefährlichen Ruhepunkt so manche in die Tiefen der Erniedrigung und der Schmach auf so manche Art gesunken waren, – konnte er an einige Episoden seines Lebens in einer Weise denken, als wenn er von ihnen in ein anderes Leben entrückt wäre. Wenn man erwägt, wo er war, welches Interesse ihn zuerst hierhergeführt, als es ihm noch freistand, wegzubleiben, wenn man an das sanfte Wesen denkt, das so untrennbar von Mauern und Gittern ringsum war wie von unfaßbaren Erinnerungen seines späteren Lebens, die weder Mauer noch Gitter einkerkern konnte, so war es nicht merkwürdig, daß ihm alles, worauf seine Erinnerung fiel, Klein-Dorrit zurückrief. Ihm war es aber dennoch merkwürdig; nicht die Tatsache selbst; sondern weil sie ihn daran mahnte, welch großen Einfluß das liebe kleine Geschöpf auf seine besseren Entschlüsse gehabt hatte.

Niemand von uns weiß, welchen Menschen oder Dingen wir in dieser Weise verschuldet sind, bis eine auffällige Stockung in dem rasch sich drehenden Rade des Lebens uns dies Bewußtsein gibt. Krankheiten, Kummer, der Verlust teurer Geliebten führen es uns zu Gemüt, und es ist eine der häufigsten nützlichen Folgen des Unglücks. Dies Gefühl überkam Clennam in seinem Unglück und machte einen tiefen und rührenden Eindruck auf ihn. »Als ich mich zuerst sammelte«, dachte er, »und meinen müden Augen etwas wie ein Ziel setzte, wen sah ich vor mir, mühevoll arbeitend, um eines guten Zweckes willen, ohne Entmutigung, und ohne der gemeinen Hindernisse zu achten, die eine Armee von Helden und Heldinnen entmutigt hätten? – Ein schwaches Mädchen! Als ich meine schlecht gewählte Liebe zu bekämpfen und gegen den Mann, der glücklicher als ich war, edel zu sein strebte, obgleich er es vielleicht nie erfahren oder nur mit einem freundlichen Worte danken würde, wessen Geduld, Selbstverleugnung, Selbstbezwingung, Barmherzigkeit und edle Großmut des Herzens beobachtete ich da? Eben dieses armen Mädchens! Wenn ich, ein Mann mit den Vorteilen und Mitteln und Kräften eines Mannes, die geheime Stimme meines Herzens mißachtet hätte, daß, wenn mein Vater gefehlt, es meine erste Pflicht sei, diesen Fehler zu verdecken und gutzumachen, – welche jugendliche Gestalt, die, ihre zarten Füße beinahe entblößt, durch die feuchten Straßen ging, mit ihren schwachen Händen immer arbeitete, ihren schwachen Körper vor der Rauheit des Wetters kaum geschützt hätte, wäre mir erschienen und hätte mich beschämt? Klein-Dorrit.« So dachte er in einem fort, solange er allein in dem abgeschabten Stuhle saß. Immer Klein-Dorrit. Bis es ihm schien, als wenn er jetzt den Lohn fände, daß er sie von sich gelassen und geduldet hätte, daß etwas zwischen ihn und seine Erinnerung an ihre Tugenden träte.

Seine Tür war offen, und der Kopf des älteren Chivery sah ein wenig herein, ohne daß er gerade ihm zugewandt gewesen wäre.

»Ich bin abgelöst, Mr. Clennam, und gehe weg. Kann ich etwas für Sie tun?«

»Vielen Dank. Nein.«

»Sie werden entschuldigen, daß ich die Tür aufgemacht habe, aber ich konnte mich nicht anders bemerklich machen«, sagte Mr. Chivery.

»Haben Sie geklopft?«

»Ein halbes dutzendmal.«

Clennam stand auf und sah, daß das Gefängnis von seinem Mittagsschläfchen erwacht war, daß die Bewohner sich auf dem schattigen Hofe umhertrieben und daß es schon spät am Nachmittag war. Er hatte stundenlang dagesessen und vor sich hingebrütet.

»Ihre Sachen sind angekommen«, sagte Mr. Chivery, »und mein Sohn wird sie herausbringen. Ich würde sie schon heraufgeschickt haben, aber er wünschte durchaus, sie selbst herauszubringen. Wahrhaftig, er ließ sich das nicht nehmen, deshalb konnte ich sie nicht heraufschicken. Mr. Clennam, dürft‘ ich ein Wort mit Ihnen sprechen?«

»Bitte, treten Sie ein«, sagte Arthur; denn von Mr. Chiverys Kopf war bislang nur ein kleines Stück zu sehen, und Mr. Chivery hatte ihm bloß ein Ohr zugewandt statt beide Augen. Das war angeborenes Zartgefühl bei Mr. Chivery – echte Höflichkeit; obgleich sein Äußeres sehr viel vom Schließer hatte und nicht das mindeste von einem Gentleman.

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Mr. Chivery, ohne hereinzukommen. »Mr. Clennam, nehmen Sie es nicht übel (wenn Sie so gut sein wollen), falls Sie ihn etwas kurios finden, mein Sohn hat ein Herz, und meines Sohnes Herz ist auf dem rechten Fleck. Ich und seine Mutter wissen, wo es zu finden ist, und wir finden’s am rechten Platz.«

Nach dieser geheimnisvollen Rede zog Mr. Chivery sein Ohr zurück und schloß die Tür. Er mochte ungefähr zehn Minuten weggegangen sein, als sein Sohn ihm folgte.

»Hier ist Ihr Mantelsack«, sagte er zu Arthur, indem er ihn sorgfältig zu Boden setzte.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Es beschämt mich, daß Sie sich so viel Mühe machen.«

Er war fort, ehe Clennam dies gesagt; kehrte jedoch bald wieder zurück, indem er genau wie zuvor sagte: »Hier ist Ihr schwarzes Kistchen«, das er ebenfalls sorgfältig hinstellte.

»Ich erkenne diese Aufmerksamkeit mit großem Dank an. Ich hoffe, wir können uns jetzt die Hand schütteln, Mr. John.«

Der junge John jedoch trat zurück, indem er sein rechtes Handgelenk in einer Höhlung drehte, die er mit dem linken Daumen und Mittelfinger bildete, und dann wie zuvor sagte: »Ich weiß nicht, ob ich kann. Nein; ich sehe, daß ich nicht kann!« Er sah darauf den Gefangenen mit einem ernsten Blick an, während seine Empfindung sich in einem Grade steigerte, daß sie beinahe in Mitleid überging.

»Warum sind Sie ungehalten auf mich«, sagte Mr. Clennam, »und doch so bereit, mir diese freundlichen Dienste zu erzeigen? Es muß ein Mißverständnis zwischen uns obwalten. Wenn ich irgendwie dazu Veranlassung gegeben haben sollte, so würde mir das sehr leid tun.«

»Kein Mißverständnis, Sir«, sagte John, indem er das Handgelenk in der Höhlung vor- und zurückbewegte, obgleich sie sehr eng war. »Kein Mißverständnis, Sir, waltet in dem Gefühle ob, mit dem meine Augen Sie im gegenwärtigen Moment betrachten. Wenn ich überhaupt mich Ihnen gleichstellen könnte, Mr. Clennam – was ich nicht kann; und wenn nicht ein Druck auf Ihnen lastete – was im Augenblick der Fall ist; und wenn es nicht gegen alle Regeln des Marschallgefängnisses wäre – was es doch ist; – so wären meine Gefühle derart, daß sie mich eher als zu allem andern dazu antreiben würden, auf der Stelle die Sache durch Boxen mit Ihnen abzumachen.«

Arthur sah ihn einen Augenblick erstaunt und etwas ungehalten an. »Nun, nun!« sagte er. »Ein Mißverständnis, ein Mißverständnis!« Er wandte sich weg und setzte sich mit einem schweren Seufzer wieder in den abgeschabten Stuhl.

Der junge John folgte ihm mit den Blicken und rief nach einer kurzen Pause: »Ich bitte um Vergebung!«

»Sie ist Ihnen gern gewährt«, sagte Clennam, indem er mit seiner Hand winkte, ohne sein gesunkenes Haupt zu erheben. »Sagen Sie nichts mehr. Ich bin dessen nicht würdig.«

»Diese Möbel, Sir«, sagte der junge John mit dem Ton zarter und freundlicher Erklärung, »gehören mir. Ich habe die Gewohnheit, sie an solche auszuleihen, die das Zimmer bewohnen und keine eigenen Möbel haben. Es ist nicht viel, aber es steht zu Ihren Diensten. Umsonst, meine ich. Ich könnte mir keine andren Bedingungen denken, unter denen ich sie Ihnen liehe. Es wird mich freuen, wenn Sie die Sachen umsonst benutzen wollen.«

Arthur erhob seinen Kopf wieder, um ihm zu danken und zu sagen, er könne diese Güte nicht annehmen. John drehte noch immer sein Handgelenk und war noch so unschlüssig wie früher.

»Was ist denn zwischen uns?« sagte Arthur.

»Ich kann es nicht nennen, Sir«, versetzte der junge John, plötzlich laut und scharf sprechend. »Nichts ist zwischen uns.«

Arthur sah ihn wieder an, aber sein Blick bat vergeblich um eine Erklärung dieses Benehmens. Kurz darauf wandte Arthur seinen Kopf wieder weg. Der junge John sagte alsbald mit der größten Weichheit:

»Der kleine runde Tisch, Sir, der neben Ihnen steht, gehörte – Sie wissen, wem – ich brauche ihn nicht zu nennen – er ist tot, ein echter Gentleman. Ich kaufte ihn von einem Menschen, dem er ihn schenkte und der nach ihm dieses Zimmer bewohnte. Aber dieser Mensch stand ihm in keiner Weise gleich. Die wenigsten Menschen würden imstande sein, sich auf seine Höhe zu schwingen.«

Arthur zog den kleinen Tisch näher an sich, legte seinen Arm darauf und blieb in dieser Stellung.

»Vielleicht wissen Sie nicht, Sir«, sagte der junge John, »daß ich ihm beschwerlich fiel, als er hier in London war. Er schien es wenigstens für eine Zudringlichkeit zu halten, obgleich er so freundlich war, mich sitzen zu heißen und nach dem Vater und allen alten Freunden zu fragen. Selbst nach seinen geringsten Bekannten. Er erschien mir sehr verändert, ich sagte es, als ich nach Hause kam. Ich fragte ihn, ob Miß Amy wohl sei – –«

»Und er sagte ja?«

»Ich hätte gedacht, das wüßten Sie, ohne diese Frage an mich zu richten«, versetzte der junge John, während er ein Gesicht machte, als verschluckte er eine große unsichtbare Pille. »Da Sie jedoch diese Frage an mich richten, schmerzt es mich, daß ich sie nicht beantworten kann. Aber offen gesagt, er sah die Frage nach ihrem Befinden als eine Anmaßung an und sagte: ›Was das mich angehet?‹ Da wurde ich erst recht gewahr, daß ich zudringlich gewesen; vorher hatte ich es nur befürchtet. Er sprach jedoch später sehr gütig; sehr gütig.«

Sie schwiegen beide mehrere Minuten lang; der junge John unterbrach die Pause nur einmal mit den Worten: »Er sprach und handelte wirklich sehr gütig.«

Später war es wieder der junge John, der die Pause mit der Frage unterbrach:

»Wenn es nicht zudringlich erscheinen sollte, wie lange beabsichtigen Sie ohne Essen und Trinken zu bleiben?«

»Ich habe bis jetzt noch in keiner Richtung ein Bedürfnis gefühlt«, versetzte Clennam. »Ich habe keinen Appetit.«

»Um so mehr Grund, Sir, daß Sie etwas zu sich nehmen sollten«, drängte der junge John. »Wenn Sie so Stunde um Stunde dasitzen und keine Erfrischung zu sich nehmen, weil Sie keinen Appetit haben, nun so sollen Sie eben eine Erfrischung zu sich nehmen ohne Appetit. Ich werde auf meinem Zimmer Tee trinken. Wenn es nicht zudringlich klingt, bitte, so kommen Sie mit mir und trinken Sie eine Tasse bei mir. Oder ich könnte das Teebrett auch in zwei Minuten herüberbringen.«

Da Arthur fühlte, daß der junge John sich diese Mühe machen würde, wenn er es ausschlüge, und da er zu gleicher Zeit zu zeigen den Wunsch hegte, daß er des ältern Mr. Chiverys Bitte und des jüngeren Chiverys Entschuldigung alle Beachtung schenke – so stand er auf und drückte seine Bereitwilligkeit aus, eine Tasse Tee in Mr. Johns Zimmer zu trinken. Der junge John schloß statt seiner die Tür, ließ ihm den Schlüssel mit großer Gewandtheit in die Tasche gleiten und führte ihn nach seiner Wohnung.

Diese befand sich im Giebel des Hauses, zunächst dem Torweg. Es war dasselbe Zimmer, nach dem Clennam an dem Tage geeilt war, an dem die reich gewordene Familie das Gefängnis für immer verließ, und wo er sie ohnmächtig vom Boden aufgehoben. Er ahnte, wohin sie gingen, sobald ihr Fuß die Treppe berührte. Das Zimmer hatte sich soweit geändert, daß es jetzt tapeziert und neu gemalt, auch weit komfortabler eingerichtet war; aber er konnte es sich genau erinnern, wie er es mit einem flüchtigen Blick gesehen, als er sie vom Boden aufhob und in den Wagen hinabtrug.

Der junge John sah ihn unverwandt an und nagte dabei an seinen Fingern.

»Ich sehe, Sie erinnern sich des Zimmers, Mr. Clennam?«

»Ich erinnere mich dessen ganz genau, Gott segne sie!«

Den Tee ganz vergessend, fuhr der junge John fort, an den Fingern zu nagen und seinen Gast zu betrachten, solange sich dieser in dem Zimmer umsah. Endlich aber griff er doch nach der Teekanne, scharrte aus einer Büchse rasch eine Portion zusammen, die er hineinwarf, und ging nach der gemeinschaftlichen Küche, um die Kanne mit heißem Wasser zu füllen.

Das Zimmer sprach trotz der veränderten Umstände, unter denen er das elende Marschallgefängnis betrat, so beredt zu ihm; es sprach so traurig von ihr und von seinem Verlust der Kleinen, daß es ihm schwer gewesen wäre, sich dem rührenden Eindruck zu entziehen, selbst wenn er nicht allein gewesen wäre. Allein wollte er es nicht versuchen. Er legte seine Hand auf die gefühllose Wand, so zärtlich, als wenn sie es selbst gewesen, die er berührt, und sprach ihren Namen mit leiser Stimme aus. Er stand an dem Fenster und sah über die Gefängnismauer mit ihrer abscheulichen Spitzenkante hin und flüsterte einen Segen durch die Sonnennebel nach dem fernen Lande hin, wo sie reich und glücklich war.

Der junge John war einige Zeit abwesend, und man sah, als er zurückkam, daß er außerhalb der Gefängnismauern gewesen, da er frische Butter in einem Kohlblatt, einige dünne Schnitten gekochten Schinken in einem zweiten Kohlblatt und ein kleines Körbchen mit Wasserkresse und Salatkräutern brachte. Als dies zu seiner Zufriedenheit auf dem Tische arrangiert war, setzten sie sich zum Tee nieder.

Clennam suchte der Einladung Ehre anzutun, aber es wollte ihm nicht gelingen. Der Schinken machte ihn krank, und das Brot schien sich in seinem Munde in Sand zu verwandeln. Er vermochte nicht mehr über sich, als eine Tasse Tee zu trinken.

»Versuchen Sie doch ein wenig Grünes«, sagte der junge John, indem er ihm das Körbchen darbot.

Er nahm etwas Wasserkresse und versuchte es aufs neue; aber das Brot verwandelte sich in noch schwereren Sand denn zuvor, und der Schinken (obwohl er an und für sich ganz gut war) schien einen schwachen Samum von Schinken durch das ganze Marschallgefängnis zu blasen.

»Versuchen Sie noch etwas mehr Grünes, Sir«, sagte der junge John und bot ihm wieder das Körbchen.

Dies machte so sehr den Eindruck, als wenn man grüne Kräuter in den Käfig eines traurigen, einsamen Vogels schöbe, und John hatte so offenbar das kleine Körbchen als eine Handvoll Erfrischung, die bei den alten, heißen Pflaster- und Mauersteinen des Gefängnisses nötig war, gekauft, daß Clennam mit einem Lächeln sagte: »Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie auf den Gedanken kamen, dies zwischen die Drahtstäbe zu senken; aber ich kann heute nicht mal dies hinunterbringen.«

Als wenn die Schwierigkeit ansteckend wäre, schob auch der junge John bald seinen Teller weg und begann das Kohlblatt, in dem der Schinken gewesen war, aufzurollen. Als er es mehrmals zusammengerollt, daß es ganz klein zwischen seinen Händen geworden, begann er es platt zu drücken und sah dabei Clennam aufmerksam an.

»Ich wundre mich«, sagte er endlich, indem er sein grünes Bällchen mit einiger Kraft zusammendrückte, »daß, wenn Sie es nicht um Ihrer selbst willen für der Mühe wert halten, Sorge für sich zu tragen, Sie es nicht um einer andern Person willen tun.«

»Wahrhaftig«, versetzte Arthur mit einem Seufzer und einem Lächeln, »ich wüßte nicht, um wessen willen.«

»Mr. Clennam«, sagte John warm, »ich bin erstaunt, daß ein Gentleman, der solcher Offenheit fähig ist wie Sie, der niedrigen Handlung fähig sein soll, mir eine solche Antwort zu geben. Mr. Clennam, ich bin erstaunt, daß ein Gentleman, der ein Herz hat, die Herzlosigkeit besitzen soll, das meine in solcher Weise zu behandeln. Ich bin darüber erstaunt, Sir. Wirklich und wahrhaftig, ich bin erstaunt.«

Da er aufgestanden war, um seinen Schlußworten den rechten Nachdruck zu verleihen, setzte sich der junge John, nachdem er gesprochen hatte, wieder, und begann sein grünes Bällchen auf seinem rechten Bein zu rollen, indem er dabei kein Auge von Clennam abwandte, sondern ihn mit dem Blicke vorwurfsvoller Entrüstung ansah.

»Ich war mit der Sache fertig geworden«, sagte John, »Ich hatte sie bekämpft, da ich fühlte, daß sie bekämpft werden müsse, und war zu dem Entschluß gekommen, nicht mehr daran zu denken. Ich würde gar nicht mehr daran gedacht haben, hoffe ich, wenn man Sie nicht in dies Gefängnis gebracht, und dies in einer unglücklichen Stunde für mich, heute. (In seiner Aufregung brauchte der junge John die wirkungsvolle Satzkonstruktion seiner Mutter.) Als Sie heute zuerst in das Pförtnerstübchen traten, mehr wie ein gefangener Giftbaum denn wie ein Privatverbrecher, strömten so viele Gefühle auf mich ein, daß im ersten Augenblick alles von ihnen weggeschwemmt wurde und ich mich wie in einem Wirbel drehte. Ich rettete mich aus demselben. Ich kämpfte und rettete mich aus demselben. Wenn es das letzte Wort wäre, das ich zu sprechen hätte, gegen diesen Wirbel kämpfte ich mit der äußersten Kraft an und kam heraus. Ich dachte, wenn ich unzart gewesen, sei eine Entschuldigung nötig, und eine solche Entschuldigung machte ich. Und nun, da ich so lebhaft den Wunsch habe, zu zeigen, daß ich ein beinahe heiliges Gefühl hege, das mir über alle andern geht, – jetzt machen Sie Winkelzüge, während ich die Sache so zart andeute, und werfen mich zurück. »Denn Sie werden nicht so falsch sein«, sagte der junge John, »zu leugnen, daß Sie Winkelzüge machen und mich auf mich zurückwerfen.« Arthur sah ihn höchlich erstaunt und verlegen an; er konnte nicht mehr hervorbringen als: »Was soll’s damit? Was meinen Sie, John?« Aber John, der in jener Gemütsverfassung war, in der einer gewissen Klasse von Menschen nichts unmöglicher scheinen würde, als eine Antwort zu geben, fuhr blindlings fort.

»Ich hatte nie«, erklärte John, »nein, ich hatte niemals die Kühnheit, zu denken, das weiß ich gewiß, die Sache könne anders denn verloren sein. Ich hatte nie, nein, warum sollte ich sagen, ich hatte nie, wenn ich sie jemals gehabt, ich hatte nie die Hoffnung, daß es möglich wäre, ich könnte so glücklich sein, nach den Worten, die zwischen uns gewechselt wurden, selbst nicht, wenn keine so unübersteiglichen Hindernisse sich mir entgegengetürmt hätten. Aber ist das ein Grund, weshalb ich nicht mehr daran denken sollte, weshalb ich mich nicht erinnern dürfte, weshalb es für mich keine geheiligten Orte oder dergleichen geben sollte?«

»Was können Sie nur mit alledem meinen?« rief Arthur.

»Man kann ganz gut darauf herumtreten, Sir«, fuhr John fort, indem er eine Prärie von wilden Worten zum besten gab, »wenn jemand es über sich vermag, dieser Handlung sich schuldig zu machen. Man kann die Sache mit Füßen treten, aber sie bleibt doch, was sie ist. Wohl möglich, daß man sie nicht mit Füßen treten könnte, wenn sie nicht existierte. Aber das macht es nicht fein, das macht es nicht ehrenhaft, das rechtfertigt es nicht, einen Menschen wieder in den Strudel zurückzuschleudern, nachdem er sich herausgearbeitet hat wie ein Schmetterling. Die Welt mag über einen Schließer spötteln, aber er ist ein Mann – wenn er nicht eine Frau ist, was er wohl unter weiblichen Verbrechern sein wird.«

So lächerlich auch das Unzusammenhängende seiner Rede war, so lag doch etwas so Treuherziges in dem einfachen, sentimentalen Charakter des jungen John, und ein Gefühl, an einem zarten Punkt tief verletzt worden zu sein, in seinem glühenden Gesicht und in der Erregtheit seines Tones und Wesens, daß Arthur hätte grausam sein müssen, wenn er es hätte nicht beachten wollen. Er richtete seine Gedanken auf den Ausgangspunkt dieser ihm unbewußten Beleidigung, während der junge John, nachdem er sein grünes Bällchen hübsch rund gerollt hatte, es in drei Stücke schnitt und sorgfältig auf einen Teller legte, als wenn es eine besondere Delikatesse wäre.

»Es dünkt mich nicht unwahrscheinlich«, sagte Arthur, als er das Gespräch bis auf die Wasserkresse zurückverfolgt und dann aufs neue begann, »daß Sie auf Miß Dorrit angespielt haben?«

»Allerdings, Sir«, versetzte John Chivery.

»Ich verstehe das nicht. Ich hoffe, ich bin nicht so unglücklich, Sie glauben zu machen, ich wolle Sie wieder beleidigen, denn ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen, wenn ich sage, ich verstehe Sie nicht.«

»Sir«, sagte der junge John, »wollen Sie so perfid sein, zu leugnen, daß Sie wissen und lange schon gewußt haben, daß ich für Miß Dorrit, nennen Sie es nicht Anmaßung der Liebe, sondern Verehrung und Hingebung fühle?«

»Wahrhaftig, John, es ist keine Perfidie, wenn ich es weiß; warum Sie solche bei mir voraussetzen, frage ich mich vergeblich. Hörten Sie je von Mrs. Chivery, Ihrer Mutter, daß ich sie eines Tages besuchte?«

»Nein, Sir«, versetzte John kurz. »Habe nie davon gehört.«

»Aber ich war bei ihr. Können Sie sich denken, weshalb?«

»Nein, Sir«, antwortete John kurz. »Ich kann mir nicht denken, warum.«

»So will ich es Ihnen sagen. Ich wünschte, zu Miß Dorrits Glück etwas beizutragen; und wenn ich glaubte, Miß Dorrit erwidere Ihre Liebe –«

Der arme John Chivery wurde hochrot bis hinter die Ohren. »Miß Dorrit erwiderte sie nicht. Ich wünsche ehrenhaft und wahr zu sein, soweit mir dies in meiner bescheidenen Stellung möglich ist, und ich würde es verschmähen, auch nur einen Augenblick zu behaupten, daß sie es je getan oder mich je glauben ließ, sie tue es; nein, nicht einmal, daß es je bei ruhigem Verstand zu erwarten war, sie werde oder könne es tun. Sie stand zu allen Zeiten und in jeder Beziehung weit über mir. Gerade wie ihre vornehme Familie«, fügte John hinzu.

Sein ritterliches Gefühl gegenüber von allem, was zu ihr gehörte, machte ihn, trotz seiner kleinen Gestalt und seiner ziemlich schwachen Beine und seines sehr schwachen Haares und seines poetischen Temperaments, doch so bedeutend, daß selbst ein Goliath an seiner Stelle weniger Respekt bei Arthur gefunden hätte.

»Sie sprechen wie ein Mann, mein lieber John«, sagte er mit herzlicher Bewunderung.

»Nun, Sir«, versetzte John, mit der Hand über die Augen fahrend, »dann wünsche ich, Sie würden dasselbe tun.«

Er war rasch mit dieser unerwarteten Antwort zur Hand, und Arthur sah ihn wieder mit einem staunenden Ausdruck des Gesichtes an.

»War das zu stark«, sagte John, indem er seine Hand über das Teebrett hinüberbot, »so nehme ich es zurück. Aber warum nicht, warum nicht? Wenn ich Ihnen sage, Mr. Clennam, sorgen Sie um einer andern Person willen für sich, warum soll ich nicht offenherzig sein, obgleich ich ein Schließer bin? Warum gab ich Ihnen das Zimmer, von dem ich wußte, daß es Ihnen das liebste sein würde? Warum brachte ich Ihre Sachen herauf? Nicht, daß ich sie schwer gefunden habe; ich sage das nicht in dieser Beziehung; weit entfernt. Warum habe ich mich seit diesem Morgen in solcher Weise um Sie gemüht? Wegen Ihrer eigenen Verdienste etwa? Nein. Sie mögen sehr groß sein; ich zweifle nicht daran; aber nicht auf Grund dieser. Die Verdienste eines andern Wesens fielen in die Wagschale und hatten für mich größeres Gewicht. Warum nicht offen sprechen?«

»Ehrlich und offen, John«, sagte Clennam, »Sie sind ein so guter Mensch, und ich habe eine so aufrichtige Achtung vor Ihrem Charakter, daß, wenn ich weniger, als es wirklich der Fall, die freundlichen Dienste, die Sie mir heute leisteten, dem Umstand zuzuschreiben schien, daß mich Miß Dorrit mit ihrer Freundschaft beehrt, – so gestehe ich dies als einen großen Fehler ein, und ich bitte um Vergebung.«

»Ah, warum nicht«, wiederholte John mit erneutem Hohn, »warum nicht offen sprechen?«

»Ich erkläre Ihnen«, versetzte Arthur, »daß ich Sie nicht verstehe. Betrachten Sie mich. Erwägen Sie die Sorgen, die mich niederdrücken. Ist es wahrscheinlich, daß ich zu den andern Vorwürfen, die ich mir machen muß, den fügen sollte, undankbar und verräterisch gegen Sie zu sein? Ich verstehe Sie nicht.«

Johns ungläubiges Gesicht bekam nach und nach den Ausdruck des Zweifels. Er stand auf, trat an das Fenster des Dachstubenzimmers, bat Arthur näher zu kommen und sah gedankenvoll zu ihm hin.

»Mr. Clennam, wollen Sie damit sagen, daß Sie es nicht wissen?«

»Was, John?«

»Himmel«, sagte John, indem er mit tiefem Atemholen an die Eisenspitzen auf der Mauer appellierte. »Er sagt: ›Was?‹«

Clennam sah nach den Eisenspitzen hin und dann John an; und sah die Eisenspitzen und dann John noch einmal an.

»Er sagt: Was! Und was noch mehr«, rief der junge John und betrachtete ihn in kläglicher Verlegenheit, »er scheint es sogar wirklich zu meinen! Sehen Sie dieses Fenster, Sir?«

»Natürlich sehe ich dieses Fenster.«

»Sehen Sie dieses Zimmer?«

»Nun, natürlich sehe ich dieses Zimmer.«

»Die gegenüberstehende Mauer und den Hof dort unten? Sie waren alle Zeugen davon, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Woche für Woche, Monat für Monat. Denn wie oft habe ich Miß Dorrit hier gesehen, während sie mich nicht gesehen hat!«

»Zeugen, von was?« sagte Clennam.

»Von Miß Dorrits Liebe.«

»Zu wem?«

»Zu Ihnen!« sagte John. Und berührte mit dem Rücken seiner Hand Clennams Brust und trat zu seinem Stuhl zurück und setzte sich mit blassem Gesicht hinein, indem er die Arme übereinanderschlug und ihn kopfschüttelnd ansah.

Wenn er Clennam einen derben Schlag versetzt hätte, statt ihn so leicht zu berühren, so hätte dieser nicht mehr erschüttert sein können. Er stand erstaunt da, die Augen auf John geheftet und den Mund offen, während seine Lippen die Worte: ›Zu mir‹ zu bilden schienen, ohne sie jedoch laut auszusprechen; seine Hände hingen an seiner Seite herab, und seine ganze Erscheinung war die eines Mannes, der aus dem Schlaf erwacht ist und die bestürzende Nachricht, die man ihm gebracht hat, nicht begreifen kann.

»Zu mir!« sagte er endlich laut.

»Ach!« stöhnte der junge John. »Zu Ihnen!«

Er strengte sich an, ein Lächeln zu erzwingen, und er versetzte: »Das ist Einbildung von Ihnen. Sie sind vollständig im Irrtum.«

»Ich im Irrtum!« sagte der junge John. » Ich vollständig im Irrtum über diese Sache! Nein, Mr. Clennam, sagen Sie mir das nicht! Bei jeder andern Sache wäre das möglich, denn ich maße mir nicht an, sehr scharfblickend zu sein, und bin mir meiner Schwächen sehr gut bewußt. Aber ich soll mich irren über einen Punkt, der mir die Brust mehr zerrissen hat als ein Hagel von Pfeilen, die eine wilde Horde auf mich abschösse! Ich soll mich irren über einen Punkt, der mich beinahe in das Grab gebracht, was ich manchmal gewünscht, wenn sich das Grab nur mit dem Tabaksgeschäft und den Gefühlen für Vater und Mutter hätte vertragen können! Ich mich irren über einen Punkt, der mich selbst im gegenwärtigen Augenblick veranlaßt, mein Taschentuch, wie die Leute sagen, wie ein großes Mädchen herauszuziehen; obgleich ich nicht weiß, warum ein großes Mädchen ein Ausdruck des Vorwurfs sein sollte, denn jedes unverfälschte männliche Gemüt liebt sie groß und klein. Sagen Sie mir das nicht, sagen Sie mir das nicht!«

Im Grunde immer noch sehr ehrenwert, obgleich auf der Oberfläche lächerlich genug, zog der junge John sein Taschentuch heraus, und dies so ganz ohne Schaustellung oder Heimlichkeit, wie man es nur bei einem Mann, der ein tüchtiges Stück guten Charakters besitzt, finden wird, wenn er sein Taschentuch herauszieht, um sich die Augen damit abzuwischen. Nachdem er sie getrocknet und sich den harmlosen Genuß verschafft hatte zu schluchzen, steckte er es wieder ein.

Die Berührung wirkte noch immer so schlagartig nach, daß Arthur nicht viele Worte finden konnte, um die Sache zum Abschluß zu bringen. Er versicherte John Chivery, nachdem er sein Taschentuch wieder eingesteckt, daß er jener Uneigennützigkeit und der Treue, mit der er an Miß Dorrit festhalte, alle Anerkennung zollen müsse. Was die soeben von ihm kundgegebene Idee betreffe – hier unterbrach ihn John und sagte: »Keine Idee! Gewißheit!« –, so würden sie vielleicht ein andermal darüber sprechen, für den Augenblick aber wolle er nichts weiter sagen. Da er sich niedergedrückt und müde fühle, wolle er mit Johns Erlaubnis in sein Zimmer zurückkehren und es für diesen Abend nicht mehr verlassen. John gab seine Zustimmung, und er schlich in dem Schatten der Mauer nach seiner Wohnung zurück.

Das Gefühl des Schlags war noch so lebhaft, daß er, als das schmutzige alte Weib fort war, das er auf der Treppe vor seiner Tür sitzend fand, und das auf ihn wartete, um sein Bett zu machen, und ihm, während sie dies tat, zu verstehen gab, daß sie ihre Instruktionen von Mr. Chivery, ›nicht dem alten, sondern dem jungen‹, erhalten habe, – in den verschossenen Armstuhl sank und den Kopf mit beiden Händen zusammenpreßte, als wenn er betäubt wäre. Klein-Dorrit ihn lieben! Das machte ihn weit verwirrter als sein Unglück, weit verwirrter.

Man denke nur die Unwahrscheinlichkeit. Er war gewöhnt gewesen, sie sein Kind zu heißen, und sein liebes Kind, und ihr Vertrauen dadurch zu wecken, daß er auf den Unterschied in ihrem Alter Nachdruck legte und von sich wie von einem sprach, der alt würde. Aber sie hatte ihn vielleicht nicht für alt gehalten. Etwas erinnerte ihn sogar, daß er sich selbst nicht für alt gehalten habe, bis die Rosen auf dem Strom dahingeschwommen.

Er hatte ihre beiden Briefe unter andern Papieren in seinem Pult, und er holte sie hervor und las sie. Es schien ein Ton aus ihnen hervorzuklingen wie der Ton ihrer süßen Stimme. Es schlug an sein Ohr mit manchen zarten Tönen, die mit der neuen Bedeutung nicht unvereinbar waren. Jetzt fiel ihm die scheinbar ruhige und doch so verzweiflungsvolle Antwort: ›Nein, nein, nein‹ an jenem Abend in demselben Zimmer ein – an jenem Abend, wo er das Morgenrot ihres veränderten Schicksals gesehen und wo sie noch andere Worte gewechselt hatten, an die er sich nun in seiner Erniedrigung und Gefangenschaft erinnern sollte.

Man bedenke die Unwahrscheinlichkeit.

Aber diese nahm bei näherer Erwägung sichtlich ab. Eine andre und seltsame Frage seines Herzens drängte sich gleichzeitig immer mehr vor. Lag nicht in seinem Widerwillen gegen den Gedanken, daß sie einen andern liebe; in seinem Wunsche, diese Frage zu beseitigen; in seinem halbfertigen Bewußtsein, daß es edel sei, ihre Liebe zu einem andern zu unterstützen, – lag darin nicht ein unterdrücktes Etwas auf seiner Seite, das er beschwichtigt hatte, wie es in ihm lebendig zu werden anfing? Hatte er sich jemals zugeflüstert, daß er niemals denken dürfe, sie könne ihn lieben, daß er keinen Vorteil aus ihrer Dankbarkeit ziehen dürfe, daß er seine Erfahrung als Warnung und Mahnung vor Augen behalten müsse; daß er solche jugendliche Hoffnungen als geschiedene zu betrachten habe, wie seines toten Freundes Tochter geschieden sei; daß er nicht aufhören dürfe, sich zu sagen, die Zeit für ihn sei vorüber, und er sei zu ernst und zu alt?

Er hatte sie geküßt, als er sie vom Fußboden aufgehoben, an jenem Tage, als man sie so genau wie sonst und so bedeutungsvoll vergessen hatte. Ganz, wie er sie geküßt hätte, wenn sie bei Bewußtsein gewesen wäre? Kein Unterschied?

Das Dunkel fand ihn noch mit diesen Gedanken beschäftigt. Das Dunkel fand auch Mr. und Mrs. Plornish pochend an seiner Tür. Sie brachten ein Körbchen, gefüllt mit einer Auswahl jener Waren, die so raschen Absatz fanden und so langsam bezahlt wurden. Mrs. Plornish war zu Tränen gerührt. Mr. Plornish brummte liebenswürdig in seiner philosophischen, aber nicht sonderlich klaren Weise, daß es im Leben bald auf-, bald abwärts gehe. Es wäre vergeblich, zu fragen, warum bald auf-, bald abwärts, so sei es eben einmal. Er habe es als ganz sicher erzählen hören, daß, wie die Welt sich drehe, was gewiß und erwiesen sei, so müsse sich auch der vornehmste Mann gefallen lassen, mit dem Kopf nach unten zu stehen und sein Haar in der verkehrten Richtung im Raum, wenn man’s so nennen dürfe, fliegen zu lassen. Gut denn. Was Mr. Plornish sagte, war: Gut denn also. Des einen Herrn Kopf würde in die Höhe kommen, wenn die Reihe an ihm wäre. Des andern Herrn Haar würde einen reizenden Anblick darbieten, so glatt würde es werden, und damit gut!

Wir haben bereits erwähnt, daß Mrs. Plornish, die keinen philosophischen Geist besaß, weinte. Es geschah ferner, daß Mrs. Plornish, die keinen philosophischen Geist besaß, verständlich war. Es war eine Folge ihrer milderen Stimmung oder des weiblichen Scharfblicks oder der raschen Kombinationsgabe oder des Mangels an Logik, der den Frauen eigen, – aber es geschah auch, daß Mrs. Plornishs Verständlichkeit sich gerade an dem Gegenstände betätigte, mit dem Arthurs Gedanken beschäftigt waren.

»Was Vater von Ihnen sagte, Mr. Clennam, werden Sie kaum glauben«, sagte Mrs. Plornish. »Es hat ihn ganz unglücklich gemacht. Und seine Stimme hat dieses Unglück ganz weggenommen. Sie wissen, wie schön Vater singt, aber er konnte auch nicht einen Ton beim Tee für die Kinder herausbringen, wenn Sie mir glauben wollen, was ich Ihnen sage.«

Während sie so sprach, schüttelte Mrs. Plornish ihren Kopf, wischte ihre Augen und sah sich mit Gedanken an die Vergangenheit im Zimmer um.

»Und was Mr. Baptist tun wird, wenn er es erfährt, kann ich mir gar nicht denken oder träumen«, fuhr Mrs. Plornish fort. »Sie können sicher sein, er wäre schon hier gewesen, wenn er nicht in Ihren eigenen vertraulichen Aufträgen fort wäre. Die Ausdauer, mit der er diesen Aufträgen nachgeht und sich keine Ruhe gönnt, – ist wahrhaftig«, sagte Mrs. Plornish und schloß in ihrer italienischen Weise, »wie ich zu ihm sage: erstaunlich, Padrona.«

Obgleich nicht eingebildet, fühlte Mrs. Plornish doch, daß sie diese toskanische Sentenz mit besonderer Eleganz angebracht. Mr. Plornish konnte seine Freude über ihre vollendete sprachliche Bildung nicht verbergen.

»Aber was ich sagen wollte, Mr. Clennam«, fuhr die gute Frau fort, »ist, daß wir immer noch für etwas dankbar sein müssen, wie Sie gewiß selber zugeben werden. Da wir in diesem Zimmer sprechen, so ist es nicht schwer, zu finden, was dieses Etwas ist. Man muß wahrhaftig sehr dankbar sein, daß Miß Dorrit nicht hier ist und es weiß.«

Arthur glaubte, sie sehe ihn mit besonderem Ausdruck an.

»Es ist etwas«, wiederholte Mr«. Plornish, »wofür man wirklich dankbar sein muß, daß Miß Dorrit weit weg von hier ist. Es steht zu hoffen, daß sie nichts davon hört. Wenn sie hier gewesen und es gesehen hätte, Sir, so läßt sich nicht zweifeln, daß Ihr Anblick«, Mrs. Plornish wiederholte diese Worte, – »nicht zu zweifeln, daß Ihr Anblick, wie Sie im Unglück und Bedrängnis schmachten, beinahe zu viel für ihr liebreiches Herz gewesen wäre. Ich kann mir auf der Welt nichts denken, was Miß Dorrit so schmerzlich berührt haben müßte als dies!«

Ganz gewiß sah Mrs. Plornish ihn jetzt mit einer Art zitternder Herausforderung in ihrer freundlichen Rührung an.

»Ja«, sagte sie. »Und es zeigt, wie gut der Vater Achtung gibt, obgleich er schon so bei Jahren ist, daß er diesen Nachmittag zu mir sagte, was, wie die Glückshütte weiß, ich weder erfinde, noch vergrößere: ›Mary, wir müssen doch recht froh sein, daß Miß Dorrit nicht da ist und es mit ansehen muß.‹ Das waren Vaters eigene Worte. Vaters eigene Worte waren: ›Wir müssen sehr froh sein, Mary, daß Miß Dorrit nicht da ist, um es mit ansehen zu müssen‹. Darauf sage ich zum Vater, sage ich, ›Vater, du hast recht!‹ Das«, schloß Mrs. Plornish mit der Miene eines sehr gewissenhaften Zeugen vor Gericht, »das ist’s, was zwischen uns vorging. Und ich sage Ihnen nichts, als was zwischen mir und Vater vorging.«

Mr. Plornish, der von einem etwas lakonischeren Temperament war, ergriff diese Gelegenheit, um die Bemerkung einfließen zu lassen, daß sie jetzt Mr. Clennam sich selbst überlassen solle. »Denn du siehst«, sagte Mr. Plornish mit großem Ernst, »ich weiß, was es ist, Alte.« Diese wertvolle Bemerkung wiederholte er mehrmals, als ob sie ihm ein großes moralisches Geheimnis einzuschließen schiene. Zuletzt ging das würdige Paar Arm in Arm fort.

Klein-Dorrit, Klein-Dorrit, wieder ganze Stunden lang. Immer Klein-Dorrit!

Zum Glück, wenn es je so gewesen, war es vorbei, und es war besser so. Angenommen, daß sie ihn geliebt hätte und er es gewußt und seiner Liebe nachgegeben hätte, welchen Weg hätte er sie dann geführt, – den Weg, der sie an diesen Jammerort zurückgebracht hätte. Es mußte für ihn ein außerordentlich tröstlicher Gedanke sein, daß sie für immer von diesem Ort geschieden war; daß sie verheiratet war oder bald heiraten würde (unbestimmte Gerüchte von ihres Vaters Plänen in dieser Richtung waren in den Hof zum blutenden Herzen zur gleichen Zeit mit der Nachricht von ihrer Schwester Hochzeit gekommen), und daß das Tor des Marschallgefängnisses allen diesen wirren Möglichkeiten einer vergangenen Zeit sich für immer verschlossen hatte.

Liebe Klein-Dorrit!

Wenn er zurückblickte auf seine Leidensgeschichte, so erschien sie ihm wie ein verschwindendes Moment darin. Alles führte in der Perspektive auf ihre unschuldige Gestalt hin. Er war Tausende von Meilen nach diesem Ziele gereist; frühere unruhige Hoffnungen und Zweifel hatten sich davor gelöst, es war der Mittelpunkt der Interessen seines Lebens; es war der Schlußpunkt von allem, was gut und angenehm darin war; darüber hinaus war nichts als bloße Wüstenei und dunkler Himmel.

So ruhelos wie in der ersten Nacht, als er sich innerhalb dieser traurigen Mauern zu Bett gelegt hatte, brachte er diese Nacht mit solchen Gedanken zu. Unterdessen lag der junge John in friedlichem Schlummer, nachdem er folgende Grabschrift auf seinem Kissen zusammengestellt und angeordnet hatte:

Fremdling! Achte das Grab von John Chivery junior, gestorben in hohem Alter, das der Erwähnung nicht wert. Er begegnete seinem Nebenbuhler in Bedrängnis und fühlte Lust, sich mit ihm zu boxen. Aber um der Geliebten willen bekämpfte er diese bitteren Gefühle und zeigte sich hochherzig.

Achtundzwanzigstes Kapitel.


Achtundzwanzigstes Kapitel.

Eine Erscheinung im Marschallgefängnis.

Die Meinung der Gesellschaft außerhalb des Gefängnisses sprach sich mit der Zeit sehr hart über Clennam aus, und unter der Gesellschaft innerhalb der Mauern gewann er sich keine Freunde. Zu niedergedrückt, um sich unter den großen Haufen auf dem Hof zu mischen, der zusammenkam, um seine Sorgen zu vergessen; zu sehr zurückhaltend und zu unglücklich, um an den armseligen Freuden des Wirtshauses teilzunehmen, blieb er auf seinem eigenen Zimmer und ward mit Mißtrauen angesehen. Einige sagten, er sei stolz; andere meinten, er sei mürrisch und zurückhaltend; noch andere verachteten ihn, denn er sei ein armseliger Hans, der sich wegen seiner Schulden gräme. Die ganze Bevölkerung des Gefängnisses wich ihm scheu wegen dieser verschiedenen Beschuldigungen aus, namentlich wegen der letzteren, die eine Art Verrat am Hause in sich schloß, und er gewöhnte sich bald so sehr an seine Einsamkeit, daß er nur noch auf dem Hof auf und ab ging, wenn der Abendklub bei seinen Liedern und Toasten und Gefühlsüberschwenglichkeiten versammelt war und der Hof fast ausschließlich den Frauen und Kindern überlassen blieb.

Die Gefangenschaft begann Einfluß auf ihn zu gewinnen. Er wußte, daß er damit nur eitel seine Zeit verträumte. Nach dem, was er von dem Einfluß der Gefangenschaft in den vier engen Mauern dieses Zimmers, das er jetzt bewohnte, gesehen hatte, flößte ihm dies Gefühl Angst vor sich selbst ein. Vor dem beobachtenden Blicke anderer und seinem eigenen sich scheuend, begann er sich merklich zu ändern. Jedermann konnte sehen, daß der Schatten der Mauer dunkel auf ihn fiel.

Eines Tages – er mochte ungefähr zehn oder zwölf Wochen im Gefängnis gewesen sein –, als er zu lesen versucht und nicht imstande gewesen war, die dichterischen Gestalten des Buchs vom Marschallgefängnis zu trennen, hielt ein Schritt vor seiner Tür, und eine Hand pochte daran. Er stand auf und öffnete, und eine angenehme Stimme rief ihm entgegen: »Wie geht es Ihnen, Mr. Clennam? Ich hoffe, mein Besuch ist Ihnen nicht unangenehm.«

Es war der muntere junge Barnacle, Ferdinand Barnacle. Er sah sehr freundlich und einnehmend aus, vielleicht zu heiter und ungebunden im Gegensatz zu dem schmutzigen Gefängnis.

»Sie sind überrascht, mich zu sehen, Mr. Clennam«, sagte er, indem er den Stuhl nahm, den ihm Mr. Clennam bot.

»Ich muß gestehen, daß ich sehr überrascht bin.«

»Nicht unangenehm, hoffe ich.«

»Keineswegs.«

»Danke. Offen gestanden«, sagte der einnehmende junge Barnarle, »es hat mir ausnehmend leid getan, zu vernehmen, daß Sie sich in die Notwendigkeit versetzt sahen, sich zeitweilig hierher zurückzuziehen, und ich hoffe (natürlich spreche ich hier als Privatmann zum Privatmann), daß unser Amt nichts damit zu tun hat.«

»Ihr Amt?«

»Unser Circumlocution Office.«

»Ich kann keinen Teil meines Mißgeschicks auf dieses bedeutende Amt schieben.«

»Wahrhaftig«, sagte der lebhafte junge Barnacle, »ich bin herzlich froh, das zu erfahren. Es nimmt mir wirklich eine Last vom Herzen, Sie so sprechen zu hören. Ich würde es ausnehmend bedauert haben, erfahren zu müssen, daß unser Bureau irgend etwas mit Ihren Widerwärtigkeiten zu tun gehabt hätte.«

Clennam versicherte ihm abermals, daß er ihn von aller Verantwortlichkeit freispreche.

»Das ist recht«, sagte Ferdinand. »Ich bin sehr glücklich, das zu hören. Mir war innerlich nicht ganz wohl bei der Sache; ich befürchtete, wir möchten dazu beigetragen haben, Sie zu ruinieren, weil es außer Zweifel ist, daß wir das hier und da tun. Wir wollen es nicht; aber wenn Leute durchaus ruiniert sein wollen, nun – so können wir es nicht ändern.«

»Ohne Ihnen in dem, was Sie sagen, unbedingt beizustimmen«, versetzte Arthur düster, »bin ich Ihnen doch für Ihr Interesse an meinem Wohl und Wehe sehr verbunden.«

»Nein, aber wahrhaftig! Unser Bureau«, sagte der leutselige junge Barnacle, »ist das harmloseste Bureau, das man sich denken kann. Sie sagen vielleicht, unsere Sache sei Humbug. Ich will nicht das Gegenteil behaupten; aber alle diese Dinge sollen so sein und müssen so sein. Sehen Sie das nicht ein?«

»Nein«, sagte Clennam.

»Sie sehen die Sache nicht vom richtigen Gesichtspunkt an. Der Gesichtspunkt ist das wichtigste. Betrachten Sie unser Bureau von dem Gesichtspunkt, daß wir von Ihnen nur verlangen, uns ungeschoren zu lassen, und wir sind ein so ausgezeichnetes Departement, wie es nur eines geben kann.«

»Ist Ihr Bureau dazu da, um ungeschoren gelassen zu werden?« fragte Clennam.

»Sie treffen den richtigen Punkt«, versetzte Ferdinand. »Es besteht zu dem ausdrücklichen Zweck, daß man es ungeschoren lasse. Das ist’s, was es will. Allerdings muß eine gewisse Form zu andern Zwecken beobachtet werden, aber das ist nur eine Form. Nun, mein Gott, wir sind ja nichts als Form. Denken Sie nur, welche Masse von Formalitäten Sie haben durchmachen müssen. Und Sie sind dem Ziele doch nicht näher gekommen. Sehen Sie die Sache vom rechten Gesichtspunkt an, und Sie werden uns – in unsrer offiziellen Wirksamkeit haben. Es ist wie eine geschlossene Partie Kricket. Eine Partie Draußenstehender drängt sich immer herein, um nach dem Staatsdienst zu zielen, und wir schlagen die Bälle zurück.«

Clennam fragte, was aus den Ballwerfenden würde.

Der lustige junge Barnacle antwortete, daß sie der Sache müde, lahm und im Rücken gebrochen würden, abstürben, die Partie aufgäben und ein anderes Spiel begännen.

»Und dies veranlaßt mich abermals, mir zu gratulieren«, fuhr er fort, »daß unser Bureau keine Schuld an Ihrer momentanen Zurückgezogenheit trägt. Es hätte so leicht eine Hand darin haben können, weil sich nicht leugnen läßt, daß wir bisweilen mit unsrem Bureau sehr großes Unglück haben, namentlich bei Leuten, die uns nicht ungeschoren lassen. Mr. Clennam, ich spreche ganz offen mit Ihnen. Zwischen Ihnen und mir brauche ich nicht hinter dem Berg zu halten. Ich habe das schon getan, als ich zuerst bemerkte, daß Sie den Mißgriff machten, uns nicht ungeschoren lassen zu wollen; weil ich sah, daß Sie unerfahren und sanguinisch waren und – ich hoffe, Sie werden nichts gegen meinen Ausdruck einzuwenden haben – die Sache einfältig angriffen?«

»Durchaus nicht.«

»Etwas einfältig. Deshalb fühlte ich, wie schade es sei, und ich ging so weit von meinem gewöhnlichen Verfahren ab, daß ich Sie warnte (was freilich nicht amtlich gehandelt war, aber ich tue das nie, wenn ich nicht muß) und Ihnen andeutete, wenn ich Sie wäre, würde ich mich nicht weiter darum kümmern. Aber Sie quälten sich mit der Sache noch weiter herum und haben sich seitdem fortgequält. Nun aber, bitte ich Sie, lassen Sie die Sache gehen.«

»Es ist nicht wahrscheinlich, daß ich Gelegenheit habe, mich weiter darum zu mühen«, sagte Clennam.

»O doch! Sie werden diesen Ort wieder einmal verlassen. Niemand bleibt immer hier. Es gibt eine Menge Wege, von hier fortzukommen. Aber kommen Sie nicht wieder zu uns. Diese Bitte ist der zweite Grund meines Besuches. Bitte, kommen Sie nicht wieder zu uns. Auf meine Ehre«, sagte Ferdinand in sehr freundschaftlicher und vertraulicher Weise, »es wird mir sehr weh tun, wenn Sie sich nicht durch die Vergangenheit warnen lassen und sich fern von uns halten sollten.«

»Und die Erfindung?« sagte Clennam.

»Mein guter Freund«, versetzte Ferdinand, »wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen, niemand will etwas von dieser Erfindung wissen, und niemand gibt dritthalb Pence darauf.«

»Das heißt, niemand auf dem Bureau?«

»Weder in noch außerhalb des Bureaus. Jedermann ist bereit, die Erfindungen, die gemacht werden, zu verachten und zu verlachen. Sie glauben nicht, wie viele Menschen ungeschoren sein wollen. Sie haben keine Idee, wieviel dem Genius des Landes (achten Sie nicht auf den parlamentarischen Ton des Ausdrucks, und lassen Sie sich nicht dadurch langweilen) daran liegt, ungeschoren zu bleiben. Glauben Sie mir, Mr. Clennam«, sagte der muntere junge Barnacle in seiner freundlichsten Weise, »unser Bureau ist kein verderbenbringender Riese, auf den man mit eingelegter Lanze ansprengen muß, sondern bloß eine Windmühle, die Ihnen zeigt, während sie ungeheure Massen Spreu mahlt, woher der Wind des Landes weht.«

»Wenn ich das glauben könnte«, sagte Clennam, »so wäre es eine schlimme Aussicht für uns alle.«

»Oh, sagen Sie das nicht!« versetzte Ferdinand. »Es ist alles in Ordnung. Wir müssen Humbug haben, wir haben alle unsre Freude am Humbug, wir könnten ohne Humbug gar nicht vorwärts kommen. Ein wenig Humbug und ein gutes Geleise, und alles geht vortrefflich, wenn Sie die Sache ungeschoren lassen.«

Mit diesem hoffnungsvollen Geständnis seines Glaubens stand Ferdinand auf, als das Haupt der sich zu Ehrenstellen emporschwingenden Barnacles, die vom Weibe geboren waren, um unter einer Masse von Losungsworten, die sie äußerlich verleugneten und entkräfteten, Nachtreter zu finden. Nichts konnte angenehmer sein als seine offene und höfliche Haltung, oder mit einem vornehmeren Instinkt den Umständen seines Besuches angepaßt sein.

»Ist es erlaubt zu fragen«, sagte er, als Clennam ihm mit einem wirklichen Gefühl von Dankbarkeit für seine Offenheit und gute Laune die Hand gedrückt, »ob es wahr ist, daß unser verstorbener, beweinter Merdle die Ursache dieser vorübergehenden Fatalitäten ist?«

»Ich bin einer von den vielen, die er ruiniert hat. Ja.«

»Er muß ein außerordentlich schlauer Mensch gewesen sein«, sagte Ferdinand Barnacle.

Arthur, der nicht in der Stimmung war, das Andenken des Verstorbenen zu preisen, schwieg.

»Natürlich ein vollkommener Spitzbube«, sagte Ferdinand, »aber außerordentlich schlau; man muß ihn unwillkürlich bewundern. Er muß ein Meister im Humbug gewesen sein, kannte die Menschen so gut – kriegte sie so vollständig herum – wußte so viel mit ihnen anzufangen!«

Er war wirklich in seiner leichtfertigen Weise von aufrichtiger Bewunderung erfüllt.

»Ich hoffe«, sagte Arthur, »daß er und seine Betrogenen eine Warnung für die Leute sein werden, nicht so viel mit sich anfangen zu lassen.«

»Mein lieber Clennam«, versetzte Ferdinand lachend, »haben Sie wirklich eine so grüne Hoffnung? Der nächste beste Mann, der ebensoviel Klugheit und ebensoviel offenbaren Geschmack für den Humbug hat, wird ebenso sicher zu seinem Ziele kommen. Verzeihen Sie mir, aber ich glaube, Sie haben wirklich keine Vorstellung davon, wie die menschlichen Bienen dem Klappern jedes alten Blechkessels nachschwärmen. In dieser Tatsache liegt der ganze Schlüssel zum Geheimnis, sie zu beherrschen. Wenn man sie glauben machen kann, daß der Kessel von edlem Metall ist: darin liegt die ganze Macht von Menschen wie unser beweinter Verstorbener. Allerdings gibt es hier und da Ausnahmefälle«, sagte Ferdinand höflich, »wo sich Leute haben hintergehen lassen, weil ihnen die Sache auf viel besserer Grundlage zu beruhen schien; und ich brauche nicht weit zu gehen, um einen solchen Fall zu finden; aber diese stoßen die Regel nicht um. Leben Sie wohl! Ich hoffe, daß, wenn ich das Vergnügen habe, Sie das nächste Mal zu sehen, diese vorübergehende Wolke dem Sonnenschein gewichen sein wird. Begleiten Sie mich nicht über die Schwelle, Ich kenne den Weg ganz genau. Guten Tag!«

Mit diesen Worten ging der beste und gescheiteste der Barnacles die Treppe hinab, summte auf dem Weg durch das Schließerstübchen vor sich hin, bestieg sein Pferd im vordern Hof und ritt zu einer Konferenz mit seinem vornehmen Verwandten, der ein wenig des Einfahrens bedurfte, bis er mit Siegesbewußtsein gewissen ungläubigen Menschen aus dem Volke antworten konnte, die die vornehmen Herren über ihr staatsmännisches Prinzip beunruhigen wollten.

Er mußte Mr. Rugg unterwegs begegnet sein; denn eine oder zwei Minuten später leuchtete dieser rotköpfige Gentleman wie ein ältlicher Phöbus zur Tür herein.

»Wie befinden Sie sich heute, Sir?« sagte Mr. Rugg. »Kann ich heute irgendeine Kleinigkeit für Sie tun?«

»Nein, ich danke Ihnen.«

Mr. Ruggs Freude an gehäuften und verwirrten Geschäften war gleich der Freude der Hausfrau am Einsalzen und Einmachen oder gleich der Freude einer Waschfrau an einer großen Wäsche oder der Freude eines Kehrichtkärrners an einem überfüllten Kehrichtkasten oder jeder andern gewerbsmäßigen Freude an einem Geschäftsmischmasch.

»Ich sehe noch immer von Zeit zu Zeit nach, Sir«, sagte Mr. Rugg heiter, »ob sich noch welche verspätete Arreste an der Tür ansammeln. Sie sind ziemlich massenhaft vorhanden; so massenhaft, wie wir erwarten konnten.«

Er erwähnte dieses Umstandes, als ob er Grund zum Glückwünschen gäbe, rieb sich munter die Hände und wiegte dann den Kopf ein wenig hin und her.

»So massenhaft«, wiederholte Mr. Rugg, »wie wir vernünftigerweise erwarten konnten. Ein ganzer Regenschauer von solchen Verhaftsbefehlen. Ich störe Sie nicht oft, wenn ich hierherkomme, weil ich weiß, daß Sie Gesellschaft nicht lieben, und daß sie es im Schließerstübchen sagen würden, wenn Sie mich zu sprechen wünschten. Aber ich bin fast jeden Tag hier, Sir. Wäre dies eine unpassende Zeit, Sir«, fragte Mr. Rugg einschmeichelnd, »mir eine Bemerkung zu erlauben?«

»So passend wie jede andere Zeit.«

»Hm! Die öffentliche Meinung, Sir«, sagte Mr. Rugg, »hat sich sehr viel mit Ihnen beschäftigt.«

»Ich zweifle nicht daran.«

»Wäre es nicht ratsam, Sir«, sagte Mr. Rugg, noch einschmeichelnder, »jetzt ein für allemal der öffentlichen Meinung ein Zugeständnis zu machen? Wir tun es alle auf die eine oder andere Weise. Kurz, wir müssen es tun.«

»Ich kann mich damit nicht befreunden, Mr. Rugg, und sehe nicht voraus, daß ich es je können werde.«

»Sagen Sie das nicht, Sir, sagen Sie das nicht. Die Kosten, um sich in die Queens Bench versetzen zu lassen, sind kaum nennenswert, und wenn die allgemeine Meinung sich stark dafür ausspricht, daß Sie dort sein sollten, nun – wahrhaftig – –«

»Ich dachte, Sie hätten sich bei dem Gedanken beruhigt, Mr. Rugg«, sagte Arthur, »daß mein Entschluß, hierzubleiben, eine Geschmackssache sei.«

»Ja, Sir, ja. Aber ist es ein guter Geschmack, ist es ein guter Geschmack? Das ist die Frage.« Mr. Rugg war so besänftigend in seiner Überredung, daß er ganz pathetisch wurde. »Ich hätte beinahe gesagt, heißt das richtig fühlen? Ihre Sache ist eine bedeutende Sache, und daß Sie hierbleiben, wo man wegen ein oder zwei Pfund festgehalten werden kann, ist als etwas Seltsames besprochen worden. Es geht wirklich nicht. Ich kann Ihnen nicht sagen, an wie vielen Orten ich habe davon sprechen hören. Ich hörte vergangenen Abend in einem Salon, den ich die beste juridische Gesellschaft nennen würde, wenn ich nicht selbst dann und wann denselben besuchte, Bemerkungen darüber, die hören zu müssen mir leid tat. Sie haben mir Ihretwegen weh getan. Erst heute morgen wieder beim Frühstück. Meine Tochter (nur eine Frau, werden Sie sagen: aber doch ein feinfühlendes Wesen in Dingen dieser Art und selbst nicht ohne einige persönliche Erfahrung, sofern sie Klägerin in Sachen Rugg contra Bawkins war) hat ihr großes Erstaunen ausgedrückt; ihr großes Erstaunen. Würde unter solchen Umständen und in Anbetracht dessen, daß kein Mensch sich ganz über die öffentliche Meinung hinwegsetzen kann, eine kleine Konzession an diese Meinung nicht – nun, Sir«, sagte Rugg, »ich will das Geringste annehmen – nicht liebenswürdig sein?«

Arthurs Gedanken waren wieder einmal bei Klein-Dorrit, und die Frage blieb unbeantwortet.

»Was mich selbst betrifft, Sir«, sagte Mr. Rugg, in der Hoffnung, seine Beredsamkeit habe ihn in einen Zustand der Unentschiedenheit versetzt, »so ist es mein Grundsatz, keine Rücksicht auf mich zu nehmen, wenn die Neigungen eines Klienten in die Wagschale fallen. Da ich jedoch Ihren rücksichtsvollen Charakter und Ihren allgemeinen Wunsch, andere zu verbinden, kenne, so will ich wiederholen, daß ich es lieber sähe, wenn Sie in der Queens Bench säßen. Ihre Sache hat viel Lärm verursacht; sie verschafft dem Rechtsanwalt, der sie führt, Kredit; ich würde mich besser mit meinen Bekannten stehen, wenn Sie in die Queens Bench gingen. Lassen Sie sich jedoch dadurch nicht beeinflussen, Sir, ich führe nur die Tatsachen an.«

So abschweifender Natur war bereits die Aufmerksamkeit des Gefangenen durch die Einsamkeit und die Niedergeschlagenheit geworden, und so gewohnt war er, mit einer einzigen schweigsamen Gestalt innerhalb der finstern Mauern zu verkehren, daß Clennam sich aus einer Art Erstarrung aufraffen mußte, ehe er Mr. Rugg ansehen, den Faden des Gesprächs aufnehmen und sagen konnte: »Ich beharre unverändert auf meinem Entschluß. Bitte, lassen Sie die Sache ruhen; lassen Sie sie ruhen!«

Mr. Rugg gab, ohne zu verbergen, daß ihm dies ärgerlich und peinlich war, zur Antwort:

»Oh! Ganz gewiß, Sir! Ich bin von den Akten abgeschweift, das weiß ich wohl, indem ich Ihnen diesen Wink gab. Aber wahrhaftig, wenn ich in verschiedenen Gesellschaften und in sehr guten Gesellschaften die Bemerkung machen höre, wenn es auch für einen Fremden angehe, so sei es doch für den Charakter eines Engländers nicht würdig, im Marschallgefängnis zu bleiben, da die glorreichen Freiheiten seiner Insel ihm gestatten, sich nach der Queens Bench versetzen zu lassen, so glaube ich, ich dürfte von dem schmalen geschäftlichen Pfade, der mir vorgezeichnet ist, abweichen und es erwähnen. Persönlich habe ich keine Meinung über diese Sache«, sagte Mr. Rugg.

»Das ist gut«, versetzte Arthur.

»Oh! Nein, durchaus keine Meinung, Sir!« sagte Mr. Rugg, »sonst würde ich es nur ungern gesehen haben, daß vor einigen Minuten einer meiner Klienten von einem Gentleman aus vornehmer Familie, der zu Pferde kam, einen Besuch erhielt. Wenn ich eine Meinung hätte, so wünschte ich, daß ich ermächtigt wäre, einem andern Gentleman, einem Gentleman von militärischem Äußern, der jetzt im Schließerstübchen wartet, zu erkennen zu geben, daß mein Klient gar nicht beabsichtigte hierzubleiben und im Begriffe sei, eine vornehmere Wohnung zu beziehen. Aber mein Gang als juridische Maschine ist klar; ich habe nichts damit zu tun. Haben Sie Lust, den Gentleman zu sehen, Sir?«

»Wer, sagten Sie, wünsche mich zu sprechen?«

»Ich habe mir diese unjuristische Freiheit genommen, Sir. Da er hörte, daß ich Ihr juridischer Beistand sei, wollte er nicht früher eintreten, ehe ich meine sehr beschränkte juridische Funktion verrichtet hätte. Zum Glück«, sagte Mr. Rugg mit einem Sarkasmus, »habe ich mich nicht so weit aus den Akten verirrt, daß ich den Herrn nach seinem Namen gefragt hätte.«

»Ich vermute, ich kann nichts anders tun, als ihn empfangen«, seufzte Clennam müde.

»So haben Sie also Lust, Sir?« versetzte Rugg. »Wollen Sie mich mit dem Auftrag beehren, dies dem Herrn zu sagen, wenn ich hinausgehe? Soll ich? Ich danke Ihnen, Sir. Ich verabschiede mich«, und er empfahl sich wirklich, etwas übel gestimmt.

Der Herr von militärischem Aussehen hatte Clennams Neugierde bei seinem gegenwärtigen Gemütszustände in so geringem Grade rege gemacht, daß er die Erwähnung eines solchen Besuches halb vergessen und die schwache Erinnerung daran sich wie ein Teil des düstern Schleiers, der jetzt sein Gemüt beinahe immer verdunkelte, auf dasselbe gelegt hatte, als ein schwerer Tritt auf der Treppe ihn weckte. Er schien heraufzukommen, nicht sehr rasch und freiwillig, aber mit einem absichtlichen Lärm, der etwas Beleidigendes haben sollte. Als die Schritte einen Augenblick auf dem Ruheplatz vor der Tür anhielten, konnte er sich nicht auf die Ideenverbindung besinnen, die der eigentümliche Schall in ihm hervorgerufen hatte, obgleich er glaubte, dies sei der Fall gewesen. Nur ein Augenblick war ihm zum Besinnen vergönnt. Gleich darauf flog die Tür durch einen Stoß auf, und auf der Schwelle stand der vermißte Blandois, die Ursache so vieler Sorgen.

»Salve, Kamerade Gefängnisvogel!« sagte er, »Sie brauchen mich, wie es mir scheint. Hier bin ich.«

Ehe Arthur ihm seine entrüstete Verwunderung aussprechen konnte, folgte ihm Cavaletto in das Zimmer. Mr. Pancks folgte Cavaletto. Keiner von beiden war hier gewesen, seitdem sein gegenwärtiger Bewohner das Zimmer in Besitz genommen. Mr. Pancks bewegte sich langsam und schwer keuchend nach dem Fenster, stellte seinen Hut auf den Boden, strich sich das Haar mit beiden Händen in die Höhe und verschränkte die Arme wie ein Mann, der von einer schweren Tagesarbeit ausruht. Mr. Baptist, der kein Auge von dem gefürchteten ehemaligen Stubenburschen verwandte, ließ sich langsam mit dem Rücken gegen die Tür auf den Boden nieder und nahm einen seiner Fußknöchel in jede Hand; auf diese Weise nahm er dieselbe Stellung wieder ein (nur, daß sie jetzt unverwandte Wachsamkeit ausdrückte), die er vor demselben Mann in dem tieferen Schatten eines anderen Gefängnisses an einem heißen Morgen in Marseille eingenommen hatte.

»Ich habe diese beiden Wahnsinnigen zu Zeugen«, sagte Monsieur Blandois, sonst auch Lagnier oder Rigaud genannt, »daß Sie mich zu sehen wünschen, Brüderchen. Hier bin ich.«

Indem er einen verächtlichen Blick auf die Bettstelle warf, die während des Tages zugeschlagen war, lehnte er sich mit dem Rücken daran, ohne seinen Hut vom Kopfe zu nehmen, und stand trotzig herausfordernd, mit den Händen in den Taschen, da.

»Sie unheilbringender Bösewicht!« sagte Arthur. »Sie haben absichtlich einen schlimmen Verdacht auf das Haus meiner Mutter geworfen. Warum haben Sie das getan? Was veranlaßte Sie zu dieser teuflischen Erfindung?«

Nachdem Monsieur Rigaud ihn einen Augenblick zürnend angesehen, lachte er. »Da hört diesen edlen Herrn! Alle Welt höre dieses Tugendmuster. Aber nehmen Sie sich in acht. Nehmen Sie sich in acht! Es könnte leicht geschehen, daß Ihr Eifer ein wenig kompromittierend würde. Sacre bleu! Es wäre leicht möglich.«

»Signore!« unterbrach ihn Cavaletto, sich gleichfalls an Arthur wendend, »um anzufangen, hören Sie mich an! Sie gaben mir Instruktionen, ihn ausfindig zu machen, diesen Rigaud; nicht wahr?«

»Allerdings.«

»Ich ging deshalb zuerst zu meinen Landsleuten. Ich frage sie, was Neues in London von Fremden angekommen sei. Dann gehe ich zu den Franzosen. Dann zu den Deutschen. Sie sagen mir alles. Der größte Teil von uns kennt die andern gut, und sie sagen mir alles. Aber niemand kann mir etwas von ihm sagen, von diesem Rigaud. Fünfzehnmal«, sagte Cavaletto, indem er dreimal seine linke Hand mit ausgebreiteten Fingern vorwarf und dies so rasch tat, daß der Gesichtssinn dieser Aktion kaum folgen konnte, »fünfzehnmal habe ich an jedem Orte, wo man Fremde findet, nach ihm gefragt! und fünfzehnmal« – dabei wiederholte er dieselbe rasche Gebärde, – »wußten sie nichts. Aber! –«

Bei dem bezeichnenden italienischen Ausruhen auf dem Worte »Aber« kam sein Schütteln des verkehrten rechten Zeigefingers in das Spiel; nur sehr wenig und sehr vorsichtig.

»Aber! – Nach langer Zeit, während der ich nicht imstande gewesen war, ihn hier in London aufzufinden, erzählte mir jemand von einem Militär mit weißem Haar – hm? – nicht Haar wie das, das er trägt – einem Militär mit weißem Haar –, der an einem gewissen Ort ganz zurückgezogen lebe. Aber«, fuhr er fort, indem er abermals darauf ausruhte, »er gehe zuweilen nach dem Essen spazieren und rauche dabei. Man muß Geduld haben, wie sie in Italien sagen (und wissen, die armen Leute). Ich habe Geduld. Ich frage, wo jener Ort sei. Der eine meint da, der andere dort. Nun schön! Er ist jedoch weder da noch dort. Ich warte mit der größten Geduld. Zuletzt mache ich ihn doch ausfindig. Da stell‘ ich mich denn auf den Posten; ich verstecke mich, bis er spazierengeht und raucht. Es ist ein Militär mit grauem Haar, aber –«, er ruhte sehr entschieden auf dem Worte aus und bewegte den verkehrten Zeigefinger kräftig hin und her, »es ist dieser Mann, den Sie da sehen.«

Es war auffallend, daß er in seiner alten Gewohnheit, sich unterwürfig gegen einen Menschen zu benehmen, der sich die Mühe genommen, sich eine Überlegenheit über ihn anzumaßen, selbst jetzt noch verlegen vor Rigaud sich verbeugte, nachdem er so auf ihn hingewiesen.

»Nun denn, Signore!« schloß er, indem er sich wieder an Arthur wandte, »ich wartete auf eine gute Gelegenheit. Ich schrieb einige Worte an Signor Panco« – Mr. Pancks bekam durch diese Benennung ein ganz neues Aussehen – »er solle kommen und mir helfen. Ich zeigte Signor Panco diesen Rigaud an seinem Fenster, und Signor Panco stand oft den Tag über Wache. Ich schlief bei Nacht in der Nähe der Haustür. Endlich kamen wir hinein; erst heute, und nun sehen Sie ihn hier. Da er nicht in Gegenwart des berühmten Anwaltes« – dies war der Ehrentitel, den Mr. Baptist Mr. Rugg gab – »heraufkommen wollte, so warteten wir drunten zusammen, und Signor Panco bewachte die Straße.«

Am Schlusse dieser Erzählung richtete Arthur seinen Blick auf das freche und verworfene Gesicht. Und als der Blick des andern dem seinen begegnete, senkte sich die Nase über den Schnurrbart, und der Schnurrbart bäumte sich unter der Nase. Als Nase und Schnurrbart wieder an ihrem alten Platze waren, schnalzte Monsieur Rigaud ein halbes dutzendmal laut mit den Fingern und beugte sich dabei vor, um Arthur anzuschnalzen, als wenn es handgreifliche Wurfgeschosse wären, die er ihm ins Gesicht schleuderte.

»Nun, Philosoph!« sagte Rigaud, »was wollen Sie von mir?«

»Ich möchte von Ihnen wissen«, versetzte Arthur, ohne seinen Abscheu zu verbergen, »wie Sie es wagen können, einen Verdacht des Mordes auf meiner Mutter Haus zu lenken?«

»Wagen!« rief Rigaud. »Ho, ho! Da höre mal einer! Beim Himmel, mein kleiner Junge, Sie sind etwas unvorsichtig.«

»Ich will, daß dieser Verdacht behoben werde«, sagte Arthur. »Sie sollen dorthin gebracht werden, damit man Sie allgemein sieht. Ich wünsche außerdem zu wissen, was für ein Geschäft Sie dort hatten, als ich ein brennendes Verlangen fühlte, Sie die Treppe hinabzuwerfen. Werfen Sie mir keine solche finstern Blicke zu, Mann! Ich habe Sie genug kennengelernt, um zu wissen, daß Sie ein Renommist und eine Memme sind. Ich brauche mich nicht erst von den Einflüssen dieses traurigen Ortes zu erholen, um Ihnen eine so einfache Tatsache, die Sie ganz gut kennen, zu bestätigen.«

Weiß bis zu den Lippen, strich sich Rigaud den Schnurrbart und murmelte: »Beim Himmel, mein Junge, Sie kompromittieren ein wenig Mylady, Ihre verehrungswürdige Mutter.« Er schien einen Augenblick unschlüssig, was er tun sollte. Seine Unschlüssigkeit war jedoch bald vorüber. Er setzte sich mit drohender Prahlerei hin und sagte:

»Geben Sie mir eine Flasche Wein. Sie können hier welchen bekommen. Senden Sie einen von Ihren Verrückten fort, um mir eine Flasche Wein zu holen. Ich werde kein Wort reden ohne Wein. Wollen Sie? Ja oder nein?«

»Holen Sie, was er wünscht, Cavaletto«, sagte Arthur verachtungsvoll und nahm das Geld aus der Tasche.

»Schmugglerbestie«, fügte Rigaud hinzu, »bring Portwein! Ich trinke nichts als Portwein, Portwein.«

Da die Schmugglerbestie jedoch mit ihrem bezeichnenden Finger allen Anwesenden versicherte, daß sie sich aufs entschiedenste weigere, ihren Posten an der Tür zu verlassen, so bot Signor Panco seine Dienste an. Er kehrte bald mit der Flasche Wein zurück, die der Sitte des Ortes gemäß, an dem sie sich befanden, einer Sitte, die aus dem Mangel an Korkziehern unter den Kollegialen entstanden war (denn es fehlte an solchen, wie an noch vielem andern), bereits entkorkt war.

»Verrückter! Ein großes Glas!« sagte Rigaud.

Signor Panco stellte einen Becher vor ihm nicht ohne einen sichtbaren innern Kampf, ob er ihm denselben nicht an den Kopf werfen sollte.

»Haha!« prahlte Rigaud. »Einmal ein Kavalier und immer ein Kavalier. Ein Gentleman von Anfang bis zu Ende. Was zum Teufel! Ein Kavalier muß bedient werden, hoffe ich. Es liegt in meinem Charakter, bedient zu werden!«

Er füllte bei diesen Worten den Becher halb und trank ihn aus, nachdem er jene Worte gesprochen.

»Hah!« sagte er, mit den Lippen schmatzend, »kein sehr alter Gefangener, dieser Wein! Ich denke, nach Ihrem Aussehen, edler Herr, wird diese Haft Ihr Blut viel eher zähmen, als sie diesen Wein mildert. Sie werden mürbe, – verlieren schon an Fleisch und Blut. Ich trinke Ihnen zu!«

Er leerte wieder ein halbes Glas; und hielt es vorher und nachher in die Höhe, wie um seine kleine weiße Hand zu zeigen.

»Zu unsern Geschäften nun«, fuhr er dann fort. »Sprechen Sie. Sie haben sich in Worten freier gezeigt als mit dem Körper, Sir.«

»Ich habe mir die Freiheit genommen. Ihnen zu sagen, was Sie von sich selbst recht gut wissen. Sie wissen wie wir alle, daß Sie noch viel schlechter sind.«

»Setzen Sie immer hinzu, ein Gentleman, es hat nichts zu sagen. Außer in dieser Hinsicht sind wir alle gleich. Zum Beispiel: Sie könnten um Ihr Leben kein Gentleman sein; ich könnte um den gleichen Preis nichts anderes sein. Wie groß ist der Unterschied! Wir wollen fortfahren, Worte haben nie Einfluß auf die Lage der Karten oder den Fall der Würfel gehabt. Wissen Sie das? Wirklich? Ich spiele auch ein Spiel, und Worte sind ohne Einfluß darauf gewesen.«

Jetzt, da er Cavaletto gegenübergestellt war und wußte, daß man seine Geschichte kannte, ließ er die dünnste Verkleidung, die er getragen, fallen und trotzte, ein frecher Mensch, wie er einer war, mit offenem Visier.

»Nun, mein Sohn«, fuhr er mit einem Schnalzen seines Fingers fort. »Ich spiele trotz der Worte mein Spiel zu Ende; und – Tod meines Leibes und Tod meiner Seele! – ich will es gewinnen. Sie möchten wissen, warum ich diesen kleinen Streich spiele, den Sie unterbrochen. So wissen Sie denn, ich hatte und habe – verstehen Sie mich? habe – eine Ware an Mylady, Ihre verehrungswürdige Mutter, zu verkaufen. Ich schilderte meine kostbare Ware und bestimmte meinen Preis. Was diesen Handel betrifft, so war Ihre bewundernswürdige Mutter ein wenig zu ruhig, zu zähe, zu unbeweglich und statuenartig. Kurz, Ihre bewundernswürdige Mutter ärgerte mich. Um etwas Abwechslung in meine Lage zu bringen und mich zu amüsieren – ein Gentleman muß sich auf irgendeines andern Kosten amüsieren –, verfiel ich auf die glückliche Idee, zu verschwinden. Ein Gedanke, sehen Sie, den Ihre charaktervolle Mutter und mein lieber Flintwinch gar zu gern verwirklicht hätten. Ah! bah, bah, bah, sehen Sie nicht so von oben herab auf mich! Ich wiederhole es. Sie waren wirklich sehr froh gewesen, ausnehmend glücklich, wahrhaft bezaubert gewesen, wenn es in der Tat geschehen wäre. Wie stark soll ich mich noch ausdrücken?«

Er spritzte alles, was noch im Glase war, auf den Boden, so daß Cavaletto beinahe davon beschmutzt wurde. Dies schien aufs neue seine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Er setzte sein Glas nieder und sagte:

»Ich mag nicht einschenken. Was! Ich bin geboren, bedient zu werden. Kommt, Cavaletto, und füllt das Glas!«

Der kleine Mann sah Clennam an, dessen Augen mit Rigaud beschäftigt waren, und da er nichts Abmahnendes gewahrte, so stand er vom Boden auf und goß von der Flasche in das Glas. Die Art, wie sich seine alte Unterwürfigkeit beim Einschenken mit einem Gefühl für das Humoristische mischte; der Kampf dieser Empfindung mit einer gewissen kochenden Wut, die jeden Augenblick zum Ausbruch kommen konnte (wie der geborene Kavalier selbst zu fürchten schien; denn er hatte ein wachsames Auge auf ihn): und das bequeme Nachgeben gegenüber einer gutmütigen, sorglosen, vorherrschenden Neigung, sich wieder auf den Boden zu setzen, bildeten eine merkwürdige Zusammensetzung seines Charakters.

»Diese glückliche Idee, edler Herr«, fuhr Rigaud, nachdem er getrunken, fort, »war aus verschiedenen Gründen eine glückliche Idee. Es amüsierte mich, es ließ Ihrer teuren Mama und meinem lieben Flintwinch keine Ruhe, es machte ihnen Kummer und Sorgen (meine Bedingungen für eine Lektion der Höflichkeit gegen einen Gentleman), und es deutete allen liebenswürdigen Beteiligten an, daß Ihr ganz Ergebener ein zu fürchtender Mann ist. Beim Himmel, er ist ein Mann, der zu fürchten ist! Mehr noch; er hätte Mylady, Ihre Mutter, zur Vernunft bringen können, – hätte unter dem Druck des schwachen Verdachts, den Ihre Weisheit erkannt hat, sie endlich bewegen können, in den Zeitungen auf verdeckte Weise anzukündigen, daß die Schwierigkeiten eines gewissen Kontraktes durch das Erscheinen einer gewissen für die Sache sehr wichtigen Partei verschwinden würden. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber das haben Sie abgeschnitten. Was haben Sie nun zu sagen? Was wollen Sie?«

Clennam hatte nie peinlicher gefühlt, daß er ein Gefangener war als jetzt, da er diesen Mann vor sich sah und ihn nicht nach seiner Mutter Haus begleiten konnte. All die unmerklichen Schwierigkeiten und Gefahren, die er je gefürchtet hatte, waren jetzt im Anzuge, wo er weder Hand noch Fuß rühren konnte.

»Vielleicht, mein Freund, Philosoph, Mann der Tugend, Tor, was Sie wollen, vielleicht«, sagte Rigaud und unterbrach sich im Trinken, um ihn mit seinem furchtbaren Lächeln über das Glas hin anzusehen, »vielleicht hätten Sie besser getan, mich in Ruhe zu lassen?«

»Nein!« sagte Clennam. »Wenigstens weiß man setzt, daß Sie am Leben und unverletzt sind. Wenigstens können Sie diesen beiden Zeugen jetzt nicht entgehen; und sie sind imstande, Sie vor jeder öffentlichen Behörde und vor Hunderten von Leuten zu zeigen.«

»Aber sie werden mich vor niemandem zeigen«, sagte Rigaud, indem er wieder mit einer siegesbewußten Drohung mit den Fingern schnalzte. »Zum Teufel mit Ihren Zeugen; zum Teufel mit Ihren Zeugen! Zum Teufel mit Ihnen selbst. Wie? Sollte ich deshalb wissen, was ich weiß? Habe ich dafür meine Ware zu verkaufen? Bah, armer Schuldner! Sie haben meinen kleinen Plan unterbrochen. Lassen wir das. Was nun? Was bleibt? Ihnen nichts; mir alles. Mich anzeigen? Ist’s das, was Sie wollen? Ich werde mich nur zu bald selbst anzeigen. Schmuggler! Gebt mir Feder, Tinte und Papier.«

Cavaletto stand wie zuvor auf und legte sie in seiner früheren Weise vor ihn. Nachdem Rigaud einen Augenblick boshaft nachgedacht und gelächelt, schrieb und las er folgendes:

»An Mrs. Clennam.

Um Antwort wird gebeten. Marschallgefängnis. Im Zimmer Ihres Sohnes.

Verehrte Frau!

Ich bin in Verzweiflung, heute von unserem Gefangenen hier (der die Güte gehabt, Spione nach mir auszusenden, da er aus politischen Gründen zurückgezogen lebt) zu erfahren, daß Sie wegen meiner Sicherheit besorgt sind.

Beruhigen Sie sich, verehrte Frau. Ich bin wohlauf, stark und beharrlich.

Mit der größten Ungeduld würde ich nach Ihrem Hause eilen, wenn ich nicht unter den obwaltenden Umständen die Möglichkeit voraussähe, daß Sie sich noch nicht definitiv über den kleinen Vorschlag entschieden haben sollten, den ich Ihnen zu machen die Ehre hatte. Ich setze eine Woche, von heute an gerechnet, als den Zeitpunkt fest, wo ich Sie zum letzten Male besuchen werde; dann mögen Sie den Vorschlag unbedingt annehmen oder denselben mit allen daraus hervorgehenden Folgen verwerfen.

Ich unterdrücke meinen heißen Wunsch, Sie zu umarmen und dieses interessante Geschäft zum Abschluß zu bringen, um Ihnen Gelegenheit zu geben, alle Einzelheiten zu unserer gegenseitigen Zufriedenheit zu ordnen.

Inzwischen ist es gewiß nicht zuviel, wenn ich Ihnen den Vorschlag mache (nachdem unser Gefangener mich in meiner Wirtschaft derangiert), daß Sie meine Ausgaben für Logis und Kost in einem Hotel bezahlen.

Empfangen Sie, verehrte Frau, die Versicherung meiner größten und ausgezeichnetsten Hochachtung

Rigaud Blandois.

Tausend Grüße an meinen lieben Flintwinch.

Ich küsse Madame Flintwinch die Hand.«

Als Rigaud diesen Brief zu Ende gelesen, faltete er ihn und warf ihn mit einem Schwunge Clennam vor die Füße. »Holla! Lassen Sie das jemanden an seine Adresse befördern und die Antwort zurückbringen.«

»Cavaletto«, sagte Arthur. »Wollen Sie den Brief dieses Menschen besorgen?«

Da jedoch Cavalettos ausdrucksvoller Finger wieder zu verstehen gab, daß es seine Aufgabe sei, an der Tür Rigaud zu bewachen, nachdem er ihn mit so viel Mühe ausfindig gemacht hatte, und daß es auf seinem Posten Pflicht für ihn sei, auf dem Boden mit dem Rücken an die Wand gelehnt zu sitzen, Rigaud anzusehen und seine eigenen Knöchel zu halten – so bot Signor Panco abermals freiwillig seine Dienste an. Als diese angenommen wurden, ließ Cavaletto die Tür gerade weit genug aufmachen, daß er sich durchquetschen konnte, und schloß sie dann gleich wieder hinter ihm.

»Berührt mich mit einem Finger, verletzt mich mit einem Wort, zieht meine Überlegenheit in Frage, während ich nach meinem Behagen meinen Wein trinke«, sagte Rigaud, »und ich folge meinem Brief und ich widerrufe meine Wochenfrist. Sie verlangten nach mir? Sie haben mich jetzt. Wie gefalle ich Ihnen?«

»Sie wissen«, versetzte Clennam mit einem bittern Gefühl seiner Hilflosigkeit, »daß, als ich Sie suchte, ich kein Gefangener war.«

»Zum Teufel mit Ihnen und Ihrem Gefängnis«, versetzte Rigaud langsam, indem er aus seiner Tasche eine Kapsel nahm, die die zum Anfertigen von Zigaretten nötigen Materialien enthielt, und mit seinen gewandten Händen einige für den augenblicklichen Gebrauch zurechtmachte, »ich kümmere mich um keinen von euch beiden. Schmuggler! Ein Licht!«

Cavaletto stand wieder auf und reichte ihm, was er brauchte. Es lag etwas Banges in dieser geräuschlosen Geschicklichkeit seiner kalten weißen Hände, deren Finger sich so geschmeidig durcheinander bewegten wie Schlangen. Clennam konnte sich eines innerlichen Schauers nicht erwehren; es war ihm, als ob er in ein Nest solcher Kreaturen sähe.

»Holla! Schwein!« rief Rigaud mit lauter, anspornender Stimme, als wenn Cavaletto ein italienisches Pferd oder Maultier wäre. »Wie! Das höllische, alte Gefängnis war wirklich prachtvoll gegen dieses. Es lag eine gewisse Würde in den Gittern und Steinen jenes Ortes. Es war ein Gefängnis für Männer, aber dies? Bah! Ein Hospital für Schwachsinnige!«

Er rauchte seine Zigarette aus, während das häßliche Lächeln auf seinem Gesicht so festgebannt war, daß er gerade aussah, als wenn er mit seinem gesenkten Schnabel von Nase und nicht mit seinem Mund rauchte. Eine phantastische Gestalt in einem Zauberbild. Als er eine zweite Zigarette an dem noch brennenden Ende der ersten angezündet, sagte er zu Clennam:

»Man muß sich die Zeit vertreiben, solange der Verrückte fort ist. Man muß schwatzen. Man kann nicht den ganzen Tag starke Weine trinken, sonst möchte ich wohl noch eine Flasche haben. Sie ist schön, Sir. Obgleich nicht ganz nach meinem Geschmack, so ist sie doch, bei Donner und Blitz! hübsch. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Geschmack.«

»Ich weiß nicht und will nicht wissen, von wem Sie sprechen«, sagte Clennam.

»Della bella Gowana, Sir, wie sie in Italien sagen. Von der hübschen Gowan.«

»Deren Gemahl Sie – als Aufwärter begleiteten, glaube ich.«

»Sir! Aufwärter? Sie werden unverschämt. Als Freund.«

»Verkaufen Sie alle Ihre Freunde?«

Rigaud nahm die Zigarette aus dem Mund und sah ihn einen Augenblick voll Erstaunen an. Aber er steckte sie wieder zwischen die Lippen, als er kalt antwortete:

»Ich verkaufe Ihnen alles, was einen Preis hat. Wovon leben Ihre Advokaten, Ihre Politiker, Ihre Detektive, Ihre Bankiers? Wovon leben Sie? Wie kommen Sie hierher? Haben Sie nicht Ihren Freund verkauft? Heilige Jungfrau! Ich sollte doch meinen, ja!«

Clennam drehte ihm den Rücken und sah zum Fenster hinaus auf die Mauer.

»Wirklich, Sir«, sagte Rigaud, »die Gesellschaft verkauft sich selbst und verkauft mich, und ich verkaufe die Gesellschaft. Ich weiß, daß Sie auch mit einer andern Dame Bekanntschaft haben. Ebenfalls hübsch. Ein fester Charakter. Nun, wie heißt sie nur? Made.«

Er erhielt keine Antwort, konnte aber leicht merken, daß er das Ziel getroffen.

»Ja!« fuhr er fort, »jene hübsche Dame mit dem festen Charakter redete mich auf der Straße an, und ich bin nicht gefühllos. Ich antworte ihr. Die hübsche Dame mit dem festen Charakter erzeigt mir die Ehre, mir in großem Vertrauen zu sagen: ›Ich möchte etwas wissen und habe einen Kummer. Sie sind vielleicht ein Mensch von nicht mehr als gewöhnlicher Ehrbarkeit?‹ Ich erwidere: ›Ein Kavalier von Geburt und ein Kavalier bis zu meinem Tode; aber allerdings von nicht mehr als gewöhnlicher Ehrbarkeit. Ich verachte eine so schwächliche Phantasie.‹ Darauf war sie so freundlich, mir ein Kompliment zu machen. ›Der Unterschied zwischen Ihnen und den übrigen Menschen ist‹, antwortet sie, ›daß Sie es offen gestehen.‹ Denn sie kennt die Gesellschaft. Ich nehme ihre Gratulationen mit galanter Höflichkeit an. Höflichkeit und kleine Galanterien sind unzertrennlich von meinem Charakter. Sie macht mir dann einen Vorschlag, der darin besteht: sie habe uns oft zusammen gesehen, es scheine ihr, ich sei für den Augenblick die Hauskatze, ihre Neugier und ihr Kummer machten es ihr wünschenswert, zu erfahren, was Sie tun, zu wissen, wie Sie leben, ob die hübsche Gowana geliebt werde und so weiter. Sie ist nicht reich, erbietet sich jedoch zu der und der kleinen Entschädigung für die kleinen Mühen und Angelegenheiten solcher Dienste; und ich erkläre mich huldvoll – alles huldvoll zu tun, ist eine Eigenschaft meines Charakters – erkläre mich huldvoll bereit, die Entschädigung anzunehmen. O ja! So geht es in der Welt. Das ist die Mode.«

Obgleich Clennam ihm den Rücken zugewandt, während er sprach, und auch später noch bis zum Schluß der Verhandlung, heftete er doch seine funkelnden Augen, die zu nahe beieinander standen, so fest auf ihn und sah offenbar schon an der Haltung des Kopfes, während er mit seiner prahlerischen Rücksichtslosigkeit Punkt für Punkt erzählte, daß er nichts sagte, was Clennam nicht bereits wußte. »Oh! Die schöne Gowana!« sagte er, indem er eine dritte Zigarette mit einem Ton anzündete, wie wenn sein leichtester Atem sie wegblasen könnte. »Reizend, aber unvorsichtig. Denn es war nicht gut getan von der hübschen Gowan, Briefe von ehemaligen Liebhabern in dem Schlafzimmer zu verstellen, damit ihr Gatte sie nicht sehe. Nein, nein. Das war nicht gut. Oh! Die Gowana hat sich da getäuscht!«

»Ich hoffe in allem Ernst«, rief Arthur laut, »daß Pancks nicht lange fortbleibt, denn die Gegenwart dieses Mannes verpestet dies Zimmer.«

»Ja, aber er gedeiht hier und überall«, sagte Rigaud, indem er mit triumphierendem Blick die Finger schnalzen ließ. »Überall ist das geschehen, und immer wird es geschehen!« Darauf streckte er seinen Körper auf den einzigen drei Stühlen, die mit Ausnahme von dem, auf dem Clennam saß, im Zimmer waren, aus und sang, indem er sich auf die Brust schlug, als wäre er der Held des Liedes:

»Was kommt so spät bei Nacht vorbei?
Compagnon de la Majolaine;
Was kommt so spät bei Nacht vorbei?
Immer froh!«

»Sing‘ den Refrain, Schwein! Du konntest ihn ja sonst in einem andern Gefängnisse singen. Sing ihn. Oder, bei jedem Heiligen, der zu Tode gesteinigt wurde, ich werde mich als beleidigt betrachten und grob werden; dann würden einige Leute, die noch nicht tot sind, besser daran tun, sich mit ihnen steinigen zu lassen.«

»Die Blüte aller Ritterschaft,
Compagnon de la Majolaine;
Die Blüte aller Ritterschaft,
Immer froh!«

Teils aus alter unterwürfiger Gewohnheit, teils, weil, wenn er es nicht tat, dies vielleicht seinem Wohltäter schaden könnte, teils, weil er es ebensogut tun konnte wie etwas anderes, sang Cavaletto diesmal den Refrain. Rigaud lachte und rauchte mit geschlossenen Augen weiter.

Es mochte wohl noch eine Viertelstunde gedauert haben, ehe man Pancks‘ Tritte auf der Treppe hörte, aber die Zwischenzeit erschien Clennam unerträglich lang. Ein andrer Tritt begleitete ihn. Sobald Cavaletto die Tür öffnete, traten Mr. Pancks und Mr. Flintwinch ein. Der letztere war kaum sichtbar, so stürzte Rigaud auf ihn zu und umarmte ihn ungestüm.

»Wie befinden Sie sich, Sir?« sagte Mr. Flintwinch, sobald er sich wieder hatte losmachen können, was er mit sehr wenig Zeremonie zu bewerkstelligen suchte. »Ich danke Ihnen, nein; ich habe genug!« Das bezog sich auf eine neue Drohung zärtlicher Zuneigung von seiten seines wiedergefundenen Freundes. »Nun, Arthur, Sie erinnern sich, was ich Ihnen von schlafenden Hunden und von Vermißten sagte. Es ist wahr geworden, wie Sie sehen.« Er war allem Anschein nach so gefaßt wie immer und nickte moralisierend mit dem Kopfe, während er im Zimmer umhersah.

»Und das ist das Marschallgefängnis für Schuldner?« sagte Mr. Flintwinch. »Ha! Sie haben Ihre Ferkel auf einen sehr schlechten Markt gebracht, Arthur.«

Wenn Arthur Geduld hatte, so hatte Rigaud keine. Er nahm seinen kleinen Flintwinch mit ungestümem Scherz an den zwei Lappen seines Rockes und rief:

»Zum Teufel mit dem Markte, zum Teufel mit den Ferkeln, zum Teufel mit dem Ferkeltreiber. Nun! Geben Sie mir doch die Antwort auf meinen Brief.«

»Wenn es Ihnen beliebt, mich einen Augenblick loszulassen, Sir«, versetzte Mr. Flintwinch, »so will ich zuerst Mr. Arthur ein kleines Billett geben, das ich für ihn habe.«

Er tat dies. Es war auf einem Zettel, von der gelähmten Hand seiner Mutter geschrieben, und enthielt nur folgende Worte:

»Ich hoffe, es ist genug, daß du dich selbst ruiniert hast. Laß ab von Weiterem. Jeremiah ist mein Abgesandter und Stellvertreter. Deine dich liebende Mutter M.C.«

Clennam las es zweimal in der Stille und zerriß es dann in Stücke. Rigaud stieg unterdessen auf einen Stuhl und setzte sich auf die Rücklehne, indem er die Füße auf den Sitz stellte.

»Jetzt, schöner Flintwinch«, sagte er, nachdem er dem Zerreißen des Zettels aufmerksam zugesehen, »die Antwort auf meinen Brief?«

»Mrs. Clennam schrieb keine solche, Mr. Blandois, da ihre Hände zu gelähmt sind und sie es für ebensogut hielt, die Sache mündlich durch mich besorgen zu lassen.« Mr. Flintwinch schraubte dies schwer und rostig aus sich heraus. »Sie sendet Ihnen ihre Empfehlungen und sagte, sie wünsche im ganzen nicht unbillig gegen Sie zu sein und nehme an, ohne jedoch die Zusammenkunft von heute über acht Tagen zu präjudizieren.«

Nachdem Monsieur Rigaud ein Gelächter angeschlagen hatte, stieg er von seinem Throne und sagte: »Gut! Ich gehe, mir ein Hotel zu suchen!« Hier fielen seine Augen auf Cavaletto, der noch immer auf seinem Posten saß.

»Vorwärts, Ferkel«, fügte er hinzu, »du hast mich wider meinen Willen begleitet, nun sollst du’s auch wider deinen Willen tun. Ich sage euch, meine kleinen Reptilien, ich bin geboren, um bedient zu werden. Ich verlange den Dienst dieses Schmugglers bis heute über acht Tage.«

Als Antwort auf Cavalettos fragenden Blick gab ihm Clennam ein Zeichen zu gehen, aber er fügte laut hinzu: »Außer wenn Sie ihn fürchten.« Cavaletto antwortete mit sehr emphatischer Fingervereinung: »Nein, Herr, ich fürchte ihn nicht mehr, seitdem ich es nicht mehr geheimzuhalten brauche, daß er einst mein Kamerad gewesen ist.« Rigaud nahm keine Notiz von dieser Bemerkung, bis er seine letzte Zigarette angezündet und zum Aufbruch bereit war.

»Ihn fürchten«, sagte er und blickte sie dann der Reihe nach an. »Auf! meine Kinderchen, meine Püppchen, ihr fürchtet ihn alle! Ihr gebt ihm hier seine Flasche Wein: ihr gebt ihm Essen, Trinken, Wohnung; ihr wagt ihn nicht mit einem Finger anzurühren oder mit einem Wort zu kränken. Nein. Es liegt in seinem Charakter zu triumphieren! Auf!«

»Die Blüte aller Ritterschaft,
Ist immer froh!«

Mit dieser Anwendung des Refrains auf sich selbst verließ er das Zimmer, während ihm Cavaletto dicht auf der Ferse nachfolgte! er hatte diesen vielleicht für seinen Dienst verlangt, weil er recht gut wußte, daß es nicht leicht sein würde, ihn loszuwerden. Mr. Flintwinch, nachdem er sich am Kinn gerieben und mit deutlicher Geringschätzung des Schweinemarkts umgesehen, nickte Arthur zu und folgte. Mr. Pancks, immer noch bußfertig und niedergedrückt, folgte gleichfalls, nachdem er mit großer Aufmerksamkeit ein paar heimlichen Worten von Arthur das Ohr geliehen und ihm zugeflüstert hatte, daß er die Sache genau verfolgen und zu Ende führen wolle. Der Gefangene blieb mit dem Gefühl, daß er verachteter, verstoßener und hilfloser, kurz elender und gesunkener sei denn je, allein zurück.

Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Eine Bitte im Marschallgefängnis.

Bitterer Kummer und Reue sind schlechte Gesellen für einen Gefangenen. Den ganzen Tag vor sich hinbrüten und bei Nacht wenig ruhen kann einen Mann nicht gegen das Elend wappnen. Am nächsten Morgen fühlte Clennam, daß seine Gesundheit schwächer wurde, wie sein Mut bereits gesunken war, und daß die Last, unter der er seufzte, ihn erdrücken mußte.

Eine Nacht um die andere war er um zwölf oder ein Uhr von seinem Jammerlager aufgestanden und hatte sich an sein Fenster gesetzt, um die trübe brennenden Lampen im Hofe unten zu beobachten und auf den ersten bleichen Schimmer des Tags zu harren, stundenlang, ehe es möglich war, daß dieser am Himmel sich zeigte. Jetzt, da die Nacht kam, konnte er sich nicht mal überreden, sich auszukleiden.

Denn es stellte sich eine brennende Unruhe, eine qualvolle Ungeduld, wie das Gefängnis sie hervorbringt, und die Überzeugung ein, daß das Herz hier ihm brechen und er hier sterben müßte, was ihm unbeschreibliche Leiden verursachte. Sein Widerwille und Abscheu gegen diesen Ort wurde so groß, daß es ihm Mühe kostete, darin Atem zu holen. Das Gefühl zu ersticken bemächtigte sich seiner oft so gewaltig, daß er am Fenster stehenblieb und, den Hals haltend, nach Luft seufzte. Zu gleicher Zeit erweckte die Sehnsucht nach anderer Luft und das Verlangen, außerhalb dieser öden weißen Mauer sich bewegen zu können, ein Gefühl in ihm, als wenn ihn die Inbrunst dieses Wunsches wahnsinnig machen müßte.

Viele andere Gefangene hatten vor ihm ähnliche Gefühle gehabt, aber die Heftigkeit und Dauer derselben hatte sie abgestumpft, was auch bei ihm der Fall wurde. Dazu genügten zwei Nächte und ein Tag. Es kam wohl hier und da wieder, aber weit schwächer und auch in größeren Zwischenräumen. Eine traurige Ruhe folgte auf diesen Zustand, und schon um die Mitte der Woche war er in die Abgespanntheit eines langsam schleichenden Fiebers versunken.

Da Cavaletto und Pancks fort waren, hatte er keinen andern Besuch zu fürchten als Mr. und Mrs. Plornish. Sein Bemühen betreffs dieses würdigen Paares war, daß es ihm nicht zu nahe komme; denn in der krankhaften Stimmung seiner Nerven suchte er allein zu sein und von der Pein, daß man ihn in diesem gedrückten und schwachen Zustand sehe, verschont zu werden. Er schrieb einen Brief an Mrs. Plornish, worin er mitteilte, daß er von seinen Angelegenheiten in Anspruch genommen und durch die Notwendigkeit, sich ihnen ganz und gar zu widmen, sich gezwungen sehe, einige Zeit auf das Vergnügen verzichten zu müssen, sich durch den Anblick ihres freundlichen Gesichts zu zerstreuen. Wenn der junge John, der täglich zu einer gewissen Stunde, wo die Schließer abgelöst wurden, hereinsah, sich bei ihm erkundigte, ob er etwas für ihn besorgen könnte, tat er immer, als ob er mit Schreiben beschäftigt wäre, und antwortete mit einem freundlichen »Nein.« Der Gegenstand ihrer einzigen langen Unterredung war nie mehr mit einem Wort berührt worden. Durch alle diese Wandlungen des Unglücks hindurch hatte Clennam ihn nicht einen Augenblick aus dem Auge verloren.

Der sechste Tag der erwähnten Woche war ein feuchter, heißer, nebliger Tag. Es war, als nähme die Armut, die Schäbigkeit und der Schmutz in der schwülen Atmosphäre zu. Mit einem brennenden Kopf und müdem Herzen hatte Clennam die traurige Nacht durchwacht, indem er dem Tröpfeln des Regens auf das Hofpflaster gelauscht und an das sanftere Rieseln auf den Boden im Freien gedacht hatte. Ein trüber Kreis von gelbem Nebel war statt der Sonne am Himmel aufgestiegen, und er hatte den trüben Schein beobachtet, den er auf die Mauer warf und der wie ein Stück Gefängnislumpen aussah. Er hatte das Öffnen der Türen, das Hereinschlürfen der schlechten Schuhe, die draußen gewartet hatten, das Kehren und Pumpen und das Hin- und Hergehen gehört, womit der Gefängnismorgen gewöhnlich anfängt. Er fühlte sich so schwach und krank, daß er oftmals innehalten mußte,

Clennam im Schuldgefängnis.

während er sich wusch, und war endlich nach seinem Stuhl am offenen Fenster hingekrochen. Dort saß er schlummernd, während die alte Frau, die sein Zimmer aufräumte, ihre Morgengeschäfte besorgte.

Halb wirr durch den Mangel an Schlaf und Nahrung (sein Appetit und sogar sein Geschmack waren ganz verlorengegangen) war er sich zwei- oder dreimal im Verlauf der Nacht bewußt geworden, daß er an Sinnestäuschungen litt. Er hatte durch die warme Nachtluft Bruchstücke von Liedern und Melodien klingen hören, von denen er wußte, daß sie gar nicht existierten. Jetzt, da er in einem Zustand der Erschöpfung halb im Schlummer lag, vernahm er sie wieder. Stimmen schienen ihn anzureden, und er antwortete ihnen und fuhr auf.

Schlummernd und träumend, ohne die Kraft, die Zeit zu berechnen, so daß eine Minute eine Stunde und eine Stunde eine Minute hätte sein können, schlich sich dies Bild eines Gartens in seine Phantasie, eines Blumengartens, dessen Düfte ein feuchter bunter Wind auf sanften Schwingen trug. Es kostete ihn eine so schmerzliche Anstrengung, den Kopf aufzurichten, um sich darüber ins reine zu setzen oder überhaupt ins reine zu kommen, daß jene Vorstellung von dem Garten ihm eine alte und lustige erschien, als er sich umsah. Neben der Teetasse auf seinem Tische sah er einen blühenden Strauß; eine prächtige Handvoll der auserlesensten und lieblichsten Blumen.

Noch nie war etwas in seinen Augen so schön erschienen. Er nahm sie in die Hand, schlürfte ihren Duft ein, hielt sie an seine heiße Stirn, legte sie nieder und breitete seine trocknen Hände darüber, als wollte er die wohltuende Wärme eines Feuers genießen. Erst als er sich desselben einige Zeit erfreut hatte, fragte er sich, wer sie wohl geschickt, und öffnete seine Tür, um die Frau zu fragen, wie sie in ihre Hände gekommen. Aber sie war fort und schien schon lange gegangen zu sein; denn der Tee, den sie für ihn auf dem Tische gelassen, war kalt. Er wollte eine Tasse trinken, aber er konnte den Geruch desselben nicht ertragen; deshalb kroch er nach seinem Stuhl am offenen Fenster zurück und stellte die Blumen auf den kleinen runden Tisch aus alten Zeiten.

Als die erste Schwäche, die eine Folge seines Herumgehens gewesen, ihn verlassen hatte, verfiel er wieder in seinen früheren Zustand. Eine von den nächtlichen Melodien spielte in dem Wind, als die Tür seines Zimmers sich einem leichten Druck zu öffnen und nach einer kurzen Pause eine stille Gestalt in einem schwarzen Mantel auf der Schwelle zu stehen schien. Es war, als ob sie den Mantel fallen ließe, und dann schien es seine Klein-Dorrit in ihrem alten, abgeschabten Kleid zu sein. Sie schien zu zittern und ihre Hände zu falten und zu lächeln und in Tränen auszubrechen.

Er raffte sich auf und rief. Und dann sah er in dem liebevollen, mitleidigen, kummervollen, teuren Gesicht als wie in einem Spiegel, wie verändert er war. Sie kam auf ihn zu, und die Hände auf seine Brust legend, daß er sitzenbleibe, und vor ihm auf den Boden kniend und die Lippen zu ihm erhebend, um ihn zu küssen, und mit ihren Tränen ihn befeuchtend, wie der Regen vom Himmel die Blumen befeuchtet, rief ihn Klein-Dorrit, die leibhaftig vor ihm lag, bei seinem Namen.

»Oh, mein bester Freund! Lieber Mr. Clennam, lassen Sie mich keine Tränen sehen! Wenn Sie nicht gar aus Freude weinen, mich zu sehen. Ich hoffe, das ist der Fall! Ihr armes Kind ist wieder da!«

So treu, so zärtlich, so unverdorben vom Glück. Im Klang ihrer Stimme, im Licht ihrer Augen, in der Berührung ihrer Hände so engelhaft tröstend und wahr!

Als er sie küßte, sagte sie zu ihm: »Niemand hat mir gesagt, daß Sie krank seien«, und ihren Arm sanft um seinen Arm schlingend, zog sie seinen Kopf an ihre Brust, legte ihre Hand auf sein Haupt, ließ ihre Wange auf dieser Hand ruhen und liebkoste ihn so zärtlich und, Gott weiß, so unschuldig, wie sie ihren Vater in demselben Zimmer geliebkost hatte, als sie noch ein kleines Kind gewesen und alle die Pflege von andern bedurft hätte, die sie ihnen angedeihen ließ.

Als er sprechen konnte, sagte er: »Ist es möglich, daß Sie zu mir kommen? Und in diesem Kleid?«

»Ich hoffte, Sie würden mich in diesem Kleid lieber sehen als in jedem andern. Ich habe es immer zur Erinnerung aufbewahrt; obgleich ich die Erinnerung nicht brauche. Ich bin nicht allein, wie Sie sehen. Ich habe eine alte Freundin mit mir gebracht.«

Als er sich umsah, erblickte er Maggy in ihrer großen Haube, die sie schon lange nicht mehr getragen, mit einem Korb am Arm wie in früheren Tagen, und ganz vergnügt vor sich hin lachend.

»Erst gestern abend bin ich mit meinem Bruder in London angekommen. Ich schickte fast unmittelbar nach unserer Ankunft zu Mrs. Plornish, um von Ihnen zu hören und Sie meine Ankunft wissen zu lassen. Da hörte ich, daß Sie hier seien. Haben Sie vielleicht während der Nacht an mich gedacht? Ich glaube fast, daß Sie ein wenig an mich gedacht haben. Ich habe so besorgt an Sie gedacht, und es schien mir so lange, bis der Morgen anbrach.«

»Ich habe an Sie gedacht« – er stockte, da er nicht wußte, wie er sie nennen sollte. Sie merkte es augenblicklich.

»Sie haben mich noch nicht bei meinem rechten Namen genannt. Sie wissen, was stets mein rechter Name bei Ihnen war.«

»Ich habe jeden Tag, jede Stunde, jede Minute an Sie gedacht, Klein-Dorrit, seit ich hier bin.«

»Wirklich! Wirklich!«

Er sah die helle Freude auf ihrem Gesicht und die Röte, die darüber hinflammte, mit einem Gefühl der Scham. Er, ein gebrochner, bankerotter, kranker, entehrter Gefangener! »Ich war schon hier, ehe das Tor aufging, aber ich fürchtete mich, so geradezu zu Ihnen zu kommen. Ich hätte im ersten Augenblick mehr geschadet als genützt; denn das Gefängnis kam mir so vertraut und doch so fremd vor, und es rief so viele Erinnerungen an meinen armen Vater und auch an Sie in mir wach, daß ich anfangs ganz überwältigt davon war. Aber wir gingen zu Mr. Chivery, ehe wir hierher an das Tor kamen, und er brachte uns herein und schloß uns Johns Zimmer auf – Sie wissen, mein armes, altes Zimmer –, und wir warteten dort ein wenig. Ich brachte die Blumen an die Tür, aber Sie hörten mich nicht.«

Sie sah etwas frauenhafter als vor ihrer Reise aus, und die reifende Berührung der italienischen Sonne war auf ihrem Antlitz sichtbar. Im übrigen war sie jedoch ganz unverändert. Denselben tiefen, scheuen Ernst, den er immer und nie ohne Rührung an ihr bemerkt, fand er auch jetzt noch. Wenn dieser Ernst eine neue Bedeutung hatte, die ihm tief ins Herz drang, so lag die Veränderung in seiner Auffassung, nicht in ihr.

Sie nahm ihren alten Hut ab und hing ihn an die alte Stelle und fing an, mit Maggys Hilfe das Zimmer so frisch und sauber zu machen, wie es nur möglich war, und es mit wohlriechendem Wasser zu besprengen. Als dies geschehen, wurde der Korb, der mit Trauben und anderem Obst gefüllt war, ausgepackt und sein Inhalt geräuschlos untergebracht. Als auch dies geschehen war, wurde Maggy mit einigen zugeflüsterten Worten weggeschickt, um jemanden anders wegzuschicken, der den Korb wieder vollfüllen sollte. Dieser kam auch bald wieder mit neuen Vorräten, aus denen zuerst ein kühlendes Getränk und Gelee und weiter ein gebratenes Huhn und Wein und Wasser herausgenommen wurden. Nachdem diese verschiedenen Anordnungen getroffen waren, nahm sie ihr altes Nähkistchen heraus, um ihm einen Vorhang für sein Fenster zu machen; und so sah er Klein-Dorrit, während er ruhig in seinem Stuhl saß, ruhig in seinem Zimmer walten und arbeiten, eine Ruhe, die sich auch über das sonst so geräuschvolle Gefängnis zu verbreiten schien.

Das bescheidene Köpfchen wieder über die Arbeit herabgebeugt und die flinken Finger geschäftig an ihrer alten Arbeit zu sehen – obgleich sie nicht so in die Arbeit vertieft war, daß ihre teilnahmsvollen Blicke sich nicht zu ihm erhoben und, wenn sie sich senkten, Tränen zeigten – so getröstet und gestärkt zu werden und zu glauben, daß alle Hingebung dieser großen Natur in seinem Unglück ihm zugewandt sei, um ihren unerschöpflichen Reichtum von Güte über ihn auszuschütteln, machte Clennams zitternde Stimme oder Hand nicht ruhiger und stärkte ihn nicht in seiner körperlichen Schwäche. Aber es flößte ihm eine moralische Kraft ein, die mit seiner Liebe wuchs. Und wie zärtlich er sie jetzt liebte, vermögen Worte nicht auszudrücken.

Wie sie so nebeneinander saßen, in dem Schatten der Mauer, fiel der Schatten wie Licht auf ihn. Sie wollte ihn nicht viel sprechen lassen, und er legte sich in seinen Stuhl zurück und blickte sie an. Dann und wann stand sie auf und gab ihm ein Glas zum Trinken oder strich die Stelle glatt, wo sein Kopf ruhte; dann kehrte sie still zu ihrem Sitz zurück und beugte sich wieder über ihre Arbeit.

Der Schatten bewegte sich mit der Sonne, aber sie wich nicht von seiner Seite, außer wenn sie ihm etwas bringen wollte. Sie war jetzt mit ihrer Arbeit fertig, und ihre Hand, die, seitdem sie ihm zum letzten Male etwas gereicht, auf dem Arm des Stuhles zitternd geruht hatte, weilte noch darauf. Er legte seine Hand darauf, und sie faßte sie mit bebendem Flehen.

»Lieber Mr. Clennam, ich muß Ihnen etwas sagen, ehe ich gehe. Ich habe es von Stunde zu Stunde verschoben, aber nun muß ich es sagen.«

»Auch ich, liebe Klein-Dorrit. Auch ich habe aufgeschoben, was ich sagen mußte.«

Sie bewegte ängstlich besorgt ihre Hand nach seinen Lippen, als wollte sie ihn zum Schweigen bringen; dann ließ sie sie zitternd wieder sinken.

»Ich verlasse England nicht wieder. Mein Bruder hat die Absicht, aber ich nicht. Er war immer sehr anhänglich an mich, und er ist jetzt so dankbar gegen mich – viel zu dankbar, denn es ist nur, daß ich zufällig während seiner Krankheit bei ihm war –, daß er sagt, es soll ganz in meinem Willen stehen, zu bleiben, wo es mir am besten gefällt, und zu tun, was mir am besten gefällt. Er wünsche mich nur glücklich zu wissen, sagt er.«

Ein heller Stern glänzte am Himmel. Sie blickte zu ihm auf, während sie sprach, als wäre es der inbrünstige Vorsatz ihres Herzens, der über ihr erglänzte.

»Sie werden sich denken können, ohne daß ich es Ihnen zu sagen brauche, daß mein Bruder hierher gereist ist, um das Testament meines lieben Vaters zu eröffnen und von seinem Vermögen Besitz zu ergreifen. Er sagt, wenn ein Testament vorhanden wäre, würde ich gewiß reich bedacht sein; und wenn keines vorhanden sei, wolle er mich reich machen.«

Er wollte sprechen, aber sie hob wieder ihre zitternde Hand empor, und er schwieg.

»Ich wüßte nicht, was mit dem Gelde tun, und wünschte mir keines. Es wäre durchaus ohne Wert für mich, außer um Ihretwillen. Ich könnte unmöglich reich sein, solange Sie hier sind. Ich wäre im Gegenteil immer unsagbar arm, wenn Sie hier in Not schmachten. Wollen Sie mir erlauben, alles, was ich habe, Ihnen zu leihen? Wollen Sie mir gestatten, es Ihnen zu geben? Wollen Sie mir erlauben, Ihnen zu zeigen, daß ich nie vergessen habe und nie vergessen kann, wie Sie mich zu der Zeit, da dies meine Heimat war, beschützt haben? Lieber Mr. Clennam, machen Sie mich zum glücklichsten Menschen von der Welt, indem Sie Ja sagen. Machen Sie mich so glücklich, wie ich es sein kann, solange Sie hier bleiben, indem Sie mir heute abend noch keine Antwort geben und mich mit der Hoffnung von hier fortgehen lassen, daß Sie die Sache sich freundlich überlegen wollen; und daß Sie mir um meinetwillen – nicht um Ihretwillen, sondern um meinetwillen, einzig um meinetwillen! – die größte Freude machen würden, die ich je auf Erden erleben kann, die Freude, zu wissen, daß ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, und daß ich etwas von der großen Schuld meiner Liebe und Dankbarkeit abgetragen. Ich kann nicht sagen, was ich sagen möchte. Ich kann Sie hier nicht besuchen, wo ich so lange gewohnt, ich kann nicht hier an Sie denken, wo ich Sie so viel gesehen habe, und so ruhig und trostvoll sein, wie ich sollte. Meine Tränen drängen sich unwillkürlich hervor. Ich kann sie nicht zurückhalten. Aber bitte, bitte, bitte, wenden Sie sich jetzt in Ihrem Kummer nicht von Ihrer Klein-Dorrit! Bitte, bitte, bitte! ich flehe Sie aus tiefstem bekümmertstem Herzen an, mein Freund – Sie Lieber! – nehmen Sie alles, was ich habe, und machen Sie es zu einem Segen für mich!«

Der Stern hatte bis jetzt auf ihr Gesicht geschienen, aber ihr Gesicht sank nun auf ihre und seine Hand.

Es war dunkler geworden, als er sie in seinem Arme aufrichtete und ihr mit sanftem Tone antwortete:

»Nein, liebe Klein-Dorrit. Nein, mein Kind. Ich darf nicht von einem solchen Opfer hören. Freiheit und Hoffnung um solchen Preis wären so teuer erkauft, daß ich nie ihre Last, nie den Vorwurf, sie zu besitzen, tragen könnte. Aber mit welch heißem Danke und welch inniger Liebe ich dies sage, mag der Himmel mir bezeugen!«

»Und doch wollen Sie nicht gestatten, Ihnen in Ihrem Unglück treu zu bleiben?«

»Sagen Sie, liebste Klein-Dorrit, und doch will ich versuchen, Ihnen treu zu bleiben. Wenn in vergangenen Tagen, wo dies Ihre Heimat und dies Ihr Kleid war, ich mich selbst besser verstanden (ich spreche nur von mir selbst) und die Geheimnisse meiner Brust deutlicher gelesen hätte; wenn ich trotz meiner Zurückhaltung und meines Mißtrauens gegen mich ein Licht erkannt hätte, das ich jetzt hell leuchten sehe, wo es weit entfernt von mir ist und meine schwachen Füße es nicht mehr einholen können; wenn ich damals gewußt und Ihnen gesagt hätte, daß ich Sie liebe und ehre, nicht als das arme Kind, als das ich Sie zu betrachten gewohnt war, sondern als eine Frau, deren wackere Hand mich weit über mich selbst erheben und mich zu einem weit glücklicheren und bessern Mann machen konnte; wenn ich so die Gelegenheit benutzt hätte, die nun nicht zurückzurufen ist, – wie ich wünsche, daß ich’s getan, und wie sehr ich das wünsche! – und wenn uns damals etwas fern voneinander gehalten hätte, wo ich mich in mäßigem Wohlstand befand, während Sie arm waren; da würde ich Ihr edles Anerbieten Ihres Vermögens, liebstes Mädchen, mit andern Worten angenommen haben und hätte doch erröten müssen, es anzurühren. Aber wie es jetzt ist, darf ich es nie anrühren, nie!«

Sie bat ihn ergreifender und inniger mit ihrer kleinen bittenden Hand, als sie es mit Worten hätte tun können.

»Ich bin genug mit Schmach beladen, meine liebe Klein-Dorrit. Ich darf nicht so tief sinken und Sie – ein so liebes, edles, gutes Wesen – mit mir hinabziehen. Gott segne Sie, Gott lohne Ihnen! Es ist vorbei!«

Er schloß sie in seine Arme, als wenn sie seine Tochter wäre.

»Immer so viel älter, so viel rauher, so viel weniger wert, müssen wir beide selbst das vergessen, was ich war, und Sie dürfen mich nur sehen, wie ich jetzt bin. Ich drücke diesen Scheidekuß auf Ihre Wange, mein Kind – das mir hätte näher stehen, aber nie lieber sein können – ich, ein zu Grunde gerichteter Mann, der weit ab von Ihnen steht, für immer von Ihnen getrennt, dessen Laufbahn beinahe zu Ende ist, während die Ihre eben beginnt. Ich habe nicht den Mut zu verlangen, daß Sie mich in meiner Erniedrigung vergessen; aber ich bitte Sie, meiner nur so zu gedenken, wie ich bin.«

Die Glocke begann zu läuten, zum Zeichen, daß die Fremden sich aus dem Gefängnis zu entfernen hatten. Er nahm ihren Mantel von der Wand und legte ihn zärtlich besorgt um ihre Schulter.

»Noch ein Wort, Klein-Dorrit. Ein hartes Wort für mich, aber ein notwendiges. Die Zeit, wo Sie und dies Gefängnis etwas miteinander gemein hatten, ist längst vorbei. Verstehen Sie mich?«

»Oh, Sie werden mir doch nicht sagen wollen, daß ich nicht wiederkommen soll«, rief sie, bitterlich weinend und ihre gefalteten Hände zu ihm aufhebend. »Sie werden mich gewiß nicht so verlassen!«

»Ich würde es sagen, wenn ich könnte; aber ich habe nicht den Mut, dieses liebe Gesicht so ganz von mir zu verbannen und auf alle Hoffnung, es wiederzusehen, zu verzichten. Aber kommen Sie nicht bald, kommen Sie nicht oft. Es ist ein verpesteter Ort, und ich weiß wohl, daß die Ansteckung mir anklebt. Sie gehören in eine heiterere und bessere Umgebung. Sie dürfen nicht hierher zurückschauen, meine Klein-Dorrit; Sie müssen auf ganz andere und glücklichere Pfade blicken. Noch einmal, Gott segne Sie auf denselben! Gott lohne Ihnen!«

Maggy, die sehr traurig gestimmt wurde, rief in diesem Augenblick: »Oh, bring‘ ihn in ein Spital. Er wird nie wieder wie früher werden, wenn man ihn nicht in ein Spital bringt. Und dann kann die kleine Frau, die immer an ihrem Rade spann, an den Schrank gehen mit der Prinzessin und sagen: Für wen bewahrt Ihr das Hühnchen auf? Und dann können sie es herausnehmen und ihm geben und alle glücklich sein!« Die Unterbrechung kam zur rechten Zeit! denn die Glocke hatte beinahe zu Ende geläutet. Arthur wickelte sie noch einmal sorgfältig in ihren Mantel, gab ihr seinen Arm (obgleich er ohne ihren Besuch beinahe zu schwach zum Gehen gewesen wäre) und führte sie die Treppe hinab. Sie war der letzte Besuch, der zum Schließerstübchen hinausging, und das Tor fiel schwer und hoffnungslos hinter ihr ins Schloß.

Mit dem Grabeston, der damit in Arthurs Herz klang, kehrte auch sein Gefühl der Schwäche zurück. Es war eine mühselige Reise die Treppe hinauf in sein Zimmer, und er betrat den dunklen einsamen Raum in unaussprechlich elender Stimmung.

Als es beinahe Mitternacht und im Gefängnis längst still geworden war, hörte man ein vorsichtiges Krachen die Treppe heraufkommen und ein vorsichtiges Klopfen eines Schlüssels an der Tür. Es war der junge John. Er schlüpfte auf Socken herein und hielt die Tür zu, während er flüsternd sprach:

»Es ist gegen alle Vorschriften, aber es ist mir einerlei. Ich war entschlossen, mir Bahn zu brechen und zu Ihnen zu kommen.«

»Was gibt es?«

»Nichts gibt’s, Sir. Ich wartete auf dem Hofe auf Miß Dorrit, bis sie herauskam. Ich dachte, es würde Ihnen angenehm sein, wenn jemand auf sie achtgebe.«

»Danke, danke! Sie führten sie nach Hause, John?«

»Ich begleitete sie bis in ihr Hotel. Dasselbe, in dem auch Mr. Dorrit gewohnt hatte. Miß Dorrit sprach auf dem ganzen Wege so freundlich mit mir, daß ich vor Freuden außer mir war. Warum glauben Sie wohl, daß sie ging, statt zu fahren?«

»Ich weiß es nicht, John.«

»Um von Ihnen zu reden. Sie sagte zu mir: ›John, Sie waren immer ein Ehrenmann, und wenn Sie mir versprechen, daß Sie für ihn sorgen wollen und es ihm nie an Hilfe und Trost fehlen lassen werden, wenn ich nicht um ihn bin, so wird mein Gemüt beruhigt sein.‹ Ich versprach es ihr. Und ich will Ihnen zur Seite sein in alle Ewigkeit«, sagte John Chivery.

Tief gerührt bot Clennam dem ehrlichen Menschen die Hand.

»Ehe ich sie nehme«, sagte John, indem er sie ansah, ohne die Tür zu verlassen, »müssen Sie erst raten, welche Botschaft mir Miß Dorrit gegeben hat.«

Clennam schüttelte den Kopf.

»›Sagen Sie ihm‹, wiederholte John mit deutlicher, obgleich zitternder Stimme, ›daß seine Klein-Dorrit ihm ihre nimmer aufhörende Liebe sendet.‹ Jetzt ist’s heraus. Habe ich redlich gehandelt?«

»Gewiß, gewiß!«

»Wollen Sie Miß Dorrit sagen, daß ich redlich gehandelt habe, Sir?«

»Das will ich.« »Hier ist meine Hand, Sir«, sagte John, »und ich will Ihnen zur Seite sein in alle Ewigkeit.«

Nach einem herzlichen Händedruck verschwand er mit demselben vorsichtigen Schritt, schlich ohne Schuhe über das Pflaster des Hofes, schloß das Tor hinter sich und ging nach dem Vordergebäude, wo er seine Schuhe gelassen hatte. Wäre dieser Weg mit glühenden Pflugscharen gepflastert gewesen, so ist doch nicht unwahrscheinlich, daß John um desselben Zweckes willen ihn mit der gleichen Hingebung gegangen wäre.

Drittes Kapitel.


Drittes Kapitel.

Auf dem Wege.

Die helle Morgensonne blendete die Augen, der Schnee hatte aufgehört, die Nebel waren verschwunden, die Bergluft war so klar und leicht, daß das neue Gefühl des Atmens wie das Eintreten in ein neues Dasein erschien. Um die Täuschung zu mehren, schien selbst der feste Boden verschwunden und der Berg eine leuchtende Wüste ungeheurer weißer Haufen und Massen, eine schwimmende Wolkenregion zwischen dem blauen Himmel oben und der Erde tief unten.

Einige dunkle Flecken auf dem Schnee, wie Knoten an einer kleinen Schnur, am Klostertor beginnend und sich in gebrochenen Stücken, die noch nicht zusammengebunden waren, fortziehend, wanden sich an dem Abhang hinab und zeigten, wie die Brüder bereits an verschiedenen Punkten beschäftigt waren, den Pfad zu bahnen. Schon hatte der Schnee begonnen, um das Tor her unter den Füßen aufzutauen. Geschäftig wurden Maulesel herausgeschafft, an die Ringe in der Mauer gebunden und beladen; Glockenriemen wurden umgeschnallt, Lasten festgebunden: die Stimmen der Treiber und Reiter klangen harmonisch. Einige von den Frühesten hatten sogar bereits ihre Reise wieder angetreten, und sowohl auf dem flachen Berggipfel bei dem dunkeln Wasser in der Nähe des Klosters als auf dem Wege, auf dem man gestern bergan geklettert war, sah man kleine sich bewegende Gestalten von Menschen und Maultieren, durch den ungeheuren Raum zu Zwergen zusammengeschrumpft, unter dem hellen Klang der Glöckchen und angenehmem, harmonischem Geplauder hinziehen.

Im Speisezimmer vom vergangenen Abend war ein neues Feuer auf der federartigen Asche des alten aufgetürmt und schien auf das einfache Frühstück, das aus Brot, Butter und Milch bestand. Es beschien auch den Kurier der Familie Dorrit, der für seine Gesellschaft Tee aus einem Vorrat bereitete, den er, nebst noch einigen andern kleinen Vorräten, mitgebracht hatte, die hauptsächlich für die große unbequeme Masse angelegt waren. Mr. Gowan und Blandois von Paris hatten bereits gefrühstückt und gingen, ihre Zigarre rauchend, am See auf und nieder.

»Gowan, hm?« murmelte Tip, sonst Edward Dorrit, Esquire, die Blätter des Buches umdrehend, als der Kurier gegangen war. »Gowan ist also der Name eines Laffen, das ist alles, damit Punktum! Wenn es sich der Mühe für mich lohnte, wollt‘ ich ihn tüchtig an der Nase herumführen. Aber es lohnt sich der Mühe nicht – das ist ein Glück für ihn. Wie befindet sich seine Frau, Amy? Ich glaube, du kennst sie. Du kennst ja Dinge der Art.«

»Sie befindet sich besser, Edward. Aber sie gehen heute noch nicht.«

»Oh! Sie gehen heute noch nicht? Das ist ein Glück für diesen Menschen,« sagte Tip, »er und ich möchten sonst in Kollision kommen.«

»Man halt es hier für besser, daß sie heute noch ruhig liegenbleibt und sich nicht anstrengt und durch den Ritt hinab erschüttert wird, bis sie sich morgen ganz wohl befindet.«

»Meinetwegen. Aber du sprichst ja, als ob du ihre Krankenwärterin gewesen wärest. Du bist doch nicht wieder (Mrs. General ist nicht hier) in deine alten Gewohnheiten zurückgefallen, Amy?«

Er tat diese Frage mit einem listig beobachtenden Blick auf Fanny und auf seinen Vater.

»Ich war bloß bei ihr, um sie zu fragen, ob ich für sie nichts tun könne, Tip,« sagte Klein-Dorrit.

»Du brauchst mich nicht Tip zu nennen, Amy,« versetzte der junge Mann mit gerunzelter Stirn, »denn das ist eine alte Gewohnheit, die du aufgeben mußt.«

»Ich wollt‘ es auch nicht sagen, lieber Edward. Ich vergaß es. Es war einst so natürlich, daß es mir im Augenblick das rechte Wort schien.«

»O ja!« fiel Miß Fanny ein. »Natürlich und rechtes Wort und einst, und wie das alles heißt. Unsinn, du kleines Ding! Ich weiß ganz wohl, weshalb du solch ein Interesse an dieser Mrs. Gowan nimmst. Du kannst mich nicht täuschen.«

»Ich will es auch nicht, Fanny. Sei nicht böse.«

»O, böse!« versetzte die junge Dame auffahrend. »Ich habe keine Geduld« (was auch wirklich der Fall war).

»Bitte, Fanny«, sagte Mr. Dorrit, die Augenbrauen aufziehend, »was meinst du? Erkläre dich.«

»Oh! sei ruhig, Vater,« versetzte Miß Fanny, »es ist nicht der Rede wert. Amy wird mich verstehen. Sie kannte diese Mrs. Gowan oder wußte von ihr, schon vor dem gestrigen Abend, und sie wird es wohl auch eingestehen, daß dies der Fall.«

»Mein Kind,« sagte Mr. Dorrit, sich an seine jüngere Tochter wendend, »hat deine Schwester – irgend – ha – irgendeinen Grund zu dieser seltsamen Behauptung?«

»Wie weichherzig wir auch sind,« fiel Miß Fanny ein, ehe sie antworten konnte, »wir schleichen doch nicht in die Zimmer der Leute auf den Spitzen der Berge und sitzen halbtot vor Kälte bei den Leuten, wenn wir sie nicht vorher schon kennen. Ist es nicht schwer zu ahnen, wessen Freundin Mrs. Gowan sei?«

»Wessen Freundin?« fragte der Vater.

»Papa, ich bedaure, sagen zu müssen,« versetzte Miß Fanny, der es indessen gelungen war, sich in den Zustand der Beleidigten und Geärgerten hineinzustacheln, was sie oft mit großer Anstrengung tat, »daß ich glaube, sie ist eine Freundin jener aus vielen Gründen widerwärtigen und unangenehmen Person, die uns seinerzeit beleidigte. Sie benahm sich mit jenem vollständigen Mangel an Delikatesse, die unsere Erfahrung von ihm erwartet hätte. Sie kränkte aus so öffentliche und absichtliche Weise bei einer Gelegenheit, auf die wir, nach unserer Verabredung, durchaus nicht mehr anspielen wollen.«

»Amy, mein Kind,« sagte Mr. Dorrit, milde Strenge mit würdevoller Liebe mäßigend, »ist das der Fall?«

Klein-Dorrit antwortete sanft, ja, es sei der Fall.

»Ja, es ist der Fall!« rief Miß Fanny. »Natürlich! Ich sagte es ja. Und jetzt, Papa, erkläre ich, ein für allemal (diese junge Dame hatte die Gewohnheit, dasselbe jeden Tag ihres Lebens und oft siebenmal an einem Tag ein für allemal zu erklären), daß das schändlich ist! Ich erkläre ein für allemal, daß dieser Sache ein Ende gemacht werden sollte. Nicht genug, daß wir durchgemacht haben, was nur wir wissen. Wir müssen es uns auch noch von der, die unsre Gefühle am meisten schonen sollte, beharrlich und systematisch ins Gesicht schleudern lassen? Sollen wir unser ganzes Leben lang diesem unnatürlichen Benehmen ausgesetzt sein? Sollen wir niemals vergessen dürfen? Ich sage noch einmal, es ist unerhört!«

»Nun, Amy,« bemerkte ihr Bruder, den Kopf schüttelnd, »du weißt, ich stehe immer auf deiner Seite, wo ich kann, und bei den meisten Gelegenheiten. Aber ich muß sagen, ich halte es wahrhaftig für eine ziemlich unerklärliche Art, deine schwesterliche Liebe zu zeigen, daß du einen Mann beschützest, der mich auf die ungesittetste Weise behandelte, in der man einen andern behandeln kann. Und der«, fügte er überzeugend hinzu, »ein sehr niedriggesinnter Schuft sein muß, sonst hätte er sich nicht so gegen mich benehmen können, wie er es tat.«

»Und bedenkt,« sagte Miß Fanny, »bedenkt wohl, was das mit sich führt! Können wir erwarten, daß uns unsre Diener respektieren? Nie. Da sind zwei Kammermädchen, und Papas Kammerdiener, und ein Diener, und ein Kurier und alle Arten von Dienerschaft; und umgeben von diesen müssen wir eins von den Unsrigen mit einem Glase kalten Wasser, wie einen Diener umherlaufen sehen. Wahrhaftig,« sagte Miß Fanny, »ein Polizeidiener könnte, wenn ein Bettler in der Straße einen Anfall bekommt, nicht anders mit seinem Glase einherrennen, als Amy es in diesem Jimmer gestern Abend vor unsren Augen getan hat!«

»Ich wollte darauf kein so großes Gewicht legen«, bemerkte Mr. Edward. »Aber dein Clennam, wie er sich zu nennen beliebt, das ist etwas anderes.«

»Er gehört dazu«, versetzte Miß Fanny, »und zu allem andern. Er drängte sich in erster Linie uns auf. Wir haben nie nach ihm verlangt. Ich zeigte ihm stets, daß ich mit dem größten Vergnügen auf seine Gesellschaft verzichten würde. Und dann beleidigt er unsre Gefühle auf so gröbliche Weise, was er nie getan haben könnte oder würde, wenn es ihm nicht Vergnügen gemacht hätte, uns bloßzustellen; und dann müssen wir uns noch zum Dienste seiner Freunde herabwürdigen lassen! Ich wundre mich auch nicht über das Benehmen Mr. Gowans. Was ließ sich erwarten, da er unser früheres Mißgeschick kannte und sich gerade im Augenblick daran weidete.«

»Vater – Edward – wahrhaftig nicht!« verteidigte sich Klein-Dorrit. »Weder Mr. noch Mrs. Gowan hatten je unsere Namen gehört. Sie wußten und wissen durchaus nichts von unsrer Geschichte.«

»Um so schlimmer«, warf Fanny ein, entschlossen, nichts zuzugeben, was ihren Angriff hätte abschwächen können, »denn dann hast du keine Entschuldigung. Wenn sie uns gekannt hätten, hättest du dich berufen fühlen können, sie zu versöhnen. Das wäre ein schwacher und lächerlicher Mißgriff gewesen: aber ich kann einen Mißgriff entschuldigen, während ich eine absichtliche und überlegte Erniedrigung derer, die uns am nächsten und teuersten sein sollten, nicht entschuldigen kann. Nein. Ich kann das nicht entschuldigen. Ich kann es nur anklagen.«

»Ich beleidige dich nie mit Wissen, Fanny«, sagte Klein-Dorrit, »obgleich du so hart gegen mich bist.«

»Dann solltest du vorsichtiger sein, Amy«, versetzte ihre Schwester. »Wenn du solche Sachen durch Zufall tust, so solltest du vorsichtiger sein. Wenn ich etwa an einem gewissen Platz und unter gewissen Umständen geboren wäre, die mein Bewußtsein von Anstand beeinträchtigen, ich glaube, ich würde mich dann für verbunden halten, bei jedem Schritt zu überlegen: ›Werde ich unbewußterweise irgendeinen näheren oder entfernteren Verwandten kompromittieren?‹ Das ist es, glaube ich, was ich tun würde, wenn es mein Fall wäre.«

Mr. Dorrit trat nun dazwischen, um zu gleicher Zeit dieser peinlichen Unterhaltung ein Ende zu machen und ihrer Moral durch seine Weisheit die Krone aufzusetzen.

»Meine Liebe«, sagte er zu seiner jüngern Tochter, »ich bitte dich, erwidere nichts mehr. Deine Schwester drückt sich etwas streng aus, hat aber ziemlich recht. Du mußt eine – hm – eine große Stellung ausfüllen. Die große Stellung nimmst nicht du allein ein, Sondern auch –ha – ich – und – ha, hm – wir alle. Alle. Es ist nun die Aufgabe aller Menschen in einer bedeutenden Stellung, und insbesondere dieser Familie, aus Gründen, bei denen ich – ha – nicht verweilen will, sich Achtung zu verschaffen. Immer darauf bedacht zu sein, sich die Achtung der Menschen zu erwerben. Untergeordnete Menschen müssen, damit sie uns respektieren, – ha – in Entfernung gehalten werden und – hm – niedergehalten werden. Nieder. Deshalb ist es von höchster Wichtigkeit, daß du dich keinen Bemerkungen unsrer Dienerschaft aussetzest, indem du dich etwa ihrer Dienste entschlagen und dieselben selbst verrichtet zu haben scheinst.«

»Nun, wer sollte daran zweifeln?« rief Miß Fanny. »Das ist die Essenz von allem.« »Fanny«, versetzte ihr Vater in feierlichem Tone, »erlaube mir, meine Liebe. Wir kommen jetzt zu – ha – Mr. Clennam. Ich gestehe offen, Amy, daß ich die Gefühle deiner Schwester nicht teile, – das heißt nämlich – hm – in Beziehung auf Mr. Clennam. Ich begnüge mich, dieses Individuum als einen – ha – im allgemeinen – wohlgesitteten Mann zu betrachten. Hm. Einen wohlgesitteten Mann. Auch will ich nicht untersuchen, ob Mr. Clennam sich je meiner Gesellschaft –hm – aufgedrängt. Er wußte, daß – hm – meine Gesellschaft gesucht war, und der Grund, weshalb er es getan hat, mag sein, daß er mich als einen öffentlichen Charakter betrachtete. Aber es gab Umstände im Geleite – ha – meiner geringen Bekanntschaft mit Mr. Clennam (sie war sehr gering), die«, hier wurde Mr. Dorrit außerordentlich ernst und feierlich, »es höchst unzart für Mr. Clennam machen würden, – ha – den Verkehr mit mir oder irgendeinem Glied meiner Familie unter den bestehenden Umständen wieder anzuknüpfen. Wenn Mr. Clennam Zartheit genug besitzt, das Unpassende jedes derartigen Versuches zu begreifen, so bin ich als Mann von Ehre verpflichtet, dieses Zartgefühl auf seiner Seite zu respektieren. Wenn aber auf der andern Seite Mr. Clennam diese Delikatesse nicht besitzt, so kann ich keinen Augenblick – ha – mit einem so ungebildeten Menschen im geringsten Verkehr stehen. In beiden Fällen würde es scheinen, als ob Mr. Clennam ganz und gar nicht in Betracht käme und wir nichts mit ihm oder er mit uns zu tun hätte. Ha – Mrs. General!«

Das Eintreten der Dame, die er ankündigte und die ihren Platz beim Frühstück einnehmen wollte, machte der Diskussion ein Ende. Kurz darauf kündigte der Kurier an, daß der Kammerdiener, der Diener, die beiden Kammermädchen, die vier Führer und die vierzehn Maultiere bereitständen: die Frühstücksgesellschaft brach deshalb auf, um sich vor dem Klostertore zu der Kalvalkade zu gesellen.

Mr. Gowan stand in der Ferne mit Zigarre und Bleistift, aber Mr. Blandois war an Ort und Stelle, um den Damen seinen Respekt zu bezeugen. Als er höflich seinen ins Gesicht hereingedrückten Hut vor Klein-Dorrit abnahm, war es ihr, als ob er einen noch unheimlicheren Blick hätte, wie er so schwarz und in den Mantel gehüllt im Schnee dastand, als vergangene Nacht, wo ihn das helle Kaminfeuer beleuchtete. Da jedoch ihr Vater und ihre Schwester seine Huldigung mit einigem Wohlwollen aufnahmen, faßte sie sich, um ihr Mißtrauen nicht zu zeigen, damit es nicht wieder einen Beweis des Makels liefere, der von ihrer Gefängnisgeburt stamme.

Nichtsdestoweniger sah sie sich, solange sie den rauhen Weg hinabritten und das Kloster noch sichtbar war, mehr als einmal um und gewahrte, wie Mr. Blandois, hinter dem der Klosterrauch senkrecht und hoch aus den Kaminen in einer goldenen Hülle emporstieg, immer noch auf einem hervorragenden Punkte dastand und ihnen nachblickte. Lange, nachdem er nur wie ein schwarzer Stock im Schnee aussah, war es ihr, als ob sie noch immer sein Lächeln, die gebogene Nase und die Augen sehen könnte, die so nahe beieinander standen. Und noch später, als das Kloster verschwunden war und einige leichte Morgenwolken den Paß unter denselben verschleierten, schienen die Skelettarme am Wege alle nach ihm hinaufzudeuten.

Trügerischer denn Schnee, vielleicht kälter an Herz und schwerer schmelzend, verschwand Blandois von Paris nach und nach aus ihrem Gedächtnis, als sie in die milderen Regionen kamen. Die Sonne war wieder warm; die Ströme, die von den Gletschern und Schneeklüften herabrauschten, boten wieder frischen Trunk: sie ritten wieder zwischen den Pinien, den Felsbächen, über die grünen Höhen und durch die Täler, an den hölzernen Sennhütten und an den rohen Zickzackgehängen des Schweizerlandes hin. Bisweilen wurde der Weg so breit, daß sie und ihr Vater nebeneinander reiten konnten. Und dann ihn anzublicken, wie er in Pelz und prachtvolles Tuch gehüllt, reich, frei, von vielen Dienern begleitet und bedient, die Augen weit in der Herrlichkeit der Landschaft umherschweifen ließ, während keine elende Scheidewand den Blick verdunkelte und ihren Schatten darauf warf, – das war genug für sie.

Ihr Onkel war so weit aus dem früheren Schatten herausgetreten, daß er die Kleider trug, die man ihm gab, und einige Waschungen als Opfer für den Ruf der Familie vornahm und mitging, wohin man ihn führte, mit einer gewissen geduldigen naiven Freude, die auszudrücken schien, daß die Luft und der Wechsel ihm wohltue. In jeder andern Beziehung, eine ausgenommen, gab und spiegelte er kein andres Licht von sich als das, das von seinem Bruder ausstrahlte. Seines Bruders Größe, Reichtum, Freiheit und Herrlichkeit gefiel ihm ohne irgendwelche Rücksicht auf sich. Still und in sich gekehrt, hatte er keine Sprache, wenn er seinen Bruder sprechen hören konnte; keinen Wunsch, selbst bedient zu werden, so daß die Diener nur mit seinem Bruder zu tun hatten. Die einzige bemerkenswerte Neuerung, die in ihm vorging, war sein verändertes Benehmen gegen seine jüngere Nichte. Jeden Tag verfeinerte es sich mehr zu einem ausgeprägten Respekt, wie man ihn selten beim Alter gegenüber der Jugend steht, und noch seltener, möchte man sagen, von einem Takt, ihm den richtigen Ausdruck zu geben, begleitet findet. Sooft Miß Fanny ein für allemal erklärte, pflegte er die nächste Gelegenheit zu ergreifen, sein graues Haupt vor seiner jüngern Nichte zu entblößen, oder er half ihr aufsteigen, oder hob sie in den Wagen, oder erwies ihr sonst mit der tiefsten Ehrerbietung eine Aufmerksamkeit. Und doch erschien alles dies nie am unrechten Ort angebracht oder gezwungen, sondern immer herzlich einfach, natürlich und ungekünstelt. Auch gab er niemals zu, selbst wenn sein Bruder ihn dazu aufforderte, daß man ihm vor ihr einen Platz anwies oder daß er in irgend etwas den Vorrang vor ihr habe. So eifersüchtig war er darauf, daß man sie respektiere, daß er eben auf dem Ritt vom großen St. Bernhard herab plötzlich ganz heftig und ungehalten wurde, als er sah, daß der Diener, obgleich er ganz nahe dabei war, als sie abstieg, ihr den Steigbügel zu halten versäumte; und das ganze Gefolge geriet in grenzenloses Erstaunen, als er auf einem starrköpfigen Maultier, einen Angriff auf ihn machte, ihn in eine Ecke ritt und ihm drohte, ihn totzutreten.

Es war eine hochnoble Gesellschaft, und die Wirte stritten sich um sie. Wohin sie kamen, war ihre Wichtigkeit in der Person des vorausreitenden Kuriers ihnen vorangeeilt, um zu sehen, ob die Staatszimmer in Bereitschaft seien. Er war der Herold der Familienprozession. Dann kam der große Reisewagen, der innen enthielt: Mr. Dorrit, Miß Dorrit, Miß Amy Dorrit und Mrs. General; außen saß einer der Diener und (bei schönem Wetter) Edward Dorrit, Esquire, für den der Bock reserviert war. Dann kam der kleine Reisewagen mit Frederick Dorrit, Esquire, und einem leeren Platze für Edward Dorrit, bei schlechtem Wetter. Dann kam der Gepäckwagen mit der übrigen Dienerschaft, dem schweren Gepäck, und soviel er von dem Schmutz und Staub tragen konnte, den die andern Wagen hinter sich ließen.

Diese Wagen schmückten den Hof des Hotels in Martigny, als die Familie von ihrer Bergtour zurückkehrte. Es waren noch andere Wagen vorhanden, da viele Reisende sich unterwegs befanden. Von der zusammengeflickten italienischen Vettura – die wie der Stuhl einer Schaukel von einem italienischen Jahrmarkt aussah, den man auf ein hölzernes Speisenbrett mit Rädern gestellt hat, während sich obendrüber ein zweites hölzernes Speisenbrett ohne Räder befand – bis hinauf zum schöngebauten englischen Wagen. Aber etwas anderes schmückte noch das Hotel, was Mr. Dorrit nicht ausbedungen hatte. – Zwei fremde Reisende nämlich schmückten eines seiner Zimmer.

Der Hotelbesitzer schwor, den Hut in der Hand, dem Kurier, daß er vernichtet, daß er trostlos, daß er tief bekümmert, daß er das elendeste und unglücklichste aller Tiere sei, daß er den Kopf eines hölzernen Schweins habe. Er würde das niemals zugegeben haben, sagte er, aber die feine Dame habe ihn so inständig gebeten, ihr das Zimmer nur für eine kleine halbe Stunde zum Dinieren einzuräumen, daß er sich habe herumbringen lassen. Die kleine halbe Stunde sei vorüber, die Dame und der Herr nehmen ihr kleines Dessert ein und eine halbe Tasse Kaffee, die Rechnung sei bezahlt, die Pferde befohlen, sie würden augenblicklich abreisen; aber ein unglückliches Schicksal und der Fluch des Himmels wolle, daß sie noch nicht fort seien.

Nichts konnte die Entrüstung Mr. Dorrits übersteigen, als er sich am Fuße der Treppe umwandte und diese Entschuldigungen vernahm. Es war ihm, als ob die Würde der Familie von den Händen eines Meuchelmörders getroffen worden. Er hatte ein Gefühl seiner Würde, das von der ausgesuchtesten Art war. Er konnte einen Angriff auf dieselbe entdecken, wo kein Mensch sonst auch nur das geringste merkte. Sein Leben wurde zu einem unaufhörlichen Kampf durch die Masse von Seziermessern, die er beständig mit der Sezierung seiner Würde beschäftigt wähnte.

»Ist es möglich, mein Herr«, sagte Mr. Dorrit tief errötend, »daß (Sie – ha – die Kühnheit gehabt haben, eines von meinen Zimmern zur Verfügung einer andern Person zu stellen?«

Er bitte tausendmal um Entschuldigung. Es sei des Wirtes größtes Unglück, sich von dieser nur allzu vornehmen Dame haben überreden zu lassen. Er bitte Monseigneur nicht ungehalten zu sein. Er verlasse sich auf Monseigneurs Nachsicht. Wenn Monseigneur die ausgezeichnete Gnade haben wollte, den andern besonders für ihn hergerichteten Salon nur für fünf Minuten einzunehmen, so würde alles gut sein.

»Nein, Sir«, sagte Mr. Dorrit, »Ich will gar keinen Salon einnehmen. Ich werde Ihr Haus verlassen, ohne zu essen oder zu trinken oder einen Fuß hineinzusetzen. Wie können Sie es wagen, so zu handeln. Wer bin ich, daß Sie –ha – mich von andern Gentlemen absondern?«

Ach! Der Wirt rief das ganze Weltall zu Zeugen auf, daß Monseigneur der liebenswürdigste Mann des ganzen Adels, der bedeutendste, achtungswerteste und geachtetste Mann sei. Wenn er Monseigneur von andern absondere, so geschehe es bloß, weil er ausgezeichneter, geschätzter, edler und berühmter sei.

»Sagen Sie mir dergleichen nicht ins Gesicht«, versetzte Mr. Dorrit in großer Hitze. »Sie haben mich beleidigt. Sie haben Beschimpfungen auf mich gehäuft. Wie können Sie das wagen? Erklären Sie sich!«

Ach, gerechter Himmel, wie könnte der Wirt sich erklären, da er nichts mehr zu erklären hatte, sondern sich nur noch entschuldigen und sein Vertrauen auf die wohlbekannte Großmut von Monseigneur setzen könnte!

»Ich sage Ihnen, Sir«, versetzte Mr. Dorrit, zitternd vor Zorn, »daß Sie mich von andern Gentlemen absondern; daß Sie Unterschiede zwischen mir und andern Gentlemen von Vermögen und Stellung machen. Ich frage Sie, warum? Ich wünsche zu wissen, mit welchem Recht, mit welchem – ha – Recht? Antworten Sie, mein Herr. Erklären Sie sich. Antworten Sie, warum?«

Der Wirt müsse sich die Freiheit nehmen, dem Herrn Kurier zu bemerken, daß der sonst so gnädige Monseigneur sich ohne Grund ereifere. Es sei keine Ursache vorhanden. Der Herr Kurier möge Monseigneur vorstellen, daß er sich täusche, wenn er glaube, es sei irgendein Grund vorhanden als der, den sein ergebener Diener bereits ihm mitzuteilen die Ehre gehabt. Die außerordentlich vornehme Dame –

»Genug!« rief Mr. Dorrit. »Schweigen Sie. Ich will nichts mehr von dieser außerordentlich vornehmen Dame hören. Sehen Sie diese Familie an – meine Familie – eine vornehmere Familie als irgendwelche Dame. Sie haben diese Familie mit Mißachtung behandelt. Sie waren unverschämt gegen diese Familie. Ich werde Sie ruinieren. Ha – schicken Sie nach den Pferden. Packen Sie die Wagen, ich werde keinen Fuß mehr in dieses Mannes Haus setzen.«

Niemand hatte sich in diesen Streit gemischt, der über die französischen Sprachkräfte Edward Dorrits Esq. ging und kaum im Bereich von denen der Damen lag. Miß Fanny jedoch unterstützte jetzt ihren Vater mit großer Bitterkeit, indem sie in ihrer heimischen Sprache erklärte, daß es ganz klar sei, hinter dieses Mannes Impertinenz laure etwas ganz Bestimmtes; und sie betrachte es für wichtig, daß er durch irgendwelche Mittel gezwungen werde, den Grund anzugeben, weshalb er einen Unterschied zwischen dieser Familie und andern reichen Familien mache. Was die Ursache seiner Vermessenheit sein könne, wisse sie sich nicht zu erklären; aber Gründe müsse er haben und man solle sie aus ihm herauspressen.

Alle Führer, Maultiertreiber und Müßiggänger im Hofe hatten bei der heftigen Verhandlung zugehört und waren sehr verblüfft, als der Kurier nun die Wagen hinauszuschaffen sich mühte. Mit Hilfe von einigen Dutzend Leuten an jedem Rade geschah dies mit großem Geräusch; dann machte man sich wieder ans Aufladen, bis die Pferde vom Posthause kamen.

Da der Wagen der sehr vornehmen englischen Dame bereits angeschirrt an dem Tor des Hotels stand, war der Wirt hinaufgeschlichen, um ihr seinen fatalen Fall mitzuteilen. Dies erfuhr der Hof, indem er jetzt mit dem Herrn und der Dame die Treppe herabkam und auf die beleidigte Majestät von Mr. Dorrit mit einer bezeichnenden Bewegung der Hand hindeutete.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Herr, indem er sich von der Dame losmachte und näher kam. »Ich bin ein Mann von wenig Worten und habe kein Talent zum Erklären – aber die Dame hier wünscht sehr, daß jeder Spektakel vermieden würde. Die Lady – meine Mutter – wünscht wegen des Vorgefallenen, daß ich sagen soll, sie hoffe, es werde keinen Spektakel geben.«

Mr. Dorrit, der im Gefühle der Kränkung noch immer zitterte, grüßte den Herrn und die Dame in einer sehr fremden, abweisenden unnahbaren Weise.

»Nein, aber wahrhaftig – hier, alter Junge; Sie!« Das war die Art des jungen Mannes, wie er sich an Edward Dorrit Esquire wandte, den er als einen großen, von der Vorsehung ihm zugesandten Befreier aus der Verlegenheit packte. »Wir zwei wollen die Sache miteinander zurechtlegen. Die Dame wünscht so sehr, daß es keinen Spektakel gebe.«

Edward Dorrit Esquire, der am Knopf etwas auf die Seite gezogen worden, nahm einen diplomatischen Gesichtsausdruck an, indem er antwortete: »Sie müssen doch gestehen, wenn Sie eine Partie Zimmer vorausbestellen lassen und dieselben Ihnen gehören, es nicht angenehm ist, andre Leute in denselben zu finden.«

»Ja«, sagte der andre, »allerdings. Ich gebe es zu. Wir zwei wollen die Sache jedoch miteinander zurechtlegen und den Spektakel vermeiden. Der Fehler liegt durchaus nicht an diesem Laffen, sondern an meiner Mutter. Eine sehr feine Frau, die bei Gott keinen Unsinn an sich hat – und sehr gebildet – sie war zuviel für diesen Laffen. Steckte ihn förmlich in die Tasche.«

»Wenn das der Fall –« begann Edward Dorrit Esquire.

»Ich versichere Sie, auf Ehre, das ist der Fall. Warum deshalb«, sagte der andere, seine frühere gewichtige Stellung wieder einnehmend, »warum Spektakel?«

»Edmund«, sagte die Dame vom Tor aus, »ich hoffe, du hast zur Beruhigung des Herrn und seiner Familie erklärt, daß dieser höfliche Wirt keinen Tadel verdient?«

»Versichere Sie, Madame«, versetzte Edmund, »ich werde ganz lahm vor Anstrengung.« Dann sah er Edward Dorrit Esquire einige Sekunden lang an und fügte mit einem Ausbruch von Vertraulichkeit hinzu: »Alter Junge! Ist jetzt alles in Ordnung?«

»Ich glaube«, sagte die Dame, anmutig einen Schritt oder zwei auf Mr. Dorrit zuschreitend, »es ist besser, wenn ich selbst sage, daß ich diesen Mann versicherte, ich werde alle Folgen auf mich nehmen, die daraus entstehen könnten, daß ich eines von den Zimmern eines Fremden, während seiner Abwesenheit, für die lange (oder kurze) Dauer meines Diners in Beschlag nahm. Ich hatte keine Ahnung, daß der rechtmäßige Inhaber dieser Zimmer so bald zurückkommen würde. Auch hatte ich keine Ahnung, daß er schon angekommen, sonst würde ich mich beeilt haben, mein mit Unrecht in Beschlag genommenes Zimmer zurückzugeben und mich zu erklären und zu entschuldigen. Ich glaube, indem ich dies sage –«

Einen Augenblick lang stand die Dame mit dem Glas an dem Auge betroffen und sprachlos vor den beiden Miß Dorrit. In diesem Augenblick hielt Miß Fanny im Vordergrund einer großen malerischen Stellung, die die Familie, die Familienwagen und die Familiendiener bildeten, ihre Schwester fest unter dem Arm, um sie an Ort und Stelle zu fesseln, und mit dem andern Arm fächelte sie sich mit stolzer Miene und betrachtete die Dame nachlässig von Kopf bis zu Fuß.

Die Dame, die sich rasch wieder faßte – denn es war Mrs. Merdle, die nicht leicht aus der Fassung zu bringen war – fügte nun hinzu, sie glaube, indem sie dies sage, ihre Kühnheit zu entschuldigen und diesen gebildeten Wirt wieder in den Besitz der Gunst zu setzen, die ihm von so hohem Wert sei. Mr. Dorrit, auf dessen Altar all dies eitel Weihrauch war, gab eine gnädige Antwort und sagte, seine Leute sollten – ha – seine Pferde wieder abbestellen, – er wolle – hm – über das hinwegsehen, was er anfangs für eine Beleidigung gehalten, jetzt aber für eine Ehre ansehe. Daraufhin neigte sich der Busen vor ihm; und die Besitzerin warf mit einer wundervollen Beherrschung ihrer Züge den beiden Schwestern, als jungen Damen von Vermögen, für die sie sehr eingenommen war und die sie nie zuvor das Glück gehabt zu sehen, ein gewinnendes Lächeln zum Abschied zu.

Anders benahm sich Mr. Sparkler. Dieser junge Mann, dessen Blicke zu gleicher Zeit wie die seiner Lady-Mutter gefesselt wurden, konnte sich um keinen Preis wieder von den Fesseln losmachen, sondern starrte unverwandt auf die ganze Gesellschaft mit Miß Fanny im Vordergrund. Als seine Mutter sagte: »Edmund, wir sind nun fertig: gib mir deinen Arm«; schien er, nach der Bewegung seiner Lippen, mit einer Bemerkung zu antworten, die ungefähr die Worte enthielt, in denen seine glänzenden Talente sich zumeist äußerten, aber er entspannte keinen Muskel. So steif und starr war seine Gestalt, daß es schwierig gewesen wäre, ihn hinlänglich zu beugen, um ihn in die Wagentür zu bringen, wenn er nicht von drinnen zu rechter Zeit eine mütterlichen Ruck bekommen hätte. Er war kaum im Wagen, als das Kissen an dem kleinen Fenster hinten verschwand und sein Auge den Platz desselben beschlagnahmte. Dort blieb es so lange, als man einen so kleinen Gegenstand unterscheiden konnte, und wahrscheinlich noch weit länger, und starrte (wie wenn einem Stockfisch etwas unaussprechlich Überraschendes begegnet), einem schlechtgemalten Auge in einem großen Armband ähnlich, in die Ferne.

Diese Begegnung war für Miß Fanny so angenehm, und sie dachte später so viel mit wahrer Siegesfreude daran, daß ihre Härten sich außerordentlich milderten. Als die Prozession am nächsten Tag wieder im Gange war, nahm sie ihren Platz in derselben mit einer ihr sonst fremden Heiterkeit ein und zeigte wirklich eine so glückliche Laune, daß Mrs. General ziemlich überrascht aussah.

Klein-Dorrit war froh, daß man keinen Fehler an ihr fand und daß Fanny heiter war: ihr Teil an der Prozession war jedoch ein stilles sinnendes Träumen. Wenn sie so ihrem Vater in dem Reisewagen gegenübersaß und an das alte Zimmer im Marschallgefängnis dachte, so erschien ihr das gegenwärtige Leben wie ein Traum. Alles, was sie sah, war neu und herrlich, aber es war nicht wirklich. Es war ihr, als wenn diese Visionen von Bergen und malerischen Gegenden jeden Augenblick verschwinden und der Wagen, plötzlich um eine Ecke biegend, mit einem Stoß vor dem alten Gefängnistor stehen könnte.

Nichts zu arbeiten zu haben war seltsam, aber nicht halb so seltsam, als in einer Ecke zu sitzen, wo sie für niemanden zu denken, nichts auszusinnen und auszurichten, keine Sorgen von andern auf sich zu übernehmen hatte. Seltsam wie das war, war es doch noch weit seltsamer, einen Raum zwischen sich und dem Vater zu sehen, wo andere sich damit beschäftigten, für ihn zu sorgen und wo man sie gar nicht erwartete. Anfangs war dies mit ihrer alten Erfahrung so widerstreitend, mehr noch als die Berge, daß sie außerstande gewesen war, darauf zu verzichten, und versucht hatte, ihren alten Platz neben ihm zu behaupten. Aber er hatte allein mit ihr gesprochen und ihr gesagt: daß Leute – ha – Leute in einer höheren Stellung ängstlich gewissenhaft von ihren Untergebenen Respekt verlangen müßten; und daß es für sie, seine Tochter, Miß Amy Dorrit, von der einzig noch existierenden Linie der Dorrits von Dorsetshire, unvereinbar mit jener Stellung wäre, dafür zu gelten, daß sie die Funktionen – ha – eines Kammerdieners versehe. Deshalb müsse er ihr seine väterliche – hm – streng verschärfte Mahnung erteilen, sich zu erinnern, daß sie eine Dame, die sich nun mit – hm – dem gebührenden Stolz zu benehmen und den Rang einer Dame aufrechtzuerhalten habe. Deshalb fordre er von ihr, daß sie sich solchen Tuns enthalte – ha –, das unangenehme und nachteilige Bemerkungen hervorrufen könnte. Sie hatte ohne Murren auf sein Wort gehorcht. Es war dahin gekommen, daß sie jetzt in einer Ecke des üppigen Wagens, die kleinen Hände vor sich faltend, saß, selbst von dem äußersten Punkt ihres früheren Platzes weggerückt, den ihr Fuß aufzugeben lange gezögert hatte.

Von dieser Stellung aus erschien ihr alles, was sie sah, traumhaft! je überraschender die Szenen, desto mehr glichen sie der Traumhaftigkeit ihres eignen innern Lebens, durch dessen öde Räume sie den ganzen Tag schritt. Die Abgründe des Simplon, seine ungeheuren Tiefen und donnernden Wasserfälle, der herrliche Weg, die gefährlichen Punkte, wo ein loses Rad oder ein strauchelndes Pferd den Untergang brachte, das Hinabsteigen nach Italien, das Aufgehen des schönen Landes, als die rauhe Bergschlucht sich erweiterte und sie aus dem düstern und dunkeln Gefängnis herausließ – alles war ein Traum – nur das alte elende Marschallgefängnis eine Wirklichkeit. Ja, selbst das alte elende Marschallgefängnis war bis auf den Grund niedergerissen, wenn sie es sich ohne ihren Vater malte. Sie konnte kaum glauben, daß die Gefangenen noch in dem engen Hofe weilten, daß die elenden Räume noch immer alle besetzt waren und daß der Schließer noch immer in dem Pförtnerstübchen stehe und die Leute aus- und einlasse – alles, wie sie wohl wußte, daß es noch war.

Mit einer Erinnerung an ihres Vaters altes Leben im Gefängnis, die schwer wie eine traurige Weise auf ihr lastete, erwachte Klein-Dorrit gewöhnlich aus einem Traum von ihrem Geburtsort zu dem Traum eines ganzen Tages. Das gemalte Zimmer, in dem sie erwachte, oft ein ehemaliges Prunkzimmer in einem verfallenen Palaste, eröffnete diesen Traum; wildes rotes Herbstweinlaub hing über die Fenster herab, Orangenbäume standen auf der zerrissenen weißen Terrasse vor dem Fenster, eine Gruppe von Mönchen und Bauern ging durch die Straße einher. Elend und Pracht stritten sich auf jedem Fleck Erde, gleichviel unter welcher Gestalt, rings umher um den Vorrang, und das Elend warf die Pracht mit der Stärke des Schicksals zu Boden. Diesem Eingang folgte ein Labyrinth von kahlen Gängen und pfeilertragenden Galerien, während die Familienprozession sich bereits in dem viereckigen Hof zur Abfahrt rüstete, nachdem die Wagen und das Gepäck für die Tagreise von den Dienern zusammengebracht worden. Dann das Frühstück in einem andern gemalten Zimmer, mit feuchten Flecken und von traurigem Aussehen; und dann die Abreise, die für ihre Schüchternheit und das Gefühl, nicht vornehm genug für ihren Platz bei den Zeremonien zu sein, immer eine unbehagliche Sache war. Denn dann erschien der Kurier (der ein Fremder von hoher Auszeichnung im Marschallgefängnis gewesen wäre), um anzuzeigen, daß alles in Bereitschaft sei. Dann hüllte ihres Vaters Kammerdiener ihn mit großem Pomp in seinen Reiserock; dann bedienten sie Fannys Mädchen und ihr eigenes Mädchen (die für Klein-Dorrit eine schwere Last war, sie weinte anfangs über sie, da sie gar nicht wußte, was mit ihr anfangen); dann vollendete ihres Bruders Diener den Anzug seines Herrn; dann gab ihr Vater Mrs. General den Arm, und ihr Onkel gab ihr den seinen, und begleitet von dem Wirt und der Dienerschaft des Hotels rauschten sie die Treppe hinab. Dort war gewöhnlich eine Masse Menschen versammelt, um sie einsteigen zu sehen, was sie dann auch unter vielem Verbeugen, Bitten, Pferdebäumen, Knallen und Knarren taten; und dann ging’s toll durch die engen, übelriechenden Straßen und zum Stadttor hinaus.

Unter den Traumerscheinungen des Tages waren gewöhnlich Wege, wo das glänzend rote Weinlaub sich wie Girlanden meilenlang an den Bäumen hinzog: Olivenwälder, weiße Dörfer und Städte an Hügel gelehnt, lieblich von außen, aber schrecklich in ihrem Schmutz und ihrer Armut im Innern; Kreuze am Wege; tiefblaue Seen mit schönen Inseln und Gruppen von Booten mit Zelten von glänzenden Farben und Segeln von schönen Formen; massenhafte Gebäude, die in Staub zerfielen; hängende Gärten, wo das wuchernde Gestrüpp so stark geworden, daß seine Stämme wie eingetriebene Keile die Bogen gesprengt und die Mauer zerrissen hatten; steinerne terrassenförmige Gänge, wo die Eidechsen in und aus allen Ritzen krochen; Bettler von allen Arten und überall; bemitleidenswert, malerisch, hungrig, lustig; Bettelkinder und alte Bettler. Oft erschienen ihr an Posthäusern und andern Haltplätzen diese elenden Geschöpfe das einzige Wirkliche des Tages, und manchmal, wenn das Geld, das sie mitgebracht hatten, um es ihnen zu geben, alles verschenkt war, saß sie mit gefalteten Händen gedankenvoll da, nach einem winzig kleinen Mädchen hinblickend, das seinen greisen Vater führte, als wenn dieser Anblick sie an etwas aus längst vergangenen Tagen erinnerte.

Dann gab es wieder Orte, wo sie die ganze Woche in glänzenden Zimmern zusammenwohnten, jeden Tag Gastmähler hatten, unter Haufen von Wundern ausfuhren, zwischen Meilen von Palästen hingingen und in dunkeln Winkeln von großen Kirchen weilten; wo es blinkende Lampen von Gold und Silber zwischen Pfeilern und Bogen gab, kniende Gestalten in der Nähe von Beichtstühlen und auf dem Pflaster umherschwärmten: wo Dampf und Geruch von Weihrauch webte: wo man Gemälde, phantastische Bilder, festlich geschmückte Altäre, große Höhen und Entfernungen sah, alles durch buntes Glas sanft beleuchtet und die massiven Vorhänge, die an den Türen hingen. Von den Städten kamen sie wieder auf Wegen mit Wein und Oliven durch schmutzige Dörfer, wo keine Hütte war ohne ein Loch in der trüben Wand, kein Fenster mit einem ganzen Zoll Glas oder Papier; wo nichts zu sein schien, was das Leben erträglich machte, nichts zu essen, nichts zu tun, nichts zu schaffen, nichts zu hoffen, wo man nichts tun konnte als sterben.

Dann kamen sie wieder in ganze Städte von Palästen, deren rechtmäßige Einwohner alle verbannt, und die alle in Kasernen verwandelt waren; Scharen von müßigen Soldaten lehnten aus den Staatsfenstern, wo ihre Ausrüstung an der marmornen Architektur zum Trocknen aufgehängt war. Die Soldaten sahen wie Heere von Ratten aus, die (glücklicherweise) die Stützen der Gebäude wegfraßen, die bald mit ihnen über die Häupter der andern Schwärme von Soldaten, und der Schwärme von Priestern, und der Schwärme von Spionen noch, die die unheimliche Bevölkerung bildeten und sich, dem Untergang verfallen, in den Straßen unten umhertrieben, hereinbrechen mußten.

Durch solche Szenen bewegte sich die Reisegesellschaft bis nach Venedig. Hier zerstreute sie sich für einige Zeit, da sie in Venedig einige Monate bleiben wollte, in einem Palast (der sechsmal so groß war wie das ganze Marschallgebäude) am Canal Grande.

In diesem alles Frühere krönenden Traum, wo alle Straßen mit Wasser gepflastert waren und die Totenstille bei Tag und Nacht nur durch das dumpfe Läuten der Kirchenglocken, das Rauschen des Wassers und den Ruf der Gondoliere unterbrochen wurde, die um die Ecken der fließenden Straßen bogen, saß Klein-Dorrit, ganz in Gedanken versunken, da ihre Arbeit getan war, und sinnend da. Die Familie begann ein heiteres Leben, ging da und dorthin und verwandelte Nacht in Tag; aber sie scheute sich, an ihren Freuden teilzunehmen, und verlangte nur, allein bleiben zu dürfen.

Bisweilen stieg sie auch in eine der Gondeln, die immer in Bereitschaft standen und an gemalte Pfosten vor der Tür angelegt waren, – wenn sie sich von der aufdringlichen Bedienung ihres Kammermädchens, die mehr ihre Herrin, und zwar eine sehr harte, war, losmachen konnte – und ließ sich durch die ganze seltsame Stadt fahren. Gesellschaften in andern Gondeln begannen einander zu fragen, wer das kleine einsame Mädchen sei, an dem sie vorüberkamen, und das mit gefalteten Händen in ihrem Boote sitze und so nachdenklich und staunend umherblicke. Nicht entfernt ahnend, daß es irgend jemand für der Mühe wert halte, von ihrem Tun Notiz zu nehmen fuhr Klein-Dorrit in ihrer ruhigen, schüchternen, in sich gekehrten Weise in der Stadt umher. Aber ihr Lieblingsplätzchen war der Balkon ihres Zimmers, der auf den Kanal hinausging, mit andern Balkonen darunter und keinem darüber. Er war massiv von Stein, durch die Zeit geschwärzt und von jener wunderlich phantastischen Bauart, die vom Osten mit andern wunderlich phantastischen Dingen herüberkam; und Klein-Dorrit sah wirklich sehr klein aus, wenn sie sich über das breite Geländer hinauslehnte und hinabschaute. Da sie namentlich abends keinen Ort so sehr liebte wie den Balkon, so fiel sie bald auf, und manche Augen in den vorüberfahrendcn Gondeln erhoben sich zu ihr und manche Leute sagten: »Da ist wieder die kleine Gestalt der jungen Engländerin, die immer allein ist.«

Solche Leute waren für die kleine Gestalt der jungen Engländerin keine wirklichen Personen; sie waren ihr ja alle unbekannt. Sie beobachtete den Sonnenuntergang mit seinen langen purpurnen und roten Linien, seinem Flammenbrand, der hoch in die Wolken schlug und die Gebäude mit solcher Glut, ihre Struktur mit solchem Licht übergoß, daß es aussah, als wenn die dicken Wände durchsichtig und von innen erhellt wären. Sie sah, wie diese Pracht unterging; und dann, wenn sie einige Zeit auf die schwarzen Gondeln unten hinabgeblickt, die Gäste zu Musik und Tanz führten, erhob sie die Augen zu den leuchtenden Sternen. War nicht in ihrem eignen früheren Leben eine Gesellschaft, auf die die Sterne schienen? Oh, an jenes alte Tor jetzt zu denken!

Sie dachte dann gewöhnlich an jenes alte Tor, und wie sie dort gesessen in der Totenstille der Nacht, Maggys Haupt als Kopfkissen dienend; und an andre Plätze und andre Szenen, deren Erinnerung sich an jene vergangene Zeiten knüpfte. Und dann lehnte sie sich an den Balkon und sah darüber hinaus auf das Wasser, als wenn das alles unten vor ihr läge. Wenn sie so weit gekommen, schaute sie sinnend auf die Strömung, als wenn sie, in der allgemeinen Vision, austrocknen und ihr das Gefängnis und sie selbst und das alte Zimmer und die alten Insassen und die alten Besuche zeigen würde: lauter dauernde Wirklichkeiten, die sich nicht verändert hatten.

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Abschließen.

Der letzte Tag der erwähnten Woche beschien die Riegel des Marschallgefängnistores. Die eisernen Bänder, die die ganze Nacht, seit das Tor hinter Klein-Dorrit ins Schloß gefallen war, schwarz ausgesehen, verwandelten sich im Glanze der frühen Morgensonne in goldene Bänder. Quer über die Stadt, über ihre wirren Dächer, durch die offene Ornamentik ihrer Kirchtürme schlugen die langen glänzenden Sonnenstrahlen die Riegel des Gefängnisses dieser niederen Welt.

Den ganzen Tag blieb das alte Haus hinter dem Torweg von Besuchen verschont. Als die Sonne jedoch herabsank, traten drei Männer in den Torweg und schritten auf das verwitterte Haus zu.

Rigaud war der erste und ging rauchend allein. Mr. Baptist war der zweite und schlenderte, nicht rechts, nicht links blickend, hinter ihm drein. Mr. Pancks war der dritte; er trug seinen Hut unter dem Arm, um sein starres Haar frei emporstehen zu lassen, da das Wetter außerordentlich heiß war. Sie kamen alle an der Haustreppe zusammen.

»Ihr beiden Verrückten!« sagte Rigaud, indem er sich umsah. »Geht noch nicht!«

»Das ist auch nicht unsere Absicht«, sagte Mr. Pancks.

Rigaud pochte laut, indem er ihm einen finstern Blick als Anerkennung seiner Antwort zuwarf. Er hatte sich etwas angetrunken, um sein Spiel auszuspielen, und harrte ungeduldig auf den Beginn. Er hatte kaum einmal gepocht, daß es lang nachtönte, als er wieder nach dem Klöpfel griff und zum zweitenmal pochte. Dies war noch nicht zu Ende, als Jeremiah Flintwinch die Tür öffnete und sie alle in die steinerne Halle hineinstürmten. Rigaud stieß Mr. Flintwinch auf die Seite und eilte die Treppe hinauf. Seine beiden Gefährten folgten ihm, Mr. Flintwinch diesen, und zuletzt traten sie alle hastig in das stille Zimmer von Mrs. Clennam. Es befand sich in seinem gewöhnlichen Zustand, nur daß eines von den Fenstern weit offen war. Affery saß auf ihrem altvaterischen Fenstersitz und stopfte einen Strumpf. Die gewöhnlichen Gegenstände befanden sich auf dem kleinen Tisch: das gewöhnliche herabgebrannte Feuer flackerte auf dem Kaminrost; auf dem Bette lag das gewöhnliche Bahrtuch: und die Herrin von alledem saß auf ihrem schwarzen bahrenartigen Sofa und stützte sich auf das schwarze eckige Polster, das wie der Block des Henkers aussah.

Und doch war eine unbeschreiblich eigentümliche Luft in dem Zimmer, als wenn sie für eine besondere Gelegenheit gespannt wäre. Woher das kam – da jeder kleine Gegenstand den Platz einnahm, den er seit Jahren eingenommen – konnte niemand sagen, wenn er die Herrin nicht aufmerksam beobachtet hätte, und zwar überdies ausgerüstet mit einer genauen Kenntnis des Gesichts, wie es früher war. Obgleich ihr unveränderliches schwarzes Kleid in jeder Falte noch wie früher lag und ihre unveränderliche Haltung streng beibehalten war, trat ein neuer, an sich unbedeutender Zug in ihrem Gesicht und eine Zusammenziehung der düstern Stirn so scharf hervor, daß dieser Ausdruck sich gleichsam der ganzen Umgebung mitteilte.

»Wer ist das?« sagte sie erstaunt, als die beiden Gefährten eintraten. »Was wollen diese Leute hier?«

»Wer dies sei, verehrte Frau?« versetzte Rigaud. »Nun, das sind Freunde Ihres gefangensitzenden Sohnes. Und was sie wollen, fragen Sie? Zum Teufel, Madame, ich weiß es nicht. Sie werden am besten tun, wenn Sie sie fragen.«

»Sie wissen, Sie sagten uns an der Tür unten, wir sollten noch nicht gehen«, warf Pancks ein.

»Und Sie wissen, Sie sagten mir an der Tür, es sei auch nicht Ihre Absicht zu gehen«, versetzte Rigaud. »Mit einem Worte, Madame, erlauben Sie mir, Ihnen zwei Spione des Gefangenen – verrückte Menschen, aber Spione – vorzustellen. Wenn Sie wünschen, daß sie während unserer kurzen Verhandlung hierbleiben sollen, so sagen Sie es. Es gilt mir gleich.«

»Warum sollte ich wünschen, daß sie hierbleiben?« sagte Mrs. Clennam. »Was habe ich mit ihnen zu schaffen?«

»Dann, teuerste Frau«, sagte Rigaud, indem er so schwer in einen Armstuhl niederfiel, daß das alte Zimmer zitterte, »dann werden Sie gut daran tun, wenn Sie sie entlassen. Es ist Ihre Sache. Sie sind nicht meine Spione, nicht meine Spitzbuben.«

»Hören Sie, Mr. Pancks«, sagte Mrs. Clennam, indem sie zornig die Augenbrauen gegen ihn senkte. »Sie Buchhalter von Casby! Gehen Sie Ihres Prinzipals und Ihren eigenen Geschäften nach. Gehen Sie. Und nehmen Sie den andern Mann mit sich.«

»Danke, Madame«, versetzte Mr. Pancks, »ich freue mich, sagen zu können, ich finde kein Hindernis für unsern Weggang mehr. Wir haben getan, was wir für Mr. Clennam zu tun uns verpflichteten. Seine beständige Sorge (die ihn noch mehr drückte, als er Gefangener wurde) war die, daß dieser angenehme Mensch hierhergebracht werde, an den Ort, von dem er verschwunden ist. Hier ist er nun – wir haben ihn zurückgebracht. Und ich sage es ihm in sein häßliches Gesicht«, fügte Mr. Pancks hinzu, »daß meiner Ansicht nach die Welt ebensogut bestehen könnte, wenn er ganz aus ihr verschwände.«

»Sie werden nicht nach Ihrer Ansicht gefragt«, antwortete Mrs. Clennam. »Gehen Sie.«

»Ich bedauere, Sie nicht in besserer Gesellschaft lassen zu können«, sagte Pancks, »und bedauere außerdem, daß Mr. Clennam nicht zugegen sein kann. Es ist meine Schuld, daß dies der Fall ist.«

»Sie meinen, seine eigene?« versetzte sie.

»Nein, ich meine, die meinige, Madame«, sagte Pancks, »denn es war mein Unglück, daß ich ihn zu dieser verderblichen Geldanlage veranlaßte.« (Mr. Clennam hielt immer noch an diesem Worte fest und sagte nie Spekulation.) »Obgleich ich durch Zahlen beweisen kann«, fügte Mr. Pancks mit kummervollem Ausdruck des Gesichts hinzu, »daß es eigentlich aller Berechnung nach eine günstige Geldanlage hätte sein sollen. Ich habe die Sache, seitdem sie fehlgeschlagen ist, Tag für Tag berechnet und wieder berechnet, und sie geht immer – als Zahlenfrage betrachtet – siegreich aus der Berechnung hervor. Hier ist nicht Zeit und Ort«, fuhr Mr. Pancks mit einem sehnsüchtigen Blick in seinen Hut fort, in dem seine Berechnungen lagen, »um auf Zahlen einzugehen, aber die Zahlen lassen sich nicht bestreiten. Mr. Clennam müßte jetzt in seinem Wagen mit zwei Pferden sitzen, und ich müßte drei- bis fünftausend Pfund verdient haben.«

Mr. Pancks strich sein Haar mit einem Ausdruck der Zuversichtlichkeit, der kaum hätte intensiver sein können, wenn er jenes Geld in der Tasche gehabt hätte, in die Höhe. Diese unwiderleglichen Zahlen waren die Beschäftigung jedes freien Augenblicks gewesen, seit er sein Geld verloren, und sollten ihn bis an das Ende seiner Tage trösten.

»Genug jedoch davon«, sagte Mr. Pancks. »Altro, alter Junge. Sie haben die Zahlen gesehen und Sie wissen, wie sie herauskommen.« Mr. Baptist, der nicht das geringste Rechentalent besaß, sich in solcher Weise zu entschädigen, nickte und zeigte, dabei die glänzendsten Zähne.

Mr. Flintwinch hatte ihn inzwischen angesehen und sagte jetzt zu ihm:

»Oh! Sind Sie es? Ich dachte, ich erinnerte mich Ihres Gesichts, aber ich war meiner Sache nicht gewiß, bis ich Ihre Zähne sah. Ah! ja, Sie sind’s. Dieser dienstfertige Flüchtling war es«, sagte Jeremiah zu Mrs. Clennam, »der an die Tür pochte in der Nacht, als Arthur und Chatterbox hier waren, und der einen ganzen Katechismus von Fragen wegen Mr. Blandois an mich richtete.«

»Das ist wahr«, bestätigte Baptist freundlich. »Und sehen Sie nun, Padron! Ich habe ihn daraufhin wirklich gefunden.«

»Ich hätte nichts dagegen gehabt«, versetzte Mr. Flintwinch, »wenn Sie daraufhin wirklich den Hals gebrochen hätten.« »Und jetzt«, sagte Mr. Pancks, dessen Auge oft verstohlen nach dem Fenstersitz und dem Strumpf hinübergeblickt hatte, der dort gestopft wurde, »jetzt habe ich nur ein Wort zu sagen, ehe ich gehe. Wenn Mr. Clennam hier wäre – aber unglücklicherweise, obgleich er diesem Herrn so weit zuvorgekommen, daß er ihn wider Willen an diesen Ort schaffte, ist er krank und im Gefängnis – krank und im Gefängnis, der arme Junge – wenn er hier wäre«, sagte Mr. Pancks, indem er einen Schritt seitwärts nach dem Fenstersitz machte und seine rechte Hand auf den Strumpf legte, »würde er sagen: ›Affery, erzählen Sie Ihre Träume!‹«

Mr. Pancks hielt seinen rechten Zeigefinger zwischen seine Nase und den Strumpf, mit dem gespenstischen Ausdruck der Mahnung, drehte sich um, dampfte hinaus und nahm Mr. Baptist ins Schlepptau. Man hörte die Haustür hinter ihnen ins Schloß fallen, hörte ihre Tritte auf dem dumpfen Pflaster des hallenden Hofes, und noch hatte niemand ein Wort gesprochen, Mrs. Clennam und Jeremiah hatten einen Blick gewechselt und sahen dann unverrückt auf Affery, die eifrig mit dem Stopfen des Strumpfes beschäftigt dasaß.

»Nun!« sagte Mr. Flintwinch endlich, indem er sich um ein bis zwei Kurven nach dem Fenstersitz zu höherschraubte und sich die Hände an seinem Frackflügel rieb, als wenn er sich etwas mit ihnen zu unternehmen rüstete: »Es wäre besser, wenn wir mit dem, was unter uns zu verhandeln ist, sogleich begännen, ohne weiter Zeit zu verlieren. Affery, Frau, mache, daß du fortkommst!«

In einem Augenblick hatte Affery den Strumpf beiseite gelegt, war aufgesprungen, hatte die Fensterbank mit der rechten Hand angefaßt, das rechte Knie auf den Fenstersitz gestemmt und schwang nun die linke Hand, um den erwarteten Angriff abzuwehren.

»Nein, ich will nicht, Jeremiah – nein, ich will nicht – nein, ich will nicht! Ich will nicht gehen, ich will hierbleiben. Ich will alles hören, was ich noch nicht weiß, und alles sagen, was ich weiß. Ich will’s, wenn ich darum stürbe! Ich will’s, ich will’s, ich will’s, ich will’s!«

Mr. Flintwinch, der vor Staunen und Entrüstung ganz starr war, befeuchtete die Finger der einen Hand an seinen Lippen, beschrieb mit ihnen einen Kreis im Innern der andern Hand und bewegte sich mit einem drohenden Grinsen auf seine Frau zu, indem er eine Bemerkung hervorjapste, von der in seinem heftigen Zorn nur die Worte: »Solch eine Dosis!« vernehmbar waren.

»Nicht einen Schritt näher, Jeremiah!« rief Affery, die nicht aufhörte, in der Luft umherzufahren. »Nicht einen Schritt näher, oder ich rufe die Nachbarschaft herbei! Ich springe zum Fenster hinaus! Ich schreie Feuer und Mord! Ich wecke die Toten auf! Bleib, wo du bist, oder ich schreie so laut, daß die Toten aufwachen!«

Die entschiedene Stimme von Mrs. Clennam rief: »Halt!« Jeremiah hatte bereits innegehalten. »Es ist gut, Flintwinch. Lassen Sie sie gehen. Affery, empörst du dich nach so vielen Jahren gegen mich!«

»Ja, wenn das Empörung heißt, zu hören, was ich nicht weiß, und zu sagen, was ich weiß. Ich habe nun einmal begonnen und kann nicht zurückgehen. Ich bin entschlossen, die Sache durchzuführen. Ich will es durchführen, ich will, ich will, ich will! Wenn das Empörung heißt, ja: ich empöre mich gegen die beiden Gescheiten. Ich sagte Arthur, als er in die Heimat zurückkehrte, er solle gegen Sie auftreten. Ich sagte ihm, wenn ich mich meines Lebens bei Ihnen fürchte, so sei das kein Grund für ihn. Alle möglichen Dinge sind seitdem geschehen, und ich will nicht, daß mich Jeremiah zu Boden schmettert, noch die Augen mir ausreißt, noch mich schreckt, noch mich zu irgend etwas mißbraucht. Ich will es nicht, ich will es nicht, ich will es nicht! Ich will für Arthur auftreten, solange er nichts hat und krank ist und gefangensitzt und nicht selbst für sich eintreten kann. Ich will, ich will, ich will, ich will!«

»Wie kannst du wissen, du Haufen von Konfusion«, fragte Mrs. Clennam streng, »daß du durch die Art, wie du verfährst, Arthur auch wirklich dienst?«

»Ich weiß nichts ganz gewiß«, sagte Affery; »und wenn Sie je ein wahres Wort in Ihrem ganzen Leben gesprochen, so ist es das, daß Sie mich einen Haufen Konfusion heißen, denn Sie beide Gescheite haben Ihr möglichstes getan, um mich dazu zu machen. Sie haben mich verheiratet, ob ich wollte oder nicht, und haben mich recht hübsch seit dieser Zeit in einem Traum und in einer Furcht erhalten, wie solche bis jetzt unerhört war. Was können Sie anderes von mir erwarten, als daß ich ein Haufen Konfusion bin? Sie wollten mich zu einem solchen machen, und es ist Ihnen gelungen; aber ich will nicht länger die Unterwürfige spielen; nein, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht!« Sie schlug immer noch in der Luft herum, um jede Annäherung unmöglich zu machen.

Nachdem sie sie schweigend angesehen hatte, wandte sich Mrs. Clennam an Rigaud. »Sie sehen und hören dieses törichte Geschöpf. Haben Sie etwas dagegen, daß eine solche verwirrte Person bleibt, wo sie ist?«

»Ich, Madame?« versetzte er. »Ich? Das ist Ihre Sache.«

»Ich habe nichts dagegen«, sagte sie finster. »Es bleibt wenig anderes übrig. Flintwinch, die Sache drängt.«

Mr. Flintwinch antwortete, indem er einen Blick furchtbarer Rache auf seine Frau warf und, wie um sich zu halten, damit er nicht auf sie losfahre, seine verschränkten Arme in die Brust seiner Weste steckte und, sein Kinn ganz nahe an den Ellbogen, in einer Ecke stand, indem er Rigaud so in der wunderlichsten Stellung beobachtete. Rigaud dagegen stand auf aus seinem Stuhl und setzte sich auf den Tisch, indem er die Füße baumeln ließ. In dieser bequemen Stellung sah er in Mrs. Clennams gesetztes Gesicht, während sein Bart sich bäumte und seine Nase darüber herabkam. »Madame, ich bin ein Gentleman –«

»Von dem«, unterbrach sie ihn in ihrem gemessenen Ton, »von dem ich entehrende Dinge wie Gefangenschaft in Frankreich und Anklage auf Mord vernommen.«

Er warf ihr mit übertriebener Galanterie eine Kußhand zu. »Ganz richtig. Genau so war es. Und noch dazu an einer Dame! Welche Abgeschmacktheit! Wie unglaublich! Ich hatte damals die Ehre, mich großen Erfolgs rühmen zu können: ich hoffe, daß dies jetzt wieder der Fall sein wird. Ich küsse Ihnen die Hand, Madame. Ich bin ein Gentleman (wollt‘ ich bemerken), der, wenn er sagt: ›Ich will diese oder jene Angelegenheit in dieser Sitzung zum Abschluß bringen‹, sie auch wirklich zum Abschluß bringt. Ich erkläre Ihnen, daß wir heute unsere letzte Sitzung wegen unseres kleinen Geschäfts halten. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«

Sie heftete ihre Augen auf ihn, während sich ihre Stirn runzelte, und sagte: »Ja«.

»Ferner bin ich ein Gentleman, der mit dem rein kaufmännischen Geschäftsbetrieb nicht vertraut ist, der aber immerhin Sinn für das Geld hat, da es ihm die Mittel bietet, sich Vergnügen zu verschaffen. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«

»Kaum nötig zu fragen, möchte man sagen. Ja.«

»Ferner bin ich ein Gentleman von der sanftesten und zartesten Gemütsart, der jedoch, wenn man seinen Spaß mit ihm treiben will, wütend wird. Edle Naturen werden in solchen Fällen immer wütend. Ich besitze eine edle Natur. Wenn der Löwe gereizt ist – das heißt, wenn ich wütend werde –, so liegt mir die Befriedigung meines Rachedurstes so sehr am Herzen wie das Geld. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«

»Ja«, antwortete sie etwas lauter als früher.

»Lassen Sie sich nicht durch mich aus Ihrer Ruhe bringen, bitte, verhalten Sie sich ganz ruhig. Ich sagte, wir seien jetzt zu unserer letzten Sitzung gekommen. Erlauben Sie mir, die beiden früheren Sitzungen kurz zu vergegenwärtigen.«

»Es ist nicht nötig.«

»Tod und Teufel, Madame«, brach er los, »ich will aber! Außerdem ebnet es den Weg. Die erste Sitzung war sehr beschränkt. Ich hatte die Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen – meine Briefe zu übergeben; ich bin ein Industrieritter, wenn Sie wollen, Madame, aber meine feinen Manieren hatten mir, der vieler Sprachen mächtig ist, unter Ihren Landsleuten, die so steif sind wie ihre gegenseitige Steifheit, gegenüber einem Fremden von feinen Manieren jedoch gern etwas ungezwungener werden, mir so viel Erfolge verschafft und mich zwei bis drei Kleinigkeiten in diesem ehrenwerten Hause herausfinden lassen«, – er blickte im Zimmer umher und lächelte – »daß ich wußte, was nötig war, um mich zu vergewissern und zu überzeugen, daß ich das ausgezeichnete Vergnügen habe, die Bekanntschaft der Dame zu machen, die ich suchte. Dies gelang mir. Ich gab unserm teuren Flintwinch mein Ehrenwort, daß ich zurückkehren wolle. Ich reiste gnädigst ab.«

Sie gab weder ihre Zustimmung zu erkennen, noch machte sie Einwendungen. Er mochte innehalten oder sprechen, ihr Gesicht zeigte ihm immer dieselbe aufmerksame gerunzelte Stirn und machte den früher erwähnten Eindruck auf ihn, daß sie alle ihre Kraft für die Verhandlung zusammengenommen.

»Ich sage, ich reiste gnädigst ab, weil es gnädig war, wegzugehen, ohne eine Dame in Aufruhr zu bringen. Moralisch gnädig zu sein, nicht weniger denn physisch, ist eine Eigenschaft des Charakters von Rigaud Blandois. Auch war es schlau: da ich Sie verließ, während über Ihnen eine Gefahr schwebte, mußten Sie mich ja an irgendeinem Tag mit einiger Angst erwarten. Aber Ihr Sklave ist schlau. Beim Himmel, Madame, schlau! Kehren wir zur Sache zurück. An jenem unbestimmten Tage habe ich wieder die Ehre, mich nach Ihrer Wohnung zu begeben. Ich gebe zu verstehen, daß ich etwas zu verkaufen habe, das, wenn es nicht gekauft wird, die Dame, die ich so hoch schätze, kompromittieren muß. Ich erkläre mich im allgemeinen. Ich verlange – ich glaube, es waren tausend Pfund. Wollen Sie mich berichtigen?«

So zu sprechen genötigt, antwortete sie mit einigem Zwang: »Sie verlangten tausend Pfund.«

»Jetzt verlange ich zweitausend. Das sind die üblen Folgen des Zögerns. Aber noch einmal darauf zurückzukommen. Wir sind nicht eines Sinnes in dieser Sache; wir differieren. Ich scherze gern; Scherz ist eine Eigenschaft meines liebenswürdigen Charakters. Im Scherz gesprochen, mir wird wie einem zumute, der ermordet und versteckt worden ist. Denn es mag für Madame nur die halbe Summe wert sein, von dem Verdacht, den mein drolliger Gedanke erweckt, gereinigt zu werden. Zufall und Spione mischen sich darein, verderben meinen Scherz und verderben die Frucht, vielleicht – wer weiß? nur Sie und Flintwinch – gerade, wenn sie reif ist. Deshalb, Madame, bin ich zum letzten Male hier. Hören Sie! Entschieden zum letzten Male!«

Während er mit seinen schlenkernden Stiefelabsätzen an die Klappe des Tisches schlug und ihrem finsteren Gesicht mit einem unverschämten Blick begegnete, begann er einen stolzeren Ton anzuschlagen.

»Bah! Warten Sie einen Augenblick! Lassen Sie uns Schritt für Schritt vorgehen. Hier ist meine Wirtshausrechnung, die vertragsmäßig bezahlt werden muß. Fünf Minuten später sind wir vielleicht im bittersten Streite begriffen. Ich will es nicht bis dahin anstehen lassen. Sie möchten mich sonst darum betrügen. Bezahlen Sie die Rechnung. Zählen Sie mir das Geld vor.«

»Nehmen Sie sie aus seiner Hand und bezahlen Sie, Flintwinch«, sagte Mrs. Clennam. Er warf sie Mr. Flintwinch ins Gesicht, als der alte Mann näher trat, um sie in Empfang zu nehmen: dann streckte er seine Hand aus und wiederholte geräuschvoll: »Bezahlen Sie! Geben Sie das Geld! Gutes Geld!«

Jeremiah hob die Rechnung auf, sah mit blutunterlaufenem Auge nach der Summe, nahm einen kleinen Kanevasbeutel aus der Tasche und zahlte ihm den Betrag in die Hand.

Rigaud klimperte mit dem Geld, wog es in seiner Hand, warf es etwas in die Höhe, fing es wieder auf und klimperte noch einmal.

»Der Klang dieses Geldes ist für den kühnen Rigaud Blandois wie der Genuß von frischem Fleisch für den Tiger, So sagen Sie denn, Madame. Wieviel?«

Er drehte sich rasch mit einer drohenden Bewegung der vollen Hand, die das Geld einschloß, nach ihr um, als ob er die Absicht hätte, sie damit zu schlagen.

»Ich sage Ihnen noch einmal, wie ich Ihnen früher schon sagte, daß wir hier nicht so reich sind, wie Sie wohl von uns vermuten, und daß Ihr Verlangen unmäßig ist. Ich habe die Mittel nicht gegenwärtig, um einem solchen Verlangen zu genügen, selbst wenn ich es zu erfüllen auch noch so geneigt wäre.«

»Wenn!« rief Blandois. »Hört diese Dame mit ihrem ›Wenn‹! Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht dazu geneigt sind?«

»Ich will sagen, wie die Sache sich mir darstellt, nicht wie Ihnen.«

»So sagen Sie denn, ob Sie geneigt sind. Rasch. Kommen Sie zu dem Punkt, ob Sie geneigt sind, und ich weiß, was zu tun ist.«

Sie antwortete nicht rascher und nicht langsamer. »Es scheint, Sie seien in den Besitz eines Papiers – oder mehrerer Papiere – gekommen, die ich allerdings wieder an mich zu bringen geneigt bin.«

Rigaud trommelte laut lachend mit den Absätzen an dem Tisch und klimperte mit seinem Geld. »Ich denke wohl! Ich glaube, daß das Ihre Absicht ist.«

»Das Papier mag für mich eine Summe Geldes wert sein, ich kann nicht sagen, wieviel oder wie wenig.«

»Was zum Teufel?« fragte er wild. »Nicht mal, nachdem ich Ihnen eine Woche Bedenkzeit gegeben?«

»Nein! Ich werde nicht aus meinen schwachen Mitteln – denn ich sage Ihnen noch einmal, wir sind hier arm und nicht reich – Ihnen einen Preis für eine Macht bestimmen, deren volle und schlimmste Tragkraft ich nicht kenne. Es ist zum dritten Male, daß Sie bloß andeuten und drohen. Sie müssen sich genau erklären, oder Sie mögen gehen, wohin Sie wollen, und tun, was Sie wollen. Es ist besser, auf einmal zerrissen zu werden, als die Maus für die Laune einer solchen Katze zu sein.«

Er sah sie mit seinen Augen, die viel zu nahe beieinander standen, so gefühllos an, daß der unheimliche Blick des einen, der sich mit dem des andern kreuzte, die Brücke seiner gebogenen Nase zu verschieben schien. Nachdem er sie lange angesehen hatte, sagte er, sein höllisches Lächeln fortsetzend:

»Sie sind eine kühne Frau!«

»Ich bin eine entschlossene Frau.«

»Das waren Sie immer. Wie? Das war sie immer; nicht wahr, mein kleiner Flintwinch?«

»Flintwinch, sprechen Sie nichts mit ihm. Es ist an ihm, hier und jetzt alles zu sagen, was er sagen kann; oder er mag fortgehen und tun, was er kann. Sie wissen, daß das unser Entschluß ist. Lassen Sie ihn nun tun, was ihm beliebt.«

Sie wich seinem scheelen Blick nicht aus und vermied ihn nicht. Er richtete ihn wieder auf sie, aber sie blieb unverwandt in der Stellung, die sie einmal gewählt. Er verließ den Tisch, stellte einen Stuhl an das Sofa, setzte sich darein und lehnte den Arm auf jenes, dicht neben den ihren, den er mit seiner Hand berührte; ihr Gesicht war immer finster, aufmerksam und ruhig.

»Es ist also Ihr Wunsch, Madame, daß ich ein Stück Familiengeschichte in dieser kleinen Familienversammlung erzähle«, sagte Rigaud, mit einer warnenden Bewegung seiner gelenkigen Finger auf ihrem Arm. »Ich bin ein wenig Arzt. Lassen Sie mich Ihren Puls fühlen.«

Sie gestattete es, daß er ihr Gelenk in seine Hand nahm. Dann fuhr er fort, während er dieses hielt:

»Eine Geschichte von einer seltsamen Heirat und einer seltsamen Mutter, und einer Rache und einer Unterschlagung. – Ei, ei, ei! Der Puls schlägt wunderlich! Es scheint mir, daß er sich verdoppelt, während ich ihn in der Hand halte. Kommt dieser Wechsel in Ihrer Krankheit gewöhnlich vor, Madame?«

Es war ein Kampf in ihrem gelähmten Arm, als sie ihn wegzog, aber es war kein Kampf in ihrem Gesicht. Auf seinem Gesicht spielte sein eigentümliches Lächeln.

»Ich habe ein abenteuerliches Leben geführt. Ich bin ein abenteuerlicher Charakter. Ich habe manche Abenteurer gekannt, interessante Menschen – liebenswürdige Gesellschaft. Einem von ihnen verdanke ich meine Wissenschaft und meine Beweise – ich wiederhole es, schätzbarste Dame, – Beweise – von der reizenden kleinen Familiengeschichte, die ich nun zu erzählen im Begriff bin. Sie werden entzückt sein darüber. Bah, bah! Ich vergesse. Man muß einer Geschichte auch einen Namen geben. Soll ich sie die Geschichte eines Hauses nennen? Aber nein! Es gibt so viele Häuser. Soll ich sie die Geschichte dieses Hauses heißen?«

Über das Sofa gelehnt, auf zwei Beinen seines Stuhles und seinem linken Ellbogen sich wiegend, mit der Hand ihren Arm berührend, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen; die Beine kreuzend, während seine rechte Hand bald sein Haar in Ordnung brachte, bald seinen Bart, bald seine Nase strich und, was sie auch tun mochte, eine drohende Haltung hatte, grob, unverschämt, raubsüchtig, grausam und eindringlich setzte er seine Erzählung gemächlich fort. »Kurz, ich nenne sie die Geschichte dieses Hauses. Ich beginne: Es wohnen hier, wollen wir annehmen, ein Onkel und ein Neffe. Der Onkel, ein strenger, alter Mann von starkem Charakter; der Neffe, gewöhnlich schüchtern, gedrückt und unter einem Zwange lebend.« Mrs. Affery, die in ihrem Fenstersitz ganz Auge und Ohr war und, an ihrem Schürzenende nagend, von Kopf bis zu Fuß zitterte, rief, als er dies sagte: »Jeremiah, komm mir nicht nahe! Ich habe in meinen Träumen von Arthurs Vater und seinem Onkel gehört! Er spricht von diesen. Es war, bevor ich hierherkam; aber ich hörte in meinen Träumen, daß Arthurs Vater ein armer, unselbständiger, eingeschüchterter Mensch war, dem man nichts als sein armseliges Waisenbewußtsein gelassen, als er noch jung war, und der bei der Wahl seiner Frau keine Stimme hatte; denn sein Onkel wählte sie für ihn. Da sitzt sie! Ich hörte es in meinen Träumen, und Sie sagten es ja auch zu ihr.« Während Mr. Flintwinch mit der Faust ihr drohte und Mrs. Clennam sie anstarrte, warf Rigaud ihr eine Kußhand zu. »Ganz richtig, liebe Madame Flintwinch, Sie haben ein Talent für das Träumen.« »Ich will nicht von Ihnen gelobt sein«, versetzte Affery. »Ich habe überhaupt nichts mit Ihnen zu schaffen. Aber Jeremiah sagt, es seien Träume, und ich will sie Ihnen als solche erzählen!« Dabei steckte sie wieder ihre Schürze in den Mund, als ob sie eines andern Mund stopfte – vielleicht den von Jeremiah, der mit Drohungen zitterte, als wenn er schrecklich fröre. »Unsere liebe Madame Flintwinch«, sagte Rigaud, »entfaltet plötzlich eine solche Feinfühligkeit und Geistigkeit, daß sie ein wahres Wunder ist. Ja. So ist die Geschichte. Der Herr Onkel befiehlt dem Neffen zu heiraten. Dieser Herr sagt wirklich zu ihm: ›Mein Neffe, ich führe dich zu einer Dame von starkem Charakter, ganz wie ich selbst; einer entschlossenen Dame, einer ernsten Dame, einer Dame, deren Wille den Schwachen zu Staub zerdrücken kann; einer Dame ohne Mitleid, ohne Liebe, unversöhnlich, rachsüchtig, kalt wie Stein, aber ungestüm wie das Feuer.‹ Ha, welche Seelenstärke! Ha, welche Überlegenheit an geistiger Kraft! Wahrhaftig, ein stolzer und edler Charakter, den ich in den angeführten Worten des Herrn Onkels beschreibe. Ha, ha, ha! Tod meiner Seele, ich liebe diese süße Dame.« Mr. Clennams Gesicht hatte einen andern Ausdruck angenommen. Es hatte sich sichtlich dunkler gefärbt, und die Stirn war mehr zusammengezogen als gewöhnlich. »Madame, Madame«, sagte Rigaud, indem er sie auf den Arm streichelte, als wenn seine grausame Hand ein musikalisches Instrument probierte, »ich merke, daß ich Sie interessiere. Ich merke, daß ich Ihre Teilnahme rege mache. Lassen Sie uns fortfahren.« Er mußte jedoch die sich senkende Nase und den sich bäumenden Schnurrbart zuvor mit der weißen Hand einen Augenblick bedecken, ehe er fortfahren konnte; so sehr freute er sich über die Wirkung, die seine Worte hervorbrachten.

»Da der Neffe, wie die erleuchtete Madame Flintwinch bemerkte, ein armer Teufel war, dem man durch Furcht und Hunger nichts als sein armseliges Waisenbewußtsein gelassen, – so verbeugt sich der Neffe und gibt die Antwort: ›Mein Onkel, Sie haben zu befehlen, tun Sie, wie Ihnen beliebt!‹ Der Herr Onkel tut, wie ihm beliebt. Ganz wie von jeher. Die glückversprechende Heirat findet statt; die Neuverheirateten kommen in dieses reizende Haus; die Dame, wollen wir annehmen, wird von Flintwinch empfangen. Hm, alter Intrigant?«

Jeremiah, der seine Augen auf seine Herrin geheftet hatte, antwortete nicht. Rigaud sah bald den einen, bald den andern an, strich an seiner häßlichen Nase und schnalzte mit der Zunge.

»Die Dame macht ehestens eine eigentümliche und beunruhigende Entdeckung; voll Zorn, voll Eifersucht, voll Rache entwirft sie – beachten Sie wohl, Madame! – einen Racheplan, dessen ganze Schwere sie scharfsinnigerweise ihren vernichteten Gatten sowohl selbst zu tragen, als auch auf ihre Feindin zu werfen zwingt. Welch überlegener Geist!«

»Laß ihn nicht weiter sprechen, Jeremiah!« rief Affery mit Herzklopfen, indem sie die Schürze wieder aus dem Munde zog. »Aber es war einer meiner Träume, daß du ihr sagtest, als du eines Winterabends mit ihr in der Dunkelheit strittest – sie saß hier, und du sahst sie an –, sie hätte von Arthur, als er nach Hause kam, es durchaus nicht dulden sollen, daß er auch nur den leisesten Verdacht auf seinen Vater werfe; sie habe immer die Stärke und die Macht gehabt; und sie hätte Arthur gegenüber für seinen Vater kräftiger auftreten sollen. In demselben Traume sagtest du zu ihr, sie sei nicht – nicht, ich weiß nicht was, denn sie fuhr heftig auf und brachte dich zum Schweigen. Du kennst den Traum so gut wie ich. Es war damals, als du mit dem Licht in der Hand die Treppe herabkamst und mir die Schürze vom Kopfe rissest; damals, als du mir sagtest, ich hätte geträumt, und als du nicht an das Geräusch glauben wolltest.« Nach diesem Ausbruch steckte Affery wieder die Schürze in den Mund; dabei hielt sie immer die Fensterbank fest und kniete auf dem Fenstersitz, bereit, jeden Augenblick aufzuschreien oder loszufahren, wenn ihr Herr und Meister sich näherte.

Rigaud hatte von alledem nicht ein Wort verloren.

»Haha!« rief er, die Augenbrauen emporziehend, seine Arme kreuzend und im Stuhl sich zurücklehnend. »Ganz gewiß, Madame, Flintwinch ist ein Orakel! Wie sollen wir das Orakel erklären. Sie und ich und der alte Intrigant? Er sagte, Sie seien nicht –? Und Sie fuhren heftig auf und brachten ihn zum Schweigen! Was ist das, was Sie nicht waren? Was ist das, was Sie nicht sind? Sprechen Sie, Madame!«

Bei diesem frechen Spott atmete sie schwerer, und ihr Mund war unruhig. Ihre Lippen zitterten und öffneten sich, obgleich sie sich die größte Mühe gab, sie ruhig zu halten.

»Nun, Madame! Sprechen Sie! Unser alter Intrigant sagte, Sie seien nicht – und Sie brachten ihn zum Schweigen. Er war im Begriff zu sagen, Sie seien nicht – was? Ich weiß es bereits, aber ich verlange etwas Vertrauen von Ihrer Seite. Nun denn? Sie seien nicht, was?«

Sie versuchte, sich wieder zusammenzunehmen, brach aber ungestüm in die Worte aus: »Nicht Arthurs Mutter!«

»Gut«, sagte Rigaud. »Sie sind gehorsam.«

Der gesetzte Ausdruck ihres Gesichte war durch den Ausbruch ihrer Leidenschaft verschwunden, und aus jeder Falte ihres Gesichts brach das so lange zurückgehaltene dampfende Feuer, als sie ausrief: »Ich will es selbst sagen! Ich will es nicht von Ihren Lippen hören, da sonst der Flecken Ihrer Bosheit daran klebt. Wenn es einmal an den Tag kommen muß, will ich, daß man es in dem Licht sehe, in dem ich stand. Kein Wort mehr. Hören Sie mich!«

»Wenn Sie nicht eine halsstarrigere und hartnäckigere Frau sind, als ich Sie kenne«, warf Mr. Flintwinch ein, »so würden Sie besser daran tun, wenn Sie Mr. Rigaud, Mr. Blandois, Mr. Beelzebub es auf seine Weise sagen ließen. Was hat es zu bedeuten, wenn er alles weiß?«

»Er weiß nicht alles.«

»Er weiß alles, woran ihm zu wissen liegt«, drängte Mr. Flintwinch mürrisch.

»Er kennt mich nicht.«

»Was glauben Sie denn, daß er sich um Sie kümmern werde, Sie eingebildete Frau?« sagte Mr. Flintwinch.

»Ich sage Ihnen, Flintwinch, ich will sprechen. Ich sage Ihnen, da es so weit gekommen, so will ich es mit meinen eigenen Lippen sagen und mich ganz und gar aussprechen. Habe ich nichts in diesem Zimmer gelitten, keine Entbehrung, keine Gefangenschaft, um mich zuletzt dazu herbeizulassen, daß man mich durch ein solches Glas wie dieses betrachte! Können Sie ihn sehen? Können Sie ihn hören? Wenn Ihre Frau hundertmal so undankbar wäre, wie sie ist, wenn ich tausendmal weniger Hoffnung hätte, als ich wirklich habe, sie zum Schweigen zu bringen, wofern dieser Mann zum Schweigen gebracht ist, so würde ich es doch lieber selbst sagen, ehe ich die Qual ertrüge, es vom ihm zu hören.«

Rigaud schob seinen Stuhl etwas zurück; streckte seine Füße gerade vor sich aus und saß mit gekreuzten Armen ihr gegenüber.

»Sie wissen nicht, was es heißt«, fuhr sie, an ihn gewandt, fort, »streng und hart erzogen zu werden. Ich wurde so erzogen. Ich kannte keine Jugend irdischer Heiterkeit und Lust. Ich kannte nur Tage heilsamer Unterdrückung, Züchtigung und Furcht. Die Verdorbenheit unsrer Herzen – das Böse unsres Treibens, der Fluch, der auf uns lastet, die Schrecken, die uns umgeben – das waren die Gedanken, mit denen meine Kindheit beschäftigt wurde. Sie bildeten meinen Charakter und erfüllten mich mit Abscheu vor denen, die Böses tun. Als der alte Mr. Gilbert Clennam seinen verwaisten Neffen meinem Vater als Gatten für mich vorschlug, wies mich mein Vater nachdrücklich darauf hin, daß seine Erziehung wie die meine von der größten Strenge geleitet gewesen sei. Er sagte mir, daß, abgesehen von der Zucht, in der sein Geist gehalten worden, er in einem sparsamen Hause gelebt habe, wo Schwelgerei und Heiterkeit unbekannte Gäste seien, und wo jeder Tag wie der vorhergehende ein Tag voll Mühe und Last war.

Er sagte mir, er sei ein Mann bei Jahren gewesen, ehe sein Onkel ihn als solchen anerkannt, und daß von seiner Schulzeit bis zu jener Stunde seines Onkels Dach ein Heiligtum für ihn gewesen, das die ansteckende Hand der Irreligiosität und des Leichtsinns nicht berührte. Als ich ein Jahr nach unsrer Hochzeit entdeckte, daß mein Gatte gegen Gott gesündigt und mich beschimpft, indem er einem verbrecherischen Geschöpf meine Stelle eingeräumt, konnte ich da zweifeln, daß es mir auferlegt sei, diese Entdeckung zu machen, und daß es mir bestimmt sei, die strafende Hand an dieses verdorbene Geschöpf zu legen? Sollte ich in einem Augenblick – nicht die mir widerfahrene Unbill – was war ich! – sondern all den Abscheu vor der Sünde und all den Kampf gegen sie, in dem ich erzogen wurde, vergessen?«

Sie legte ihre zornige Hand auf die Uhr, die auf dem Tisch lag.

»Nein! ›Vergiß nicht!‹ Die Initialen dieser Worte stehen jetzt hier innen und standen damals hier innen. Es war mir bestimmt, den alten Brief zu finden, der darauf Bezug hatte und mir sagte, was sie bedeuten sollten, und wessen Arbeit sie waren, und weshalb sie gestickt wurden; jener Brief lag bei dieser Uhr in seiner geheimen Schieblade. Wäre es mir nicht bestimmt gewesen, ich hätte die Entdeckung nicht gemacht. ›Vergiß nicht.‹ Es sprach zu mir wie eine Stimme aus einer Zorneswolke. Vergiß nicht die Todsünde. Vergiß nicht die dir bestimmte Entdeckung. Vergiß nicht das dir bestimmte Leiden. Ich habe nicht vergessen. Was ist die mir widerfahrene Unbill, von der ich sprach? Meine Unbill! Ich war ja nur eine Dienerin und ein Werkzeug. Welche Macht hätte ich über sie haben können, wenn sie nicht in den Banden ihrer Sünde gelegen und mir ausgeliefert gewesen wären!«

Mehr als vierzig Jahre waren über das graue Haupt dieser entschlossenen Frau seit der Zeit hingegangen, von der sie sprach. Mehr als vierzig Jahre unausgesetzten Kämpfens und Ringens, und es ging ein Geflüster, daß, welchen Namen sie auch ihrem rachesüchtigen Stolz und Grimm geben mochte, nichts in alle Ewigkeit ihre Natur zu ändern imstande sein würde. Nachdem jedoch diese vierzig Jahre vorübergegangen waren und diese Nemesis ihr nun ins Gesicht schaute, beharrte sie dennoch bei ihrer alten Gottlosigkeit – verdrehte die Ordnung der Schöpfung und blies ihren Atem einem Lehmbilde ihres Schöpfers ein. Wahrlich, wahrlich, viele Reisende haben viele ungeheuerliche Idole in vielen Ländern gesehen; aber kein menschliches Auge sah je keckere, gröbere und widrigere Bilder der göttlichen Natur, als wir Staubgeborene aus unsern schlechten Leidenschaften uns zum Bilde schaffen.

»Als ich ihn zwang, mir ihren Namen und ihre Wohnung zu nennen«, fuhr sie in der vollen Entrüstung ihrer Verteidigung fort; »als ich ihr Vorwürfe machte und sie, ihr Gesicht bedeckend, mir zu Füßen fiel, war es da meine Kränkung, wegen der ich mich erhob, waren es meine Vorwürfe, die ich auf sie schleuderte? Die, die in alten Zeiten auserwählt wurden, zu gottlosen Königen zu gehen und sie anzuklagen – waren das nicht Werkzeuge und Diener? Und hatte ich Unwürdige und weit unter ihnen Stehende keine Sünde zu bekennen? Als sie mir ihre Jugend vorhielt und sein elendes und hartes Leben (das war ihr Ausdruck für die tugendhafte Erziehung, die er Lügen gestraft hatte) und die entweihte Hochzeitszeremonie, die sie im geheimen begangen, und die Schrecken des Mangels und der Schande, die über ihnen geschwebt, als ich zuerst die Mission erhielt, das Werkzeug ihrer Züchtigung zu werden, und die Liebe vorhielt (denn sie gebrauchte das Wort, als sie zu meinen Füßen lag), um deretwillen sie ihn verlassen und ihn mir wieder geschenkt, war es da mein Feind, der mein Schemel wurde, waren es die Worte meines Zornes, die sie niederschmetterten und erbeben machten? Nicht mir darf diese Strenge zugemessen werden; nicht mir die Qual der Sühne!«

Manches Jahr war gekommen und gegangen, seit sie den freien Gebrauch ihrer Finger besessen; aber es war bemerkenswert, daß sie bereits mehr als einmal mit ihrer geballten Hand kräftig auf den Tisch geschlagen hatte, und daß sie bei diesen Worten ihren Arm in die Luft erhob, als wenn dies eine gewöhnliche Gebärde für sie wäre.

»Und was war die Reue, die ich ihrem harten Herzen und ihrer schwarzen Verdorbenheit abringen konnte? Ich rachsüchtig und unversöhnlich? Es mag Leuten wie Ihnen, die keine Gerechtigkeit, keine Mission als die des Satans kennen, so erscheinen. Lachen Sie; aber ich will gekannt sein, wie ich mich kenne und wie Flintwinch mich kennt, obgleich ich es nur mit Ihnen und dieser einfältigen Person zu tun habe.«

»Fügen Sie hinzu, mit sich selbst, Madame«, sagte Rigaud. »Ich habe meine bescheidene Vermutung, daß Madame bemüht ist, sich vor sich selbst zu rechtfertigen.«

»Das ist falsch. Dem ist nicht so. Ich brauche das nicht«, sagte sie mit großer Energie und Entrüstung.

»Wirklich!« versetzte Rigaud. »Ha!«

»Ich frage, was war die tatsächliche Buße, die man von ihr verlangte? ›Sie haben ein Kind; ich habe keines. Sie lieben dieses Kind, geben Sie es mir. Es soll glauben, daß es mein Sohn, und jedermann soll glauben, daß es mein Sohn ist. Um Sie vor Bloßstellung zu sichern, soll sein Vater schwören, daß er Sie nie wiedersehen noch mit Ihnen verkehren wolle; und um auch ihn davor zu sichern, daß ihn sein Onkel nicht enterbe und sein Kind ein Bettler werde, sollen Sie schwören, keines von beiden je wiederzusehen oder mit ihnen zu verkehren. Wenn dies geschehen und Sie auf die von meinem Manne bezogenen Mittel verzichtet haben, übernehme ich Ihren Unterhalt. Sie mögen dann, während Ihr Aufenthaltsort unbekannt ist, wenn Sie wollen, die Lüge hinterlassen, daß Sie einen guten Namen verdienen, und ich werde nicht widersprechen.‹ Das war alles. Sie hatte ihre sündige und schmachvolle Neigung zu opfern; nicht mehr. Sie konnte die Last ihrer Schuld im stillen tragen, und ihr Herz konnte im stillen brechen. Durch solchen Schmerz in diesem Leben aber (der, sollt‘ ich denken, leicht genug für sie war) die Erlösung von dem ewigen Verderben sich erkaufen, wenn es ihr möglich wäre. Wenn ich sie hienieden strafte, öffnete ich ihr nicht einen Weg für das Jenseits? Wenn sie sich von unersättlicher Rache und unlöschbaren Feuern umgeben sah, waren diese mein? Wenn ich ihr damals und später mit den Schrecken drohte, die sie umringten, hielt ich sie in meiner rechten Hand?«

Sie drehte die Uhr auf dem Tische, öffnete sie und blickte mit ungemildertem Ausdruck auf die darinstehenden Buchstaben.

»Sie vergaßen sich nicht. Es ist solchen Sünden eigentümlich, daß die Sünder nicht imstande sein sollen zu vergessen. Wenn die Gegenwart Arthurs für seinen Vater ein täglicher Vorwurf war und die Abwesenheit Arthurs ein täglicher Stachel für seine Mutter, so war dies die gerechte Fügung Jehovas. Ebensogut könnte es mir zur Last gelegt werden, daß der Stachel des erwachten Gewissens sie wahnsinnig machte, und daß es der Wille des Lenkers aller Dinge war, daß sie in diesem Zustand viele Jahre lebte. Ich opferte mich, den sonst verlorenen Knaben zu beanspruchen, ihm den Namen ehrlicher Geburt zu geben; ihn in Furcht und Zittern zu erziehen, in einem Leben werktätiger Zerknirschung für die Sünden, die schwer auf seinem Haupt lasteten, ehe er in diese verdammte Welt trat. War das grausam? Litt ich nicht ebenfalls unter den Folgen der ursprünglichen Schande, an der ich keine Mitschuld trug? Arthurs Vater und ich lebten nicht geschiedener voneinander zu der Zeit, da die halbe Erde zwischen uns lag, denn da wir zusammen in diesem Hause wohnten. Er starb und schickte mir diese Uhr mit ihrem ›Vergiß nicht‹. Ich vergesse nicht, obgleich ich diese Worte nicht lese, wie er sie las. Ich lese aus denselben heraus, daß es meine Mission war, dies zu tun. Ich habe diese Buchstaben so gelesen, seit die Uhr auf diesem Tisch liegt. Und ich las sie ebenso deutlich, als sie Tausende von Meilen entfernt waren.«

Als sie das Uhrgehäuse mit jener Freiheit des Gebrauchs der Finger, von der sie kein Bewußtsein zu haben schien, in die Hand nahm und mit den Augen sich darüber herabbeugte, als wollte sie sie herausfordern, sich zu bewegen, rief Rigaud mit lautem und verächtlichem Schnalzen seiner Finger: »Nun, Madame, vorwärts. Die Zeit verfliegt. Vorwärts, Frau des Mitleids, es muß sein! Sie können nichts sagen, was ich nicht wüßte, kommen Sie zu dem gestohlenen Gelde, oder ich werde es tun. Tod meiner Seele, ich habe genug von Ihrem übrigen Geschwätz gehört. Kommen Sie sogleich zu dem gestohlenen Gelde!«

»Schurke, der Sie sind!« antwortete sie, und dabei faßten ihre Hände an ihren Kopf. »Durch welch unglückseligen Irrtum Flintwinchs, durch welche Unvorsichtigkeit seinerseits, da er die einzige damit vertraute und dabei helfende Person war, durch wessen und was für eine Sammlung der Asche eines verbrannten Papieres Sie in den Besitz einer Urkunde gekommen sind, weiß ich so wenig, als wie Sie zu der übrigen Macht an diesem Ort gelangten –«

»Und doch habe ich das wunderliche Glück, an einem nur mir bekannten geeigneten Ort eben diesen kleinen Anhang zu dem Testament von Monsieur Gilbert Clennam zu besitzen, geschrieben von einer Dame und bezeugt von eben dieser Dame und auch dem alten Intriganten! Ah, bah, alter Intrigant, alte krumme Puppe! Madame, lassen Sie uns fortfahren. Die Zeit drängt. Sie oder ich müssen die Sache zu Ende bringen!«

»Ich!« antwortete sie mit gesteigerter Entschiedenheit, wenn eine solche möglich, »ich, weil ich es nicht ertragen werde, mich mit Ihrer abscheulichen Verzerrung meines Bildes vor mir selbst oder einem andern zu zeigen. Sie, mit Ihren Ränken aus abscheulichen fremden Gefängnissen und Galeeren, würden das Geld als meine Triebfeder hinstellen. Es war nicht das Geld.«

»Oho, oho, oho! Ich verzichte für den Augenblick auf meine Höflichkeit und sage: ›Lügen, Lügen, Lügen.‹ Sie wissen, Sie unterschlugen die Urkunde und behielten das Geld.«

»Nicht um des Geldes willen, Schurke!« Sie machte eine Anstrengung, als wenn sie auffahren und in ihrer Entrüstung sich auf ihre lahmen Füße erheben wollte. »Wenn Gilbert Clennam, geistig und körperlich schwach geworden, im Begriff zu sterben und in dem Wahn einer gerührten Stimmung gegenüber einem Mädchen, von dem er gehört, daß sein Neffe einst eine Neigung für sie gehabt, die er in ihm unterdrückt, und daß das Mädchen später in Melancholie und geistiger Zerrüttung untergegangen – wenn er, sage ich, in diesem Zustand der Schwäche mir, deren Leben sie durch ihre Sünde verdunkelt und der es auferlegt war, ihre Gottlosigkeit von ihrer eigenen Hand und ihren eigenen Lippen zu erfahren, ein Legat diktierte, das als eine Entschädigung für vermeintlich unverdientes Leiden gelten sollte, war in diesem Falle kein Unterschied zwischen meiner Widersetzlichkeit gegen diese Ungerechtigkeit und der bloßen Gier nach dem Geld – einer Sache, die Sie und Ihre Kameraden in den Gefängnissen jedermann stehlen?«

»Die Zeit drängt. Bedenken Sie das!«

»Wenn dieses Haus vom Dach bis zum Boden brennte«, entgegnete sie, »würde ich darin bleiben, um mich dagegen zu wehren, daß meine gerechten Motive nicht mit denen von Meuchelmördern und Dieben verwechselt werden.«

Rigaud schnalzte ihr höhnisch in das Gesicht. »Tausend Guineen, für die kleine Schönheit, die Sie langsam zu Tode gehetzt. Tausend Guineen für die jüngste Tochter, die ihr Beschützer im fünfzigsten Jahre hätte, oder (wenn er keinen hätte) für die jüngste Tochter des Bruders, wenn sie mündig wäre, als Anerkennung seiner uneigennützigen Protektion, die er einer freundelosen jungen Waise angedeihen ließ. Zweitausend Guineen. Wie! Sie werden doch endlich zu dem Gelde kommen?«

»Dieser Beschützer«, fuhr sie ungestüm fort, als er sie wieder unterbrach.

»Namen! Nennen Sie ihn Mr. Frederick Dorrit. Keine ausweichenden Redensarten mehr!«

»Dieser Frederick Dorrit war der Anfang von all dem Unglück. Wenn er kein Musiker gewesen wäre und in jenen Tagen seiner Jugend und seines Glückes nicht ein üppiges Haus geführt hätte, wo Sänger und Musiker und solche Kinder des Satans ihren Rücken dem Licht und ihr Gesicht der Finsternis zugekehrt, so wäre sie wohl in ihrer untergeordneten Stellung verblieben und nicht aus ihr hervorgehoben worden, um wieder hinabgeschleudert zu werden. Doch nein. Der Satan kam zu diesem Frederick Dorrit und sagte ihm, er sei ein Mann von unschuldigem und lobenswertem Sinn, der edle Handlungen zu tun imstande wäre, und hier sei ein armes Mädchen mit Talent für den Gesang. Da muß er sie in Unterricht nehmen. Da wird Arthurs Vater, der sich auf den Pfaden rauher Tugend schon lange nach den verruchten Schlingen gesehnt, die man Künste nennt, mit ihr bekannt. Und so trägt eine schamlose Waise, die zur Sängerin abgerichtet wird, durch die Vermittlung dieses Frederick Dorrit den Sieg über mich davon, und ich bin gedemütigt und hintergangen! Nicht ich, soll das heißen«, fügte sie rasch hinzu, während Röte ihr Gesicht übergoß, »ein größerer als ich. Was bin ich?«

Jeremiah Flintwinch, der immer näher zu ihr hinkam und jetzt dicht bei ihr stand, ohne daß sie es wußte, machte ein besonders schiefes, vorwurfsvolles Gesicht, als sie dies sagte, und zupfte außerdem an seinen Gamaschen, als wenn diese die Stellung kleiner Bärte an seinen Beinen einnähmen.

»Kurz«, fuhr sie fort, »denn ich bin zu Ende mit dieser Angelegenheit und werde nicht weiter darüber sprechen, und auch Sie sollen nicht weiter darüber sprechen; alles, was noch bleibt, ist zu entscheiden, ob die Kenntnis dieser Dinge unter uns, die wir hier anwesend sind, bleiben kann: kurz, als ich jenes Papier mit Wissen von Arthurs Vater unterschlug –«

»Aber nicht mit seiner Zustimmung, werden Sie wissen«, sagte Mr. Flintwinch.

»Wer sagte, mit seiner Zustimmung?« Sie erschrak, Jeremiah so nahe bei sich zu sehen, und hielt den Kopf zurück, indem sie ihn mit wachsendem Mißtrauen ansah. »Sie waren oft genug zwischen uns, wenn er wollte, daß ich es herausgebe, und ich nicht wollte, um mir zu widersprechen, wenn ich sagte, mit seiner Zustimmung. Ich sagte, als ich jenes Papier unterschlug, tat ich nichts, es zu vernichten, sondern bewahrte es auf, in diesem Hause, viele Jahre lang. Da das übrige Vermögen Gilberts Arthurs Vater zufiel, konnte ich jederzeit, ohne mehr als die beiden Summen in Zweifel zu stellen, behaupten, ich hätte es gefunden. Aber abgesehen davon, daß ich eine solche Behauptung durch eine direkte Falschheit hätte unterstützen müssen (eine große Verantwortung), sah ich keinen neuen Grund, während meiner ganzen Prüfungszeit, das Papier ans Licht zu bringen. Es war eine Strafe für die Sünde; die schlimme Folge eines Betrugs. Ich tat, was mir zu tun bestimmt war, und ich habe getragen innerhalb dieser vier Wände, was mir zu tragen bestimmt war. Als das Papier endlich – wie ich glaubte – in meiner Gegenwart vernichtet wurde, war sie lange tot, und ihr Beschützer, Frederick Dorrit, war verdienterweise lange schon ruiniert und kindisch. Er besaß keine Tochter. Ich hatte die Nichte schon früher gefunden, und was ich für sie tat, war besser als das Geld, von dem sie keinen Nutzen gehabt.« Sie fügte einen Augenblick später, als spräche sie mit der Uhr, hinzu: »Sie selbst war unschuldig, und ich würde nicht versäumt haben, es ihr bei meinem Tode zu hinterlassen«: dabei sah sie auf die Uhr.

»Soll ich Sie an etwas erinnern, würdige Frau?« sagte Rigaud. »Das kleine Papier befand sich in diesem Hause an jenem Abend, als unser Freund, der Gefangene – der Gefängnisfreund meiner Seele – von fernen Ländern heimkehrte. Soll ich Sie noch an etwas Weiteres erinnern? Der kleine Singvogel, der nie flügge ward, wurde lange von einem durch Sie bestellten Wächter im Käfig gehalten, der auch unsrem alten Intriganten hier wohlbekannt ist. Sollten wir unsern alten Intriganten zwingen, uns zu sagen, wo er ihn zuletzt sah?«

»Ich will es Ihnen sagen!« rief Affery, die Schürze aus ihrem Munde nehmend. »Es war der erste aller meiner Träume. Jeremiah, wenn du mir jetzt zu nahe kommst, schreie ich, daß man es bei St. Pauls hört! Die Person, von der dieser Mann sprach, war Jeremiahs eigener Zwillingsbruder; er war in totenstiller Nacht hier, in jener Nacht, als Arthur heimkehrte, und Jeremiah gab ihm mit eigner Hand dieses Papier, von dem ich nichts weiter weiß, und er trug es in einer eisernen Kapsel weg. – Hilfe! Mörder! schützt mich vor Jere – mi – ah!«

Mr. Flintwinch war auf sie zugestürzt, aber Rigaud hatte ihn noch zur rechten Zeit am Arme gegriffen. Nachdem er einen Augenblick mit ihm gerungen, ließ Flintwinch los und steckte seine Hände in seine Taschen.

»Wie!« rief Rigaud spottend, indem er ihn mit seinem Ellbogen zurückstieß, »Eine Dame angreifen, die ein solches Talent für das Träumen besitzt? Ha, ha, ha! Sie wird eine Quelle des Reichtums für Sie werden, wenn Sie sie öffentlich zeigen. Alles, was sie träumt, trifft ein. Ha, ha, ha! Sie sehen ihm so ähnlich, kleiner Flintwinch. So ähnlich, als ich ihn kennenlernte (da ich zuerst englisch für ihn mit dem Wirt sprach), in der Schenke zu den drei Billards, in der kleinen Straße mit den hohen Dächern an dem Kai von Antwerpen. Ach, er war ein tüchtiger Junge im Trinken! Und ein tüchtiger Junge im Rauchen! Er wohnte in einem hübschen möblierten Junggesellenlogis im fünften Stock, über dem Holz- und Kohlenhändler und dem Frauenschneider und dem Stuhlmacher und dem Böttcher – dort kannte ich ihn, und dort machte er bei seinem Kognak und seinem Tabak zwölf Schläfchen des Tages und hatte jeden Tag seine Ohnmacht, bis er einst eine Ohnmacht zuviel hatte und zum Himmel emporstieg. Ha, ha, ha! Was tut das zur Sache, wie ich von den Papieren in seiner eisernen Kapsel Besitz nahm? Vielleicht vertraute er sie meinen Händen an, um sie Ihnen zu geben; vielleicht war die Kapsel geschlossen, und meine Neugierde wurde dadurch gereizt, vielleicht unterschlug ich sie. Ha, ha, ha! Was hat es auch zu sagen, wenn ich sie noch ganz besitze? Wir sind hier nicht so eigen; hm, Flintwinch? Wir sind hier nicht so eigen; nicht wahr, Madame?«

Mr. Flintwinch hatte sich mit boshaften Gegenstößen seiner Ellbogen in seinen Winkel zurückgezogen, wo er jetzt, atemholend und Mrs. Clennams Blicke erwidernd, mit den Händen in den Taschen stand.

»Ha, ha, ha! Was ist das?« rief Rigaud. »Es scheint, als kennten Sie sich gegenseitig nicht. Erlauben Sie mir, Madame Clennam, die unterschlägt, Mr. Flintwinch, der betrügt, vorzustellen.«

Mr. Flintwinch, der eine Hand aus der Tasche zog, um sich am Kinn zu kratzen, trat in dieser Haltung einen Schritt vor, während er immer noch Mrs. Clennams Blick erwiderte, und sagte zu ihr:

»Ich weiß, was Sie damit sagen wollen, daß Sie die Augen so weit aufreißen, aber Sie brauchen sich die Mühe nicht zu nehmen, weil ich mich nicht darum kümmere. Ich habe Ihnen seit vielen Jahren gesagt, daß Sie eine der starrsinnigsten und hartnackigsten Frauen seien. Das sind Sie. Sie nennen sich demütig und sündenvoll, aber Sie sind die anmaßendste Frau Ihres Geschlechts. Das sind Sie. Ich habe Ihnen ab und zu, wenn wir miteinander grollten, gesagt, daß Sie möchten, alles solle sich Ihnen fügen, aber ich wollte mich Ihnen nicht fügen, daß Sie gern jeden Menschen bei lebendigem Leibe verschlängen, aber ich wollte mich nicht bei lebendigem Leibe verschlingen lassen. Warum vernichteten Sie das Papier nicht, als Sie zum ersten Male Hand an dasselbe legten? Ich riet Ihnen dazu: aber nein, es ist nicht Ihre Sache, Rat anzunehmen. Sie mußten es freilich statt dessen aufbewahren. Vielleicht werden Sie es zu einer andern Zeit zum Vorschein bringen. Als ob ich es nicht besser wüßte. Ich denke, ich sehe Ihren Stolz noch das Papier selbst auf die Gefahr hin zum Vorschein bringen, daß Sie in den Verdacht geraten, es zurückbehalten zu haben. Aber das ist die Art, wie Sie sich selbst betrügen. Gerade wie Sie sich auch betrügen, indem Sie vorgeben, Sie tun all das nicht, weil Sie eine harte Frau sind, ganz Stolz und Haß und Gewalt und Unversöhnlichkeit, sondern weil Sie eine Dienerin und ein Werkzeug seien, dem diese Mission zuteil geworden. Wer sind Sie denn, daß Sie eine solche Mission erhalten haben sollten? Es mag das für Sie Religion sein, für mich sind es Possen. Und um Ihnen die ganze Wahrheit zu sagen, da ich mal im Zuge bin«, fuhr Mr. Flintwinch fort, indem er die Arme übereinander kreuzte und das vollendete Bild eines gereizten Murrkopfs darbot, »Sie haben mich förmlich geraspelt – geraspelt, sage ich, in den letzten vierzig Jahren – indem Sie sich auf einen so hohen Standpunkt selbst mir gegenüber stellten, der die Sache doch besser kennt. Nie Absicht war freilich allein die, mich um so tiefer zu stellen. Ich bewundre Sie sehr; Sie sind eine Frau von starkem Kopf und großem Talent; aber der stärkste Kopf und das größte Talent kann einen Mann nicht vierzig Jahre lang raspeln, ohne ihn zu reizen. Ich kümmere mich nichts darum, was für Blicke Sie mir zuwerfen. Ich komme jetzt zu dem Papier, und merken Sie nun, was ich sage. Sie brachten es irgendwohin auf die Seite, hielten aber den Art, wo Sie es versteckt, geheim. Sie waren damals noch eine rüstige Frau, und wenn Sie das Papier brauchten, konnten Sie es jeden Augenblick holen. Aber merken Sie wohl! Es kommt eine Zeit, wo Sie gelähmt sind wie jetzt: und wenn Sie dann das Papier brauchen, können Sie es nicht holen. So liegt es lange Jahre an dem verborgenen Platz. Zuletzt, da wir Arthurs Heimkehr jeden Tag erwarten und jeder Tag ihn bringen kann, da sich ferner unmöglich sagen läßt, wie er das Haus durchstöbern wird, mache ich Ihnen fünftausendmal den Vorschlag, wenn Sie das Papier nicht holen könnten, wolle ich es holen, um es in das Feuer zu werfen. Doch nein – niemand als Sie weiß, wo es ist, und das ist eine Macht; geben Sie sich so bescheidene Namen wie Sie wollen, ich heiße Sie einen weiblichen Luzifer in der Gier nach Macht! An einem Sonntagabend kommt Arthur zurück. Er ist noch nicht zehn Minuten in diesem Zimmer, so spricht er von seines Vaters Uhr. Sie wissen wohl, daß das ›Vergiß nicht‹ zu der Zeit, da sein Vater jene Uhr Ihnen sandte, nur so viel bedeuten konnte als, da alles übrige vorüber und vergessen ist, so vergiß die Vernichtung des Papiers nicht. Es herausgeben! Arthurs Benehmen hat Sie ein wenig erschreckt, und das Papier soll nun verbrannt werden. Ehe diese tolle Dirne und Jesabel«, grinste Mr. Flintwinch seine Frau an, »Sie zu Bett gebracht hat, sagen Sie mir deshalb endlich, wohin Sie das Papier getan, nämlich unter die alten Lagerbücher im Keller, wohin Arthur schon am nächsten Morgen kommt, als er im Hause herumstöbert. Aber an einem Sonntagabend soll es nicht verbrannt werden. Nein, Sie sind streng; wir müssen bis über zwölf warten, um in den Montag hineinzukommen. Das geht mir denn doch zu weit, das reizt mich, und da ich etwas ärgerlich bin und nicht so streng als Sie, so werfe ich vor zwölf Uhr einen Blick in das Dokument, um mein Gedächtnis bezüglich seines Aussehens zu erfrischen, lege eines von den vielen alten, vergilbten Papieren im Keller gerade wie das Dokument zusammen und mache später, als es Montagmorgen geworden und ich bei dem Scheine Ihrer Lampe von dem Bett, in dem Sie liegen, nach diesem Kamingitter gehen soll, einen kleinen Tausch, wie etwa ein Zauberer, und verbrenne das falsche Papier. Mein Bruder Ephraim, der Irrenpfleger (ich wünschte, er hätte sich selbst in die Zwangsjacke gesteckt), hatte seit dem großen einträglichen Auftrage, mit dem Sie ihn betrauten, gar mancherlei Aufträge, aber er spann trotzdem keine Seide. Seine Frau starb (das hatte gerade nichts zu bedeuten, die meine hätte statt ihrer gern sterben können), er spekulierte unglücklich mit den Irren und verwickelte sich in allerlei Schwierigkeiten, indem er einem Patienten zu sehr zusetzte, um ihn zur Vernunft zu bringen, und geriet darüber in Schulden. Er machte sich mit dem, was er aufbringen konnte, und einer Kleinigkeit von mir aus dem Staube. Er war an jenem Montagmorgen in der Frühe hier, um die Abfahrt des Schiffes abzuwarten; kurz, er ging nach Antwerpen, wo er (ich fürchte, Sie werden sich ärgern, wenn ich es sage: Hol‘ ihn der Teufel!) die Bekanntschaft dieses Herrn machte. Er hatte einen weiten Weg gemacht, und ich glaubte damals, er sei nur schläfrig: aber jetzt vermute ich, er war betrunken. Als Arthurs Mutter unter seiner und seiner Frau Obhut stand, schrieb sie immer und in einem fort – meist Briefe mit Bekenntnissen, die an Sie gerichtet waren und Bitten um Ihre Verzeihung enthielten. Mein Bruder hatte mir von Zeit zu Zeit Stöße von solchen Papieren eingehändigt. Ich dachte, ich könnte sie ebensogut für mich behalten, als sie auch lebendig verschlingen zu lassen; deshalb bewahrte ich sie in einer Kapsel auf und durchblätterte sie, wenn ich in der Stimmung dazu war. Überzeugt, daß es rätlich sei, das Papier fortzuschaffen, wenn Arthur nicht dahinterkommen sollte, legte ich es in dieselbe Kapsel, schloß das Ganze mit zwei Schlössern und übergab es meinem Bruder, daß er es mit sich nehme und aufbewahre, bis ich ihm schriebe. Ich schrieb ihm darüber, aber erhielt nie eine Antwort. Ich wußte nicht, was ich daraus machen sollte, bis dieser Herr uns mit seinem ersten Besuch beehrte. Natürlich begann ich nun auf die Vermutung zu kommen, wie all das zusammenhing: und ich brauchte seine Erklärung nicht, um zu verstehen, wie er aus meinen Papieren und Ihrem Papier und dem Kognak- und Tabaksgeschwatze meines Bruders (ich wollte, er hätte sich knebeln müssen) zu seiner Wissenschaft kam. Ich habe jetzt nur eines noch zu sagen. Sie hartnäckige Frau, und das ist, daß ich mir nie klar wurde, ob ich Ihnen mit dem Dokument einen Kummer bereitet haben möchte oder nicht – ich glaube nicht –, und daß ich ganz damit zufrieden war, daß ich wußte, ich hatte den Vorteil über Sie errungen und hielt Sie in meiner Hand. Unter den gegenwärtigen Umständen habe ich Ihnen keine Erklärung mehr zu geben bis morgen abend um diese Stunde. Deshalb mögen Sie Ihre Augen gegen jemand andern aufreißen«, sagte Mr. Flintwinch, indem er seine Rede mit einer Steigerung schloß, »denn es ist unnütz, sie gegen mich aufzureißen.«

Sie wandte sich langsam weg, als er geschlossen hatte, und senkte ihre Stirn auf ihre Hand. Ihre andre Hand drückte sie schwer auf den Tisch, und wieder war die seltsame Unruhe bei ihr zu bemerken, als beabsichtigte sie aufzustehen.

»Diese Kapsel kann nie und nirgend so teuer verkauft werden wie hier. Dieses Geheimnis kann Ihnen nie den gleichen Nutzen bringen, wenn Sie es an jemand anderen verkaufen, als wenn Sie es an mich verkaufen. Aber ich habe im Augenblick nicht die Mittel, die Summe aufzutreiben, die Sie verlangten. Ich war in meinen Geschäften nicht glücklich. Was wollen Sie jetzt und was später, und wie kann ich mich Ihrer Verschwiegenheit versichern?«

»Mein Engel«, versetzte Rigaud, »ich sagte, was ich verlange, und die Zeit drängt. Ehe ich hierherkam, deponierte ich Abschriften der wichtigsten unter diesen Papieren in einer andren Hand. Verzögern Sie den Abschluß, bis das Tor des Marschallgefängnisses sich für die Nacht geschlossen hat, und es wird zu spät sein. Der Gefangene wird dann die Papiere gelesen haben.«

Sie legte wieder ihre beiden Hände an den Kopf, stieß einen lauten Seufzer aus und fuhr in die Höhe. Sie schwankte einen Augenblick, als wollte sie fallen: dann stand sie fest.

»Sagen Sie, was Sie damit meinen. Sagen Sie, was Sie damit meinen, Mann!«

Vor dieser geisterhaften Gestalt, die man so lange nicht mehr in dieser aufrechten Stellung gesehen, in der sie wie erstarrt war, fuhr Rigaud zurück und dämpfte seine Stimme. Es war für alle drei, als wenn eine tote Frau auferstanden wäre.

»Miß Dorrit«, antwortete Rigaud, »die kleine Nichte von Monsieur Frederick, den ich jenseits des Meeres kannte, ist um die Person des Gefangenen. Miß Dorrit, die kleine Nichte von Monsieur Frederick, pflegt in diesem Augenblick den Gefangenen, der krank ist. Für sie hinterließ ich in eigner Person auf dem Wege hierher ein Paket in dem Gefängnis, nebst einem Brief mit Instruktionen

Die gelähmte Mrs. Clennam steht auf und geht.

›in seinen Angelegenheiten‹ – und in seinen Angelegenheiten wird sie gern zu allem bereit sein – welches Paket sie aufbewahren und nicht erbrechen solle, für den Fall, daß es vor dem Torschluß reklamiert würde; im Fall dies jedoch vor dem Läuten der Gefängnisglocke nicht geschähe, es ihm zu geben; es enthält eine zweite Abschrift für sie selbst, die er ihr geben soll. Ja! Ich halte mich unter euch nicht mehr sicher, nachdem wir so weit gediehen sind; deshalb habe ich mein Geheimnis verdoppelt. Was im übrigen das betrifft, Madame, daß es mir nirgends einen solchen Nutzen abwerfen kann als hier, so sagen Sie denn, haben Sie den Preis bestimmt und festgesetzt, den die kleine Nichte – um seinetwillen – geben wird, um es zu vertuschen? Noch einmal sage ich Ihnen, die Zeit drängt. Ist das Paket vor dem Läuten der Glocke zu Nacht nicht reklamiert, so können Sie es nicht mehr kaufen. Ich verkaufe dann an das kleine Mädchen!«

Noch einmal sah man einen Kampf und Aufruhr in ihr, dann eilte sie nach einem Kabinett, riß die Tür auf, nahm eine Kapuze oder einen Schal heraus und warf ihn über den Kopf. Affery, die sie erschrocken beobachtet hatte, stürzte nach der Mitte des Zimmers, wo ihre Herrin stand, erfaßte ihr Kleid und rutschte auf den Knien zu ihr.

»Bleiben Sie, bleiben Sie, bleiben Sie! Was wollen Sie tun? Wohin gehen Sie? Sie sind eine furchtbare Frau, aber ich hege keine Feindschaft gegen Sie. Ich kann dem armen Arthur jetzt nicht nützlich sein, das sehe ich; und Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten. Ich will Ihr Geheimnis bewahren. Gehen Sie nicht aus, Sie sterben auf der Straße. Versprechen Sie mir nur, wenn es sich um die Arme handelt, die hier im geheimen eingesperrt ist, lassen Sie mich sie pflegen und für sie sorgen. Versprechen Sie mir nur das, und Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten.«

Mrs. Clennam stand mitten in ihrer ungestümsten Hast einen Augenblick still und sagte in finsterem Erstaunen:

»Hier eingesperrt? Sie ist seit zwanzig Jahren und länger tot. Frage Flintwinch – frage ihn. Sie können beide sagen, daß sie starb, als Arthur auf Reisen ging,«

»Um so schlimmer«, sagte Affery mit einem Schauer, »denn sie geht dann als Gespenst im Hause umher. Wer sonst als sie raschelt hier herum und macht Zeichen, indem sie sanft Staub fallen laßt? Wer sonst als sie geht aus und ein und macht lange krumme Striche an die Wände, wenn wir alle zu Bett sind? Wer sonst als sie hält die Türen zuweilen fest? Aber gehen Sie nicht fort – gehen Sie nicht fort! Mistreß, Sie werden auf der Straße sterben!«

Ihre Herrin machte einfach ihr Kleid von den bittenden Händen los, sagte zu Rigaud: »Warten Sie hier, bis ich zurückkomme!« und stürzte aus dem Zimmer. Sie sahen sie vom Fenster aus, wie sie ungestüm durch den Hof und zum Torweg hinauseilte. Einige Augenblicke standen die Zurückbleibenden bewegungslos da. Affery war die erste, die sich rührte: händeringend folgte sie ihrer Herrin. Nach ihr zog sich Jeremiah Flintwinch langsam nach der Tür zurück und schlich sich, die eine Hand in der Tasche, mit der andern das Kinn reibend, in seiner verstohlenen Weise und still hinaus. Rigaud, der allein zurückgeblieben, setzte sich auf die Fensterbank ans offene Fenster in seiner alten Positur wie ehedem in dem Gefängnis zu Marseille. Er legte seine Zigarette und seine Zündholzschachtel neben sich und begann zu rauchen.

»Puh! Beinahe so düster wie das alte höllische Gefängnis. Wärmer, aber beinahe so trübselig. Warten, bis sie zurückkommt? Ja, gewiß; aber wohin ist sie gegangen und wie lange wird sie fortbleiben? Gleichgültig! Rigaud Lagnier Blandois, mein liebenswürdiges Ich, du wirst dein Geld bekommen. Du wirst dich bereichern. Du hast als Gentleman gelebt; du wirst als Gentleman sterben. Du triumphierst, mein kleiner Junge; aber es liegt in deinem Charakter, zu triumphieren. Uf!«

In der Stunde seines Triumphes bäumte sich sein Schnurrbart, und seine Nase senkte sich, während er einen großen Balken über seinem Kopf mit besonderem Vergnügen beäugelte.

Einunddreißigstes Kapitel.


Einunddreißigstes Kapitel.

Abgeschlossen.

Die Sonne war untergegangen, und die Straßen in ihrem staubigen Zwielicht waren düster, als die Gestalt, die für sie so lange schon eine ungewöhnliche Erscheinung war, durch sie dahineilte. In der unmittelbaren Umgebung des alten Hauses zog sie wenig Aufmerksamkeit auf sich, denn es trieben sich dort nur wenige Leute umher, die sie hätten bemerken können; als sie jedoch vom Flusse heraufkam und durch die krummen Straßen ging, die nach der London Bridge führen, und die große Hauptstraße betrat, wurde sie von Staunen umringt.

Entschlossen und wilden Blickes, raschen Fußes und doch schwach und unsicher, auffallend gekleidet in ihrem schwarzen Anzug und mit der flüchtig übergeworfenen Kopfbedeckung, hager und leichenblaß eilte sie durch die Masse, ihrer so wenig achtend wie ein Schlafwandler. Auffallender noch durch die Scheidewand zwischen ihr und der Menge, unter der sie sich befand, als wenn sie auf einen Sockel gehoben gewesen, um gesehen zu werden, zog die Gestalt aller Augen auf sich. Müßiggänger richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie; geschäftige Leute, die an ihr vorüberkamen, gingen langsam, um ihr nachzusehen; wo zwei und zwei beisammenstanden, flüsterten sie einander zu und machten sich auf die gespenstische Frau aufmerksam, die vorüberkam; und die Schleppe dieser Gestalt schien, während sie so vorübereilte, einen Wirbel aufzutreiben, der die Müßigsten und Neugierigsten nach sich zog.

Schwindlig gemacht durch das stürmische Eindringen dieser Masse von gaffenden Gesichtern in ihre viele Jahre verschlossene Zelle, durch das verwirrende Gefühl, in der Luft zu sein, und durch das noch verwirrendere Gefühl, auf den Füßen zu stehen, durch die unerwartete Veränderung, die mit halb in ihren Erinnerungen lebenden Gegenständen vorgegangen war, und den Mangel an Ähnlichkeit zwischen den willkürlich zu gestaltenden Bildern, die ihre Phantasie sich oft von dem Leben entworfen, von dem sie ausgeschlossen war, und dem überwältigenden Drängen und Treiben der Wirklichkeit, ging sie ihres Weges dahin, mehr als wäre sie von zerstreuenden Gedanken als von leibhaft beobachtenden Menschen umgeben. Nachdem sie jedoch über die Brücke und noch eine Strecke weiter geradeaus gegangen, fiel ihr ein, daß sie nach der Richtung fragen müsse; und erst jetzt, als sie stehenblieb und nach einem Orte sich umsah, wo sie fragen könnte, sah sie sich von neugierigen Blicken umgeben.

»Warum drängt ihr euch um mich?« fragte sie zitternd.

Keiner von denen, die um sie her standen, antwortete; aber aus dem Kreis der Entfernterstehenden ertönte der gelle Ruf: »Weil Sie verrückt sind!«

»Ich bin so gesund wie jeder andere. Ich wünsche nach dem Marschallgefängnis zu kommen.«

Der gelle Ruf der Entfernterstehenden versetzte: »Wenn nichts anderes, würde uns das beweisen, daß Sie verrückt sind, denn das Gefängnis liegt gerade gegenüber!«

Ein kleiner, sanfter, ruhig aussehender junger Mann drängte sich durch die Masse zu ihr, als auf diese Antwort ein Zischen entstand, und sagte: »Verlangten Sie nicht nach dem Marschallgefängnis zu kommen? Ich gehe gerade in Geschäften dahin. Kommen Sie mit mir.«

Sie legte die Hand auf seinen Arm, und er führte sie über den Weg, während die Masse, die etwas ungehalten war, daß man ihr das Schauspiel zu entziehen im Begriff stand, sich vorn und hinten und auf beiden Seiten herandrängte und einen Aufenthalt in Bedlam empfahl. Nach einem kurzen Gedränge in dem äußeren Hofe öffnete sich das Gefängnistor und schloß sich hinter ihnen. Im Pförtnerstübchen, das im Gegensatz zu dem Geräusch draußen ein Ort der Ruhe und des Friedens zu sein schien, stritt bereits eine gelbe Lampe mit dem Gefängnisschatten.

»Nun John«, sagte der Schließer, der sie eingelassen. »Was gibt es?«

»Nichts, Vater; diese Dame wußte den Weg nicht und wurde von den Straßenjungen gehetzt. Zu wem wollten Sie, Madame?«

»Zu Miß Dorrit. Ist sie hier?«

Des jungen Mannes Interesse wuchs bei diesen Worten. »Ja, sie ist hier. Wie ist wohl Ihr Name?« »Mrs. Clennam.«

»Mr. Clennams Mutter?« fragte der junge Mann.

Sie preßte ihre Lippen zusammen und zögerte. »Ja, Sie würden besser daran tun, wenn Sie sagten, es sei seine Mutter.«

»Sehen Sie«, sagte der junge Mann, »da die Familie des Marschalls im Augenblicke auf dem Lande ist, so hat der Marschall Miß Dorrit eines von den Zimmern in seinem Hause gegeben, um es zu benutzen, wenn sie Lust hätte. Würden Sie es nicht für besser halten, wenn Sie dahin gingen und ich Miß Dorrit zu Ihnen brächte?«

Sie gab ihre Zustimmung zu erkennen, und er schloß eine Tür auf und führte sie eine Seitentreppe hinauf in ein Wohnhaus. Dort zeigte er ihr ein halbdunkles Zimmer und verließ sie. Das Zimmer ging auf den halbdunklen Gefängnishof hinab, wo die Insassen da und dort auf- und abschlenderten, zu den Fenstern herauslehnten, soweit es möglich, abgesondert von den andern, mit abschiednehmenden Freunden sprachen und im allgemeinen ihre Gefangenschaft, so gut es ging, hinbrachten. Es war ein Sommerabend. Die Luft war schwer und heiß, die Enge und Abgeschlossenheit des Raumes drückend, und draußen hörte man den Lärm freier Stimmen, wie man die wirre Erinnerung solcher Töne bei Kopf- und Herzweh hat. Sie stand an dem Fenster und schaute verwirrt gleichsam aus ihrem eigenen Gefängnis in dieses andere Gefängnis, als ein oder zwei sanfte Worte der Ueberraschung sie aufschreckten und Klein-Dorrit vor ihr stand.

»Ist es möglich, Mrs. Clennam, daß Sie sich so glücklich erholt haben, um –«

Klein-Dorrit hielt inne, denn es lag weder Glück noch Gesundheit in dem Gesicht, das sich ihr zuwandte.

»Das ist keine Erholung; es ist keine Stärke; ich weiß nicht, was es ist.« Mit einem unruhigen Wink ihrer Hand wies sie das alles von sich ab. »Es wurde Ihnen ein Päckchen überbracht, das Sie Arthur geben sollten, wenn es nicht vor Torschluß heute abend reklamiert würde.«

»Ja.«

»Ich reklamiere es.«

Klein-Dorrit zog es aus ihrem Busen und gab es ihr in die Hand, die ausgestreckt blieb, nachdem sie es empfangen hatte.

»Haben Sie eine Ahnung von seinem Inhalt?«

Eingeschüchtert durch die Anwesenheit dieser Frau, die eine neue Bewegkraft in sich hatte, die nicht Stärke sein sollte, und auf die zu blicken so unheimlich war, als wenn ein Bild oder eine Statue lebendig würde, antwortete Klein-Dorrit: »Nein!«

»Lesen Sie.«

Klein-Dorrit nahm das Päckchen aus der noch immer ausgestreckten Hand und erbrach das Siegel. Mrs. Clennam gab ihr dann das innere Päckchen, das an sie selbst adressiert war, und behielt das andre. Der Schatten der Mauer und der Gefängnisbauten, die das Zimmer schon am Mittag verdüsterten, machten es bei der rasch zunehmenden Dämmerung zu dunkel, wenn man nicht am Fenster stand. Im Fenster, wo ein Streifen von dem hellen Sommerabendglanze auf sie fallen konnte, stand Klein-Dorrit und las. Nach einem kurzen Ausruf des Staunens und Schreckens las sie still weiter. Als sie zu Ende war, sah sie sich um, und ihre alte Herrin beugte sich vor ihr.

»Sie wissen jetzt, was ich getan habe.«

»Ich glaube. Ich fürchte, obgleich mein Gemüt so aufgeregt und schmerzerfüllt ist und so viel Mitleid fühlt, daß es nicht imstande war, alles ganz zu fassen, was ich gelesen!« sagte Klein-Dorrit mit zitternder Stimme.

»Ich will Ihnen ersetzen, was ich Ihnen vorenthalten habe. Vergeben Sie mir. Können Sie mir vergeben?«

»Ich kann, und der Himmel weiß, ich tue es auch! Küssen Sie mein Kleid nicht, und knien Sie nicht vor mir. Sie sind zu alt, um vor mir zu knien; ich vergebe Ihnen, frei und ungezwungen, auch ohne das.«

»Ich habe noch mehr von Ihnen zu fordern.«

»Nicht in dieser Stellung«, sagte Klein-Dorrit. »Es ist unnatürlich, Ihr graues Haar tiefer als das meine zu sehen. Bitte, stehen Sie auf; lassen Sie mich Ihnen helfen.« Damit hob sie sie auf und stand etwas gebeugt vor ihr, sah sie jedoch ernst an.

»Die große Bitte, die ich an Sie richte (es bleibt noch eine andre, die aus ihr erwächst), die große Bitte, die ich an Ihr mitleidiges und liebevolles Herz richte, ist, daß Sie dies nicht früher Arthur mitteilen, als bis ich tot bin. Wenn Sie, nachdem Sie sich die Sache einige Zeit überlegt, der Ansicht sind, es könne ihm irgendwie von Nutzen sein, es zu wissen, solange ich noch lebe, so sagen Sie es ihm. Aber Sie werden nicht dieser Ansicht sein; und wollen Sie in solchem Falle mir versprechen, mich zu schonen, bis ich tot bin?«

»Ich bin so niedergeschlagen, und was ich gelesen, hat mich so verwirrt in meinen Gedanken«, versetzte Klein-Dorrit, »daß ich kaum eine bestimmte Antwort zu geben imstande bin. Wenn ich völlig überzeugt wäre, daß die Bekanntschaft mit dieser Sache Mr. Clennam von keinem Nutzen wäre –«

»Ich weiß, Sie hängen an ihm und werden die erste Rücksicht auf ihn nehmen. Es ist recht und billig, daß Sie das tun; ich wünsche das selbst. Aber wenn Sie sein Interesse berücksichtigt haben und noch finden, daß Sie mich für die kurze Zeit, die ich auf Erden zubringe, schonen können, wollen Sie es dann tun?«

»Ja.«

»Gott segne Sie!«

Sie stand im Schatten, so daß sie Klein-Dorrit, die im Lichte stand, nur wie eine verschleierte Gestalt erschien; aber der Klang ihrer Stimme, als sie diese drei Worte des Dankes sagte, war zu gleicher Zeit inbrünstig und gebrochen. Gebrochen durch die Rührung, die ihren starren Augen so ungewohnt war als Bewegung ihren starren Gliedern. »Sie werden sich vielleicht wundern«, sagte sie in kräftigerem Tone, »daß ich es leichter nehme, von Ihnen gekannt zu sein, der ich Unrecht zugefügt habe, als dem Sohne meiner Feindin, die mir Unrecht zugefügt. Denn sie hat mir Unrecht zugefügt! – Sie sündigte nicht allein furchtbar gegen den Herrn, sondern sie fügte mir Unrecht zu. Wie sich Arthurs Vater gegen mich benahm, das war ihre Schuld. Von unsrem Hochzeitstage an war ich sein Schrecken, und dazu machte sie mich. Ich war die Geißel für beide, und daran ist sie schuld. Sie lieben Arthur (ich kann die Röte auf Ihren Wangen sehen!), und Sie werden bereits gedacht haben, er sei so barmherzig und freundlich wie Sie, warum ich mich deshalb nicht so gut an ihn als an Sie gewandt habe. War das nicht Ihr Gedanke?«

»Kein Gedanke«, sagte Klein-Dorrit, »kann meinem Herzen ganz fremd sein, der aus dem Bewußtsein entspringt, daß man auf Mr. Clennam immer vertrauen könne, weil er freundlich, edel und gut ist.«

»Ich zweifle nicht daran. Aber Arthur ist die einzige Person auf der Welt, vor der ich dies verbergen möchte, solange ich noch lebe. Ich erzog ihn in den frühesten Tagen seiner Erinnerung mit züchtigender Hand. Ich war streng gegen ihn, da ich wußte, daß die Vergehen der Eltern an ihren Nachkommen heimgesucht werden und daß ein Zorneszeichen ihm bei seiner Geburt aufgeprägt wurde. Ich sah, wenn ich mit ihm und seinem Vater zusammen war, wie die Schwäche seines Vaters ihn von diesen Fesseln loszubinden sich sehnte; und drängte diesen Wunsch zurück, damit das Kind in Banden und Druck frei zu werden lerne. Ich sah, wie er mit seiner Mutter Gesicht scheu von seinen kleinen Büchern zu mir aufblickte und mich in dem Ton seiner Mutter, der mich hart machte, zu erweichen suchte.«

Der Schauer ihrer Zuhörerin machte, daß sie den Fluß ihrer mit einer durch den Blick auf die Vergangenheit düster klingenden Stimme vorgebrachten Worte für einen Augenblick unterbrach.

»Es geschah um seinetwillen. Nicht um mich für das mir angetane Unrecht zu rächen. Was war ich und was wollte es heißen gegenüber dem Fluch des Himmels! Ich sah das Kind heranwachsen, nicht zu hoher Frömmigkeit (dazu lag das Vergehen seiner Mutter zu schwer auf ihm), doch zu Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit und Demut gegen mich. Er liebte mich nicht, wie ich mir einst die schwache Hoffnung gemacht – so schwach sind wir, und so streiten die verdorbenen Neigungen unseres Fleisches mit unserer Aufgabe, unserer Mission: aber er achtete mich und ordnete sich treulich mir unter. Er tut es noch bis auf diese Stunde. Mit einem leeren Platze in seinem Herzen, dessen Bedeutung er nie gekannt, hat er sich von mir abgewandt und ist seinen gesonderten Weg gegangen; aber auch dies tat er rücksichtsvoll und mit Ehrerbietung. Das waren seine Beziehungen zu mir. Die Ihrigen waren schwächere und von nicht so altem Datum. Wenn Sie mit Ihrer Näharbeit in meinem Zimmer saßen, fürchteten Sie sich vor mir, aber Sie waren der Ansicht, ich wolle Ihnen eine Güte erzeigen. Nun sind Sie besser unterrichtet und wissen, daß ich Ihnen ein Unrecht zugefügt. Ihre Mißdeutung und Ihr Mißverstehen der Ursachen und Gründe, deretwegen ich dies getan, ist leichter zu ertragen, als es das seinige wäre. Ich möchte um keinen Preis der Welt, daß er einen Augenblick, wenn auch blindlings, mich von dem Standpunkt herabriß, den ich sein ganzes Leben ihm gegenüber eingenommen, mir seinen Respekt entzöge, daß ich mich entdeckt und bloßgestellt sähe. Mag es geschehen, wenn es geschehen soll, aber nur lassen Sie mich nicht mehr leben, um es zu sehen. Lassen Sie mich immer fühlen, solange ich lebe, daß ich vor seinem Antlitz sterbe und gänzlich vor ihm zugrunde gehe wie einer, den der Blitz verzehrt oder ein Erdbeben verschlingt.«

Ihr Stolz trat mächtig zutage, und die Qualen, die der Stolz und ihre alten Leidenschaften ihr verursachten, waren peinlicher denn sonst, als sie diese Worte sprach. Nicht geringer aber, als sie hinzufügte:

»Auch jetzt noch sehe ich Sie vor mir beben, als wenn ich grausam gewesen wäre.«

Klein-Dorrit konnte dem nicht widersprechen. Sie suchte es nicht zu zeigen, aber sie schauerte bei dem Gedanken an den Gemütszustand, unter dessen Druck sie so lange geseufzt. Der Gedanke drängte sich ihrer einfachen Natur ohne Sophisterei in seiner ganzen Peinlichkeit auf.

»Ich habe getan«, sagte Mrs. Clennam, »was mir zu tun bestimmt war. Ich habe mich gegen das Böse gestemmt; nicht gegen das Gute. Ich war ein Werkzeug der Strenge gegen die Sünde. Haben nicht zu allen Zeiten bloße Sünder wie ich die Mission erhalten, die Sünde in den Staub zu beugen?«

»Zu allen Zeiten?« wiederholte Klein-Dorrit.

»Hätte ich, selbst wenn das mir zugefügte Unrecht bei mir in den Vordergrund getreten wäre und meine eigne Rache die Triebfeder meines Handelns gewesen, keine Rechtfertigung gefunden? Keine in jenen alten Zeiten, wo der Unschuldige mit dem Schuldigen unterging, tausend gegen einen? Wo der Zorn dessen, der das Ungerechte haßte, nicht einmal in Blut erlosch und doch Gnade fand?«

»Oh, Mrs. Clennam, Mrs. Clennam«, sagte Klein-Dorrit, »Gefühle des Zornes und Taten der Unversöhnlichkeit sind kein Trost und keine Richtschnur für Sie und mich. Mein Leben verfloß in diesem armseligen Gefängnis, und mein Unterricht war sehr mangelhaft; aber lassen Sie mich Sie bitten, späterer und besserer Tage zu gedenken. Lassen Sie sich einzig leiten durch den Heiler der Kranken, den Erretter vom Tode, den Freund aller Bekümmerten und Verlorenen, den geduldigen Meister, der Tränen des Mitleids über unsre Schwächen vergoß. Wir können nur auf dem rechten Wege sein, wenn wir alles übrige wegwerfen und alles im Gedanken an ihn tun. Keine Rache ist möglich, wenn wir ihm folgen und keine andren Fußstapfen als die seinen suchen; des bin ich gewiß!«

In dem sanften Lichte des Fensters, wie sie von dem Schauplatz ihrer ersten Prüfungen zu dem glänzenden Himmel aufschaute, stand sie in keinem grelleren Gegensatz zu der schwarzen Gestalt im Schatten als das Leben, und die Überzeugung, auf die sie baute, zu der Geschichte dieser Gestalt, die langsam ihr Haupt senkte und kein Wort sprach. So blieb sie, bis das erste Zeichen der Glocke ertönte.

»Horch!« rief Mrs. Clennam, aus ihrem Sinnen auffahrend. »Ich sagte, ich habe noch eine andre Bitte. Es ist eine Bitte, die keinen Verzug gestattet. Der Mann, der Ihnen das Päckchen brachte und die Beweise in Händen hat, befindet sich gegenwärtig in meinem Hause und will erkauft sein. Ich kann die Sache Arthur nur dadurch geheimhalten, daß ich diesen Mann erkaufe. Er verlangt eine große Summe; mehr, als ich für den Augenblick zusammenbringen kann, um ihn zu bezahlen. Er will nichts von einem Nachlaß wissen, denn er droht, wenn die Sache mit mir nicht ins reine komme, zu Ihnen zu gehen. Wollen Sie mit mir kommen und ihm zeigen, daß Sie die Sache bereits wissen? Wollen Sie mit mir kommen und ihn zu überreden suchen? Wollen Sie mit mir kommen und mir gegen ihn beistehen? Verweigern Sie mir nicht, was ich in Arthurs Namen bitte, obgleich ich es nicht um Arthurs willen zu bitten wage!«

Klein-Dorrit sagte bereitwillig zu. Sie eilte für einige Augenblicke nach dem Gefängnis, kehrte zurück und sagte, sie sei bereit zu gehen. Sie gingen über eine andre Treppe weg und vermieden das Schließerstübchen; als sie über den vordern Hof kamen, war alles still und öde, und sie traten auf die Straße.

Es war einer jener Sommerabende, wo keine größere Dunkelheit eintritt als ein langandauerndes Zwielicht. Die Aussicht auf Straße und Brücke war klar und der Himmel rein und schön. Die Leute standen und saßen an ihren Türen, spielten mit ihren Kindern und freuten sich des Abends; andere gingen spazieren, um Luft zu schöpfen; die Last des Tages hatte sich beinahe selbst erschöpft, und wenige, außer ihnen, hatten Eile. Als sie über die Brücke gingen, sahen die klarumrissenen Glockentürme der zahlreichen Kirchen aus, als ob sie aus der Dunkelheit herausgetreten, die sie gewöhnlich umhüllte, und näher gekommen wären. Der Rauch, der zum Himmel aufstieg, hatte seine schmutzige Farbe verloren und ein glänzendes Aussehen angenommen. Die Schönheit des Sonnenuntergangs war noch auf dem in friedlicher Ruhe mit leichten Wölkchen überzogenen Abendhimmel ausgebreitet. Aus einem leuchtenden Mittelpunkt ergossen sich über die ganze Länge und Breite des ruhigen Firmaments große Lichtströme zwischen die frühen Sterne, als Zeichen des heiligen neuen Friedens- und Hoffnungsbundes, der die Dornenkrone in eine Glorie verwandelt.

Weniger auffallend, weil sie nicht mehr allein und es auch schon dunkler war, eilte Mrs. Clennam unbelästigt an Klein-Dorrits Seite durch die Straßen. Sie verließen die Hauptstraße bei der Ecke, bei der sie sie betreten, und schlugen den Weg durch die stillen, leeren Querstraßen ein. Ihre Füße waren an dem Torweg, als sie ein plötzliches Geräusch wie Donner vernahmen.

»Was war das? Wir wollen rasch eintreten«, rief Mrs. Clennam.

Sie standen in dem Torweg. Klein-Dorrit hielt sie mit einem gellen Schrei zurück.

Einen flüchtigen Augenblick sahen sie noch das alte Haus vor sich, in dessen Fenster der rauchende Fremde saß: noch ein Donnerschlag, und es erhob sich, schwoll, ging an fünfzig Stellen auseinander, brach zusammen und lag in Trümmern. Betäubt durch das furchtbare Geräusch, atemlos, erstickt und geblendet durch den Staub, bedeckten sie ihre Gesichter mit der Hand und standen wie an den Boden gewurzelt da. Der Staubwirbel, der zwischen ihnen und dem heitern Himmel auftrieb, verteilte sich einen Augenblick und zeigte ihnen die Sterne. Als sie ungestüm nach Hilfe rufend wieder aufblickten, wankte die große Masse der Kamine, die allein noch stehengeblieben waren, wie ein Turm im Wirbelwind, brach zusammen und stürzte wie ein Hagel auf den Trümmerhaufen, als wenn jeder niederfallende Stein den zermalmten Schurken noch tiefer begraben wollte.

So bis zur Unkenntlichkeit durch die in der Luft umherfliegenden Teilchen des Schuttes geschwärzt, eilten sie weinend und schreiend nach der Straße zurück. Dort sank Mrs. Clennam auf die Steine, und sie bewegte von dieser Stunde keinen Finger wieder, noch konnte sie fortan ein Wort sprechen. Denn über drei Jahre lag sie in ihrem Räderstuhle und betrachtete aufmerksam die Umstehenden, während es das Aussehen hätte, als ob sie verstünde, was sie sprechen; aber das strenge Schweigen, das sie so lange beobachtet hatte, wurde jetzt auf immer zum Zwang für sie, und abgesehen davon, daß sie ihre Augen bewegen und Bejahen und Verneinen schwach mit dem Kopfe andeuten konnte, lebte und starb sie wie eine Statue.

Affery hatte im Gefängnis nach ihnen gefragt und sie unfern von der Brücke zu Gesicht bekommen. Sie eilte herbei, um ihre alte Herrin in ihren Armen aufzufangen, sie in ein benachbartes Haus tragen zu helfen und ihr dienstlich zu sein. Das Geheimnis des Geräusches war jetzt am Tage: Affery, wie bedeutendere Leute, hatte immer recht in Beziehung auf Tatsachen und immer unrecht in Beziehung auf die Theorie, die sie daraus entwickelte.

Als sich die Staubwolken verzogen und die Sommernacht wieder ruhig geworden, versperrten zahlreiche Menschenmassen jeden Straßenzugang, und es bildeten sich Abteilungen von Arbeitern, die sich im Durchsuchen der Trümmer ablösen sollten. Es waren hundert Menschen zur Zeit des Zusammenstürzens in dem Hause gewesen, dann wieder fünfzig, dann fünfzehn, dann zwei. Das Gerücht blieb bei der Zahl zwei stehen: nämlich dem Fremden und Mr. Flintwinch.

Die Arbeiter gruben die kurze Nacht hindurch beim flackernden Gaslicht, und auf gleicher Höhe mit der frühen Morgensonne, und tiefer und tiefer hinab, je mehr sich die Sonne zum Zenit erhob, und unter ihren schwachen Strahlen, als sie hinabsank, und wieder auf gleicher Höhe mit ihr, als sie schied. Das angestrengte Graben und Schaufeln und Wegführen in Karren, auf Tragbahren und in Körben dauerte ohne Unterbrechung Tag und Nacht fort. Aber es wurde zum zweiten Male Nacht, als sie den schmutzigen Klumpen fanden, der einst der Fremde gewesen war, ehe sein Kopf in Atome wie Glas von dem großen Balken, der auf ihm lag, zermalmt worden.

Aber sie waren noch nicht auf Flintwinch gestoßen. So dauerte das emsige Graben und Schaufeln und Wegführen ohne Unterbrechung Tag und Nacht fort. Das Gerücht ging, daß das alte Haus ein ausgezeichnetes Kellergeschoß gehabt (was wirklich wahr war), und daß Flintwinch in jenem Augenblick in einem Keller gewesen oder Zeit gehabt, in einen zu entkommen, und daß er unter dem starken Gewölbe sicher sei, ja, daß man ihn sogar in hohlen, unterirdischen, halberstickten Tönen habe rufen hören: »Ich bin hier!« Am entgegengesetzten Ende der Stadt wußte man sogar, daß die Ausgrabenden imstande gewesen, durch eine Röhre eine Verbindung mit ihm herzustellen, und daß er durch diesen Kanal Suppe und Branntwein erhalten, und daß er mit bewundernswürdiger Fassung gesagt habe, er befinde sich ganz wohl mit Ausnahme seines Schlüsselbeines. Aber das Graben und Schaufeln und Wegführen dauerte ohne Unterbrechung fort, bis die Trümmer alle weggeschafft und die Keller geöffnet waren, doch weder durch Picke noch durch Spaten wurde ein Flintwinch, lebendig oder tot, ganz wohl oder ganz übel, herausgeschafft.

Man merkte nun, daß Flintwinch zur Zeit des Einfallens gar nicht im Hause dagewesen; und man merkte ferner, daß er anderwärts ziemlich beschäftigt gewesen, indem er Wertpapiere in so viel Geld umsetzte, wie in der Eile zu erlangen war, und seine Vollmacht, für die Firma zu handeln, ausschließlich in seinem eigenen Interesse benutzt hatte. Affery, die sich erinnerte, daß der Gescheite gesagt, er wolle sich in vierundzwanzig Stunden weiter erklären, entschied sich dahin, daß sein Verschwinden in diesem Augenblick und mit allem, was er aufbringen konnte, die Summe und der wesentliche Inhalt seiner versprochenen Erklärung sei; aber sie verhielt sich ruhig, von Herzen dankbar, daß sie ihn los und seiner ledig war. Da es ein vernünftiger Schluß zu sein schien, daß ein Mann, der nicht begraben worden, auch nicht ausgegraben werden könne, so gaben ihn die Arbeiter auf, als ihre Arbeit geschehen war, und gruben nicht auch noch in den Tiefen der Erde nach ihm.

Dies vermerkte eine große Masse Menschen gar übel; denn sie beharrten bei der Ansicht, daß Flintwinch irgendwo unter den geologischen Formationen Londons liege. Auch war ihr Glaube nicht sonderlich erschüttert durch die wiederholte Nachricht, die im Verlauf der Zeit über den Kanal kam, daß ein alter Mann, der den Zipfel seines Halstuches unter einem Ohr trage und als Engländer bekannt sei, mit den Holländern an den saubern Ufern der Kanäle im Haag und in den Wirtshäusern von Amsterdam unter dem Titel und Namen eines Mynheer von Flyntevynge verkehre.

Neunzehntes Kapitel


Neunzehntes Kapitel

Der Sturm auf das Luftschloß

Die Sonne war volle vier Stunden untergegangen, und es war später, als die meisten Reisenden sich gern außerhalb der Mauern von Rom befinden, als Mr. Dorrits Wagen immer noch auf der letzten mühsamen Station über die einsame Campagna hinrollte. Die wilden Hirten und die finster blickenden Bauern, die noch den Weg belebt und bunt gemacht hatten, solange es hell war, waren alle mit der Sonne zur Ruhe gegangen und ließen die Einöde leer. An einigen Ecken des Weges zeigte ein blasser Schimmer am Horizont, gleich einer Ausdünstung aus dem trümmerübersäten Land, daß die Stadt noch weit entfernt war; aber dieser dürftige Trost war selten und kurz. Der Wagen senkte sich wieder in ein Loch des schwarzen, trockenen Meeres, und für lange Zeit war wieder nichts zu sehen als die versteinerte Woge und der düstere Himmel.

Mr. Dorrit, obgleich er mit dem Bau seines Luftschlosses beschäftigt war, fühlte sich doch an diesem Ort nicht ganz behaglich. Er war bei jedem Umbiegen des Wagens und jedem Ruf des Postillions neugieriger als er auf dem ganzen Wege seit London gewesen. Der Kammerdiener auf dem Bock zitterte sichtlich. Dem Kurier Hintenauf war es nicht wohl zumute. Sooft Mr. Dorrit das Fenster herunterließ und sich nach ihm umsah (was sehr oft geschah), sah er ihn allerdings John Chivery rauchen, aber dabei zumeist stehen und sich umschauen wie ein Mann, der seinen Verdacht hat und auf seiner Hut bleibt. Dann zog Mr. Dorrit die Fenster wieder in die Höhe und dachte bei sich, diese Postillione seien mörderartig aussehende Kerle, und er würde besser daran getan haben, wenn er in Civitavecchia übernachtet und beizeiten morgens aufgebrochen wäre. Aber trotzdem baute er immer wieder an seinem Luftschloß.

Und jetzt zeigten Bruchstücke verfallener Einfassungen, gähnende Fensteröffnungen und morsche Mauern, öde Häuser, lecke Brunnen, geborstene Zisternen, gespenstische Zypressen, Büsche verschlungener Weinreben und der Übergang des Geleises in eine lange, unregelmäßige, unordentliche Gasse, wo alles im Verfall war, von den unansehnlichen Gebäuden bis zu dem holperigen Weg – all dies zeigte, daß sie sich Rom näherten. Und jetzt flößte ein plötzliches Ausbiegen und Anhalten des Wagens Mr. Dorrit die Besorgnis ein, daß nun der Straßenräuberaugenblick gekommen sei, um ihn in einen Graben zu schleppen und auszuplündern; bis er das Fenster wieder herunterließ und sah, daß ihm nichts Schlimmes den Weg versperrte als eine Leichenprozession, die ein undeutliches Schauspiel von schmutzigen Kleidern, flackernden Fackeln, geschwungenen Weihrauchpfannen und einem großen, vor einem Priester hergetragenen Kreuze entfaltete, mit mechanischer Gleichgültigkeit an ihm vorüberzog. Jener Priester war ein häßlicher Mann, wenn man ihn so bei Fackellicht sah, von finsterem Aussehen, mit vorstehender Stirn, und als seine Augen denen von Mr. Dorrit begegneten, der entblößten Hauptes zum Wagen heraussah, schienen die vom Singen bewegten Lippen diesem bedeutenden Reisenden zu drohen, auch die Bewegung seiner Hand, die nichts als die Erwiderung des Grußes des Reisenden war, schien diese Drohung zu unterstützen. So kam es wenigstens Mr. Dorrit vor, dessen Phantasie durch das ermüdende Bauen und Fahren aufgeregt war, als der Priester an ihm vorüberzog und die Prozession mit ihrer Leiche sich entfernte. Einen ganz andern Weg schlug Mr. Dorrit mit seinem Gefolge ein; und bald klopften sie mit ihrer Wagenladung von Luxuswaren aus den beiden großen Hauptstädten Europas (gleich umgekehrten Goten) an die Tore von Rom.

Mr. Dorrit wurde von seinen Leuten nicht mehr diese Nacht erwartet. Man hatte auf ihn gewartet, hatte es aber endlich bis zum andern Morgen verschoben, da man glaubte, er werde zu so später Nachtzeit nicht mehr in einem solchen Lande unterwegs sein. Als daher sein Wagen vor der Tür seines Hauses hielt, erschien niemand zu seinem Empfang als der Portier. Ob Miß Dorrit nicht zu Hause, fragte er. Doch, sie sei zu Hause. Gut, sagte Mr. Dorrit zu den herbeikommenden Dienern, sie sollten bleiben, wo sie wären, und den Wagen abladen helfen, er wolle Miß Dorrit selbst aufsuchen.

Er ging langsam und müde die große Treppe hinauf und blickte in verschiedene Zimmer, die leer waren, bis er Licht in einem kleinen Vorzimmer bemerkte.

Es war ein verhangener Raum wie ein Zelt, hinter dem sich zwei Zimmer befanden; er sah warm und hellfarbig aus, da er durch den dunklen Gang geschritten kam.

Der Eingang hatte eine Portiere, aber keine Tür, und als er hier stehenblieb und ungesehen hineinschaute, fühlte er einen Stich im Herzen. Wohl nicht aus Eifersucht? Warum auch Eifersucht? Es waren ja nur sein Bruder und seine Tochter drinnen; er hatte den Stuhl an den Kamin gerückt und genoß die Wärme des abendlichen Holzfeuers; sie saß an einem kleinen Tischchen und war mit einer Stickerei beschäftigt. Wenn man den großen Unterschied in der Umgebung des Bildes zugibt, so bleibt doch eine große Ähnlichkeit in den Personen, denn sein Bruder sah ihm ähnlich genug, um ihn für einen Augenblick vorstellen zu können. So hatte er manchen Abend an einem Steinkohlenfeuer in der alten Heimat gesessen, so hatte sie gesessen, ganz nur seinem Dienst geweiht. Und doch war in der alten, elenden Armut nichts, worauf man hätte eifersüchtig sein können. Woher dann dieser Stich im Herzen?

»Weißt du, Onkel, ich glaube, du wirst wieder jung.«

Ihr Onkel schüttelte den Kopf und sagte: »Seit wann, meine Liebe, seit wann?«

»Ich glaube«, versetzte Klein-Dorrit, fleißig mit der Nadel fortarbeitend, »daß du schon seit Wochen immer jünger wirst. So heiter, Onkel, und so munter und so teilnehmend an allem, was vorgeht!«

»Mein liebes Kind – das tust du mir alles.«

»Ich alles, Onkel?«

»Ja, ja. Du hast unendlich wohltätig auf mich eingewirkt. Du warst so rücksichtsvoll gegen mich und gingst so zart mit mir um und suchtest so zart mir deine Aufmerksamkeiten zu verbergen, daß ich – ja, ja, ja! Ich habe es in treuem Herzen bewahrt, gutes Kind, in treuem Herzen bewahrt.« »Aber, lieber Onkel, das phantasierst du dir nur alles so zusammen«, sagte Klein-Dorrit heiter.

»Ja, ja, ja!« murmelte der Alte. »Gott sei Dank!«

Sie hielt einen Augenblick mit ihrer Arbeit inne, um ihn anzusehen, und ihr Blick machte, daß der Stich in ihres Vaters Brust wieder schmerzte: in seiner armen, schwachen Brust, die so voll von Widersprüchen, Ungereimtheiten und Schwankungen, so voll von den kleinen armseligen Verlegenheiten dieses dunklen Lebens war, Nebeln, die der Morgen ohne Nacht allein verscheuchen kann.

»Ich konnte mein Herz offner vor dir ausschütten, mein Täubchen«, sagte der alte Mann, »seit wir allein sind. Ich sage allein, denn ich zähle Mrs. General nicht: ich kümmere mich nicht um sie: sie hat nichts mit mir zu schaffen. Aber ich weiß, Fanny hat keine Geduld mit mir. Und das wundert mich nicht, auch klage ich nicht darüber, denn ich fühle wohl, ich muß im Wege sein, obgleich ich mich so viel wie möglich seitab halte. Ich weiß, ich passe nicht in unsre Gesellschaft. Mein Bruder William«, sagte der alte Mann ganz von Bewunderung voll, »würde ein Umgang für Fürsten sein: aber mit deinem Onkel ist’s etwas anderes, mein Kind. Frederick Dorrit mehrt das Ansehen William Dorrits nicht, und er weiß es ganz wohl. Ach! Wie, da ist ja dein Vater, Amy! Mein lieber William, sei willkommen! Mein geliebter Bruder, ich freue mich herzlich, dich wiederzusehen!«

Als er sich während des Sprechens umgewandt, hatte er ihn auf der Schwelle stehen sehen.

Klein-Dorrit schlang mit einem Freudenschrei die Arme um ihres Vaters Hals und küßte ihn wieder und wieder. Ihr Vater war etwas ungeduldig und mißgestimmt. »Ich freue mich, dich endlich wiederzusehen, Amy«, sagte er. »Ha. Wirklich, ich freue mich, endlich – hm – irgend jemand zu finden, der mich empfängt. Ich scheine so wenig – ha – erwartet worden zu sein, daß ich wahrhaftig – ha – hm – zu glauben begann, es werde nötig sein, mich zu entschuldigen, daß ich – ha – mir die Freiheit nahm, überhaupt zurückzukommen.«

»Es war so spät, mein lieber William«, sagte sein Bruder, »daß wir die Hoffnung für heute nacht aufgegeben hatten.«

»Ich bin stärker als du, lieber Frederick«, versetzte sein Bruder mit einer gemachten Brüderlichkeit, in der mehr Strenge lag, »und ich hoffe, ich kann ohne Nachteil für meine Gesundheit – ha – zu jeder Stunde, wenn ich will, reisen.«

»Gewiß, gewiß«, versetzte der andere, besorgt, er möchte Anstoß gegeben haben. »Gewiß, William.«

»Ich danke dir, Amy«, fuhr Mr. Dorrit fort, während sie ihm die Schals abnehmen half, »ich kann es schon allein machen. Ich will – ha – dir keine Mühe verursachen, Amy. Könnte ich ein Stückchen Brot und ein Glas Wein haben, oder – hm – würde es zu viele Umstände machen?«

»Lieber Vater, du sollst dein Abendessen in wenigen Minuten haben.«

»Ich danke, mein liebes Kind«, sagte Mr. Dorrit mit vorwurfsvoller Kälte; »ich – ha – fürchte zu viele Umstände zu veranlassen. Hm. Mrs. General ganz wohl?«

»Mrs. General klagte über Kopfweh und Müdigkeit; sie ging deshalb zu Bett, als wir glaubten, du kämst nicht mehr, mein lieber Vater.«

Vielleicht dachte Mr. Dorrit, Mrs. General habe recht gehabt, wenn sie durch die Täuschung, die durch ein Nichtankommen verursacht worden, sich gedrückt gefühlt. Jedenfalls heiterte sich sein Gesicht auf, und er sagte mit offenbarer Befriedigung: »Bedaure außerordentlich zu hören, daß Mrs. General nicht wohl ist.«

Während dieses kurzen Gespräches hatte ihn seine Tochter mit etwas mehr als gewöhnlichem Interesse betrachtet. Es hatte den Anschein, als wenn er ihr verändert und schlechter aussehend vorkäme: er bemerkte es und nahm es empfindlich auf: denn er sagte, mit neuer Verdrießlichkeit, als er sich seines Reiserocks entledigt hatte und an das Feuer getreten war:

»Amy, wonach siehst du? Was siehst du an mir, das dich veranlaßt, deine – ha – besorgte Teilnahme mir in – hm – so eigentümlicher Weise zuzuwenden?«

»Ich wußte es nicht, Vater: ich bitte um Entschuldigung. Es beglückte meine Augen, dich wiederzusehen: das ist alles.«

»Sage nicht, das ist alles, weil – ha – das nicht alles ist. Du – hm – glaubst,« sagte Mr. Dorrit mit einer Emphase, in der eine Anklage lag, »daß ich nicht gut aussehe.«

»Ich dachte, du sähest etwas ermüdet aus, lieber Vater.«

»Dann täuschest du dich«, sagte Mr. Dorrit. »Ha, ich bin nicht müde. Ha, hm. Ich bin frischer, als ich war, als ich wegging.«

Er war so nahe daran, in Zorn auszubrechen, daß sie nichts mehr zu ihrer Verteidigung sagte, sondern ruhig neben ihm stehenblieb und seinen Arm umschlungen hielt. Als er so dastand, wahrend sein Bruder von der andern Seite ihn ansah, versank er in eine Träumerei von kaum einer Minute, aus der er plötzlich auffuhr.

»Frederick«, sagte er, sich zu seinem Bruder umwendend, »ich empfehle dir, augenblicklich zu Bett zu gehen.«

»Nein, William, ich will aufbleiben und dich zu Nacht speisen sehen.«

»Frederick«, versetzte er, »ich bitte dich, zu Bett zu gehen. Tue es mir zu Gefallen und gehe zu Bett. Du solltest schon lange zu Bett sein. Du bist sehr schwach.«

»Ha!« sagte der alte Mann, der keinen andern Wunsch hatte, als ihm zu Gefallen zu leben. »Ja, ja, ja! Das bin ich wohl.«

»Mein lieber Frederick«, versetzte Mr. Dorrit mit erstaunlicher Überlegenheit über die schwachen Kräfte seines Bruders, »es kann kein Zweifel darüber sein. Es ist sehr schmerzlich für mich, dich so schwach zu sehen. Ha. Es macht mir großen Kummer. Hm. Ich finde nicht, daß du wohl aussiehst. Du bist nicht für dergleichen Dinge gemacht. Du solltest ängstlicher auf deine Gesundheit bedacht sein, weit mehr auf deine Gesundheit bedacht sein.«

»Soll ich zu Bett gehen?« fragte Frederick.

»Lieber Frederick«, sagte Mr. Dorrit, »tue es, ich beschwöre dich! Gute Nacht, Bruder. Ich hoffe, du wirst dich morgen kräftiger fühlen. Dein Aussehen gefällt mir ganz und gar nicht. Gute Nacht, lieber Junge!« Nachdem er seinen Bruder auf diese freundliche Weise fortgeschickt, versank er wieder in ein träumerisches Sinnen, ehe der alte Mann noch zum Zimmer hinaus war; und er wäre über die Schwelle gestolpert, wenn seine Tochter ihn nicht gehalten hätte.

»Dein Onkel ist sehr verwirrt, Amy«, sagte er, als er aus seinem Sinnen erwachte. »Er spricht weniger zusammenhängend, und seine Konversation ist – hm – gebrochener, als ich es je – ha – hm – an ihm gekannt. Ist er unwohl gewesen, seit ich fort war?«

»Nein, Vater.«

»Du – ha – findest ihn doch auch sehr verändert. Amy?«

»Ich habe nichts bemerkt, Vater.«

»Er ist ganz gebrochen«, sagte Mr. Dorrit. »Ganz gebrochen. Mein armer liebevoller, schwacher Frederick! Ha. Wenn ich namentlich bedenke, was er früher war, so ist er jetzt – hm – traurig gebrochen.«

Sein Nachtessen, das ihm nunmehr gebracht und auf dem kleinen Tisch aufgestellt wurde, an dem er sie hatte arbeiten sehen, lenkte seine Aufmerksamkeit von dem bisherigen Gesprächsgegenstand etwas ab. Sie saß an seiner Seite wie in jenen früheren Tagen, zum ersten Male, seit jene Tage ihr Ende genommen. Sie waren allein, und sie reichte ihm die Speisen und schenkte ihm den Wein ein, wie sie es im Gefängnis zu tun gewohnt gewesen war. All dies geschah jetzt zum ersten Male, seit sie reich geworden. Sie fürchtete sich, ihn viel anzusehen, nachdem er Ärgernis daran genommen; aber sie beobachtete zweimal während des Essens, daß er sie ganz plötzlich ansah und sich dann umschaute, als wenn die Ideenverbindung so stark wäre, daß er sich durch seinen Gesichtssinn versichern müsse, sie seien nicht in dem alten Gefängnis. Beide Male legte er seine Hand an seinen Kopf, als vermißte er seine alte schwarze Mütze – obwohl diese schmählicherweise im Marschallgefängnis weggeschenkt und bis zu dieser Stunde nicht frei geworden, sondern noch immer auf dem Kopfe seines Nachfolgers im Hofe sich umhertrieb.

Er nahm sehr wenig zu sich, aber verweilte sehr lange beim Essen und kehrte oft auf den schwachen Zustand seines Bruders zurück. Obwohl er das größte Mitleid mit ihm aussprach, war er doch beinahe ärgerlich auf ihn. Er sagte, der arme Frederick – ha, – hm – fasle. Es gebe kein andres Wort dafür: fasle. Der arme Junge! Es war ein trauriger Gedanke, wenn man bedächte, was Amy von der unendlichen Langweiligkeit seiner Gesellschaft ausgestanden haben mußte – von der Gesellschaft dieses Mannes, der immerfort schwätze und fasle, der arme, gute, liebe Mensch, der immerfort fasle und schwatze – wenn sie nicht in Mrs. General eine Aufheiterung gefunden. Er bedauere sehr, wiederholte er dann mit der früheren Zufriedenheit, daß diese – ha – herrliche Frau unpäßlich sei.

Klein-Dorrit mit ihrer aufmerksamen Liebe würde sich des Geringsten, was er in jener Nacht sagte und tat, erinnert haben, obgleich sie später keinen Grund hatte, jene Nacht sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie erinnerte sich immer, daß wenn er unter dem starken Einfluß der Ideenverbindung des Jetzt und Ehemals umherblickte, er ihr und vielleicht sich selbst den Gedanken fernzuhalten suchte, indem er augenblicklich wieder von dem großen Reichtum und der vornehmen Gesellschaft sprach, mit der er während seiner Abwesenheit verkehrt, und von der hohen Stellung, die er und seine Familie zu behaupten hätten. Auch erinnerte sie sich deutlich, daß durch das ganze Gespräch und das ganze Benehmen ihres Vaters zwei Strömungen durchliefen, nämlich, daß er zeigen wollte, wie gut es ihm ohne sie gegangen, und wie unabhängig er von ihr sei, und daß er sich auf eine passende, zart andeutende Weise beklagte, es wäre möglich, sie hätte ihn, während er fortgewesen, vernachlässigt.

Seine Schilderung von der großartigen Stellung, die Mr. Merdle einnehme, und von dem Hofe, der sich vor ihm beuge, brachte ihn natürlich auf Mrs. Merdle. So natürlich, daß, obgleich ungewöhnlicher Mangel an Folgerichtigkeit in dem größern Teil seiner Bemerkungen sichtlich war, er plötzlich auf sie überging und fragte, wie sie sich befände.

»Sie ist ganz wohl. In nächster Woche geht sie fort.«

»Nach Hause?« fragte Mr. Dorrit.

»Nachdem sie sich einige Wochen unterwegs aufgehalten habe.«

»Sie wird ein großer Verlust für die hiesige Gesellschaft sein«, sagte Mr. Dorrit. »Ein großer Gewinn für die Heimat. Für Fanny und – hm – die übrige – ha – große Welt.«

Klein-Dorrit dachte an den Wetteifer, der nun beginnen sollte, und stimmte außerordentlich sanft zu.

»Mrs. Merdle will eine große Abschiedsgesellschaft geben, lieber Vater, der ein Diner vorangehen soll. Sie drückte ihre Besorgnis aus, du möchtest nicht mehr zur rechten Zeit eintreffen. Sie hat dich und mich zu ihrem Diner eingeladen.«

»Sie ist – ha – sehr freundlich. Wann soll es stattfinden?«

»Übermorgen.«

»Schreibe ihr morgen und sage, daß ich zurückgekehrt sei und mich sehr – hm – freue.«

»Darf ich dich die Treppe hinauf in dein Zimmer begleiten, lieber Vater?«

»Nein!« antwortete er, ärgerlich sich umsehend: denn er ging weg, als wenn er das Abschiednehmen vergäße. »Du sollst nicht, Amy! Ich brauche keine Hilfe. Ich bin dein Vater, nicht dein gebrechlicher Onkel!« Er unterbrach sich ebenso plötzlich, als er diese Antwort gegeben hatte, und sagte: »Du hast mich nicht geküßt, Amy. Gute Nacht, liebes Kind! Wir müssen dich nun verheiraten – ha – dich verheiraten.« Mit diesen Worten ging er langsam und müde die Treppe hinauf nach seinen Zimmern, und beinahe sofort, als er dort angekommen, entließ er seinen Kammerdiener. Die nächste Sorge war, nach seinen Pariser Einkäufen zu sehen und, nachdem er ihre Kapseln geöffnet und sie genau in Augenschein genommen hatte, sie unter Schloß und Riegel zu legen. Darauf sank er, halb dösend, halb Schlösser bauend, auf lange Zeit in träumerisches Sinnen, so daß bereits ein leichter Morgenschimmer den östlichen Rand der öden Campagna umsäumte, als er in das Bett kroch.

Mrs. General ließ sich am nächsten Tag frühzeitig nach seinem Befinden erkundigen: sie hoffe, er habe nach seiner anstrengenden Reise wohl geruht. Er ließ ihr danken und bat Mrs. General zu versichern, daß er vortrefflich geschlafen und sich außerordentlich wohl befinde. Nichtsdestoweniger verließ er seine Zimmer erst spät am Nachmittag, und obgleich er sich für eine Fahrt mit Mrs. General und seiner Tochter prachtvoll ankleiden ließ, reichte doch seine äußere Erscheinung nicht an die Beschreibung, die er von sich machte.

Da die Familie an diesem Tage keine Besuche hatte, speisten die vier Familienmitglieder allein zusammen. Er führte Mrs. General mit ungeheurer Zeremonie an den Platz zu seiner Rechten, und Klein-Dorrit bemerkte unwillkürlich, als sie mit ihrem Onkel folgte, daß er wieder mit ausgesuchtem Geschmack gekleidet, und daß sein Benehmen gegen Mrs. General ganz eigentümlicher Art war. Die vollendete Bildung des Äußern dieser vollkommenen Dame machte es schwierig, ein Atom von ihrer feinen Politur zu verrücken, aber Klein-Dorrit glaubte in einer Ecke ihres frostigen Auges ein flüchtiges Auftauen des Triumphes zu gewahren.

Trotz des prunischen und prismatischen Charakters des Familienbanketts, wie wir jenen in diesem Roman bezeichnen wollen, schlief Mr. Dorrit mehrere Male im Verlauf des Diners ein. Seine Anfälle von Schlummer waren so plötzlich, als sie es in der Nachtzeit vor Schlafengehen waren, und auch so kurz und tief. Als ihn zum erstenmal ein solcher Schlummer überfiel, war Mrs. General etwas erstaunt, aber bei jeder Wiederholung dieses Symptoms betete sie ihren höflichen Rosenkranz, der aus den Worten: Papa, Potateos, Poultry, Prunes und Prism bestand: und indem sie äußerst langsam dieses unfehlbare Mittel anwandte, schien sie mit ihrem Rosenkranz beinahe im selben Augenblick zu Ende zu kommen, als Mr. Dorrit aus seinem Schlafe auffuhr.

Er bemerkte wieder eine Neigung zur Schlafsucht bei Frederick (die außerhalb seiner Phantasie jedoch nicht existierte) und entschuldigte nach dem Diner, als Frederick weggegangen, im Vertrauen den armen Mann bei Mrs. General. »Der ehrenwerteste und liebevollste Bruder, den man sich denken kann«, sagte er, »aber –- ha, hm – ganz gebrochen. Ein großes Unglück, er wird immer schwächer.«

»Mr. Frederick, Sir«, sagte Mrs. General, »ist gewöhnlich abwesend und gedrückt, aber lassen Sie uns hoffen, daß es nicht so schlimm mit ihm steht.«

Mr. Dorrit war jedoch entschlossen, ihn nicht aufkommen zu lassen. »Er wird sichtlich schwächer. Ein Wrack. Eine Ruine. Er fällt vor unsern Augen zusammen. Hm. Der gute Frederick.«

»Sie haben hoffentlich Mrs. Sparkler wohl und glücklich verlassen?« sagte Mrs. General, nachdem sie Frederick einen kühlen Seufzer gewidmet.

»Umgeben«, versetzte Mr. Dorrit, »von allem – ha –, was die Sinne erfreuen und – hm – den Geist erheben kann. Ganz glücklich, meine Verehrte, im Besitze eines – ha – Gatten.«

Mrs. General wurde etwas verlegen; sie schien das Wort zart mit ihren Handschuhen wegzuschieben, als wenn sie nicht wüßte, wie man dazu kommt.

»Fanny«, fuhr Mr. Dorrit fort, »Fanny, Mrs. General, hat bedeutende Eigenschaften. Ha. Ehrgeiz – hm –, festen Charakter, Bewußtsein – ha – ihrer Stellung, Entschlossenheit, diese Stellung zu wahren – ha, hm –, Anmut, Schönheit und angeborene Noblesse.«

»Ganz gewiß«, sagte Mrs. General mit einer kleinen Extrasteifheit.

»In Verbindung mit diesen Eigenschaften, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »hat Fanny – ha – einen Fehler an den Tag gelegt, der mir sehr – hm – unangenehm war und – ha –, ich muß hinzufügen, mich ärgerlich machte; der jedoch als abgemacht zu betrachten sein dürfte, sogar was sie selbst betrifft, und unzweifelhaft auch – ha –, was andere betrifft – getilgt ist.«

»Worauf, Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, während ihre Handschuhe wieder etwas in Aufregung kamen, »worauf können Sie anspielen? Ich weiß nicht –«

»Sagen Sie das nicht, meine Verehrte«, unterbrach sie Mr. Dorrit.

Mrs. Generals Stimme erstarb in den Worten: »Ich weiß nicht, was ich mir denken soll.«

Mr. Dorrit überkam wieder ein Schlummer von ungefähr einer Minute, aus dem er mit krampfhafter Schnelligkeit erwachte.

»Ich meine, Mrs. General, jenen – ha – starken Oppositionsgeist, oder – hm – ich möchte sagen – ha – jene Eifersucht bei Fanny, die bisweilen gegen dieses Gefühl – ha – aufgetaucht, das ich von den Ansprüchen hege, die die Dame, mit der ich jetzt zu sprechen die Ehre habe, machen könnte.«

»Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, »ist stets zu gütig gegen mich, schlägt meine Verdienste stets zu hoch an. Wenn es Augenblicke gab, wo ich mir einbildete, Miß Dorrit sei ungehalten über die günstige Meinung, die Mr. Dorrit von meinen Diensten habe, so fand ich eben in dieser nur zu hohen Meinung meinen Trost und Lohn.«

»Meinung von Ihren Diensten, Madame?« sagte Mr. Dorrit.

»Von meinen Diensten«, wiederholte Mrs. General in zarter und eindrucksvoller Weise.

»Von Ihren Diensten allein, meine Teure?« sagte Mr. Dorrit.

»Ich denke wohl«, versetzte Mrs. General in ihrer früheren eindrucksvollen Weise, »von meinen Diensten allein. Denn wem sonst«, sagte Mrs. General mit einer flüchtig fragenden Bewegung ihrer Handschuhe, »könnte ich die Schuld geben –?«

»Ihnen selbst, Mrs. General. Ha, hm. Ihnen selbst und Ihren Verdiensten«, lautete Mr. Dorrits Antwort.

»Mr. Dorrit wird mir verzeihen«, sagte Mrs. General, »wenn ich die Bemerkung mache, daß jetzt nicht die Zeit und dies nicht der Ort ist, dieses Gespräch fortzusetzen. Mr. Dorrit wird mich entschuldigen, wenn ich ihn daran erinnere, daß sich Miß Dorrit im anstoßenden Zimmer befindet, und daß ich sie sehen kann, während ich ihren Namen ausspreche. Mr. Dorrit wird mir verzeihen, wenn ich bemerke, daß ich aufgeregt bin und daß ich finde, es gibt Augenblicke, wo die Schwache, die ich überwunden zu haben glaubte, sich mit verdoppelter Kraft wieder geltend macht. Mr. Dorrit wird mir erlauben, mich zu entfernen.«

»Hm. Vielleicht nehmen wir ein andermal diese – ha – interessante Unterhaltung wieder auf«, sagte Mr. Dorrit: »wenn sie nicht etwa, was ich nicht hoffe, irgendwie Mrs. General – ha – unangenehm wäre.«

»Mr. Dorrit«, sagte Mrs. General, ihre Blicke niederschlagend, während sie mit einer Verbeugung aufstand, »wird mich stets zu seinen Diensten finden.«

Mrs. General entfernte sich in pomphafter Weise und nicht mit jenem Grade von Zittern, den man bei einer minder bedeutenden Person wohl gefunden hätte. Mr. Dorrit, der seinen Teil am Gespräch mit einer gewissen majestätischen und bewundernden Herablassung vorgebracht hatte – ganz wie man manche Leute in der Kirche ihren Teil am Gottesdienst verrichten sieht –, erschien im ganzen sehr zufrieden mit sich und auch mit Mrs. General. Bei der Rückkehr dieser Dame zum Tee hatte sie sich mit etwas Puder und Pomade aufgebessert und war gleicherweise auch moralisch in etwas gesteigerter Stimmung! das letztere zeigte sich in der sanften wohlwollenden Art ihres Benehmens gegen Miß Dorrit und in der Äußerung zärtlichen Interesses für Mr. Dorrit, soweit sich dies mit dem strengen Anstand vertrug. Am Schluß des Abends, als sie aufstand, um sich zu entfernen, nahm Mr. Dorrit sie bei der Hand, als wollte er sie hinaus auf die Piazza del Popolo führen, um ein Menuett mit ihr beim Mondenschein zu tanzen, und brachte sie mit großer Feierlichkeit nach der Zimmertür, wo «r ihre Knöchel an seine Lippen hob. Nachdem er mit einem, wir dürfen wohl sagen, ziemlich knochigen Kuß von kosmetischem Duft sich von ihr verabschiedet hatte, gab er seiner Tochter seinen freundlichen Segen. Und nachdem er auf diese Weise angedeutet, daß etwas Wichtiges im Anzüge sei, ging er wieder zu Bett.

Er blieb am nächsten Morgen wieder auf seinem Zimmer für sich abgeschlossen: aber früh am Nachmittag schickte er seine besten Empfehlungen an Mrs. General durch Mr. Tinkler und bat, sie möchte Miß Dorrit auf einem Spaziergang ohne ihn begleiten. Seine Tochter war für Mrs. Merdles Diner angekleidet, ehe er erschien. Endlich zeigte er sich in strahlendem Glänze, was seinen Anzug betrifft, im übrigen aber sah er unbeschreiblich gebrochen und alt aus. Da er jedoch offenbar entschlossen war, ärgerlich zu werden, wenn sie ihn fragte, wie er sich befände, so wagte sie es nur, seine Wange zu küssen, ehe sie ihn mit ängstlichem Herzen zu Mrs. Merdle begleitete.

Die Entfernung bis zum Hause derselben war sehr kurz: aber er war wieder an seinem Luftschlösserbauen, ehe der Wagen die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Mrs. Merdle empfing ihn mit großer Auszeichnung. Der Busen befand sich im allerbesten Wohlsein und war höchst zufrieden mit sich: das Diner war außerordentlich fein und die Gesellschaft sehr erlesen.

Sie bestand meist aus Engländern, mit Ausnahme des gewöhnlichen französischen Grafen und der gewöhnlichen italienischen Marchese – dekorativen sozialen Meilensteinen, die man immer an gewissen Orten trifft und die im Äußern wenig voneinander variieren. Der Tisch war lang, und das Diner dauerte lange, und Klein-Dorrit, überschattet von einem großen schwarzen Backenbart und einer großen weißen Krawatte, verlor ihren Vater ganz aus dem Gesicht, bis ein Diener ein Stückchen Papier ihr in die Hand steckte und ihr im Auftrag von Mrs. Merdle zuflüsterte, sie möchte dies augenblicklich lesen. Mrs. Merdle hatte mit Bleistift darauf geschrieben: »Bitte, kommen Sie und sprechen Sie mit Mr. Dorrit. Ich glaube, er ist nicht ganz wohl.«

Sie eilte unbemerkt zu ihm hin, als er sich aus seinem Stuhl erhob und, sich über den Tisch hinüberbeugend, ihr, in der Meinung, sie sei noch an ihrem Platze, zurief:

»Amy, Amy, mein Kind!«

Diese Handlung war so ungewöhnlich, ganz abgesehen von seinem seltsam aufgeregten Aussehen und seiner seltsam hohen Stimme, daß augenblicklich tiefe Stille eintrat. »Meine liebe Amy«, wiederholte er. »Willst du nachsehen, ob Bob heute das Schließeramt hat?«

Sie war nun an seiner Seite, aber er glaubte immer noch in seinem Wahn, sie sitze an ihrem Platze, und rief, über die Tafel hinübergelehnt: »Amy, Amy. Ich fühle mich nicht ganz Herr meiner selbst. Ha. Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich wünsche besonders Bob zu sehen. Ha. Von allen Schließern ist er ebensosehr mein Freund wie der deine. Sieh, ob Bob im Schließerstübchen ist, und bitte ihn, zu mir zu kommen.«

Alle Gäste waren konsterniert und standen auf.

»Lieber Vater, ich bin nicht dort: ich bin hier, bei dir.«

»Oh! Du bist hier, Amy! Gut. Hm. Gut. Ha. Rufe Bob. Wenn er abgelöst wurde und nicht am Tor ist, so sage Mrs. Bangham, sie möchte gehen und ihn holen.«

Sie suchte ihn freundlich wegzuführen; aber er widerstand und wollte nicht gehen.

»Ich sage dir, Kind«, rief er trotzig, »ich kann die engen Treppen nicht ohne Bob hinaufkommen. Ha. Schick‘ nach Bob. Hm. Schick‘ nach Bob, Hm. Schick‘ nach Bob – dem besten aller Schließer – schick‘ nach Bob!«

Er sah sich verlegen um, und als er bemerkte, von welcher Menge von Gesichtern er umgeben war, redete er sie folgendermaßen an:

»Ladies und Gentlemen, es ist – ha – meine Pflicht – hm –, Sie im Marschallgefängnis willkommen zu heißen. Willkommen im Marschallgefängnis! Der Raum ist – ha – beschränkt – beschränkt – der Spazierplatz könnte größer sein; aber Sie werden ihn sichtlich mit der Zeit weiter werden sehen – mit der Zeit, Ladies und Gentlemen, und die Luft ist, im ganzen genommen, sehr gut. Sie kommt über die – ha – Surreyhügel herüber. Weht über die Surreyhügel herüber. Das ist die Snuggery. Hm. Unterhalten durch eine kleine Subskription der – ha – Kollegiatenkörperschaft. Dafür hat man heißes Wasser – gemeinschaftliche Küche – und kleine häusliche Vorteile. Die Habitués des – ha – Marschallgefängnisses nennen mich gern den Vater. Ich bin daran gewöhnt, daß Fremde dem – ha – Vater des Marschallgefängnisses ihre Aufwartung machen. Und wirklich, wenn jahrelanger Aufenthalt in demselben auf einen solchen Ehrentitel ein Anrecht geben kann, so darf ich diese – hm – Auszeichnung annehmen. Mein Kind, Ladies und Gentlemen, meine Tochter, hier geboren!«

Sie schämte sich deswegen nicht, noch seinethalben. Sie war blaß und erschrocken; aber sie hatte keine andere Sorge, als ihn zu besänftigen und ihn um seiner selbst willen fortzubringen. Sie stand zwischen ihm und den erstaunten Gesichtern und drehte sich zu ihm herum, indem sie die Augen zu ihm erhob. Er hielt sie mit seinem linken Arm umschlungen, und zuweilen hörte man sie mit ihrer sanften Stimme ihn zärtlich bitten, mit ihr wegzugehen.

»Hier geboren«, wiederholte er unter Tränen. »Ladies und Gentlemen, meine Tochter. Kind eines unglücklichen Vaters, aber – ha – doch eines Gentleman. Arm, freilich, aber – hm – stolz. Immer stolz. Es wurde eine – hm – nicht ungewöhnliche Sitte unter – ha – meinen persönlichen Verehrern – sich das Vergnügen zu machen, mir ihren Wunsch auszudrücken, meiner halboffiziellen Stellung hier ihre Huldigung durch die Anerbietung eines kleinen Tributs darzubringen, der gewöhnlich die Form von – ha – Ehrengeschenken – Ehrengeschenken in Geld annahm. In der Annahme dieser – ha – freiwilligen Anerkennung meiner schwachen Bemühungen, einen – ha – Ton hier aufrechtzuerhalten einen Ton – bitte mich wohl zu verstehen, halte ich mich nicht für kompromittiert. Ha. Nicht kompromittiert. Ha. Nicht kompromittiert. Ha. Kein Bettler. Nein, ich weise diesen Titel zurück! Zu gleicher Zeit sei es fern von mir – hm –, auf die zarten Gefühle, von denen meine parteiischen Freunde geleitet waren, den mindesten Verdacht fallen zu lassen, als wenn – hm – solche Gaben nicht außerordentlich annehmbar wären. Im Gegenteil, sie sind äußerst annehmbar. In meines Kindes Namen, wenn auch nicht meinem, muß ich dies energisch behaupten, indem ich zu gleicher Zeit – ha –- meine persönliche Würde bewahre. Ladies und Gentlemen, Gott segne Sie alle!«

Inzwischen hatte die furchtbare Kränkung, die der Busen erdulden mußte, den größern Teil der Gesellschaft veranlaßt, in andre Zimmer zu gehen. Die wenigen, die so lange geblieben waren, folgten den übrigen, und Klein-Dorrit und ihr Vater waren mit der Dienerschaft allein noch im Zimmer. »Liebster, bester Vater, willst du jetzt nicht mit mir gehen, nicht?« Er antwortete auf ihre dringende Bitte, er werde die engen Treppen nicht ohne Bob hinaufkommen; wo Bob sei, ob niemand Bob holen wolle! Unter dem Vorwand, nach Bob zu sehen, brachte sie ihn hinaus; sie mußte dabei an der nun hereinströmenden glänzenden Gesellschaft vorbei, die zu der Abendunterhaltung eingeladen war; sie setzte ihn in einen Wagen, der eben hielt, und führte ihn nach Hause.

Die breiten Treppen seines römischen Palastes waren in seinen gebrochenen Augen zu den engen Treppen seines Londoner Gefängnisses zusammengeschrumpft, und er würde sich von niemand haben anrühren lassen als von ihr und seinem Bruder. Sie brachten ihn ohne Hilfe in sein Zimmer hinauf und legten ihn auf sein Bett. Und von diesem Augenblick war in seinem gelähmten Geist, der sich nur noch des Ortes erinnerte, wo er seine Schwingen gebrochen, der Traum verwischt, durch den er sich seit jener Zeit getastet, und er wußte von nichts mehr als vom Marschallgefängnis. Wenn er Tritte auf der Straße hörte, hielt er sie für die alten traurigen Schritte auf dem Hof. Wenn die Stunde zum Schließen kam, glaubte er, alle Fremden seien nun für die Nacht ausgeschlossen. Wenn dann wieder die Stunde zum Öffnen kam, wollte er um jeden Preis Bob sehen, so daß sie genötigt waren, eine Geschichte zu erfinden, wie dieser Bob, der edle Schließer, der seit vielen Jahren tot war, sich erkältet habe – aber morgen oder den nächsten Tag oder den übernächsten wieder ausgehen zu können hoffe.

Er wurde so außerordentlich schwach, daß er seine Hand nicht aufheben konnte. Aber er ließ seinem Bruder, wie er es seit lange gewohnt war, seine Nachsicht angedeihen und sagte wohl fünfzigmal am Tage, wenn er ihn an seinem Bett stehen sah, mit wohlwollender Teilnahme: »Nein, guter Frederick, setze dich. Du bist wirklich sehr schwach.«

Sie versuchten es mit Mrs. General, ihm sein früheres klares Bewußtsein zu geben, aber er hatte nicht die geringste Ahnung von ihr. Ein beleidigender Verdacht schlich sich sogar in sein Gehirn, sie wolle nämlich Mrs. Bangham ersetzen und sei dem Trunk ergeben. Er machte ihr in maßlosen Ausdrücken Vorwürfe darüber und drang so ungestüm in seine Tochter, sie solle zum Marschall gehen und ihn bitten, sie hinauszuschaffen, daß man sie nach diesem ersten mißlungenen Versuche nicht mehr zum Vorschein brachte.

Mit Ausnahme der einmaligen Frage, ›ob Tip in die Stadt gegangen sei‹, schien er keine Erinnerung an seine beiden abwesenden Kinder zu haben. Aber das Kind, das so viel für ihn getan und so armselig dafür belohnt worden, verlor sich keinen Augenblick aus seinem Gedächtnis. Nicht, daß er sie geschont hätte oder fürchtete, sie möchte durch das Wachen und die Anstrengung sich aufreiben; er machte sich darüber so wenig Sorgen wie gewöhnlich. Nein, er liebte sie auf seine alte Weise. Sie waren wieder im Gefängnis, und sie pflegte ihn, und er bedurfte ihrer beständig und konnte sich nicht ohne sie hin und her wenden; er sagte ihr bisweilen, daß er gern viel um ihretwillen gelitten. Sie aber beugte sich mit ihrem stillen Gesicht zu ihm herab und hätte ihr eigenes Leben hingegeben, wenn sie das seine damit hätte wieder anfachen können.

Als er auf diese schmerzlose Weise zwei bis drei Tage lang an Kräften abgenommen, bemerkte sie, daß ihn das Ticken seiner Uhr inkommodiere – einer prachtvollen goldenen Uhr, die viel Lärm mit ihrem Gehen machte, wie wenn sonst nichts ginge als sie und die Zeit. Sie ließ sie ablaufen; aber er war immer noch unruhig und gab zu verstehen, daß es das nicht gewesen, was er gewollt. Endlich raffte er sich soweit auf, um zu erklären, daß er Geld auf diese Uhr aufgenommen zu wissen wünsche. Er war sehr angenehm berührt, als sie vorgab, sie zu diesem Zweck fortzunehmen, und er fand von da ab die kleinen Delikatessen von Wein und Gelee weit besser als früher.

Er gab bald deutlich zu verstehen, daß das seinem Wunsche gemäß sei: denn er schickte ein oder zwei Tage später seine Hemdenknöpfe und Fingerringe fort. Es gewährte ihm eine ganz erstaunliche

Mr. Dorrits Tod.

Befriedigung, wenn er ihr diese Aufträge erteilt, und schien sie wie die methodischsten und vorsorglichsten Anordnungen, die man treffen könnte, zu betrachten. Nachdem seine Kleinodien oder zum mindesten diejenigen, die er davon zu sehen imstande, versetzt waren, zogen seine Kleider seine Aufmerksamkeit auf sich; und es ist so wahrscheinlich wie nicht, daß ihn einige Tage die Befriedigung am Leben erhielt, sie Stück für Stück zu einem eingebildeten Pfandleiher zu schicken.

So beugte sich Klein-Dorrit zehn Tage lang über sein Kissen und legte ihre Wange an die seine. Bisweilen war sie so erschöpft, daß sie beide einige Minuten lang schliefen. Dann erwachte sie wieder, um mit rasch fließenden stillen Tränen zu bedenken, was sie mit ihrem Gesicht berührte, und über das geliebte Gesicht auf dem Pfühl einen dunklern Schatten ziehen zu sehen, als der Schatten der Mauer des Marschallgefängnisses.

Leise und unmerklich verschwammen alle Linien des Plans zu dem großen Schlosse, eine nach der andern. Unmerklich wurde das Gesicht, auf dem sich diese Linien kreuz und quer gezogen hatten, glatt und schön. Unmerklich verschwanden die Schatten der Gefängnisgitter und der Zickzackstacheln auf dem Mauerfirst. Unmerklich wurde das Gesicht zu einem weit jüngeren Ebenbild ihres eigenen, als sie es sonst unter dem grauen Haar zu sehen gewöhnt war, und schlief endlich zur ewigen Ruhe ein.

Anfangs war ihr Oheim ganz verstört, »O, mein Bruder! O, William, William! Du gehst mir voran, du gehst allein. Du sollst gehen, und ich soll bleiben. Du, der so viel höher stand. Du ein so ausgezeichneter, vornehmer Charakter, und ich eine arme, nutzlose Kreatur, die zu nichts taugt und die niemand vermißt haben würde!«

Das tat ihr für den Augenblick soweit gut, als sie an ihn denken, ihm eine Stütze sein mußte. »Onkel, lieber Onkel, schon dich, schone mich!«

Der alte Mann war nicht taub für die letzten Worte. Als er sich zusammenzunehmen anfing, tat er es, um sie zu schonen. Er kümmerte sich nicht um sie; aber mit der ganzen Kraft, die seinem ehrlichen Herzen noch übrigblieb, dem Herzen, das so lange geschlummert und nun aufwachte, um gebrochen zu werden, ehrte und segnete er sie.

»O Gott!« rief er, ehe sie das Zimmer verließen, indem er seine runzlichen Hände über ihr faltete. »Du siehst dieses Kind meines teuren verstorbenen Bruders. Alles, was ich mit meinen halbblinden und sündigen Augen gesehen, hast du klar und hell erkannt. Nicht ein Haar ihres Hauptes soll vor dir gekrümmt werden. Du wirst sie aufrechterhalten bis zu ihrer letzten Stunde. Und ich weiß, du wirst sie belohnen in der andern Welt!«

Sie blieben in einem schwach erleuchteten Zimmer, bis es beinahe Mitternacht war, und saßen still und traurig beisammen. Bisweilen suchte sein Schmerz Erleichterung in einem Ausbruch, gleich jenem, in dem er zuerst seinen Ausdruck gefunden; aber außer daß die Kraft, die er noch besaß, solchen Anstrengungen nicht mehr standhalten konnte, erinnerte er sich auch stets wieder ihrer Worte, machte sich Vorwürfe und beruhigte sich. Die einzige Äußerung, mit der er seinem Kummer Luft machte, war der häufige Ausruf, daß sein Bruder allein von der Erde geschieden, daß sie beim Eingang ihres Lebens zusammengewesen, daß sie zusammen ins Unglück geraten, daß sie in den langen Jahren ihrer langen Armut zusammengehalten, daß sie bis auf den heutigen Tag zusammengeblieben, und daß dieser Bruder dennoch allein, allein von hinnen gegangen.

Sie schieden mit schwerem und kummervollem Herzen. Sie wollte ihn erst in seinem eigenen Zimmer verlassen, und sie sah ihn sich in seinen Kleidern auf das Bett legen und deckte ihn mit eignen Händen zu. Dann sank sie auf ihr Bett und fiel in einen tiefen Schlaf: den Schlaf der Erschöpfung und Ruhe, obgleich nicht vollständig befreit von einem alles durchdringenden Schmerzbewußtsein. Schlafe, gute Klein-Dorrit. Schlafe die Nacht hindurch!

Es war Mondnacht; aber der Mond ging spät auf, da der Vollmond längst vorüber. Als er hoch an dem friedlichen Firmament stand, schien er durch halbgeschlossene Jalousien in das feierlich stille Gemach, wo die unsicheren Schritte und Tritte eines Lebens vor so kurzer Zeit stillgestanden. Zwei stumme Gestalten waren im Zimmer; zwei Gestalten, gleich still und regungslos, gleich entfernt durch einen unüberschreitbaren Raum von der fruchtbaren Erde und allem, was sie birgt, obgleich sie bald in ihr liegen werden.

Eine Gestalt ruhte auf dem Bett. Die andere kniete auf dem Boden und war über sie gesunken; die Arme ruhten leicht und friedlich auf der Bettdecke; das Gesicht war herabgesunken, so daß die Lippen die Hand berührten, über die sein letzter Atem sich gebeugt hatte. Die beiden Brüder standen vor ihrem Vater, weit erhaben über dem dämmerartigen Urteil der Welt; hoch über ihren Nebeln und Finsternissen.

Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

Mrs. General.

Es ist unerläßlich, die vollendete Dame vorzustellen, die bedeutend genug im Gefolge der Familie Dorrit war, um ihre eigne Linie im Fremdenbuch zu haben.

Mrs. General war die Tochter eines geistlichen Würdenträgers an einem Bischofssitz, wo sie den Ton angegeben, bis sie so nahe an fünfundvierzig war, wie es eine einzelne Dame sein kann. Ein steifer Kommissariatsbeamter von sechzig Jahren, bekannt als ein Mann, der auf strenge Zucht hielt, verliebte sich zu dieser Zeit in die Anstandsgefühle, die sie vierspännig durch die Bischofsstadt kutschierte, und hatte darum angehalten, neben ihr seinen Sitz auf dem Zeremonienwagen nehmen zu dürfen, an den dieses Gespann geschirrt war. Nachdem sein Heiratsantrag von der Dame angenommen worden, nahm der Beamte seinen Sitz hinter den Anstandsgefühlen mit großer Ehrbarkeit ein, und Mrs. General lenkte die Zügel, bis er starb. Im Verlauf ihrer gemeinsamen Reisen überfuhren sie verschiedene Leute, die den Anstandsgefühlen in den Weg kamen; aber immer großartig und mit äußerster Ruhe.

Nachdem der Kommissariatsbeamte mit allem dem Dienst entsprechenden Aufwande begraben worden (das ganze Gespann von Anstandsgefühlen war an seinen Leichenwagen geschirrt, und sie hatten alle Federn und schwarze Samtschabracken mit seinem Wappenschild in der Ecke), begann Mrs. General nachzuprüfen, welche Masse Staub und Asche bei den Bankiers deponiert sei. Es wurde ruchbar, daß der Kommissariatsbeamte in der Stille Mrs. General zuvorgekommen und sich einige Jahre vor der Hochzeit eine Leibrente gekauft, welchen Umstand er verschwiegen hatte, indem er zur Zeit seiner Bewerbung vorgab, sein Einkommen datiere von den Zinsen seines Vermögens. Mrs. General sah infolgedessen ihre Mittel so verringert, daß, wenn sie nicht mit ihrem Verstande sehr im reinen gewesen, sie sich hätte veranlaßt fühlen können, die Richtigkeit des Teiles der Leichenrede zu bezweifeln, der behauptete, der Kommissariatsbeamte könne nichts mit sich hinübernehmen.

In dieser Lage kam Mrs. General auf den Gedanken, sie wolle sich der »Geistesbildung« und gesellschaftlichen Erziehung einer jungen vornehmen Dame widmen. Oder auch die Anstandsgefühle an den Wagen einer reichen jungen Erbin oder einer Witwe schirren und zu gleicher Zeit Kutscher und Schaffner eines solchen Fuhrwerks durch die sozialen Irrgänge werden. Die Mitteilung, die Mrs. General ihren geistlichen und kommissariatlichen Bekanntschaften von dieser Idee machte, fand so warmen Beifall, daß, wenn die Verdienste der Dame nicht so außer allem Zweifel gestanden hätten, die Vermutung nahegelegen wäre, man wolle sie los werden. Zeugnisse, die Mrs. General als ein Wunder von Frömmigkeit, Gelehrsamkeit, Tugend und feiner Lebensart schilderten, wurden von einflußreichen Quartieren verschwenderisch beigesteuert, und ein ehrwürdiger Archidiakon vergoß sogar Tränen, wenn er an sein Zeugnis über die Vollkommenheiten (die ihm von Leuten, auf die er sich verlassen konnte, geschildert wurden) dachte, obgleich er nie in seinem ganzen Leben die Ehre und den sittlichen Genuß gehabt, seine Blicke auf Mrs. General ruhen zu lassen.

So gleichsam von Kirche und Staat zu ihrer Mission beordert, fühlte sich Mrs. General, die immer auf vornehmem Boden gewandelt, in der Lage, diesen zu behaupten, und begann damit, ein sehr stolzes Gesicht zur Schau zu tragen. Es trat eine Zwischenzeit von einiger Dauer ein, während der nicht auf Mrs. General geboten wurde. Endlich eröffnete ein gräflicher Witwer mit einer Tochter von vierzehn Jahren Unterhandlungen mit der Dame, und da es entweder im Charakter der angeborenen Würde oder der künstlichen Politik von Mrs. General lag (sicher jedoch eines von beiden), sich dabei zu benehmen, als wäre sie weit mehr die Gesuchte, denn die Suchende, verfolgte der Witwer Mrs. General, bis es ihm gelang, sie zu bewegen, seiner Tochter Geist und Sitten beizubringen.

Die Durchführung dieser Aufgabe beschäftigte Mrs. General ungefähr sieben Jahre. Währenddessen machte sie die Tour durch Europa und sah den größten Teil jenes umfangreichen Durcheinanders von Dingen, die wesentlich jeder Mensch von seiner Bildung mit den Augen andrer Leute und niemals mit den seinen sehen sollte. Als ihre Aufgabe endlich gelöst war, hatte sich nicht nur die junge Dame, sondern gleicherweise auch ihr Vater, der Witwer, zum Heiraten entschlossen. Der Witwer, der nun Mrs. General unbequem und kostspielig zu finden begann, wurde beinahe ebenso vernarrt in ihre Verdienste, als es der Archidiakonus gewesen, und verbreitete solche Lobeserhebungen ihres ausnehmenden Wertes in allen Quartieren, wo er glaubte, es könne sich eine Gelegenheit bieten, ihren Segen auf jemand andern zu übertragen, daß Mrs. General ein geschätzterer Name denn je war.

Der Phönix stand auf dieser erhabenen Stange zu vermieten, als Mr. Dorrit, der in jüngster Zeit in den Besitz seiner Erbschaft gekommen war, seinen Bankiers gegenüber erwähnte, er wünsche eine feingebildete, gesittete, mit der guten Gesellschaft bekannte und vertraute Dame zu finden, die geeignet wäre, zu gleicher Zeit die Erziehung seiner Töchter zu übernehmen und als Ehrendame oder Anstandswauwau zu dienen. Mr. Dorrits Bankiers, als die Bankiers des gräflichen Witwers, sagten augenblicklich: »Mrs. General.«

Dem Lichte folgend, das ihm so glücklich aufgegangen, und das einstimmige Urteil der ganzen Bekanntschaft von Mrs. General so erhaben findend, wie wir bereits erwähnt, nahm sich Mr. Dorrit die Mühe, sich nach der Grafschaft des gräflichen Witwers zu begeben und Mrs. General kennenzulernen, in der er eine Dame fand, die seine höchsten Erwartungen übertraf. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Mr. Dorrit, »wenn ich Sie frage – ha – welche Belohn –«

»Nein,« versetzte Mrs. General, ihn unterbrechend, »das ist eine Sache, auf die ich lieber nicht eingehen möchte. Ich habe nie darüber mit meinen Freunden hier verhandelt, und ich kann die Delikatesse, mit der ich diese Sache stets betrachtet, Mr. Dorrit, nicht überwinden. Ich bin keine Gouvernante, wie Sie bemerkt haben werden –«

»O, gewiß nicht!« sagte Mr. Dorrit. »Bitte, Madame, glauben Sie nicht einen Augenblick, daß ich so etwas denke.« Er errötete wirklich, daß man ihn habe in solchem Verdacht haben können.

Mrs. General neigte feierlich den Kopf. »Ich kann deshalb nicht einen Preis auf Dienste setzen, die ich mit Vergnügen leiste, wenn ich sie freiwillig leisten kann, die ich jedoch als Ersatz unter keiner Bedingung zu leisten imstande wäre. Auch weiß ich nicht, wie und wo ich einen Fall finden sollte, der dem meinen ähnlich wäre. Er ist einzig in seiner Art.«

»Allerdings. Aber wie sollte man denn«, bemerkte Mr. Dorrit ganz natürlich, »die Sache anfangen?«

»Ich kann nichts dagegen einwenden,« sagte Mrs. General, »obgleich selbst das mir unangenehm ist, wenn Mr. Dorrit im Vertrauen meine Freunde fragt, wieviel sie vierteljährlich an meine Bankiers auszubezahlen gewohnt waren.«

Mr. Dorrit verbeugte sich zustimmend.

»Erlauben Sie mir, hinzuzufügen,« sagte Mrs. General, »daß ich mich nicht weiter auf dieses Kapitel einlassen werde. Ferner, daß ich keine zweite oder untergeordnete Stellung einnehmen kann. Wenn mir die Ehre zuteil würde, Mr. Dorrits Familie kennenzulernen – ich glaube, von zwei Töchtern war die Rede?«

»Zwei Töchter.«

»So könnte ich es nur unter der Bedingung vollkommener Gleichheit, als Gesellschafterin, Beschützerin, Mentor und Freundin annehmen.«

Mr. Dorrit kam es trotz des Bewußtseins seiner Würde vor, als ob es wirklich eine Freundlichkeit wäre, wenn sie es überhaupt unter irgendeiner Bedingung annähme. Er ließ dies beinahe in seinen Worten merken.

»Ich glaube,« wiederholte Mrs. General, »von zwei Töchtern war die Rede.«

»Zwei Töchter,« sagte Mr. Dorrit wieder.

»Es würde deshalb nötig sein,« sagte Mrs. General, »ein Drittel mehr zu der Summe hinzuzufügen (wie groß immer ihr Betrag auch sein mag), die meine Freunde hier bei meinen Bankiers niederzulegen gewohnt waren.«

Mr. Dorrit verlor keine Zeit, die delikate Frage dem gräflichen Witwer vorzulegen, und da er fand, daß dieser gewohnt war, jährlich dreihundert Pfund an die Bankiers von Mrs. General zu bezahlen, kam er, ohne seine Arithmetik besonders anzustrengen, zu dem Resultat, daß er vier bezahlen müsse. Da Mrs. General ein Artikel von jener glänzenden Außenseite war, der einen glauben macht, daß sie jeden Preises wert sei, so machte er ihr den förmlichen Antrag, ihm zu gestatten, sie als ein Glied seiner Familie zu betrachten. Mrs. General bewilligte das stolze Privilegium und gehörte von nun an zur Familie.

Persönlich war Mrs. General, mit Einschluß ihrer Toiletten, die eine bedeutende Rolle dabei spielten, von würdiger, imposanter Erscheinung: groß, rauschend und sehr umfangreich; beständig aufrecht hinter ihren Anstandsgefühlen. Man hätte sie nach den Höhen der Alpen und den Tiefen von Herkulanum mitnehmen können, und nahm sie auch mit, ohne daß eine Falte ihres Kleides aus der Ordnung gekommen oder eine Stecknadel verrückt worden wäre. Wenn ihr Gesicht und ihr Haar ein ziemlich mehliges Aussehen hatten, als wenn dies vom Aufenthalt in einer außerordentlich eleganten Mühle käme, so war dies eher darum der Fall, weil sie überhaupt eine kreidige Natur, als weil sie ihre Gesichtsfarbe mit Veilchenpulver aufbesserte oder grau geworden war. Wenn ihre Augen keinen Ausdruck besaßen, so war dies wohl deshalb der Fall, weil sie nichts auszudrücken hatten. Wenn sie wenig Runzeln besaß, so war es, weil ihr Geist nie seinen Namen oder eine Inschrift auf ihr Gesicht gezeichnet. Eine kalte, wachsartige, ausgelöschte Person, die niemals gut geleuchtet hatte.

Mrs. General hatte keine Meinungen. Ihre Art, einen Geist zu bilden, war die, daß sie ihn hütete, sich Meinungen zu bilden. Sie hatte eine kleine Anzahl kreisförmiger geistiger Rinnen oder Schienen, auf denen sie kleine Züge von andrer Leute Meinungen führte, die sich niemals überholten und nie irgendwohin kamen. Selbst ihr Anstandsgefühl konnte nicht bestreiten, daß es Unanständigkeit in der Welt gebe; aber Mrs. Generals Art, sich davon loszumachen, war, dergleichen aus dem Gesichtskreis zu rücken und glauben zu lassen, daß das gar nicht existiere. Dies war eine zweite Art, wie sie den Geist bildete – alle schwierigen Dinge in Schränke zu kramen, diese zuzuschließen und zu behaupten, sie existierten nicht. Es war die leichteste Art und ohne Vergleich die anständigste.

Mrs. General konnte nichts Angreifendes hören. Unglücksfälle, Jammer und Mißhandlungen durften nie vor ihr erwähnt werden. Leidenschaft schlief gewöhnlich in Mrs. Generals Gegenwart ein und Blut ging in Milch und Wasser über. Das wenige zu firnissen und zu beschönigen, was in der Welt übrigblieb, wenn man alle diese Abzüge gemacht, war Mrs. Generals Aufgabe. In diesem ihrem Bildungsprozeß tauchte sie den kleinsten Pinsel in den größten Topf und firnißte die Oberfläche aller Dinge, die in Betracht kamen. Je mehr Risse eine Sache hatte, desto mehr firnißte sie.

Es war Firnis in Mrs. Generals Stimme, Firnis in Mrs. Generals Berührung, eine Firnisatmosphäre um Mrs. Generals Gestalt. Mrs. Generals Träume waren sicher gefirnißt – wenn sie welche hatte –, als sie in den Armen des guten hl. Bernhard schlief, während der federige Schnee auf seinen Hausgiebel fiel.