Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Meist Prunes und Prism.

Mrs. General, die beständig auf ihrem Kutschbock saß und die Anstandsgefühle tüchtig zusammenhielt, gab sich alle Mühe, ihrer inniggeliebten jungen Freundin eine Außenseite zu verleihen, und Mrs. Generals inniggeliebte Freundin gab sich alle Mühe, sie anzunehmen. So große Mühe sie sich in der arbeitsvollen Zeit ihres Lebens gegeben hatte, viel zu erreichen, größere Mühe hatte sie sich doch nie gegeben als eben jetzt, wo sie sich von Mrs. General firnissen lassen sollte. Es war ihr freilich übel zumute, wenn sie von dieser glättenden Hand an sich herumarbeiten lassen mußte: aber sie ergab sich in die Anforderungen der Familie in ihrer Größe, wie sie sich in die Anforderungen der Familie in ihrer Niedrigkeit gefügt, und achtete dabei auf ihre eigne Neigung so wenig als auf ihren Hunger in jenen Tagen, da sie ihr Mittagessen sich vom Munde abgespart, damit ihr Vater etwas am Abend habe.

Ein Trost, der ihr während dieser strengen Feuerprobe blieb, machte sie stärker und dankbarer, als es einem weniger hingebenden und liebevollen Wesen, das nicht an ihre Kämpfe und Opfer gewöhnt war, billig scheinen mochte: und man kann es wirklich oft im Leben beobachten, daß Gemüter, wie Klein-Dorrit, nicht halb so ängstlich auf Gründe achten wie die Leute, die sie benutzen. Die fortgesetzte Freundlichkeit ihrer Schwester war dieser Trost für Klein-Dorrit. Es war ihr gleichgültig, daß diese Freundlichkeit die Form nachsichtiger Gönnerschaft annahm: sie war daran gewöhnt. Es war ihr gleichgültig, daß sie dadurch in eine untergeordnete Stellung kam und hinter den glänzenden Wagen trat, in dem Miß Fanny auf einem erhabenen Sitze saß und Huldigung erwartete; sie suchte keinen bessern Platz. Fannys Schönheit und Anmut und Geistesgegenwart stets bewundernd, und sich nicht fragend, wieviel von ihrer Neigung, sich Fanny anhänglich zu erweisen, wirklich aus ihrem Herzen kam, und wieviel Fanny daran teilhatte, weihte sie ihr alle schwesterliche Liebe, deren ihr großes Herz fähig war.

Die großartige Einfuhr von Prunes und Prism in das Familienleben, die Mrs. General besorgte, verbunden mit Miß Fannys fortdauerndem Verkehr mit der Gesellschaft, ließen nur noch einen ganz geringen Rest von natürlichem Niederschlag am Boden der Mixtur zurück. Dies machte vertrauliche Gespräche mit Fanny doppelt wertvoll für Klein-Dorrit, und erhöhte den Genuß, den sie ihr brachten.

»Amy«, sagte Fanny zu ihr, als sie am Abend eines Tages sich allein befanden, der so ermüdend gewesen, daß Klein-Dorrit ganz erschöpft war, indes Fanny mit dem größten Vergnügen von der Welt noch einmal in Gesellschaft gegangen wäre, »ich will dir mal etwas in deinen kleinen Kopf zu bringen suchen. Du wirst wohl nicht ahnen, was es ist.«

»Ich glaube allerdings nicht, meine Liebe«, sagte Klein-Dorrit.

»Nun, ich will dir einen Leitfaden an die Hand geben,« sagte Fanny. »Mrs. General.«

Da Prunes und Prism in tausend Kombinationen den ganzen Tag bis zur Ermüdung die Tagesordnung gebildet – da alles Außenseite und Firnis und Schaugepränge ohne innern Gehalt war – so sah Klein-Dorrit aus, als wenn sie gehofft, Mrs. General sei für einige Stunden glücklich in ihrem Bett begraben.

»Ahnst du jetzt, Amy?« sagte Fanny.

»Nein, meine Liebe. Wenn ich nicht gar etwas getan habe«, sagte Klein-Dorrit, ziemlich ängstlich besorgt, indem sie damit auf einen Sprung im Firnis und eine Falte in der glatten Außenseite zielte.

Fanny amüsierte diese Besorgnis so sehr, daß sie ihren Lieblingsfächer nahm (sie saß nämlich an ihrem Ankleidetisch mit dem Arsenal von grausamen Instrumenten um sich, die meistens vom Herzblut Sparklers dampften) und ihre Schwester häufig damit auf die Nase tupfte, wobei sie beständig lachte.

»O Amy, Amy!« sagte Fanny. »Was für ein schüchternes Gänschen unsre Amy ist! Aber dabei ist nichts zu lachen. Im Gegenteil, ich bin sehr ärgerlich, meine Liebe.«

»Wenn nicht über mich, Fanny, so ist es mir gleichgültig«, versetzte ihre Schwester lächelnd. »Ah! aber mir ist es nicht gleichgültig«, sagte Fanny, »und dir ebensowenig, wenn ich dir’s sage. Amy, ist es dir nie aufgefallen, daß jemand außerordentlich höflich gegen Mrs. General ist?«

»Jedermann ist höflich gegen Mrs. General«, sagte Klein-Dorrit. »Weil –«

»Weil die Leute bei ihr vor Kälte höflich werden?« unterbrach sie Fanny. »Ich meine das nicht; ganz anderes. Sieh! Ist es dir nie aufgefallen, Amy, daß Papa außerordentlich höflich gegen Mrs. General ist?«

Amy murmelte »nein« und war sehr bestürzt.

»Nicht, wirklich nicht. Aber er ist es«, sagte Fanny, »er ist es, Amy. Und erinnere dich meines Worts, Mrs. General hat Absichten auf Papa.«

»Liebe Fanny, hältst du es für möglich, daß Mrs. General auf irgend jemanden Absichten hat?«

»Ob ich es für möglich halte?« warf Fanny ein. »Meine Liebe, ich weiß es. Ich sage dir, sie hat Absichten auf Papa. Und mehr als das, ich sage dir, Papa hält sie für solch ein Wunder, für solch ein Muster von vollendeter Bildung und solch einen Gewinn für unsre Familie, daß er jeden Augenblick bereit ist, sich ganz von ihr verblenden zu lassen. Und das bietet uns eine hübsche Aussicht für die Zukunft. Denk dir mich mit Mrs. General als Mama!«

Klein-Dorrit antwortete nicht: »Denke dir mal mich mit Mrs. General als Mama«, sondern sah ängstlich drein und fragte ernstlich danach, was Fanny auf diese Vermutung gebracht.

»Na, na, mein Liebling«, sagte Fanny schnippisch. »Du könntest mich ebensogut fragen, wie ich wisse, daß ein Mann in mich verliebt ist: Aber ich weiß es ganz natürlich. Es geschieht ziemlich oft, aber ich weiß es immer. Ich weiß es diesmal vermutlich ziemlich auf die gleiche Weise. Jedenfalls weiß ich es.«

»Du hörtest doch Papa nie etwas sagen?«

»Etwas sagen?« wiederholte Fanny. »Mein allerliebster kleiner Engel, was nötigte ihn bis jetzt, etwas zu sagen?«

»Und du hörtest nie Mrs. General etwas sagen?«

»Ei du meine Güte, Amy«, versetzte Fanny, »ist sie die Frau dazu, etwas zu sagen? Ist es denn nicht vollkommen klar und deutlich, daß sie für den Augenblick nichts zu tun hat, als sich aufrecht zu halten, ihre verwünschten Handschuhe anzubehalten und die Schleppe weit hinausfliegen zu lassen? Etwas sagen! Wenn sie den besten Trumpf im Whist in Händen hätte, sie würde nichts sagen. Es würde erst herauskommen, wenn sie ihn ausspielte.«

»Du kannst dich täuschen, Fanny. Oder meinst du nicht?«

»O ja, es ist möglich«, sagte Fanny, »aber ich irre mich diesmal nicht. Indessen freue ich mich doch, daß du dir solch eine Hintertür denken kannst, mein liebes Kind, und freue mich, daß du die Sache vorderhand hinlänglich kaltblütig aufzunehmen imstande bist, um dir einen solchen Fall möglich zu denken. Es läßt mich hoffen, daß du auch imstande sein werdest, diese Verbindung ruhig hinzunehmen. Mir wäre das nicht möglich, und ich würde es auch gar nicht versuchen, mich daran zu gewöhnen. Ich würde lieber den jungen Sparkler heiraten.«

»Oh, du würdest ihn sicher unter keinen Umständen heiraten.«

»Auf mein Wort, meine Liebe«, entgegnete das junge Mädchen mit der größten Gleichgültigkeit, »ich könnte wirklich nicht mit Bestimmtheit dafür einstehen. Niemand weiß, was geschehen könnte. Namentlich, da mir dadurch später mancherlei Gelegenheit geboten wäre, jenes Weib, seine Mutter, in ihrem eignen Stil zu behandeln. Und ich würde sicherlich nicht lange anstehen, das zu tun, Amy.«

Es kam diesmal nicht weiter zur Verhandlung zwischen den beiden Schwestern; aber was vorgekommen, rückte die beiden Fragen über Mrs. General und Mr. Sparkler in den Vordergrund von Klein-Dorrits Gemüt, und sie dachte fortan sehr viel an beide.

Da Mrs. General schon längst ihre eigne Außenseite vollkommen ausgebildet hatte, daß man, was darunter war, nicht entdecken konnte (wenn je etwas drunter war), so war in dieser Richtung keine Beobachtung zu machen. Mr. Dorrit war unleugbar sehr höflich gegen sie und hatte eine sehr hohe Meinung von ihr: aber Fanny, ungestüm in den meisten Fällen, konnte sich trotzdem sehr irren. Die Sparklersche Frage dagegen stand ganz anders, da jedermann sehen konnte, was vorging, und Klein-Dorrit sah es und dachte darüber nach, indem ihr mancherlei Zweifel und Fragen dabei aufstiegen.

Die Hingebung von Mr. Sparkler war nur mit der Launenhaftigkeit und Grausamkeit derjenigen zu vergleichen, die ihn zu ihrem Sklaven gemacht. Bisweilen zeichnete sie ihn so auffallend aus, daß er vor lauter Freude kicherte; am nächsten Tage oder in der nächsten Stunde beachtete sie ihn mit keinem Blick und schleuderte ihn in einen solchen Abgrund von Vergessenheit, daß er unter dem ärmlichen Vorwand, er habe Husten, ächzte. Die Ausdauer seiner Aufmerksamkeit rührte Fanny durchaus nicht! obschon er so unzertrennlich von Edward war, daß, wenn dieser sich endlich mal nach einer andern Gesellschaft sehnte, er zu dem unangenehmen Ausweg genötigt war, wie ein Verschwörer sich in verdeckten Booten und durch geheime Türen und Hinterpförtchen auf und davon zu machen: obschon er ferner so unermüdlich in der Nachfrage nach Mr. Dorrits Befinden war, daß er jeden andern Tag vorsprach, um sich zu erkundigen, als wenn Mr. Dorrit die Beute eines Wechselfiebers wäre: obschon er sich ferner so beständig vor den Hauptfenstern auf und ab rudern ließ, daß man hätte vermuten können, er habe eine Wette um einen bedeutenden Einsatz gemacht, sich in tausend Stunden tausend Meilen rudern zu lassen; obschon endlich, sobald die Gondel seiner Herrin das Tor verließ, die Gondel von Mr. Sparkler aus irgendeinem Wasserversteck hervorschoß und Jagd auf sie machte, als wenn sie eine hübsche Schmugglerin und er ein Zollbeamter wäre. Vielleicht war es dieser Kräftigung seiner von Natur starken Konstitution durch die häufige Bewegung in der freien Luft und den Einflüssen des Salzwassers zuzuschreiben, daß Mr. Sparkler äußerlich nicht abfiel: was jedoch auch die Ursache sein mochte, er hatte so wenig Hoffnung, seine Herrin durch einen traurigen Zustand seiner Gesundheit zu rühren, daß er jeden Tag dicker wurde, und diese Eigentümlichkeit in seiner Erscheinung, durch die er mehr wie ein geschwollener Junge als wie ein junger Mann aussah, entwickelte sich in außerordentlichem Grad zu rotbäckiger Fettsucht aus.

Als Blandois vorsprach, um einen Besuch zu machen, empfing ihn Mr. Dorrit mit Zuvorkommenheit als den Freund von Mr. Gowan und erwähnte gegen ihn seine Idee, Mr. Gowan zu beauftragen, ihn auf die Nachwelt zu bringen. Da Blandois sie bis in die Wolken erhob, fiel es Mr. Dorrit ein, daß es Blandois vielleicht angenehm wäre, die große Gelegenheit, die seiner wartete, sein Talent zu entfalten, ihm mitzuteilen. Blandois nahm den Auftrag in seiner eigentümlich leichten und eleganten Weise an und schwur, er werde sich seiner entledigen, ehe er eine Stunde älter sei. Als er Gowan die Nachricht brachte, wünschte dieser Meister mit großer Freigebigkeit ein volles dutzendmal Mr. Dorrit zum Teufel (denn er ärgerte sich über Gönnerschaft fast ebensosehr, als er sich über den Mangel an Gönnerschaft ärgerte) und hatte gute Lust, sich mit seinem Freunde zu zanken, daß er ihm diese Botschaft gebracht.

»Es mag eine Schwäche meines Kopfes sein, Blandois«, sagte er, »aber ich will gleich sterben, wenn ich einsehe, was Sie damit zu tun haben.«

»Tod und Teufel«, versetzte Blandois, »auch ich weiß es nicht; nur glaubte ich, meinem Freunde einen Dienst damit zu erweisen.«

»Indem Sie ihm das Mietgeld eines Emporkömmlings in die Tasche schoben?« sagte Gowan und zog die Stirn zusammen. »Meinen Sie das? Sagen Sie Ihrem Freunde, er solle seinen Kopf für das Schild eines Wirtshauses malen lassen, und zwar durch einen Schildermaler. Wer bin ich und wer ist er?«

»Professore«, versetzte der Abgesandte, »wer ist Blandois?«

Ohne sich, wie es schien, für die letztere Frage im mindesten zu interessieren, pfiff sich Gowan ärgerlich Mr. Dorrit aus dem Sinn. Am folgenden Tage nahm er die Sache jedoch wieder auf, indem er in seiner ungezwungenen Weise und mit einem den Gegenstand des Gesprächs herabsetzenden Lächeln sagte: »Nun, Blandois, wann wollen wir zu Ihrem Mäzen gehen? Wir Handwerker müssen Aufträge annehmen, wo wir welche bekommen können. Wann wollen wir gehen und uns diesen Auftrag ansehen?«

»Wann Sie wollen«, sagte der gekränkte Blandois, »wie es Ihnen gefällig. Was habe ich damit zu tun? Was geht es mich an?«

»Ich kann Ihnen sagen, was es mich angeht«, sagte Gowan. »Das gibt Brot und Käse. Man muß gegessen haben! So kommen Sie denn, mein Bandois.« Mr. Dorrit empfing sie in Gegenwart seiner Töchter und Mr. Sparklers, der durch einen überraschenden Zufall gerade eben auch seinen Besuch machte. »Wie geht es Ihnen, Sparkler?« sagte Gowan flüchtig. »Wenn Sie mal von Ihrem Mutterwitz leben müssen, alter Junge, so hoffe ich, wird es Ihnen besser gehen als mir.«

Mr. Dorrit erwähnte sodann seinen Vorschlag. »Sir«, sagte Gowan lachend, nachdem er denselben sehr nachsichtig aufgenommen, »ich bin neu im Handwerk und nicht erfahren in seinen Geheimnissen. Ich glaube, ich sollte Sie in verschiedenem Lichte betrachten, Ihnen sagen, daß Sie ein vortrefflicher Vorwurf seien, und dann erwähnen, wann ich hinreichend Muße haben werde, um mich mit der nötigen Begeisterung dem schönen Bild zu widmen, das ich von Ihnen zu machen gedenke. Ich gebe Ihnen die Versicherung«, fuhr er fort und lachte wieder, »mir ist ganz zumute, als wäre ich ein Verräter im Lager dieser lieben, begabten, guten edlen Jungen, meiner Kunstkollegen, weil ich den Hokuspokus nicht besser mache. Aber ich bin nicht dazu erzogen, und jetzt ist es zu spät, es zu lernen. Nun steht die Sache so, ich bin ein sehr schlechter Maler, aber nicht viel schlechter, als alle im allgemeinen sind. Wenn Sie Lust haben, hundert Guineen ungefähr wegzuwerfen, so bin ich so arm, wie ein armer Verwandter von vornehmen Leuten gewöhnlich zu sein pflegt, und ich werde Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie sie an mich wegschleudern wollen. Ich werde mein Bestes für das Geld zu leisten suchen; und wenn dies Beste schlecht sein sollte, so haben Sie wahrscheinlich ein schlechtes Bild mit einem kleinen Namen dazu, statt eines schlechten Bildes mit einem großen Namen.«

Dieser Ton, obgleich nicht das, was man erwartet, gefiel Mr. Dorrit im ganzen merkwürdig gut. Er zeigte, daß der Künstler, der von hoher Verwandtschaft und kein bloßer Arbeiter, sich ihm verpflichtet fühlen würde. Er drückte seine Befriedigung darüber aus, indem er sich in Mr. Gowans Hände gab, und sprach die Erwartung aus, daß sie wohl auch das Vergnügen haben würden, sich in ihrer Eigenschaft als Privatleute näher kennenzulernen.

»Sie sind sehr gütig«, sagte Gowan. »Ich habe die Gesellschaft nicht verschworen, als ich mich der Zunft vom Pinsel anschloß (die angenehmsten Jungen von der Welt), und ich bin ganz froh, wenn ich dann und wann das alte feine Schießpulver riechen kann, wenn es mich auch in die Luft hinauf und in meinen gegenwärtigen Beruf hineinschleuderte. Sie werden nicht glauben, Mr. Dorrit«, und dabei lachte er wieder in der leichtfertigsten Weise, »daß ich in diese Freimauerei der Zunft hineinkomme – denn das ist nicht der Fall; meiner Treu, ich kann nicht umhin, sie auf Schritt und Tritt zu verraten, obgleich ich, beim Jupiter, die Zunft mit all meiner Macht liebe und ehre –, wenn ich eine Bedingung bezüglich des Orts und der Zeit mache.«

Ha! Mr. Dorrit konnte wirklich – hm – keinen Verdacht der Art bei Mr. Gowans Offenheit schöpfen. »Ich muß es wiederholen. Sie sind sehr gütig«, sagte Gowan. »Mr. Dorrit, ich höre, Sie gehen nach Rom. Ich gehe gleichfalls nach Rom, wo ich Freunde habe. Lassen Sie mich die Ungerechtigkeit, die ich Ihnen anzutun geschworen habe, dort beginnen – nicht hier. Wir werden während des Restes unseres Hierseins alle sehr viel zu tun haben; und obschon es in Venedig keinen ärmern Menschen mit heilen Ellbogen gibt als mich, habe ich doch noch nicht so ganz den Kunstfreund abgelegt – verrate die Zunft schon wieder, wie Sie sehen – und kann mich nicht so in der Eile an die Arbeit machen, bloß um des Tagelohns willen.«

Diese Bemerkungen wurden nicht weniger günstig von Mr. Dorrit aufgenommen als die früheren. Sie waren das Vorspiel des ersten Empfangs von Mr. und Mrs. Gowan bei einem Mittagessen, und sie stellten Gowan geschickt in der Familie auf den Boden, den er gewöhnlich einnahm.

Auch seine Frau stellten sie auf den Boden, den sie gewöhnlich einnahm. Miß Fanny wurde mit besonderer Deutlichkeit zu verstehen gegeben, daß Mrs. Gowans Schönheit ihrem Manne sehr teuer zu stehen gekommen, daß es ihretwegen eine große Störung in der Familie Barnacle gegeben, und daß die verwitwete Mrs. Gowan fast mit gebrochenem Herzen sich entschlossen der Heirat widersetzt, bis sie von ihren mütterlichen Gefühlen überwältigt worden. Mrs. General bekam in gleicher Weise deutlich zu hören, daß diese Neigung viel Kummer und Zwietracht in der Familie hervorgerufen. Von dem wackern Mr. Meagles wurde kein Wort erwähnt; nur, daß es für einen derartigen Menschen ganz natürlich sei, wenn er wünsche, seine Tochter aus seiner eignen dunklen Stellung emporzuheben, und daß ihn niemand tadeln könnte, wenn er in dieser Hinsicht sein Bestes täte.

Klein-Dorrits Interesse an dem schönen Gegenstande dieses nur gar zu leicht angenommenen Glaubens war zu ernst und aufmerksam, um der genauen Beobachtung zu ermangeln. Sie konnte sehen, daß dieser seinen Teil daran hatte, wenn auf Mrs. Gowan auch nur ein flüchtiger Schatten fiel, unter dem sie lebte, und sie hatte sogar ein instinktmäßiges Wissen davon, daß durchaus nicht das geringste Wahre daran war. Aber er hatte den Einfluß, daß er ihrem Verkehr mit Mrs. Gowan Hindernisse in den Weg legte, indem er die Schule der Prunes und Prism veranlaßte, sehr höflich, aber nicht sehr vertraulich mit ihr zu sein; und Klein-Dorrit, als gezwungener Famulus dieses Kollegiums, mußte sich demütig seinen Anordnungen unterwerfen.

Nichtsdestoweniger hatte sich bereits ein sympathisches Einverständnis zwischen beiden hergestellt, das ihnen selbst über größere Schwierigkeiten hinweggeholfen haben würde und auch aus einem beschränkteren Verkehr eine Freundschaft entwickelt hätte. Wie wenn der Zufall entschlossen gewesen, dieser günstig zu sein, fanden sie eine neue Bestätigung ihrer Geistesverwandtschaft in der Abneigung, die jedes von beiden das andere gegen Blandois von Paris hegen sah: eine Abneigung, die den Grad des Widerwillens und des Schauers einer natürlichen Antipathie gegen ein häßliches Geschöpf ans der Klasse der Reptilien erreichte.

Und außer dieser aktiven Geistesverwandtschaft gab es auch noch eine passive zwischen ihnen. Gegen beide benahm sich Blandois in derselben Weise; und gegen beide hatte sein Benehmen ohne Ausnahme etwas an sich, wovon beide wußten, daß es von seinem Benehmen gegen andere abweiche. Der Unterschied war zu unmerklich in seinem Ausdruck, daß die andern es hätten bemerken können. Ein bloßes Zucken seiner falschen Augen, eine flüchtige Bewegung seiner weichen weißen Hand, ein bloßes Haarbreit mehr beim Senken seiner Nase und dem Emporziehen seines Schnurrbarts bei der am häufigsten vorkommenden Bewegung seines Gesichts zeigte beiden gleicherweise, daß sein Großtun ihnen galt.

Dies hatten sie beide nie in solchem Grade gefühlt, und nie von jeder einzelnen in Beziehung auf die andre, als eines Tages, da er zu Mr. Dorrit kam, um von ihm Abschied zu nehmen, ehe er Venedig verlasse. Mrs. Gowan war in gleicher Absicht anwesend, und er fand diese beiden allein, da die übrige Familie ausgegangen war. Die beiden Freundinnen waren noch nicht fünf Minuten beisammen, und sein eigentümliches Benehmen schien ihnen zu sagen: »Sie wollten über mich sprechen. Ha! Sehen Sie, ich bin da, es zu verhindern!«

»Gowan kommt auch?« sagte Blandois mit seinem Lächeln.

Mrs. Gowan sagte: nein.

»Nicht!« sagte Blandois. »Erlauben Sie Ihrem ergebenen Diener, wenn Sie weggehen. Sie nach Hause zu begleiten?«

»Danke: ich gehe nicht nach Hause.«

»Nicht nach Hause!« sagte Blandois. »Dann bin ich verloren.«

Das mochte er sein: aber er war nicht so unklug, daß er weggegangen und sie allein gelassen hätte. Er blieb sitzen und unterhielt sie mit seinen feinsten Komplimenten und seinen gewähltesten Redensarten. Aber die ganze Zeit ließ er sie merken: »Nein, nein, nein, liebe Dame. Sehen Sie, ich bin ausdrücklich in der Absicht hier, es zu verhindern!«

Er ließ sie dies mit so vielen Hintergedanken merken, und er besaß eine so teuflische Ausdauer, daß Mrs. Gowan endlich aufstand, um sich zu entfernen. Als er Mrs. Gowan die Hand bot, um sie die Treppe hinabzuführen, behielt sie Klein-Dorrits Hand mit einem vorsichtigen Druck in der ihren und sagte: »Nein, ich danke. Wenn Sie jedoch die Güte haben wollen, zu sehen, ob mein Gondelier da ist, so werde ich Ihnen sehr verbunden sein.«

Es blieb ihm keine Wahl, als vor ihnen hinabzugehen. Als er dies mit dem Hut in der Hand tat, flüsterte Mrs. Gowan:

»Er hat den Hund umgebracht.«

»Weiß das Mr. Gowan?« flüsterte Klein-Dorrit.

»Niemand weiß es. Sehen Sie mich nicht an, blicken Sie nach ihm hin. Er wird sich augenblicklich umdrehen. Niemand weiß es, aber ich bin überzeugt, daß er es getan. Sie nicht auch?« »Ich – ich glaube ja«, antwortete Klein-Dorrit.

»Henry hat ihn lieb und will nichts Böses von ihm denken. Er ist selbst so edel und offenherzig. Aber wir beide fühlen wohl, daß wir von ihm denken, wie er es verdient. Er redete Henry ein, der Hund sei schon vergiftet gewesen, als er sich plötzlich so verändert und auf ihn losgesprungen. Henry glaubt es, aber wir nicht. Ich sehe, er lauscht, aber er kann nicht hören. Leben Sie wohl, meine Liebe! Leben Sie wohl!«

Die letzten Worte wurden ausgesprochen, als der wachsame Blandois stehenblieb, den Kopf umwandte und vom Fuße der Treppe zu ihnen emporschaute. Er sah wahrhaftig in diesem Augenblick, obgleich er seine höfliche Miene annahm, gerade aus, wie wenn jeder echte Menschenfreund nichts Besseres zu tun hätte, als ihm einen großen Stein an den Hals zu hängen und ihn in das Wasser zu werfen, das unter dem dunklen gewölbten Torweg floß, in dem er stand. Da kein solcher Wohltäter der Menschheit im Augenblick zur Hand war, half er Mrs. Gowan in das Boot und blieb stehen, bis es aus dem engen Gesichtskreis verschwunden war: dann stieg er in sein eigenes Boot und folgte.

Klein-Dorrit stieß bisweilen der Gedanke auf, und dies war in diesem Augenblick, da sie die Treppe hinaufging, wieder der Fall, daß er zu rasch seinen Weg in ihres Vaters Haus gefunden. Aber so manche und so verschiedene Leute taten dasselbe, da Mr. Dorrit an der gleichen Gesellschaftssucht litt wie seine älteste Tochter, so daß es kaum ein Ausnahmefall genannt werden konnte. Eine wahre Wut, Bekanntschaften zu machen, denen er seinen Reichtum und seine Wichtigkeit zum Bewußtsein führen konnte, hatte das Haus Dorrit ergriffen.

Es kam Klein-Dorrit im ganzen vor, als wenn diese Gesellschaft, in der sie jetzt lebten, große Ähnlichkeit mit einer vornehmeren Art von Marschallgefängnis hätte. Eine Masse von Menschen schien aus denselben Gründen ins Ausland zu gehen, wie andre ins Gefängnis: wegen Schulden oder aus Trägheit, verwandtschaftshalber, aus Neugier und allgemeiner Unfähigkeit, zu Hause fortzukommen. Sie kamen in diese fremden Städte unter der Obhut eines Kuriers und Lohnbedienten, gerade wie man die Schuldner in das Gefängnis brachte. Sie schlenderten in den Kirchen und Gemäldegalerien gerade so traurig wie auf dem Gefängnishofe umher. Sie waren gewöhnlich im Begriff, morgen oder die nächste Woche wegzugehen, und wußten selten, was sie eigentlich wollten, und taten selten, was sie tun wollten: in allem ganz wie die Schuldner im Gefängnis. Sie bezahlten teuer für schlechte Bequemlichkeit und verschrien einen Ort, während sie vorgaben, daß er ihnen gefalle; ganz wie im Marschallgefängnis. Sie wurden, wenn sie fortgingen, von Leuten beneidet, die zurückblieben und taten, als ob ihnen am Weggehen nichts gelegen wäre: und das war abermals die unveränderliche Gewohnheit im Marschallgefängnis. Eine gewisse Masse von Worten und Phrasen, die dem Touristen so eigentümlich, als das Kollegium und die Snuggery dem Gefängnis, war beständig in ihrem Munde. Sie hatten genau dieselbe Unfähigkeit, etwas Bestimmtes zu treiben, wie die Gefangenen; sie verdarben sich, wie die Gefangenen, gegenseitig und trugen unpassende Kleider und verfielen einem schlaffen Leben: ganz wie die Leute im Marschallgefängnis.

Die Zeit des Aufenthalts der Familie in Venedig nahte ihrem Ende, und sie begaben sich mit ihrem Gefolge nach Nom. Durch eine zweite Reihe der früheren italienischen Szenen, die immer schmutziger und häßlicher wurden, je weiter sie kamen, und sie endlich in Gegenden führte, wo selbst die Luft verdorben und krank ist, gelangten sie an den Art ihrer Bestimmung. Es war eine schöne Wohnung für sie auf dem Korso gemietet worden, und dort schlugen sie ihren Sitz auf: in einer Stadt, wo alles still zu sein schien, für immer auf den Trümmern von etwas bemüht zu stehen – mit Ausnahme des Wassers, das ewigen Gesetzen treu aus der Masse von herrlichen Springbrunnen herabplätscherte und fortrauschte.

Hier war es Klein-Dorrit, als wenn eine Veränderung mit dem Marshallseageist ihrer Gesellschaft vorgegangen wäre und Prunes und Prism die Oberhand gewönnen. Jedermann ging in der Peterskirche und im Vatikan auf den Korkbeinen andrer Leute umher und preßte jeden sichtbaren Gegenstand durch andrer Leute Sieb. Niemand sagte, was etwas war, sondern jedermann sagte, was Mrs. General, Mr. Eustace oder sonst jemand darüber gesagt. Die ganze Masse der Reisenden schien eine Sammlung freiwilliger Menschenopfer zu sein, die, gebunden an Händen und Füßen, Mr. Eustace und seinen Helfershelfern überliefert wurden, damit er ihnen die Eingeweide ihres Verstandes nach dem Geschmack jener geheiligten Priesterschaft zurechtlege. Durch die verwitterten Reste von Tempeln und Grabdenkmälern und Palästen und Senatshallen und Theatern und Amphitheatern des Altertums suchten Scharen moderner Menschen mit gefesselten Zungen und verbundenen Augen ängstlich ihren Weg, beständig die Worte Prunes und Prism wiederholend und bestrebt, ihre Lippen in die angenommene Form zu bringen. Mrs. General war ganz in ihrem Element. Niemand hatte eine Meinung. In erstaunlichem Grade macht in ihrer Umgebung die Bildung der Außenseite Fortschritte, und nicht die leiseste Spur von Mut und offener freier Sprache war zu entdecken.

Eine andere Modifikation von Prunes und Prism drang sich Klein-Dorrits Beobachtung ganz kurz nach ihrer Ankunft auf. Sie bekamen sehr bald einen Besuch von Mrs. Merdle, die diesen Winter in der ewigen Stadt jenes ausgedehnte Departement des Lebens besorgte, und die geschickte Art, wie sie und Fanny miteinander bei dieser Gelegenheit fochten, ließ ihre ruhige Schwester, wie beim Blitzen von Degen, mit den Augen blinzeln.

»Ich bin entzückt«, sagte Mrs. Merdle, »eine Bekanntschaft wieder aufzunehmen, die unter so günstigen Auspizien zu Martigny angeknüpft worden.«

»In Martigny, ja, ja«, sagte Fanny. »Ebenfalls ganz entzückt.«

»Ich erfahre von meinem Sohne Edmund«, sagte Mrs. Merdle, »daß er bereits diese zufällige Gelegenheit sich zunutze gemacht. Er ist ganz bezaubert von Venedig zurückgekommen.«

»Wirklich«, versetzte Fanny gleichgültig. »War er lange dort?«

»Ich möchte Sie mit dieser Frage an Ihren Herrn Vater verweisen«, sagte Mrs. Merdle, indem sie ihren Busen diesem zuwandte, »da Edmund ihm zu großem Dank verpflichtet ist, daß er ihm seinen Aufenthalt so ungemein angenehm gemacht hat.«

»O bitte, sprechen Sie nicht davon«, versetzte Fanny. »Ich glaube, Papa hatte das Vergnügen, Mr. Sparkler zwei- bis dreimal einzuladen, – aber das war ja nichts. Wir hatten so viele Leute bei uns und hielten so offenes Haus, daß, wenn er dies Vergnügen hatte, es weniger als nichts war.«

»Ausgenommen, meine Liebe«, sagte Mr. Dorrit, »ausgenommen – ha –, daß es mir ungewöhnliche Befriedigung gewährte, auf –-hm – jede Weise an den Tag zu legen, so unbedeutend und schwach dies auch geschehen mochte –, welch – ha, hm – hohe Achtung ich – ha – gemeinschaftlich mit der übrigen Welt für einen so ausgezeichneten und fürstlichen Charakter wie Mr. Merdle hege.«

Der Busen empfing diesen Tribut in seiner gewinnendsten Weise. »Mr. Merdle«, bemerkte Fanny, als ein Mittel, Mr. Sparkler in den Hintergrund treten zu lassen, »ist, wie Sie wissen müssen, ein Lieblingsthema von Papa, Mrs. Merdle.«

»Ich bin bitter enttäuscht worden, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »als ich von Mr. Sparkler erfahren mußte, daß keine große Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, Mr. Merdle werde hierherkommen.«

»Er ist allerdings so sehr beschäftigt«, sagte Mrs. Merdle, »und in Anspruch genommen, daß ich es gleichfalls fürchten muß. Er ist seit Jahren nicht imstande gewesen, eine Reise zu machen. Sie, Miß Dorrit, sind, glaube ich, seit langer Zeit fortwährend im Auslande.«

»O ja«, sagte Fanny mit der größten Keckheit. »Eine ungeheure Zahl von Jahren.«

»Das hätte ich annehmen sollen.«

»Ganz recht«, sagte Fanny.

»Ich hoffe indes«, fuhr Mr. Dorrit fort, »daß, wenn ich nicht den großen Vorteil genieße, mit Mr. Merdle diesseits der Alpen oder des Mittelmeers bekannt zu werden, ich dieser Ehre mich bei meiner Rückkehr nach England erfreuen werde. Es ist eine Ehre, die ich besonders erwünsche und hoch anschlagen werde.«

»Mr. Merdle«, sagte Mrs. Merdle, die Fanny bewundernd durch ihr Augenglas angesehen, »wird es sich gewiß nicht minder zur Ehre schätzen.«

Vornehmer Besuch bei dem vornehm gewordenen Mr. Dorrit.

Klein-Dorrit, die noch immer nachdenklich und einsam, wenn auch nicht mehr allein war, glaubte anfangs, dies sei lauter ›Prunes‹ und ›Prism‹. Als ihr Vater jedoch, nachdem sie einem glänzenden Empfang bei Mrs. Merdle beigewohnt, an ihrem eignen Frühstückstisch wieder seinen Wunsch herableierte, Mr. Merdle kennenzulernen, und die Hoffnung damit verband, durch den Rat dieses Wundermanns bei der Anlegung seines Vermögens zu profitieren, begann sie zu glauben, daß das wirklich etwas zu bedeuten habe, und nun auch ihrerseits eine gewisse Neugierde zu hegen, das strahlende Licht des Zeitalters zu sehen.

Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Die Witwe Mrs. Gowan wird daran erinnert, daß es nicht geht.

Während die Wasser von Venedig und die Ruinen von Rom sich zum Vergnügen der Familie Dorrit sonnten und täglich von unzähligen wandernden Pinseln außer aller irdischen Proportion, Zeichnung und Form skizziert wurden, hämmerte die Firma Doyce und Clennam im Bleeding Heart Yard ruhig fort, und das kräftige Klingen des Eisens auf Eisen konnte man dort durch alle Arbeitsstunden hindurch ununterbrochen hören.

Der junge Associé hatte indessen das Geschäft in gute Ordnung gebracht, und der ältere, der nun Zeit hatte, seinen sinnreichen Erfindungen nachzugehen, hatte viel getan, um den Ruf ihrer Manufaktur noch mehr zu heben. Als erfinderischer Mann hatte er natürlich alle Entmutigung zu erfahren, die die regierenden Mächte für lange Zeit auf alle mögliche Weise seiner Klasse von Verbrechern in den Weg zu legen imstande gewesen; aber das war nur die billige Selbstverteidigung der Mächte, da »Wie man’s machen müsse« begreiflich der natürliche Todfeind von »Wie man’s nicht machen müsse« sein mußte. Darin war die Basis des weisen, von dem Circumlocution Office mit aller Macht aufrecht gehaltenen Systems zu finden, jeden erfinderischen britischen Untertan zu warnen, auf sein Risiko hin erfinderisch zu sein; ihn zu quälen, ihn zu hindern, Diebe aufzufordern (indem man sein Mittel als ungewiß, schwierig und kostbar darstellte), ihn zu plündern, und im besten Fall, nachdem er sich kurz desselben erfreut, sein Eigentum zu konfiszieren, als wenn Erfindung mit Todesverbrechen auf einer Linie ständen.

Dies System hatte gleichförmig bei allen Barnacles große Anerkennung gesunden, und das war auch nur zu begreiflich; denn wer ein tüchtiger Erfinder ist, muß seine Sache recht ernst betreiben, und den Barnacles war nichts so sehr in der Seele zuwider als dies. Das war wiederum sehr begreiflich: denn in einem Lande, das unter der Last eines großen Ernstes seufzte, konnte in kürzester Zeit kein einziger Barnacle mehr an einem Posten kleben.

Daniel Doyce trug sein Los mit den daran hängenden Beschwerden und Kränkungen, ohne zu murren, und arbeitete ruhig fort um der Arbeit willen. Clennam, der ihn durch kräftige Mitarbeit munter hielt, war eine moralische Stütze für ihn, abgesehen davon, daß er ihm in geschäftlicher Beziehung große Dienste leistete. Das Geschäft ging gut, und die Associés waren die besten Freunde.

Daniel konnte das alte Projekt so vieler Jahre nicht vergessen. Es war begreiflich, auch nicht zu erwarten, daß er das vergessen sollte; hätte er es leicht vergessen können, so würde er es nie ausgedacht oder die Geduld und die Beharrlichkeit gehabt haben, es auszuarbeiten. So dachte Clennam, wenn er ihn bisweilen abends die Modelle und Zeichnungen betrachten und sich damit trösten sah, daß er, sie mit einem Seufzer wegstellend, vor sich hinmurmelte, die Sache bleibe so wahr, wie sie immer gewesen war.

Für soviel eifrige Ausdauer und soviel Enttäuschung keine Sympathie an den Tag zu legen, hieße das, was Clennam zu den stillschweigenden Verbindlichkeiten seines Geschäftsvertrages rechnete, versäumen. Eine Wiederauffrischung des Interesses an dem Gegenstand, das zufällig an der Tür des Circumlocution Office geweckt worden war, entsprang aus diesem Gefühl. Er bat seinen Associé, ihm die Erfindung zu erklären. »Sie müssen jedoch gefälligst darauf Rücksicht nehmen«, bedingte er, »daß ich kein Techniker bin, Doyce.«

»Kein Techniker?« sagte Doyce. »Sie würden ein sehr tüchtiger Techniker geworden sein, wenn Sie sich auf die Sache gelegt hätten. Sie besitzen einen so guten Kopf, solche Dinge zu begreifen, wie mir je einer vorgekommen.«

»Einen ganz unausgebildeten, muß ich leider hinzufügen«, sagte Clennam.

»Ich weiß das nicht«, versetzte Doyce, »und ich möchte nicht, daß Sie das sagen. Kein Mann von Verstand, der im allgemeinen ausgebildet wurde und sich selbst fortgebildet hat, kann zu irgend etwas unfähig genannt werden. Ich habe keine besondere Vorliebe für Geheimnisse. Ich möchte nach einer klaren und einfachen Auseinandersetzung ebensogern mich von der einen Klasse von Leuten wie von der andern beurteilen lassen, vorausgesetzt, sie haben die Eigenschaft, von der ich sprach.«

»Auf alle Fälle«, sagte Clennam, – »es klingt, als wenn wir Komplimente austauschten, und das wollen wir doch nicht – werde ich den Vorteil einer Erklärung haben, die so klar ist, wie sie überhaupt nur gegeben werden kann.«

»Nun!« sagte Daniel in seiner ruhigen und gelassenen Weise, »ich will es versuchen.«

Er hatte das Talent, das sich oft bei einem solchen Charakter findet, was er selbst ersonnen und gedacht, ebenso scharf und in die Augen springend darlegen zu können, wie es sich seinem eigenen Geiste aufgedrungen. Seine Art zu erklären war so geordnet, sauber und einfach, daß man ihn nicht leicht mißverstehen konnte. Es lag beinahe etwas Spaßhaftes in der vollständigen Unvereinbarkeit einer unbestimmten, übereinkunftsmäßigen Ansicht, daß er ein Seher sein müsse, mit dem sichern und witternden Hin- und Herwandern des Auges und Daumens auf dem Plane, ihrem geduldigen Stillhalten bei besondern Punkten, ihrem bedächtigen Zurückkehren zu andern Punkten, von wo kleine Kanäle der Erklärung ausfindig gemacht werden mußten, und der sorgfältigen Weise, alles gut und alles gründlich bei jedem wichtigen Punkte abzumachen, ehe er seinen Zuhörer um eine Linie breit weiterführte. Daß er sich selbst bei der Beschreibung ganz aus dem Spiel ließ, war kaum weniger bemerkenswert. Er sagte nie, er habe diese Anwendung entdeckt oder jene Verbindung erfunden, sondern zeigte die ganze Sache, als wenn der göttliche Erfinder sie gemacht und es ihm zufällig gelungen sei, sie zu finden. Er war unglaublich bescheiden in dieser Beziehung, es mischte sich die wohltuendste Verehrung in seine ruhige Bewunderung desselben, und dabei war er der unerschütterlichen Überzeugung, daß es auf unumstößlichen Gesetzen beruhe.

Nicht bloß diesen Abend, sondern noch mehrere folgende Abende unterhielt sich Clennam mit dieser Untersuchung aufs angenehmste. Je mehr er in sie eindrang und je öfter er das graue Haupt betrachtete, das darüber gebeugt war, und das scharfsinnige Auge, das vor Freude über sein Werk und vor Liebe zu demselben leuchtete – das Mittel, sein Herz zu prüfen, obgleich es vor zwölf langen Jahren gemacht war –, desto weniger konnte es seine jüngere Kraft über sich bringen, die Sache, ohne einen weitern Versuch zu machen, auf sich beruhen zu lassen. Endlich sagte er:

»Doyce, die Sache steht jetzt so, daß das Geschäft entweder mit, der Himmel weiß, wie vielen Wracks untergehen oder von neuem begonnen werden muß.«

»Ja«, versetzte Doyce, »das ist’s, wohin es die vornehmen Herren und Gentlemen nach zwölf Jahren gebracht haben.«

»Und schöne Jungen sind das!« sagte Clennam bitter.

»Gewöhnlich so!« bemerkte Doyce. »Ich brauche keinen Märtyrer aus mir zu machen, da ich so viele das gleiche Schicksal teilen sehe.«

»Wollen wir’s auf sich beruhen lassen oder von neuem beginnen?« beharrte Clennam.

»So steht die Frage«, sagte Doyce.

»Nun, mein Freund«, rief Clennam aufspringend und die rauhe Hand des Arbeiters ergreifend, »es soll von neuem begonnen werden!«

Doyce sah unruhig aus und antwortete hastig – soweit ihm das möglich war –: »Nein, nein. Lieber die Sache auf sich beruhen lassen. Weit besser, die Sache auf sich beruhen lassen. Man wird schon mal davon hören. Ich habe es auf sich beruhen lassen. Sie vergessen, mein guter Clennam, ich habe es bereits auf sich beruhen lassen, ’s ist aus damit.«

»Ja, Doyce«, entgegnete Clennam, »’s ist aus damit, soweit es Ihre Bemühungen und Zurückweisungen betrifft, das gebe ich zu, aber nicht, soweit es die meinen angeht. Ich bin jünger als Sie; ich habe nur ein einziges Mal den Fuß auf jenes kostbare Amt gesetzt und bin deshalb frisches Wild für sie. Ich will’s mit ihnen versuchen. Sie sollen nichts anderes tun, als was Sie getan, seitdem wir zusammen arbeiten. Ich will (und kann das leicht) etwas mehr tun als bisher und den Versuch machen. Ihnen zu Ihrem Recht gegenüber dem Staate zu verhelfen; und wenn ich nichts von Erfolg zu berichten habe, so sollen Sie nicht wieder davon hören.«

Daniel Doyce wollte noch immer seine Zustimmung nicht geben und kam stets wieder darauf zurück, daß es besser wäre, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber es war natürlich, daß er sich nach und nach von Clennam überreden ließ und nachgab. Er gab nach. Und Arthur nahm die lange und hoffnungslose Arbeit wieder auf, nämlich den Versuch zu machen, sich einen Weg durch das Circumlocution Office zu bahnen.

Die Vorzimmer dieses Departements waren bald an seine Anwesenheit gewöhnt, und gewöhnlich wurde er durch die Türsteher in dieselben hineingeführt wie ein Taschendieb in ein Polizeibureau; der Hauptunterschied war nur der, daß die Aufgabe des letztern öffentlichen Amtes die ist, den Taschendieb festzuhalten, während das Circumlocution Office sich bemühte, Clennam loszuwerden. Er war jedoch mal entschlossen, sich an das große Departement festzuhängen, und so begann das große Werk des Formularausfüllens, Korrespondierens, Protokollierens, Memorandummachens, Signierens, Kontrasignierens, Kontrakontrasignierens, Berichterstattens hin und her und Referierens seitwärts, kreuzweise und im Zickzack aufs neue.

Hier tritt nun eine Seite des Circumlocution Office hervor, die in gegenwärtiger Erzählung bisher noch nicht erwähnt ist. Wenn dieses bewundernswürdige Departement in Verlegenheit kam und durch ein wütendes Mitglied des Parlaments, das die jüngern Barnacles beinahe immer im Verdacht hatten, daß es vom Teufel besessen sei, nicht wegen eines einzelnen Falles angegriffen wurde, sondern als ein abscheuliches und bedlamitisches Institut, dann schlug und zerhieb der edle oder sehr ehrenwerte Barnacle, der es im Hause repräsentierte, den Gegner mit einem Nachweis der ungeheuren Masse von Geschäften, die das Circumlocution Office (zur Verhütung von Geschäften) zu besorgen habe. Dann hielt gewöhnlich der edle oder sehr ehrenwerte Barnacle in seiner Hand ein Papier mit einigen Zahlen, auf das er, mit Erlaubnis des Hauses, die Aufmerksamkeit desselben lenken wollte. Dann riefen die untergeordneten Barnacles infolge erhaltener Order: »Hört, hört, hört!« und »Lesen!« Dann ersah der edle oder sehr ehrenwerte Barnacle, Sir, aus diesem kleinen Dokument, das nach seiner Ansicht auch den widerspenstigsten Kopf überzeugen mußte (höhnisches Lachen und Beifallsjubel der Barnacles-Brut), daß innerhalb der kurzen Zeit der letzten halbjährigen Finanzperiode dieses vielgeschmähte Departement (Beifall) fünfzehntausend Briefe (lauter Beifall), vierundzwanzigtausend Protokolle (noch lauterer Beifall) und zweiunddreißigtausendfünfhundertundsiebenzehn Memoranda geschrieben und empfangen (lautester Beifall). Ja, ein sinnreicher Gentleman, der zu dem Departement in Beziehung stände und selbst ein würdiger Staatsdiener sei, habe ihm die Gewogenheit erzeigt, eine interessante Berechnung der während dieser Zeit verbrauchten Masse von Schreibmaterialien anzustellen. Die Berechnung bilde einen Teil dieses kurzen Dokuments, und er entnehme ihr das merkwürdige Faktum, daß die Bogen des Propatriapapiers, das es im Interesse des öffentlichen Dienstes verbraucht, das Trottoir zu beiden Seiten der Oxford Street von einem Ende zum andern pflastern könnte, wobei doch immer noch beinahe eine Viertelmeile für den Park übrigbliebe (ungeheurer Beifall und Gelächter): während es Schnüre – rote Schnüre – in solcher Masse gebraucht, daß man in schönem Gewinde den Weg von Hyde Park Corner bis zur General Post Office behängen könnte. Dann setzte sich unter einem Ausbruch von offiziellem Jauchzen der edle oder sehr ehrenwerte Barnacle nieder und ließ die verstümmelten Überreste des Mitglieds auf dem Schlachtfelde liegen. Niemand würde nach dieser exemplarischen Vernichtung des Genannten die Kühnheit gehabt haben, darauf hinzudeuten, daß, je mehr das Circumlocution Office tat, desto weniger getan war, und daß der größte Segen, den es dem unglücklichen Publikum bringen konnte, der war, wenn es nichts tat.

Bei genügender Beschäftigung, nun da er diese weitere Aufgabe hatte – an einer solchen Aufgabe war gar mancher nützliche Mann vor seiner Zeit gestorben –, führte Arthur Clennam ein ziemlich abwechslungsloses Leben. Regelmäßige Besuche in dem düstern Krankenzimmer seiner Mutter und kaum weniger regelmäßige Besuche bei Mr. Meagles in Twickenham waren seine einzige Erholung während vieler Monate.

Er vermißte Klein-Dorrit bitter und schmerzlich. Er war darauf vorbereitet, daß er sie sehr, aber nicht so sehr vermissen würde. Er wußte erst aus Erfahrung, welch großer Platz in seinem Leben leer geworden, als ihre kleine, vertraute Gestalt daraus verschwunden. Er fühlte auch, daß er auf die Hoffnung ihrer Wiederkehr verzichten mußte, da er den Charakter der Familie zu gut kannte, um nicht zu wissen, daß sie und er durch eine breite Kluft geschieden waren. Das alte Interesse, das er für sie besaß, und ihr altes Vertrauen auf ihn waren melancholisch gefärbt in seiner Seele; so rasch war die Veränderung eingetreten, und so rasch waren sie mit andern geheimen und zarten Empfindungen in den Schoß der Vergangenheit hinabgesunken.

Al« er ihren Brief erhielt, war er tief bewegt: aber das Gefühl, daß sie durch eine weite Kluft von ihm getrennt war, blieb doch in seiner ganzen Stärke in ihm lebendig. Er verhalf ihm im Gegenteil zu einer klareren und deutlicheren Erkenntnis des Platzes, den ihm die Familie angewiesen. Er sah, daß er in ihrer dankbaren Erinnerung still fortlebte, daß die Familie aber seiner nur im Lichte des Gefängnisses und alles übrigen, was dazu gehörte, gedachte und ihm grollte.

Trotz all dieser Betrachtungen, die sich Tag für Tag um sie her aufhäuften, dachte er ihrer doch in der alten Weise. Sie war seine unschuldige Freundin, sein zartes Kind, seine liebe Klein-Dorrit. Die veränderten Umstände paßten merkwürdig zu der Gewohnheit – die in der Nacht begonnen, als die Rosen fortschwammen –, sich für einen weit älteren Mann zu halten, als er wirklich war. Er betrachtete sie von einem Gesichtspunkte, von dem er sich kaum dachte, daß er, so zärtlich er auch war, durch seine Entfernung ihr einen unaussprechlichen Schmerz bereitet hätte. Er dachte über ihr künftiges Schicksal und den Gatten, den sie einst wählen würde, mit einer Besorgtheit für sie nach, die ihr Herz des teuersten Tropfens von Hoffnung beraubt und es gebrochen hätte.

Alles um ihn her zielte darauf hin, ihn in der Gewohnheit zu bestärken, sich als älteren Mann zu betrachten, von dem solche Hoffnungen, wie er sie in der Sache mit Minnie Gowan bekämpft (obwohl das nicht so lange her war, wenn man nach Monaten und Jahreszeiten rechnete), für immer Abschied genommen hatten. Seine Beziehungen zu ihrem Vater und ihrer Mutter waren so, wie sie etwa zwischen einem verwitweten Schwiegersohn und seinen Schwiegereltern gewesen wäre. Wenn die Zwillingsschwester, die gestorben war, gelebt hätte, um in der Blüte des Frauenalters hinwegzusterben, und er ihr Gatte gewesen, so wäre die Art seines Verkehrs mit Mr. und Mrs. Meagles wahrscheinlich ganz dieselbe gewesen wie jetzt. Dies trug natürlich unmerklich auch dazu bei, den Eindruck in ihm lebendig zu erhalten, daß er mit diesem Teil des Lebens fertig sei und abgeschlossen habe.

Er hörte beständig durch sie von Minnie, daß sie in ihren Briefen stets wiederhole, wie glücklich sie sei und wie sie ihren Gatten liebe; aber unzertrennlich davon sah er stets auch die alte Wolke auf Mr. Meagles‘ Gesicht. Mr. Meagles war nie mehr ganz so freudestrahlend seit der Hochzeit wie zuvor. Er hatte die Trennung von Pet nie ganz verschmerzt. Er war dieselbe gutmütige offene Natur; aber wie wenn sein Gesicht von der beständigen Betrachtung des Bildes seiner Kinder, die ihm nur ein Gesicht zeigen konnten, unbewußt etwas Charakteristisches von denselben herübernähme, lag jetzt, bei allem Wechsel des Ausdrucks, doch immer ein gewisses Gefühl des Verlustes darin.

An einem winterlichen Sonnabend, als Clennam auf dem Landhause zu Besuch war, fuhr Mrs. Gowan in dem Wagen von Hampton Court vor, der der ausschließliche Wagen so vieler einzelner Eigentümer zu sein vorgab. Sie stieg in dem schattigen Hinterhalt ihres grünen Fächers aus, um Mr. und Mrs. Meagles mit einem Besuch zu erfreuen.

»Und wie befinden Sie sich beide, Papa und Mama Meagles?« sagte sie, ihre bescheidene Verwandtschaft ermutigend. »Und wann hörten Sie zuletzt von meinem armen Jungen?«

Mein armer Junge war ihr Sohn; und diese Art von ihm zu sprechen, hielt auf eine Weise, ohne daß irgendeine Beleidigung nachzuweisen war, die Anmaßung aufrecht, daß er den Ränken der Meagles‘ zum Opfer gefallen.

»Und die liebe hübsche Kleine«, sagte Mrs. Gowan. »Haben Sie spätere Nachrichten von ihr als ich?«

Auch dies deutete auf zarte Weise an, daß ihr Sohn sich habe von der bloßen Schönheit fangen lassen und unter ihrem Zauber auf alle weltlichen Vorteile verzichtet habe.

»Gewiß«, sagte Mrs. Gowan, ohne die Antworten, die sie erhielt, einer Beachtung zu würdigen, »es ist eine unaussprechliche Wohltat, zu wissen, daß sie immer noch glücklich sind. Mein armer Junge ist von so unruhigem Temperament und so an das Reisen gewöhnt und treibt sich so gern, beliebt unter allen Arten von Leuten, umher, daß das der größte Trost ist. Ich denke mir, sie sind so arm wie Mäuse, Papa Meagles?«

Mr. Meagles, der während dieser Frage ganz unruhig geworden, antwortete: »Ich denke nicht, Madam. Ich hoffe, sie werden mit ihren kleinen Einkünften auskommen.«

»Oh! mein liebster Meagles!« versetzte die Dame, indem sie ihn mit dem grünen Fächer auf den Arm liebkoste und ihn dann geschickt zwischen ein Gähnen und die Gesellschaft hielt, »wie können Sie als Weltmann und einer der mit den Geschäften vertrautesten Menschen – denn Sie wissen. Sie sind ein Geschäftsmann, und zwar viel zu sehr für uns, die wir nichts davon verstehen –«

(Was wieder auf das frühere hinzielte, nämlich Mr. Meagles zu einem geschickten Ränkeschmied zu machen).

»– Wie können Sie davon sprechen, sie sollen mit den kleinen Mitteln auskommen? Mein armer teurer Junge! Der Gedanke, er solle mit Hunderten auskommen! Und das süße, hübsche Geschöpf dazu. Die Idee, sie soll damit auskommen! Papa Meagles! Lassen Sie sich das nicht einfallen!«

»Nun, Ma’am«, sagte Mr. Meagles ernst, »ich bedaure einräumen zu müssen, daß Henry seine Mittel allerdings zu früh verausgabt.«

»Mein lieber, guter Mann – ich lasse alle Beschönigungen Ihnen gegenüber beiseite, da wir ja gewissermaßen Verwandte sind – ja, ja, Mama Meagles«, rief Mrs. Gowan heiter, als wenn der ungereimte Zufall ihr jetzt zum ersten Male ins Auge spränge, »gewissermaßen Verwandte! Mein lieber, guter Mann, in dieser Welt kann niemand von uns alles auf seine Weise haben.« Das ging wieder auf den früheren Punkt und zeigte Mr. Meagles bei aller seinen Lebensart, daß er bis dahin mit seinen schlauen Plänen glänzendes Glück gehabt hatte. Mrs. Gowan hielt den Einfall für so gut, daß sie länger dabei verweilte, indem sie wiederholte: »Nicht alles. Nein, nein, in dieser Welt dürfen wir nicht alles erwarten, Papa Meagles.«

»Und darf ich fragen, Ma’am«, warf Mr. Meagles etwas angerötet ein, » wer alles erwartet?«

»Oh, niemand, niemand!« sagte Mrs. Gowan. »Ich war im Begriff zu sagen – aber Sie bringen mich aus dem Konzept. Sie unterbrechender Papa, was wollte ich nur sagen?«

Damit ließ sie ihren großen grünen Fächer sinken und sah Mr. Meagles sinnend an, während sie darüber nachdachte; eine Beschäftigung, die nicht darauf abzielte, die erhitzten Geister dieses Mannes abzukühlen.

»Ach ja, richtig!« sagte Mrs. Gowan. »Sie müssen sich erinnern, daß mein armer Junge stets an große Erwartungen gewöhnt war. Sie mögen sich nun realisiert haben oder mögen sich nicht realisiert haben –«

»Wir wollen sagen: nicht realisiert haben, –« bemerkte Mr. Meagles.

Die Witwe warf ihm einen flüchtigen Blick voll Ärger zu, verscheuchte diesen aber mit einem Schütteln des Kopfes und des Fächers und fuhr in ihrem früheren Ton fort.

»Das ist kein Unterschied. Mein armer Junge war daran gewöhnt, und Sie wußten es natürlich und waren auf die Folgen vorbereitet. Ich meinesteils sah immer klar die Folgen vor Augen und war nicht überrascht. Und Sie können auch nicht überrascht sein. Können in der Tat nicht überrascht sein. Müssen darauf vorbereitet gewesen sein.«

Mr. Meagles sah seine Frau und dann Clennam an; biß sich auf die Lippen und hustete.

»Und nun erfährt mein armer Junge«, fuhr Mrs. Gowan fort, »daß er sich eines Kindes zu gewärtigen habe und all der Ausgaben, die mit einer solchen Vergrößerung der Familie verbunden sind. Der arme Henry! Aber nun ist nichts mehr zu ändern: es ist jetzt zu spät zu helfen. Nur sprechen Sie nicht von dem vorzeitigen Verausgaben der Mittel, Papa Meagles, als von einer Entdeckung, weil das zuviel wäre.«

»Zuviel, Ma’am?« sagte Mr. Meagles, als suchte er nach einer Erklärung.

»Ja, ja!« sagte Mrs. Gowan, indem sie ihm mit einer ausdrucksvollen Bewegung ihrer Hand seine untergeordnete Stellung anwies. »Zuviel für meines armen Jungen Mutter, um es in dieser Stunde zu tragen. Sie sind fest verheiratet und können nicht unverheiratet gemacht werden. Ja, ja! Ich weiß das! Sie brauchen es mir nicht zu sagen, Papa Meagles. Ich weiß das sehr gut. Was war’s, was ich soeben sagte? Daß es eine große Wohltat sei zu wissen, daß sie immer glücklich sind. Es steht zu hoffen, daß sie auch ferner glücklich sein werden. Es steht zu hoffen, daß die hübsche Kleine alles tun wird, was in ihren Kräften liegt, um meinen armen Jungen glücklich und zufrieden zu machen. Papa und Mama Meagles, wir würden besser tun, nicht mehr davon zu sprechen. Wir sahen diese Sache nie vom gleichen Gesichtspunkte aus an und werden es auch nie tun. Ja, ja! Nun bin ich beruhigt.«

Wahrlich, nachdem sie inzwischen alles gesagt, was sie sagen konnte, um ihre wunderbare mythische Stellung aufrechtzuerhalten und Mr. Meagles einzuschärfen, daß er die Ehre ihrer Verbindung mit ihm nicht zu billig anschlage, konnte Mrs. Gowan leicht geneigt sein, das übrige zu übergehen. Wenn Mr. Meagles einem bittenden Blick von Mrs. Meagles und einer ausdrucksvollen Gebärde Clennams nachgegeben hätte, so würde er sie im ungestörten Genusse dieser Gemütsverfassung gelassen haben. Pet war jedoch der Liebling und Stolz seines Herzens; und wenn er je ein treuerer Kämpe für sie hätte sein und sie mehr hätte lieben können als in den Tagen, da sie das Sonnenlicht seines Hauses war, so wäre es jetzt gewesen, wo sie aufgehört hatte, Tag für Tag Anmut und Heiterkeit darüber zu verbreiten.

»Mrs. Gowan, Ma’am«, sagte Mr. Meagles, »ich war mein ganzes Leben ein ehrlicher, offener Mann. Wenn ich – gleichgültig mit mir oder mit sonst jemandem oder auch mit beiden – irgendeine feine Mystifikation versuchte, würde es mir wahrscheinlich nicht gelingen.«

»Papa Meagles«, versetzte die Witwe mit einem freundlichen Lächeln, indes die Röte auf ihren Wangen um so lebhafter hervortrat, je blasser das übrige Gesicht wurde, »wahrscheinlich nicht.«

»Deshalb, meine gute Madame«, sagte Mr. Meagles, der große Mühe hatte, an sich zu halten, »hoffe ich auch, ohne anzustoßen, verlangen zu dürfen, daß man mich ebenfalls nicht zum Spielzeug solcher Mystifikationen mache.«

»Mama Meagles«, bemerkte Mrs. Gowan, »Ihr guter Mann ist unbegreiflich.«

Daß sie sich an diese würdige Dame wandte, war ein Kunstgriff, um sie in das Gespräch zu ziehen, sich dann mit ihr herumzuzanken und sie zuletzt zu besiegen. Mr. Meagles trat dazwischen, um dieser Niederlage zuvorzukommen.

»Mutter«, sagte er, »du bist unerfahren in solchen Dingen, meine Liebe, und es ist auch kein gleicher Streit. Laß mich dich bitten, ruhig zu bleiben. Nun, Mrs. Gowan, hören Sie. Lassen Sie uns vernünftig zu sein versuchen, lassen Sie uns versöhnlich zu sein versuchen, lassen Sie uns freundschaftlich zu sein versuchen. Bedauern Sie Henry nicht, so will ich Pet nicht bedauern. Und seien Sie nicht einseitig, Ma’am, das ist nicht rücksichtsvoll, das ist nicht freundlich. Lassen Sie uns nicht sagen, wir hoffen, Pet werde Henry glücklich machen, oder gar, wir hoffen, Henry werde Pet glücklich machen« (Mr. Meagles selbst sah nicht glücklich au«, als er diese Worte sprach), »sondern lassen Sie uns hoffen, daß sie sich gegenseitig glücklich machen.«

»Ja, gewiß, und damit genug, Vater«, sagte die gutmütige und behagliche Mrs. Meagles.

»Warum, Mutter; nein«, versetzte Mr. Meagles, »noch nicht. Ich kann die Sache damit noch nicht auf sich beruhen lassen; ich muß noch ein halbes Dutzend Worte mehr sagen. Mrs. Gowan, ich hoffe, ich bin nicht empfindlich. Ich glaube, ich sehe nicht so aus.«

»Allerdings nicht«, sagte Mr«. Gowan, ihren Kopf und ihren großen grünen Fächer zu gleicher Zeit emphatisch schüttelnd.

»Ich danke Ihnen, Ma’am; das ist gut. Trotzdem fühle ich mich ein wenig – ich möchte kein herbes Wort gebrauchen – nun, soll ich sagen, verletzt?« fragte Mr. Meagles mit Offenheit und Mäßigung und mit einer Aufforderung zur Versöhnung in seinem Tone.

»Sagen Sie, was Sie wollen«, antwortete Mrs. Gowan, »es ist mir vollständig gleichgültig.«

»Nein, nein, sagen Sie das nicht«, bat Mr. Meagles, »weil das keine freundschaftliche Antwort ist. Ich fühle mich ein wenig verletzt, wenn ich auf Folgen anspielen höre, die hätten vorausgesehen werden können, und daß es nun zu spät sei und so fort.«

»Wirklich, Papa Meagles?« sagte Mrs. Gowan. »Ich bin nicht überrascht.«

»Nun, Ma’am«, fuhr Meagles fort, »ich hoffte, Sie würden wenigstens überrascht sein, weil, mich absichtlich in einer so zarten Sache zu verletzen, sicher nicht sehr edel ist.«

»Sie wissen«, sagte Mrs. Gowan, »ich bin nicht für Ihr Gewissen verantwortlich.«

Der arme Mr. Meagles sah ganz bestürzt vor Erstaunen aus.

»Wenn ich unglücklicherweise eine Mütze tragen muß, die Ihnen gehört und für Sie paßt«, fuhr Mrs. Gowan fort, »so tadeln Sie nicht mich wegen des Musters, Papa Meagles, ich bitte!«

»Wie, mein Gott, Ma’am!« brach Mr. Meagles los, »das will so viel sagen, als –«

»Nun, Papa Meagles, Papa Meagles«, sagte Mrs. Gowan, die außerordentlich bedächtig und ihrer selbst Herr war, sobald ihr Gegner warm wurde, »vielleicht wäre es von meiner Seite besser, wenn ich, um einer Verwirrung zuvorzukommen, selbst spräche, statt Ihre Freundlichkeit zu bemühen, für mich zu sprechen. Das will so viel sagen, begannen Sie. Wenn Sie erlauben, will ich die Phrase schließen. Das will so viel sagen – nicht daß ich auf die Sache Nachdruck legen oder nur daran zu erinnern wünsche, denn es ist jetzt unnütz, und mein einziger Wunsch ist, aus den bestehenden Umständen so viel Nutzen wie möglich zu ziehen –, daß ich vom ersten bis zum letzten Augenblick Einwendungen gegen diese Verbindung machte und erst sehr spät und äußerst ungern meine Einwilligung dazu gab.«

»Mutter!« rief Mr. Meagles. »Hörst du das! Arthur! Hören Sie das!«

»Da das Zimmer nicht zu groß ist«, sagte Mrs. Gowan umherblickend, während sie sich fächelte, »und in jeder Beziehung zur ›Konservation‹ ganz geeignet ist, so sollte ich denken, daß man mich in jedem Teil des Zimmers verstehen könnte.«

Es vergingen einige Augenblicke, bis Mr. Meagles sich mit genügender Sicherheit auf seinem Stuhl festhalten konnte, um nicht beim nächsten Worte, das er sprach, loszubrechen. Zuletzt sagte er: »Madame, ich frische die Sache sehr ungern wieder auf, allein ich sehe mich genötigt, Sie daran zu erinnern, was meine Ansicht und welcher Art mein Vorgehen in der ganzen unglücklichen Geschichte war.«

»O mein lieber Herr!« sagte Mrs. Gowan, mit einer Einsicht, in der eine Anklage lag, lächelnd und kopfschüttelnd, »ich habe es wohl verstanden, ich versichere Sie.«

»Ich wußte«, sagte Mrs. Meagles, »vor jenem Zeitpunkt nicht, was Unglück ist, ich kannte keine Angst und Besorgnis vor jener Zeit. Es war eine so traurige Zeit für mich, daß –« Daß Mr. Meagles nichts weiter darüber sprechen konnte, sondern mit seinem Taschentuch über das Gesicht fuhr.

»Ich verstand die ganze Sache wohl«, sagte Mrs. Gowan, ruhig über ihren Fächer hinblickend. »Da Sie an Mr. Clennam appelliert haben, so darf ich wohl auch an Mr. Clennam appellieren. Er weiß, ob dies der Fall oder nicht.«

»Ich nehme wirklich sehr ungern irgendwie teil an dieser Verhandlung«, sagte Clennam, den alle Parteien betrachteten, »namentlich, weil ich im besten Einverständnis und den unbefangensten Beziehungen zu Mr. Henry bleiben möchte. Ich habe sehr dringende Gründe, diesen Wunsch zu hegen. Mrs. Gowan unterlegte meinem Freunde hier gewisse Absichten bei der Begünstigung dieser Heirat: dies geschah in einem Gespräch, das zwischen uns stattfand, ehe die Heirat vollzogen wurde; ich versuchte, ihr diese Ansicht zu benehmen. Ich stellte ihr vor, ich wisse (damals, wie jetzt) von ihm, daß er durch Ansicht und Handlungsweise ganz strikt diesen Unterstellungen widerspreche.«

»Sie sehen«, sagte Mrs. Gowan und streckte das Innere ihrer Hände gegen Mr. Meagles aus, als wenn sie die Gerechtigkeit selbst wäre und ihm vorstellen wollte, daß er besser daran tun würde, zu gestehen, da er ja kein Bein mehr habe, auf dem er stehen könne. »Sie sehen? Sehr gut! Nun, Papa und Mama Meagles!« fügte sie hinzu und stand auf, »erlauben Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, diesem ziemlich häßlichen Streit ein Ende zu machen. Ich will kein Wort weiter darüber verlieren. Nur so viel will ich sagen, daß es ein weiterer Beweis dessen ist, was uns alle Erfahrung lehrt: daß derlei Sachen nichts taugen – wie mein armer Junge selbst sagen würde, daß sie nicht lohnen – mit einem Wort, daß es eben nicht geht.«

Mr. Meagles fragte: was für Sachen?

»Es ist umsonst«, sagte Mrs. Gowan, »wenn Leute den Versuch machen, zusammengehen zu wollen, die so unendlich verschiedene Antezedenzien haben, die auf diese zufällige Weise durch eine Ehe zusammengeworfen sind und die den verkehrten Umstand, der sie zusammengebracht, nicht im gleichen Lichte betrachten können. Es geht nicht.«

Mr. Meagles war im Begriff zu beginnen: »Erlauben Sie mir zu sagen, Madame –«

»Nein, lassen Sie’s«, sagte Mrs. Gowan. »Warum sollten Sie! Es ist eine anerkannte Tatsache. Es taugt nicht. Ich werde deshalb, wenn Sie erlauben, meinen Weg gehen und Sie den Ihrigen gehen lassen. Es wird mir immer große Freude machen, die hübsche Frau meines armen Jungen zu sehen, und ich werde es mir stets angelegen sein lassen, auf dem liebevollsten Fuß mit ihr zu stehen. Aber was diesen halb familiären und halb fremden, halb warmen und halb kalten Fuß betrifft, so bildet er einen Zustand, der durch seine Unverträglichkeit geradezu spaßhaft ist. Ich versichere, es geht nicht.«

Die Witwe machte hier eine lächelnde Verbeugung, mehr gegen das Zimmer als gegen irgend jemand in demselben und nahm damit für immer Abschied von Papa und Mama Meagles. Clennam ging vor, um ihr in die Pillenschachtel zu helfen, die für alle Pillen im Hampton Court Palace bereitstand: sie stieg mit großer Feierlichkeit in den Wagen und fuhr fort.

Von da ab erzählte die Witwe mit leichtem und harmlosem Humor gar oft ihren nächsten Bekannten, wie sie es nach einem schweren Versuch unmöglich gefunden, mit diesen Leuten, denen Henrys Frau angehörte, die so verzweifelte Anstrengungen gemacht, um ihn zu fangen, Bekanntschaft zu pflegen. Ob sie schon vorher zu dem Schlusse gelangt war, daß ein Bruch mit diesen Leuten ihrer Lieblingsbehauptung einen bessern Hintergrund geben würde, ihr manche Unannehmlichkeit ersparte und dabei doch kein Verlust auf dem Spiel stünde (das hübsche Wesen war zu fest verheiratet, und ihr Vater liebte sie von ganzem Herzen), das wußte sie selbst am besten. Diese Geschichte hat jedoch nicht minder ihre eigne Ansicht, und diese fällt bejahend aus.

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Erscheinen und Verschwinden.

»Arthur, mein lieber Junge«, sagte Mr. Meagles am Abend des folgenden Tages, »Mutter und ich haben die Sache besprochen, und wir fühlen uns nicht behaglich, wenn wir so bleiben, wie wir sind. Diese vornehme Verwandtschaft – diese teure Dame, die gestern hier war –«

»Ich verstehe«, sagte Arthur.

»Wir fürchten sogar, diese leutselige und herablassende Zierde der Gesellschaft«, fuhr Mr. Meagles fort, »möchte uns in ein falsches Licht stellen. Wir könnten um ihretwillen viel ertragen, Arthur; aber wir denken, wir ertragen es lieber nicht, da es ihr doch nichts nützt.«

»Gut«, sagte Arthur, »fahren Sie fort.«

»Sie sehen ein«, setzte Mr. Meagles hinzu, »es könnte uns in eine schiefe Stellung zu unserm Schwiegersohn bringen, es könnte uns sogar in eine schiefe Stellung zu unsrer Tochter bringen und zu mancherlei häuslichem Kummer Anlaß geben. Sie sehen doch ein?«

»Jawohl«, versetzte Arthur, »es ist vieles wahr in dem, was Sie sagen.« Er hatte Mrs. Meagles angesehen, die immer auf der guten und vernünftigen Seite war, und es lag eine Bitte in ihrem ehrbaren Gesicht, er möchte Mr. Meagles in seinen gegenwärtigen Absichten unterstützen.

»Wir sind deshalb entschlossen, Mutter und ich«, sagte Mr. Meagles, »unsre sieben Sachen einzupacken und wieder unter die Alloners und Marchoners zu gehen. Ich meine, wir sind entschlossen, uns auf den Weg zu machen, durch Frankreich nach Italien zu reisen und unsre Pet zu besuchen.«

»Und ich bin überzeugt«, versetzte Arthur, gerührt durch die mütterliche Vorfreude in dem hübschen Gesicht von Mrs. Meagles (sie mußte ihrer Tochter einst sehr ähnlich gesehen haben), »daß Sie nichts Gescheiteres tun können. Und wenn Sie mich um Rat fragen, so gebe ich Ihnen den, sich morgen schon auf den Weg zu machen.«

»Ist das wahr?« sagte Mr. Meagles. »Mutter, heißt das nicht, einem seine Gedanken wiedergeben?«

Mutter antwortete mit einem Blick, der Clennam in einer für ihn höchst angenehmen Weise dankte, daß dies allerdings der Fall sei.

»Und dann, Arthur, ist es auch das«, sagte Mr. Meagles, und die alte Wolke überzog sein Gesicht, »daß mein Schwiegersohn bereits wieder Schulden hat, und daß ich ihn vermutlich wieder herausreißen muß. Vielleicht geschieht es ebensowohl aus diesem Grunde, daß ich die Reise unternehme, um ihn auf freundliche Weise zu überwachen. Und dann, darin ist Mutter töricht ängstlich (und doch ist es auch wieder natürlich), wegen Pets Gesundheit; sie soll sich im gegenwärtigen Augenblick nicht einsam und verlassen fühlen. Rom ist unleugbar weit entfernt, Arthur, und unter allen Umständen ein fremder Ort für das arme liebe Kind. Sie mag so gut versorgt sein, wie irgendeine Dame in jenem Lande, es ist und bleibt weit entfernt. Denn Heimat bleibt Heimat, wenn sie auch schon nicht mehr so heimatlich ist. Sie wissen warum«, sagte Mr. Meagles, indem er eine neue Version zu dem Sprichwort »Rom bleibt Rom, wenn es auch nicht mehr so römisch ist« fügte.

»Das ist alles vollkommen richtig«, bemerkte Arthur, »und hinlänglicher Grund zum Reisen.«

»Ich freue mich, daß Sie so denken; es ist entscheidend für mich. Mutter, meine Liebe, du kannst dich vorbereiten. Wir haben unsern angenehmen Dolmetscher verloren (sie sprach drei fremde Sprachen wundervoll, Arthur; Sie haben es oft gehört), und nun mußt du mir durchhelfen, Mutter, so gut du kannst. Ich nehme viele Hilfe in Anspruch, Arthur«, sagte Mr. Meagles, den Kopf schüttelnd, »viele Hilfe. Ich bleibe bei allem stecken, was über das ›Nomen Substantivum‹ hinausgeht –, und ich bleibe bei ihm stecken, wenn es schwer ist.«

»Ah! Nun fällt mir ein«, versetzte Clennam. »Da ist ja Cavalletto. Er soll mit Ihnen gehen, wenn es Ihnen beliebt. Ich würde ihn nicht gern verlieren, aber Sie bringen ihn mir wohlbehalten zurück.«

»Schön! Ich bin Ihnen sehr verbunden, mein Lieber«, sagte Mr. Meagles, sich die Sache überlegend, »aber ich will es doch lassen. Nein, ich hoffe, Mutter wird mir durchhelfen. Cavallooro (ich stocke schon ganz verdutzt bei seinem Namen, er klingt wie der Chorus eines komischen Liedes) Cavallooro ist Ihnen so nötig, daß ich mich mit dem Gedanken, ihn mitzunehmen, nicht befreunden kann. Und überdies, wir wissen ja nicht, wann wir wieder heimkommen, es würde doch nicht gehen, ihn auf unbestimmte Zeit so mit uns fortzunehmen. Das Landhaus ist nicht mehr, was es war. Es birgt nur zwei kleine Personen weniger als sonst, Pet und ihr armes unglückliches Mädchen Tattycoram; aber es erscheint doch ganz öde. Sind wir mal fort, wer weiß, wann wir dann wiederkommen. Nein, Arthur, Mutter wird mir schon durchhelfen.«

»Sie werden sich vielleicht wirklich am besten selbst helfen«, dachte Clennam und beharrte deshalb nicht länger bei seinem Vorschlag.

»Wenn Sie zuweilen hierherkommen und sich hier aufhalten wollten, falls es Ihnen keine Unbequemlichkeit macht«, fuhr Mr. Meagles fort, »so würde mir der Gedanke große Freude machen – und ich weiß, auch bei Mutter ist das der Fall –, daß Sie an den alten Ort etwas Leben brächten, wie er es gewohnt war, als er noch richtig bewohnt war, und daß auf die Kinder an der Wand hier bisweilen ein freundlicher Blick fiele. Sie gehören so wesentlich zu dem Ort und zu ihnen, Arthur, und wir alle wären so glücklich, wenn es anders gekommen wäre – aber, lassen Sie mich mal sehen – wie das Wetter jetzt zum Reisen ist?« Mr. Meagles brach ab, räusperte sich und ging ans Fenster, um nachzusehen.

Sie waren einig darüber, daß das Wetter gut zu werden versprach, und Clennam hielt das Gespräch in dieser unschuldigen Richtung fest, bis ein leichterer Ton eingetreten war, worauf er wieder unmerklich zu Henry Gowan hinüberlenkte und von seinem lebhaften Geist und seinen angenehmen Eigenschaften, wenn man ihn gut behandelte, sprach; auch verweilte er einige Zeit bei der unbestreitbaren Liebe, die er für seine Frau hege. Clennam verfehlte seinen Zweck gegenüber dem guten Mr. Meagles nicht, den diese Anpreisungen sehr angenehm berührten, und der Mutter zum Zeugen nahm, daß es sein einziger und herzlicher Wunsch in Beziehung auf den Gatten seiner Tochter sei, in bestem Einvernehmen mit ihm zu stehen, Freundschaft gegen Freundschaft und Vertrauen gegen Vertrauen auszutauschen. Wenige Stunden später wurden die Möbel des Landhauses zur Schonung während der Abwesenheit der Familie überzogen – oder, wie Mr. Meagles sich ausdrückte, das Hau« begann sein Haar in Papier zu wickeln –, und wenige Tage später waren Vater und Mutter fort, Mrs. Tickit und Dr. Buchan wie ehedem auf ihrem Posten, hinter dem Fenster des Empfangszimmers, und Arthurs einsamer Fuß rauschte in dem dürren gefallenen Laub der Gartengänge.

Da er eine Vorliebe für den Ort besaß, ließ er selten eine Woche vergehen, ohne ihm einen Besuch zu machen. Bisweilen ging er allein dahin und blieb von Sonnabend bis Montag; bisweilen begleitete ihn sein Associé; bisweilen schlenderte er eine oder zwei Stunden durch Haus und Garten, sah nach, ob alles in Ordnung war, und kehrte wieder nach London zurück. Immer und unter allen Umständen saßen Mrs. Tickit mit der schwarzen Lockenfülle und Dr. Buchan am Fenster des Empfangszimmers und warteten auf die Heimkehr der Familie.

Bei einem dieser Besuche empfing ihn Mrs. Tickit mit den Worten: »Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Mr. Clennam, das Sie überraschen wird.« Dieses fragliche Etwas war so überraschend, daß es wirklich Mrs. Tickit von dem Fenster im Empfangszimmer wegbrachte und sie in den Garten führte, als Clennam durch das Tor trat, nachdem man ihm geöffnet hatte.

»Was ist es, Mrs. Tickit?« sagte er.

»Sir«, versetzte die getreue Haushälterin, nachdem sie ihn in das Empfangszimmer geführt und die Tür geschlossen hatte, »wenn ich je das entführte und betrogene Kind in meinem Leben sah, so sah ich es gestern abend in der Dunkelheit.«

»Sie meinen doch nicht Tatty –«

»Coram, ja allerdings!« sagte Mr«. Tickit, die Entdeckung mit einem Schlag enthüllend.

»Wo?«

»Mr. Clennam«, versetzte Mr«. Tickit, »meine Augen waren etwas schwer, da ich länger als gewöhnlich auf meine Tasse Tee wartete, die Mary Jane bereitete. Ich schlief nicht, aber ich döste auch nicht, wie man sich richtig ausdrücken würde. Ich wachte vielmehr mit geschlossenen Augen, wie man das genau bezeichnen könnte.«

Ohne auf eine Untersuchung dieses seltsam abnormen Zustandes einzugehen, sagte Clennam: »Jawohl. Nun?«

»Nun, Sir«, fuhr Mrs. Tickit fort, »ich dachte an das eine und dachte an das andere. Ganz wie Sie’s auch machen würden. Ganz wie es jedermann machen würde.«

»Allerdings,« sagte Clennam. »Nun?«

»Und wie ich so an das eine denke und an das andre denke«, fuhr Mrs. Tickit fort, »so brauche ich Ihnen kaum zu sagen, Mr. Clennam, daß ich auch an die Familie denke. Weil, natürlich, die Gedanken eines Menschen«, sagte Mrs. Tickit mit einer argumentierenden und philosophischen Miene, »wie sie sich auch zerstreuen mögen, doch immer wieder mehr oder weniger auf das kommen werden, was in seinem Sinn obenan steht. Sie werden es tun, Sir, und niemand vermag sie daran zu hindern.«

Arthur unterschrieb diese Entdeckung mit einem Nicken des Kopfes.

»Sie finden es selbst so, Sir, das wage ich kühn zu behaupten«, sagte Mrs. Tickit, »und wir alle finden es so. Nicht unsre Stellungen im Leben sind es, die uns ändern, Mr. Clennam; die Gedanken sind frei! – Wie ich sagte, ich dachte an das eine und dachte an das andere und dachte viel an die Familie. Nicht an die Familie in der Gegenwart allein, sondern auch an die Familie in frühern Zeiten. Dann wenn jemand an das eine und an das andre zu denken beginnt, in der Zeit, wo es dunkel wird, so ist das, was ich sagen wollte, daß alle Zeiten wie gegenwärtig erscheinen, und man muß erst aus diesem Zustande herauskommen und überlegen, ehe man sagen kann, was etwas ist.«

Er nickte wieder; denn er fürchtete sich, ein Wort zu äußern, damit nicht eine neue Öffnung für das Ausströmen des Konversationstalents entstünde.

»Als ich deshalb«, sagte Mrs. Tickit, »mit den Augen zwinkerte und ihre wirkliche Gestalt zum Tor hereinschauen sah, schloß ich sie wieder, ohne mich auch nur vom Fleck zu bewegen; denn diese Gestalt paßte so genau zu der Zeit, da sie noch zu dem Hause gehörte, wie ich und Sie, daß ich nicht in dem Augenblick daran dachte, daß sie fort wäre. Als ich jedoch wieder mit den Augen zwinkerte, Sir, und sah, daß jene Gestalt nicht mehr da war, überkam mich eine bange Furcht und ich sprang auf.«

»Sie eilten wohl augenblicklich hinaus?« sagte Clennam.

»Ich eilte hinaus«, bejahte Mrs. Tickit, »so schnell mich meine Füße trugen; und wenn Sie mir glauben wollen, Mr. Clennam, so war, so weit der Himmel reichte, keines Fingers groß von dem Mädchen zu sehen.«

Über die Abwesenheit dieses neuen Sternes am Firmament wegsehend, fragte Arthur Mrs. Tickit, ob sie auch zum Tore hinausgegangen sei.

»Hin und her und auf und ab«, sagte Mrs. Tickit, »und sah keine Spur von ihr.« Er fragte dann Mrs. Tickit, wie groß der Zeitraum zwischen dem zweimaligen Augenzwinkern wohl gewesen sein möchte? Mrs. Tickit, obwohl minutiös umständlich in ihrer Antwort, hatte keine entschiedene Ansicht: sie schwebte zwischen fünf Sekunden und zehn Minuten. Sie war so unsicher in dieser Beziehung und so sicher aus dem Schlafe aufgefahren, daß Clennam sehr geneigt war, diese Erscheinung als einen Traum zu betrachten. Ohne Mrs. Tickit durch diese ungläubige Lösung ihres Rätsels zu kränken, nahm er seine Meinung von dem Landhause mit sich und würde sie wohl für immer festgehalten haben, wenn nicht ein Umstand zufällig bald darauf seine Meinung geändert hätte.

Er ging bei Einbruch des Abends am Strande hin, und vor ihm her schritt der Lampenanzünder, unter dessen Hand die Straßenlaternen, durch die neblige Luft angelaufen, eine nach der andern aufflammten, wie ebenso viele leuchtende Sonnenblumen, die plötzlich in volle Blüte treten, als unerwartet eine Stockung auf dem Wege, den ein Zug von Kohlenwagen veranlaßte, die sich von den Kais am Ufer heraufwanden, ihn stillzustehen nötigte. Er war rasch gegangen und in einem raschen Gedankengang begriffen, und die plötzliche Störung, die nun eintrat, ließ ihn sich lebhaft umsehen, wie dies gewöhnlich unter solchen Umständen der Fall ist.

Plötzlich sah er vor sich – nur wenige Leute waren zwischen ihnen, so daß er sie hätte berühren können, wenn er den Arm ausgestreckt – Tattycoram und einen fremden Mann von merkwürdigem Äußern: es war ein Bramarbas mit einer gebogenen Nase und einem schwarzen Schnurrbart, der so falsch in seiner Farbe war wie seine Augen in ihrem Ausdruck, und der seinen schweren Mantel so trug, daß man ihn für einen Ausländer hielt. Seine Kleidung und sein ganzes Auftreten waren die eines Mannes auf Reisen, und er schien erst ganz kurz auf das Mädchen gestoßen zu sein. Als er sich zu ihr hinabbeugte (da er weit größer als sie war) und auf das lauschte, was sie zu ihm sagte, warf er den mißtrauischen Blick eines Mannes über seine Schulter, der ziemlich daran gewöhnt ist, fürchten zu müssen, daß man ihm auf dem Fuße folgte. In diesem Augenblick sah Clennam sein Gesicht; er bemerkte, wie seine Augen finster auf die Leute blickten, die sich hinter ihm drängten, ohne besonders auf Clennams oder irgendeinem andern Gesicht zu verweilen.

Er hatte kaum wieder seinen Kopf umgewandt und beugte sich noch immer lauschend zu dem Mädchen herab, als die Stockung aufhörte und der gehemmte Menschenstrom fortflutete. Den Kopf zu ihr hinabbeugend und auf das Mädchen lauschend, ging er neben ihr her, und Clennam folgte ihnen, entschlossen, dies unerwartete Spiel zu Ende zu führen und zu sehen, wohin sie gingen.

Er hatte kaum diesen Entschluß gefaßt (obgleich er sich noch nicht lange damit trug), als er plötzlich wieder festgehalten wurde, wie dies durch die Stockung geschehen. Sie bogen kurz nach dem Adelphi ab – das Mädchen war offenbar die Führende – und schritten geradeaus, als ob sie nach der Terrasse gehen wollten, die über dem Flusse hängt.

Es tritt hier immer – bis heutigentags – eine plötzliche Pause in dem Geräusch der großen Straßen ein. Die wirren Klänge werden plötzlich so gedämpft, daß die Veränderung den Eindruck macht, als ob man Baumwolle in die Ohren steckte oder den Kopf dicht umwickelt hätte. Zu jener Zeit war der Kontrast noch weit größer; da noch keine kleinen Dampfboote auf dem Strom, noch keine Landungsplätze, sondern nur schlüpfrige, hölzerne Stufen und Fußdammwege, keine Eisenbahn auf dem gegenüberliegenden Ufer, keine Hängebrücke, kein Fischmarkt in der Nähe, kein Verkehr auf der nächsten steinernen Brücke war und noch kein Fahrzeug auf dem Strom als die Jollen der Fährleute und Kohlenauslader. Lange und breite schwarze Reihen der letzteren, fest im Schlamme liegend, als wenn sie sich nicht wieder bewegen sollten, machten das Ufer, wenn die Dunkelheit eingetreten war, traurig und still und hielten die geringe Bewegung des Wassers von dem Ufer ab und drängten sie nach der Mitte des Stroms. Sobald die Sonne untergegangen, namentlich sobald die meisten Leute, die zu Hause etwas zu essen haben, nach Hause gehen, um es zu essen, und die meisten von denen, die nichts haben, noch nicht fortgeschlichen sind, um zu betteln oder zu stehlen, war es ein öder Ort, der auf eine öde Szene sah.

Zu einer solchen Stunde war es, als Clennam an der Ecke stehenblieb und das Mädchen und den Fremden beobachtete, die die Straße hinabgingen. Die Schritte des Mannes auf den hallenden Steinen waren so geräuschvoll, daß er nicht Lust hatte, den Schall der seinen hinzuzufügen. Als sie jedoch an die Ecke gegangen und in der Dunkelheit der dunklen Ecke sich befanden, die zu der Terrasse führte, ging er in solch gleichgültiger Weise wie nur immer möglich, wie wenn er ein zufälliger Spaziergänger wäre, hinter ihnen drein.

Als er um die dunkle Ecke bog, schritten sie die Terrasse entlang auf eine Gestalt zu, die ihnen entgegenkam. Wenn er sie für sich, unter diesen Umständen von Gaslicht, Nebel und Entfernung gesehen, würde er sie wohl auf den ersten Blick nicht gekannt haben; aber da ihn die Gestalt des Mädchens auf die Spur führte, so erkannte er sogleich Miß Wade.

Er blieb an der Ecke stehen und sah erwartungsvoll in die Straße hinter sich, als wenn er jemand hierher bestellt hätte; aber er behielt die drei scharf im Auge. Als sie zusammenkamen, nahm der Mann seinen Hut ab und machte Miß Wade eine Verbeugung. Das Mädchen schien einige Worte zu sagen, als wenn sie ihn vorstellte oder Rechenschaft gäbe, warum er so spät oder so früh käme oder etwas dergleichen, und trat darauf einen oder zwei Schritte zurück. Miß Wade und der Mann begannen dann auf und nieder zu gehen; der Mann schien äußerst höflich und komplimentenreich zu sein; Miß Wade dagegen erschien außerordentlich stolz.

Als sie an die Ecke kamen und sich umwandten, sagte sie: »Wenn ich deshalb darbe, mein Herr, so ist das meine Sache. Beschränken Sie sich auf Ihre Sache, und fragen Sie mich nichts mehr.«

»Beim Himmel, Madame!« antwortete er und machte eine zweite Verbeugung. »Es war mein tiefer Respekt vor Ihrem Charakter und meine Bewunderung Ihrer Schönheit.«

»Ich verlange weder das eine noch das andere von irgend jemand«, sagte sie, »und sicher am wenigsten unter allen Geschöpfen von Ihnen. Fahren Sie fort mit Ihrem Bericht.«

»Verzeihen Sie mir?« fragte er mit der Miene halbbeschämter Galanterie.

»Sie sind bezahlt«, sagte sie, »und das ist alles, was Sie brauchen.«

Ob das Mädchen hinterdreinging, weil sie die Sache nicht hören sollte, oder weil sie bereits genug davon wußte, konnte Clennam nicht entscheiden. Sie kehrten um, und sie kehrte um. Sie sah auf den Fluß hinaus, während sie mit gefalteten Händen weiterging, und das war alles, was er von ihr sehen konnte, ohne sein Gesicht zu zeigen. Zufälliger- und glücklicherweise war wirklich ein Müßiggänger in der Nähe, der auf jemand wartete und bald über das Geländer in das Wasser sah, bald nach der dunklen Ecke kam, wodurch Arthur weniger beachtet wurde.

Als Miß Wade und der Mann wieder zurückkamen, sagte sie: »Sie müssen bis morgen warten.«

»Bitte tausendmal um Entschuldigung!« versetzte er. »Meiner Treu! So ist es also heute abend nicht mehr möglich?«

»Nein, ich sage Ihnen ja, daß ich es zuvor selbst haben muß, ehe ich es Ihnen geben kann.«

Sie blieb auf dem Wege stehen, als wollte sie der Verhandlung ein Ende machen. Er blieb natürlich gleichfalls stehen. Und das Mädchen blieb stehen.

»Es ist etwas unbequem«, sagte der Mann. »Etwas unbequem. Aber freilich, das will bei einem solchen Dienst nichts heißen. Ich bin zufällig heute abend ohne Geld. Ich habe einen guten Bankier in dieser Stadt, aber ich möchte nicht gern auf jenes Haus ziehen, bis die Zeit da ist, wo ich eine runde Summe ziehen kann.«

»Harriet«, sagte Miß Wade, »arrangieren Sie die Sache mit ihm – diesem Herrn hier –, daß wir ihm morgen einiges Geld schicken.« Sie sagte das Wort Herrn so flüchtig, daß es verächtlicher klang als jede Emphase, und ging langsam weiter.

Der Mann verbeugte sich wieder, und das Mädchen sprach mit ihm, während sie beide hinter ihr dreingingen. Clennam wagte es, das Mädchen anzusehen, als sie weggingen. Er konnte bemerken, daß ihre tiefen schwarzen Augen mit forschendem Ausdruck auf den Mann geheftet waren, und daß sie sich etwas entfernt von ihm hielt, als sie so nebeneinander nach dem andern Ende der Terrasse gingen.

Ein lauter und veränderter Schall auf dem Pflaster sagte ihm, ehe er unterscheiden konnte, was vorging, daß der Mann allein zurückkam. Clennam schlenderte in den Weg, nach dem Geländer; und der Mann ging rasch vorüber. Er hatte den Zipfel seines Mantels über seine Schulter geworfen und sang ein Stück aus einem französischen Liebe.

Die ganze Aussicht zeigte niemand mehr außer ihm. Der Müßiggänger war fortgeschlendert, und Miß Wade und Tattycoram waren weggegangen. Mehr als je begierig zu sehen, was aus ihnen würde, und um seinem guten Freund Mr. Meagles eine Mitteilung machen zu können, ging er nach dem andern Ende der Terrasse, während er vorsichtig nach allen Seiten sah. Er urteilte richtig, daß sie jedenfalls zuerst eine entgegengesetzte Richtung von ihrem letzten Begleiter einschlagen würden. Er sah sie bald in einer benachbarten Nebenstraße, die nicht befahren wurde, wo sie offenbar abwarten wollten, bis der Mann ihnen den Weg geräumt hatte. Sie gingen gemächlich Arm in Arm auf der einen Seite der Straße hinab und kehrten auf der andern Seite zurück. Als sie wieder an die Straßenecke kamen, vertauschten sie ihren Schritt mit dem von Leuten, die etwas zu tun und einen großen Weg zu machen haben, und schritten fest einher. Clennam behielt sie nicht minder fest im Auge. Sie gingen über den Strand und durch Covent Garden (unter den Fenstern seiner alten Wohnung vorüber, wo die liebe Klein-Dorrit in jener Nacht ihn besucht hatte) und nahmen die Richtung nach Nordost, bis sie an dem großen Gebäude vorüberkamen, dem Tattycoram ihren Namen verdankte, und in Grays Inn Road einbogen. Hier war Clennam ganz zu Hause, durch Flora nämlich, des Patriarchen und Pancks nicht zu gedenken, und konnte sie bequem im Auge behalten. Er fing an neugierig zu werden, wohin sie wohl zunächst gehen würden, als sich diese Neugier in das noch größere Staunen auflöste, sie in die Patriarchenstraße einbiegen zu sehen. Dieses Erstaunen wich seinerseits wieder dem noch größern Staunen, mit dem er sie vor der Patriarchentür halten sah. Ein leises zweimaliges Pochen mit dem glänzenden messingnen Klopfer, ein Lichtstrahl, der aus der geöffneten Tür auf die Straße fiel, eine kurze Pause zu Frage und Antwort, und die Tür ward geschlossen, und sie befanden sich in dem Hause.

Nachdem er auf die Umgebung einen Blick geworfen, um sich zu versichern, daß das kein wunderlicher Traum sei, und nachdem er einige Zeit vor dem Hause auf und ab gegangen, pochte Arthur an die Tür. Sie wurde durch die gewöhnliche weibliche Dienerin geöffnet, die ihn mit der gewöhnlichen Behendigkeit nach dem Wohnzimmer Floras führte.

Es war niemand bei Flora als Mr. Finchings Tante, welche ehrwürdige Dame, in der balsamischen Atmosphäre von Tee und geröstetem Brot schwelgend, in einen bequemen Stuhl am Kamin verschanzt war, indes ein kleiner Tisch neben ihr stand und ein reines weißes Taschentuch über ihren Schoß gebreitet war, auf dem zwei Scheiben gerösteten Brotes in diesem Augenblick zum Verzehrtwerden bereitlagen. Über einen dampfenden Teekessel herabgebeugt und durch den Dampf schauend und den Dampf ausatmend wie eine böse chinesische Zauberin, die ihren gottlosen Ritus verrichtet, stellte Mr. Finchings Tante ihre große Tasse weg und rief: »Daß ihn doch, da ist er schon wieder!«

Es könnte nach dem vorhergehenden Ausruf scheinen, als wenn diese unnachgiebige Verwandte des vielbeweinten Mr. Finching, die die Zeit nach der Lebhaftigkeit ihrer Gefühle, nicht nach der Uhr bemaß, angenommen hätte, Clennam sei erst kürzlich weggegangen; während wenigstens ein Vierteljahr verflossen war, seitdem er die Verwegenheit besessen, vor ihr zu erscheinen.

»Ei, du meine Güte, Arthur!« rief Flora, indem sie aufstand, um ihn herzlich zu bewillkommnen. »Doyce und Clennam, welch eine große Überraschung, denn obgleich nicht weit von der Maschinenwerkstätte und der Gießerei und sicherlich kann man es bisweilen genießen, wenn auch zu keiner andern Zeit so doch um Mittag, wo ein Glas Xeres und eine bescheidene Butterschnitte mit etwas kaltem Braten, der gerade noch in der Speisekammer ist, nicht zu verachten ist und nicht schlechter schmeckt weil es die Freundschaft bietet denn Sie wissen kaufen muß man’s wo und wo man’s kauft muß immer ein Profit dabei sein, sonst würden sie das Geschäft nicht betreiben das versteht sich von selbst obgleich niemals gesehen und doch jetzt gelernt nicht zu erwarten denn wie Mr. Finching selbst sagte wenn Sehen Glauben ist so ist Nichtsehen auch Glauben und wenn man nicht sieht so kann man überzeugt sein man erinnere sich unsrer nicht, nicht daß ich erwarte Sie Arthur Doyce und Clennam sollen an mich denken warum sollt‘ ich auch, denn die Zeiten sind vorüber bringe gleich noch eine andre Tasse und sorge auch für frischen Toast und bitte setzen Sie sich hier ans Feuer.«

Arthur lag sehr viel daran, den Grund seines Besuchs auseinanderzusetzen; aber wider seinen Willen hielt ihn der vorwurfsvolle Inhalt dieser Worte, soviel er davon verstand, und die aufrichtige Freude, die sie bei seinem Anblick zeigte, für den Augenblick davon zurück.

»Und jetzt bitte ich, erzählen Sie mir etwas, alles was Sie wissen«, sagte Flora, indem sie ihren Stuhl dicht neben den seinen rückte, »von dem guten, lieben, stillen kleinen Ding und alle ihre Schicksalswechsel; haben jetzt ohne Zweifel Wagen und Pferde ohne Zahl die Leute sehr romantisch ein Wappen natürlich und wilde Bestien auf den Hinterfüßen welche es zeigen als wär’s ein Bild das sie gemacht mit Mäulern von einem Ohr zum andern o du mein Himmel und ist sie gesund was doch das Erste und Wichtigste ist denn was ist Reichtum ohne Gesundheit wie Mr. Finching selbst so oft sagte wenn seine Gicht kam daß sechs Pence des Tages und sie selbst erwerben und keine Gicht weiter vorzuziehen wäre; nicht daß er von einer solchen Summe hätte leben können dazu wäre er der Letzte gewesen oder auch nur dieses kostbare kleine Ding obgleich das jetzt ein viel zu vertraulicher Ausdruck ist eine Neigung dazu gehabt sie war viel zu hart und klein dazu aber sie sah so schwächlich aus, Gott segne sie!«

Mr. Finchings Tante, die ein Stück Toast bis auf die Rinde gegessen, überreichte nun feierlich die Rinde Flora, die sie für sie aß, gewissermaßen als eine Art von Geschäft. Mr. Finchings Tante leckte dann ihre Finger langsam hintereinander an ihren Lippen und wischte sie genau in derselben Ordnung an dem weißen Taschentuch ab; dann nahm sie das andere Stück Toast und fing an, es zu verzehren. Während sie diese Sache auf ihre gewohnte Weise besorgte, sah sie Clennam mit so fürchterlicher Strenge an, daß er sich gegen seine persönliche Neigung gezwungen fühlte, sie ebenfalls anzusehen.

»Sie ist in Italien mit ihrer ganzen Familie, Flora«, sagte er, als die schreckliche Dame wieder mit Essen beschäftigt war.

»In Italien ist sie, wirklich?« sagte Flora, »wo die Tauben und Feigen überall wachsen und auch Lava- Hals- und Armbänder in dem poetischen Lande mit feuerspeienden Bergen über die Maßen malerisch obgleich man sich nicht wundern kann daß die Drehorgeljungen aus der Nachbarschaft dieser Berge weggehen um nicht zu verbrennen da sie noch so jung sind und ihre weißen Mäuse mit sich bringen und ist sie wirklich in diesem herrlichen Lande mit ewig blauem Horizont und sterbenden Gladiatoren und Belvederes obgleich Mr. Finching selbst nicht daran glaubte denn er sagte dagegen wenn er guter Laune war daß die Bilder nicht wahr sein könnten da gar keine Mittelstufe zwischen kostspieligen Massen von schlecht geglättetem ganz verkrümpeltem Leinenzeug und gar keinem wäre was sicher nicht wahrscheinlich ist obgleich vielleicht eine Folge der schroffen Gegensätze von reich und arm was die Sache erklären könnte.«

Arthur suchte ein Wort einzuschieben, aber Flora fuhr hastig fort:

»Auch das frisch erhaltene Venedig«, sagte sie, »ich glaube Sie waren dort ist es schlecht oder gut erhalten denn die Leute sind gar verschiedener Ansicht und Makkaroni wenn sie solche wirklich wie Taschenspieler essen warum schneidet man sie nicht kürzer Arthur – Doyce, denn ich habe nicht das Vergnügen aber bitte entschuldigen lieber Doyce und Clennam wenigstens nicht lieb und sicherlich nicht Sie mich – Sie kennen ja glaube ich Mantua was hat das mit Mantuamachen zu tun, ich konnte das nie herausbringen.«

»Ich glaube, sie haben nichts miteinander zu tun, Flora, diese beiden Dinge«, begann Arthur, als sie ihn abermals unterbrach.

»Auf Ihr Wort, also wirklich nicht ich glaubt‘ es auch nie aber das sieht mir gleich ich laufe mit einem Gedanken davon und da ich keinen übrig habe, behalte ich ihn. Ach es gab eine Zeit lieber Arthur ich sollte eigentlich entschieden nicht lieber sagen auch nicht Arthur aber Sie verstehen mich wenn ein schöner Gedanke den wie heißt es nur Horizont vergoldet und so weiter aber es ist jetzt dunkel umwölkt und alles ist vorbei.«

Arthurs sich steigernder Wunsch von etwas ganz anderem zu sprechen, stand indessen so deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, daß Flora mit einem zärtlichen Blick innehielt und ihn fragte, was er auf dem Herzen habe?

»Ich hege den lebhaftesten Wunsch, Flora, jemand zu sprechen, der in diesem Hause ist – ohne Zweifel bei Mr. Casby. Jemanden, den ich eintreten sah und der irregeleitet auf sehr bedauerliche Weise das Haus einer meiner Freunde verlassen hat.«

»Papa sieht so viele und so seltsame Leute«, sagte Flora aufstehend, »daß ich nicht wagen würde hinunterzugehen Arthur außer für Sie. Ihretwegen würde ich willig in eine Taucherglocke gehen, um soviel lieber in ein Speisezimmer und werde augenblicklich zurück sein, wenn Sie während ich fort bin, auf Mr. Finchings Tante achten oder auch nicht achten wollen.«

Mit diesen Worten und einem Blick zum Abschied eilte Flora hinaus, während sie Clennam unter schrecklichen Besorgnissen wegen seiner furchtbaren Aufgabe zurückließ.

Die erste Veränderung, die sich in Mr. Finchings Tante bemerklich machte, als sie ihr Stück Toast gegessen hatte, war ein lautes und langes Schnauben. Da er diese Demonstration nicht anders denn als eine Herausforderung zu deuten imstande war, weil der finstere Ton nicht mißverstanden werden konnte, so sah Clennam die vortreffliche, obgleich vorurteilsvolle Dame, von der die Herausforderung ausging, flehend an, in der Hoffnung, daß sie durch Demut und Unterwerfung entwaffnet würde.

»Richten Sie Ihre Augen nicht so auf mich«, sagte Mr. Finchings Tante vor Feindseligkeit zitternd. »Nehmen Sie das!«

»Das« war die Kruste von dem Stück Toast. Clennam nahm die Gabe mit einem Blick voll Dankbarkeit und hielt sie mit einiger Verlegenheit in der Hand: diese Verlegenheit wurde nicht geringer, als Mr. Finchings Tante, ihre Stimme zu einem Schrei von beträchtlicher Kraft erhebend, ausrief: »Er hat einen stolzen Magen, der Laffe! Er ist zu stolz, es zu essen!« Und aus ihrem Stuhl sich erhebend, schüttelte sie ihre ehrwürdige Faust so dicht vor seiner Nase, daß es ihm an der Spitze kitzelte. Ohne die rechtzeitige Rückkehr Floras, die ihn in dieser schwierigen Lage fand, wären weitere Folgen nicht zu vermeiden gewesen. Flora führte, ohne im mindesten außer Fassung zu geraten oder zu staunen, sondern im Gegenteil die alte Dame beifällig beglückwünschend, daß sie »heute abend so lebhaft sei«, dieselbe in ihren Stuhl zurück.

»Er hat einen stolzen Magen, der Laffe«, sagte Mr. Finchings Verwandte, als man sie wieder zum Sitzen brachte. »Gib ihm eine Schüssel Häcksel!«

»Oh! ich glaube nicht, daß er das schmackhaft fände, Tante«, versetzte Flora.

»Gib ihm eine Schüssel Häcksel, sage ich dir«, versetzte Mr. Finchings Tante und sah um Flora herum nach ihrem Feinde, »’s ist das einzige für einen stolzen Magen. Laß ihm Bissen um Bissen aufessen. Dem verwünschten Laffen gib eine Schüssel Häcksel!«

Unter einem allgemeinen Vorwande, ihm diese Erfrischung zukommen zu lassen, brachte ihn Flora hinaus bis an die Treppe. Mr. Finchings Tante, die auch da noch mit unaussprechlicher Bitterkeit wiederholte, daß er »ein Laffe« sei und »einen stolzen Magen« habe, bestand immer wieder daraus, daß man ihm diese Stallfütterung bereite, die sie bereits so streng vorgeschrieben hatte.

»Eine so unbequeme Treppe und so viele Eckstufen, Arthur«, flüsterte Flora, »würden Sie etwas dawider haben, mir Ihren Arm unter meiner Pelerine zu geben?«

Mit dem Gefühl in einer ungemein lächerlichen Weise die Treppe hinabzugehen, nahm Clennam die gewünschte Haltung an und ließ seine schöne Last erst am Speisezimmer los; und auch hier war dies ziemlich schwierig, denn sie blieb in seinen Armen, um ihm zuzuflüstern: »Arthur, ums Himmels Willen nur dem Papa kein Sterbenswort davon!«

Sie begleitete Arthur in das Zimmer, wo der Patriarch allein saß, mit den Litzenschuhen auf dem Kamingitter und die Daumen umeinander drehend, als ob er niemals aufgehört, dies zu tun. Der jugendliche Patriarch, zehn Jahre alt, sah aus dem Rahmen über ihm kaum mit einer ruhigeren Miene als er selbst herab. Beide glatten Köpfe waren gleich strahlend, faselhausig und hohl.

»Mr. Clennam, ich freue mich, Sie zu sehen. Ich hoffe. Sie befinden sich wohl, Sir, ich hoffe. Sie befinden sich wohl. Bitte, setzen Sie sich, bitte setzen Sie sich.«

»Ich hatte gehofft, Sir«, sagte Clennam, indem er einen Stuhl nahm und sich sehr enttäuscht umsah, »ich hatte gehofft. Sie nicht allein zu finden.«

»Ah, so?« sagte der Patriarch gütig. »Ah, wirklich?«

»Ich sagte es Ihnen ja, Papa, Sie wissen«, rief Flora.

»Ach richtig!« versetzte der Patriarch. »Ja, ja. Ach, gewiß.«

»Bitte, Sir«, fragte Clennam dringend, »ist Miß Wade wieder fort?«

»Miß –? O, Sie nennen sie Miß Wade«, versetzte Mr. Casby. »Ganz hübsch das.«

Arthur entgegnete rasch: »Wie nennen Sie sie?«

»Wade«, sagte Mr. Casby. »O, immer Wade.«

Nachdem Arthur ein paar Sekunden das philanthropische Gesicht und das lange seidene weiße Haar betrachtet, während welcher Zeit Mr. Casby seine Daumen umeinander drehte und in das Feuer lächelte, als wenn er wohlwollend wünschte, es möchte ihn brennen, damit er ihm verzeihen könnte, begann er:

»Ich bitte um Vergebung, Mr. Casby –«

»Keine Ursache, keine Ursache«, sagte der Patriarch, »keine Ursache.« »– aber Miß Wade hatte eine Begleiterin bei sich, ein junges, von mir befreundeten Menschen erzogenes Mädchen, auf das sie einen Einfluß ausübt, der nicht als sehr heilsam betrachtet werden kann, und der ich so gern mitzuteilen die Gelegenheit haben möchte, daß sie das Interesse dieser Beschützer noch nicht verwirkt hat.«

»Wirklich, wirklich?« versetzte der Patriarch.

»Wollen Sie deshalb so freundlich sein und mir die Adresse von Miß Wade geben?«

»Ei, du meine Güte!« sagte der Patriarch, »wie schade! Wenn Sie nur zu mir geschickt hätten, als sie noch da waren! Ich bemerkte das junge Mädchen wohl, Mr. Clennam. Ein feines, vollblühendes junges Mädchen, Mr. Clennam, mit sehr dunklem Haar und sehr dunklen Augen, wenn ich mich nicht täusche, wenn ich mich nicht täusche?«

Arthur stimmte zu und sagte noch einmal mit neuem Nachdruck: »Wenn Sie so gut sein wollten und mir die Adresse geben!«

»Ei, du meine Güte!« rief der Patriarch mit holdem Bedauern »Hm, hm, hm! Wie schade, wie schade! Ich habe keine Adresse, Sir. Miß Wade lebt meist im Auslande, Mr. Clennam. Das tut sie seit mehreren Jahren und ist (wenn ich so von einem Mitmenschen und einer Dame sprechen darf) launisch und unzuverlässig, Mr. Clennam. Ich werde sie wohl lange, lange nicht wiedersehen. Wie schade, wie schade!«

Clennam sah nun, daß er aus dem Porträt ebensoviel herausbekommen könnte als aus dem Patriarchen; aber er sagte nichtsdestoweniger:

»Mr. Casby, könnten Sie mir zur Beruhigung der Freunde, die ich erwähnte, und unter der Versicherung der Verschwiegenheit die Sie mir aufzuerlegen belieben, irgend etwas über Miß Wade mitteilen? Ich habe sie im Auslande gesehen und habe sie in der Heimat gesehen, aber ich weiß nichts von ihr. Können Sie mir irgendwelche Auskunft über sie geben?«

»Nein«, versetzte der Patriarch, indem er seinen dicken Kopf mit dem größten Wohlwollen schüttelte. »Durchaus nicht. Ei du meine Güte! Wie ist das zu bedauern, daß sie so kurz hier blieb und Sie nicht früher kamen! Als vertrauter Agent, als Agent habe ich dieser Dame zuweilen Geld ausbezahlt; aber was nützt es, wenn Sie das wissen.«

»Allerdings nicht das mindeste«, sagte Clennam.

»Ganz gewiß«, stimmte der Patriarch mit leuchtendem Antlitz bei, während er philanthropisch das Feuer anlächelte, »durchaus nichts, Sir. Sie haben die klügste Antwort gefunden, Mr. Clennam. Wahrhaftig nicht das geringste, Sir.«

Das Drehen der glatten Daumen umeinander, wie er so dasaß, war Clennam so typisch für die Art und Weise, wie er die Sache drehen und wenden würde, wenn man sie weiter verfolgte, ohne daß eine neue Seite zum Vorschein käme oder er den kleinsten Schritt weiter rückte, daß es viel dazu beitrug, ihn zu überzeugen, seine Bemühungen seien fruchtlos. Er hätte sich Zeit zum Nachdenken darüber nehmen können, soviel er gewollt, denn Mr. Casby, der daran gewöhnt war, daß ihm alles trefflich vonstatten ging, da er es seiner geschwollenen Stirn und seinem weißen Haar überließ, wußte, daß seine Stärke im Schweigen lag. Casby saß deshalb drehend und drehend da und ließ reiches Wohlwollen aus jeder Erhöhung seines glatten Kopfes und seiner glatten Stirn strahlen.

Mit diesem Schauspiel vor sich war Arthur aufgestanden, um zu gehen, als aus dem innern Dock, wo das gute Schiff Pancks vor Anker lag, wenn es auf keiner Kreuzfahrt abwesend war, das Geräusch dieses gegen sie heranführenden Dampfboots vernehmbar wurde. Es fiel Arthur auf, daß das Geräusch absichtlich schon in der Ferne begann, als wenn Mr. Pancks jedem, der darüber nachzudenken Lust hätte, den Eindruck machen möchte, er habe sein Arbeiten schon außer dem Hörbereich begonnen.

Mr. Pancks und er schüttelten sich die Hände, und der erstere brachte seinem Prinzipal einen oder zwei Briefe zum Unterzeichnen. Beim Händeschütteln kratzte Mr. Pancks seine Augenbraue bloß mit dem linken Zeigefinger und schnaubte einmal, aber Clennam, der ihn jetzt besser als früher verstand, begriff, daß er für den Abend so ziemlich fertig sei und ein Wort draußen mit ihm zu sprechen wünsche. Als er deshalb von Mr. Casby und von Flora (was eine etwas schwierige Prozedur war) Abschied genommen hatte, schlenderte er in der Nachbarschaft auf dem Wege umher, den Mr. Pancks einschlagen mußte.

Er hatte nur kurze Zeit gewartet, als Mr. Pancks erschien. Da Mr. Pancks ihm mit einem weiteren ausdrucksvollen Schnauben die Hände schüttelte und seinen Hut abnahm, um sein Haar in die Höhe zu streichen, glaubte Arthur darin einen Fingerzeig sehen zu müssen, daß er mit ihm als mit jemandem spreche, der ganz gut wisse, was soeben vorgegangen. Deshalb fragte er ohne Vorrede: »Ich vermute, sie waren wirklich fort, Pancks?« »Ja«, antwortete Pancks. »Sie waren wirklich fort.« »Weiß er, wo die Dame zu finden ist?« »Ich kann es nicht sagen. Ich glaube aber ja.« Mr. Pancks wüßte es nicht? Nein, Mr. Pancks wüßte es nicht. Wüßte Mr. Pancks sonst etwas von ihnen?

»Ich glaube, ich weiß so viel von ihr«, versetzte dieser würdige Mann, »als sie selbst von sich weiß. Sie ist jemandes – jedermanns – niemandes Kind. Man bringe sie in ein Zimmer in London, wo die ersten besten sechs Leute sich befinden, die alt genug sind, um ihre Eltern sein zu können, und sie kann nicht wissen, ob ihre Eltern darunter sind. Sie können in dem ersten besten Hause sein, das sie sieht, sie können auf jedem Kirchhofe liegen, an dem sie vorüberkommt, sie kann in jeder Straße auf sie stoßen, sie kann zu jeder beliebigen Zeit Bekanntschaft mit ihnen machen und es doch nicht wissen. Sie weiß nichts von ihnen. Sie weiß überhaupt von keinem Verwandten etwas. Wußte nie etwas von ihnen. Wird nie etwas von ihnen erfahren.«

»Mr. Casby könnte ihr vielleicht Aufklärung geben.«

»Wohl möglich«, sagte Pancks. »Ich vermute es, aber ich weiß es nicht. Er hatte seit langer Zeit Geld (nicht besonders viel, wie ich herausbrachte) in seiner Verwahrung, um es ihr auszubezahlen, wenn sie es durchaus nötig brauchte. Manchmal ist sie stolz und will oft lange Zeit nichts davon: manchmal ist sie so arm, daß sie welches haben muß. Sie ringt mit ihrem Leben. Es hat noch nie ein zornigeres, leidenschaftlicheres, sorgloseres und rachsüchtigeres Weib gelebt. Sie kam heute abend, um Geld zu holen. Sagte, sie brauchte es zu einem besonderen Zweck.«

»Ich glaube«, bemerkte Clennam sinnend, »ich weiß zufälligerweise zu welchem Zweck, – ich meine, in wessen Tasche das Geld fließt.«

»Wirklich?« sagte Pancks. »Wenn’s ein Kontrakt ist, so möchte ich dem betreffenden empfehlen, pünktlich zu sein. Ich möchte mich diesem Weib, so jung und schön es ist, nicht anvertrauen, wenn ich ihm unrecht getan; nein, nicht für das doppelte Geld meines Eigentums. Es sei denn«, fügte Pancks als Klausel hinzu, »ich hätte eine schleichende Krankheit und wollte dieselbe los sein.«

Bei einer flüchtigen Vergleichung seiner eigenen Beobachtung fand er diese mit Mr. Pancks‘ Ansicht so ziemlich übereinstimmend.

»Was mich wundert«, fuhr Pancks fort, »ist, daß sie meinen Prinzipal noch nicht beiseite geschafft hat, als die einzige Person, die mit ihrer Geschichte in Bezug steht, und deren sie habhaft werden kann. Da ich dies erwähne, so muß ich Ihnen unter uns sagen, daß ich bisweilen in Versuchung gerate, es zu tun.«

Arthur erschrak und sagte: »Mein Gott, Pancks, sagen Sie das nicht.«

»Verstehen Sie mich recht«, sagte Pancks, indem er fünf schmutzige, kohlige Fingernägel vor Arthurs Augen ausbreitete: »ich meine nicht, daß ich ihm den Hals abschneiden wolle. Aber bei allem, was uns teuer, wenn er zu weit geht, werde ich ihm das Haar abschneiden.«

Nachdem sich Mr. Pancks in dem neuen Licht dieser furchtbaren Drohung gezeigt, schnaubte er verschiedene Male mit einer vielbedeutenden Miene und dampfte weg.

Zweiunddreißigstes Kapitel.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Zum Ende!

Da Arthur beständig noch sehr krank im Marschallgefängnis lag und Mr. Rugg noch keine hellere Stelle an dem juristischen Himmel entdeckte, aus dem ein Hoffnungsstrahl für seine Befreiung dringen konnte, litt Mr. Pancks verzweiflungsvoll unter den Vorwürfen, die er sich selbst machte. Wenn die unfehlbaren Zahlen nicht gewesen wären, die bewiesen, daß Arthur, statt sich im Gefängnis abzuhärmen, in einem Wagen mit zwei Pferden fahren, und daß Mr. Pancks, statt auf seine Buchhalterbesoldung angewiesen zu sein, drei- bis fünftausend Pfund eigenes Vermögen besitzen sollte, das ihm zur freien Verfügung stünde, der unglückliche Arithmetiker hätte sich in sein Bett gelegt und würde dort eine der vielen unbedeutenden Persönlichkeiten abgegeben haben, die ihr Gesicht der Wand zukehrten und starben, als letztes Opfer für die Größe des geschiedenen Mr. Merdle. Nur durch die unbestreitbaren Berechnungen gehoben, führte Mr. Pancks ein unglückliches und ruheloses Leben; denn er trug beständig seine Zahlen mit sich im Hut umher und rechnete sie nicht allein selbst bei jeder Gelegenheit durch, sondern zwang auch jedes andere menschliche Wesen, dessen er habhaft werden konnte, sie mit ihm durchzurechnen und sich zu überzeugen, wie klar der Fall sei. Drunten im Hof zum blutenden Herzen war kaum ein Insasse von nur einiger Bedeutung, dem Mr. Pancks nicht seinen Beweis vorgeführt hatte, und da Ziffern ansteckend sind, so brachen an diesem Ort eine Art Ziffermasern aus, unter deren Einfluß der ganze Hof verrückt wurde.

Je ruheloser Mr. Pancks im Geiste wurde, desto ungeduldiger wurde er auch dem Patriarchen gegenüber. In ihren jüngsten Geschäftsunterredungen nahm sein Schnauben einen gereizten Ausdruck an, der den Patriarchen nichts Gutes ahnen ließ; auch hatte Mr. Pancks bei verschiedenen Gelegenheiten die patriarchalischen Beulen näher angesehen, als sich mit der Tatsache vereinigen ließ, daß er weder Maler, noch Perückenmacher war, der nach einem lebenden Modell sucht.

Er dampfte jedoch in seinem kleinen hintern Dock aus und ein, je nachdem der Patriarch seiner bedurfte oder nicht bedurfte, und das Geschäft ging seinen gewohnten Gang. Der Hof zum blutenden Herzen wurde zu den bestimmten Zeiten von Mr. Pancks gepflügt und von Mr. Casby abgemäht: Mr. Pancks hatte alle Plackerei und allen Schmutz des Geschäfts auf sich genommen, Mr. Casby dagegen allen Nutzen, allen ätherischen Duft und allen Mondschein für sich; und wenn man den Worten trauen durfte, deren dieser wohlwollende, glänzende Kopf an den Samstagabenden sich bediente, wenn er seine fetten Daumen umeinanderdrehte, nachdem er die Balance der Woche gemacht hatte, war »alles für alle Teile befriedigend – befriedigend für alle Teile.«

Das Dock des Schleppdampfers Pancks hatte ein bleiernes Dach, das, in dem heißen Sonnenschein glühend, das Schiff geheizt haben mochte. Sei dem, wie ihm wolle, an einem glühenden Samstagabend kam das Schleppboot, von dem schwankenden flaschengrünen Schiff gefolgt, augenblicklich in einem sehr erhitzten Zustand aus dem Dock herausgedampft.

»Mr. Pancks«, lautete die Bemerkung des Patriarchen, »Sie sind Ihren Pflichten sehr schlecht nachgekommen, sehr schlecht nachgekommen, Sir.«

»Was meinen Sie damit?« war die kurze Erwiderung.

Der Zustand des Patriarchen, immer ein Zustand der Ruhe und Fassung, war diesen Abend so besonders ruhig, daß er etwas Herausforderndes hatte. Alle andern Leute, die auf der Liste der Sterblichen standen, waren heiß; aber dem Patriarchen war es vollständig kühl, jedermann war durstig, und der Patriarch trank. Er war in einen Wohlgeruch von Limonen gehüllt: er hatte sich ein Getränk von goldenem Sherry gebraut, das in einem großen Glase glänzte, als wenn er den Abendsonnenschein tränke. Das war schlimm, aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, daß er mit seinen großen blauen Augen und seinem polierten Kopf, seinem langen weißen Haar und seinen flaschengrünen, geradeausgestreckten Beinen, die in bequemen und bequem über dem Rist gekreuzten Schuhen endigten, ein so strahlendes Aussehen hatte, als wenn er in seinem unendlichen Wohlwollen für das ganze Menschengeschlecht den Trank gemacht, während er für sich nichts brauchte als die eigne Milch der Menschenliebe.

Deshalb sagte Mr. Pancks: »Was meinen Sie damit?« und strich in höchst unheilverkündender Weise sein Haar mit beiden Händen in die Höhe.

»Ich meine, Mr. Pancks, Sie sollten schärfer gegen die Leute verfahren, schärfer gegen die Leute verfahren, viel schärfer gegen die Leute verfahren, Sir. Sie drängen sie nicht. Ihre Einnahmen erreichen das Soll nicht. Sie müssen sie pressen, Sir, oder unsere Verbindung wird nicht länger so befriedigend für alle Teile sein, wie ich wünschen möchte. Nicht so befriedigend für alle Teile.«

»Presse ich sie etwa nicht?« versetzte Mr. Pancks. »Wozu bin ich denn sonst da?«

»Sie sind zu nichts anderem da, Mr. Pancks. Sie sind dazu da, Ihre Pflicht zu tun, aber Sie tun Ihre Pflicht nicht. Sie sind dafür bezahlt, zu pressen, und Sie müssen pressen, um bezahlt zu werden.« Der Patriarch war so überrascht über dieses glänzende Wortspiel nach Doktor Johnson, das er nicht im mindesten erwartet noch beabsichtigt, daß er laut lachte und mit großer Selbstgefälligkeit, während er seine Daumen umeinanderdrehte und seinem jugendlichen Porträt zunickte, das Wortspiel: »Bezahlt, zu pressen, Sir, und müssen pressen, um bezahlt zu werden«, wiederholte.

»Oh!« sagte Pancks. »Nichts weiter?« »Doch, Sir, doch, Sir. Noch etwas. Sie werden gefälligst den Hof noch einmal pressen; das erste, was sie Montag früh tun, Mr. Pancks.«

»Oh!« sagte Pancks. »Sollte das nicht zu früh sein? Ich habe ihn heute völlig ausgepreßt.«

»Possen, mein Herr. Nicht soweit, wie die Leute schuldig sind.«

»Oh!« sagte Pancks, indem er ihn betrachtete, wie er wohlwollend einen tüchtigen Schluck seiner Mixtur trank. »Nichts weiter?«

»Doch, Sir, doch, Sir. Noch etwas. Ich bin durchaus nicht zufrieden mit meiner Tochter, Mr. Pancks; durchaus nicht zufrieden. Sie geht viel zu oft, um sich nach Mrs. Clennam zu erkundigen, Mrs. Clennam, die sich jetzt nicht gerade in den Umständen befindet, die man irgendwie zu den – zu den für alle Teile befriedigenden zählen kann; sie fragt sogar, wenn ich nicht falsch unterrichtet bin, im Gefängnis nach Mr. Clennam. Denken Sie sich, Mr. Pancks, im Gefängnis.«

»Er muß, wie Sie wissen, das Zimmer hüten«, sagte Pancks. »Vielleicht ist es sehr wohltuend.«

»Pah, pah, Mr. Pancks. Sie hat nichts damit zu schaffen, nichts damit zu schaffen. Ich kann es nicht dulden. Er soll seine Schulden bezahlen und herauskommen, herauskommen; seine Schulden bezahlen und herauskommen.«

Obgleich Mr. Pancks‘ Haar wie starker Draht emporstand, gab er ihm doch noch einen Strich in der Schwungrichtung und lächelte seinen Patron in äußerst häßlicher Weise an.

»Sie werden gefälligst meine Tochter wissen lassen, Mr. Pancks, daß ich es nicht dulden kann, nicht dulden kann«, sagte der Patriarch in sanftem Tone.

»Oh!« sagte Pancks. »Könnten Sie es ihr nicht selbst mitteilen?«

»Nein, Sir, nein; Sie sind dafür bezahlt, es ihr mitzuteilen« – der läppische alte Einfaltspinsel konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch einmal ein Wortspiel anzubringen, – »und Sie müssen es ihr mitteilen, um bezahlt zu werden, mitteilen, um bezahlt zu werden!«

»Oh!« sagte Pancks. »Nichts weiter?«

»Doch, Sir. Es scheint mir, Mr. Pancks, als ob Sie selbst zu oft und zuviel in jener Richtung, in jener Richtung sich bewegten. Ich empfehle Ihnen, Mr. Pancks, sowohl Ihre eigenen Verluste als die Verluste anderer sich aus dem Sinn zu schlagen und an Ihr Geschäft zu denken, an Ihr Geschäft zu denken.«

Mr. Pancks erkannte diese Empfehlung an mit einer so außerordentlich abgerissenen, kurzen und lauten Äußerung der einen Silbe »Oh!«, daß sogar der schwerfällige Patriarch seine blauen Augen in einer gewissen Hast nach ihm wandte, um ihn anzusehen. Mr. Pancks fügte dann mit einem Schnauben von entsprechender Kraft hinzu: »Nichts weiter?«

»Im Augenblicke nichts, im Augenblicke nichts. Ich will einen kleinen Gang machen, einen kleinen Gang machen«, sagte der Patriarch, indem er austrank und mit liebenswürdiger Miene aufstand, »vielleicht finde ich Sie hier, wenn ich zurückkomme. Wenn nicht, Sir, Pflicht, Pflicht; pressen, pressen, pressen am Montag; pressen am Montag!«

Nachdem Mr. Pancks noch einmal sein Haar in die Höhe gestrichen, sah er, wie der Patriarch seinen breitkrempigen Hut nahm, und schien einen Augenblick unentschlossen mit dem Gefühl widerfahrener Kränkung zu kämpfen. Es war ihm auch heißer als anfangs, und er atmete schwerer. Aber er ließ Mr. Casby weggehen, ohne daß er eine weitere Bemerkung gemacht, und sah ihm dann über die kleinen grünen Fensterblenden nach. »Ich dachte mir’s«, sagte er. »Ich wußte, Sie würden dahin gehen. Gut!« Dann dampfte er nach seinem Dock zurück, brachte es sorgfältig in Ordnung, nahm seinen Hut, sah sich in dem Dock um, sagte: »Gute Nacht!« und stieß auf eigene Rechnung ab. Er steuerte gerade auf Mrs. Plornishs Ende im Hof zum blutenden Herzen zu und kam erhitzter denn je oben an der Treppe an.

Oben auf der Treppe blieb Mr. Pancks, nachdem er die Aufforderungen von Mrs. Plornish, einzutreten und mit ihrem Vater in der »Glückshütte« zu plaudern, abgelehnt hatte – Aufforderungen, die zu seiner Beruhigung nicht so zahlreich waren, als sie es an jedem andern Abend denn Samstagabend gewesen wären, wo die Kunden, die das Geschäft so freundlich mit allem außer Geld unterstützten, ungemein freigebig mit ihren Bestellungen waren – oben an der Treppe blieb Mr. Pancks, bis er den Patriarchen, der immer von der andern Seite in den Hof kam, langsam, strahlend und von Bittstellern umgeben näher kommen sah, Dann ging Mr. Pancks hinab und steuerte mit äußerster Dampfkraft auf ihn zu.

Der Patriarch, der mit seinem gewöhnlichen Wohlwollen durch den Hof schritt, war erstaunt, Mr. Pancks zu sehen, glaubte jedoch, er habe sich zu einem sofortigen Pressen angeregt gesehen und wolle es nicht bis zum Montag verschieben. Die Bewohner des Hofes waren erstaunt über dieses Zusammentreffen, denn die beiden Mächte waren, soweit die Erinnerung der ältesten »blutenden Herzen« reichte, nie hier zusammen, gesehen worden. Aber das unaussprechlichste Staunen erfaßte sie, als Mr. Pancks, rasch auf den verehrungswürdigsten der Menschen zugehend, dicht vor der flaschengrünen Weste stehenblieb, aus seinem rechten Daumen und Zeigefinger einen Drücker machte, denselben an die Krempe des breitkrempigen Hutes setzte und mit besonderer Kraft und Präzision ihn von seinem polierten Kopfe herabschnellte, als wäre er eine große Schnellkugel.

Nachdem er sich diese kleine Freiheit mit der Person des Patriarchen erlaubt, machte Mr. Pancks die blutenden Herzen weiter staunen und näher treten, indem er mit vernehmlicher Stimme sagte: »Nun, Sie zuckersüßer Schwindler, denke ich mit Ihnen ein- für allemal abzurechnen!« Mr. Pancks und der Patriarch waren augenblicklich der Mittelpunkt eines Gedränges das ganz Ohr und Auge; Fenster wurden aufgerissen, und auf den Türschwellen standen die Leute dicht geschart.

»Was maßen Sie sich denn an?« sagte Mr. Pancks. »Was ist Ihr Plan? Worin machen Sie Geschäfte? In Wohlwollen, nicht wahr? Sie Mann des Wohlwollens!« Bei diesen Worten holte Mr. Pancks aus, offenbar nicht in der Absicht, ihn zu treffen, sondern nur, um sein Herz zu erleichtern und seine überflüssige Kraft in einer heilsamen Leibesbewegung zu verwenden – Mr. Pancks holte zu einem Schlag auf das beulige Haupt aus, aber das beulige Haupt beugte sich, um dem Schlag auszuweichen. Diese seltsame Handlung wurde zum wachsenden Erstaunen der Zuschauer am Schlusse jedes folgenden Absatzes von Mr. Pancks‘ Rede wiederholt.

»Ich bin aus Ihren Diensten getreten«, sagte Pancks, »um Ihnen ins Gesicht schleudern zu können, was Sie sind. Sie gehören zu einer Rasse von Betrügern, die die schlimmste von allen Rassen ist, die man finden kann. Obgleich ich als Opfer von beiden sprechen kann, so wüßte ich doch nicht, ob mir die Merdlesche Rasse nicht noch lieber ist als Ihre Rasse. Sie sind ein verkleideter Leuteschinder durch Bevollmächtigte, ein Ausbeuter und Erpresser und Zwacker durch Stellvertreter. Sie sind ein philanthropischer Schleicher! Sie sind ein schäbiger Betrüger!«

Die Wiederholung der Drohung mit dem Schlag bei diesem Absatz wurde mit lautem Gelächter aufgenommen.

»Fragt diese guten! Leute: Wer ist der harte Mann hier? Sie werden Euch sicherlich ›Pancks‹ antworten.«

Dies wurde durch die Ausrufe: »Gewiß!« und »Hört!« bestätigt.

»Aber ich sage euch, gute Leute – Casby ist es. Dieser Berg von Milde, dieser Klumpen von Liebe, dieser flaschengrüne Lächler ist euer Dränger!« sagte Panck«. »Wenn ihr den Mann sehen wollt, der euch lebendig schinden würde – hier ist er! Sucht ihn nicht in mir, mit meinen dreißig Schillingen die Woche, sucht ihn in Casby, mit seinen ich weiß nicht wieviel das Jahr!«

»Gut!« riefen mehrere Stimmen. »Hört Mr. Pancks.«

»Hört Mr. Pancks?« rief dieser (nach seinem gewöhnlichen Ausholen, das den Leuten zu gefallen schien), »ja, ich dächte wohl. Es ist endlich Zeit, Mr. Pancks anzuhören. Mr. Pancks ist heute abend in den Hof gekommen, daß ihr ihn höret. Pancks ist nur das Werkzeug, hier ist der, der es handhabt!«

Die Zuhörer wären zu Mr. Pancks wie ein Mann, Frau und Kind übergegangen, wenn das lange, graue, seidene Haar und der breitkrempige Hut nicht gewesen.

»Hier ist der Schlüssel«, sagte Mr. Pancks, »der den Ton zum Pressen angibt. Und es gibt nur einen Ton, und sein Name ist Presse, Presse, Presse! Hier ist der Gutsbesitzer, und hier ist der Ausjäter. Ja, gute Leute, wenn er wie ein langsamer, wohlwollender Brummkreisel, sanft sich drehend, zu Abend in den Hof kommt und ihr ihn mit euren Klagen über den Ausjäter umringt, so ahnt ihr nicht, was für ein Betrüger der Patron ist. Solltet ihr glauben, daß der Grund, weshalb er sich heute zeigt, der ist, damit am Montag alle Schuld mich treffe? Solltet ihr glauben, daß er mich heute abend erst auf den Kohlen hatte, weil ich euch nicht genug presse? Solltet ihr glauben, daß ich im gegenwärtigen Augenblick den speziellen Befehl habe, euch am Montag zu pressen?«

Die Antwort war ein Gemurmel, das wie »Schmachvoll!« »Schäbig!« lautete.

»Schäbig?« schnaubte Pancks. »Ja, ich sollte wohl denken! Die Rasse, zu der euer Casby gehört, ist die schäbigste aller Rassen. Sie stellen ihre Ausjäter mit einem elenden Solde an, und diese müssen nun tun, was sie selbst sich zu tun schämen, fürchten und leugnen und dennoch getan wissen wollen oder den Leuten keine Ruhe lassen. Sie hintergehen euch, und ihr schiebt auf ihre Ausjäter alle Schuld und auf sie alles Gute. Ja, der erbärmlichst aussehende Betrüger in der ganzen Stadt, der achtzehn Pence unter falschem Vorgeben erschwindelt, ist kein halb so großer Schwindler als dieses Schild von Casbys Kopf hier!«

Die Umstehenden riefen: »Das ist wahr!« und »Mehr ist er nicht!«

»Und seht nun, was ihr von diesen Burschen bekommt«, sagte Pancks. »Seht, was ihr weiter von diesen kostbaren Brummkreiseln bekommt, die sich so glatt unter euch drehen, daß ihr nicht ahnen könnt, was für ein Muster auf ihnen gemalt ist oder wie das kleine Fenster an ihnen aussieht! Ich wünsche für einen Augenblick eure Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich weiß es wohl, meine Rede ist nicht angenehm.«

Der Kreis der Zuhörer war über diesen Punkt geteilt; denn die weniger leicht Zufriedenzustellenden riefen: »Nein, sie ist nicht angenehm«, während die Höflicheren sagten: »Doch, sie ist angenehm.«

»Ich bin im allgemeinen«, sagte Mr. Pancks, »ein trockener, unangenehmer, trauriger Arbeiter und Ausjäter. Das ist euer ergebener Diener. Das ist sein vollständiges Porträt, von ihm selbst gemalt und unter der Garantie der Ähnlichkeit euch vorgestellt! Aber was soll der Mensch sein, wenn er einen solchen Patron hat? Was kann von ihm erwartet werden? Fand jemals jemand gekochtes Hammelfleisch mit Kapernsoße in einer Kokosnuß?«

Keiner von den blutenden Herzen konnte das von sich behaupten, das sprach sich deutlich in der Raschheit ihrer Antwort aus.

»Nun«, sagte Mr. Pancks, »und niemand wird bei Ausjätern, wie ich, unter Patronen, wie dieser, angenehme Eigenschaften finden. Ich bin ein Ausjäter von Jugend auf gewesen. Was war mein Leben? Ein Quälen und Peinigen, Quälen und Peinigen und ein unaufhörliches Raddrehen. Ich war mir selbst nicht angenehm und bin wahrscheinlich auch niemandem sonst angenehm gewesen. Hätte ich in zehn Jahren auch nur für einen Schilling die Woche weniger gearbeitet, dieser Betrüger würde mir einen Schilling weniger gegeben haben; wenn ein ebenso nützlicher Mensch um einen Sixpence billiger zu bekommen gewesen wäre, er würde ihn statt meiner für einen Sixpence billiger angenommen haben. Das ist Handelsbrauch, Gott sei euch gnädig! Feste Grundsätze! Es ist ein sehr gutes Schild, dieser ›Zum Kopf von Casby‹«, sagte Mr. Pancks, indem er ihn nichts weniger als bewundernd betrachtete, »aber der wahre Name des Hauses ist: ›Zum Menschenschinder‹. Sein Motto ist: ›Laß dem Ausjäter keine Ruhe‹. Ist irgend jemand zugegen«, sagte Mr. Pancks, indem er sich unterbrach und umsah, »der mit der englischen Grammatik vertraut wäre?«

Der Hof zum blutenden Herzen scheute sich, diese Vertrautheit zu beanspruchen.

»Es hat nichts zu sagen«, fuhr Mr. Pancks fort. »Ich wollte nur die Bemerkung machen, daß die Aufgabe, die mir dieser Patron gestellt hat, die war, die Imperativform des Präsens des Zeitworts ›keine Ruhe lassen‹ zu konjugieren. Laß keine Ruhe! Laß er keine Ruhe! Lassen wir keine Ruhe! Lassen Sie keine Ruhe! Da steht ein wohlwollender Patriarch von Casby, und das ist seine goldene Regel. Es ist ungewöhnlich angenehm, ihn anzusehen; das ist bei mir durchaus nicht der Fall. Er ist so süß wie Honig, und ich bin so trübe wie Gossenwasser. Er sorgt für das Pech, ich handhabe es, und an mir bleibt es kleben. Jetzt«, sagte Mr. Pancks, indem er wieder näher auf seinen ehemaligen Patron zutrat, von dem er etwas weggegangen, um ihn dem Hof besser zeigen zu können, »da ich nicht gewohnt bin, öffentlich zu sprechen, und da ich eine ziemlich lange Rede gehalten habe, wenn man alle Umstände in Betracht zieht, so werde ich meine Bemerkungen mit der Bitte zum Beschluß bringen, daß Sie sich fortmachen.«

Der letzte der Patriarchen war so überwältigt durch den Angriff und brauchte so viel Raum, um einen Gedanken zu fassen, und so viel Raum mehr, um sich darin zu drehen, daß er kein Wort als Antwort vorbringen konnte. Er schien auf einen patriarchalischen Ausweg aus dieser peinlichen Lage zu sinnen, als Mr. Pancks, indem er plötzlich noch einmal den Drücker an seinen Hut setzte, denselben wieder mit seiner früheren Gewandtheit herabschnellte. Bei der früheren Gelegenheit hatten ein oder zwei von den Bewohnern des blutenden Herzens ihn dienstfertig aufgehoben und ihn dem Besitzer zurückgegeben, aber Mr. Pancks hatte auf seine Zuhörerschaft nunmehr so großen Eindruck gemacht, daß der Patriarch sich bücken und ihn selbst aufheben mußte.

Rasch wie der Blitz holte Mr. Pancks, der einige Augenblicke seine Hände in der Rocktasche gehabt hatte, eine Schere aus der Tasche, fiel dem Patriarchen in den Rücken und schnitt ihm die heiligen Locken, die auf seine Schultern hinabflossen, ab. In einem Paroxysmus ungestümer Wut riß er dann dem erstaunten Patriarchen den breitkrempigen Hut aus der Hand, verschnitt ihn zu einer bloßen Schmorpfanne und setzte ihn auf den Kopf des Patriarchen. Vor den furchtbaren Folgen dieser verzweifelten Tat schauerte Mr. Pancks selbst entsetzt zurück. Eine kahlgeschorene, glotzäugige, dickköpfige und schwerfällige Gestalt starrte ihn an, ohne im mindesten einen großen und ehrwürdigen Eindruck zu machen; sie schien aus der Erde emporgestiegen, um zu fragen, was aus Mr. Casby geworden. Nachdem Mr. Pancks in stummem Grausen sie wieder angestarrt, warf er die Schere weg und floh nach einem Versteck, wo er sich vor den Folgen seines Verbrechens retten könnte. Mr. Pancks hielt es für klug, sich schleunigst aus dem Staub zu machen, obwohl ihn nichts verfolgte als ein schallendes Gelächter, das die Luft im Hof zum blutenden Herzen erschütterte, daß dieser davon widerhallte.

Dreiunddreißigstes Kapitel.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Zum Ende.

Die Veränderungen im Zimmer eines Fieberkranken sind langsam und schwankend; aber die Veränderungen in der fiebernden Welt sind rasch und unwiderruflich.

Es war Klein-Dorrits Los, für beide Arten von Veränderungen zu sorgen zu haben. Die Mauern des Marschallgefängnisses hüllten sie wieder während eines Teiles des Tages als ihr Kind in ihre Schatten ein, während sie für Clennam dachte, für ihn arbeitete und ihn nur verließ, um ihm ihre größte Liebe und Sorge zu weihen. Auch ihr Leben außerhalb des Gefängnisses machte drängende Anforderungen an sie, denen zu entsprechen ihre Geduld nicht müde wurde. Hier war Fanny, stolz, launenhaft, phantastisch, noch weiter in der Unfähigkeit vorgerückt, in Gesellschaft zu gehen, jener Unfähigkeit, die sie an jenem Abend des Schildpattmessers so sehr geärgert hatte; sie war entschlossen, immer des Trostes zu bedürfen, und entschlossen, keinen Trost anzunehmen, entschlossen, sich tief verletzt zu fühlen, und entschlossen, es nicht zu dulden, daß jemand die Kühnheit haben dürfte, dies zu glauben. Ferner ihr Bruder, ein schwacher, stolzer, berauschter, junger Greis, der vom Kopf bis zu den Füßen zitterte, so undeutlich sprach, als ob etwas von dem Geld, auf das er sich so viel zugute tat, ihm im Munde steckengeblieben und nicht mehr herauszubringen wäre, unfähig, irgend etwas in seinem Leben allein durchzuführen, und den Gönner seiner Schwester spielend, die er selbstsüchtig liebte (er hatte immer dieses negative Verdienst gehabt, der arme Tip mit seinem Unglücksstern!), weil er duldete, daß sie ihn führte. Ferner Mrs. Merdle in einer Trauerkleidung von Gaze – die ursprüngliche Haube war möglicherweise in einem Anfall von Schmerz zerrissen worden, hatte dagegen sicher einem sehr kleidsamen Artikel vom Pariser Markt Platz gemacht – mit Fanny in beständiges Kampfe und sie jede Stunde des Tages mit ihrem öden Jammer eingreifend. Ferner der arme Mr. Sparkler, der nicht wußte, wie er den Frieden zwischen ihnen aufrechterhalten sollte, aber bescheiden sich zu der Meinung neigte, daß sie nichts Besseres tun könnten als zuzugeben, daß sie beide zwei merkwürdig schöne Frauen seien, und daß keine einen Unsinn an sich habe – zum Dank für welche freundliche Empfehlung sie vereint furchtbar über ihn herfielen. Endlich Mrs. General, die aus fremden Ländern heimgekehrt war und jeden andern Tag einen Prunes- und Prismbrief sandte, worin sie um ein neues Zeugnis zum Zweck der Empfehlung für eine oder die andere erledigte Stelle bat. Über diese merkwürdige Dame möge zum Schluß noch bemerkt werden, daß sicher nie eine Name existiert hat, von deren überschwenglicher Befähigung für jede erledigte Stelle auf dieser Welt (wie aus der Wärme der Zeugnisse hervorging) so viele Leute so vollkommen überzeugt waren –- oder die so unglücklich war, einen so großen Kreis glühender und vornehmer Verehrer zu haben, die niemals Gelegenheit fanden, sie anzustellen.

In der ersten Aufregung, die der Tod Mr. Merdles veranlaßte, waren viele angesehene Personen ungewiß, ob sie Mrs. Merdle fallen lassen oder sie trösten sollten. Da es jedoch, um ihre eigne Sache in ein recht grelles Licht zu stellen, dienlich schien, sie als grausam hintergangen zu betrachten, so machten sie gnädigst dieses Zugeständnis und kannten sie auch ferner. Die Folge war, daß Mrs. Merdle, als eine Dame von Welt und feiner Erziehung, die der List eines gemeinen Barbaren (denn Mr. Merdle galt vom Scheitel bis zur Zehe als ein solcher, seit man seine Taschen leer gefunden hatte) zum Opfer gefallen war, um ihres Standes willen von ihrem Stande tapfer verteidigt werden mußte. Sie vergalt diese Treue, indem sie zu verstehen gab, daß sie gegen den verbrecherischen Schatten des Verstorbenen viel erzürnter war als jeder andere: so kam sie aus dem feurigen Ofen als eine weise Frau hervor und befand sich in diesem Zustand ausnehmend wohl.

Mr. Sparklers Lordschaft war glücklicherweise einer von den Ruheplätzen, auf denen man hoffen kann, sein ganzes Leben zu bleiben, es sei denn, daß Gründe vorhanden wären, ihn mit dem Barnacleschen Kran zu einer gewinnbringenderen Stellung emporzuheben. Dieser patriotische Diener hielt deshalb fest zu seiner Fahne (dem Banner mit den vier Ahnen) und war ein wahrer Nelson in der Art, wie er sie an den Mast nagelte. In die Früchte seiner Unerschrockenheit teilten sich Mrs. Sparkler und Mrs. Merdle, die verschiedene Stockwerke des vornehmen kleinen Tempels der Unbehaglichkeit bewohnten, dem der Geruch der vorgestrigen Suppe und der Kutschenpferde so treu blieb wie der Tod dem Menschen, und rüsteten sich zum Kampfe in den Schranken der Gesellschaft als geschworene Feinde. Und Klein-Dorrit, die der Entwicklung aller dieser Dinge zusah, mußte sich unwillkürlich besorgt fragen, in welche versteckte Ecke des vornehmen Haushaltes Fannys Kinder nach und nach gedrängt werden würden, und wer sich der kleinen ungeborenen Opfer annehmen würde.

Da Arthur viel zu krank war, als daß man hätte über aufregendere und beunruhigende Dinge mit ihm sprechen dürfen, und seine Genesung wesentlich von der Ruhe anhing, die man seiner Schwäche verschaffte, so war Klein-Dorrits einzige Stütze während dieser schweren Zeit Mr. Meagles. Er war noch immer auf Reisen im Ausland. Aber sie hatte durch seine Tochter, unmittelbar nachdem sie Arthur im Marschallgefängnis gesprochen, und seitdem öfters an ihn geschrieben, indem sie ihm ihre Sorgen über die Punkte mitteilte, die ihr am meisten am Herzen lagen, besonders aber über einen. Dieser eine Punkt war schuld, daß Mr. Meagles noch immer auf Reisen war, während seine Anwesenheit im Marschallgefängnis so viel Tröstliches gehabt hätte.

Ohne ihn ganz genau über das Wesen der Dokumente aufzuklären, die in Rigauds Hände gefallen, hatte Klein-Dorrit Mr. Meagles in allgemeinen Umrissen diese Geschichte mitgeteilt und ihm auch sein Schicksal erzählt. Die alten vorsichtigen Gewohnheiten von Schale und Schaufel zeigten Mr. Meagles sogleich die Wichtigkeit, wieder in den Besitz der Originalpapiere zu gelangen; deshalb schrieb er zurück an Klein-Dorrit, bekräftigte sie in dem dringenden Verlangen, das sie in dieser Richtung ausgesprochen, und fügte hinzu, daß er nicht nach England zurückkehren werde, ohne den Versuch gemacht zu haben, sie aufzufinden.

Mr. Henry Gowan war inzwischen zu der Ansicht gekommen, daß es angenehm für ihn sein würde, die Meagles nicht zu kennen. Er war so rücksichtsvoll in diesem Punkt, seiner Frau darüber keine besondern Vorschriften zu geben. Aber er äußerte Mr. Meagles gegenüber, daß es ihm dünke, als ob sie persönlich nicht füreinander taugten, und daß sie es für gut halten würde, wenn sie – höflich und ohne eine Szene oder etwas Derartiges – gegenseitig anerkennten, sie seien die besten Menschen von der Welt, die aber am besten täten, sich nicht zu sehen. Der arme Mr. Meagles, der ohnehin das Gefühl hatte, als mehre er das Glück seiner Tochter nicht, wenn er in ihrer Gegenwart so geringschätzig behandelt werde, sagte: »Gut, Henry! Sie sind der Gatte meiner Pet; Sie haben mich, wie es die Natur der Dinge mit sich bringt, ersetzt; wenn Sie es wünschen, gut!« Dieses Arrangement hatte den weiteren Vorteil, den Henry Gowan vielleicht nicht vorausgesehen hatte, daß Mr. und Mrs. Meagles, seitdem sie nur noch mit ihrer Tochter und deren kleinem Kinde verkehrten, noch freigebiger waren als zuvor; und daß sich sein Stolz noch besser mit Geld versehen sah, ohne der erniedrigenden Notwendigkeit ausgesetzt zu sein, zu wissen, woher es kam.

Mr. Meagles widmete sich natürlich, da die Sachen jetzt so lagen, mit großem Eifer der Beschäftigung, die sich ihm bot. Er wußte von seiner Tochter die verschiedenen Städte, die Rigaud seit längerer Zeit besucht, und in welchen Hotels er gewohnt hatte. Die Beschäftigung, der er sich widmete, war die, diese Orte mit aller Diskretion und so rasch es ging zu beweisen und, im Fall, daß jener irgendwo eine Rechnung unbezahlt und eine Kiste oder einen Pack statt der Bezahlung zurückgelassen, die Rechnung zu bezahlen und Kiste oder Pack mitzunehmen.

Ohne andre Begleitung als die seiner Frau trat Mr. Meagles seine Reise an und erlebte zahlreiche Abenteuer. Nicht die unbedeutendste der Schwierigkeiten war die, daß er nie verstand, was die Leute zu ihm sagten, und daß er unausgesetzt seine Nachforschungen unter Leuten anstellte, die nie wußten, was er zu ihnen sagte. Mit dem unerschütterlichen Vertrauen, daß die englische Sprache gewissermaßen die Muttersprache der ganzen Welt sei und daß die Leute sie aus reiner Einfalt nicht verständen, überhäufte Mr. Meagles die Hotelbesitzer mit den geläufigsten Reden, erging sich in lauten Auseinandersetzungen der verwickeltsten Art und wies Antworten in der heimischen Sprache aufs entschiedenste zurück, weil es lauter »dummes Zeug« sei. Bisweilen wurden Dolmetscher herbeigerufen, die Mr. Meagles in so volksmäßigen Ausdrücken anredete, daß sie augenblicklich zum Schweigen gebracht waren – was die Sache nur noch schlimmer machte. Reiflich erwogen jedoch steht zu bezweifeln, ob er viel verlor; denn, obgleich er kein Eigentum vorfand, fand er so viele Schulden und so vielerlei schlechte Gerüchte in Verbindung mit dem Namen – dem einzigen Wort, das er verständlich machen konnte, daß er fast überall mit beleidigenden Beschuldigungen bedrängt wurde. Nicht weniger denn viermal wurde die Polizei herbeigerufen, um Mr. Meagles bei ihr als Industrieritter, als Taugenichts und Dieb zu denunzieren; Schimpfwörter, die er mit der ruhigsten Fassung hinnahm (da er keine Idee davon hätte, was sie bedeuteten) – und dabei wurde er auf die schmählichste Weise nach Dampfbooten und Postwagen transportiert, nur, damit man ihn loswurde, wobei er, die Mutter am Arme führend, die ganze Zeit als redefertiger und heiterer Engländer unaufhörlich fortschwatzte.

Aber in seiner eigenen Sprache und in seiner eigenen Meinung war Mr. Meagles ein klarblickender, schlauer und ausdauernder Mann. Als er sich, wie er es nannte, bis Paris »durchgearbeitet« hatte, ohne etwas erreicht zu haben, war er noch nicht entmutigt. »Je näher ich seine Spur gegen England verfolge, siehst du, Mutter«, argumentierte Mr. Meagles, »desto näher bin ich wahrscheinlich seinen Papieren, mögen sie zum Vorschein kommen oder nicht. Denn es ist die einzige vernünftige Ansicht, die man haben kann, daß er sie irgendwo niedergelegt hat, wo sie vor den Leuten in England sicher sind, während sie für ihn doch immer leicht zugänglich bleiben, nicht wahr?«

In Paris fand Mr. Meagles einen Brief von Klein-Dorrit vor, der ihn erwartet hatte. In diesem erwähnte sie, daß sie mit Mr. Clennam ein paar Minuten über den Mann habe sprechen können, der unter den Ruinen begraben worden war; und daß auf ihre Mitteilung, sein Freund Mr. Meagles, der auf dem Wege zu ihm sei, habe ein Interesse, womöglich etwas über diesen Mann zu erfahren, Mr. Clennam ihr geantwortet habe, sie möge Mr. Meagles sagen, er sei mit Miß Wade bekannt gewesen, die in der und der Straße in Calais wohne. »Oh!« sagte Meagles.

So kurz darauf, wie es in jenen Tagen möglich war, wo man noch mit Eilwagen fuhr, zog Mr. Meagles die zersprungene Klinge an dem zersprungenen Tor, und es ging auf, und die Bauersfrau stand in dem dunklen Torweg und sagte in ihrem französischen Englisch: »Was gibt es, Sir? Zu wem wollen Sie?« Dieser Anrede Gerechtigkeit widerfahren lassend, murmelte Mr. Meagles vor sich hin, daß diese Leute von Calais doch einigen Verstand hätten und einigermaßen wüßten, was man von ihnen wolle; er gab deshalb zur Antwort: »Miß Wade, meine Liebe!« Sie führte ihn alsbald zu Miß Wade.

»Es ist lange her, daß wir uns begegneten«, sagte Mr. Meagles, indem er sich räusperte; »ich hoffe. Sie haben sich immer wohl befunden. Miß Wade?«

Ohne die Hoffnung auszusprechen, daß er oder sonst jemand sich wohl befunden, fragte ihn Miß Wade, welchem Umstand sie die Ehre verdanke, ihn wiederzusehen? Mr. Meagles sah inzwischen im ganzen Zimmer umher, ob er nichts in Form einer Kiste entdecke.

»Die Wahrheit zu sagen. Miß Wade«, sagte Mr. Meagles in gemütlichem, vertraulichem, wir wollen nicht sagen, schmeichelndem Ton, »es ist möglich, daß Sie imstande sind, etwas Licht auf eine Sache zu werfen, die bislang noch im Dunkel schwebt. Alles Unangenehme, was zwischen uns vorgekommen, ist hoffentlich vergessen. Es ist jedoch nicht mehr zu ändern. Sie erinnern sich meiner Tochter? Die Zeiten, ändern sich so! Sie ist jetzt Mutter!«

Mr. Meagles hätte in seiner Unschuld keine schlimmere Saite anschlagen können. Er wartete auf ein Wort der Teilnahme, aber er wartete vergebens.

»Das ist wohl nicht die Sache, wegen der Sie mit mir zu sprechen wünschen?« sagte sie nach einem kalten Schweigen.

»Nein, nein«, versetzte Mr. Meagles, »nein. Ich dachte. Ihr gutes Herz werde –«

»Ich dachte. Sie wüßten«, unterbrach sie ihn mit einem Lächeln, »daß auf mein gutes Herz nicht zu rechnen ist.«

»Sagen Sie das nicht«, versetzte Mr. Meagles; »Sie tun sich unrecht. Um jedoch auf die Sache selbst zu kommen« – denn er fühlte, daß er nichts gewonnen hatte, indem er sich auf einem Umwege zu nähern gesucht, – »ich hörte von meinem Freunde Clennam, der, wie Sie gewiß mit Bedauern hören werden, seit längerer Zeit sehr krank darniederliegt –«

Er hielt wieder inne, und sie schwieg abermals.

»– daß Sie einige Bekanntschaft mit einem gewissen Blandois gehabt haben, der kürzlich in London durch einen Unglücksfall getötet wurde. Ich bitte mich nicht mißzuverstehen! Ich weiß, daß es eine sehr oberflächliche Bekanntschaft war«, sagte Mr. Meagles, gewandt einer ungehaltenen Unterbrechung, die er drohen sah, vorbeugend. »Ich weiß das ganz gut. Ich weiß, es war eine oberflächliche Bekanntschaft. Aber die Frage ist die«, hier wurde Mr. Meagles‘ Stimme wieder zutraulich, »hinterließ er nicht auf seiner Reise nach England das letztemal eine Kiste mit Papieren oder einen Pack Papiere oder überhaupt Papiere in irgendeinem Behälter – kurz, Papiere bei Ihnen, mit der Bitte, sie bei Ihnen für kurze Zeit deponieren zu dürfen, bis er sie brauchte?«

»Die Frage ist?« wiederholte sie. »Wessen Frage ist das?«

»Meine Frage«, sagte Mr. Meagles. «Und nicht nur meine Frage, sondern Clennams Frage und anderer Leute Frage. Ich bin überzeugt«, fuhr Mr. Meagles fort, dessen Herz von Pet überströmte, »daß Sie kein unfreundliches Gefühl gegen meine Tochter hegen können; es ist unmöglich. Nun, denn! Es ist auch ihre Frage, weil eine intime Freundin nahe bei der Sache interessiert ist. Ich bin denn hierhergekommen, um Ihnen offen zu sagen, daß dies die Frage ist, und Sie zu fragen: Hat er etwas zurückgelassen?«

»Wahrhaftig«, erwiderte sie, »ich scheine die Zielscheibe der Nachfragen für jeden zu sein, der irgend etwas von einem Manne wissen will, den ich mal in meinem Leben gemietet und bezahlt habe.«

»Bitte«, warf Mr. Meagles ein, »fühlen Sie sich doch nicht verletzt, denn es ist die einfachste Frage in der Welt, die jedem Menschen vorgelegt werden könnte. Die Dokumente, um die es sich handelt, gehörten nicht ihm, waren auf unrechtmäßige Weise erlangt, können irgendeinmal einer unschuldigen Person, die sie aufbewahrte, Unannehmlichkeiten bereiten und werden von Leuten gesucht, denen sie wirklich gehören. Er kam auf der Reise nach London durch Calais, und es gibt Gründe, weshalb er sie nicht mit sich genommen haben dürfte, aber den Wunsch gehegt, sie beständig in der Hand zu haben, und sie nicht Leuten seines Schlages anvertrauen wollte. Ließ er sie hier? Ich erkläre, wenn ich wüßte, wie ich es vermeiden könnte, Sie zu verletzen, ich würde mir alle Mühe geben, es zu tun. Ich stelle die Frage persönlich, aber es ist nichts Persönliches in ihr. Ich würde sie jedermann vorlegen und habe sie bereits vielen Leuten vorgelegt. Hat er sie hier gelassen? Hat er überhaupt etwas hier gelassen?«

»Nein.«

»So wissen Sie unglücklicherweise nichts davon, Miß Wade?«

»Ich weiß nichts davon. Ich habe jetzt Ihre unerklärliche Frage beantwortet. Er hat sie nicht hier gelassen, und ich weiß nichts davon.«

»So!« sagte Mr. Meagles und stand auf. »Ich bedaure es sehr; nun ist die Sache abgemacht; und ich hoffe, es ist nicht viel Ungelegenheit damit. – Befindet sich Tattycoram wohl, Miß Wade?«

»Harriet, wohl? O ja!« »Da habe ich wieder etwas falsch gemacht«, sagte Mr. Meagles, als sie ihn auf diese Weise korrigierte. »Es scheint, als ob ich hier alles falsch machen müßte. Vielleicht, wenn ich mir die Sache zweimal überlegt, hätte ich ihr nicht den seltsam klingenden Namen gegeben. Aber wenn man mit jungen Leuten einen vertraulichen und scherzhaften Ton anschlagen will, so überlegt man sich’s nicht zweimal. Ihr alter Freund läßt ein freundliches Wort für sie zurück, Miß Wade, wenn Sie es für ratsam halten, es ihr zu sagen.«

Sie sagte nichts darauf, und Mr. Meagles verließ mit seinem ehrlichen Gesicht das dunkle Zimmer, wo es wie eine Sonne geglänzt, brachte es mit nach dem Hotel, wo er Mrs. Meagles gelassen und wo er den Bericht abstattete: »Geschlagen, Mutter; erfolglos!« Er nahm es mit nach dem nächsten Londoner Dampfschiff, das in derselben Nacht abfuhr, und dann nach dem Marschallgefängnis.

Der treue John hatte den Dienst, als Vater und Mutter gegen Abend sich an dem Pförtchen einfanden. Miß Dorrit, sagte er, sei nicht da; aber sie sei vormittags dagewesen und käme jeden Abend. Mr. Clennam erhole sich langsam, und Maggy und Mrs. Plornish und Mr. Baptist pflegten ihn abwechselnd. Miß Dorrit würde ganz gewiß noch kommen, ehe die Abendglocke läutete. Wenn sie Lust hätten, könnten sie in dem Zimmer, das der Marschall ihr oben eingeräumt, auf sie warten. In der Befürchtung, daß es Arthur schaden könnte, wenn er ihn unvorbereitet besuchte, nahm Mr. Meagles das Anerbieten an, und sie blieben allein in dem Zimmer und sahen durch das vergitterte Fenster in das Gefängnis hinab. Der enge Raum des Gefängnisses machte einen solchen Eindruck auf Mrs. Meagles, daß sie zu weinen anfing, und auf Mr. Meagles, daß er begann, nach Luft zu schnappen. Er ging keuchend im Zimmer auf und ab und verschlimmerte seinen Zustand noch, indem er sich eifrig mit dem Taschentuch fächerte, als er sich nach der aufgehenden Tür umsah.

»Ei, du Grundgütiger!« sagte Mr. Meagles, »das ist ja nicht Miß Dorrit! Sieh, Mutter, sieh! Tattycoram!«

Es war niemand anderes. Und in Tattycorams Armen befand sich eine eisenbeschlagene Kapsel von zwei Fuß im Quadrat. Solch eine Kapsel hatte Affery Flintwinch im ersten ihrer Träume in stiller Nacht unter des Doppelgängers Armen aus dem Hause gehen sehen. Diese stellte Tattycoram vor die Füße ihres alten Herrn auf den Boden; dann fiel Tattycoram auf ihre Knie und schlug mit den Händen darauf, indem sie halb triumphierend, halb verzweifelnd, halb lachend, halb weinend ausrief: »Verzeihung, guter Herr, nehmen Sie mich wieder an, gute Herrin, hier ist es!«

»Tatty!« rief Mr. Meagles.

»Was Sie suchen!« sagte Tattycoram. »Hier ist es! Ich wurde ins nächste Zimmer geschickt, daß ich Sie nicht sehen sollte. Ich hörte Sie danach fragen, ich hörte sie sagen, sie habe es nicht bekommen, während ich dabei war, wie er es daließ, und ich nahm den Kasten nachts, als ich zu Bett gehen sollte, und brachte ihn weg. Hier ist er!«

»Nun, mein Kind«, rief Mr. Meagles, atemloser denn zuvor, »wie kamst du denn herüber?«

»In demselben Boot mit Ihnen. Ich saß eingehüllt am andern Ende. Als Sie am Kai einen Wagen nahmen, nahm ich einen andern Wagen und folgte Ihnen hierher. Sie hätte den Kasten nie herausgegeben nach dem, was Sie zu ihr über das Verlangen sagten, das man danach hatte; sie würde ihn lieber ins Meer geworfen oder verbrannt haben. Aber hier ist er!«

Mit wunderbarem Frohlocken und Entzücken sagte das Mädchen das: Hier ist er!

»Das muß ich zu ihrer Verteidigung sagen, daß sie ihn durchaus nicht wollte; aber Blandois ließ ihn zurück, und ich wußte wohl, daß, nach dem, was Sie gesagt, und nachdem sie ihn verleugnet, sie ihn nie herausgegeben haben würde. Doch nun ist er hier! Lieber Herr, liebe Herrin, nehmen Sie mich wieder an und geben Sie mir den lieben alten Namen wieder! Lassen Sie dies für mich sprechen. Hier ist er!«

Vater und Mutter Meagles verdienten ihren Namen nie besser als in dem Augenblick, als sie das trotzige Findelkind wieder in ihren Schutz nahmen.

»Oh, ich bin so unglücklich gewesen«, rief Tattycoram, indem sie noch mehr weinte denn zuvor, »ich habe so unglückliche Tage verlebt und so viel Reue empfunden. Von dem ersten Augenblick, da ich sie sah, fürchtete ich mich vor ihr. Ich wußte, sie hatte eine Macht über mich erlangt, indem sie so scharf erkannte, was böse in mir war. Es brütete ein Wahnsinn in mir, und sie konnte ihn heraufbeschwören, sooft sie wollte. Ich dachte gewöhnlich, wenn ich in diesen Zustand verfiel, die Leute seien alle wegen meiner frühern Jugend mir feindlich gesinnt; und je freundlicher sie gegen mich waren, desto schlimmer fand ich sie. Ich setzte mir in den Kopf, daß sie über mich triumphierten, und daß sie mich neidisch auf sich machen wollten, während ich weiß – was ich selbst damals wußte, wenn ich ehrlich sein wollte –, daß sie nie an dergleichen gedacht. Und meine hübsche junge Herrin ist nicht so glücklich, als sie zu sein verdient, und ich bin von ihr weggelaufen. Für wie schlecht und roh sie mich halten muß! Aber wollen Sie ein Wort für mich bei ihr einlegen und sie bitten, so versöhnlich zu sein, als Sie beide sind? Denn ich bin nicht so schlecht, wie ich war«, sagte Tattycoram zu ihren Gunsten. »Ich bin sehr schlecht, aber doch nicht so schlecht wie ich war. Wahrhaftig nicht! Ich hatte die ganze Zeit Miß Wade vor Augen, als mein zur Reife gekommenes Ich – das alles nach der schlimmen Seite wendet und Gutes in Böses verwandelt hat. Ich habe sie die ganze Zeit vor mir gehabt, wie sie an nichts Vergnügen fand, als mich zu einem ebenso elenden, mißtrauischen und selbstquälerischen Wesen zu machen, wie sie selbst eines ist. Nicht daß ihr das große Mühe gekostet hätte«, rief Tattycoram in einem letzten Ausbruch reuevollen Schmerzes, »denn ich war so schlimm wie nur möglich. Ich will nur sagen, daß, nach dem, was ich durchgemacht, ich hoffe, nie wieder ganz so schlimm zu werden, und langsam Fortschritte zum Bessern zu machen glaube. Ich will mir alle Mühe geben. Ich will nicht bei fünfundzwanzig stehen bleiben, Sir. Ich will bis fünfundzwanzighundert, bis fünfundzwanzigtausend zählen!«

Die Tür öffnete sich wieder, und Tattycoram schwieg, und Klein-Dorrit trat ein, und Mr. Meagles brachte mit Stolz und Freude die Kiste herbei, und ihr sanftes Gesicht strahlte von Dank und Freude und Glück. Das Geheimnis war jetzt in Sicherheit! Sie konnte ihm ihren eigenen Anteil daran verschweigen; er sollte nie ihren Verlust erfahren; in spätern Zeiten sollte er alles wissen, was von Wichtigkeit für ihn sein konnte; aber er sollte niemals erfahren, was nur sie allein betraf. Das war alles vorbei, vergeben und vergessen.

»Nun, meine liebe Miß Dorrit«, sagte Mr. Meagles, »ich bin ein Geschäftsmann – oder war es wenigstens –, und ich will sogleich in dieser Richtung meine Maßregeln treffen. Wäre es nicht besser, wenn ich Arthur noch heute abend spräche?«

»Ich glaube nicht, daß es heute abend gut wäre. Ich will nach seinem Zimmer gehen und sehen, wie er sich befindet.«

»Da haben Sie ganz recht, meine Liebe«, sagte Mr. Meagles, »und deshalb bin ich ihm auch nicht näher gekommen als bis in dies ungemütliche Zimmer. Ich werde ihn wohl in der nächsten Zeit noch nicht zu sehen bekommen. Aber ich werde Ihnen auseinandersetzen, wenn Sie wiederkommen, was ich meine.«

Sie verließ das Zimmer. Mr. Meagles blickte ihr durch das Gefängnisgitter nach und sah sie aus dem Schließerhäuschen unten in den Gefängnishof treten. Dann sagte er sanft: »Tattycoram, komme einen Augenblick zu mir, mein gutes Kind.«

Sie trat zu ihm ans Fenster.

»Du siehst die junge Dame, die eben hier war – die kleine, stille, zarte Gestalt, die dort geht, Tatty? Sieh. Die Leute treten beiseite, um sie vorüberzulassen. Die Männer – sieh die armen, schäbigen Burschen – ziehen höflich vor ihr den Hut ab, und nun schlüpft sie dort in den Torweg. Siehst du sie, Tattycoram?«

»Ja, Sir.«

»Ich hörte sagen, Tatty, daß man sie einst gewöhnlich das Kind dieses Ortes hieß. Sie wurde hier geboren und lebte viele Jahre hier. Ich kann hier nicht atmen. Ein trauriger Ort, um hier geboren zu werden und aufzuwachsen, nicht wahr, Tattycoram?«

»Gewiß, Sir!«

»Wenn sie immer an sich gedacht und sich der Ansicht hingegeben, daß jedermann ihr den Ort entgelten lasse, ihn ihr zum Vorwurf mache und ihr vorhalte, so würde sie ein sehr gereiztes und wahrscheinlich nutzloses Dasein geführt haben. Aber ich habe mir sagen lassen, Tattycoram, daß ihr junges Leben voll tätiger Resignation, voll Güte und edler Dienstbereitwilligkeit gewesen sei. Soll ich dir sagen, was diese Augen, die soeben hier waren, meiner Meinung nach beständig als ihr Ziel betrachtet, um diesen Ausdruck zu bekommen?«

»Ja, wenn Sie so gut sein wollen, Sir.«

»Die Pflicht, Tattycoram. Fange frühzeitig damit an und erfülle sie nach strengem Gewissen; und nichts, in welchem Stande wir geboren sind oder in welcher Stellung wir leben, wird gegen uns vor dem Allmächtigen oder vor uns auftreten.«

Sie blieben am Fenster stehen, nachdem die Mutter zu ihnen getreten war, und bemitleideten die Gefangenen, bis man sie zurückkommen sah. Sie war bald in dem Zimmer und bat, Arthur, den sie ruhig und gefaßt verlassen hatte, diesen Abend nicht zu besuchen.

»Gut!« sagte Mr. Meagles heiter. »Ich zweifle nicht, daß es das beste ist. Ich werde Ihnen, meine süße Pflegerin, Grüße für ihn auftragen, und ich weiß, daß sie in keinen besseren Händen sein können. Ich reise morgen früh wieder ab.«

Klein-Dorrit fragte ihn verwundert: »Wohin?«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Meagles, »ich kann nicht leben, ohne zu atmen. Dieser Ort hat mir den Atem benommen, und ich werde nicht früher aus voller Brust Luft schöpfen, als bis ich Arthur hier heraushabe.«

»Inwiefern ist das ein Grund, morgen früh wieder abzureisen?«

»Sie werden es gleich einsehen«, sagte Mr. Meagles. »Diese Nacht bleiben wir alle drei in einem City-Hotel. Morgen früh werden Mutter und Tattycoram hinunter nach Twickenham gehen, wo Mrs. Tickit, die mit Dr. Buchan neben sich am Wohnzimmerfenster sitzt, sie für ein paar Gespenster halten wird; und ich verreise wieder, um Doyce aufzusuchen. Wir müssen Dan hier haben. Ich will Ihnen sagen, meine Liebe, es ist unnütz, zu schreiben und Pläne zu machen und zu spekulieren über dies und das und jenes und alles aufs Ungewisse und unsichere, wir müssen Doyce hier haben. Vom morgenden Tag an, wenn die Sonne aufgeht, soll es meine Aufgabe sein, Doyce hierherzubringen. Es ist eine Kleinigkeit für mich, ihn ausfindig zu machen. Ich bin ein alter Reisender, und alle fremden Sprachen und Gebräuche sind mir gleich – ich habe nie etwas davon verstanden. Deshalb kann ich auch in keine Ungelegenheiten kommen. Gehen muß ich auf der Stelle, das ist klar; weil ich nicht leben kann, ohne frei zu atmen: und ich kann nicht frei atmen, bis Arthur aus diesem Marschallgefängnis heraus ist. Ich ersticke beinahe in diesem Augenblick und habe kaum Atem genug, um dies zu sagen und Ihnen diese kostbare Kiste die Treppe hinabzubringen.« Sie kamen in die Straße, als die Glocke zu läuten begann: Mr. Meagles trug die Kiste. Klein-Dorrit hatte keinen Wagen, was ihn ziemlich überraschte. Er rief eine Kutsche für sie herbei, und sie stieg ein; er stellte die Kiste neben sie, als sie sich gesetzt hatte. In ihrer Freude und Dankbarkeit küßte sie ihm die Hand.

»Das gefällt mir nicht, meine Liebe«, sagte Mr. Meagles. »Es widerstrebt meinem Gefühl von dem, was recht ist, daß Sie mir diese Huldigung erweisen – hier am Tore des Marschallgefängnisses.«

Sie beugte sich vor und küßte ihn auf die Wange.

»Sie erinnern mich an frühere Tage«, sagte Mr. Meagles und verfiel plötzlich in einen ernsteren Ton, »aber sie hat ihn sehr lieb und verbirgt seine Fehler und denkt, niemand sieht sie – und er hat außer allem Zweifel vornehme Verbindungen und ist von guter Familie.«

Es war der einzige Trost, den er für den Verlust seiner Tochter hatte, und wenn er ihn soviel wie möglich ausbeutete, wer könnte ihn darob tadeln?

Vierunddreißigstes Kapitel.


Vierunddreißigstes Kapitel.

Ende

An einem schönen Herbsttag lauschte der Gefangene im Marshalsea, noch schwach, aber sonst genesen, einer Stimme, die ihm vorlas. Es war ein froher Herbsttag, wo die goldenen Felder geerntet und wieder gepflügt werden, wo die Sommerfrüchte gereift und gebleicht sind, wo die grünen Gassen der Hopfenstangen von den fleißigen Lesern umgestürzt waren, wo die Äpfel in Büscheln rotbäckig und die Beeren der Eberesche purpurn zwischen dem gelben Laub hervorsahen. Im Walde konnte man schon Spuren des nahenden rauhen Winters sehen in den ungewohnten Öffnungen des Laubgewölbes, wo die Aussicht sich klar und bestimmt zeigte, ohne den Duft des schläfrigen Sommerwetters, der darauf lag wie der Reif auf einer Pflaume. Und auch am Strand schlummerte der Ozean nicht mehr in der Hitze; seine tausend funkelnden Augen standen offen, und sein ganzer Atem war freudiges Leben, von dem kühlen Sand am Ufer bis zu den kleinen Segeln am Horizont, die dahintrieben wie herbstlich gefärbte Blätter, die von den Bäumen herabwirbelten.

Unveränderlich und kahl, gleichgültig alle Jahreszeiten mit dem stieren, hagern Gesicht der Armut und Not ansehend, hatte das Gefängnis auch nicht eine Spur von all diesen Schönheiten an sich. Mochte blühen, was da wollte, seine Mauern und Gitter trugen immer dieselben toten Halme. Aber Clennam vernahm, während er der Stimme lauschte, die ihm vorlas, in ihr alles, was die große Natur schafft, alle die versöhnenden Lieder, die sie dem Menschen singt. An keiner andern Mutter Knie als an dem ihrigen hatte er je in der Jugend bei hoffnungsvollen Versprechungen, bei heitern Träumen, bei den reichen Ernten von Liebe und Demut verweilt, die in dem frühzeitig gepflegten Samen der Phantasie verborgen liegen; oder an den Eichen, die uns vor verheerenden Winden schützen und deren starke Wurzeln in dem Keim von Ammenstubeneicheln ruhen. Aber in den Tönen der Stimme, die ihm vorlas, lagen Erinnerungen an alte Empfindungen solcher Dinge und Echos jedes barmherzigen und liebevollen Geflüsters, das sich jemals in seinem Leben zu ihm geschlichen hatte. Als die Stimme schwieg, legte er die Hand über seine Augen und murmelte, daß das Licht ihn blende. Klein-Dorrit legte das Buch weg und stand sogleich auf, um das Fenster zu verhängen. Maggy saß an ihrem alten Platz bei der Arbeit. Als das Licht gedämpft war, rückte Klein-Dorrit den Stuhl näher zu ihm. »Das wird nun bald vorüber sein, lieber Mr. Clennam, Nicht nur sind Mr. Doyces Briefe an Sie so freundschaftlich und ermutigend, sondern Mr. Rugg sagt auch, seine Briefe an ihn äußerten sich hilfsbereit, und jedermann spreche (nachdem das bißchen Ärger vorüber ist) sich so rücksichtsvoll und gut über Sie aus, daß es jetzt bald vorüber sein werde.« »Liebes Mädchen. Teures Herz. Guter Engel!« »Sie sprechen viel zu gut von mir. Und doch ist es ein so süßes Gefühl für mich, Sie so warm von mir reden zu hören und dabei – zu sehen«, sagte Klein-Dorrit, indem sie ihre Augen zu ihm erhob, »wie es aus tiefster Seele kommt, daß ich nicht sagen kann: Tun Sie es nicht.« Er hob ihre Hand an seine Lippen. »Sie waren hier viele, viele Male, wo ich Sie nicht gesehen habe, Klein-Dorrit.« »Ja, ich war hier manchmal, ohne in dies Zimmer gekommen zu sein.« »Sehr oft?« »Ziemlich oft«, sagte Klein-Dorrit schüchtern. »Jeden Tag?« »Ich denke«, sagte Klein-Dorrit nach einigem Zögern, »daß ich wenigstens zweimal täglich hier war.« Er hätte die kleine leichte Hand loslassen können, nachdem er sie glühend geküßt, wenn sie nicht durch das zarte Verweilen, wo sie war, ihn aufzufordern schien, sie zu behalten. Er nahm sie in seine beiden Hände und legte sie sanft an seine Brust. »Liebe Klein-Dorrit, nicht nur meine Gefangenschaft ist es, die bald vorüber sein wird, sondern auch Ihr Opfer muß ein Ende nehmen. Wir müssen lernen, zu scheiden und unsere gesonderten Wege zu gehen. Sie haben nicht vergessen, was wir zusammen gesprochen haben, als Sie in die Heimat zurückkehrten?« »O nein, ich habe es nicht vergessen. Aber etwas – Sie fühlen sich heute recht wohl, nicht wahr?« »Recht wohl.«

Die Hand, die er hielt, näherte sich ein wenig mehr seinem Gesicht.

»Fühlen Sie sich stark genug, um zu erfahren, was für ein großes Vermögen ich erhalten?«

»Ich werde mich freuen, es zu vernehmen. Kein Vermögen kann zu groß oder zu gut für Klein-Dorrit sein.«

»Ich wartete lange auf den Augenblick, wo ich es Ihnen sagen könnte. Ich habe mich seit lange gesehnt, es Ihnen zu sagen. Wissen Sie ganz gewiß, daß Sie es nicht annehmen werden?« »Nie!«

»Sie wissen ganz gewiß, daß Sie nicht die Hälfte annehmen werden?«

»Nie, liebe Klein-Dorrit.«

Wie sie ihn so schweigend ansah, lag etwas in ihrem liebevollen Gesicht, das er nicht ganz verstand; ein Etwas, das in einem Augenblick hätte in Tränen ausbrechen können und dennoch glücklich und stolz war.

»Es wird Ihnen leid tun, zu hören, was ich Ihnen von Fanny zu sagen habe. Die arme Fanny hat alles verloren. Alles, was ihr Papa bei der Verheiratung gab, ist verloren, wie Ihr Geld verlorenging. Es befand sich in denselben Händen und ist verloren.«

Arthur war von dieser Nachricht mehr erschüttert als überrascht. »Ich hatte gehofft, es wäre nicht so schlimm«, sagte er, »aber ich hatte bei der Verwandtschaft zwischen ihrem Gatten und dem Bankerottierer einen schweren Verlust befürchtet.«

»Ja. Es ist alles verloren. Fanny tut mir sehr leid; sehr leid, sehr leid, sehr leid, die arme Fanny. Auch mein armer Bruder.«

»Hatte er gleichfalls Geld in diesen Händen?«

»Ja. Und es ist alles verloren. Wie groß glauben Sie wohl, daß mein eigenes Vermögen ist?«

Als Arthur, von einer neuen Ahnung erfaßt, sie fragend ansah, zog sie ihre Hand weg und legte ihr Gesicht an den Ort, wo jene geruht.

»Ich habe nichts in der Welt. Ich bin so arm, wie da ich hier gewohnt. Als Papa nach England herüberkam, vertraute er alles, was er besaß, denselben Händen an, und es ist alles verloren. Oh, liebster und bester Mann, wissen Sie jetzt ganz gewiß, daß Sie mein Vermögen nicht mit mir teilen wollen?«

In seine Arme geschlossen, an sein Herz gepreßt, mit seinen Mannestränen auf ihren Wangen, legte sie ihre zarte Hand um seinen Hals und schlang sie dort in die andere.

»Nie scheiden wir wieder, liebster Arthur; nie wieder bis zum letzten Augenblick! Ich war noch nie so reich, noch nie so stolz, noch nie so glücklich wie jetzt. Ich bin reich, da du mich nimmst, ich bin stolz, daß du mir entsagtest, ich bin glücklich, daß ich mit dir in diesem Gefängnis bin, wie ich glücklich sein würde, wenn ich mit dir hierher zurückkehren könnte, wenn es der Wille Gottes wäre, um dich mit all meiner Liebe und Wahrheit zu trösten und zu pflegen. Ich gehöre dir in allem und überall! Ich liebe dich von Herzen! Ich möchte lieber hier mein Leben mit dir verbringen und täglich in die Stadt gehen, um für unser Brot zu arbeiten, als das größte Vermögen haben, das man je gekannt, und die größte Dame sein, der man je gehuldigt hat. Oh, wenn der arme Papa jetzt nur wissen könnte, wie glücklich endlich mein Herz in diesem Zimmer ist, wo er so viele Jahre gelitten!«

Maggy hatte natürlich vom ersten Augenblick die Augen weit aufgerissen und sich die Augen lange vor diesen Worten ausgeweint. Maggy war jetzt so überglücklich, daß sie ihre kleine Mutter ungestüm umarmte und dann die Treppe hinuntertanzte, um irgend jemanden zu finden, dem sie ihres Herzens Freude mitteilen könnte. Wem konnte Maggy anders begegnen als Flora und Mr. Finchings Tante, die gerade im rechten Augenblick eintraten? Und wen anders konnte Klein-Dorrit infolge dieser Begegnung auf sich warten finden, als sie volle zwei bis drei Stunden später ausging?

Floras Augen waren ein wenig rot, und sie schien nicht sonderlich guter Stimmung. Mr. Finchings Tante war so steif, daß sie aussah, als ob man sie nicht mehr bewegen könnte, außer mit Anwendung von großen mechanischen Kräften. Ihr Hut stand hinten in schrecklicher Weise in die Höhe, und ihr steinharter Strickbeutel war so starr, als wäre er durch das Haupt der Medusa versteinert und hätte es jetzt eingepackt. Mit diesen imposanten Eigenschaften war Mr. Finchings Tante, die auf den Stufen der Amtswohnung des Marschalls saß, in jenen zwei bis drei Stunden den jüngern Bewohnern der Nachbarschaft ein großer Genuß gewesen, indem sie, die humoristischen Ausfälle derselben von Zeit zu Zeit mit der Spitze ihres Regenschirms zurückweisend, sich sehr erhitzt hatte.

»Ich fühle wirklich recht schmerzlich Miß Dorrit«, sagte Flora, »daß es als eine Zudringlichkeit erscheinen muß wenn ich Ihnen, die an Vermögen so weit über mir steht und der von der besten Gesellschaft so sehr gehuldigt wird, den Vorschlag mache sich mit mir an einen Ort zu begeben selbst wenn es kein Pastetenbäckerladen der weit unter Ihrer gegenwärtigen Stellung steht und ein hinteres Zimmer wäre obgleich ein höflicher Mann aber wenn ich um Arthurs willen – kann es nicht überwinden obgleich es unschicklicher ist als früher Doyce und Clennam – eine letzte Bemerkung machen eine letzte Erklärung abgeben möchte so würde vielleicht Ihr gutes Herz unter dem Vorwand von drei Nierenpasteten den bescheidenen Ort der Unterhaltung entschuldigen.«

Diese ziemlich dunkle Rede richtig auslegend, erwiderte Klein-Dorrit, daß sie ganz zu Floras Diensten stehe. Flora führte sie deshalb über die Straße nach dem fraglichen Pastetenbäckerladen; Mr. Finchings Tante schritt hinterher und setzte sich mit einer Beharrlichkeit, die einer bessern Sache wert gewesen, der Gefahr aus, überfahren zu werden.

Als die drei »Nierenpasteten«, die als Vorwand für die Unterhaltung dienen sollten, auf drei kleinen Zinnplatten vor sie gesetzt waren, jede Pastete oben mit einer Öffnung geziert, in die der höfliche Mann heiße Bouillon aus einer mit einer Schnauze versehenen Kanne goß, als ob er drei Lampen speiste, nahm Flora ihr Taschentuch heraus.

»Wenn die schönen Träume der Phantasie«, begann sie, »mir jemals vorgespiegelt daß wenn Arthur – kann es nicht überwinden bitte entschuldigen Sie mich – wieder frei wäre selbst eine Pastete die so wenig frisch ist wie die gegenwärtige und so wenig Niere hat daß sie in dieser Hinsicht wie eine zerhackte Muskatnuß aussieht würde nicht unannehmbar erscheinen wenn die Hand wahrer Achtung sie darböte so sind solche Träume längst dahin und alles ist vorbei aber da ich weiß daß zärtlichere Beziehungen in Aussicht stehen so bitte ich sagen zu dürfen daß ich von Herzen beiden alles Glück wünsche und an keinem von beiden im mindesten etwas auszusetzen habe es mag wohl peinlich sein zu wissen daß ehe die Hand der Zeit mich viel weniger schlanker als früher gemacht und bei der geringsten Anstrengung schrecklich rot namentlich nach dem Essen wo wie ich wohl weiß es die Form von Hitzblattern annahm es hätte geschehen können aber durch das Dazwischentreten der Eltern nicht geschah und es trat eine geistige Gefühllosigkeit ein bis Mr. Finching den geheimnisvollen Schlüssel brachte so möchte ich doch nicht ungroßmütig gegen beide sein und ich wünsche beiden von Herzen Glück.«

Klein-Dorrit nahm ihre Hand und dankte ihr für all ihre frühere Güte.

»Nennen Sie es nicht Güte«, versetzte Flora, indem sie ihr einen ehrlichen Kuß gab, »denn Sie waren immer das beste und liebste kleine Ding das je existierte wenn ich mir die Freiheit nehmen darf und selbst im Geldpunkte eine Ersparnis da Sie das Gewissen selbst waren obgleich ich hinzufügen muß viel angenehmer als meines jemals für mich war obschon ich hoffe daß es nicht mit größeren Sünden beladen sei als das von andern so habe ich es doch immer bereitwilliger gefunden einem das Leben unangenehm statt angenehm zu machen und offenbar das erstere lieber – aber ich schweife da wieder ab eine Hoffnung wünsche ich auszusprechen ehe die letzte Szene spielt und die ist daß ich hoffe um der alten Zeit und der alten Aufrichtigkeit willen soll Arthur erfahren daß ich ihn in seinem Unglück nicht verlassen habe sondern beständig dort aus- und eingegangen bin um mich zu erkundigen ob ich irgend etwas für ihn tun könnte und daß ich in dem Pastetenbäckerladen saß wo sie sehr höflich etwas Warmes für mich in einem Glase aus dem Hotel herbeiholten und es war wirklich sehr hübsch eine Stunde um die andere ihn über die Straße zu besuchen ohne daß er es wußte.« Flora hatte wirklich in diesem Augenblick Tränen in den Augen, und sie standen ihr sehr gut.

»Außerdem«, sagte Flora, »bitte ich Sie inständig als das herzigste Ding das es jemals gab die Vertraulichkeit einer Person zu entschuldigen die sich in ganz andern Kreisen bewegt wenn ich Sie bitte Arthur zu verstehen zu geben daß ich nach allem doch nicht wisse ob es lauter dummes Zeug zwischen uns war obgleich angenehm und auch versuchungsvoll und gewiß hat Mr. Finching eine Veränderung zuwege gebracht und nachdem der Zauber zerbrochen war konnte natürlich nichts herauskommen ohne ihn neu zu weben was zu verhindern sich verschiedene Umstände vereinigten von denen vielleicht nicht der unwichtigste der war daß es nicht sein sollte ich möchte jedoch nicht sagen daß ich nicht froh gewesen wenn es Arthur angenehm gewesen und sich im ersten Augenblick auf natürliche Weise gemacht hätte denn ich bin von lebhafter Natur und langweile mich zu Hause wo Papa gewiß der ärgerlichste Mensch von der Welt ist und sich auch seit der Zeit nicht gebessert da er von der Hand des Aufwieglers zu einem Wesen zusammengeschnitten worden ist wie ich in meinem ganzen Leben nichts Ähnliches sah; Eifersucht liegt jedoch nicht in meinem Charakter so wenig als Mißgunst obgleich ich viele Fehler habe.«

Ohne ganz imstande zu sein, Mrs. Finching durch dieses Labyrinth zu folgen, verstand Klein-Dorrit doch, was sie meinte, und übernahm mit herzlicher Bereitwilligkeit diesen Auftrag.

»Der verwelkte Kranz meiner Liebe«, sagte Flora mit großem Genuß, »ist nun zerrissen die Säule ist gefallen und die Pyramide steht verkehrt auf ihrem wie heißt es nur nennen Sie es nicht Unbeständigkeit nennen Sie es nicht Schwäche nennen Sie es nicht Torheit ich muß mich jetzt in die Einsamkeit zurückziehen und darf nicht mehr auf die Asche verschwundener Freuden blicken sondern mir nur noch die Freiheit nehmen für die Pasteten zu bezahlen die den bescheidenen Vorwand für unsere Unterhaltung gebildet haben und dann Ihnen auf ewig Lebewohl sagen!«

Mr. Finchings Tante, die ihre Pastete mit großer Feierlichkeit verzehrt und über einer herzzerreißenden Anklageschrift gebrütet hatte, seitdem sie zuerst die öffentliche Stellung auf den Stufen der Marschallswohnung eingenommen, ergriff nun diese Gelegenheit, folgende sibyllinischen Worte an die Witwe ihres verstorbenen Neffen zu richten.

»Bringt ihn her und ich will ihn zum Fenster hinauswerfen!«

Flora suchte vergeblich die ausgezeichnete Frau zu besänftigen, indem sie ihr erklärte, daß sie zum Essen nach Hause gingen. Mr. Finchings Tante bestand auf ihrem: »Bringt ihn her und ich will ihn zum Fenster hinauswerfen!« Nachdem sie dieses Verlangen unzählige Male mit einem festen und herausfordernden Blick auf Klein-Dorrit wiederholt hatte, faltete Mr. Finchings Tante die Arme und setzte sich in eine Ecke des Pastetenbäckerladens, indem sie sich standhaft weigerte, dort wegzugehen, bis »er hergebracht« wäre und sie ihn zum Fenster hinausgeworfen hätte.

In dieser Lage vertraute Flora Klein-Dorrit an, daß sie Mr. Finchings Tante so lebenskräftig und charakterfest seit Wochen nicht gesehen; daß sie es notwendig finde, vielleicht »stundenlang« hierzubleiben, bis die unerbittliche alte Frau besänftigt werden könnte, und daß sie am besten mit ihr fertig werden würde. Sie schieden deshalb in der freundschaftlichsten Weise und mit den freundlichsten Gefühlen von beiden Seiten.

Da Mr. Finchings Tante wie eine grollende Festung aushielt und Flora sich nach einer Erfrischung sehnte, so wurde ein Bote nach dem bereits erwähnten Glase in das Hotel geschickt, das später noch einmal gefüllt wurde. Mit Hilfe seines Inhalts, einer Zeitung und dem Abrahmen des Pastetenvorrats brachte Flora den übrigen Teil des Tages in vollkommen gutem Humor zu; obgleich sie bisweilen durch die Folge eines leeren Gerüchtes gequält wurde, das unter der leichtgläubigen Jugend der Nachbarschaft zirkulierte, daß nämlich eine alte Frau sich dem Pastetenbäcker zum Verarbeiten verkauft und jetzt in dem Pastetenladen sitze, beharrlich sich weigernd, ihren Kontrakt zu erfüllen. Dies zog so viele junge Leute beiderlei Geschlechts herbei und verursachte, als der Abend hereinbrach, so viel Störungen in dem Geschäft, daß der Pastetenhändler endlich mit seinem Vorschlag, Mr. Finchings Tante fortzuschaffen, sehr dringend wurde. Man brachte deshalb einen Wagen vor die Tür, in den einzusteigen sich diese merkwürdige Frau durch die gemeinschaftlichen Bemühungen des Pastetenhändlers und Floras endlich bewegen ließ. Obschon nicht ohne auch dann noch den Kopf zum Fenster hinauszustecken und zu verlangen, daß man ihn zu dem ursprünglich erwähnten Zwecke »herbeibringe«. Da sie bei diesen Worten giftige Blicke nach dem Marschallgefängnis schoß, so war man der Meinung, daß diese wunderbar konsequente Frau unter diesem »ihn« Arthur Clennam verstand. Dies ist jedoch bloße Vermutung; wer die Person war, die zur Beruhigung von Mr. Finchings Tante hätte hergebracht werden sollen und niemals hergebracht wurde, wird nie mit Bestimmtheit bekannt werden.

Die Herbsttage dauerten noch fort, und Klein-Dorrit kam jetzt nie nach dem Marschallgefängnis und ging nie weg, ohne ihn gesehen zu haben. Nein, nein, nein.

Eines Morgens, als Arthur horchte, ob die leichten Füße nicht kämen, die jeden Morgen beschwingt zu seinem Herzen kamen und den himmlischen Glanz einer neuen Liebe in das Zimmer brachten, wo die alte Liebe sich so eifrig gemüht und so treu gewesen, – eines Morgens, als er so lauschte, hörte er sie kommen, jedoch nicht allein.

»Lieber Arthur«, sagte ihre heiter klingende Stimme schon vor der Tür, »ich habe jemanden mitgebracht, darf ich ihn hereinführen?« Nach den Tritten hatte er geglaubt, es seien zwei mit ihr gekommen. Er antwortete »Ja«, und sie trat mit Mr. Meagles ein. Sonngebräunt und vergnügt sah Mr. Meagles aus, und er öffnete seine Arme und umschlang Arthur wie ein sonngebräunter und vergnügter Vater.

»Nun ist alles in Ordnung«, sagte Mr. Meagles nach einer Minute. »Nun ist alles vorbei. Arthur, mein lieber Junge, gestehen Sie nur, daß Sie mich früher erwartet haben.«

»Allerdings«, versetzte Arthur; »aber Amy sagte mir –« »Klein-Dorrit. Nie einen andern Namen.« (Sie war es, die ihm das zuflüsterte.)

» – aber meine Klein-Dorrit sagte mir, daß ich, ohne weitere Erklärung zu verlangen, Sie nicht eher erwarten sollte, als bis ich Sie sähe.«

»Und nun sehen Sie mich, mein Junge«, sagte Mr. Meagles und schüttelte ihm derb die Hand; »und nun sollen Sie alle und jede Erklärung haben. Ich war nämlich hier – kam direkt von den Alloners und Marschoners, sonst würde ich mich geschämt haben, Ihnen heute ins Gesicht zu sehen –, aber Sie waren damals nicht zu haben und ich mußte gleich wieder fort, um Doyces habhaft zu werden.«

»Der arme Doyce«!« seufzte Arthur. »Geben Sie ihm keine Namen, die er nicht verdient«, sagte Mr. Meagles. »Er ist nicht arm; er befindet sich in ganz guten Verhältnissen. Drüben auf dem Kontinent ist Doyce ein ganz wunderbarer Kerl. Ich versichere Sie, er zeigt dort, was er wert ist. Er ist auf seine Beine gefallen, dieser Dan. Wo sie etwas nicht getan haben wollen und einen Mann finden, der es tun kann, da ist er nicht auf dem rechten Fleck. Aber wo sie etwas getan haben wollen und den Mann finden, der es tut, da ist er auf dem rechten Fleck. Sie werden keine Veranlassung mehr haben, das Circumlocution Office zu belästigen. Ich will Ihnen ganz einfach sagen, Dan ist auch ohnehin vorwärtsgekommen.«

»Welch eine Last Sie mir vom Herzen nehmen!« rief Arthur. »Wie glücklich Sie mich machen!«

»Glücklich«, versetzte Mr. Meagles. »Sprechen Sie mir nicht von Glück, bis Sie Dan sehen. Ich versichere Sie, Dan leitet dort drüben Arbeiten und führt Werke aus, daß Ihnen die Haare zu Berge stünden, wenn Sie’s sähen. Er ist jetzt kein Verbrecher am Staate mehr, bewahre nicht! Er bekommt Medaillen und Bänder und Sterne und Kreuze, und ich weiß nicht was alles, wie ein geborner Edelmann. Aber Sie dürfen hier in England nicht davon sprechen.«

»Warum nicht?«

»Nun, Sie wissen ja!« sagte Mr. Meagles, indem er sehr ernst den Kopf schüttelte, »er muß, wenn er hier herüberkommt, alle diese Sachen hinter Schloß und Riegel verbergen. Es geht hier nicht. In dieser speziellen Sache ist Britannia wie eine

Klein-Dorrit im Brautkleide

Britannia in der Speisenkammer – will ihren Kindern selbst keine solche Auszeichnung geben und will sie auch nicht zeigen lassen, wenn andre Länder sie geben. Nein, nein, Dan!« sagte Mr. Meagles wieder kopfschüttelnd. »Das ginge hier nicht.«

»Wenn Sie mir das Doppelte meines Verlustes gebracht hätten«, rief Arthur!, »so würden Sie mir (außer um Doyces willen) nicht solche Freude gemacht haben als durch diese Nachricht.«

»Nun, natürlich, natürlich«, stimmte Mr. Meagles bei. »Natürlich weiß ich das, mein Bester, und deshalb mußte ich auch gleich im ersten Augenblick damit herausplatzen. Aber um wieder darauf zurückzukommen, daß ich Doyces habhaft zu werden suchte. Ich fand Doyce. Ich stieß auf ihn unter einem Haufen jener schmutzigen braunen Hände in Frauennachtmützen, die ihnen viel zu groß sind und sich Araber heißen, oder irgendein solcher verzettelter Stamm sind. Sie kennen sie ja! Nun! Er kam direkt auf mich zu, und ich ging direkt auf ihn zu, und so sind wir beide zurückgekommen.« »Doyce in England?« rief Arthur.

»Da haben wir’s«, sagte Mr. Meagles und breitete seine Arme auseinander. »Ich bin der ungeeignetste Mensch zu einer solchen Geschichte. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich Diplomat gewesen wäre – vielleicht hätt‘ ich’s recht, gemacht! Das Lange und das Kurze von der Sache ist, Arthur, daß wir beide seit vierzehn Tagen in England sind. Und wenn Sie weiter fragen, wo Doyce jetzt ist, nun, so lautet meine einfache Antwort: – Hier ist er! Und nun kann ich endlich wieder atmen!«

Doyce sprang hinter der Tür hervor, ergriff Arthur bei beiden Händen und sagte das übrige selbst.

»Meine Sache, die ich vorbringen wollte, hat nur drei Teile, mein lieber Clennam«, sagte Doyce, indem er sie nebeneinander mit seinem plastischen Daumen auf die Fläche seiner Hand zeichnete, »und sie sind bald abgemacht. Erstlich nicht ein Wort von dem, was geschehen ist. Es war ein Irrtum in Ihrer Berechnung. Ich weiß, was das heißen will. Es greift die ganze Maschine an, die infolgedessen nicht gehen kann. Sie werden aus dem gemachten Fehler Nutzen ziehen und ihn zum zweiten Male vermeiden. Ich habe selbst bei der Konstruktion Ähnliches getan. Jeder Fehler lehrt uns etwas, wenn wir lernen wollen; und Sie sind ein viel zu verständiger Mann, um nicht aus diesem Fehler zu lernen. Soviel fürs erste. Zweitens. Ich bedauerte, daß Sie es sich so sehr zu Herzen genommen und sich so schwere Vorwürfe gemacht haben. Ich reiste Tag und Nacht, um mit der Unterstützung unseres Freundes die Sache in Ordnung zu bringen, als ich unserem Freunde begegnete, wie er Ihnen sagte. Drittens: Wir beide waren der Ansicht, daß, nach dem, was Sie gelitten haben, nach Ihrem Kummer und nach Ihrer Krankheit, es eine angenehme Überraschung für Sie sein würde, wenn wir uns soweit still verhalten könnten, bis wir alles ohne Ihr Wissen arrangiert und dann kämen und sagten, daß das Geschäft Ihrer jetzt mehr bedurfte denn je und daß uns beiden als Kompagnons eine neue und glückliche Karriere offenstünde. Dies ist das Dritte. Aber Sie wissen, daß wir immer etwas für die Friktion zugeben, und deshalb habe ich noch einen freien Raum übrig. Mein lieber Clennam, ich setze mein ganzes Vertrauen auf Sie; Sie haben es in Händen, mir ebenso nützlich zu sein, wie ich es in meinen Händen habe oder hatte, Ihnen nützlich zu sein: Ihr alter Platz erwartet Sie und bedarf Ihrer sehr: es gibt nichts, was Sie nur eine halbe Stunde länger hier festhalten könnte.« Es trat eine Pause ein, die nicht früher unterbrochen wurde, als bis Arthur einige Zeit, den Rücken ihnen zugekehrt, am Fenster gestanden und seine künftige kleine Frau zu ihm getreten und bei ihm geblieben war. »Ich machte vorhin eine Bemerkung«, sagte Daniel Doyce, »die ich nun für nicht ganz richtig zu halten geneigt bin. Ich sagte, es gebe nichts, was Sie eine halbe Stunde länger hier festhalten könnte. Täusche ich mich, wenn ich vermute, daß Sie lieber bis morgen früh hierbleiben möchten? Errate ich, ohne sonderlich klug zu sein, wohin Sie direkt aus diesen Mauern und diesem Zimmer gehen möchten?« »Ja, Sie erraten es«, versetzte Arthur. »Es war unser liebster Wunsch.« »Gut denn!« sagte Doyce. »Wenn diese junge Dame mir die Ehre erzeigen will, mich für vierundzwanzig Stunden als ihren Vater zu betrachten, und mit mir nach der St. Paulskirche fahren will, so glaube ich sagen zu können, was wir dort wollen.« Klein-Dorrit und er verließen bald darauf das Zimmer, und Mr. Meagles blieb noch einen Augenblick zurück, um seinem Freunde ein Wort zu sagen. »Ich glaube, Arthur, Sie werden morgen Mutter und mich nicht brauchen; wir wollen wegbleiben. Es möchte Mutter an Pet erinnern; sie ist eine weichherzige Frau, sie bleibt am besten auf dem Landhaus, und ich bleibe bei ihr und leiste ihr Gesellschaft.« Damit schieden sie vorderhand. Und der Tag endigte und die Nacht endigte und der Morgen kam und Klein-Dorrit, einfach gekleidet wie gewöhnlich und ohne andre Begleitung als Maggy, erschien mit dem Sonnenschein im Gefängnis. Wo in der Welt war ein Zimmer so voll stiller Freude! »Mein liebes Kind«, sagte Arthur. »Warum zündet Maggy Feuer an? Wir gehen ja im nächsten Augenblick.« »Ich bat sie darum. Ich habe mir das in den Kopf gesetzt. Ich möchte, daß du mir etwas verbrennest.« »Was?« »Nur dies zusammengelegte Papier. Wenn du es eigenhändig in das Feuer werfen würdest, so wie es ist, so ist meine Grille befriedigt.« »Abergläubisch, liebe Klein-Dorrit. Ist es ein Zauber?« »Es ist alles, was du willst, mein Lieber«, antwortete sie, indem sie mit strahlenden Augen lachte und sich auf die Zehenspitzen erhob, um ihn zu küssen, »wenn du nur meiner Laune genügst, sowie das Feuer in die Höhe flackert.«

So standen sie vor dem Feuer und warteten; Clennam hatte den Arm um sie geschlungen, während das Feuer, wie es oft an diesem Ort getan, in Klein-Dorrits Augen glänzte. »Brennt es schon stark genug?« sagte Arthur. »Vollkommen stark genug«, sagte Klein-Dorrit. »Müssen bei dem Zauber auch Worte gesprochen werden?« fragte Arthur, während er das Papier über die Flamme hielt. – »Du kannst sagen (wenn du nichts dawider hast): ›Ich liebe dich!‹«, antwortete Klein-Dorrit. So sagte er denn diese Worte, und das Papier loderte auf.

Sie gingen sehr still über den Hof; denn niemand war da, obgleich viele Köpfe verstohlen aus den Fenstern guckten. Nur ein vertrautes Gesicht befand sich in dem Schließerstübchen. Als sie beide es angeredet und viele freundliche Worte mit ihm gewechselt hatten, wandte sich Klein-Dorrit noch einmal, zum letzten Male, nach ihm um, bot ihm ihre Hand und sagte: »Leben Sie wohl, guter John! Ich hoffe. Sie werden sehr glücklich werden. Sie lieber Mensch!«

Dann schritten sie die Stufen der nahen St. Georgskirche hinauf und traten an den Altar, wo Daniel Doyce in seiner Funktion als Vater ihrer wartete. Dort stand auch Klein-Dorrits alter Freund, der ihr das Begräbnisregister als Pfühl gegeben: voll von Bewunderung, daß sie doch noch zu ihnen käme, um sich trauen zu lassen.

Und sie wurden getraut, während die Sonne durch die gemalte Gestalt unseres Erlösers im Fenster auf sie herabschien. Und sie traten in dasselbe Zimmer, wo Klein-Dorrit nach ihrer Abendgesellschaft geschlummert hatte, um dort in das Trauungsregister sich einzuzeichnen. Dort sah Mr. Pancks (bestimmt, erster Kommis bei Doyce und Clennam und später Geschäftsteilhaber zu werden), den Aufwiegler im friedlichen Freund aufgehen lassend, zur Tür herein, um Zeuge des Aktes zu sein, während er in seiner Galanterie Flora am einen Arm und Maggy am andern führte, mit einem Hintergrunde von John Chivery und dessen Vater und andern Schließern, die auf einen Augenblick herübergelaufen waren und das väterliche Marschallgefängnis verlassen hatten, um sein glückliches Kind zu sehen. Flora zeigte nicht die geringste Spur eines eingezogenen Lebens, trotz ihrer neulichen Erklärung, sondern sah im Gegenteil ungemein frisch und munter aus und hatte eine große Freude an der Zeremonie, wenn auch in einer etwas aufgeregten Weise.

Klein-Dorrits alter Freund hielt das Tintenfaß, während sie ihren Namen unterschrieb, und der Küster hielt einen Augenblick inne, als er dem guten Geistlichen den Chorrock abnahm, und alle Zeugen waren mit größtem Interesse bei der Handlung. »Denn Sie müssen wissen«, sagte Klein-Dorrits alter Freund, »diese junge Dame ist eine von unsern Merkwürdigkeiten und ist jetzt bei dem

Nach dem Trauungsprotokoll.

dritten Bande unserer Register angekommen. Ihre Geburt steht in dem, was ich den ersten Band nenne; sie lag auf diesem Boden mit ihrem hübschen Köpfchen auf dem, was ich den zweiten Band nenne; und nun schrieb sie ihren kleinen Namen als Braut in das, was ich den dritten Band nenne, nun.«

Sie traten alle auf die Seite, als das Einschreiben vorüber war, und Klein-Dorrit und ihr Gatte gingen allein aus der Kirche hinweg. Einen Augenblick blieben sie auf den Stufen des Portals stehen, schauten in die frische Perspektive der Straße, die im Morgenstrahl der Herbstsonne glänzte, und stiegen dann hinab.

Stiegen hinab in ein bescheidenes Leben voll Nützlichkeit und Glück. Stiegen hinab, um mit der Zeit Fannys vernachlässigten Kindern keine geringere mütterliche Sorgfalt zu widmen als ihren eigenen und diese Dame statt dessen immer und ewig in Gesellschaft gehen zu lassen. Stiegen hinab, um noch einige wenige Jahre Tip zu pflegen, der sich niemals Gewissensbisse über die großen Opfer machte, die er als Ersatz für die Reichtümer verlangte, die er ihr gegeben haben würde, wenn er sie selbst gehabt, und der liebevoll seine Augen vor dem Marschallgefängnis und allen seinen am Wachstum verhinderten Früchten schloß. Sie stiegen still hinab in die lärmenden Straßen, unzertrennlich und glücklich, und wie sie im Sonnenschein und im Schatten dahingingen, eilten und stürmten die Lärmenden und die Geschäftigen, die Anmaßenden und die Eigensinnigen und die Eitlen ungestüm an ihnen vorüber und machten ihr gewöhnliches Getöse.

Viertes Kapitel.


Viertes Kapitel.

Ein Brief von Klein-Dorrit.

Lieber Mr. Clennam!

Ich schreibe Ihnen aus meinem Zimmer in Venedig, in der Erwartung, daß es Sie freuen werde, von mir zu hören. Aber ich weiß, es kann Ihnen keine so große Freude bereiten, von mir zu hören, als mir, Ihnen zu schreiben; denn alles um Sie her ist, wie Sie es zu sehen gewohnt sind, und Sie vermissen nichts – wenn nicht mich, was nur auf Augenblicke und höchst selten der Fall sein mag –, während alles in meinem jetzigen Leben so fremdartig ist und ich so viel vermisse.

Klein-Dorrit in Venedig.

Als wir in der Schweiz waren, was mich jetzt schon dünkt, als wäre es vor Jahren gewesen, obgleich es nur wenige Wochen her ist, traf ich die junge Mrs. Gowan, die, wie wir, sich auf einem Bergausflug befand. Sie sagte mir, sie sei sehr wohl und sehr glücklich. Sie trug mir auf, Ihnen zu sagen, daß sie Ihnen herzlich für Ihre Teilnahme danke und Sie nie vergessen werde. Sie sprach sehr vertraulich mit mir, und ich liebte sie beinahe im ersten Augenblick, als ich mit ihr sprach. Aber dabei ist nichts zu verwundern: wer müßte nicht ein so schönes und gewinnendes Wesen lieben! Ich würde über keinen erstaunen, der sie liebte. Nein, wahrhaftig nicht.

Es wird Ihnen hoffentlich keinen Kummer bereiten – denn ich erinnere mich, daß Sie sagten, Sie hätten das Interesse eines wahren Freundes für sie –, wenn ich Ihnen sage, ich wünschte, sie hätte einen Mann geheiratet, der besser für sie paßte. Mr. Gowan scheint sie zu lieben, und natürlich liebt auch sie ihn sehr, aber mir kam es vor, als wenn er es nicht ernst genug meinte, – ich meine nicht in dieser Hinsicht, ich meine im ganzen. Ich konnte mir’s nicht aus dem Kopf bringen, daß, wenn ich Mrs. Gowan wäre (welcher Tausch würde das sein und wie müßte ich mich ändern, um ihr zu gleichen), ich mich allein und verlassen fühlen würde, weil mir jemand fehlte, der fest und beharrlich im Entschlüsse wäre. Mir kam es sogar vor, al« wenn sie diesen Mangel etwas fühlte, jedoch ohne es genau zu wissen. Aber lassen Sie sich dadurch nicht beunruhigen, denn sie war »sehr wohl und sehr glücklich«. Und sie sah außerordentlich hübsch aus.

Ich hoffe, sie in kurzer Zeit wiederzusehen und erwarte sie sogar seit einigen Tagen hier. Ich werde ihr stets so freundlich um Ihretwillen zugetan sein wie ich kann. Lieber Mr. Clennam, Sie werden wohl wenig daran denken, daß Sie mir ein Freund gewesen sind, wie ich keinen andern hatte (nicht daß ich jetzt welche hätte: denn ich habe keine neuen Freundschaften geschlossen), ich denke viel daran und kann es nicht vergessen.

Ich möchte wohl wissen – aber es ist am besten, wenn mir niemand schreibt –, wie sich Mr. und Mrs. Plornish bei dem Geschäft befinden, das ihnen mein lieber Vater gekauft, und ob der alte Mr. Nandy glücklich bei ihnen und seinen zwei Enkeln lebt und immer und immer wieder seine alten Lieder singt. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten, wenn ich an meine arme Maggy denke und die Leere, die sie anfangs ohne ihr Mütterchen gefühlt haben muß, so freundlich sie auch alle gegen sie sind. Wollen Sie sie besuchen und ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit meinen besten Grüßen sagen, daß sie unsere Trennung nicht inniger beklagt haben kann als ich? Und wollen Sie ihnen allen sagen, daß ich jeden Tag an sie gedacht habe, daß mein Herz treu an ihnen hängt, wie ich auch sein mag? Oh, wenn Sie wissen könnten, wie treu, Sie würden mich beinahe bemitleiden, daß ich so fern und so reich bin.

Sie werden sich gewiß freuen zu erfahren, daß mein lieber Vater sehr wohl ist und daß all diese Veränderungen sehr wohltätig auf ihn einwirkten, und daß er ganz anders ist als damals, da Sie ihn noch häufig besuchten. Auch mit meinem Onkel, glaube ich, ist eine Veränderung zum Bessern vorgegangen, wenn er sich auch früher nie beklagte und über das Jetzt nicht gerade in Entzücken gerät. Fanny ist sehr anmutig, lebhaft und gewandt. Es steht ihr ganz natürlich, die Lady zu spielen, sie hat sich an unser neues Glück mit wunderbarer Leichtigkeit gewöhnt.

Das erinnert mich daran, daß es mir nicht so leicht wird und daß ich bisweilen ganz daran verzweifle. Ich finde, daß ich das nicht lernen kann. Mrs. General ist immer mit uns, und wir sprechen Französisch und sprechen Italienisch, und sie gibt sich Mühe, uns auf mancherlei Weise zu bilden. Wenn ich sage, wir sprechen Französisch und Italienisch, so meine ich, sie tun’s. Was mich betrifft, so bin ich so langsam, daß ich kaum weiter komme. Sobald ich Pläne zu entwerfen, nachzudenken und Versuche zu machen beginne – geht all mein Planentwerfen, Nachdenken und Versuchemachen in alten Geleisen, und ich fange wieder an, um die Kosten des Tages und um meinen Vater und meine Arbeit zu sorgen, und dann erinnere ich mich wieder, daß keine solchen Sorgen mehr existieren, und das ist mir an und für sich so neu und unwahrscheinlich, daß ich mich dem Grübeln ergebe. Ich hätte nicht den Mut, das gegen irgend jemanden als gegen Sie zu erwähnen.

Dasselbe ist mit all diesen neuen Ländern und wunderbaren Szenen der Fall. Sie sind sehr schön und setzen mich in Erstaunen, aber ich bin nicht gesammelt genug, nicht vertraut genug mit mir, wenn Sie verstehen können, was ich damit meine – all das Vergnügen aus ihnen zu schöpfen, das ich haben könnte. Was ich vor ihnen kennenlernte, vermischt sich überdies mit ihnen so seltsam. Zum Beispiel, als wir in den Bergen waren, war mir’s oft (ich zögere, selbst Ihnen so lächerliche Geschichten zu erzählen, Mr. Clennam), als wenn das Marschallgefängnis hinter diesem großen Felsen sein müßte, oder als wenn das Zimmer von Mrs. Clennam, wo ich so manchen Tag gearbeitet und wo ich Sie zum ersten Male sah, jenseits dieses Schneefeldes sein müßte. Erinnern Sie sich jener Nacht, als ich mit Maggy nach Ihrer Wohnung in Covent Garden kam? Es war oft und häufig, als wenn ich jenes Zimmer vor mir sähe und es meilenweit neben unsrem Wagen herginge, wenn ich zum Fenster hinaus in die Dunkelheit sah. Wir waren jene Nacht ausgeschlossen und saßen an dem eisernen Tor und gingen umher bis zum Morgen. Ich sehe oft zu den Sternen empor, namentlich von dem Balkon dieses Zimmers aus, und glaube wieder in jener Straße zu sein, mit Maggy ausgeschlossen. Das gleiche ist mit den Menschen der Fall, die ich in England zurückgelassen. Wenn ich hier in einer Gondel umherfahre, überrascht es mich oft selbst, daß ich, in andre Gondeln blickend, sie zu sehen hoffte. Es würde mir eine unendliche Freude bereiten, sie zu sehen, aber ich glaube nicht, daß es mich anfangs sehr überraschen würde. In meinen träumerischen Stunden ist es mir, als wenn sie überall sein müßten; und ich meine ihre lieben Gesichter auf Brücken und Quais zu sehen.

Eine andre Schwierigkeit, die ich habe, wird Ihnen sehr seltsam erscheinen und erscheint mir sogar so: ich fühle oft das alte traurige Mitleid mit – ich brauchte das Wort nicht zu schreiben – mit ihm. Obgleich er in ganz andrer Lage ist, und so unaussprechlich glücklich und dankbar ich bin, daß ich das weiß, drängt sich das alte kummervolle Gefühl des Mitleids mir bisweilen mit solcher Heftigkeit auf, daß ich wünsche, ich könnte meinen Arm um seinen Hals schlingen, ihm sagen, wie ich ihn liebe, und einige Zeit an seiner Brust weinen. Ich würde dann wieder froh und stolz und glücklich sein. Aber ich weiß, daß ich das nicht tun darf, daß er es nicht gern sähe, daß Fanny ärgerlich würde und Mrs. General aufstaunen müßte, und so beruhige ich mich wieder. Aber wenn ich das tue, kämpfe ich mit dem Gefühl, daß ich eine Kluft zwischen mir und ihm entstehen sehen muß, und daß er mitten unter all seinen Dienern und Untergebenen verlassen ist und ich ihm fehle.

Lieber Mr. Clennam, ich habe viel von mir geschrieben, aber ich muß noch etwas mehr schreiben; denn das, woran mir am meisten lag, daß es in diesem schwachen Briefe eine Stelle finde, müßte sonst ausbleiben. Bei all diesen meinen törichten Gedanken, die ich so kühn war. Ihnen zu bekennen, weil ich weiß, daß Sie allein mich verstehen, wenn irgend jemand dazu imstande ist, und mehr Nachsicht gegen mich haben werden, als irgend jemand sonst, wenn Sie es nicht können – bei all diesen törichten Gedanken ist einer, der kaum je – nie – aus meinem Gedächtnis schwinden wird, und dieser ist, daß ich hoffe, Sie werden bisweilen in einem stillen Augenblick an mich denken. Ich muß Ihnen sagen, daß ich in dieser Beziehung beständig, seit ich fort bin, eine Angst habe, die ich mir um jeden Preis vom Herzen zu schaffen wünsche. Ich fürchtete, Sie möchten mich in einem neuen Licht, als ein neues Wesen betrachten. Tun Sie das nicht – ich könnte es nicht ertragen – es würde mich unglücklicher machen, als Sie vermuten. Um was ich Sie bitten und ersuchen möchte, ist, daß Sie nie an mich als an die Tochter eines reichen Mannes denken; daß Sie nie an mich denken, als ob ich besser gekleidet wäre, besser lebte, denn da ich Sie zum ersten Male sah. Daß Sie sich meiner nur als des dürftig gekleideten Mädchens erinnern, das Sie mit so viel Zärtlichkeit beschützt, von dessen fadenscheinigem Kleid Sie den Regen abgehalten und dessen nasse Füße Sie an Ihrem Kamin getrocknet haben. Daß Sie an mich und meine wahre Liebe und innige Dankbarkeit (wenn Sie überhaupt an mich denken) immer und ohne Veränderung gedenken, als an

Ihr armes Kind Klein-Dorrit.

PS. Besonders erinnern Sie sich, daß Sie wegen Mrs. Gowan nicht unruhig sein dürfen. Ihre Worte waren: »Sehr wohl und sehr glücklich.« Und sie sah außerordentlich hübsch aus.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Es ist nicht richtig irgendwo.

Die Familie war ein bis zwei Monate in Venedig gewesen, als Mr. Dorrit, der viel unter Grafen und Marquis verkehrte und nur wenig übrige Zeit hatte, sich vornahm, eine Stunde an einem besondern Tage zu dem Zweck zu erübrigen, um eine Konferenz mit Mrs. General zu halten.

Als die Zeit, die er sich in Gedanken reserviert hatte, gekommen war, schickte er Mr. Tinkler, seinen Kammerdiener, nach Mrs. Generals Zimmer, (das ungefähr ein Dritteil der Grundfläche des Marschallgefängnisses eingenommen haben würde), um dieser Dame seine Empfehlung zu sagen und sie wissen zu lassen, daß er wünsche, sie möge ihm die Gefälligkeit einer Unterredung mit ihr gönnen. Da es die Zeit des Vormittags war, in der die verschiedenen Glieder der Familie auf ihren besondern Zimmern Kaffee tranken, etwa zwei Stunden, ehe man sich in einer verblichenen Halle, die ehemals prächtig gewesen, nun aber die Beute wässriger Dünste und steter Melancholie war, zum Frühstück versammelte, so konnte der Kammerdiener bei Mrs. General vorkommen. Der Abgesandte fand sie auf einem kleinen viereckigen Teppich, der so außerordentlich winzig war im Vergleich mit dem Umfang ihres steinernen und marmornen Fußbodens, daß es aussah, als ob sie ihn ausgebreitet, um eine Paar neuer, im Laden gekaufter Schuhe darauf anzuprobieren, oder als wenn sie in den Besitz des bezauberten Stückes Teppich gekommen, der von einem der drei Prinzen in Tausend und eine Nacht für vierzig Beutel gekauft worden war, – und nun auf ihren Wunsch hin, in diesem Augenblick, auf demselben in einen Salon eines Palastes getragen wäre, der in gar keiner Beziehung zu ihr stand.

Da Mrs. General dem Abgesandten, die leere Kaffeetasse niedersetzend, antwortete, sie beabsichtige sich augenblicklich nach dem Zimmer von Mr. Dorrit zu begeben, um ihm die Mühe, zu ihr zu kommen, zu ersparen (was er ihr in seiner Galanterie vorgeschlagen), so stieß der Abgesandte die Tür auf und begleitete Mrs. General zu seinem Herrn. Es war wirklich ein weiter Weg über geheimnisvolle Treppen und Gänge von Mrs. Generals Zimmer nach Mr. Dorrits Gemach: ersteres wurde durch eine enge Seitenstraße, mit einer niedern finstern Brücke, und kerkerartige gegenüberliegende Häuser verdunkelt, deren Mauern mit Tausenden von abwärts gehenden Flecken und Streifen beschmiert waren, als wenn jede baufällige Öffnung in denselben Tränen von Rost seit Jahrhunderten in das Adriatische Meer geweint hatte: das letztere hatte so viel Fenster wie eine ganze englische Hausfront, die Aussicht auf herrliche Kirchtürme, die aus dem Wasser, das sie widerspiegelte, in den klaren blauen Himmel emporstiegen, und man hörte das gedämpfte Gemurmel des großen Kanals, der die Torwege umspüte und auf dem die Gondoliere auf einen Befehl harrten, indem sie träge zwischen dem kleinen Wald von Pfählen hin und her schwammen.

Mr. Dorrit, der einen glänzenden Morgenrock und eine elegante Mütze trug – die schlafende Raupe, die so lange ihre Zeit unter den Kollegen ausgehalten, hatte sich in einen seltenen Schmetterling verwandelt –, erhob sich, um Mrs. General zu empfangen. Einen Stuhl für Mrs. General. Einen bequemeren Stuhl, Sir; was tun Sie, was machen Sie, was wollen Sie? Nun, verlassen Sie uns!

»Mrs. General«, sagte Mr. Dorrit, »ich nahm mir die Freiheit –«

»Nicht doch!« warf Mrs. General ein. »Ich stand ganz zu Ihrem Befehl. Ich hatte meinen Kaffee getrunken.«

»Ich nahm mir die Freiheit«, wiederholte Mr. Dorrit, mit der vornehmen Selbstgefälligkeit eines Mannes, der über jede Verbesserung erhaben ist, »mir die Gunst einer kleinen Privatunterhaltung mit Ihnen zu erbitten, – weil mir meine – ha – meine jüngere Tochter ziemlich viel Sorge macht. Sie werden einen großen Unterschied im Temperament zwischen meinen zwei Töchtern bemerkt haben, Madame?«

Mrs. General antwortete, indem sie die behandschuhten Hände ineinanderlegte (sie war nie ohne Handschuhe, und diese waren nie schmutzig und immer sehr anliegend): »Es ist allerdings ein großer Unterschied.«

»Darf ich Sie um die Gefälligkeit ersuchen, mir Ihre Ansicht darüber mitzuteilen?« sagte Mr. Dorrit mit einer Herablassung, die mit majestätischer Ruhe wohl vereinbar war.

»Fanny«, versetzte Mrs. General, »hat Charakterstärke und Selbstvertrauen; Amy beides nicht.«

Nicht? Oh, Mrs. General, fragen Sie die Steine und Gitter des Marschallgefängnisses. Oh, Mrs. General, fragen Sie die Putzmacherin, die sie nähen lehrte, und den Tanzmeister, der ihre Schwester im Tanzen unterwies. Oh, Mrs. General, Mrs. General, fragen Sie mich, ihren Vater, was ich ihr schuldig bin; und hören Sie mein Zeugnis über das Leben dieses schwächlichen, kleinen Geschöpfes von ihrer Kindheit an!

Keine solche Beschwörung kam Mr. Dorrit in den Sinn. Er blickte Mrs. General an, die in ihrer gewöhnlichen aufrechten Haltung auf ihrem Wagensitz hinter ihren Anstandsgefühlen saß, und sagte in gedankenvoller Weise: »Richtig, Madame.«

»Merken Sie wohl«, sagte Mrs. General, »ich möchte nicht so verstanden werden, als wollte ich sagen, es sei nichts an Fanny zu tadeln. Es ist vielleicht nur zuviel Material vorhanden.«

»Wollen Sie so freundlich sein, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »sich etwas – ha – deutlicher auszusprechen. Ich verstehe nicht ganz, was das heißen soll, es sei bei meiner älteren Tochter zuviel Material vorhanden. Was für Material?« »Fanny«, versetzte Mrs. General, »bildet sich gegenwärtig zuviel Meinungen. Vollendete Erziehung bildet keine und ist nur demonstrativ.«

Damit er nicht in Verdacht käme, als mangelte ihm die vollendete Erziehung, beeilte sich Mr. Dorrit zu erwidern: »Ganz gewiß, Madame, Sie haben recht.« Mrs. General antwortete in ihrer apathischen und ausdruckslosen Weise: »Ich glaube wenigstens.«

»Aber Sie wissen, meine liebe Madame«, sagte Mr. Dorrit, »daß meine Töchter das Unglück hatten, ihre tief beweinte Mutter zu verlieren, als sie noch sehr jung waren; und daß sie infolge des Umstandes, der mich erst spät in den Besitz meines rechtmäßigen Erbes setzte, bei mir, einem verhältnismäßig armen, wenn auch immerhin stolzen Gentleman, ein – ha – zurückgezogenes Leben geführt!«-

»Ich lasse diesen Gesichtspunkt nicht aus den Augen«, sagte Mrs. General.

»Madame«, fuhr Mr. Dorrit fort, »wegen meiner Tochter Fanny habe ich, solange sie unter der gegenwärtigen Leitung steht und solch ein Beispiel beständig vor Augen hat –«

Mrs. General schloß ihre Augen.

»– keine Besorgnisse. Fanny besitzt einen bildungsfähigen Charakter. Aber meine jüngere Tochter, Mrs. General, flößt mir vielfache Besorgnisse ein und quält meine Gedanken. Ich muß Ihnen sagen, daß sie immer mein Liebling war.«

»Diese Vorliebe«, sagte Mr«. General, »kommt nicht in Anrechnung.«

»Ha – nicht«, stimmte Mr. Dorrit zu. »Nicht. Nun macht es mir aber Verdruß, daß ich bemerken muß, daß Amy sozusagen nicht zu den Unsrigen zählt. Es liegt ihr nichts daran, mit uns umherzugehen; sie existiert für die Gesellschaft, die wir hier haben, gar nicht; unser Geschmack harmoniert offenbar nicht mit dem ihrigen. Was«, sagte Mr. Dorrit, mit richterlicher Feierlichkeit summierend, »kurz so viel heißen will, als ob etwas nicht richtig sei bei – ha – Amy.«

»Sollen wir nicht zu der Vermutung hinneigen«, sagte Mr«. General mit einem leichten Pinsel voll Firnis, »daß der Neuheit der Lage einige Rechnung zu tragen ist?«

»Entschuldigen Sie, Madame«, bemerkte Mr. Dorrit ziemlich lebhaft. »Die Tochter eines Gentleman, wenn er auch – ha – zu einer Zeit verhältnismäßig weit entfernt vom Überfluß war – verhältnismäßig – und sie selbst in – hm – großer Zurückgezogenheit aufwuchs, muß diese Lage nicht so unbedingt neu finden.«

»Richtig«, sagte Mrs. General, »richtig.«

»Deshalb, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »nahm ich mir die Freiheit«, (er legte ein großes Gewicht auf diese Phrase und wiederholte sie, als wollte er sich mit höflicher Bestimmtheit ausgebeten haben, daß ihm nicht abermals widersprochen werde), »ich nahm mir die Freiheit, Sie um diese Unterredung zu bitten, um Ihnen die Sache vorzutragen und Ihren Rat zu vernehmen.«

»Mr. Dorrit«, sagte Mrs. General, »ich sprach zu verschiedenen Malen, seit wir hier wohnen, mit Amy im allgemeinen über die Bildung des Betragens. Sie drückte mir ihr großes Staunen über Venedig aus. Ich sagte ihr, daß es besser sei, nicht zu staunen. Ich deutete darauf hin, daß der berühmte Mr. Eustace, der klassische Tourist, nicht viel davon hielt und daß er den Rialto, sehr zu dessen Nachteil, mit den Westminster- und Blackfriars-Brücken verglich. Ich brauche, nach dem, was Sie selbst gesagt, nicht hinzuzufügen, daß ich mit meinen Argumenten keinen großen Erfolg erzielte. Sie erzeigen mir die Ehre, mich um meinen Rat zu befragen. Es erscheint mir immer (sollte es eine grundlose Annahme sein, so bitte ich um Entschuldigung), als wenn Mr. Dorrit gewöhnt gewesen wäre, Einfluß auf den Willen anderer zu üben.«

»Hm – Madame«, sagte Mr. Dorrit, »ich stand an der Spitze einer – ha – einer beträchtlichen Gesellschaft. Sie haben recht, wenn Sie vermuten, daß ich an eine einflußreiche Stellung gewöhnt bin.«

»Ich bin glücklich«, versetzte Mrs. General, »meine Ansicht so bestätigt zu sehen. Ich möchte deshalb mit um so größerer Zuversicht raten, daß Mr. Dorrit selbst mit Amy spreche und ihr seine Beobachtungen und Wünsche mitteile. Da sie überdies sein Liebling ist und ohne Zweifel sehr an ihm hängt, so wird sie auch um so sicherer seinem Einflusse offen stehen.«

»Ich hatte Ihren Wink geahnt, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »war jedoch nicht sicher – ha –, ob ich nicht – hm – dadurch Übergriffe –«

»Auf mein Terrain machen, Mr. Dorrit?« sagte Mrs. General freundlich. »Sprechen Sie nicht davon.«

»Dann, Madame«, fuhr Mr. Dorrit fort, indem er seinem Kammerdiener läutete, »dann will ich sogleich nach ihr schicken.«

»Wünscht Mr. Dorrit, daß ich bleibe?«

»Vielleicht, wenn Sie nichts anderes zu tun haben, werden Sie mir eine oder zwei Minuten schenken –«

»Gewiß.«

Tinkler, der Kammerdiener, wurde beauftragt. Miß Amys Mädchen zu suchen und diesem untergeordneten Wesen zu sagen, daß sie Miß Amy davon in Kenntnis setze, Mr. Dorrit wünsche, sie in seinem Zimmer zu sprechen. Mr. Dorrit sah Tinkler streng an, während er ihm diesen Auftrag erteilte, und hatte einen argwöhnischen Blick auf ihn geheftet, bis er zur Türe hinaus war; denn er mißtraute ihm, er möchte etwas, was der Familienwürde Eintrag tun könnte, im Sinne haben; er möchte von einem kollegialen Scherz Wind bekommen haben, ehe er in seinen Dienst kam, und nun im gegenwärtigen Augenblick zu seinem Hohn die Erinnerung wieder auffrischen. Hätte Tinkler zufällig gelacht, wenn auch noch so flüchtig und unschuldig, würde doch Mr. Dorrit bis zu seiner Todesstunde nichts davon haben überzeugen können, daß dies nicht der Fall gewesen. Da Tinkler jedoch zufällig, und zu seinem großen Glück, gerade ein ernstes und ruhiges Gesicht machte, so entging er der geheimen Gefahr, die ihm drohte. Und da er bei seiner Wiederkunft – als Mr. Dorrit ihn ansah – Miß Amy meldete, als käme sie zu einem Leichenbegängnis, so machte er auf Mr. Dorrit den allgemeinen Eindruck eines ordentlichen Jungen, der im Studium seines Katechismus von seiner verwitweten Mutter erzogen worden.

»Amy«, sagte Mr. Dorrit, »du warst gerade der Gegenstand einer Unterredung zwischen mir und Mrs. General. Wir sind beide der Ansicht, daß du dich hier nicht heimisch fühlst. Ha – wie kommt das?«

Eine Pause.

»Ich glaube, Vater, ich brauche etwas Zeit.«

»Papa ist eine bessere Anredeweise«, bemerkte Mrs. General. »Vater ist etwas gewöhnlich, meine Liebe. Das Wort Papa gibt überdies den Lippen eine hübsche Form. Papa, potatoes, poultry, prunes und prism sind lauter gute Worte für die Lippen: namentlich prunes und prism. Sie werden es für die Bildung Ihres Benehmens sehr zweckdienlich finden, wenn Sie bisweilen in Gesellschaft, zum Beispiel beim Einritt in ein Zimmer, vor sich hin sagen: Papa, potatoes, poultry, prunes und prism.«

»Bitte, mein Kind«, sagte Mr. Dorrit, »höre auf die Vorschriften von Mrs. General.«

Die arme Klein-Dorrit versprach, mit einem ziemlich flüchtigen Blick auf die große Lackiererin, es zu versuchen.

»Du sagst, Amy«, fuhr Mr. Dorrit fort, »daß du Zeit zu brauchen glaubst. Zeit, wozu?«

Ein zweite Pause.

»Um mich an mein neues Leben zu gewöhnen, das war alles, was ich meinte«, sagte Amy, indem ihr liebevoller Blick auf ihrem Vater ruhte, den sie in ihrem Eifer, Mrs. General zu folgen und ihm zu Gefallen zu sein, nahe daran gewesen, als poultry, wenn nicht gar als prunes und prism anzureden.

Mr. Dorrit krauste die Stirn und schien nichts weniger als erfreut. »Amy«, versetzte er, »es scheint mir, offen gesagt, als wenn du reichlich Zeit gehabt hättest. Ha – du setzest mich in Erstaunen, du enttäuschst meine Erwartungen. Fanny hat all die kleinen Schwierigkeiten überwunden, und – hm – warum du nicht auch?«

»Ich hoffe, es wird bald besser gehen«, sagte Klein-Dorrit.

»Ich hoffe auch«, versetzte ihr Vater. »Ich hoffe wahrhaftig recht von Herzen, Amy. Ich schickte nach dir, um dir zu sagen, – hm – dir recht eindringlich, und zwar in Gegenwart von Mrs. General, der wir alle zu so großem Danke verpflichtet sind, daß sie bei dieser und ähnlichen Gelegenheiten zugegen ist«, Mrs. General schloß ihre Augen, »zu sagen, daß ich – hm – gar nicht zufrieden mit dir bin. Du machst Mrs. Generals Arbeit zu einer sehr undankbaren. Du – ha – setzt mich in große Verlegenheit. Du warst stets (wie ich Mrs. General mitgeteilt habe) mein Liebling; ich habe dich immer – hm – als Freundin und Gesellschafterin um mich gehabt: dafür bitte ich – ha – bitte – ha – ich dich, daß du dich besser den – hm – Umständen anbequemst und pflichtgetreuer tust, was – deine Stellung verlangt.«

Mr. Dorrit sprach sogar noch etwas abgebrochener als sonst, da ihn der Gegenstand aufregte und er einen besonderen Nachdruck in seine Worte legen wollte.

»Ich bitte dich«, wiederholte er, »daß du dies im Auge behältst und dir ernstlich Mühe gibst, dich in einer Weise zu benehmen, die einerseits für deine Stellung als – ha – Miß Amy Dorrit paßt, anderseits mir und Mrs. General Befriedigung gewährt.«

Diese Dame schloß die Augen wieder, als sie abermals sich erwähnen hörte; dann, sie langsam öffnend und aufschlagend, fügte sie diese Worte hinzu:

»Wenn Miß Amy Dorrit auf die Bildung einer standesgemäßen Außenseite bedacht sein und meine arme Unterstützung dabei annehmen will, so wird Mr. Dorrit fortan keinen Grund zu Besorgnissen mehr haben. Darf ich diese Gelegenheit ergreifen zu bemerken, daß es zum Beispiel nicht sonderlich fein ist, Vagabunden solche Aufmerksamkeit zu schenken, wie ich es eine mir sehr liebe junge Freundin tun sah? Man steht solche Leute nicht an. Man sollte überhaupt nie etwas Unangenehmes ansehen. Namentlich da eine solche Gewohnheit einer anmutigen Gleichmütigkeit des Gesichtsausdrucks im Wege steht, die mehr als alles ein Zeugnis guter Erziehung ist, scheint es kaum mit seiner Bildung vereinbar zu sein. Ein wirklich feingebildeter Geist wird immer den Anschein haben, als ob er gar nichts von der Existenz von Dingen wüßte, die nicht vollkommen schön, gefällig und angenehm sind.« Nachdem Mrs. General diesen erhabenen Gedanken zum besten gegeben, machte sie eine rauschende Verbeugung und verließ das Zimmer mit einem Ausdruck des Mundes, als ob auf ihren Lippen die Worte prunes und prism schwebten.

Klein-Dorrit mochte sprechen oder schweigen, sie behielt ihren ruhigen Ernst und ihren liebevollen Blick. Er hatte sich bis jetzt, mit Ausnahme eines flüchtigen Augenblicks, noch nicht umwölkt. Aber nun, da sie allein mit ihrem Vater war, bewegten sich die Finger ihrer leicht gefalteten Hände etwas unruhig, und in ihrem Gesicht lag eine unterdrückte Aufregung.

Nicht ihr selbst galt diese. Sie mochte sich wohl leicht verwundet fühlen, aber ihre Sorge galt nicht ihr selbst. Ihre Gedanken richteten sich wie immer auf ihn. Eine schwache Ahnung, die, seit sie reich geworden, auf ihr gelastet, daß sie selbst jetzt nie mehr die Freude haben sollte, ihn zu sehen, wie er ehedem, vor den Toren des Gefängnisses wartete, hatte mit der Zeit Gestalt bekommen. Sie fühlte, daß in dem, was er soeben zu ihr gesagt, und in seinem ganzen Benehmen gegen sie der wohlbekannte Schatten der Mauern des Marschallgefängnisses auf ihm ruhe. Er nahm jetzt eine neue Gestalt an, aber es war der alte traurige Schatten. Sie begann sich schmerzlich ungern einzugestehen, daß sie nicht stark genug sei, die Furcht von sich fernzuhalten, daß kein noch so langer Zeitraum im Menschenleben jenes Vierteljahrhundert hinter den Gefängnisriegeln zu verwischen vermöge. Sie konnte ihm darob keinen Vorwurf machen; kein Tadel drängte sich auf ihre Lippen, kein andres Gefühl lebte in ihrem treuen Herzen als innige Teilnahme und grenzenlose Zärtlichkeit.

Das war der Grund, weshalb sie, selbst jetzt, da er vor ihr auf seinem Sofa saß, in dem glänzenden Lichte eines herrlichen italienischen Tages, – draußen die wundervolle Stadt und drinnen die Pracht eines alten Palastes – ihn in dem wohlbekannten Dunkel seiner Marschallgefängniswohnung zu erblicken glaubte und ihren Sitz neben ihm einzunehmen und ihn zu trösten und wieder voll Zutraulichkeit gegen ihn und voll Dienstbarkeit für ihn zu sein wünschte. Wenn er ahnte, was in ihren Gedanken vorging, so standen die seinen nicht im Einklang damit. Nachdem er sich auf seinem Sitz mehrmals hin und her bewegt, stand er auf und ging mit sehr unzufriedenem Ausdruck im Gesicht auf und ab.

»Willst du mir noch irgend etwas anderes sagen, lieber Vater?«

»Nein, nein. Nichts sonst.«

»Ich bedaure sehr, daß du nicht mit mir zufrieden bist. Ich hoffe, du denkst jetzt nicht mit Kummer an mich. Ich will mir mehr denn je Mühe geben, mich, wie es dein Wunsch ist, an meine Umgebung anzupassen – denn ich habe wahrhaftig die ganze Zeit her mir alle Mühe gegeben; es ist mir freilich, ich weiß es, nicht gelungen.«

»Amy«, versetzte er, sich plötzlich nach ihr umwendend. »Du – ha – verletzt mich fort und fort.«

»Ich dich verletzen, Vater! Ich!«

»Es gibt einen – hm – einen Punkt«, sagte Mr. Dorrit, indem er dabei an der ganzen Decke umhersah und dem aufmerksamen, schmerzlich bewegten und doch klaglosen Gesicht keinen Blick gönnte, »einen peinlichen Punkt, eine Reihe von Erlebnissen, die ich – ha – gänzlich aus dem Gedächtnis gelöscht wissen möchte. Deine Schwester hat dies begriffen und eingesehen und dich bereits darüber in meiner Gegenwart zur Rede gestellt; dein Bruder hat es eingesehen. Jedermann – ha, hm – hat es eingesehen, wer nur irgend Zartgefühl und Takt besitzt, nur du – ha – es tut mir leid, daß ich es sagen muß – nur du willst es nicht begreifen. Du, Amy, – hm – du allein und nur du – rührst diesen Punkt beständig wieder auf, wenn auch nicht gerade in Worten.«

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie tat nichts weiter. Sie berührte ihn sanft. Die zitternde Hand sagte vielleicht mit —Text fehlt— an meine vielen Sorgen!« Aber sie selbst sagte nicht eine Silbe.

Es lag in dieser Berührung der Hand ein Vorwurf, den sie nicht geahnt, sonst würde sie sie zurückgezogen haben. Er begann sich zu rechtfertigen: in einer erhitzten, unbeholfenen und ärgerlichen Weise, die doch nicht« besagen wollte.

»Ich war all diese Jahr« dort. Ich war – ha – allgemein als die wichtigste Person jenes Platzes anerkannt. Ich – hm – war Ursache, daß du dort Ansehen genossest, Amy. Ich – ha, hm – gab meiner Familie dort eine Stellung. Ich verdiene Erkenntlichkeit. Ich verlange Erkenntlichkeit. Ich sage, tilge es von der Oberfläche der Erde und beginne ein neues Leben, Ist das viel? Ich frage, ist das viel?«

Er sah sie nicht einmal an, während er sie in dieser Weise quälte, gestikulierte dabei jedoch in der leeren Luft herum, als wenn er’s mit Gespenstern der Vergangenheit zu tun hätte.

»Ich habe viel gelitten. Ich weiß wahrscheinlich besser als irgend jemand, was ich gelitten, ha – ich sage, mehr als irgend jemand. Wenn ich das von mir wälzen kann, wenn ich die Male meiner Wunden vertilgen kann und mich vor die Welt als ein – ha – flecken- und makelloser Gentleman hinzustellen vermag –, so läßt sich doch wohl mit vollem Recht erwarten – ich sage es noch einmal, mit vollem Recht erwarten –, daß meine Kinder – hm – dasselbe tun und diese verwünschte Erfahrung von der Oberfläche der Erde vertilgen!«

Trotz seines erhitzten Zustandes sprach er all diese ungehaltenen Worte mit sorgfältig gedämpfter Stimme, damit der Kammerdiener nichts höre.

»Wie sich’s gebührt, tun sie es. Deine Schwester tut es. Dein Bruder tut es. Du allein, mein Liebling, die ich zur Freundin und Gesellschafterin meines Lebens machte, als du noch ein – hm – bloßes Kind warst, du tust es nicht. Du allein sagst, du könntest es nicht tun. Ich versehe dich mit der besten Stütze, um es tun zu können. Ich gebe dir eine vollendete und außerordentlich fein erzogene Dame – ha – Mrs. General, zur Gesellschaft, um dies zu ermöglichen. Ist es zu verwundern, daß ich ungehalten bin? Soll ich mich gar noch entschuldigen, daß ich mein Mißvergnügen darüber ausspreche? Nein!«

Trotzdem fuhr er fort, sich zu entschuldigen, ohne daß sich jedoch seine Hitze gelegt hätte.

»Ich bin stets dafür besorgt, ehe ich mein Mißfallen ausdrücke, zuvor die Bestätigung bei dieser Dame einzuholen. Natürlich – hm – apelliere ich innerhalb bestimmten Grenzen, sonst – ha – würde ich dieser Dame zu lesen ermöglichen, was ich ausgewischt zu wissen wünsche. Bin ich egoistisch? Beklage ich mich um meiner selbst willen? Nein. Nein. Vornehmlich um – ha, hm – deinetwillen, Amy.« Diese Worte schienen in der Art, wie er sie vorbrachte, erst in diesem Augenblick in seinem Innern aufgestiegen zu sein.

»Ich sagte, ich sei verletzt worden. Das bin ich auch. Ja, ich – ha – bin entschlossen, es zu sein, was auch für das Gegenteil vorgebracht worden. Es verletzt mich, daß meine Tochter, die in dem – hm – Schoß des Glückes sitzt, in stiller Zurückgezogenheit sich ihren Träumereien hingibt und damit sagt, daß sie der hohen Stellung ihres Vermögens und Rangs nicht gewachsen sei, Es verletzt mich, daß sie – ha – systematisch das wieder auffrischt, was die andern aus der Erinnerung getilgt, und daß sie – ich hätte beinahe gesagt, ängstlich darauf bedacht scheint, der reichen und vornehmen Welt zu offenbaren, sie sei an einem Orte – ha – geboren und aufgewachsen, den zu nennen mir zuwider ist. Aber es ist kein Widerspruch darin, nicht der geringste, wenn ich mich verletzt fühle und mich doch vornehmlich deinetwegen beklage, Amy. Ich beklage mich, ich wiederhole es. Um deinetwillen wünsche ich, daß du dir unter den Auspizien von Mrs. General eine – ha – Außenseite bildest. Um deinetwillen wünsche ich, daß du dir – ha – eine echt gesellschaftliche Bildung erwirbst und (um mit den treffenden Worten von Mrs. General zu sprechen) allem fremd bleibest, was nicht schön, angenehm und gefällig ist.«

Den letzten Passus seiner Rede hatte er ruckweise wie einen schlecht geordneten Alarm zu Tag gebracht, Amys Hand lag noch immer auf seinem Arm. Er schwieg; und nachdem er noch einmal eine Zeitlang an der Decke umhergeschaut, blickte er wieder auf sie herab. Ihr Kopf hatte sich gesenkt, und er konnte ihr Gesicht nicht sehen: aber die Berührung ihrer Hand war zärtlich und ruhig, und in dem Ausdruck ihrer gebeugten Gestalt lag kein Vorwurf –, sondern nur Liebe. Er begann zu weinen wie in jener Nacht im Gefängnis, wo sie später bis zum Morgen an seinem Bette gesessen; dann rief er, er sei eine arme Ruine, ein armer, unglücklicher Mann inmitten seines Reichtums und umschlang sie mit seinen Armen. »Ruhig, ruhig, mein lieber Vater! Küsse mich!« war alles, was sie sagte. Seine Tränen waren bald getrocknet, viel rascher als bei jener früheren Gelegenheit, und er benahm sich im nächsten Augenblick sehr hochfahrend gegen seinen Kammerdiener, um sich dafür zu rächen, daß er welche vergossen hatte.

Mit einer bemerkenswerten Ausnahme, die an ihrem Platze erwähnt werden wird, war dies von dem Tage ab, da er frei und reich ward, das einzige Mal, daß er zu seiner Tochter Amy von vergangenen Zeiten sprach.

Aber nun war die Stunde des Frühstücks herangerückt; und mit ihr erschienen Miß Fanny, die aus ihrem Zimmer kam, und Mr. Edward, der von seinem Zimmer kam. Diese beiden vornehmen Personen waren wegen der späten Stunde etwas schlimmer daran. Miß Fanny war das Opfer der unersättlichen Manie, immer, wie sie es nannte, »in Gesellschaft zu gehen«, und wäre zu jedermann zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang hingegangen, wenn ihr so viele Gelegenheiten zu Gebote gestanden hätten. Auch Mr. Edward hatte ausgebreitete Bekanntschaften und war gewöhnlich den größten Teil der Nacht (meist in Spielklubs und andern ähnlicher Art) in Anspruch genommen. Dieser Gentleman hatte nämlich, als seine Vermögensverhältnisse sich veränderten, den großen Vorteil, daß er bereits für die höchsten Gesellschaften vorbereitet war und wenig zu lernen brauchte: so viel verdankte er dem glücklichen Umstand, der ihn mit dem Pferdehandel und Billardmarkieren bekannt gemacht.

Beim Frühstück erschien auch Mr. Frederick Dorrit. Da der alte Gentleman den höchsten Stock des Palastes bewohnte, wo er sich im Pistolenschießen hätte üben können, ohne daß die andern Bewohner des Hauses es auch nur bemerkt hätten, so hatte seine jüngere Nichte den Mut gefaßt, den Vorschlag zu machen, man solle ihm seine Klarinette zurückgeben, die Mr. Dorrit zu konfiszieren befohlen, die sie jedoch aufzubewahren gewagt. Trotz einiger Einwendungen von Miß Fanny, daß es ein gemeines Instrument sei und daß sie den Ton desselben verabscheue, wurde doch die Konzession gemacht. Aber man machte auch die Entdeckung, daß er des Instrumentes satt war und es nie spielte, nun da es nicht länger das Mittel für ihn war, sein Brot damit zu erwerben. Er hatte unmerklich eine neue Liebhaberei bekommen: nämlich in die Gemäldegalerien zu schlendern: dabei hatte er immer seine zusammengedrückte Papiertüte mit Schnupftabak in der Hand (zum großen Unwillen von Miß Fanny, die den Vorschlag gemacht, ihm eine goldene Dose zu kaufen, damit die Familie nicht in Mißkredit gerate, die er jedoch entschieden zu tragen ausgeschlagen hatte, als sie gekauft war). Er brachte ganze Stunden vor den Bildern berühmter Venezianer zu. Es blieb unentschieden, was seine geblendeten Augen in denselben sahen; ob er ein Interesse an ihnen, als bloß Gemälden hatte, oder ob er sie unklar mit einer Herrlichkeit identifizierte, die vorüber war, wie die Stärke seines eignen Geistes. Aber er machte ihnen mit großer Pünktlichkeit seine Aufwartung und schöpfte offenbar Vergnügen aus diesem Treiben. Nach den ersten wenigen Tagen nahm Klein-Dorrit zufällig an einem dieser Besuche teil: und es mehrte seinen Genuß so sichtlich, daß sie ihn später oft begleitete, und das größte Vergnügen, für das sich der alte Mann seit seinem Ruin empfänglich zeigte, erwuchs ihm aus diesen Gängen, bei denen er ihr gewöhnlich einen Stuhl von Bild zu Bild trug und trotz aller Einwendungen hinter ihr stand, und sie schweigend den edeln Venezianern vorstellte.

Bei diesem Familienfrühstück erwähnte er zufällig, daß er am vorhergehenden Tage in einer Galerie die Dame und den Herrn gesehen hatte, die sie auf dem St. Bernhard getroffen. »Ich vergesse den Namen«, sagte er. »Du wirst dich wohl derselben erinnern, William? Oder du, Edward?« »Ich erinnere mich ihrer allerdings sehr gut«, sagte der letztere.

»Ich begreife das«, bemerkte Miß Fanny, mit einem Schütteln ihres Kopfes und einem Blick auf ihre Schwester. »Aber sie wären nicht wieder in unserem Gedächtnis aufgetaucht, glaube ich, wenn Onkel nicht über sie gestolpert wäre.«

»Meine Liebe, was für ein seltsamer Ausdruck«, sagte Mrs. General. »Ihnen nicht unvermutet begegnet oder – sie zufällig erwähnt hätte, wäre besser.«

»Ich danke Ihnen, Mrs. General«, versetzte die junge Dame, »nein, ich bin aber anderer Meinung. Überhaupt ziehe ich meinen eigenen Ausdruck vor.«

Dies war immer die Art, wie Miß Fanny eine Verbesserung von Mrs. General hinnahm. Aber sie bewahrte sie stets sorgfältig in ihrem Gedächtnis und brachte sie bei einer andern Gelegenheit an.

»Ich würde unsre Begegnung mit Mr. und Mrs. Gowan erwähnt haben, Fanny«, sagte Klein-Dorrit, »auch wenn Onkel es nicht getan hätte. Ich habe euch seit der Zeit, wie ihr wißt, kaum gesehen. Ich meinte beim Frühstück davon gesprochen zu haben, weil ich Mrs. Gowan einen Besuch zu machen und näher mit ihr bekannt zu werden wünsche, wenn Papa und Mrs. General nichts dagegen einzuwenden haben.«

»Wahrhaftig, Amy«, sagte Fanny, »es sollte mich freuen, wenn du zuletzt noch den Wunsch aussprächest, mit allen Leuten in Venedig näher bekannt werden zu wollen. Es bleibt freilich eine Frage, ob Mr. und Mrs. Gowan sehr wünschenswerte Bekanntschaften sind.«

»Ich sprach von Mrs. Gowan, meine Liebe.«

»Allerdings«, sagte Fanny. »Aber du kannst sie, soviel ich weiß, nicht ohne einen Akt des Parlamentes von ihrem Manne trennen.«

»Glaubst du, Papa«, fragte Klein-Dorrit mit schüchternem Zögern, »daß sich irgend etwas gegen meinen Besuch bei Mrs. Gowan einwenden lasse?«

»Nein«, versetzte er. »Ha – ich – was ist Mrs. Generals Ansicht?«

Mrs. Generals Ansicht war, daß, sofern sie nicht die Ehre habe, die Dame und den Herrn zu kennen, sie auch nicht in der Lage sei, diese Angelegenheit zu firnissen. Sie könne nur die Bemerkung machen, als einen Grundsatz, der bei allem Firnissen beobachtet werden müsse, daß sehr viel davon abhänge, von welcher Seite die genannte Dame an eine Familie empfohlen werde, die eine so hervorragende Nische im sozialen Tempel einnehme wie die Familie Dorrit.

Bei dieser Bemerkung verfinsterte sich das Gesicht von Mr. Dorrit bedeutend. Er war bereits im Begriff (da die Empfehlung mit einer aufdringlichen Persönlichkeit namens Clennam in Verbindung stand, deren er sich nur unklar aus einer früheren Zeit erinnerte), dem Namen Gowan eine schwarze Kugel zu geben, als Edward Dorrit, Esquire sich, das Glas im Auge, in die Unterhaltung mischte und die vorläufige Bemerkung: »Ich sage – he da! Geht hinaus, nicht wahr?« zum besten gab. Diese Bemerkung war an zwei Männer gerichtet, die die Tische herbeitrugen, und konnte als eine höfliche Aufforderung gelten, ihre Dienste für einen Augenblick zu suspendieren.

Nachdem die Diener der Aufforderung Genüge geleistet, fuhr Edward fort:

»Vielleicht ist es eine Klugheitsmaßregel, euch alle wissen zu lassen, daß Mrs. und Mr. Gowan – für die, oder wenigstens für welch letztern ich sehr eingenommen zu sein nicht in den Verdacht geraten kann – mit Leuten von Bedeutung in Verbindung stehen, wenn das einen Unterschied macht.«

»Das, möchte ich behaupten«, bemerkte die schöne Firnisserin, »gibt den bedeutendsten Ausschlag, Die fragliche Verbindung, wenn es wirklich Leute von Bedeutung und Ansehen sind –«

»Was das betrifft«, sagte Edward Dorrit, »so will ich Ihnen die Mittel an die Hand geben, selbst zu urteilen. Sie kennen vielleicht den berühmten Namen Merdle?«

»Den großen Merdle?« rief Mrs. General.

» Den Merdle!« sagte Edward Dorrit, Esquire. »Sie sind mit ihm bekannt. Mrs. Gowan – ich meine die Witwe, meines höflichen Freundes Mutter – ist die intime Freundin von Mrs. Merdle, und ich weiß, diese beiden stehen auf ihrer Besuchsliste.«

»Wenn dem so ist, bedarf es keiner bessern Garantie mehr«, sagte Mrs. General, indem sie ihre Handschuhe erhob und ihr Haupt senkte, als ob sie irgendeinem sichtbaren geschnitzten Bilde ihre Huldigung darbrächte.

»Ich bitte meinen Sohn zu fragen, aus Gründen der – ha – Neugier«, bemerkte Mr. Dorrit mit einer entschiedenen Änderung in seinem Wesen, »wie er in den Besitz dieser – hm – rechtzeitigen Kenntnis kommt?«

»Es ist keine lange Geschichte, Sir«, versetzte Edward Dorrit, Esquire, »und Sie sollen es auf der Stelle erfahren. Erstens ist Mrs. Merdle die Dame, mit der Sie die Unterredung hatten, in, wie heißt es nur?«

»Martigny«, warf Miß Fanny mit unendlich matter Miene ein.

»Martigny«, bejahte ihr Bruder, mit einem leichten Nicken und einem leichten Blinzeln: Miß Fanny wurde darüber etwas verlegen, lachte und errötete.

»Wie ist das möglich, Edward?« sagte Mr, Dorrit. »Du teiltest mir doch mit, daß der Name des Herrn, mit dem du verhandelt, Sparkler sei. Wahrhaftig, du zeigtest mir ja seine Karte. Hm. Sparkler.«

»Allerdings, Vater; aber daraus folgt ja nicht, daß seiner Mutter Name der gleiche sein muß. Mrs. Merdle war bereits früher verheiratet, und er ist ihr Sohn. Sie ist jetzt in Rom, wo wir wahrscheinlich mehr von ihr erfahren werden, da du den Winter über dort zu bleiben gedenkst. Sparkler ist soeben hier angekommen. Ich brachte die letzte Nacht in Gesellschaft von Sparkler zu, Sparkler ist im ganzen ein sehr guter Junge, obgleich in einer Beziehung ein langweiliger, unausstehlicher Mensch: denn er ist schrecklich verliebt in eine gewisse junge Dame.« Bei diesen Worten sah Edward Dorrit, Esquire, Miß Fanny durch sein Monokel über den Tisch hinüber an, »Wir tauschten zufällig diese Nacht gegenseitig Bemerkungen über unsere Reise aus, und ich erhielt auf diese Weise die Kunde von Sparkler, die ich euch soeben mitgeteilt habe.« Hier brach er ab, beobachtete jedoch Miß Fanny unaufhörlich durch sein Glas, wobei sich sein Gesicht, nicht gerade zur Vermehrung seiner Schönheit, teilweise durch das Festhalten des Glases im Äuge, teilweise durch die große Schlauheit seines Lächelns bedeutend verzog.

»Unter diesen Umständen«, sagte Mr. Dorrit, »glaube ich ebensosehr die Gefühle von – ha – Mrs, General als meine eigenen auszudrücken, wenn ich sage, daß kein Hindernis vorhanden ist, sondern – ha, hm – gerade das Gegenteil obwaltet, deinem Wunsche zu entsprechen, Amy, Ich glaube sogar – ha –, diesen Wunsch freudig begrüßen zu müssen«, sagte Mr. Dorrit, mit ermutigendem und vergebendem Ton, »und zwar als ein günstiges Omen. Es ist ganz hübsch, wenn du diese Leute kennst. Es ist ganz passend. Mr. Merdle ist ein – ha – weltberühmter Name. Mr. Merdles Unternehmungen sind außerordentlich. Sie bringen ihm so große Summen Geldes, daß sie als – hm – Nationalwohltaten betrachtet werden. Mr. Merdle ist der Mann unsrer Zeit. Der Name Merdle ist der Name des Jahrhunderts. Bitte, erweise um meinetwillen Mr. und Mrs. Gowan alle Artigkeiten, denn wir wollen – ha – wir wollen sie mit Aufmerksamkeit behandeln.«

Dieses großartige Zugeständnis von Mr. Dorrits Anerkennung machte der Sache ein Ende. Man hatte nicht bemerkt, daß der Oheim seinen Teller weggestoßen und sein Frühstück vergessen hatte; aber man achtete überhaupt wenig auf ihn, nur Klein-Dorrit tat es. Die Diener wurden hereingerufen, und das Mahl ging seinem Ende zu. Mrs, General stand auf und verließ den Tisch. Klein-Dorrit stand auf und verließ den Tisch. Als Edward und Fanny über denselben hinüber plaudernd zusammen sitzenblieben und Mr. Dorrit, Feigen essend und eine französische Zeitung lesend, gleichfalls sitzenblieb, zog der Onkel plötzlich die Aufmerksamkeit von allen dreien auf sich, indem er sich erhob, mit seiner Hand auf den Tisch schlug und ausrief: »Bruder! Ich protestiere dagegen!«

Wenn er in einer unbekannten Sprache eine Rede gehalten und dann auf der Stelle den Geist aufgegeben, er hätte seine Zuhörer in nicht größeres Erstaunen setzen können. Die Zeitung entfiel Mr. Dorrits Händen, und er saß, eine Feige nach dem Mund führend, wie versteinert da.

»Bruder«, sagte der alte Mann, indem er seiner zitternden Stimme eine überraschende Energie verlieh, »ich protestiere dagegen! Ich liebe dich! Du weißt, ich liebe dich von Herzen. Seit vielen Jahren war ich dir niemals auch nur mit einem einzigen Gedanken untreu! So schwach ich bin, würde ich jeden, der je schlecht von dir gesprochen, zu Boden geschmettert haben. Aber Bruder, Bruder, Bruder, ich protestiere dagegen!«

Es war merkwürdig zu sehen, welch heftigen Ausbruchs von Eifer dieser gebrochene Mann fähig war. Seine Augen funkelten, sein graues Haar stand zu Berge, Spuren von Willen, die seit fünfundzwanzig Jahren verschwunden waren, traten wieder auf Gesicht und Stirn hervor, und in seiner Hand lag eine Energie, die ihre Aktion kraftvoll machte.

»Mein lieber Frederick!« rief Mr. Dorrit matt. »Was ist nicht recht? Was gibt es denn?«

»Wie kannst du das wagen?« sagte der alte Mann, indem er sich zu Fanny hinwandte. »Hast du denn kein Gedächtnis? Hast du kein Herz?«

»Onkel!« rief Fanny erschrocken und in Tränen ausbrechend, »warum greifst du mich in dieser grausamen Weise an? Was habe ich getan?«

»Getan«, versetzte der alte Mann, auf ihrer Schwester Platz deutend, »wo ist deine liebevolle, unschätzbare Freundin? Wo ist dein aufopfernder Schutzengel? Wo ist die, die dir mehr als Mutter war? Wie kannst du es wagen, ein Vorrecht gegenüber all diesen in deiner Schwester vereinigten Eigenschaften geltend zu machen? Schäme dich, falsches Mädchen, schäme dich!«

»Ich liebe Amy«, rief Fanny schluchzend und weinend, »ich liebe sie wie mein Leben – mehr als mein Leben. Ich verdiene nicht, daß man mich so behandelt. Ich bin so dankbar gegen Amy und habe Amy so lieb, wie es menschenmöglich ist. Ich wollte, ich wäre tot. Doch nie wurde so schlimm mit mir umgegangen. Und nur, weil ich für den Ruf der Familie besorgt bin.«

»Zum Teufel mit dem Ruf der Familie!« rief der alte Mann mit größter Wut und Entrüstung. »Bruder, ich protestiere gegen jeden von uns hier, der erfahren hat, was wir erfahren und gesehen, was wir gesehen, und sich doch etwas erlaubt, was Amy auch nur einen Moment nachteilig sein oder sie nur einen Moment kränken könnte. Wir müssen wissen, daß es eine schlechte Anmaßung ist, da sie diese Wirkung hat. Es müßte ein Gericht über uns herbeiführen. Bruder, ich protestiere dagegen im Namen Gottes!«

Die Art, wie er seine Faust emporhob und auf den Tisch fallen ließ, war die eines Grobschmieds. Nach einer kurzen Pause trat wieder seine gewöhnliche Mattigkeit ein. Er ging in seinem bekannten schlürfenden Schritte zu seinem Bruder hin, legte die Hand auf seine Schulter und sagte in milderem Ton: »William, mein Lieber, ich fühle mich verpflichtet, es zu sagen; vergib mir, denn ich fühle mich verpflichtet, es zu sagen!« und dann verließ er in seiner gebeugten Haltung die Palasthalle, gerade wie wenn er das Marschallgefängnis verließe.

Die ganze Zeit über hatte Fanny geschluchzt und geweint und tat dies noch. Edward hatte nur einen Augenblick voll Erstaunen den Mund geöffnet und dann die Lippen geschlossen: er begnügte sich, die Sprechenden anzustarren. Mr. Dorrit fühlte sich ebenfalls sehr mißgestimmt und ganz außerstande, sich irgendwie zu verteidigen. Fanny war die erste, die das Wort ergriff.

»Ich wurde nie, nie so behandelt!« schluchzte sie. »Es ist mir noch nichts so Unfreundliches und Ungerechtfertigtes, so abscheulich Heftiges und Grausames vorgekommen! Die liebe, gute, ruhige, kleine Amy selbst, was würde sie fühlen, wenn sie ahnen könnte, daß sie das unschuldige Mittel gewesen, mich so grausam zu behandeln! Aber ich werde es ihr nie sagen. Nein, das gute Ding, ich werde es ihr nicht sagen!«

Das veranlaßte Mr. Dorrit, sein Schweigen zu brechen.

»Meine Liebe«, sagte er, »ich – ha – billige deinen Entschluß. Es wird – ha, hm – weit besser sein, nicht davon mit Amy zu sprechen. Es möchte – ha, hm – sie betrüben. Ha. Gewiß, es würde sie sehr betrüben. Es ist klug und billig, das zu vermeiden. Wir wollen es bei uns behalten.«

»Aber die Grausamkeit des Onkels!« rief Miß Fanny. »Oh, ich kann die mutwillige Grausamkeit des Onkels nie vergeben!«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Dorrit, indem er seinen gewöhnlichen Ton wiederfand, obwohl er ungewöhnlich blaß blieb, »ich muß dich bitten, nicht in diesem Ton zu sprechen. Du mußt dich besinnen, daß dein Onkel nicht mehr ist – ha –, was er früher war. Du mußt dich erinnern, daß der Zustand deines Onkels – hm – große Nachsicht von unsrer Seite verlangt, große Nachsicht.«

»Ich bin überzeugt«, rief Fanny traurig, es ist nicht mehr als billig, daß man annimmt, es muß etwas nicht richtig bei ihm sein, sonst könnte er nicht gerade mich von allen Leuten so angegriffen haben.«

»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit in äußerst brüderlichem Ton, »du weißt, was dein Onkel bei allen seinen unzähligen guten Eigenschaften für ein – hm – Wrack ist: und ich bitte dich, bei der Liebe, die ich für ihn hege, und bei der Treue, die ich ihm, wie du weißt, stets gezeigt habe, deine Schlüsse für dich zu ziehen und meine brüderlichen Gefühle zu schonen.«

Damit endigte die Szene; Edward Dorrit hatte während der ganzen Zeit nicht ein Wort gesprochen, sondern nur immer verblüfft und unschlüssig die Sprechenden angestarrt. Miß Fanny verursachte ihrer Schwester an jenem Tage mannigfache liebevolle Unbehaglichkeit, indem sie den größten Teil dieses Tages in heftige Umarmungen ausbrach, ihrer Schwester Broschen schenkte und wünschte, sie selbst wäre tot.

Sechstes Kapitel.


Sechstes Kapitel.

Etwas richtig irgendwo.

In dem schwankenden Zustande von Mr. Henry Gowan sich zu befinden, eine der beiden Mächte mit Abneigung verlassen zu haben, dabei aber die nötigen Eigenschaften zu entbehren, um Förderung durch eine andere zu finden, und verstimmt und beide verwünschend auf neutralem Boden sich umherzutreibcn, das heißt sich in einer für das Gemüt höchst verderblichen Lage befinden, die die Zeit schwerlich bessern wird. Die schlimmste Art von Summe, die in der Alltagswelt zusammengebracht wird, ist die von kranken Arithmetikern berechnete, die bei den Verdiensten und Erfolgen anderer die Subtraktion anwenden und bei ihren eigenen niemals die Addition.

Und dann die Gewohnheit, eine Art von Ersatz in dem mißvergnügten Schwatzen von Enttäuschung zu finden, ist ein gewöhnliches Zeichen der Verdorbenheit. Daraus entsteht dann bald eine gewisse Art von träger Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit gegen den Bestand der Dinge. Würdige und nützliche Dinge durch unwürdige und unnützliche herunterzusetzen, ist eines von den verkehrten Vergnügen dieser Leute; und man kann mit der Wahrheit auf keinerlei Weise spielen, ohne daß sie dabei verlöre.

In seinen Aussprüchen über Werke der Malerei, die alles Verdienstes entbehrten, war Gowan der liberalste Mensch, den man sich denken kann. Er erklärte gewöhnlich, solch ein Mann habe mehr Kraft in seinem kleinen Finger (vorausgesetzt er hatte keine) als ein anderer (vorausgesetzt, er hatte viel) in seinem ganzen Geist und Körper. Wenn jedoch der Einwurf gemacht wurde, das Empfohlene sei Plunder, so antwortete er in bezug auf seine Kunst: »Mein Lieber, was produzieren wir alle anderes als Plunder? Ich produziere nichts anderes und mache Ihnen das offenherzige Geständnis davon zum Geschenk.«

Mit seiner Armut zu prahlen, war eine weitere Eigenheit seines niedergedrückten Zustandes. Freilich lag darin immer die versteckte Absicht anzudeuten, daß er reich sein sollte; gerade wie er gewöhnlich öffentlich die Barnacles pries und verschrie, damit man nicht vergesse, daß er zu ihrer Familie gehöre. Kurz, diese beiden Dinge waren sehr oft auf seinen Lippen, und er behandelte sie so geschickt, daß er sich hätte einen ganzen Monat lang loben können und doch keinen halb so bedeutenden Mann aus sich gemacht hätte, wie es ihm durch die leichtfertige Verkleinerung seiner Ansprüche auf die Anerkennung der Menschen gelang.

Gerade aus dieser Art, so von oben herab über sich zu sprechen, merkte man überall, wohin er mit seiner Frau kam, sehr bald, daß er gegen die Wünsche seiner übermütigen Verwandten geheiratet und viel zu tun hatte, daß sie sie duldeten. Er wies nie darauf hin, sondern schien im Gegenteil diese Idee zu verspotten. Aber es geschah, daß trotz all der Mühe, die er sich gab, sich herunterzusetzen, er doch immer die höhere Stellung bewahrte. Seit den Tagen ihrer Flitterwochen empfand es Winnie Gowan, daß man sie gewöhnlich als die Frau eines Mannes betrachtete, der durch die Heirat mit ihr herabgestiegen war, dessen ritterliche Liebe zu ihr jedoch diese Ungleichheit verwischt hatte.

Nach Venedig waren sie von Monsieur Blandois aus Paris begleitet worden, und in Venedig war Monsieur Blandois von Paris sehr viel in Gowans Gesellschaft. Als sie zum erstenmal mit diesem galanten Mann in Genf zusammengetroffen waren, war Gowan unentschieden, ob er abstoßend oder freundlich gegen ihn sein sollte, und blieb vierundzwanzig Stunden so unentschieden, was zu tun, daß er bereits ein Fünffrankenstück mit den Worten: »Rückseite, Fußtritt; Kopfseite, Entgegenkommen«, in die Höhe zu schleudern und sich der Stimme des Orakels zu unterwerfen im Begriff stand. Es geschah jedoch, daß seine Frau einen Widerwillen gegen den einschmeichelnden Blandois bekundete und daß die Wage der Stimmung im Hotel gegen ihn war. Daraufhin beschloß Gowan, freundlich gegen ihn zu sein.

Warum diese Verkehrtheit, wenn nicht in einer edlen Absicht? – dies war jedoch nicht der Fall. Warum aber befaßte sich Gowan, der doch weit über Blandois von Paris stand und diesen einnehmenden Mann in Stücke zu schlagen und den Stoff herauszubringen imstande gewesen, aus dem er gemacht war, warum befaßte er sich mit einem solchen Mann? Fürs erste widersetzte er sich dem ersten eignen Wunsche, den er bei seiner Frau fand, weil ihr Vater seine Schulden bezahlt und er wünschen mußte, die erste Gelegenheit zu ergreifen, seine Unabhängigkeit zur Geltung zu bringen. Zweitens widersetzte er sich dem vorwaltenden Gefühl, weil er bei mancherlei Fähigkeiten, etwas anderes zu sein, ein boshafter Mensch war. Er fand ein Vergnügen daran, zu erklären, daß ein Höfling, mit den feinen Manieren von Blandois, in jedem gebildeten Lande es zu der größten Stellung bringen müßte. Er fand ein Vergnügen daran, Blandois als den Typus der Eleganz auszugeben und ihn als Satire auf andere, die sich auf ihre persönlichen Gaben viel zugute taten, hinzustellen. Er versicherte feierlich und ernstlich, Blandois‘ Verbeugung sei vollendet, sein Benehmen unwiderstehlich und die malerische leichte Haltung desselben (wenn sie nicht eine angeborene Gabe und daher unverkäuflich wäre) nicht für hunderttausend Franken zu teuer erworben. Das Übertriebene in dem Benehmen des Mannes, das wir als ihm und jedem derartigen Menschen so eigentümlich gefunden hatten, wie die Sonne diesem System, welcher Art auch seine ursprüngliche Erziehung gewesen sein mag, war Gowan als eine Karikatur erwünscht, da sie ihm eine humoristische Quelle bot, die er stets zur Hand hatte, um eine Menge von Leuten lächerlich zu machen, die mehr oder weniger trieben, was Blandois übertrieb. Deshalb war er ihm willkommen; und gleichgültig diese Neigung durch die Gewohnheit mehrend und wohl auch an seiner Unterhaltung sich amüsierend, kam er nach und nach dazu, ihn beständig um sich haben zu müssen. Und dies, obgleich er vermutete, daß er von den Kniffen lebe, die er an Spieltischen und dergleichen entwickelte: obgleich er ferner vermutete, daß er ein Feigling sei, während er selbst unternehmend und mutig war; obgleich er endlich ganz genau wußte, daß Minnie ihn nicht leiden mochte, und obgleich er ihm im Herzen so gleichgültig war, daß, wenn er ihr die geringste fühlbare persönliche Ursache gegeben habe, ihn mit Verachtung zu strafen, er sich kein Gewissen daraus gemacht, ihn aus dem höchsten Fenster von Venedig in das tiefste Wasser der Stadt hinabzustürzen.

Klein-Dorrit hätte so gerne Mrs. Gowan ihren Besuch allein abgestattet. Da Fanny jedoch, die sich von ihres Onkels Protest noch nicht ganz erholt hatte, obgleich es vierundzwanzig Stunden her war, ihre Begleitung lebhaft aufdrang, stiegen die beiden Schwestern miteinander in eine der Gondeln unter ihres Vaters Fenster und begaben sich, in Begleitung des Kuriers, in pomphaftem Aufzug nach Mrs. Gowans Wohnung. Der Pomp war wirklich zu groß für jene Wohnung, die, wie Fanny klagte, »schrecklich abgelegen war« und sie durch ein Labyrinth von engen Wasserstraßen führte, die dieselbe Dame zu »elenden Gossen« herabwürdigte.

Das Haus, das auf einer kleinen verlassenen Insel lag, sah aus, als ob es irgendwo weggebrochen und an seinen gegenwärtigen Ankerplatz durch den Zufall geführt worden wäre, und zwar in Begleitung eines Weinstockes, der beinahe ebensosehr des Aufrichtens bedurfte, wie die armen Teufel, die unter seinen Blättern lagen. Die Staffage des Bildes bestand aus einer von Schutthaufen und Baugerüsten umgebenen Kirche, die so lange der vermutlichen Wiederherstellung harrte, daß das Baumaterial zur Wiederherstellung hundert Jahre alt schien und selbst in Verfall geraten war: einer Menge Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt worden; einer Anzahl von Häusern, die miteinander uneinig und wunderlich aus der rechtwinkligen Stellung gerückt waren, wie wurmstichige, voradamitische Käse in phantastischen Gestalten und voll von Milben; und einem fieberhaften Wirrwarr von Fenstern mit ihren Gitterblenden, die alle seitwärts hingen und aus denen meist etwas Schmutziges und Schmieriges herausflatterte.

Im ersten Stockwerk des Hauses war eine Bank – für einen englischen Geschäftsmann, der allen Menschen Gesetze nach den Gewohnheiten einer britischen Stadt vorschreibt, eine befremdliche Erscheinung: zwei magere Kommis standen wie zwei getrocknete Dragoner in grünen Samtmützen mit goldenen Troddeln und großen Bärten hinter einem kleinen Schreibpult in einem kleinen Zimmer, das keinen andern sichtbaren Gegenstand enthielt als eine leere eiserne Geldkasse, deren Deckel offen stand, einen Wasserkrug und Papiertapeten mit Rosengirlanden. Diese Kommis durften jedoch, bei einer rechtmäßigen Forderung, nur die Hände ausstrecken, um unerschöpfliche Massen von Fünffrankenstücken zutage zu fördern. Unter der Bank war eine Reihe von drei bis vier Zimmern mit vergitterten Fenstern, die das Aussehen eines Gefängnisses für verbrecherische Ratten hatte. Über der Bank befand sich die Wohnung von Mr. Gowan.

Obgleich die Wände geschwärzt waren, als wenn Missionslandkarten daraus hervorkämen, um geographische Kenntnisse zu verbreiten; obgleich die alten Möbel zum Teil verschossen und muffig waren und der vorherrschende venezianische Geruch von eingedrungenem Wasser und Ebbe auf einem Ufer voll Unkraut sehr stark war, so sah der Ort doch besser von innen aus, als er versprach. Die Tür öffnete ein lächelnder Mann, der wie ein gebesserter Meuchelmörder aussah – ein für kurze Zeit angenommener Diener –, der sie in das Zimmer führte, wo Mrs. Gowan saß, indem er meldete, zwei schöne Engländerinnen wollten Mistreß besuchen.

Mrs. Gowan, die mit Nähen beschäftigt war, legte ihre Arbeit in einen bedeckten Korb und stand etwas rasch auf. Miß Fanny war ausnehmend höflich gegen sie und sagte die gewöhnlichen Nichtigkeiten mit der Fertigkeit einer Vielgeübten.

»Papa bedauerte außerordentlich«, fuhr Fanny fort, »heute in Anspruch genommen zu sein (er ist hier so viel in Anspruch genommen, da unsre Bekanntschaft so schrecklich groß ist!), und hat mir besonders aufgetragen, seine Karte für Mr. Gowan mitzunehmen. Um mich sicher eines Auftrags zu entledigen, den er mir wenigstens ein dutzendmal anempfohlen, erlauben Sie mir mein Gewissen zu entlasten, indem ich die Karte sogleich auf den Tisch niederlege.«

Das tat sie denn auch mit der Gewandtheit einer Vielgeübten.

»Wir waren außerordentlich entzückt«, sagte Fanny, »zu erfahren, daß Sie die Merdles kennen. Wir hoffen, dadurch wieder eine Möglichkeit gefunden zu haben, mit denselben zusammenzukommen.«

»Sie sind«, sagte Mrs. Gowan, »mit Mr. Gowans Familie befreundet. Ich hatte bis jetzt noch nicht das Vergnügen, die persönliche Bekanntschaft von Mrs. Merdle zu machen, aber ich vermute, daß ich ihr in Rom werde vorgestellt werden.«

»So?« versetzte Fanny, mit einem Schein von liebenswürdiger Beiseitesetzung ihrer Überlegenheit. »Ich hoffe, Sie werden Gefallen an ihr finden.«

»Sie kennen sie wohl sehr gut?«

»Nun, Sie wissen«, sagte Fanny mit einer kecken Bewegung ihrer hübschen Schultern, »in London kennt man jeden Menschen. Wir trafen auf der Reise hierher mit ihr unterwegs zusammen, und, offen gesagt, Papa war anfangs etwas böse mit ihr, weil sie eines von den Zimmern in Beschlag genommen, die unsere Leute für uns bestellt hatten. Das ging jedoch rasch vorüber, und wir waren bald alle wieder gute Freunde.«

Obwohl der Besuch Klein-Dorrit bislang noch keine Gelegenheit gegeben, mit Mrs. Gowan zu sprechen, herrschte doch ein schweigendes Einvernehmen zwischen beiden, bei dem sie ihren Zweck ebensogut erreichten. Sie betrachtete Mrs. Gowan mit lebhaftem und unverändertem Interesse. Der Klang ihrer Stimme drang ihr bis in die Seele. Nichts in ihrer ganzen Umgebung, oder was auch nur in geringster Beziehung zu ihr stand, entging Klein-Dorrit. Rascher denn irgendwo sonst – einen Ort ausgenommen – bemerkte sie hier die unbedeutendste Sache.

»Sie waren doch ganz wohl«, sagte sie jetzt, »seit jener Nacht?«

»Ganz wohl, meine Liebe. Und Sie?«

»Oh, ich bin immer wohlauf«, sagte Klein-Dorrit schüchtern. »Ich – ja, ich danke.«

Es war kein anderer Grund für ihr plötzliches Stocken und Abbrechen vorhanden, als daß Mrs. Gowan ihre Hand ergriffen hatte, während sie sprach, und ihre Blicke sich begegneten. Ein tiefbesorgter Ausdruck in den großen sanften Augen von Mrs. Gowan hatten Klein-Dorrit einen Moment stutzen machen.

»Sie wissen nicht, daß Sie ein Liebling meines Mannes sind, und daß ich beinahe Ursache hätte, eifersüchtig zu sein?« sagte Mrs. Gowan.

Klein-Dorrit errötete und schüttelte den Kopf.

»Er wird Ihnen sagen, falls er Ihnen sagt, was er mir sagt, daß Sie ruhiger und hilfsbereiter seien als irgendein weibliches Wesen, das er je gesehen.«

»Er spricht viel zu gut von mir«, sagte Klein-Dorrit.

»Das bezweifle ich; aber ich bezweifle nicht, daß es meine Pflicht ist, ihn von Ihrer Anwesenheit in Kenntnis zu setzen. Er würde es mir nie vergeben, wenn ich Sie – und Miß Dorrit gehen ließe, ohne es ihm gesagt zu haben. Darf ich? Sie werden die Unordnung und den Mangel an Komfort in dem Atelier eines Malers entschuldigen?«

Diese Fragen wurden an Miß Fanny gerichtet, die freundlich zur Antwort gab, daß es sie überaus interessieren und entzücken werde. Mrs, Gowan ging nach der Tür, sah hinein und kam zurück. »Erzeigen Sie Henry die Freundlichkeit einzutreten«, sagte sie. »Ich wußte, daß es ihn freuen würde!«

Das erste, was Klein-Dorrit, die vorausging, ins Auge fiel, war Blandois von Paris in einem großen Mantel und in einem etwas herabhängenden Hute. Er stand auf einer Erhöhung in einer Ecke, wie er auf dem großen St. Bernhard gestanden, als die Warnungspfosten alle nach ihm hinaufzeigten. Sie fuhr vor dieser Gestalt zurück, als er sie freundlich angrinste.

»Fürchten Sie sich nicht«, sagte Gowan, von seiner Staffelei hinter der Tür auf sie zukommend. »Es ist nur Blandois. Er dient mir heute als Modell. Ich mache eine Studie von ihm. Es erspart mir Geld, ihn so zu verwenden. Wir armen Maler haben nichts zu vergeuden.«

Blandois von Paris nahm seinen ins Gesicht gedrückten Hut ab und grüßte die Damen, ohne aus seinem Winkel hervorzukommen.

»Bitte tausendmal um Vergebung«, sagte er. »Aber der Professor hier ist so unerbittlich gegen mich, daß ich mich nicht zu bewegen wage.«

»Nun, so bewegen Sie sich nicht«, sagte Gowan kalt, als die Schwestern an die Staffelei traten. »Lassen Sie die Damen wenigsten« das Original der Sudelei sehen, damit sie wissen, was sie vorstellt. Da steht er, sehen Sie. Ein Bravo, der auf seine Beute harrt, ein vornehmer Nobili, der sein Land retten will, ein Engelsbote, der irgend jemandem etwas Gutes zu erweisen wünscht – wem von allen er am meisten ähnlich ist!«

»Sagen Sie, Professore mio, ein armer Gentleman, der der Anmut und Schönheit seine Huldigung darbringen will«, bemerkte Blandois.

»Oder sagen Sie Cattivo Sogetto mio«, versetzte Gowan, indem er das gemalte Gesicht mit einem Pinsel an dem Punkte berührte, wo das wirkliche Gesicht sich bewegt hatte, »ein Mörder nach der Tat. Zeigen Sie Ihre weiße Hand, Blandois. Stecken Sie sie aus dem Mantel heraus. Halten Sie nun still.«

Blandois‘ Hand war unruhig; er lachte, und das mußte sie natürlich bewegen.

»Er war vorher in einem Handgemenge mit einem andern Mörder oder mit einem Opfer, wie Sie bemerken«, sagte Gowan, indem er die Hand mit einigen raschen, ungeduldigen und oberflächlichen Strichen andeutete, »und das sind die Zeichen davon. Heraus mit der Hand aus dem Mantel! Corpo di San Marco, woran denken Sie!«

Blandois von Paris schüttelte sich wieder vor Lachen, so daß auch seine Hand sich wieder mehr bewegte. Dann erhob er sie, um seinen Schnurrbart zu drehen, der ein feuchtes Aussehen hatte, und nun stand er in der gewünschten Stellung; seine Haltung hatte wieder etwas Renommistisches.

Sein Gesicht war so nach der Stelle gekehrt, wo Klein-Dorrit bei der Staffelei stand, daß er sie scharf ins Auge fassen konnte. Nachdem sie einmal von seinen eigentümlichen Augen gefesselt war, konnte sie die ihren nicht mehr losreißen, und sie sahen sich die ganze Zeit unbeweglich an. Sie zitterte jetzt; Gowan, der dies fühlte und glaubte, sie fürchte sich vor dem großen Hund neben ihr, dessen Kopf sie mit ihrer Hand gestreichelt, und der gerade ein dumpfes Knurren hatte hören lassen, blickte sie an und sagte: »Er tut Ihnen nichts, Miß Dorrit.«

»Ich fürchte mich nicht vor ihm«, versetzte sie in demselben Atem; »aber sehen Sie ihn an!« In einem Nu hatte Gowan seinen Pinsel auf den Boden geworfen und den Hund mit beiden Händen am Halsband ergriffen.

»Blandois! Wie können Sie ein solcher Narr sein und ihn reizen! Beim Himmel und dem andern Orte, er reißt Sie in Stücke! Leg dich! Lion! Willst du mich hören, Rebelle!«

Der große Hund, der es nicht achtete, daß er von seinem Halsband halb erwürgt wurde, stemmte sich mit der ganzen Kraft seines Körpers gegen seinen Herrn, um durch das Zimmer zu springen. Er hatte sich gerade zum Sprung geduckt, als ihn sein Herr ergriffen.

»Lion! Lion!« Er stand auf seinen Hinterbeinen, und Herr und Hund rangen miteinander. »Zurück! Leg dich, Lion! Gehen Sie ihm aus dem Gesicht, Blandois! Was zum Teufel haben Sie in dem Hund beschworen?«

»Ich habe ihm nichts getan!«

»Gehen Sie ihm aus dem Gesicht, ich kann das wilde Tier sonst nicht halten! Verlassen Sie das Zimmer. Bei meiner Seele, er bringt Sie um!«

Der Hund machte mit wildem Gebell noch eine Anstrengung, als Blandois verschwand: und als der Hund sich beruhigte, warf ihn sein Herr, kaum weniger zornig als der Hund, mit einem Schlag auf den Kopf zu Boden und gab ihm, indem er über ihm stand, viele harte Stöße mit seinem Stiefelabsatz, so daß sein Maul augenblicklich blutete.

»Nun geh in die Ecke und lege dich nieder«, sagte Gowan, »oder ich packe dich und erschieße dich!«

Lion tat, wie man ihm befohlen, und legte sich, indem er sein Maul und seine Brust leckte. Lions Herr hielt einen Augenblick inne, um zu Atem zu kommen, und wandte sich, nachdem er seine gewöhnliche Kälte wieder erlangt, an seine erschrockene Frau und die Damenbesuche. Das ganze Ereignis hatte wohl nicht zwei Minuten gedauert.

»Nun, nun, Minnie! Du weißt, er ist immer gutmütig und leicht zu behandeln. Blandois muß ihn gereizt haben – ihm Gesichter geschnitten haben. Der Hund hat seine Sympathien und Antipathien, und Blandois ist kein großer Liebling von ihm: aber du wirst ihm sicherlich das Zeugnis geben, Minnie, daß er noch niemals vorher so war.«

Minnies Aufregung war zu groß, um etwas sagen zu können, das einer Antwort ähnlich gesehen: Klein-Dorrit war bereits bemüht, sie zu beruhigen: Fanny, die zwei- oder dreimal laut aufgeschrien hatte, hielt Gowans Arm, um sich zu schützen: Lion, der sich tief schämte, daß er so große Unruhe verursacht, kam geduckt bis zu den Füßen seiner Herrin herangeschlichen.

»Du wütendes Tier«, sagte Gowan, indem er ihn wieder mit den Füßen stieß. »Du sollst deine Strafe dafür haben.« Und er stieß ihn wieder und immer wieder.

»Oh, bitte, strafen Sie ihn nicht«, rief Klein-Dorrit. »Tun Sie ihm nicht weh. Sehen Sie, wie zahm er ist.« Auf ihre Bitte schonte ihn Gowan: und er verdiente ihre Einsprache: denn er war wirklich so demütig, so reuevoll und unglücklich, wie ein Hund nur sein konnte.

Es war nicht leicht, nach dieser gewaltsamen Unterbrechung wieder ins rechte Geleise zu kommen und den Besuch in die frühere Stimmung zu versetzen, selbst wenn Fanny, im besten Fall, die geringste Sache gewesen, die im Wege gelegen. Während des Verlaufs der Unterhaltung, ehe die Schwestern gingen, glaubte Klein-Dorrit die Bemerkung zu machen, daß Mr. Gowan seine Frau, bei all seiner Liebe, doch zu sehr wie ein hübsches Kind behandle. Er schien die Tiefe des Gefühls so wenig zu ahnen, die sie unter dieser Oberfläche verborgen wußte, daß sie zweifelte, ob in ihm solche Tiefen verborgen seien. Sie hätte gerne gewußt, ob sein Mangel an Ernst das natürliche Resultat seines Mangels an solchen Eigenschaften sei, und ob es mit Menschen wie mit Schiffen ergehe, daß ihre Anker in zu seichten und felsigen Wassern keinen Halt haben und sie deshalb überall herumtrieben.

Er begleitete sie die Treppe hinab, indem er sich scherzend wegen der armseligen Quartiere entschuldigte, auf die so arme Leute wie er angewiesen seien, und bemerkte, daß, wenn die hohen und mächtigen Barnacles, seine Verwandten, die sich derselben schämen würden, ihn besser ausstatteten, er besser wohnen würde, um sie zu verbinden. Um Ufer des Wassers wurden sie von Blandois begrüßt, der ziemlich weiß nach seinem letzten Abenteuer aussah, der sich aber trotzdem wenig daraus machte und bei der Erwähnung Lions lachte.

Die Schwestern fuhren so pomphaft, wie sie gekommen, wieder ab, während die beiden Männer unter dem Stückchen Weingelände am Dammweg stehenblieben. Gowan streute, in Gedanken versunken, das Weinlaub in das Wasser, und Blandois zündete sich eine Zigarre an. Sie waren erst wenige Minuten gefahren, als Klein-Dorrit bemerkte, daß Fanny sich mehr in die Brust warf, als für die Gelegenheit erforderlich schien, und indem sie durch das Fenster und durch die offne Tür sich nach der Ursache umsah, gewahrte sie eine andre Gondel, die offenbar der ihrigen folgte.

Da diese Gondel auf verschiedene künstliche Weise ihre Fahrt mitmachte, indem sie bald an ihnen vorüberschoß und dann wartete, um sie vorbei zu lassen, bald, wenn der Weg breit genug war, dicht neben ihnen fuhr, bald endlich dicht hinter ihnen drein folgte und da Fanny nach und nach offen mit jemandem in der andern Gondel kokettierte, während sie gleichzeitig volle Harmlosigkeit heuchelte, fragte Klein-Dorrit endlich, wer er sei.

Worauf Fanny die kurze Antwort gab: »Jener Laffe!«

»Wer?« sagte Klein-Dorrit.

»Mein liebes Kind«, versetzte Fanny (in einem Ton, dem man anmerkte, daß sie vor ihres Onkels Protest statt dessen ›du kleine Törin‹ gesagt haben würde), »wie langsam du doch begreifst! Der junge Sparkler!« Sie ließ das Fenster neben sich herab, lehnte sich zurück und legte den Ellbogen nachlässig hinaus, indem sie sich mit einem reichen spanischen Fächer von Schwarz und Gold Luft zufächelte. Als die begleitende Gondel wieder vorübergeschwebt war, wobei man einen flüchtigen Schein von einem Auge im Fenster beobachten konnte, lachte Fanny kokett und sagte: »Hast du je einen solchen Narren gesehen, meine Liebe?«

»Glaubst du, er beabsichtige, dir auf dem ganzen Wege zu folgen?« fragte Klein-Dorrit.

»Mein kostbares Kind«, versetzte Fanny, »ich kann unmöglich sagen, was ein Narr in einem verzweifelten Zustand tut, aber ich halte es für wahrscheinlich. Es ist keine so große Entfernung, Ganz Venedig, glaube ich, würde es kaum sein, wenn er schon nach einem flüchtigen Blick von mir sich sterblich sehnt.«

»Und tut er das?« fragte Klein-Dorrit in größter Einfalt.

»Nun, meine Liebe, das ist wirklich eine schwer für mich zu beantwortende Frage«, sagte ihre Schwester. »Ich glaube allerdings. Du würdest besser Edward fragen. Er sagte, glaube ich, zu Edward, er würde das tun. Ich höre, er macht förmliches Aufsehen auf dem Kasino und dergleichen Orten, durch die Art, wie er von mir spricht. Aber du fragst besser Edward, wenn du es wissen willst.«

»Ich wundre mich, daß er uns nicht besucht«, sagte Klein-Dorrit nach kurzem Sinnen.

»Meine liebe Amy, dein Staunen wird bald zu Ende sein, wenn ich recht unterrichtet bin. Ich wäre durchaus nicht überrascht, wenn er uns heute besuchte. Ich vermute, er ist uns bloß deshalb gefolgt, um sich Mut zu machen.«

»Wirst du ihn sehen?«

»Wahrhaftig, mein Liebling«, sagte Fanny, »je nach Umständen. Hier ist er wieder. Sieh ihn nur an. Oh, du Einfaltspinsel!«

Mr. Sparkler machte unleugbar einen jämmerlichen Eindruck; sein Auge in dem Fenster sah wie eine Blase im Glase aus, und seine Barke plötzlich halten zu lassen, gab’s auch auf der Welt keinen Grund als den wirklichen und wahren.

»Wenn du mich fragst, ob ich ihn sehen werde, meine Liebe«, sagte Fanny, beinahe ebenso gelassen in der anmutigen Nachlässigkeit ihrer Haltung wie Mrs. Merdle selbst, »was meinst du damit?«

»Ich meine«, sagte Klein-Dorrit, »ich denke, ich meine, was du meinst, liebe Fanny.«

Fanny lachte wieder auf eine ebenso herablassende als schalkhafte und freundliche Art und sagte, indem sie ihren Arm liebevoll scherzend um ihre Schwester schlang:

»Nun, sage mir, kleiner Liebling. Als wir diese Frau in Martigny sahen, wie glaubst du wohl, daß sie es sich aus dem Sinn geschafft. Sahst du, wozu sie sich augenblicks entschloß?«

»Nein, Fanny.« »Dann will ich dir’s sagen. Sie nahm sich vor: ich will bei so veränderten Umständen nie auf jene Begegnung wieder zurückkommen und mir den Gedanken aus dem Sinn schlagen, daß das dieselben Mädchen sind. Das ist ihre Art, wie sie sich aus einer Schwierigkeit hilft. Was sagte ich dir, als wir damals aus Harley Street weggingen? Sie ist so unaufrichtig und falsch, wie nur irgendein Weib auf der Welt ist. Aber bezüglich der ersteren Fähigkeit, meine Liebe, soll sie Leute finden, die es mit ihr aufnehmen können.«

Eine bezeichnende Wendung des spanischen Fächers gegen Fannys Busen zeigte höchst ausdrucksvoll, wo solch ein Wesen gefunden werden sollte.

»Nicht genug damit«, fuhr Fanny fort, »sondern sie gibt dem jungen Sparkler dieselbe Instruktion und läßt ihn mir nicht früher folgen, bis sie es ihm in seinen lächerlichsten aller lächerlichen Schädel (denn man kann nicht sagen Kopf) gebracht hat, daß er sich den Anschein geben müsse, als ob er sich zum ersten Male in jenem Wirtshaushof in mich verliebt.«

»Warum?« fragte Klein-Dorrit.

»Warum? Du mein Gott, mein liebes Kind!« (wieder in dem Ton von ›du beschränktes kleines Geschöpf‹) »wie kannst du fragen? Siehst du nicht, daß ich eine ziemlich wünschenswerte Partie für einen solchen Schädel bin? Und siehst du nicht, daß sie die Täuschung uns zuschiebt und sich den Anschein gibt, während sie es von ihren Schultern wälzt (sehr schöne Schultern sind es, das muß ich sagen)«, bemerkte Miß Fanny selbstgefällig auf sich herabblickend, »als ob sie unsren Gefühlen Rechnung trüge?«

»Aber wir können ja zu der einfachen Wahrheit zurückgehen.«

»Ja, doch wenn’s gefällig, so wollen wir nicht«, warf Fanny ein. »Nein; ich werde mir das nicht einfallen lassen, Amy. Ich gebe mir nicht den Schein, sondern sie, und sie soll genug davon haben.«

In der triumphierenden Aufregung ihrer Gefühle umschlang Miß Fanny, während sie ihren spanischen Fächer mit der einen Hand bewegte, den Leib ihrer Schwester mit der andern, als wenn sie Mrs. Merdle erdrücken wollte.

»Nein«, wiederholte Fanny. »Sie soll mich in ihren Fußstapfen finden. Sie schlug diesen Weg ein, und ich werde ihr folgen. Und wenn mir das Glück beisteht, werde ich in der Bekanntschaft dieser Frau solange Fortschritte zu machen suchen, bis ich ihrem Mädchen vor ihren Augen zehnmal so schöne Arbeiten meines Kleidermachers geschenkt habe, wie sie mir früher von dem ihrigen zukommen ließ.«

Klein-Dorrit schwieg: sie hatte das Gefühl, daß man sie doch in keiner Frage, die sich auf die Familienwürde bezog, hören würde, und wollte auch die kaum erst und unerwartet wiedergewonnene Gunst ihrer Schwester nicht schon einbüßen. Sie konnte es nicht billigen, schwieg jedoch. Fanny wußte wohl, woran sie dachte; so wohl, daß sie sie alsbald fragte. Ihre Antwort war: »Beabsichtigst du, Mr. Sparkler zu ermutigen, Fanny?«

»Ich ermutigen?« sagte ihre Schwester verächtlich lächelnd. »Das hängt davon ab, wie du das Wort ermutigen auffassest. Ich will einen Sklaven aus ihm machen.«

Klein-Dorrit sah sie ernst und ungewiß an, aber Fanny war nicht so leicht einzuschüchtern. Sie legte ihren Fächer von Schwarz und Gold zusammen und tätschelte damit die Nase ihrer Schwester. Sie hatte in diesem Augenblick ganz das Aussehen einer stolzen Schönheit und eines großen Geistes, der mit einer Unbeholfenen spielt und sie spielend unterrichtet.

»Ich will machen, daß er hebt und trägt, wie ich will, meine Liebe, und daß er sich ganz und gar mir unterwirft. Und wenn seine Mutter sich nicht auch mir unterwirft, so wird es nicht meine Schuld sein.«

»Glaubst du – liebe Fanny, sei nicht böse, wir sind jetzt so behaglich beieinander – glaubst du, das Ende von alledem absehen zu können?«

»Ich kann nicht sagen, daß ich schon so weit voraussehe, meine Liebe«, antwortete Fanny mit der größten Gleichgültigkeit: »das hat noch gute Zeit. Das ist mein Plan. Und dieser hat mich soviel Zeit gekostet, daß wir hier vor unsrem Hause sind. Und der junge Sparkler steht vor der Tür, um zu fragen, wer zu Hause sei. Natürlich durch den reinsten Zufall.«

Wirklich stand auch der junge Herr aufrecht in seiner Gondel, mit dem Visitenkartentäschchen in der Hand, und schien eine Frage an einen der Diener zu richten. Dieses Zusammentreffen von Umständen war die Ursache, daß er augenblicklich darauf sich vor den jungen Damen in einer Positur zeigte, die in alten Zeiten als keine günstige Vorbedeutung für sein Anliegen betrachtet worden wäre; denn die Gondeliere der jungen Damen, die durch die Jagd etwas ungehalten wurden, brachten ihr Boot so hübsch in Kollision mit der Barke des Mr. Sparkler, daß sie diesen Gentleman wie einen großen Kegel umwarfen, wodurch er in den Fall kam, dem Gegenstand seiner innigsten Wünsche die Sohlen seiner Schuhe darzubieten, während die edleren Teile seines Körperbaus am Boden seines Bootes in den Armen einer seiner Leute sich abmühten.

Als Miß Fanny jedoch mit großer Bestürzung fragte, ob der Gentleman sich weh getan, stand Mr. Sparkler schneller wieder auf, als man erwarten konnte, und stotterte errötend: »Durchaus nicht.« Miß Fanny erinnerte sich nicht, ihn jemals früher gesehen zu haben, und ging, mit einer flüchtigen Verbeugung an ihm vorüber: da nannte er seinen Namen. Auch dann kostete es ihr noch große Mühe, ihr Gedächtnis aufzufrischen, bis er endlich erklärte, er habe die Ehre gehabt, sie in Martigny zu sehen. Da erinnerte sie sich seiner und sprach die Hoffnung aus, daß seine Mutter wohl sei. »Ich danke«, stotterte Mr. Sparkler, »sie ist ungemein wohl – wenigstens nur unpäßlich.«

»In Venedig?«

»In Rom«, antwortete Mr. Sparkler. »Ich bin allein hier, allein. Ich kam, um Mr. Edward Dorrit zu besuchen. Und auch Mr. Dorrit, gewiß. Die ganze Familie, kann ich versichern.«

Anmutig sich zu den Dienern wendend, fragte Miß Fanny, ob ihr Papa und Bruder zu Hause seien? Da die Antwort lautete, sie seien beide zu Hause, so bot Mr. Sparkler respektvollst seinen Arm an. Miß Fanny nahm ihn und wurde von Mr. Sparkler die große Treppe hinaufgeleitet. Glaubte Mr. Sparkler noch (woran kein Grund zu zweifeln), daß sie keinen Unsinn an sich habe, so täuschte er sich ziemlich bedeutend.

Nachdem sie in ein modriges Empfangszimmer gekommen, wo die fadenscheinigen Vorhänge von einem traurigen Meergrün so gebleicht und verschossen waren, daß sie aussahen, als ob sie auf Verwandtschaft mit herrenlosem Seegrase Anspruch machten, das unter den Fenstern umhertrieb oder sich an die Mauern anklammerte und um seine eingesperrten Verwandten weinte, schickte Miß Fanny nach ihrem Vater und Bruder. Bis diese erschienen, stellte sie sich auf einem Sofa zu großem Vorteil zur Schau aus und vollendete Mr. Sparklers Eroberung durch einige Bemerkungen über Dante, – von dem dieser Gentleman nur so viel wußte, daß er ein exzentrischer Mann, in der Art eines Old fellow, war, der gewöhnliche Blätter um sein Haupt trug und aus einem unerklärlichen Grunde vor der Kathedrale von Florenz saß.

Mr. Dorrit bewillkommnete den Fremden mit der größten Zuvorkommenheit und den höflichsten Manieren. Er fragte besonders nach Mrs. Merdle und auch besonders nach Mr. Merdle. Mr. Sparkler sagte, oder zerrte es vielmehr in kleinen Stücken am Halstuche heraus, daß Mrs. Merdle, nachdem sie ihres Landaufenthaltes und auch ihres Hauses in Brigthon überdrüssig geworden und natürlich, wie man sich denken könne, nicht imstande gewesen wäre, in London zu bleiben, wenn keine Seele mehr da sei, und da sie auch dieses Jahr keine Lust gehabt, die Leute auf dem Lande zu besuchen, beschlossen habe, sich nach Rom zu begeben, wo eine Frau wie sie, von sprichwörtlich feinem Wesen und ohne Unsinn an sich, unbedingt eine große Akquisition für die Gesellschaft sein müsse. Mr. Merdle sei den Leuten in der City und an den übrigen Plätzen so unentbehrlich und sei ein so außerordentliches Phänomen als Kaufmann und Bankier, daß Mr. Sparkler zweifle, ob das Geldsystem des Landes ihn entbehren könne; obgleich Mr. Sparkler nicht verbarg, daß ihm seine Arbeit bisweilen über den Kopf wachse, und daß es besser für ihn wäre, wenn er sich zuweilen für einige Zeit auf einen ganz neuen Schauplatz und in ein andres Klima begäbe. Was ihn selbst betreffe, teilte Mr. Sparkler der Familie Dorrit mit, daß er in ganz besonderen Geschäften sich überall dahin begebe, wohin sie gingen.

Diese ungeheure Rede erforderte Zeit, aber sie wurde doch zustande gebracht. Nachdem sie zu Ende war, sprach Mr. Dorrit die Hoffnung aus, daß Mr. Sparkler bald mal mit ihnen zu Mittag speise. Mr. Sparkler nahm diesen Gedanken so freundlich auf, daß Mr. Dorrit ihn fragte, was er heute zum Beispiel zu tun beabsichtige? Da er heute nichts zu tun beabsichtigte (seine gewöhnliche Beschäftigung und eine solche, für die er besonders befähigt war), nahm man ihn alsbald in Beschlag und verpflichtete ihn, die Damen am Abend in die Oper zu begleiten.

Zur Zeit des Diners tauchte Mr. Sparkler aus dem Meer auf wie der Sohn der Venus, der seiner Mutter nachschwimmt, und gab sich ein glänzendes Ansehen, als er die große Treppe hinaufstieg. Wenn Fanny morgens reizend ausgesehen, so war sie es jetzt dreifach, denn sie hatte sich in die Farben gekleidet, die ihr am besten standen, und hatte dabei eine Nachlässigkeit über sich ergossen, die Mr. Sparklers Fesseln verdoppelte und sie noch fester nietete.

»Ich höre. Sie sind mit – ha – Mr. Gowan bekannt, Mr. Sparkler«, sagte der Wirt während des Essens. »Mit Mr. Henry Gowan?«

»Allerdings, mein Herr, sehr gut«, versetzte Mr. Sparkler. »Seine Mutter und meine Mutter sind gute alte Bekannte.«

»Wenn ich daran gedacht hätte, Amy«, sagte Mr. Dorrit mit so vornehmer Gönnermiene, als die von Lord Decimus selbst, »so hättest du ein Billett an sie schicken und sie zum Essen einladen können. Einige von unsern Leuten hätten sie – ha – holen und wieder nach Hause bringen können. Wir hätten eine Gondel zu diesem Zweck reservieren können. Bedaure, es vergessen zu haben. Bitte, erinnere mich morgen daran.«

Klein-Dorrit war etwas zweifelhaft, wie Henry Gowan ihre Gönnerschaft aufnehmen möchte; sie versprach jedoch, nicht zu vergessen, daran zu erinnern,

»Bitte, malt Mr. Henry Gowan – ha – Porträts?«

Mr. Sparkler vermutete, daß er alles malen werde, wozu er Auftrag bekäme.

»Er geht also nicht seinen besonderen Gang«, sagte Mr. Dorrit.

Mr. Sparkler, den die Liebe angespornt, den glänzenden Geist zu spielen, antwortete, zu einem besonderen Gang müsse man ein besonderes Paar Schuhe haben: wie zum Beispiel zum Schießen Schießstiefel, zum Kolbenspiel Kolbenstiefel. Er glaube dagegen, daß Henry Gowan keine besonderen Stiefel habe.«

»Keine Spezialität?« sagte Mr. Dorrit.

Da dies ein sehr langes Wort für Mr. Sparkler und sein Geist durch die letzte Anstrengung erschöpft war, antwortete er: »Nein, ich danke Ihnen. Ich nehme das selten.« »Gut!« sagte Mr. Dorrit. »Es wäre mir sehr angenehm, einem Manne von so großen Verbindungen einen – ha – Beweis meines Wunsches zu geben, seine Interessen zu fördern und die – hm – Keime seines Genies zu entfalten. Ich denke, ich sollte Mr. Gowan auffordern, mein Bild zu malen. Wenn der Erfolg gegenseitig – ha – ein zufriedenstellender wäre, würde ich ihn später auffordern, seine Hand an meiner Familie zu versuchen.«

Dieser ausgesucht kühne und originelle Gedanke brachte Mr. Sparkler auf den weitern, daß hier die Gelegenheit geboten wäre, zu sagen, es sei jemand in der Familie (auf das »jemand« mußte mit der größten Emphase der Nachdruck gelegt werden), dem kein Maler gerecht werden könne. Da es ihm jedoch an einer Form des Ausdrucks dafür fehlte, kehrte der Gedanke wieder in die Wolken zurück.

Dies war um so mehr zu bedauern, als Miß Fanny den Einfall mit dem Porträt lebhaft applaudierte und ihren Papa ihn bald zu verwirklichen drängte. Sie vermute, sagte sie, daß Mr. Gowan bessere und bedeutendere Gelegenheiten sich habe entgehen lassen, als er seine hübsche Frau geheiratet: und Liebe, in einer Hütte Bilder malend für das liebe Brot, sei ein so entzückender, interessanter Gedanke, daß sie Papa bäte, ihm den Auftrag zu geben, um zu beweisen, ob er ein ähnliches Bild malen könne oder nicht: obgleich sie und Amy wußten, daß er es konnte, da sie gerade heute eine sprechende Ähnlichkeit auf seiner Staffelei gesehen und Gelegenheit gehabt hätten, sie mit dem Original zu vergleichen. Diese Bemerkungen brachten Mr. Sparkler (wie es vielleicht in der Absicht lag) fast von Sinnen: denn während sie auf der einen Seite Miß Fannys Empfänglichkeit für zartere Empfindungen an den Tag legten, zeigte sie solch unschuldige Unbewußtheit seiner Bewunderung, daß seine Augen sich vor Eifersucht auf einen unbekannten Rivalen im Kopf hin und her drehten.

Nach Tische stieg man wieder auf das Meer und heraus aus demselben bei der Treppe des Opernhauses: voran ging einer ihrer Gondoliere, wie ein dienender Triton, mit einer großen leinenen Laterne: so traten sie in ihre Loge, und für Mr. Sparkler begann ein Abend voll Kampf. Da das Theater dunkel und die Loge hell war, so kamen mehrere Besuche während der Vorstellung: Fanny interessierte sich so lebhaft für diese Besuche und warf sich während des Gesprächs mit denselben in so reizende Attitüden, da sie kleine Vertraulichkeiten mit denselben hatte und kleine Streite über dir Identität dieser und jener Persönlichkeit in entfernten Logen führte, daß der unglückliche Sparkler alle Menschen haßte. Zweierlei tröstete ihn am Schlusse des Stücks. Sie gab ihm ihren Fächer, um ihn zu halten, während sie ihren Mantel umwarf, und es war sein glückliches Privilegium, ihr seinen Arm zu geben, während sie wieder die Treppe hinabgingen. Diese ermutigenden Brocken, dachte Mr. Sparkler, würden ihn aufrechterhalten: und es ist nicht unmöglich, daß Miß Dorrit ebenso dachte. Der Triton mit seinem Licht stand an der Logentür bereit, und andre Tritonen standen an andern Logen gleichfalls bereit. Der Dorritsche Triton hielt seine Laterne tief, um ihnen die Stufen zu zeigen, und Mr. Sparkler legte eine neue schwere Last von Fesseln an seine frühere, als er ihren glänzenden Fuß neben seinem die Treppen hinabtänzeln sah. Unter den Wartenden befand sich Blandois von Paris. Er sprach und ging neben Fanny her.

Klein-Dorrit ging voraus mit ihrem Bruder und Mrs. General (Mr. Dorrit war zu Hause geblieben): am Rande des Quais jedoch kamen sie alle zusammen. Sie erstaunte, Blandois wieder dicht neben sich zu sehen: er half Fanny in das Boot.

»Gowan hatte einen Verlust«, sagte er, »seit er so glücklich war, heute mit einem Besuch von schönen Damen beehrt zu werden.«

»Einen Verlust?« wiederholte Fanny, die von dem seiner holden Last beraubten Sparkler verlassen war und ihren Sitz einnahm.

»Einen Verlust«, sagte Blandois. »Seinen Hund, Lion.«

Klein-Dorrits Hand lag in der seinen, als er sprach.

»Er ist tot«, sagt« Blandois.

»Tot?« wiederholte Klein-Dorrit. »Das edle Tier?«

»Allerdings, meine Damen!« sagte Blandois lächelnd und die Achseln zuckend, »es hat jemand das edle Tier vergiftet. Er ist so tot wie die Dogen!«

Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Der Oberhaushofmeister gibt sein Amtssiegel zurück.

Das Diner fand bei dem berühmten Arzt statt. Advokat war dort und in vollem Glanz. Ferdinand Barnacle war dort und in seiner gewinnendsten Erscheinung. Wenige Wege des Lebens waren dem Arzt verborgen, und er betrat die dunkelsten Orte häufiger als sogar Bischof. Es gab glänzende Damen in London, die ganz in ihn verliebt waren und ihn den reizendsten Mann und den liebenswürdigsten Mann nannten, und die geschaudert hätten, so dicht bei ihm zu stehen, wenn sie gewußt hätten, worauf diese gedankenvollen Augen vor ein oder zwei Stunden geruht und an welchen Betten und unter welchen Dächern seine ruhige Gestalt gestanden hatte. Aber der Arzt war eine stille Natur, die weder auf ihrer eigenen Trompete, noch auf der Trompete andrer Leute blies. Mancherlei wunderbare Dinge sah und hörte er, und unter vielen unversöhnlichen Widersprüchen sittlicher Art verbrachte er sein Leben; aber sein teilnahmvolles Herz blieb sich unverändert gleich wie das des göttlichen Meisters aller Heilkunst. Er kam wie der Regen zu den Gerechten und Ungerechten, tat so viel Gutes, als er konnte, und verkündete es weder in den Synagogen noch an den Straßenecken.

Wie kein Mann von großer Menschenkenntnis, so wenig er auch daraus machen mag, anders als ungemein interessant durch den Besitz solchen Wissens sein kann, so war auch der Arzt eine anziehende Persönlichkeit. Selbst die feineren Herren und Damen, die keine Idee von seinem Geheimnis hatten, und die vor Schrecken von mehr Verstand gekommen wären, als sie besaßen, wenn er ihnen den ungeheuer unpassenden Vorschlag gemacht: »Kommt und seht, was ich sehe!«, gestanden, daß er ein anziehender Mann sei. Wo er war, war etwas Reelles. Und ein halber Gran Wirklichkeit gibt wie der kleinste Teil einiger anderer kaum natürlicher Produkte einem unermeßlichen Quantum Verdünnungsstoff Geschmack.

Daher kam es auch, daß die kleinen Diners des Arztes die Leute in ihrem mindest konventionellen Licht zeigten. Die Gäste sagten sich, unbewußt oder nicht: »Hier ist ein Mann, der uns wirklich kennt, wie wir sind, der jeden Tag einige von uns bei seinen Besuchen ohne Perücke und Schminke sieht, der unsern Gedankengang kennt und den unverstellten Ausdruck unserer Züge sieht, wenn wir über beide keine Macht mehr haben; wir können ihm gegenüber schon mehr die natürliche Seite herauskehren, denn er ist im Vorteil uns gegenüber und ist uns zu sehr überlegen.« Deshalb ließen sich die Gäste an seinem Tisch so überraschend gehen, daß sie beinahe natürlich waren.

Advokats Kenntnis der Masse der Jurymänner, die man Menschheit nennt, war so scharf wie ein Rasiermesser, aber ein Rasiermesser ist kein allgemein anwendbares Instrument, und des Arztes einfaches, glänzendes Skalpiermesser, obgleich weit weniger scharf, war zu unendlich mehr Zwecken zu gebrauchen. Advokat kannte die Leichtgläubigkeit und Unredlichkeit der Menschen; aber der Arzt hätte ihm in einer Woche seiner Krankenbesuche eine bessere Einsicht in ihre zarten und liebevollen Gefühle geben können als Westminster Hall und alle Assisen zusammen in siebenzig Jahren. Advokat hatte immer eine Ahnung davon und bestärkte sie vielleicht gern (denn wenn die Welt wirklich ein großer Gerichtshof wäre, so sollte man denken, die Schlußsitzung könnte nicht früh genug kommen);, so hatte er den Arzt ebensogern und respektierte ihn ebensosehr als jede andere Menschenklasse.

Mr. Merdles Ausbleiben ließ einen Bankostuhl am Tische frei: aber wenn er auch dagewesen, wäre er eben nur Banko gewesen, und folglich war es kein Verlust. Advokat, der rings um Westminster Hall nichts unaufgelesen ließ, gerade wie ein Rabe, wenn er so viel Zeit dort zugebracht, hatte in den letzten Tagen viele Strohhalme dort aufgelesen und in die Luft geworfen, um zu sehen, woher der Merdlewind bliese. Er sprach jetzt ein paar Worte über diese Sache mit Mrs. Merdle selbst, auf die er, natürlich mit seinem doppelten Augenglas und einer Juryverbeugung, zugekommen war.

»Ein gewisser Vogel,« sagte Advokat, und er sah dabei aus, als ob es kein anderer Vogel hätte sein können als eine Elster, »zwitscherte neuerdings unter uns Advokaten, daß die betitelten Personen dieses Reiches einen Zuwachs erhalten sollten.«

»Wirklich?« sagte Mrs. Merdle.

»Ja«, sagte Advokat, »Hat dieser Vogel nicht auch in weit andere Ohren als die unsrigen – in liebliche Ohren gezwitschert?« Er sah dabei ausdrucksvoll auf Mrs. Merdles nächsten Ohrring.

»Meinen Sie die meinigen?« fragte Mrs. Merdle.

»Wenn ich sage lieblich«, sagte Advokat, »so meine ich immer Sie.«

»Ich glaubte, Sie meinen nie etwas«, versetzte Mrs. Merdle (nicht unangenehm berührt).

»Oh, wie grausam ungerecht!« sagte Advokat. »Aber der Vogel?«

»Ich bin die letzte Person in der Welt, die Neuigkeiten hört«, bemerkte Mrs. Merdle, nachlässig sich ihren festen Platz zurechtrückend. »Wer ist es?«

»Was für eine bewundernswerte Zeugin würden Sie abgeben!« sagte Advokat. »Keine Jury (wenn wir sie nicht etwa aus Blinden zusammensetzten) könnte Ihnen widerstehen, wenn Sie auch noch so schlecht aussagten; aber Sie würden sicher nur gut aussagen.«

»Warum, Sie lächerlicher Mann?« fragte Mrs. Merdle lachend.

Advokat bewegte sein doppeltes Augenglas drei- bis viermal zwischen sich und dem Busen, gewissermaßen als scherzhafte Antwort, und fragte dann in dem einschmeichelndsten Ton:

»Wie darf ich die eleganteste, vollkommenste und reizendste der Frauen in einigen Wochen oder vielleicht in einigen Tagen nennen?«

»Hat Ihr Vogel Ihnen nicht gesagt, wie Sie sie nennen sollen?« antwortete Mrs. Merdle. »Fragen Sie ihn morgen, und sagen Sie es mir, wenn wir uns wieder sehen, was er sagt!«

Dies führte zu weitern scherzhaften Reden zwischen den beiden; aber Advokat konnte trotz all seiner Schlauheit nichts aus ihr herausbringen. Der Arzt dagegen, der Mrs. Merdle zu ihrem Wagen hinabbrachte und ihr den Mantel umnehmen half, erkundigte sich mit seiner gewöhnlichen ruhigen Gewandtheit nach den Symptomen.

»Darf ich fragen«, sagte er, »ob es wahr ist, mit Merdle?«

»Mein lieber Doktor«, erwiderte sie, »Sie fragen mich dieselbe Frage, die ich Lust hatte, an Sie zu richten.«

»An mich? Warum an mich?«

»Auf meine Ehre, ich denke, Mr. Merdle schenkt Ihnen größeres Vertrauen als irgend jemand.« »Im Gegenteil, er sagt mir absolut gar nichts, selbst nicht mal in ärztlicher Beziehung. Sie haben natürlich von dem Gerede gehört?«

»Natürlich. Aber Sie wissen, wie Merdle ist; Sie wissen, wie schweigsam und zurückhaltend er ist. Ich versichere Sie, ich weiß nicht im mindesten, ob die Sage Grund hat. Ich wünschte, es wäre wahr; warum soll ich das leugnen! Sie würden es doch besser wissen, wenn es wahr wäre!«

»Allerdings!« sagte der Arzt.

»Aber ob es ganz wahr, oder halb wahr, oder ganz falsch, bin ich außerstande zu sagen. Es ist eine höchst ärgerliche Lage, eine höchst abgeschmackte Lage; aber Sie kennen Mr. Merdle und werden sich nicht darüber wundern.«

Der Arzt war nicht verwundert, half ihr in den Wagen und wünschte ihr gute Nacht. Er stand einen Augenblick an der Tür seines Hauses und sah ruhig der eleganten Equipage nach, wie sie davonrollte. Als er wieder hinaufkam, zerstreuten sich die übrigen Gäste auch bald, und er war allein. Da er sich fleißig in aller Art von Literatur bewegte (über welche Schwäche er nie ein Wort der Entschuldigung verlor), setzte er sich behaglich nieder, um noch zu lesen. Die Uhr auf seinem Studiertisch zeigte ein paar Minuten vor zwölf, als ein Läuten an der Hausglocke seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Als ein Mann von einfachen Gewohnheiten hatte er die Dienerschaft zu Bett gehen lassen und mußte nun selbst hinuntergehen, um die Tür zu öffnen. Er ging hinab und fand einen Mann ohne Hut und Rock, dessen Hemdärmel bis dicht unter die Schultern hinaufgestülpt waren. Einen Augenblick glaubte er, er komme von einer Boxerei; um so mehr, als er sehr aufgeregt und außer Atem war. Ein zweiter Blick jedoch zeigte ihm, daß der Mann besonders reinlich und an seinem Anzug nichts anderes in Unordnung war, als was eben beschrieben worden ist.

»Ich komme von den warmen Bädern, Herr, hier in der Straße nebenan.«

»Und was ist mit den warmen Bädern?«

»Wollten Sie so gefällig sein, sogleich hinzukommen. Wir fanden dies auf dem Tisch liegen.«

Er legte ein Stück Papier in die Hand des Arztes. Der Arzt betrachtete es und las seinen eigenen Namen und seine Adresse mit Bleistift geschrieben; nichts weiter. Er sah die Schrift näher an, blickte dann den Mann an, nahm seinen Hut von einem Haken, steckte den Hausschlüssel in die Tasche, und so eilten sie miteinander fort.

Als sie an das Badehaus kamen, erwarteten alle zu dem Etablissement gehörigen Leute sie an der Tür oder rannten in den Gängen auf und ab. »Bitte, lassen Sie niemand uns folgen«, sagte der Arzt laut zu dem Bademeister, »und führen Sie mich geradewegs an Ort und Stelle, mein Freund«, zu dem Boten.

Der Bote eilte ihm voraus an einer Reihe kleiner Kabinette vorüber und ging in eines am Ende der Reihe, indem er hineinblickte.

Der Arzt folgte ihm dicht auf dem Fuß und sah gleichfalls zur Tür hinein.

In dieser Ecke war ein Bad, aus dem man das Wasser in der Eile abgelassen hatte. In dem Bad lag wie in einem Grabe oder Sarkophag, flüchtig mit einem Leintuch und einer wollenen Bettdecke umwickelt, der Leichnam eines schwergebauten Mannes, mit aufgedunsenem Kopf und groben, gewöhnlichen Gesichtszügen. Ein Schrägfenster an der Decke war geöffnet, um den Dampf hinauszuschaffen, mit dem das Zimmer geschwängert war; aber er hing, zu Wassertropfen niedergeschlagen, schwer an den Wänden und auf dem Gesicht und der Gestalt im Bade. Das Zimmer war noch heiß und der Marmor des Bades noch warm; aber das Gesicht und der Körper war klebrig bei der Berührung. Der weiße Marmor am Boden des Bades war von einem schrecklichen Rot geädert. Auf dem Rand an der Seite sah man ein leeres Laudanumfläschchen und ein Schildpattfedermesser – befleckt, aber nicht mit Tinte.

»Durchschneiden der Halsader – rascher Tod – schon eine halbe Stunde tot.« Das Echo der Worte des Arztes schallte durch die Zimmer und Kabinette und durch das Haus, während er sich noch aus seiner gebückten Stellung emporrichtete, denn er hatte sich hinabgebeugt, um bis an den Boden des Bades zu reichen, und noch während er sich die Hände im Wasser abspülte, so daß dieses rötliche Adern durchzogen wie den Marmor, ehe dieser wie eine rote Wand aussah.

Er richtete seine Blicke auf die Kleider auf dem Sofa und die Uhr, das Geld und die Brieftasche auf dem Tisch. Ein gefaltetes Papier, halb umgebogen in dem Taschenbuch, halb aus demselben hervorsehend, fiel ihm in die Augen. Er sah es an, faßte es mit den Händen, zog es ein wenig weiter aus den Blättern heraus, sagte ruhig: »Das ist an mich gerichtet«, öffnete und las es.

Er hatte keine Anweisungen zu geben. Die Leute im Hause wußten, was sie zu tun hatten; die Beamten, deren Aufgabe dies war, fanden sich ein, und sie nahmen in gleichmütiger, geschäftsmäßiger Weise Besitz von dem Verstorbenen und was sein Eigentum gewesen, gerade so ruhig und gefaßt, wie wenn man eine Uhr aufzieht. Der Arzt war froh, wieder in die Nachtluft hinauszukommen – war sogar froh, trotz seiner großen Erfahrung, für einige Augenblicke auf eine Treppenstufe niederzusitzen; denn er fühlte sich unwohl und schwach.

Advokat wohnte nahe bei ihm, und als er vor das Haus kam, sah er ein Licht in dem Zimmer, wo er wußte, daß sein Freund oft noch spät bei seiner Arbeit saß. Da nie Licht dort war, wenn der Advokat nicht in seinem Zimmer war, so gab ihm dies die Gewißheit, daß Advokat noch nicht zu Bett gegangen war. In der Tat hatte der geschäftige Mann morgen ein Verdikt gegen die Zeugenaussagen zustandezubringen und benutzte die goldenen Morgenstunden, um den Herren von der Jury Schlingen zu legen.

Das Pochen des Arztes setzte Advokat in Erstaunen; da er aber augenblicklich Verdacht schöpfte, es komme jemand, um ihm zu sagen, daß ein anderer Jemand ihn zu bestehlen oder ihn anderweitig zu übervorteilen suchen wolle, so kam er rasch und leise herab. Er hatte sich den Kopf mit kaltem Wasser gekühlt, als gute Vorbereitung, die Köpfe der Jury mit heißem Wasser zu waschen, und las, während er den Hemdkragen weit offen hatte, damit er die Gegenzeugen um so besser würgen könnte. Er sah deshalb etwas wild aus. Als er den Arzt erblickte, den er am wenigsten erwartet hatte, sah er noch verstörter aus und sagte: »Was gibt’s?«

»Sie fragten mich einst, was Mr. Merdles Übel sei.«

»Seltsam! Ich erinnere mich dessen.«

»Ich sagte Ihnen, daß ich es noch nicht herausgefunden hätte.«

»Ja, ich weiß das.«

»Ich habe es nun gefunden.«

»Mein Gott!« sagte Advokat, erschrocken zurücktretend und seine Hand auf die Brust des andern legend. »Und ich weiß es jetzt auch! Ich lese es jetzt in Ihrem Gesicht.«

Sie gingen in das nächste Zimmer, wo der Arzt ihm einen Brief zu lesen gab. Er las ihn ein dutzendmal durch. Es stand nicht viel darin, aber er nahm seine volle und dauernde Aufmerksamkeit in Anspruch. Er konnte sein Bedauern nicht genug aussprechen, daß er nicht selbst den Schlüssel dazu gefunden. Der kleinste Schlüssel, sagte er, würde ihm genügt haben, und welch ein Glück wäre das gewesen, dieser Sache auf den Grund zu kommen!

Der Arzt hatte es übernommen, die Nachricht nach Harley Street zu bringen. Advokat war außerstande, sogleich wieder an seine Verlockungen der erleuchtetsten und bedeutendsten Jury zu gehen, die er je auf dieser Bank gesehen, bei denen, das konnte er seinem gelehrten Freunde sagen, keine seichte Sophisterei angebracht wäre, und die sich von keiner unglücklicherweise mißbrauchten advokatorischen Schlauheit und Geschicklichkeit imponieren lasse (auf diese Weise gedachte er zu beginnen); deshalb sagte er, er wolle seinen Freund begleiten und in der Nähe des Hauses auf und ab gehen, während sein Freund drinnen sei. Sie gingen zu Fuß, um in der Luft sich etwas zu erholen und zu fassen; und die Fittiche des Tages verscheuchten bereits die Nacht, als der Arzt an die Tür pochte.

Ein Bedienter, in den Farben des Regenbogens, so dünkte es dem Publikum, wartete auf seinen Herrn – das heißt, er schlief in der Küche vor ein paar Lichtern und einer Zeitung, indem er dadurch die große Masse mathematischen Übergewichts gegen die Wahrscheinlichkeit, daß ein Haus durch Zufall in Brand gerät, demonstrierte. Als dieser dienstbare Geist geweckt war, mußte der Arzt noch das Wecken des Oberhaushofmeisters abwarten. Endlich kam dieses vornehme Geschöpf in einem Flanellrock und Salbandschuhen in das Speisezimmer; aber er trug eine Krawatte und war von Kopf bis zu Fuß Haushofmeister. Es war jetzt Morgen. Der Arzt öffnete die Läden eines Fensters, während er wartete, um das Licht sehen zu können.

»Mrs. Merdles Kammerjungfer lassen Sie rufen, damit sie Mrs. Merdle aufwecke und sie so vorsichtig wie möglich auf meinen Besuch vorbereite. Ich habe ihr eine furchtbare Nachricht mitzuteilen.«

So sprach der Arzt zu dem Oberhaushofmeister. Der letztere, der ein Licht in der Hand hatte, rief dem Bedienten, daß er es nehme. Dann trat er würdevoll an das Fenster, indem er die Nachricht des Arztes genau so entgegennahm, wie er in demselben Zimmer den Diners zugesehen hatte.

»Mr. Merdle ist tot.«

»Ich wünschte in diesem Falle«, sagte der Oberhaushofmeister, »in einem Monat meine Stelle niederlegen zu dürfen.«

»Mr. Merdle hat sich das Leben genommen.«

»Sir«, sagte der Oberhaushofmeister, »das ist sehr unangenehm für die Gefühle eines Mannes in meiner Stellung, da es geeignet ist, Vorurteile zu erwecken; und ich wünschte meine Entlassung sogleich zu haben.«

»Wenn Sie auch nicht erschüttert sind, sind Sie nicht wenigstens erstaunt, Mann?« fragte der Arzt warm.

Der Oberhaushofmeister warf sich ruhig in die Brust und sagte die denkwürdigen Worte: »Sir, Mr. Merdle war nie ein Gentleman, und kein unnobler Akt von seiten Mr. Merdles würde mich überrascht haben. Kann ich Ihnen sonst jemand schicken oder irgend sonst etwas tun, was Sie wünschen sollten, ehe ich das Haus verlasse?«

Als der Arzt, nachdem er sich seiner Aufgabe oben entledigt, wieder zu Advokat auf die Straße hinabkam, sagte er nichts weiter von seiner Begegnung mit Mrs. Merdle, als daß er ihr noch nicht alles gesagt, daß sie aber, was er ihr gesagt, mit vieler Fassung getragen habe. Advokat hatte die Zeit, die er allein auf der Straße zubrachte, der Konstruktion einer höchst sinnreichen Falle, um die ganze Jury mit einem Schlage zu fangen, gewidmet; und nachdem er sich die Sache zurechtgelegt hatte, wurde es hell in seinem Geist, er konnte sich der letzten Katastrophe ganz hingeben, und sie gingen langsam miteinander nach Hause und besprachen sie nach allen Richtungen hin. Ehe sie an der Tür des Arztes schieden, sahen sie beide nach dem sonnenhellen Morgenhimmel auf, zu dem der Rauch einiger früher Feuer und der Atem und die Stimmen von einigen Frühaufgestandenen friedlich emporstiegen, blickten dann rund umher auf die ungeheure Stadt und sagten: Wenn alle diese Hunderte und Tausende von Bettlern, die noch schlafen, nur wissen könnten, wie sie beide, die jetzt miteinander sprachen, welches Verderben über ihnen schwebte, was für ein entsetzlicher Schrei gegen eine elende Seele würde zum Himmel aufgellen!

Das Gerücht, daß der große Mann tot sei, verbreitete sich mit erstaunlicher Schnelligkeit. Anfangs war er an allen Krankheiten gestorben, die man je gekannt, und an verschiedenen nagelneuen Krankheiten, die man mit Blitzesschnelligkeit für die Gelegenheit erfunden hatte. Er hatte von Kindheit an eine Wassersucht verheimlicht, er hatte vom Großvater eine große Masse Wasser auf der Brust geerbt, seit achtzehn Jahren wurde jeden Morgen eine Operation mit ihm vorgenommen, es platzten ihm zuweilen wichtige Adern (nach der Art von Feuerwerken), er hatte bald ein Lungenleiden, bald ein Herzleiden, bald auch ein Gehirnleiden. Fünfhundert Leute, die von nichts wissend sich zum Frühstück setzten, glaubten, ehe sie noch mit diesem zu Ende waren, daß sie privatim und persönlich in Erfahrung gebracht, der Arzt habe zu Mr. Merdle gesagt: »Sie müssen sich darauf gefaßt machen, eines Tages auszulöschen wie ein Licht«, und daß sie wüßten, Mr. Merdle habe geantwortet: »Der Mensch kann nur einmal sterben.« Gegen elf Uhr vormittags wurde die Gehirnkrankheit die Lieblingstheorie gegen alle übrigen; und um zwölf Uhr hatte man die Gehirnkrankheit näher als einen »Druck« bezeichnet.

Druck war so befriedigend für die öffentliche Meinung und schien jedermann so zu beruhigen, daß es den ganzen Tag hätte dabei bleiben können, wenn Advokat nicht um halb zehn Uhr den wirklichen Stand der Dinge im Gerichtshof mitgeteilt hätte. Dies führte anfangs dazu, daß man gegen ein Uhr in ganz London sich zuflüsterte, Mr. Merdle habe sich selbst entleibt. Aber das Wort »Druck« wurde, weit entfernt, durch diese Entdeckung beseitigt zu werden, mehr als je der Lieblingsausdruck. In jeder Straße moralisierten die Leute über den Druck. Alle Leute, die Geld zu gewinnen versucht hatten und denen es nicht gelungen war, sagten: Da habt ihr’s! Kaum fangt ihr an, dem Gelde nachzujagen, so bekommt ihr den Druck. Die Müßiggänger benutzten den Fall in ähnlicher Weise. Seht ihr, sagten sie, wohin ihr’s durch das ewige Arbeiten und wieder Arbeiten und wieder Arbeiten bringt! Ihr arbeitetet in einem fort, ihr übertriebt es, nun kam der Druck, und es war um euch geschehen! Diese Betrachtung machte an vielen Orten großen Eindruck, aber nirgends mehr, als bei den jungen Kommis und Associés, die noch niemals Gefahr gelaufen, daß sie sich überarbeiten würden. Diese erklärten einstimmig und feierlich, sie hofften ihr Leben lang diese Warnung nicht mehr zu vergessen und ihr Tun und Treiben so einzurichten, daß sie sich vor Druck bewahrten und sich selbst, zum Trost für ihre Freunde, noch lange am Leben erhielten.

Aber ungefähr um die Börsenzeit begann es mit dem Druck zu Ende zu gehen, und erschreckliches Geflüster verbreitete sich im Osten und Westen, Norden und Süden. Anfangs war es nur leise und ging nicht weiter als der Zweifel, ob Mr. Merdles Reichtum sich wohl so groß herausstellen würde, wie man vermutete; ob nicht eine augenblickliche Schwierigkeit eintreten würde, ihn zu »realisieren«; ob nicht sogar die wunderbare Bank eine Zeitlang (etwa einen Monat oder so) ihre Zahlungen einstellen würde. Je lauter das Geflüster wurde, was mit jeder Minute geschah, desto drohender wurde es. Er war aus nichts hervorgegangen und durch kein natürliches Wachstum oder Fortschreiten, soviel man wußte, in die Höhe gekommen; er war im Grunde doch ein gemeiner, nichtswissender Mensch; er hatte immer scheu zu Boden gesehen, und niemand war es je gelungen, einen Blick von ihm zu erhaschen; er war von allen Arten von Leuten in einer ganz unbegreiflichen Weise poussiert worden; er hatte nie eigenes Geld gehabt, seine Spekulationen waren außerordentlich planlos gewesen und seine Ausgaben unermeßlich. In stetigen Progressen nahm mit dem Dahinschwinden des Tages das Gerede an Stärke und Umfang zu. Er hatte in dem Bade einen an den Arzt adressierten Brief hinterlassen, und sein Arzt hatte den Brief erhalten, und der Brief würde morgen bei der Totenschau vorgelegt werden, und es werde die Tausende, die er betrogen, wie ein Donnerschlag treffen. Zahllose Menschen von jedem Stand und Gewerbe würden durch seine Zahlungsunfähigkeit vernichtet; alle Leute, die ihr ganzes Leben lang in behaglichen Umständen gewesen, würden ihr Vertrauen auf ihn an keinem andern Orte bereuen können als im Armenhause; Legionen von Frauen und Kindern würden ihre ganze Zukunft durch die Hand dieses mächtigen Schurken zerstört sehen. Jeder Gast bei seinen prachtvollen Festen würde sich als Teilnehmer an der Plünderung unzähliger Familien darstellen; jeder servile Verehrer des Reichtums, der ihn mit auf sein Piedestal zu heben geholfen, hätte besser daran getan, lieber gleich den Teufel selbst anzubeten. So schwoll das Gerede immer höher und wuchs durch eine Bestätigung um die andere, durch eine Abendzeitungsausgabe um die andere zu solchem Getöse an, daß man hätte glauben können, ein einsamer Wächter auf der Galerie an der St. Paulskirche hätte die Nachtluft von einem dumpfen Gemurmel des Namens Merdle geschwängert und mit jeder Art von Verwünschung erfüllt sehen müssen.

Denn um diese Zeit wußte man, daß das Übel des verstorbenen Mr. Merdle nichts als Fälschung und Betrug gewesen sei. Er, der wunderliche Gegenstand so weitverbreiteter Verehrung, der Gast bei den Festen der Vornehmen, das Wunder der großen Damengesellschaften, der Beseitiger der Ausschließlichkeit, der Vernichter des Stolzes, der Patron der Patrone, der Feilscher um die Lordschaften des Circumlocution Office, der Mann, der innerhalb von einigen zehn bis fünfzehn Jahren mehr Anerkennung gefunden, als seit mindestens zwei Jahrhunderten in England auf alle friedlichen öffentlichen Wohltäter und auf alle Führer von allen Arten der Kunst und Wissenschaft, trotz alles Zeugnisses ihrer Werke, gehäuft worden, – er, das leuchtende Wunder, der neue Stern, dem die Weisen mit Geschenken folgten, bis er stehenblieb über einem gewissen Aas am Boden einer Badewanne und verschwand – war einfach der größte Betrüger und der größte Dieb, der jemals den Galgen um seine Beute geprellt hatte.