Achtes Kapitel.
Im Gefängnis.
Arthur Clennam stand in der Straße und wartete auf einen Vorübergehenden, den er fragen könnte, was dies für ein Ort sei. Er ließ mehrere Leute an sich vorübergehen, in deren Gesichtern keine Aufmunterung zu dieser Frage lag, und stand noch zögernd in der Straße, als ein alter Mann erschien, der den Weg nach dem Hofe einschlug.
Er ging sehr gebückt und brütete ganz in Gedanken versunken vor sich hin, was die von Menschen und Wagen wimmelnden Durchfahrten Londons nicht besonders sicher für ihn machten. Er war schmutzig und dürftig gekleidet und trug einen fadenscheinigen Rock, der einst blau gewesen, bis an die Knöchel hinabreichte und bis an das Kinn zugeknöpft war, wo er sich in dem blassen Geist eines Samtkragens verlor. Ein Stück roten Zeugs, mit dem dieses Phantom zu seinen Lebzeiten gesteift gewesen, lag nun offen da und wühlte hinten am Nacken des alten Mannes in einem Wirrwarr von grauen Haaren und einer rostigen Krawattenschnalle, die alle zusammen seinen Hut beinahe herabgeworfen. Es war ein fettigglänzender und kahler Hut, der über seine Augen herabhing, an der Krempe gebrochen und zerknittert war und einen Zipfel von dem Taschentuch heraussehen ließ. Seine Beinkleider waren so lang und schlottrig und seine Schuhe so plump und groß, daß er wie ein Elefant einherwackelte. Niemand hätte zu sagen vermocht, wieviel davon Gang und wieviel nachgeschlepptes Kleid und Leder war. Unter dem einen Arm trug er eine abgeriebene und abgenutzte Kapsel, die ein Blasinstrument enthielt; in der Hand hatte er für einen Penny Schnupftabak in einer kleinen Tüte von weißlich braunem Papier, aus der er gerade seine arme blaue Nase mit einer großen Prise beglückte, als Arthur Clennam seiner ansichtig wurde.
An diesen alten Mann, der eben über den Vorhof ging, richtete er seine Frage, indem er ihn an der Schulter berührte. Der alte Mann blieb stehen und sah sich um, mit einem Ausdruck in seinen schwachen grauen Augen, als ob seine Gedanken weit weg wären und er zugleich etwas schwer hörte.
»Bitte, mein Herr«, sagte Arthur, seine Frage wiederholend, »was ist das für ein Ort?«
»Ah, dieser Ort?« entgegnete der alte Mann, mit seiner Prise innehaltend und nach dem Gebäude zeigend, ohne daß er zugleich hingesehen. »Das ist das Marschallgefängnis, Sir.«
»Das Schuldgefängnis?«
»Sir«, sagte der alte Mann mit einem Ausdruck, als hielte er es nicht gerade für nötig, auf dieser Bezeichnung zu beharren, »ja, das Schuldgefängnis.«
Er drehte sich um und ging weiter.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Arthur und hielt ihn noch einmal an, »wollen Sie mir noch eine Frage erlauben? Darf hier jeder hineingehen?«
»Jeder kann hier hineingehen«, versetzte der alte Mann, durch den bezeichnenden Ton die Bedeutung des Wortes ins rechte Licht rückend, „aber nicht jeder kann wieder herausgehen.«
»Entschuldigen Sie noch eins. Sind Sie hier bekannt?«
»Sir«, entgegnete der alte Mann, indem er das kleine Paket Schnupftabak in seiner Hand preßte, und mit einem Blick auf den Fragenden, der deutlich zu sagen schien, daß ihn solche Fragen verletzen, »ja.«
»Ich bitte um Entschuldigung. Es ist nicht zudringliche Neugier, die mich zu diesen Fragen drängt, sondern eine gute Absicht. Kennen Sie den Namen Dorrit hier?«
»Mein Name, Sir«, versetzte der alte Mann höchst unerwarteterweise, »ist Dorrit.«
Arthur nahm den Hut vor ihm ab. »Vergönnen Sie mir noch ein halbes Dutzend Worte. Ich war auf diese Mitteilung völlig unvorbereitet und hoffe, daß diese Versicherung mich hinlänglich für die Freiheit, mit der ich mich an Sie gewandt, entschuldigen werde.
Ich kehrte kürzlich nach langer Abwesenheit nach England zurück. Ich habe bei meiner Mutter – Mrs. Clennam in der City – ein junges Mädchen gesehen, das dort nähte und das ich nur Klein-Dorrit nennen hörte. Ich fühlte ein aufrichtiges Interesse für sie und hegte den lebhaften Wunsch, etwas mehr von ihr zu erfahren. Ich sah sie, kaum eine Minute, ehe Sie kamen, durch dieses Tor gehen.“
Der alte Mann sah ihn aufmerksam an. „Sind Sie ein Seemann, Sir?“ fragte er. Er schien durch das Kopfschütteln, das ihm antwortete, etwas enttäuscht. „Kein Seemann? Ich glaubte dies aus Ihrem sonnverbrannten Gesicht schließen zu dürfen. Ist es Ihnen auch Ernst, Sir?“
„Ich versichere Sie, daß es mir Ernst ist mit dem, was ich sage, und bitte Sie, sich völlig davon überzeugt zu halten.“
„Ich weiß sehr wenig von der Welt, Sir“, versetzte der andere, der eine schwache und zitternde Stimme hatte. „Ich schreite über die Erde wie der Schatten über die Sonnenuhr. Es lohnt sich nicht, mich zu hintergehen: das Gelingen wäre eine gar zu leichte – gar zu nutzlose Sache. Das junge Mädchen, das Sie hineingehen sahen, ist meines Bruders Tochter. Mein Bruder heißt William Dorrit; ich Frederik. Sie sagten, Sie hätten sie bei Ihrer Mutter gesehen (ich weiß, Ihre Mutter ist sehr gütig gegen sie). Sie hätten ein Interesse für sie gefaßt und wünschten zu wissen, was sie hier tut. Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst.“
Er ging weiter, und Arthur begleitete ihn.
„Mein Bruder“, sagte der alte Mann, einen Augenblick stehenbleibend und sich umsehend, „mein Bruder ist seit vielen Jahren hier, und manches, was draußen selbst mit uns vorgeht, wird ihm aus Gründen, auf die ich jetzt nicht einzugehen brauche, verheimlicht. Haben Sie die Güte, nichts davon zu sagen, daß meine Nichte in der Stadt näht. Haben Sie überhaupt die Güte, nicht mehr zu sagen als wir selbst. Wenn Sie sich innerhalb unserer Schranken bewegen, werden Sie niemanden verletzen. Nun, kommen Sie und sehen Sie selbst.“
Arthur folgte ihm durch einen engen Gang, an dessen Ende ein Schlüssel umgedreht wurde, worauf sich eine schwere Tür von innen öffnete. Sie traten in ein Pförtnerstübchen oder Vorzimmer und gelangten durch dieses und ein zweites Gittertor in das Gefängnis. Der alte Mann, der bislang immer vor sich hingegrübelt, drehte sich in seiner langsamen, steifen und demütigen Manier um, als sie zu dem diensttuenden Schließer kamen und er diesem seinen Begleiter vorstellen wollte. Der Schließer nickte, und der Begleiter trat ein, ohne daß man ihn fragte, zu wem er wolle.
Die Nacht war dunkel; und die Gefängnislampen im Hof und die Lichter, die aus den Zimmern der Gefangenen durch alte Vorhänge und Jalousien einen schwachen Schimmer verbreiteten, schienen diese ganze Welt nicht heller zu machen. Einige von den Gefangenen spazierten im Hofe umher, der größere Teil befand sich jedoch bereits
Der Klarinettspieler auf dem Wege.
auf den Zimmern. Der alte Mann, der den Weg nach der rechten Seite des Hofes einschlug, trat in den dritten oder vierten Torweg und begann die Treppen hinaufzusteigen. »Es ist hier ziemlich finster, Sir, aber Sie werden nichts im Wege finden.«
Er blieb einen Augenblick stehen, ehe er eine Tür im zweiten Stockwerk öffnete. Er hatte kaum die Klinke aufgedrückt, als der Fremde Dorrit sah und den Grund wußte, weshalb sie so großen Vorrat aufhäufte, wenn sie allein speiste.
Sie hatte die Mahlzeit mit nach Hause gebracht, die sie selbst hätte essen sollen, und wärmte sie bereits auf einem Rost über dem Feuer für ihren Vater, der einen alten grauen Rock und eine schwarze Mütze trug. Er wartete auf sein Abendessen am Tische. Ein reinliches Tischtuch war vor ihm ausgebreitet; darauf lagen und standen Gabel, Messer und Löffel, Salzbüchse, Pfefferbüchse, Glas und ein zinnerner Bierkrug. Auch fehlten solche Zutaten wie eine besondere kleine Büchse mit Cayennepfeffer und für einen Penny Mixed Pickles in einem Schälchen nicht.
Sie erschrak und wurde bald rot, bald blaß. Der Fremde forderte sie mehr durch seine Blicke als durch seine leichte Handbewegung auf, sich zu beruhigen und ihm zu vertrauen.
»Ich fand diesen Herrn«, sagte der Onkel, »Mr. Clennam, den Sohn von Amys Gönnerin – an dem äußeren Tor, in der Absicht begriffen, im Vorübergehen seinen Besuch abzustatten, unschlüssig jedoch, ob er hereingehen sollte oder nicht. Dies ist mein Bruder William, Sir.«
»Ich hoffe«, sagte Arthur, ungewiß, was er sagen sollte, »daß meine Achtung für Ihre Tochter meinen Wunsch, Sie kennenzulernen, erklären und rechtfertigen wird.«
»Mr. Clennam«, versetzte der andere, indem er aufstand, seine Mütze abnahm und sie in der Hand hielt, bereit sie wieder aufzusetzen, »Sie erweisen mir eine Ehre. Seien Sie willkommen, Sir.« Dabei machte er eine tiefe Verbeugung. »Frederik, einen Stuhl. Bitte, setzen Sie sich, Mr. Clennam.«
Er setzte seine schwarze Kappe auf, wie er sie abgenommen, und ließ sich wieder am Tische nieder. Es lag etwas eigentümlich Wohlwollendes und Herablassendes in seinem Wesen. Das waren die Zeremonien, mit denen er die Mitgefangenen gewöhnlich empfing.
»Seien Sie willkommen im Marschallgefängnis, Sir. Ich habe manchen Gentleman in diesen Mauern bewillkommt. Vielleicht wissen Sie bereits – meine Tochter Amy hat es Ihnen ohne Zweifel mitgeteilt –, daß ich der Vater dieses Hauses bin.«
»Ich – ja allerdings habe ich das gehört«, sagte Arthur, keck diese Behauptung aussprechend.
»Sie wissen ohne Zweifel ferner, daß meine Tochter Amy hier geboren ist. Ein gutes Mädchen, Sir, ein liebes Mädchen, und seit lange ein Trost und eine Stütze für mich. Amy, mein liebes Kind, setze das Essen auf; Mr. Clennam wird die einfachen Gewohnheiten,
Die Entdeckung des Geheimnisses von Klein-Dorrit.
auf die wir hier angewiesen sind, entschuldigen. Darf ich Sie fragen, ob Sie mir die Ehre geben wollen, Sir, –«
»Ich danke«, erwiderte Arthur. »Nicht einen Bissen.«
Er war lauter Staunen über das Benehmen des Mannes, der gar nicht daran zu denken schien, daß seine Tochter irgendeine Zurückhaltung über die Geschichte ihrer Familie beobachten könnte.
Sie füllte sein Glas, stellte alle die Kleinigkeiten auf den Tisch vor ihn und setzte sich neben den Vater, während dieser aß. Offenbar nach ihrer allnächtlichen Gewohnheit legte sie ein Stück Brot vor sich und berührte sein Glas mit ihren Lippen. Der Blick, mit dem sie halb bewundernd und stolz, halb verlegen, aber doch lauter Liebe und Hingebung, ihren Vater ansah, drang ihm tief ins Herz.
Der Vater des Marschallgefängnisses war gegen seinen Bruder, als einen liebreichen und wohlmeinenden Mann, einen stillen Charakter, der es zu keiner Auszeichnung gebracht, sehr herablassend. »Frederik«, sagte er, »du und Amy essen heute zu Hause zu Nacht, nicht wahr? Wo ist Fanny, Frederik?«
»Sie geht mit Tip spazieren.«
»Tip – müssen Sie wissen – ist mein Sohn, Mr. Clennam. Er war etwas wild und schwer in Ordnung zu halten, aber sein Eintritt in die Welt war auch ziemlich« – er zuckte die Schulter mit einem leichten Seufzer und blickte im Zimmer umher – »ziemlich seltsam. Ihr erster Besuch hier, Sir?«
»Mein erster.«
»Sie könnten auch seit Ihrer Knabenzeit kaum hier gewesen sein, ohne daß ich es erfahren. Es geschieht höchst selten, daß jemand – von Bedeutung, von irgendwelcher Bedeutung – hierherkommt, ohne daß er mir vorgestellt würde.“
»Vierzig bis fünfzig wurden oft an einem Tage meinem Bruder vorgestellt«, sagte Frederik, plötzlich stolz aufleuchtend.
»Jas, sagte der Vater des Marschallgefängnisses bestätigend. »Es waren ihrer sogar noch mehr. An einem schönen Sonntag zur Zeit der Sitzungen der Gerichtshöfe ist es ein wahrer Empfang – ja ein Empfang. Amy, liebes Kind, ich habe mir den halben Tag den Kopf zerbrochen über den Namen des Gentleman von Camberwell, den mir letzte Christwoche der angenehme Kohlenhändler, der auf sechs Monate wieder zurückgeschickt wurde, vorstellte.«
»Ich erinnere mich seines Namens nicht, Vater.«
»Frederik, erinnerst du dich seiner?«
Frederik bezweifelte, daß er ihn je gehört. Niemand konnte aber bezweifeln, daß Frederik die letzte Person auf Erden sei, an die man eine solche Frage richten könnte, mit irgendeiner Aussicht auf Auskunft.
»Ich meine«, sagte der Bruder, »den Gentleman, der jene Handlung mit so viel Zartheit ausführte. Ha! Still! Der Name ist mir ganz und gar entfallen. Mr. Clennam, da ich gerade eine schöne und zarte Handlung erwähnte, so werden Sie vielleicht auch wissen wollen, was es war.« »Allerdings«, sagte Arthur und wandte seine Augen von dem zarten Kopf, der sich zu senken begann, und dem blassen Gesicht ab, über das eine neue Besorgnis hinzog.
»Diese Tat ist so edel und zeugt von so viel Zartgefühl, daß es wohl Pflicht ist, ihrer zu gedenken. Ich sagte damals, daß ich bei jeder passenden Gelegenheit ohne Rücksicht auf persönliche Gefühle davon sprechen werde. Ja – es nützt nichts, die Tatsache zu verheimlichen – Sie müssen wissen, Mr. Clennam, daß es bisweilen vorkommt, daß Leute, die hierher kommen, dem Vater des Ortes ein kleines – Attestat ihrer Achtung – geben wollen.«
Es war ein sehr, sehr trauriger Anblick, ihre Hand auf seinem Arm stumm bittend ruhen und die schüchterne kleine Gestalt halb abgewandt zu sehen.
»Bisweilen«, fuhr er in leisem, sanftem, aber ernstem Ton fort, indem er sich dann und wann räusperte, – »bisweilen, – hm – unter der einen, bisweilen unter der andern Form; im allgemeinen ist es – hm – Geld. Und es ist – ich muß es gestehen – nur zu häufig – hm – recht annehmbar. Der erwähnte Gentleman wurde mir in einer für meine Gefühle höchst wohltuenden Weise vorgestellt und sprach nicht nur mit großer Höflichkeit, sondern entwickelte auch – hm – große Kenntnisse.“ Während der ganzen Zeit bewegte er, obgleich sein Nachtessen bereits beendet war, Messer und Gabel immer unruhig auf dem Teller hin und her, als ob er noch etwas vor sich hätte. »Es ging aus seinem Gespräch hervor, daß er einen Garten hatte, obgleich er anfangs aus Zartgefühl nur obenhin desselben erwähnte, da ich – hm – keinen Garten besuchen darf. Aber es kam dadurch heraus, daß ich einen sehr schönen Geraniumbüschel bewunderte – einen wirklich sehr schönen Geraniumbüschel –, den er aus seinem Gewächshaus gebracht. Als ich etwas über die reiche Farbe sagte, zeigte er mir ein Stück Papier rings um den Büschel, auf dem geschrieben stand: ›Für den Vater des Marschallgefängnisses‹, und überreichte ihn mir. Aber das war – hm – noch nicht alles. Er fügte eine seltsame Bitte hinzu, als er Abschied nahm, indem er sagte, ich möchte das Papier in einer halben Stunde wegnehmen. Ich – ha – tat so; und fand, daß es – hm – zwei Guineen enthielt. Ich versichere Sie, Mr. Clennam, ich erhielt – hm – Dankesbezeugungen aller Art und von mancherlei Wert, und sie waren unglücklicherweise alle sehr annehmbar. Aber keines hat mich mehr gefreut, als diese – hm – diese eigentümliche Dankesbezeugung.«
Arthur war gerade im Begriff, das wenige, was er über dieses Thema sagen konnte, auszusprechen, als eine Glocke zu läuten begann und Tritte sich der Tür näherten. Ein hübsches Mädchen von viel schönerem Wuchs und weit mehr entwickelt als Klein-Dorrit, obgleich sie viel jünger im Gesicht aussah, wenn man beide zugleich ins Auge faßte, blieb auf der Schwelle stehen, als sie einen Fremden erblickte; und ein junger Mann, der mit ihr war, blieb gleichfalls stehen.
»Mr. Clennam, Fanny. Meine älteste Tochter und mein Sohn, Mr. Clennam. Die Glocke ist ein Zeichen für die Fremden, daß sie das Gefängnis zu verlassen haben, deshalb kommen sie, um Abschied zu nehmen; aber es ist noch reichlich Zeit, reichlich Zeit, Mädchen. Mr. Clennam wird entschuldigen, wenn ihr Haushaltungsgeschäfte hier besorgt. Er weiß ohne Zweifel, daß ich nur ein Zimmer habe.«
»Ich brauche nur mein reines Kleid von Amy, Vater«, sagte das andere Mädchen.
»Und ich meine Wäsche«, sagte Tip.
Amy öffnete die Schublade eines alten Möbels, das oben ein Weißzeugschrank war und unten eine Bettstatt bildete, und nahm zwei kleine Bündel heraus, die sie ihrem Bruder und ihrer Schwester gab. »Ist es ausgebessert und zusammengenäht?« hörte Mr. Clennam die Schwester flüsternd fragen, worauf Amy »Jas antwortete. Er war nun aufgestanden und nutzte die Gelegenheit, sich im Zimmer umzusehen. Die nackten Wände waren früher, wie man noch erkennen konnte, von einer ungeschickten Hand grün angestrichen worden und spärlich mit ein paar Stichen geschmückt. Das Fenster war mit einem Vorhang, der Boden mit einem Teppich versehen; auch Ständer und Kleiderhaken und andre dergleichen Bequemlichkeiten hatten sich im Laufe der Jahre angesammelt. Es war ein kleines, beschränktes, ärmlich möbliertes Zimmer, und der Kamin rauchte überdies, sonst wäre der blecherne Windschirm am Feuerherd überflüssig gewesen; aber andauernde Sorgfalt und Mühe hatten es hübsch und in seiner Art sogar behaglich gemacht.
Die Glocke läutete noch immer, und der Onkel wünschte endlich zu gehen. »Komm, Fanny, komm, Fanny«, sagte er mit seiner zerfetzten Klarinettkapsel unter dem Arm; »es wird geschlossen, Kind, es wird geschlossen!«
Fanny bot ihrem Vater gute Nacht und flog federleicht fort. Tip war die Treppe schon hinabgeeilt. »Mr. Clennam«, sagte der Onkel, indem er zurücksah, während er ihnen nachschlürfte, »es wird geschlossen, Sir, es wird geschlossen.«
Mr. Clennam hatte zweierlei zu tun, ehe er folgte; erstens dem Vater des Marschallgefängnisses seine Anerkennung auszusprechen, ohne das Kind zu kränken; und dann dem Kinde etwas – nur ein einziges Wort – zur Erklärung seines Hierherkommens zu sagen.
»Erlauben Sie mir«, sagte der Vater, »Sie die Treppe hinabzubegleiten.«
Sie war hinter den andern hinausgeschlüpft, und der Vater und der Fremde waren allein. »Unter keiner Bedingung«, sagte der Fremde rasch. »Bitte, erlauben Sie mir –« kling, kling, kling.
»Mr. Clennam«, sagte der Vater, »ich bin tief, tief –« Aber der Fremde hatte seine Hand geschlossen, um dem Klingen ein Ende zu machen, und war mit großer Hast die Treppe hinabgeeilt.
Er sah keine Klein-Dorrit auf dem Weg oder im Hof drunten. Die letzten zwei oder drei Nachzügler eilten nach dem Pförtnerstübchen, und er folgte ihnen, als er plötzlich im Torweg des ersten Hauses vom Eingang ihrer gewahr wurde. Er kehrte rasch zurück.
»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie hier anspreche«, sagte
Arthur neben Klein-Dorrit beim Besuch des Marschallgefängnisses.
er; »ich bitte um Entschuldigung, daß ich überhaupt hierher gekommen! Ich folgte Ihnen heute abend. Ich tat es in der Absicht, zu sehen, ob ich nicht Ihnen und Ihrer Familie irgendeinen Dienst erweisen könnte. Sie wissen, wie ich mit meiner Mutter stehe, und werden es nicht befremdlich finden, daß ich mich Ihnen nicht genähert habe in ihrem Hause, da ich sie dadurch hätte ohne Absicht leicht eifersüchtig oder empfindlich machen oder Ihnen gar in ihrer Achtung eine Kränkung zufügen können. Was ich hier in dieser kurzen Zeit gesehen, hat den herzlichen Wunsch, Ihnen ein Freund zu werden, bedeutend vermehrt. Es würde mir für manche Enttäuschung Ersatz bieten, wenn ich hoffen könnte, Ihr Vertrauen zu gewinnen.«
Sie war anfangs sehr scheu, schien jedoch Mut zu fassen, während er mit ihr sprach.
»Sie sind sehr gut, Sir. Sie sprechen sehr ernst mit mir. Aber – ich wünschte. Sie hätten mich nicht beobachtet.«
Er wußte die Bewegung, mit der sie dies sagte, zu ihres Vaters Gunsten zu deuten, und er respektierte dieses Gefühl und schwieg.
»Mrs. Clennam hat mir große Gefälligkeiten erwiesen; ich weiß nicht, was aus uns ohne die Arbeit geworden wäre, die sie mir gegeben; ich fürchte, es ist keine gute Vergeltung, Geheimnisse vor ihr zu haben; ich kann heute abend nicht mehr sagen, Sir. Ich bin überzeugt, Sie meinen es gut mit uns. Ich danke Ihnen herzlich dafür.«
»Gestatten Sie mir nur eine Frage, ehe ich gehe. Kennen Sie meine Mutter schon lange?«
»Ich glaube, zwei Jahre, Sir. – Die Glocke hat zu läuten aufgehört.«
»Wie lernten Sie sie kennen? Schickte sie nach Ihnen?«
»Nein. Sie weiß nicht einmal, daß ich hier wohne. Wir haben einen Freund, Vater und ich – einen armen, fleißigen Mann, aber der beste Freund –, und ich schrieb aus, daß ich im Taglohn zu nähen wünsche, und gab seine Adresse an. Und er ließ, was ich geschrieben, an einigen Orten anschlagen, wo es nichts kostete, und Mrs. Clennam fand auf diese Weise meinen Namen und schickte nach mir. Das Tor wird geschlossen werden, Sir.«
Sie war so unruhig und aufgeregt, und er von Teilnahme für sie und durch das lebhafte Interesse für ihre Lebensgeschichte, wie sie sich vor ihm entfaltete, so tief bewegt, daß er sich kaum losreißen konnte. Aber das Aufhören des Geläutes und die Stille im Gefängnis waren eine Mahnung zum Aufbruch, und mit einigen flüchtigen freundlichen Worten ließ er sie zu ihrem Vater zurückkehren.
Aber er hatte zu lange verweilt, das innere Tor war verriegelt und das Pförtnerstübchen geschlossen. Nach kurzem fruchtlosen Pochen mit der Hand stand er mit der unangenehmen Ueberzeugung da, daß er die Nacht hier zubringen müsse, als ihn eine Stimme von hinten anredete:
»Gefangen, Mr.?« sagte die Stimme, »Sie werden vor morgen früh nicht nach Hause kommen. – Oh! sind Sie es, Mr. Clennam?«
Es war Tips Stimme, und sie standen sich noch im Gefängnishof gegenüber, als es zu regnen begann.
»Es ist nun schon geschehen«, bemerkte Tip: »Sie müssen das nächste Mal pünktlicher kommen.«
»Aber Sie sind ja auch eingeschlossen«, sagte Arthur.
»Ich glaube allerdings«, sagte Tip sarkastisch. »Ungefähr, aber nicht ganz wie Sie. Ich gehöre zu der Bude; meine Schwester meint freilich, der Alte dürfe es nicht wissen. Ich sehe aber nicht ein, weshalb.«
»Kann ich hier irgendein Quartier finden?« fragte Arthur. »Was soll ich sonst machen?«
»Wir sollten vor allem Amy zu sprechen suchen«, sagte Tip, der gewohnt war, alle Schwierigkeiten auf sie abzuladen.
»Ich würde lieber die ganze Nacht hier herumgehen – es läßt sich ja doch sonst nichts tun –, als sie zu beunruhigen.«
»Sie brauchen das nicht zu tun, wenn Ihnen nichts daran liegt, ein Bett zu bezahlen. Wenn Ihnen nichts daran liegt, zu bezahlen, so werden sie Ihnen unter solchen Umständen eines auf dem Snuggerytisch zurechtmachen. Wenn Sie mir folgen wollen, werde ich Sie dort einführen.«
Als sie den Hof hinabgingen, sah Arthur zu dem Fenster des Zimmers hinauf, das er kürzlich verlassen und wo noch Licht brannte.
»Ja, Sir!« sagte Tip, der seinem Blick folgte. »Das ist das Zimmer unsres alten Herrn, Sie sitzt noch eine Stunde lang bei ihm und liest ihm die Zeitungen von gestern oder etwas der Art vor; und dann kommt sie heraus wie ein kleiner Geist und verschwindet geräuschlos.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Der Alte schläft droben in dem Zimmer, aber sie hat ihre Wohnung bei dem Schließer, das erste Haus das, sagte Tip und deutete auf den Torweg, in den sie sich zurückgezogen. »Das erste Haus, in der Dachkammer. Sie bezahlt zweimal so viel dafür, als sie für ein zweimal so gutes Zimmer außerhalb des Gefängnisses bezahlen müßte. Aber sie will Tag und Nacht bei dem Alten sein, das arme gute Mädchen.«
Inzwischen waren sie zu der Schenkwirtschaft am obern Ende des Gefängnisses gelangt, wo die Gefangenen gerade ihren Abendklub verließen. Das Zimmer im Erdgeschoß, in dem der Klub sich versammelte, war die fragliche Snuggery; der Präsidentenstuhl des Vorsitzenden, die zinnernen Krüge, Gläser, Pfeifen, Tabakasche und die allgemeinen Dünste der Mitglieder waren noch vorhanden, auch nachdem die Zechbrüderschaft sich verzogen hatte. Die Snuggery hatte zwei von den Eigenschaften, die man gemeiniglich für Damengrog als wesentlich erachtet, nämlich, daß sie heiß und stark war; im dritten Punkt der Analogie, nämlich, daß davon im Ueberfluß vorhanden sei, blieb sie zurück: denn es handelte sich bei ihr um ein sehr kleines Zimmer.
Der ungewohnte Fremde von draußen glaubte natürlich, jeder sei hier Gefangener – Wirt, Kellner, Kellnerin, Bierausträger und alle übrigen. Ob sie es wirklich waren oder nicht, ließ sich nicht erkennen. Alle aber hatten das Aussehen von Unkraut. Der Besitzer eines Kramladens in einem Vordergebäude, der einigen Gefangenen Kost gab, half beim Bettmachen. Er war früher Schneider gewesen und hatte einen Promenaden-Sportwagen besessen, wie er sagte. Er rühmte sich, daß er die Ehre und die Interessen des Gefängnisses nachdrücklich verteidige; und er hatte die unklare und unerklärliche Idee, daß der Marschall einen »Fonds« unterschlage, der den Gefangenen zugute kommen sollte. Er war davon überzeugt und teilte diesen dunkeln Schmerz allen Neulingen und Fremden mit, obgleich er um keine Welt hätte erklären können, welchen »Fonds« er meinte und wie dieses Hirngespinst in seiner Seele Wurzel gefaßt. Er hatte sich trotzdem Gewißheit darüber verschafft, daß sein Anteil an dem Fonds drei Schillinge und neun Pence die Woche ausmache, und daß er als einzelner Gefangener regelmäßig jeden Montag von dem Marschall darum beschwindelt werde. Er half offenbar beim Bettmachen nur, um keine Gelegenheit zu verlieren, diese Sache an den Mann zu bringen; und als er sein Herz ausgeschüttet und angekündigt (wie er immer zu tun schien, ohne daß etwas zuwege kam), daß er einen Brief an die Zeitungen schreiben und den Marschall denunzieren wolle, ließ er sich in ein Gespräch über allerlei Dinge mit den übrigen ein. Aus dem vorherrschenden Ton in der ganzen Gesellschaft ging hervor, daß sie Zahlungsunfähigkeit als den Normalzustand der Menschen und die Bezahlung der Schulden als eine Krankheit, die zuweilen ausbreche, betrachtete.
In dieser seltsamen Umgebung, und während diese seltsamen Gespenster ihn umgaukelten, sah Arthur Clennam den Vorbereitungen zu seinem Nachtlager zu, als ob sie ein Traum wären. Inzwischen wies ihn der hier lange schon heimische Tip mit einer unheimlichen Freude an den Hilfsmitteln der Snuggery auf das gewöhnliche Küchenfeuer, das durch die gemeinsamen Beiträge der Gefangenen, und den Kessel für heißes Wasser, der auf gleiche Weise unterhalten wurde, und andere Vorteile hin, die beweisen zu wollen schienen, daß das Mittel, um gesund, wohlhabend und weise zu werden, sich im Marschallgefängnis einsperren zu lassen, sei.
Die beiden in einer Ecke zusammengestellten Tische waren endlich in ein wirklich bequemes Bett umgewandelt, und der Fremde wurde mit den Windsorstühlen, dem Präsidentensitz, der Bieratmosphäre, dem Sägemehl, den Fidibussen, den Spucknäpfen und dem Lager allein gelassen. Aber die Tatsache des letzteren verband sich lange, lange nicht mit den andern Tatsachen dieser Umwelt. Die Neuheit des Ortes, der unvorbereitete Eintritt, das Gefühl, eingeschlossen zu sein, die Erinnerung an das Zimmer im zweiten Stock, an die beiden Brüder und vor allem an die schüchterne kindliche Gestalt und das Gesicht, in dem er Jahre unzulänglicher Nahrung, wenn nicht gar Mangel an allem las, hielt ihn wach und machte ihn traurig.
Betrachtungen, die in seltsamster Beziehung zu dem Gefängnis standen, aber eben doch immerhin noch in Beziehung dazu standen, lasteten wie ein Alp auf seiner Seele, während er wachend dalag. Ob man Särge für Leute bereit halte, die hier sterben, wo sie aufbewahrt würden, wie sie aufbewahrt würden, wo die Leute, die im Gefängnis sterben, begraben würden, wie man sie fortschaffe, welche Formen man dabei beobachte, ob ein unversöhnlicher Gläubiger auch noch den Toten Arrest auferlegen könne? Welche Möglichkeit zu entfliehen vorhanden sei? Ob ein Gefangener die Mauern mit einem Strick und Haken erklettern könne, wie er auf der andern Seite hinabkäme? Ob er sich auf einen Hausgiebel herablassen, eine Treppe hinabschleichen, zur Tür hinauskommen und sich in der Menge verlieren könnte? Ob Feuer im Gefängnis ausbrechen würde, so lange er hier läge?
Diese bunt sich ihm aufdrängenden Einfälle waren nichts anderes als der Rahmen eines Bildes, in dem drei Gestalten vor ihm standen. Sein Vater, mit dem starren Blick bei seinem Tode, der prophetisch in dem Porträt hervortrat; seine Mutter, wie sie seinen Verdacht abwehrend den Arm emporhielt; und Klein-Dorrit, die die Hand auf den entehrten Arm legte und den gesenkten Kopf abwendete.
Wie, wenn seine Mutter einen alten Grund hatte, den sie wohl kannte, das Unglück dieses armen Kindes zu lindern! Wie, wenn der Gefangene, der jetzt ruhig schlief – wollt‘ es der Himmel! – beim Licht des jüngsten Tages seinen Fall auf sie wälzen würde! Wie, wenn irgendeine ihrer Handlungen oder sein Vater auch nur entfernt die grauen Häupter der beiden Brüder so tief gebeugt!
Ein Gedanke fuhr ihm blitzschnell durch den Sinn. Konnte seine Mutter nicht in der langen Gefangenschaft des Marschallgefängnisses und in ihrer eignen langen Beschränkung auf ihr Zimmer einen offensichtlichen Ausgleich finden? »Ich gebe zu, ich war Mitschuldige an dieses Mannes Gefangenschaft. Ich habe gewissermaßen dafür gelitten. Er ist in seinem Gefängnis abgestorben; ich in dem meinen. Ich habe die Strafe bezahlt.«
Als alle übrigen Gedanken in ihr Nichts sich aufgelöst, bemächtigte sich dieser seiner ganz und gar. Als er einschlief, erschien sie ihm in ihrem Rollstuhl und wehrte ihn durch diese Rechtfertigung ab. Als er erwachte und ohne Ursache erschrocken aufsprang, klangen diese Worte noch in seinen Ohren, als ob ihre Stimme an seinem Lager erklungen sei, um seine Ruhe zu stören: »Er siecht in seinem Gefängnis hin, ich in dem meinen; der unerbittlichen Gerechtigkeit ist ihr Recht geschehen; sollte die Rechnung hier noch nicht abgeschlossen sein?“