Siebentes Kapitel.
Das Kind des Marschallgefängnisses.
Das Kind, dessen erster Atemzug einen Beigeschmack von Doktor Haggages Branntwein hatte, ging unter den Generationen der Gefangenen, wie die Tradition von ihrem gemeinschaftlichen Vater, von Hand zu Hand. In den ersten Lebensstationen ging es wirklich in wörtlichem und prosaischem Sinne von Hand zu Hand; da es gleichsam ein Eintrittsgeld jedes neuen Gefangenen war, das Kind zu begrüßen, das innerhalb dieser vier Mauern geboren worden.
»Von Rechts wegen«, bemerkte der Schließer, als es ihm zum erstenmal gezeigt wurde, »sollte ich Pate sein.«
Der Schuldner war einen Augenblick unschlüssig und sagte dann: »Sie hätten vielleicht nichts dagegen, wirklich sein Pate zu werden?«
»Oh! ich habe nichts dagegen«, versetzte der Schließer, »wenn es Ihnen recht ist.«
So geschah es, daß das Kind eines Sonntagnachmittags getauft wurde, als der Schließer von seinem Schlüsselamt abgelöst worden, und daß dieser an das Taufbecken der St.-George-Kirche trat, ein feierliches Gelöbnis ablegte und »als guter Christ« in des Kindes Namen dem Teufel entsagte, wie er selbst erzählte, als er nach Hause kam.
Dieser Akt gab dem Schließer ein neues Eigentumsrecht auf das Kind, ganz abgesehen von seinem früheren dienstlichen. Als das Mädchen zu gehen und zu sprechen anfing, wurde er ganz vernarrt in dasselbe. Er kaufte einen kleinen Armstuhl und stellte ihn an das hohe Kamingitter im Pförtnerstübchen; immer wollte er es bei sich haben, wenn er Schließerdienste besorgte. Auch wußte er es mit wohlfeilen Spielsachen stets zu locken, daß es zu ihm kam und mit ihm plauderte. Das Kind seinerseits gewann den Schließer bald so lieb, daß es aus eignem Antrieb zu allen Stunden des Tages die Treppe zum Pförtnerstübchen hinaufkletterte. Wenn es in dem kleinen Armstuhl an dem hohen Kamingitter einschlief, bedeckte der Schließer sein Gesichtchen mit dem Taschentuch, und wenn das Kind mit An- und Auskleiden einer Puppe beschäftigt dasaß – die bald den Puppen außerhalb des Gefängnisses sehr unähnlich wurde, aber dafür eine furchtbare Familienähnlichkeit mit Mrs. Bangham bekam –, da betrachtete er es von der Höhe seines Stuhles herab mit ausnehmender Freundlichkeit. Waren die Mitgefangenen Zeuge solcher Momente, so äußerten sie gewöhnlich, der Schließer, der ein Junggeselle, sei von der Natur wie zum Familienvater geschaffen. Aber der Schließer dankte für dieses Kompliment und sagte: »Nein, im ganzen genügten ihm vollkommen anderer Leute Kinder!«
In welchem Augenblick seiner Jugend das kleine Geschöpf zu merken begann, daß nicht die ganze Welt die Gewohnheit habe, in engen Höfen, die von hohen Mauern mit Spitzen umgeben waren, zu leben, ist eine schwer zu entscheidende Frage. Aber das Mädchen war noch ein sehr, sehr kleines Geschöpf, als es zu der Erkenntnis kam, daß es ihres Vaters Hand immer an der Türe loslassen mußte, die der große Schlüssel öffnete; und daß, während ihre eignen leichten Füße frei hin und her gehen konnten, die seinen diese Linie niemals überschreiten durften. Ein mitleidiger und teilnahmsvoller Blick, mit dem sie ihn zu betrachten pflegte, als sie noch sehr jung war, war vielleicht eine Folge dieser Entdeckung.
Mit einem mitleidigen und teilnahmsvollen Blick für alles, aus dem jedoch noch ein besonderer Funke leuchtete, der Schutz zu versprechen schien und ihm allein galt, saß während der ersten acht Jahre seines Lebens dieses Kind des Marschallgefängnisses und Kind des Vaters des Marschallgefängnisses bei seinem Freund, dem Schließer, im Pförtnerstübchen, im Familienzimmer, oder es tummelte sich im Gefängnishof. Mit einem mitleidigen und teilnahmsvollen Blicke betrachtete die Kleine ihr eigensinniges Schwesterchen, ihren faulen Bruder, die hohen weißen Mauern, die traurige Masse, die sie einschlossen, die Spiele der blassen Gefangenenkinder, wenn sie schrien und sprangen und Verstecken spielten und die eisernen Gitter am innern Torweg zu ihrem »Häuschen« machten.
Aufmerksam und neugierig saß sie gewöhnlich an Sommertagen bei dem hohen Kamingitter im Pförtnerstübchen und sah durch das vergitterte Fenster zum Himmel hinauf, bis sich zwischen ihr und dem Freunde Lichtgitter vor ihren Blicken bildeten, wenn sie ihre Augen wegwandte, und sie ihn in einem Gefängnis zu sehen glaubte.
»Denkst du nicht auch an die Felder?« sagte der Schließer einst, nachdem er sie eine Zeitlang beobachtet.
»Wo sind sie?« fragte sie.
»Nun – da drüben, meine Liebe«, sagte der Schließer mit einer leichten Schwenkung des Schlüssels. »Ungefähr dort.«
»Öffnet und schließt sie jemand? Sind sie verriegelt?«
Der Schließer war verlegen. »Nun!« sagte er. »Gewöhnlich nicht.«
»Sind sie sehr hübsch, Bob?« Sie nannte ihn auf seine besondre Bitte und Anweisung Bob.
»Reizend. Voll von Blumen. Da finden sich Hahnenfüße, Gänseblümchen und dann –« der Schließer stockte, da er in der Botanik etwas schwach war – »dann Löwenzahn und lauter Lust und Freude.« »Es ist also sehr angenehm dort, Bob?«
»Im Frühling«, sagte der Schließer.
»War Vater auch schon dort?«
»Hm!« hustete der Schließer. »O ja, er war bisweilen dort.«
»Tut es ihm weh, daß er nicht mehr dort ist?«
»N–nicht besonders«, sagte der Schließer.
»Auch den andern nicht?« fragte sie mit einem Blick auf die apathisch umhersitzenden Gefangenen. »Weißt du das ganz gewiß, Bob?«
Als das Gespräch bis zu diesem schwierigen Punkt gediehen war, sprach Bob von Backwerk: es war dies immer sein letztes Mittel, wenn ihn seine kleine Freundin auf eine politische, soziale oder theologische Materie brachte. Es war dies Gespräch jedoch der Ursprung einer Reihe von Sonntagsausflügen, die diese beiden seltsamen Gefährten miteinander machten. Sie schritten gewöhnlich je am zweiten Sonntagnachmittag mit großer Feierlichkeit aus dem Pförtnerstübchen und begaben sich nach einer der Wiesen oder einem der grünen Feldwege, die der Schließer im Verlaufe der Woche genau bezeichnet hatte; dort pflückte sie Gläser und Blumen, um sie nach Hause zu bringen, während er seine Pfeife rauchte. Später gab’s Tee, Seegarneelen, Aale und andere Delikatessen; dann kehrten sie Hand in Hand zurück, wenn sie nicht ungewöhnlich ermüdet und auf seiner Schulter eingeschlafen war.
In diesen frühen Tagen schon begann der Schließer alles Ernstes eine Frage bei sich zu erwägen, die ihm so viel Kopfzerbrechen machte, daß sie bis zu seinem Todestage unentschieden blieb. Er beschloß nämlich, sein kleines Vermögen, das er sich erspart, seinem Patchen testamentarisch zu vermachen, und die Frage war nur, wie konnte er die Sache »verklausulieren«, daß der Vorteil ihr allein zugute käme? Seine Erfahrung als Pförtner gab ihm einen so klaren Begriff von der ungeheuren Schwierigkeit, sein Geld testamentarisch nur einigermaßen genau zu verklausulieren, und sagte ihm, wie es dagegen so außerordentlich leicht sei, damit fertig zu werden, daß er während einer Reihe von Jahren diese schwierige Frage regelmäßig jedem neuen insolventen Sachwalter und Sachverständigen, der bei ihm aus- und einging, vorlegte.
»Gesetzt«, sagte er dann gewöhnlich, indem er die Sache mit seinem Schlüssel auf der Weste des Sachverständigen darlegte, »gesetzt, ein Mann wünschte sein Vermögen einer jungen weiblichen Person zu hinterlassen und es testamentarisch so zu ›verklausulieren‹, daß niemand sonst imstande wäre, es anzutasten; wie würden Sie dies Testament machen?«
»Ich würde es mit klaren, scharf bestimmten Worten ausdrücklich ihr allein vermachen«, antwortete der Sachverständige gefällig.
»Aber sehen Sie wohl«, antwortete dann der Schließer. »Gesetzt, sie hätte einen Bruder, einen Vater, einen Mann, die aller Wahrscheinlichkeit nach Hand an dieses Vermögen legen würden, wenn es in ihren Besitz gekommen – wie dann?« »Es wäre ja ihr allein zugesprochen, und jene hätten keine größeren gesetzlichen Ansprüche darauf als Sie«, antwortete der Sachverständige.
»Warten Sie einen Augenblick«, sagte dann der Schließer. »Gesetzt, sie wäre ein gutherziges Mädchen, und sie wüßten sie zu beschwatzen, welches Mittel gibt Ihr Gesetz in solchem Falle an die Hand, um dies durch Klauseln zu verhindern?«
Der tiefsinnige Charakter, an den sich der Schließer deshalb wandte, war außerstande, einen Punkt des Gesetzes herauszufinden, um einen solchen Knoten zu verklausulieren. Und der Schließer dachte sein ganzes Leben darüber nach und starb ohne Testament.
Aber dies geschah lange nachher, als seine Pate bereits sechzehn Jahre alt geworden war. Die erste Hälfte dieses Zeitraums ihres Lebens war kaum verflossen, als ihr mitleidiger und teilnahmvoller Blick ihren Vater Witwer werden sah. Von dieser Zeit verkörperte sich der Schutz, den ihre fragenden Augen ausgesprochen, zur Tat, und das Kind des Marschallgefängnisses trat in ein neues Verhältnis zu seinem Vater.
Anfangs konnte ein so kleines Kind nichts tun, als den angenehmen Platz an dem hohen Kamingitter aufgeben, bei ihm sitzen und auf seine Wünsche lauschen. Aber dies machte ihm die Kleine so unentbehrlich, daß er ganz an sie gewöhnt wurde und sie schwer vermißte, wenn sie nicht um ihn war. Durch diese kleine Tür trat sie aus der Kindheit in die sorgenbeladene Welt.
Was ihr mitleidiger Blick in jenen frühen Tagen in ihrem Vater, ihrer Schwester, ihrem Bruder, in dem Gefängnis erblickte; wieviel oder wie wenig von der traurigen Wahrheit Gott ihrem Blick zu enthüllen für gut gefunden, bleibt uns wie manches andere Geheimnis verborgen. Genug, daß sie den begeisterten Drang in sich fühlte, etwas zu sein, was die übrigen nicht waren, und dieses Etwas – anders und fleißig – um der übrigen willen. Begeistert? Ja. Sollen wir denn allein von der Begeisterung eines Dichters oder Priesters sprechen und nicht auch von der Begeisterung eines Herzens, das durch Liebe und Selbstaufopferung zu der niedrigsten Arbeit in der niedrigsten Lebenssphäre gedrängt wird?
Ohne menschlichen Freund, der sie unterstützt oder sich nur um sie bekümmert, als den einen, mit dem sie das Schicksal so seltsam zusammengewürfelt; ohne alle Kenntnis des alltäglichen Lebens und der Gewohnheiten der Glieder der freien Gemeinde, die nicht in Gefängnissen eingeschlossen ist: geboren und erzogen in sozialen Verhältnissen, für die sich selbst in den falschesten Verhältnissen der Welt außerhalb der Gefängnismauern kein ebenbürtiger Vergleich findet; von Kindheit an aus einer Quelle trinkend, deren Wasser eigentümlich gefärbt war und einen eigentümlich ungesunden und unnatürlichen Geschmack hatte, begann das Kind des Marschallgefängnisses seinen Lebenslauf.
Es gilt gleich, durch welche Irrtümer und Entmutigungen, durch welche Verspottungen ihrer kindischen und kleinen Figur (die, wenn auch nicht bös gemeint, doch bitter empfunden wurden), durch welches demütigende Bewußtsein ihrer Dürftigkeit und Schwäche, selbst im Heben und Tragen, durch wieviel Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit, wie viele stille Tränen sie sich durchgerungen, bis man sie als ein nützliches, ja unentbehrliches Wesen anerkannte. Diese Zeit konnte nicht ausbleiben. Sie trat bald, mit Ausnahme der Erstgeburt, in alle Rechte des Ältesten unter den drei Geschwistern ein; sie wurde das Haupt der gefallenen Familie und trug in ihrem Herzen die Sorgen und die Schmach derselben.
Als sie dreizehn Jahre alt war, konnte sie lesen und Rechnung führen – das heißt, sie konnte in Worten und Zeichen sagen, wieviel ihre nötigsten Bedürfnisse kosten würden und wieviel ihnen zur Anschaffung derselben mangelte. Sie war öfter einige Wochen lang verstohlenerweise in eine Abendschule in der Stadt gegangen und wußte ihre Schwester und ihren Bruder während drei oder vier Jahren zeitweise in eine Tageschule zu bringen. Zu Hause war für keines irgendwelcher Unterricht; aber sie sah es wohl ein – niemand besser als sie –, daß ein Mann, der so gebrochen, um Vater des Marschallgefängnisses zu sein, für seine Kinder kein Vater im vollen Sinn des Wortes sein könne.
Zu diesen schwachen Mitteln der Ausbildung fügte sie noch ein anderes aus eigener Findigkeit. Unter der bunten Masse von Schuldgefangenen erschien einst ein Tanzmeister. Ihre Schwester hatte ein großes Verlangen, die Kunst dieses Mannes zu lernen, und schien auch Talent dafür zu besitzen. Dreizehn Jahre alt, trat das Kind des Marschallgefängnisses mit einem Beutelchen in der Hand vor den Tanzmeister und brachte ihre bescheidene Bitte vor.
»Erlauben Sie, mein Herr, ich bin hier geboren.«
»Oh! Sie sind das junge Mädchen, wirklich?« sagte der Tanzmeister, ihre kleine Gestalt und ihr zu ihm aufsehendes Gesicht betrachtend.
»Ja, Sir.«
»Und was kann ich für Sie tun?« sagte der Tanzmeister.
»Nichts für mich, Sir, ich danke«, antwortete sie, die Schnüre des kleinen Beutels verlegen aufziehend; »aber wenn Sie während Ihres Hierseins so freundlich sein wollten, meiner Schwester billigen Unterricht –«
»Mein Kind, ich werde ihr umsonst Unterricht geben«, sagte der Tanzmeister, den Beutel zurückweisend. Er war ein so gutmütiger Tanzmeister, wie je einer in das Schuldgefängnis getanzt war, und er hielt sein Wort. Die Schwester war eine so gelehrige Schülerin, und der Tanzmeister hatte so überflüssige viele Zeit für sie (denn es dauerte zehn Wochen, bis er sich mit seinen Gläubigern ins klare gesetzt, die Kommissare bestellt und von der Sachlage unterrichtet und zu seiner Berufstätigkeit zurückkehren konnte), daß das Mädchen ausgezeichnete Fortschritte machte. Der Tanzmeister war wirklich so stolz darauf und so begierig, die Erfolge seiner Kunst, ehe er das Gefängnis verließ, vor einigen auserlesenen Freunden unter den Mitgefangenen zu produzieren, daß an einem schönen Morgen um sechs Uhr ein Menuett à la cour im Hofe getanzt wurde – die Räume des Gefängnisses waren für einen solchen Zweck zu beschränkt –, und dabei setzte die Schülerin die Füße so angemessen und machte die Schritte so gewissenhaft, daß der Tanzmeister, der die Stoßgeige dazu spielte, ganz begeistert war.
Der Erfolg dieses Anfangs, der den Tanzmeister veranlaßte, seinen Unterricht nach seiner Freilassung fortzusetzen, ermutigte das arme Mädchen, weitere Versuche zu machen. Sie wartete und wartete monatelang, ob nicht eine Näherin in das Gefängnis eingeliefert würde. Endlich nach langer Zeit erschien eine Putzhändlerin, und an diese wandte sie sich in eignem Interesse.
»Ich bitte um Entschuldigung, Ma’am«, sagte sie und sah sich ängstlich an der Tür der Putzhändlerin um, die sie in Tränen und im Bette fand; »aber ich wurde hier geboren.«
Jedermann schien, sobald er in das Gefängnis kam, von ihr zu hören; denn die Putzhändlerin saß im Bett auf und sagte, die Augen trocknend, ganz wie der Tanzmeister gesagt:
»Oh! Sie sind das Kind, wirklich?«
»Ja, Ma’am!«
»Ich bedaure, ich habe nichts, womit ich Ihnen dienen könnte«, sagte die Putzhändlerin mit Kopfschütteln.
»Das will ich auch gar nicht, Ma’am. Wenn es Ihnen angenehm wäre, wünschte ich nähen zu lernen.«
»Wie können Sie das wünschen«, versetzte die Putzhändlerin, »da Sie doch an mir ein Beispiel haben? Es hat mir nicht sonderlich viel Glück gebracht.«
»Nichts – was es auch sei – scheint denen, die hierher kommen, Glück gebracht zu haben«, versetzte sie in ihrer Einfalt; »aber ich möchte doch nähen lernen.«
»Ich fürchte, Sie sind zu schwach«, warf die Putzhändlerin ein.
»Ich halte mich nicht für zu schwach, Ma’am.«
»Und dann sind Sie auch so sehr klein«, erwiderte die Putzhändlerin.
»Ja, ich bin leider sehr klein«, entgegnete das Kind des Marschallgefängnisses und begann über diesen unglücklichen Mangel ihres Körpers, der ihr so oft hindernd in den Weg trat, zu weinen. Die Putzhändlerin – die nicht grämlich und hartherzig war, sondern nur in letzter Zeit nicht hatte bezahlen können – war gerührt, nahm sich ihrer freundlich an und fand in ihr die geduldigste und fleißigste Schülerin, die sie im Lauf der Zeit zu einer geschickten Arbeiterin machte.
Im weiteren Verlauf der Zeit, und zwar in derselben Zeit entfaltete auch der Vater des Marschallgefängnisses eine neue Blüte des Charakters. Je väterlicher er für das Marschallgefängnis und je abhängiger er von den Beiträgen seiner wechselnden Familie wurde, desto starrer hielt er an seinem verlorenen Standesadel fest. Mit derselben Hand, mit der er vor einer halben Stunde die halbe Krone eines Mitgefangenen in die Tasche schob, wischte er die Tränen weg, die über seine Wangen rollten, wenn man auf seiner Tochter Broterwerb anspielte. So hatte das Kind des Marschallgefängnisses außer ihren andern täglichen Sorgen auch noch die, ihm die vornehme Einbildung zu erhalten, daß sie lauter müßige Bettler seien.
Die Schwester wurde Tänzerin. Es war ein ruinierter Onkel in der Familie, ruiniert durch seinen Bruder, den Vater des Marschallgefängnisses, und so wenig als der, der ihn ruiniert, wissend weshalb. Aber ein Mann, der die Tatsache als ein unvermeidliches Schicksal hinnahm, – diesem wurde die Sorge für sie übertragen. Von Haus aus ein stiller und einfacher Mann, hatte er, als das Unglück über ihn kam, keinen größeren Schmerz über den Ruin an den Tag gelegt, als daß er mitten im Waschen aufhörte, als ihm das Unglück angekündigt wurde, und nie mehr zu diesem Luxus griff. Er war in seinen bessern Tagen ein ziemlich oberflächlicher Musikliebhaber gewesen, und als er mit seinem Bruder fiel, spielte er zu seinem Lebensunterhalt in einem kleinen Theaterorchester eine Klarinette, die so schmutzig war wie er selbst. Es war das Theater, an dem seine Nichte Tänzerin wurde. Er hatte schon lange seine feste Stellung an diesem, als sie ihre bescheidene Stellung dort antrat; und er übernahm die Aufgabe, sie zu leiten und zu schützen, wie er eine Krankheit, eine Erbschaft, ein Gastmahl, den Hungertod – alles außer der Seife hingenommen haben würde.
Um das Mädchen in den Stand zu setzen, ihre wenigen wöchentlichen Schillinge zu verdienen, mußte das Kind des Marschallgefängnisses einen großen Umweg bei dem Vater machen.
»Fanny hat die Absicht, künftig nicht all ihre Zeit im Gefängnis zu verbringen, Vater. Sie wird zwar noch ein gutes Stück des Tages bei uns sein, aber sie beabsichtigt, draußen bei dem Onkel zu wohnen.«
»Du überraschst mich. Weshalb?«
»Ich denke, der Oheim braucht Gesellschaft. Er braucht jemanden, der für ihn sorgt und ihn pflegt.«
»Gesellschaft? Er bringt ja einen großen Teil seiner Zeit hier zu. Und du sorgst für ihn und pflegst ihn weit besser, als deine Schwester je imstande wäre. Ihr geht alle so viel aus; ihr geht alle so viel aus.«
Dies sagte er, um den Glauben und den Schein aufrechtzuerhalten, als habe er keine Idee davon, daß Amy selbst tagsüber an die Arbeit gehe.
»Aber wir freuen uns immer so sehr auf das Heimkommen, Vater, das wirst du mir doch glauben? Und was Fanny betrifft, so wird es ihr, abgesehen davon, daß sie Onkel Gesellschaft leistet und für ihn sorgt, ganz gut bekommen, wenn sie sich nicht immer hier aufhält. Sie wurde nicht wie ich hier geboren, Vater.«
»Schon gut, Amy, schon gut. Ich kann deine Meinung nicht ganz teilen, aber es ist ganz natürlich, daß Fanny, ja daß selbst du oft draußen zu sein vorziehst. So mögt ihr denn, du und Fanny und euer Onkel, tun, was euch beliebt. Gut, gut. Ich will mich nicht darein mischen; kümmert euch nicht um mich!«
Ihren Bruder aus dem Gefängnis wegzubekommen und damit von dem Besorgen der Obliegenheiten, die er an Mrs. Banghams Stelle übernommen, sowie von dem nicht sehr einwandfreien Verkehr mit verdächtigen Kameraden loszureißen, war ihre schwierigste Aufgabe. Er würde von seinem achtzehnten Jahre bis in sein achtzigstes von der Hand in den Mund, von Stunde zu Stunde, von Pfennig zu Pfennig gelebt haben. Niemand kam in das Gefängnis, von dem er etwas Nützliches oder Gutes gelernt hätte, und sie konnte keinen Gönner für ihn gewinnen als ihren alten Freund und Paten.
»Lieber Bob«, sagte sie, »was soll aus dem armen Tip werden?« Sein Name Ted war in den vier Mauern des Gefängnisses in Tip umgeändert worden.
Der Schließer hatte seine besondern bestimmten Ansichten darüber, was aus dem armen Tip werden würde, und war in der Absicht, dem vorzubeugen, so weit gegangen, daß er Tip in dieser Beziehung dringend zu dem Auskunftsmittel riet, sich auf und davon zu machen und unter die Soldaten zu gehen. Aber Tip dankte für die Ehre und sagte, er glaube nicht sehr für sein Vaterland besorgt zu sein.
»Ja, mein liebes Kind«, sagte der Schließer, »etwas sollte mit ihm geschehen. Soll ich’s versuchen, ihn in einer Gerichtsstube unterzubringen?«
»Das wäre sehr freundlich von Ihnen, Bob.«
Der Schließer hatte jetzt zwei Punkte, deretwegen er die Sachverständigen, die bei ihm aus und ein gingen, befragen mußte. Er betrieb diesen zweiten Punkt mit solchem Eifer, daß sich endlich für Tip ein Stuhl und zwölf Schillinge wöchentlich fanden, und zwar in dem Bureau eines Rechtsanwalts in einem großen Nationalpalladium, genannt Pallace Court, damals ein Stück aus der beträchtlichen Liste ewiger Bollwerke der Würde und Sicherheit Altenglands, die längst dahin sind.
Tip harrte sechs Monate lang in Cliffords Inn aus, und als die Zeit vorüber war, schlenderte er eines Abends, die Hände in den Hosentaschen, nach dem Gefängnis und erklärte seiner Schwester beiläufig, daß er nicht wieder in die Gerichtsstube zurückkehren werde.
»Nicht wieder zurückkehren?« sagte das arme, kleine, ängstliche Kind des Marschallgefängnisses, das immer in erster Reihe Pläne für Tips Zukunft entwarf.
»Ich bin der Sache so überdrüssig«, sagte Tip, »daß ich sie kurz und gut hingeschmissen habe.«
Tip wurde aller Dinge überdrüssig.
Mit Unterbrechungen eines kürzeren Müßiggangs im Marschallgefängnis und nach Besorgung von Mrs. Banghams früheren Geschäften brachte ihn seine kleine zweite Mutter, unterstützt von ihrem treuen Freunde, in ein Exportgeschäft, in einen Gemüse- und Blumenverkauf, in ein Hopfengeschäft, dann wieder in die Gerichtsstube, zu einem Auktionator, in eine Brauerei, zu einem Börsenmakler, dann wieder in eine Gerichtsstube, in ein Droschkenvermietungsbureau, in ein Wagenvermietungsbureau, dann wieder in eine Gerichtsstube, in ein gemischtes Warengeschäft, in eine Brennerei, dann wieder in eine Gerichtsstube, in ein Wollgeschäft, in ein Schnittwarengeschäft, in das Geschäft der Billingsgate, in ein Südfrüchtegeschäft und in die Docks. Aber wohin Tip auch kam, stets kehrte er überdrüssig zurück und erklärte, daß er diese Sache »hingeschmissen«. Wohin er seine Schritte wandte, schien dieser schicksalsmäßig vorherbestimmte Tip die Mauern des Gefängnisses mitzunehmen und sie in jedem Geschäft oder Beruf aufzurichten und sich innerhalb ihrer engen Grenzen planlos in den hinten heruntergetretenen alten Pantoffeln umherzubewegen, bis die unbeweglichen Mauern des Marschallgefängnisses wieder ihren Zauber auf ihn ausübten und ihn zurückbrachten.
Nichtsdestoweniger war das gute kleine Geschöpf so sehr für das Wohl seines Bruders besorgt, daß, während er diesen traurigen Tauschhandel trieb, sie so viel zusammengeizte und -scharrte, um ihn nach Kanada einschiffen zu können. Als er des Nichtstuns müde und selbst dieses »hinzuschmeißen« geneigt war, gab er seine gnädige Zustimmung zur Reise nach Kanada. Während der Schmerz über sein Scheiden ihr Herz bewegte, mußte sie sich doch der Hoffnung freuen, daß er endlich in ein gerades Lebensgeleis einlenken werde.
»Gott segne dich, lieber Tip. Sei nicht zu stolz, uns zu besuchen, wenn du dein Glück gemacht.«
»Schon gut!« sagte Tip und ging.
Aber nicht ganz bis Kanada; sondern nicht weiter als Liverpool. Nachdem er die Reise von London nach diesem Hafen gemacht, fühlte er einen so heftigen Drang, die Sache mit dem Schiff hinzuschmeißen, daß er wieder zurückzugehen beschloß. So erschien er nach Verfluß eines Monats vor seiner Schwester in Lumpen, ohne Schuhe, und geschäftsüberdrüssiger als je.
Endlich, nach einer weiteren Unterbrechung, währenddessen er wieder Mrs. Banghams Geschäfte besorgte, hatte er einen Beruf für sich herausgefunden und teilte den Fund seiner Schwester mit.
»Amy, ich habe eine Stelle gefunden.«
»Wirklich und wahrhaftig, Tip?«
»Ganz gewiß. Ich werde jetzt arbeiten. Du brauchst dich nicht mehr um meinetwillen zu grämen, gutes Mädchen.«
»Was ist es denn, Tip?«
»Nun, du kennst doch Slingo vom Ansehen?«
»Doch nicht den Kerl, den sie den Händler heißen?«
»Das ist der Kerl. Er wird am Montag kommen und will mir eine Hängematte geben.«
»Womit handelt er denn, Tip?«
»Mit Pferden. Es ist alles in Ordnung. Ich hoffe, es zu etwas zu bringen, Amy.«
Sie verlor ihn für Monate aus dem Gesicht, und man hörte nur einmal von ihm. Ein Geflüster ging unter den älteren Gefangenen, daß man ihn bei einer falschen Auktion in Moorfields gesehen, wo er plattierte Artikel für massives Silber gekauft und mit der größten Freigebigkeit in Banknoten bezahlt; aber das Gerücht drang nicht bis zu ihren Ohren. Eines Abends war sie allein bei der Arbeit – sie stand am Fenster, um von dem Zwielicht, das noch über der Mauer weilte, zu profitieren –, als er die Tür öffnete und eintrat.
Sie küßte und bewillkommnete ihn, fürchtete sich jedoch, irgendeine Frage an ihn zu richten. Er sah ihre Angst und Verlegenheit und schien betrübt.
»Ich fürchte, Amy, du wirst diesmal ärgerlich sein. Bei meinem Leben, ich fürchte das wirklich.«
»Es schmerzt mich, dich so sprechen zu hören. Bist du ganz in die Heimat zurückgekehrt?«
»Nun – ja.«
»Da ich diesmal nicht erwartete, daß das, was du gefunden, viel taugen werde, bin ich weniger überrascht und betrübt, als ich wohl sonst gewesen, Tip.«
»Ach! Das ist nicht das Schlimmste.«
»Nicht das Schlimmste?«
»Sieh nicht so erschrocken drein. Nein, Amy, nicht das Schlimmste. Ich bin zurück, wie du siehst; aber – sieh mich nicht so erschrocken an – ich bin auf eine neue Art, möcht‘ ich das nennen, zurück. Ich bin ganz und gar von der Liste der Freiwilligen gestrichen. Ich gehöre jetzt zu den regulären Insassen hier.«
»Oh! Du wolltest doch nicht sagen, daß du ein Gefangener bist, Tip! Sage das nicht, sage das nicht!«
»Gut, ich brauche das nicht zu sagen«, versetzte er in zögerndem Ton. »Aber wenn du mich nicht begreifen willst, ohne daß ich’s sage, was soll ich dann tun? Ich bin wegen vierzig Pfund und etwas darüber hier.«
Zum ersten Male seit langen Jahren brach sie unter der Last ihrer Sorgen zusammen. Sie schrie, die Hände über dem Kopfe ringend, es werde ihren Vater töten, wenn er es je erfahre, und sank vor Tips unbarmherzigen Füßen nieder.
Es war leichter für Tip, sie wieder zur Besinnung zu bringen, als für sie, ihm begreiflich zu machen, daß der Vater des Marschallgefängnisses außer sich geraten würde, wenn er die Wahrheit erführe. Das war für Tip eine unbegreifliche Sache, und es schien ihm eine phantastische Einbildung. Er fügte sich einzig aus diesem Gesichtspunkt darein, als er ihren Bitten, die von Onkel und Schwester unterstützt wurden, nachgab. An Vorwänden für seine Rückkehr fehlte es nicht. Man erklärte sie dem Vater auf die gewöhnliche Weise, und die Mitgefangenen, die für den frommen Betrug ein besseres Verständnis hatten als Tip, unterstützten ihn getreulich.
Das war das Leben und die Geschichte des Kindes des Marschallgefängnisses bis zum zweiundzwanzigsten Jahre. Mit einer unüberwindlichen Anhänglichkeit an den traurigen Hof und die Häusermasse, die ihr Geburtsort und ihre Heimat waren, ging sie jetzt verlegen und mit dem peinlichen Bewußtsein, daß man sie jedermann zeige, aus und ein. Seit sie draußen zu arbeiten begonnen, hatte sie es für nötig befunden, ihren Wohnort zu verheimlichen und so geheim als möglich zwischen der freien City und dem eisernen Tor, außerhalb dessen sie niemals in ihrem Leben geschlafen, hin und her zu gehen. Ihre angeborene Schüchternheit hatte durch diese Heimlichkeit noch zugenommen: ihr leichter Tritt und ihre kleine Gestalt huschten unbemerkt durch das Straßengedränge. Weltklug in Dingen der Armut, war sie sonst die lautere Einfalt. Ein unschuldiges Wesen stand sie mitten in dem Nebel, in dem sie ihren Vater sah und das Gefängnis und den trüben lebendigen Strom, der durch dieses flutete und weiterfloß.
Das war das Leben und die Geschichte von Klein-Dorrit, die eben an einem düstern Septemberabend, aus einiger Entfernung von Arthur Clennam beobachtet, nach Hause ging, am Ende der London Bridge umkehrte, zurückging, sich dann wieder umwandte, den Weg nach der St.-George-Kirche einschlug, plötzlich noch einmal umwandte und durch das offne äußere Tor in den Hof des Marschallgefängnisses schlüpfte.