Neunzehntes Kapitel


Neunzehntes Kapitel

Der Sturm auf das Luftschloß

Die Sonne war volle vier Stunden untergegangen, und es war später, als die meisten Reisenden sich gern außerhalb der Mauern von Rom befinden, als Mr. Dorrits Wagen immer noch auf der letzten mühsamen Station über die einsame Campagna hinrollte. Die wilden Hirten und die finster blickenden Bauern, die noch den Weg belebt und bunt gemacht hatten, solange es hell war, waren alle mit der Sonne zur Ruhe gegangen und ließen die Einöde leer. An einigen Ecken des Weges zeigte ein blasser Schimmer am Horizont, gleich einer Ausdünstung aus dem trümmerübersäten Land, daß die Stadt noch weit entfernt war; aber dieser dürftige Trost war selten und kurz. Der Wagen senkte sich wieder in ein Loch des schwarzen, trockenen Meeres, und für lange Zeit war wieder nichts zu sehen als die versteinerte Woge und der düstere Himmel.

Mr. Dorrit, obgleich er mit dem Bau seines Luftschlosses beschäftigt war, fühlte sich doch an diesem Ort nicht ganz behaglich. Er war bei jedem Umbiegen des Wagens und jedem Ruf des Postillions neugieriger als er auf dem ganzen Wege seit London gewesen. Der Kammerdiener auf dem Bock zitterte sichtlich. Dem Kurier Hintenauf war es nicht wohl zumute. Sooft Mr. Dorrit das Fenster herunterließ und sich nach ihm umsah (was sehr oft geschah), sah er ihn allerdings John Chivery rauchen, aber dabei zumeist stehen und sich umschauen wie ein Mann, der seinen Verdacht hat und auf seiner Hut bleibt. Dann zog Mr. Dorrit die Fenster wieder in die Höhe und dachte bei sich, diese Postillione seien mörderartig aussehende Kerle, und er würde besser daran getan haben, wenn er in Civitavecchia übernachtet und beizeiten morgens aufgebrochen wäre. Aber trotzdem baute er immer wieder an seinem Luftschloß.

Und jetzt zeigten Bruchstücke verfallener Einfassungen, gähnende Fensteröffnungen und morsche Mauern, öde Häuser, lecke Brunnen, geborstene Zisternen, gespenstische Zypressen, Büsche verschlungener Weinreben und der Übergang des Geleises in eine lange, unregelmäßige, unordentliche Gasse, wo alles im Verfall war, von den unansehnlichen Gebäuden bis zu dem holperigen Weg – all dies zeigte, daß sie sich Rom näherten. Und jetzt flößte ein plötzliches Ausbiegen und Anhalten des Wagens Mr. Dorrit die Besorgnis ein, daß nun der Straßenräuberaugenblick gekommen sei, um ihn in einen Graben zu schleppen und auszuplündern; bis er das Fenster wieder herunterließ und sah, daß ihm nichts Schlimmes den Weg versperrte als eine Leichenprozession, die ein undeutliches Schauspiel von schmutzigen Kleidern, flackernden Fackeln, geschwungenen Weihrauchpfannen und einem großen, vor einem Priester hergetragenen Kreuze entfaltete, mit mechanischer Gleichgültigkeit an ihm vorüberzog. Jener Priester war ein häßlicher Mann, wenn man ihn so bei Fackellicht sah, von finsterem Aussehen, mit vorstehender Stirn, und als seine Augen denen von Mr. Dorrit begegneten, der entblößten Hauptes zum Wagen heraussah, schienen die vom Singen bewegten Lippen diesem bedeutenden Reisenden zu drohen, auch die Bewegung seiner Hand, die nichts als die Erwiderung des Grußes des Reisenden war, schien diese Drohung zu unterstützen. So kam es wenigstens Mr. Dorrit vor, dessen Phantasie durch das ermüdende Bauen und Fahren aufgeregt war, als der Priester an ihm vorüberzog und die Prozession mit ihrer Leiche sich entfernte. Einen ganz andern Weg schlug Mr. Dorrit mit seinem Gefolge ein; und bald klopften sie mit ihrer Wagenladung von Luxuswaren aus den beiden großen Hauptstädten Europas (gleich umgekehrten Goten) an die Tore von Rom.

Mr. Dorrit wurde von seinen Leuten nicht mehr diese Nacht erwartet. Man hatte auf ihn gewartet, hatte es aber endlich bis zum andern Morgen verschoben, da man glaubte, er werde zu so später Nachtzeit nicht mehr in einem solchen Lande unterwegs sein. Als daher sein Wagen vor der Tür seines Hauses hielt, erschien niemand zu seinem Empfang als der Portier. Ob Miß Dorrit nicht zu Hause, fragte er. Doch, sie sei zu Hause. Gut, sagte Mr. Dorrit zu den herbeikommenden Dienern, sie sollten bleiben, wo sie wären, und den Wagen abladen helfen, er wolle Miß Dorrit selbst aufsuchen.

Er ging langsam und müde die große Treppe hinauf und blickte in verschiedene Zimmer, die leer waren, bis er Licht in einem kleinen Vorzimmer bemerkte.

Es war ein verhangener Raum wie ein Zelt, hinter dem sich zwei Zimmer befanden; er sah warm und hellfarbig aus, da er durch den dunklen Gang geschritten kam.

Der Eingang hatte eine Portiere, aber keine Tür, und als er hier stehenblieb und ungesehen hineinschaute, fühlte er einen Stich im Herzen. Wohl nicht aus Eifersucht? Warum auch Eifersucht? Es waren ja nur sein Bruder und seine Tochter drinnen; er hatte den Stuhl an den Kamin gerückt und genoß die Wärme des abendlichen Holzfeuers; sie saß an einem kleinen Tischchen und war mit einer Stickerei beschäftigt. Wenn man den großen Unterschied in der Umgebung des Bildes zugibt, so bleibt doch eine große Ähnlichkeit in den Personen, denn sein Bruder sah ihm ähnlich genug, um ihn für einen Augenblick vorstellen zu können. So hatte er manchen Abend an einem Steinkohlenfeuer in der alten Heimat gesessen, so hatte sie gesessen, ganz nur seinem Dienst geweiht. Und doch war in der alten, elenden Armut nichts, worauf man hätte eifersüchtig sein können. Woher dann dieser Stich im Herzen?

»Weißt du, Onkel, ich glaube, du wirst wieder jung.«

Ihr Onkel schüttelte den Kopf und sagte: »Seit wann, meine Liebe, seit wann?«

»Ich glaube«, versetzte Klein-Dorrit, fleißig mit der Nadel fortarbeitend, »daß du schon seit Wochen immer jünger wirst. So heiter, Onkel, und so munter und so teilnehmend an allem, was vorgeht!«

»Mein liebes Kind – das tust du mir alles.«

»Ich alles, Onkel?«

»Ja, ja. Du hast unendlich wohltätig auf mich eingewirkt. Du warst so rücksichtsvoll gegen mich und gingst so zart mit mir um und suchtest so zart mir deine Aufmerksamkeiten zu verbergen, daß ich – ja, ja, ja! Ich habe es in treuem Herzen bewahrt, gutes Kind, in treuem Herzen bewahrt.« »Aber, lieber Onkel, das phantasierst du dir nur alles so zusammen«, sagte Klein-Dorrit heiter.

»Ja, ja, ja!« murmelte der Alte. »Gott sei Dank!«

Sie hielt einen Augenblick mit ihrer Arbeit inne, um ihn anzusehen, und ihr Blick machte, daß der Stich in ihres Vaters Brust wieder schmerzte: in seiner armen, schwachen Brust, die so voll von Widersprüchen, Ungereimtheiten und Schwankungen, so voll von den kleinen armseligen Verlegenheiten dieses dunklen Lebens war, Nebeln, die der Morgen ohne Nacht allein verscheuchen kann.

»Ich konnte mein Herz offner vor dir ausschütten, mein Täubchen«, sagte der alte Mann, »seit wir allein sind. Ich sage allein, denn ich zähle Mrs. General nicht: ich kümmere mich nicht um sie: sie hat nichts mit mir zu schaffen. Aber ich weiß, Fanny hat keine Geduld mit mir. Und das wundert mich nicht, auch klage ich nicht darüber, denn ich fühle wohl, ich muß im Wege sein, obgleich ich mich so viel wie möglich seitab halte. Ich weiß, ich passe nicht in unsre Gesellschaft. Mein Bruder William«, sagte der alte Mann ganz von Bewunderung voll, »würde ein Umgang für Fürsten sein: aber mit deinem Onkel ist’s etwas anderes, mein Kind. Frederick Dorrit mehrt das Ansehen William Dorrits nicht, und er weiß es ganz wohl. Ach! Wie, da ist ja dein Vater, Amy! Mein lieber William, sei willkommen! Mein geliebter Bruder, ich freue mich herzlich, dich wiederzusehen!«

Als er sich während des Sprechens umgewandt, hatte er ihn auf der Schwelle stehen sehen.

Klein-Dorrit schlang mit einem Freudenschrei die Arme um ihres Vaters Hals und küßte ihn wieder und wieder. Ihr Vater war etwas ungeduldig und mißgestimmt. »Ich freue mich, dich endlich wiederzusehen, Amy«, sagte er. »Ha. Wirklich, ich freue mich, endlich – hm – irgend jemand zu finden, der mich empfängt. Ich scheine so wenig – ha – erwartet worden zu sein, daß ich wahrhaftig – ha – hm – zu glauben begann, es werde nötig sein, mich zu entschuldigen, daß ich – ha – mir die Freiheit nahm, überhaupt zurückzukommen.«

»Es war so spät, mein lieber William«, sagte sein Bruder, »daß wir die Hoffnung für heute nacht aufgegeben hatten.«

»Ich bin stärker als du, lieber Frederick«, versetzte sein Bruder mit einer gemachten Brüderlichkeit, in der mehr Strenge lag, »und ich hoffe, ich kann ohne Nachteil für meine Gesundheit – ha – zu jeder Stunde, wenn ich will, reisen.«

»Gewiß, gewiß«, versetzte der andere, besorgt, er möchte Anstoß gegeben haben. »Gewiß, William.«

»Ich danke dir, Amy«, fuhr Mr. Dorrit fort, während sie ihm die Schals abnehmen half, »ich kann es schon allein machen. Ich will – ha – dir keine Mühe verursachen, Amy. Könnte ich ein Stückchen Brot und ein Glas Wein haben, oder – hm – würde es zu viele Umstände machen?«

»Lieber Vater, du sollst dein Abendessen in wenigen Minuten haben.«

»Ich danke, mein liebes Kind«, sagte Mr. Dorrit mit vorwurfsvoller Kälte; »ich – ha – fürchte zu viele Umstände zu veranlassen. Hm. Mrs. General ganz wohl?«

»Mrs. General klagte über Kopfweh und Müdigkeit; sie ging deshalb zu Bett, als wir glaubten, du kämst nicht mehr, mein lieber Vater.«

Vielleicht dachte Mr. Dorrit, Mrs. General habe recht gehabt, wenn sie durch die Täuschung, die durch ein Nichtankommen verursacht worden, sich gedrückt gefühlt. Jedenfalls heiterte sich sein Gesicht auf, und er sagte mit offenbarer Befriedigung: »Bedaure außerordentlich zu hören, daß Mrs. General nicht wohl ist.«

Während dieses kurzen Gespräches hatte ihn seine Tochter mit etwas mehr als gewöhnlichem Interesse betrachtet. Es hatte den Anschein, als wenn er ihr verändert und schlechter aussehend vorkäme: er bemerkte es und nahm es empfindlich auf: denn er sagte, mit neuer Verdrießlichkeit, als er sich seines Reiserocks entledigt hatte und an das Feuer getreten war:

»Amy, wonach siehst du? Was siehst du an mir, das dich veranlaßt, deine – ha – besorgte Teilnahme mir in – hm – so eigentümlicher Weise zuzuwenden?«

»Ich wußte es nicht, Vater: ich bitte um Entschuldigung. Es beglückte meine Augen, dich wiederzusehen: das ist alles.«

»Sage nicht, das ist alles, weil – ha – das nicht alles ist. Du – hm – glaubst,« sagte Mr. Dorrit mit einer Emphase, in der eine Anklage lag, »daß ich nicht gut aussehe.«

»Ich dachte, du sähest etwas ermüdet aus, lieber Vater.«

»Dann täuschest du dich«, sagte Mr. Dorrit. »Ha, ich bin nicht müde. Ha, hm. Ich bin frischer, als ich war, als ich wegging.«

Er war so nahe daran, in Zorn auszubrechen, daß sie nichts mehr zu ihrer Verteidigung sagte, sondern ruhig neben ihm stehenblieb und seinen Arm umschlungen hielt. Als er so dastand, wahrend sein Bruder von der andern Seite ihn ansah, versank er in eine Träumerei von kaum einer Minute, aus der er plötzlich auffuhr.

»Frederick«, sagte er, sich zu seinem Bruder umwendend, »ich empfehle dir, augenblicklich zu Bett zu gehen.«

»Nein, William, ich will aufbleiben und dich zu Nacht speisen sehen.«

»Frederick«, versetzte er, »ich bitte dich, zu Bett zu gehen. Tue es mir zu Gefallen und gehe zu Bett. Du solltest schon lange zu Bett sein. Du bist sehr schwach.«

»Ha!« sagte der alte Mann, der keinen andern Wunsch hatte, als ihm zu Gefallen zu leben. »Ja, ja, ja! Das bin ich wohl.«

»Mein lieber Frederick«, versetzte Mr. Dorrit mit erstaunlicher Überlegenheit über die schwachen Kräfte seines Bruders, »es kann kein Zweifel darüber sein. Es ist sehr schmerzlich für mich, dich so schwach zu sehen. Ha. Es macht mir großen Kummer. Hm. Ich finde nicht, daß du wohl aussiehst. Du bist nicht für dergleichen Dinge gemacht. Du solltest ängstlicher auf deine Gesundheit bedacht sein, weit mehr auf deine Gesundheit bedacht sein.«

»Soll ich zu Bett gehen?« fragte Frederick.

»Lieber Frederick«, sagte Mr. Dorrit, »tue es, ich beschwöre dich! Gute Nacht, Bruder. Ich hoffe, du wirst dich morgen kräftiger fühlen. Dein Aussehen gefällt mir ganz und gar nicht. Gute Nacht, lieber Junge!« Nachdem er seinen Bruder auf diese freundliche Weise fortgeschickt, versank er wieder in ein träumerisches Sinnen, ehe der alte Mann noch zum Zimmer hinaus war; und er wäre über die Schwelle gestolpert, wenn seine Tochter ihn nicht gehalten hätte.

»Dein Onkel ist sehr verwirrt, Amy«, sagte er, als er aus seinem Sinnen erwachte. »Er spricht weniger zusammenhängend, und seine Konversation ist – hm – gebrochener, als ich es je – ha – hm – an ihm gekannt. Ist er unwohl gewesen, seit ich fort war?«

»Nein, Vater.«

»Du – ha – findest ihn doch auch sehr verändert. Amy?«

»Ich habe nichts bemerkt, Vater.«

»Er ist ganz gebrochen«, sagte Mr. Dorrit. »Ganz gebrochen. Mein armer liebevoller, schwacher Frederick! Ha. Wenn ich namentlich bedenke, was er früher war, so ist er jetzt – hm – traurig gebrochen.«

Sein Nachtessen, das ihm nunmehr gebracht und auf dem kleinen Tisch aufgestellt wurde, an dem er sie hatte arbeiten sehen, lenkte seine Aufmerksamkeit von dem bisherigen Gesprächsgegenstand etwas ab. Sie saß an seiner Seite wie in jenen früheren Tagen, zum ersten Male, seit jene Tage ihr Ende genommen. Sie waren allein, und sie reichte ihm die Speisen und schenkte ihm den Wein ein, wie sie es im Gefängnis zu tun gewohnt gewesen war. All dies geschah jetzt zum ersten Male, seit sie reich geworden. Sie fürchtete sich, ihn viel anzusehen, nachdem er Ärgernis daran genommen; aber sie beobachtete zweimal während des Essens, daß er sie ganz plötzlich ansah und sich dann umschaute, als wenn die Ideenverbindung so stark wäre, daß er sich durch seinen Gesichtssinn versichern müsse, sie seien nicht in dem alten Gefängnis. Beide Male legte er seine Hand an seinen Kopf, als vermißte er seine alte schwarze Mütze – obwohl diese schmählicherweise im Marschallgefängnis weggeschenkt und bis zu dieser Stunde nicht frei geworden, sondern noch immer auf dem Kopfe seines Nachfolgers im Hofe sich umhertrieb.

Er nahm sehr wenig zu sich, aber verweilte sehr lange beim Essen und kehrte oft auf den schwachen Zustand seines Bruders zurück. Obwohl er das größte Mitleid mit ihm aussprach, war er doch beinahe ärgerlich auf ihn. Er sagte, der arme Frederick – ha, – hm – fasle. Es gebe kein andres Wort dafür: fasle. Der arme Junge! Es war ein trauriger Gedanke, wenn man bedächte, was Amy von der unendlichen Langweiligkeit seiner Gesellschaft ausgestanden haben mußte – von der Gesellschaft dieses Mannes, der immerfort schwätze und fasle, der arme, gute, liebe Mensch, der immerfort fasle und schwatze – wenn sie nicht in Mrs. General eine Aufheiterung gefunden. Er bedauere sehr, wiederholte er dann mit der früheren Zufriedenheit, daß diese – ha – herrliche Frau unpäßlich sei.

Klein-Dorrit mit ihrer aufmerksamen Liebe würde sich des Geringsten, was er in jener Nacht sagte und tat, erinnert haben, obgleich sie später keinen Grund hatte, jene Nacht sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie erinnerte sich immer, daß wenn er unter dem starken Einfluß der Ideenverbindung des Jetzt und Ehemals umherblickte, er ihr und vielleicht sich selbst den Gedanken fernzuhalten suchte, indem er augenblicklich wieder von dem großen Reichtum und der vornehmen Gesellschaft sprach, mit der er während seiner Abwesenheit verkehrt, und von der hohen Stellung, die er und seine Familie zu behaupten hätten. Auch erinnerte sie sich deutlich, daß durch das ganze Gespräch und das ganze Benehmen ihres Vaters zwei Strömungen durchliefen, nämlich, daß er zeigen wollte, wie gut es ihm ohne sie gegangen, und wie unabhängig er von ihr sei, und daß er sich auf eine passende, zart andeutende Weise beklagte, es wäre möglich, sie hätte ihn, während er fortgewesen, vernachlässigt.

Seine Schilderung von der großartigen Stellung, die Mr. Merdle einnehme, und von dem Hofe, der sich vor ihm beuge, brachte ihn natürlich auf Mrs. Merdle. So natürlich, daß, obgleich ungewöhnlicher Mangel an Folgerichtigkeit in dem größern Teil seiner Bemerkungen sichtlich war, er plötzlich auf sie überging und fragte, wie sie sich befände.

»Sie ist ganz wohl. In nächster Woche geht sie fort.«

»Nach Hause?« fragte Mr. Dorrit.

»Nachdem sie sich einige Wochen unterwegs aufgehalten habe.«

»Sie wird ein großer Verlust für die hiesige Gesellschaft sein«, sagte Mr. Dorrit. »Ein großer Gewinn für die Heimat. Für Fanny und – hm – die übrige – ha – große Welt.«

Klein-Dorrit dachte an den Wetteifer, der nun beginnen sollte, und stimmte außerordentlich sanft zu.

»Mrs. Merdle will eine große Abschiedsgesellschaft geben, lieber Vater, der ein Diner vorangehen soll. Sie drückte ihre Besorgnis aus, du möchtest nicht mehr zur rechten Zeit eintreffen. Sie hat dich und mich zu ihrem Diner eingeladen.«

»Sie ist – ha – sehr freundlich. Wann soll es stattfinden?«

»Übermorgen.«

»Schreibe ihr morgen und sage, daß ich zurückgekehrt sei und mich sehr – hm – freue.«

»Darf ich dich die Treppe hinauf in dein Zimmer begleiten, lieber Vater?«

»Nein!« antwortete er, ärgerlich sich umsehend: denn er ging weg, als wenn er das Abschiednehmen vergäße. »Du sollst nicht, Amy! Ich brauche keine Hilfe. Ich bin dein Vater, nicht dein gebrechlicher Onkel!« Er unterbrach sich ebenso plötzlich, als er diese Antwort gegeben hatte, und sagte: »Du hast mich nicht geküßt, Amy. Gute Nacht, liebes Kind! Wir müssen dich nun verheiraten – ha – dich verheiraten.« Mit diesen Worten ging er langsam und müde die Treppe hinauf nach seinen Zimmern, und beinahe sofort, als er dort angekommen, entließ er seinen Kammerdiener. Die nächste Sorge war, nach seinen Pariser Einkäufen zu sehen und, nachdem er ihre Kapseln geöffnet und sie genau in Augenschein genommen hatte, sie unter Schloß und Riegel zu legen. Darauf sank er, halb dösend, halb Schlösser bauend, auf lange Zeit in träumerisches Sinnen, so daß bereits ein leichter Morgenschimmer den östlichen Rand der öden Campagna umsäumte, als er in das Bett kroch.

Mrs. General ließ sich am nächsten Tag frühzeitig nach seinem Befinden erkundigen: sie hoffe, er habe nach seiner anstrengenden Reise wohl geruht. Er ließ ihr danken und bat Mrs. General zu versichern, daß er vortrefflich geschlafen und sich außerordentlich wohl befinde. Nichtsdestoweniger verließ er seine Zimmer erst spät am Nachmittag, und obgleich er sich für eine Fahrt mit Mrs. General und seiner Tochter prachtvoll ankleiden ließ, reichte doch seine äußere Erscheinung nicht an die Beschreibung, die er von sich machte.

Da die Familie an diesem Tage keine Besuche hatte, speisten die vier Familienmitglieder allein zusammen. Er führte Mrs. General mit ungeheurer Zeremonie an den Platz zu seiner Rechten, und Klein-Dorrit bemerkte unwillkürlich, als sie mit ihrem Onkel folgte, daß er wieder mit ausgesuchtem Geschmack gekleidet, und daß sein Benehmen gegen Mrs. General ganz eigentümlicher Art war. Die vollendete Bildung des Äußern dieser vollkommenen Dame machte es schwierig, ein Atom von ihrer feinen Politur zu verrücken, aber Klein-Dorrit glaubte in einer Ecke ihres frostigen Auges ein flüchtiges Auftauen des Triumphes zu gewahren.

Trotz des prunischen und prismatischen Charakters des Familienbanketts, wie wir jenen in diesem Roman bezeichnen wollen, schlief Mr. Dorrit mehrere Male im Verlauf des Diners ein. Seine Anfälle von Schlummer waren so plötzlich, als sie es in der Nachtzeit vor Schlafengehen waren, und auch so kurz und tief. Als ihn zum erstenmal ein solcher Schlummer überfiel, war Mrs. General etwas erstaunt, aber bei jeder Wiederholung dieses Symptoms betete sie ihren höflichen Rosenkranz, der aus den Worten: Papa, Potateos, Poultry, Prunes und Prism bestand: und indem sie äußerst langsam dieses unfehlbare Mittel anwandte, schien sie mit ihrem Rosenkranz beinahe im selben Augenblick zu Ende zu kommen, als Mr. Dorrit aus seinem Schlafe auffuhr.

Er bemerkte wieder eine Neigung zur Schlafsucht bei Frederick (die außerhalb seiner Phantasie jedoch nicht existierte) und entschuldigte nach dem Diner, als Frederick weggegangen, im Vertrauen den armen Mann bei Mrs. General. »Der ehrenwerteste und liebevollste Bruder, den man sich denken kann«, sagte er, »aber –- ha, hm – ganz gebrochen. Ein großes Unglück, er wird immer schwächer.«

»Mr. Frederick, Sir«, sagte Mrs. General, »ist gewöhnlich abwesend und gedrückt, aber lassen Sie uns hoffen, daß es nicht so schlimm mit ihm steht.«

Mr. Dorrit war jedoch entschlossen, ihn nicht aufkommen zu lassen. »Er wird sichtlich schwächer. Ein Wrack. Eine Ruine. Er fällt vor unsern Augen zusammen. Hm. Der gute Frederick.«

»Sie haben hoffentlich Mrs. Sparkler wohl und glücklich verlassen?« sagte Mrs. General, nachdem sie Frederick einen kühlen Seufzer gewidmet.

»Umgeben«, versetzte Mr. Dorrit, »von allem – ha –, was die Sinne erfreuen und – hm – den Geist erheben kann. Ganz glücklich, meine Verehrte, im Besitze eines – ha – Gatten.«

Mrs. General wurde etwas verlegen; sie schien das Wort zart mit ihren Handschuhen wegzuschieben, als wenn sie nicht wüßte, wie man dazu kommt.

»Fanny«, fuhr Mr. Dorrit fort, »Fanny, Mrs. General, hat bedeutende Eigenschaften. Ha. Ehrgeiz – hm –, festen Charakter, Bewußtsein – ha – ihrer Stellung, Entschlossenheit, diese Stellung zu wahren – ha, hm –, Anmut, Schönheit und angeborene Noblesse.«

»Ganz gewiß«, sagte Mrs. General mit einer kleinen Extrasteifheit.

»In Verbindung mit diesen Eigenschaften, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »hat Fanny – ha – einen Fehler an den Tag gelegt, der mir sehr – hm – unangenehm war und – ha –, ich muß hinzufügen, mich ärgerlich machte; der jedoch als abgemacht zu betrachten sein dürfte, sogar was sie selbst betrifft, und unzweifelhaft auch – ha –, was andere betrifft – getilgt ist.«

»Worauf, Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, während ihre Handschuhe wieder etwas in Aufregung kamen, »worauf können Sie anspielen? Ich weiß nicht –«

»Sagen Sie das nicht, meine Verehrte«, unterbrach sie Mr. Dorrit.

Mrs. Generals Stimme erstarb in den Worten: »Ich weiß nicht, was ich mir denken soll.«

Mr. Dorrit überkam wieder ein Schlummer von ungefähr einer Minute, aus dem er mit krampfhafter Schnelligkeit erwachte.

»Ich meine, Mrs. General, jenen – ha – starken Oppositionsgeist, oder – hm – ich möchte sagen – ha – jene Eifersucht bei Fanny, die bisweilen gegen dieses Gefühl – ha – aufgetaucht, das ich von den Ansprüchen hege, die die Dame, mit der ich jetzt zu sprechen die Ehre habe, machen könnte.«

»Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, »ist stets zu gütig gegen mich, schlägt meine Verdienste stets zu hoch an. Wenn es Augenblicke gab, wo ich mir einbildete, Miß Dorrit sei ungehalten über die günstige Meinung, die Mr. Dorrit von meinen Diensten habe, so fand ich eben in dieser nur zu hohen Meinung meinen Trost und Lohn.«

»Meinung von Ihren Diensten, Madame?« sagte Mr. Dorrit.

»Von meinen Diensten«, wiederholte Mrs. General in zarter und eindrucksvoller Weise.

»Von Ihren Diensten allein, meine Teure?« sagte Mr. Dorrit.

»Ich denke wohl«, versetzte Mrs. General in ihrer früheren eindrucksvollen Weise, »von meinen Diensten allein. Denn wem sonst«, sagte Mrs. General mit einer flüchtig fragenden Bewegung ihrer Handschuhe, »könnte ich die Schuld geben –?«

»Ihnen selbst, Mrs. General. Ha, hm. Ihnen selbst und Ihren Verdiensten«, lautete Mr. Dorrits Antwort.

»Mr. Dorrit wird mir verzeihen«, sagte Mrs. General, »wenn ich die Bemerkung mache, daß jetzt nicht die Zeit und dies nicht der Ort ist, dieses Gespräch fortzusetzen. Mr. Dorrit wird mich entschuldigen, wenn ich ihn daran erinnere, daß sich Miß Dorrit im anstoßenden Zimmer befindet, und daß ich sie sehen kann, während ich ihren Namen ausspreche. Mr. Dorrit wird mir verzeihen, wenn ich bemerke, daß ich aufgeregt bin und daß ich finde, es gibt Augenblicke, wo die Schwache, die ich überwunden zu haben glaubte, sich mit verdoppelter Kraft wieder geltend macht. Mr. Dorrit wird mir erlauben, mich zu entfernen.«

»Hm. Vielleicht nehmen wir ein andermal diese – ha – interessante Unterhaltung wieder auf«, sagte Mr. Dorrit: »wenn sie nicht etwa, was ich nicht hoffe, irgendwie Mrs. General – ha – unangenehm wäre.«

»Mr. Dorrit«, sagte Mrs. General, ihre Blicke niederschlagend, während sie mit einer Verbeugung aufstand, »wird mich stets zu seinen Diensten finden.«

Mrs. General entfernte sich in pomphafter Weise und nicht mit jenem Grade von Zittern, den man bei einer minder bedeutenden Person wohl gefunden hätte. Mr. Dorrit, der seinen Teil am Gespräch mit einer gewissen majestätischen und bewundernden Herablassung vorgebracht hatte – ganz wie man manche Leute in der Kirche ihren Teil am Gottesdienst verrichten sieht –, erschien im ganzen sehr zufrieden mit sich und auch mit Mrs. General. Bei der Rückkehr dieser Dame zum Tee hatte sie sich mit etwas Puder und Pomade aufgebessert und war gleicherweise auch moralisch in etwas gesteigerter Stimmung! das letztere zeigte sich in der sanften wohlwollenden Art ihres Benehmens gegen Miß Dorrit und in der Äußerung zärtlichen Interesses für Mr. Dorrit, soweit sich dies mit dem strengen Anstand vertrug. Am Schluß des Abends, als sie aufstand, um sich zu entfernen, nahm Mr. Dorrit sie bei der Hand, als wollte er sie hinaus auf die Piazza del Popolo führen, um ein Menuett mit ihr beim Mondenschein zu tanzen, und brachte sie mit großer Feierlichkeit nach der Zimmertür, wo «r ihre Knöchel an seine Lippen hob. Nachdem er mit einem, wir dürfen wohl sagen, ziemlich knochigen Kuß von kosmetischem Duft sich von ihr verabschiedet hatte, gab er seiner Tochter seinen freundlichen Segen. Und nachdem er auf diese Weise angedeutet, daß etwas Wichtiges im Anzüge sei, ging er wieder zu Bett.

Er blieb am nächsten Morgen wieder auf seinem Zimmer für sich abgeschlossen: aber früh am Nachmittag schickte er seine besten Empfehlungen an Mrs. General durch Mr. Tinkler und bat, sie möchte Miß Dorrit auf einem Spaziergang ohne ihn begleiten. Seine Tochter war für Mrs. Merdles Diner angekleidet, ehe er erschien. Endlich zeigte er sich in strahlendem Glänze, was seinen Anzug betrifft, im übrigen aber sah er unbeschreiblich gebrochen und alt aus. Da er jedoch offenbar entschlossen war, ärgerlich zu werden, wenn sie ihn fragte, wie er sich befände, so wagte sie es nur, seine Wange zu küssen, ehe sie ihn mit ängstlichem Herzen zu Mrs. Merdle begleitete.

Die Entfernung bis zum Hause derselben war sehr kurz: aber er war wieder an seinem Luftschlösserbauen, ehe der Wagen die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Mrs. Merdle empfing ihn mit großer Auszeichnung. Der Busen befand sich im allerbesten Wohlsein und war höchst zufrieden mit sich: das Diner war außerordentlich fein und die Gesellschaft sehr erlesen.

Sie bestand meist aus Engländern, mit Ausnahme des gewöhnlichen französischen Grafen und der gewöhnlichen italienischen Marchese – dekorativen sozialen Meilensteinen, die man immer an gewissen Orten trifft und die im Äußern wenig voneinander variieren. Der Tisch war lang, und das Diner dauerte lange, und Klein-Dorrit, überschattet von einem großen schwarzen Backenbart und einer großen weißen Krawatte, verlor ihren Vater ganz aus dem Gesicht, bis ein Diener ein Stückchen Papier ihr in die Hand steckte und ihr im Auftrag von Mrs. Merdle zuflüsterte, sie möchte dies augenblicklich lesen. Mrs. Merdle hatte mit Bleistift darauf geschrieben: »Bitte, kommen Sie und sprechen Sie mit Mr. Dorrit. Ich glaube, er ist nicht ganz wohl.«

Sie eilte unbemerkt zu ihm hin, als er sich aus seinem Stuhl erhob und, sich über den Tisch hinüberbeugend, ihr, in der Meinung, sie sei noch an ihrem Platze, zurief:

»Amy, Amy, mein Kind!«

Diese Handlung war so ungewöhnlich, ganz abgesehen von seinem seltsam aufgeregten Aussehen und seiner seltsam hohen Stimme, daß augenblicklich tiefe Stille eintrat. »Meine liebe Amy«, wiederholte er. »Willst du nachsehen, ob Bob heute das Schließeramt hat?«

Sie war nun an seiner Seite, aber er glaubte immer noch in seinem Wahn, sie sitze an ihrem Platze, und rief, über die Tafel hinübergelehnt: »Amy, Amy. Ich fühle mich nicht ganz Herr meiner selbst. Ha. Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich wünsche besonders Bob zu sehen. Ha. Von allen Schließern ist er ebensosehr mein Freund wie der deine. Sieh, ob Bob im Schließerstübchen ist, und bitte ihn, zu mir zu kommen.«

Alle Gäste waren konsterniert und standen auf.

»Lieber Vater, ich bin nicht dort: ich bin hier, bei dir.«

»Oh! Du bist hier, Amy! Gut. Hm. Gut. Ha. Rufe Bob. Wenn er abgelöst wurde und nicht am Tor ist, so sage Mrs. Bangham, sie möchte gehen und ihn holen.«

Sie suchte ihn freundlich wegzuführen; aber er widerstand und wollte nicht gehen.

»Ich sage dir, Kind«, rief er trotzig, »ich kann die engen Treppen nicht ohne Bob hinaufkommen. Ha. Schick‘ nach Bob. Hm. Schick‘ nach Bob, Hm. Schick‘ nach Bob – dem besten aller Schließer – schick‘ nach Bob!«

Er sah sich verlegen um, und als er bemerkte, von welcher Menge von Gesichtern er umgeben war, redete er sie folgendermaßen an:

»Ladies und Gentlemen, es ist – ha – meine Pflicht – hm –, Sie im Marschallgefängnis willkommen zu heißen. Willkommen im Marschallgefängnis! Der Raum ist – ha – beschränkt – beschränkt – der Spazierplatz könnte größer sein; aber Sie werden ihn sichtlich mit der Zeit weiter werden sehen – mit der Zeit, Ladies und Gentlemen, und die Luft ist, im ganzen genommen, sehr gut. Sie kommt über die – ha – Surreyhügel herüber. Weht über die Surreyhügel herüber. Das ist die Snuggery. Hm. Unterhalten durch eine kleine Subskription der – ha – Kollegiatenkörperschaft. Dafür hat man heißes Wasser – gemeinschaftliche Küche – und kleine häusliche Vorteile. Die Habitués des – ha – Marschallgefängnisses nennen mich gern den Vater. Ich bin daran gewöhnt, daß Fremde dem – ha – Vater des Marschallgefängnisses ihre Aufwartung machen. Und wirklich, wenn jahrelanger Aufenthalt in demselben auf einen solchen Ehrentitel ein Anrecht geben kann, so darf ich diese – hm – Auszeichnung annehmen. Mein Kind, Ladies und Gentlemen, meine Tochter, hier geboren!«

Sie schämte sich deswegen nicht, noch seinethalben. Sie war blaß und erschrocken; aber sie hatte keine andere Sorge, als ihn zu besänftigen und ihn um seiner selbst willen fortzubringen. Sie stand zwischen ihm und den erstaunten Gesichtern und drehte sich zu ihm herum, indem sie die Augen zu ihm erhob. Er hielt sie mit seinem linken Arm umschlungen, und zuweilen hörte man sie mit ihrer sanften Stimme ihn zärtlich bitten, mit ihr wegzugehen.

»Hier geboren«, wiederholte er unter Tränen. »Ladies und Gentlemen, meine Tochter. Kind eines unglücklichen Vaters, aber – ha – doch eines Gentleman. Arm, freilich, aber – hm – stolz. Immer stolz. Es wurde eine – hm – nicht ungewöhnliche Sitte unter – ha – meinen persönlichen Verehrern – sich das Vergnügen zu machen, mir ihren Wunsch auszudrücken, meiner halboffiziellen Stellung hier ihre Huldigung durch die Anerbietung eines kleinen Tributs darzubringen, der gewöhnlich die Form von – ha – Ehrengeschenken – Ehrengeschenken in Geld annahm. In der Annahme dieser – ha – freiwilligen Anerkennung meiner schwachen Bemühungen, einen – ha – Ton hier aufrechtzuerhalten einen Ton – bitte mich wohl zu verstehen, halte ich mich nicht für kompromittiert. Ha. Nicht kompromittiert. Ha. Nicht kompromittiert. Ha. Kein Bettler. Nein, ich weise diesen Titel zurück! Zu gleicher Zeit sei es fern von mir – hm –, auf die zarten Gefühle, von denen meine parteiischen Freunde geleitet waren, den mindesten Verdacht fallen zu lassen, als wenn – hm – solche Gaben nicht außerordentlich annehmbar wären. Im Gegenteil, sie sind äußerst annehmbar. In meines Kindes Namen, wenn auch nicht meinem, muß ich dies energisch behaupten, indem ich zu gleicher Zeit – ha –- meine persönliche Würde bewahre. Ladies und Gentlemen, Gott segne Sie alle!«

Inzwischen hatte die furchtbare Kränkung, die der Busen erdulden mußte, den größern Teil der Gesellschaft veranlaßt, in andre Zimmer zu gehen. Die wenigen, die so lange geblieben waren, folgten den übrigen, und Klein-Dorrit und ihr Vater waren mit der Dienerschaft allein noch im Zimmer. »Liebster, bester Vater, willst du jetzt nicht mit mir gehen, nicht?« Er antwortete auf ihre dringende Bitte, er werde die engen Treppen nicht ohne Bob hinaufkommen; wo Bob sei, ob niemand Bob holen wolle! Unter dem Vorwand, nach Bob zu sehen, brachte sie ihn hinaus; sie mußte dabei an der nun hereinströmenden glänzenden Gesellschaft vorbei, die zu der Abendunterhaltung eingeladen war; sie setzte ihn in einen Wagen, der eben hielt, und führte ihn nach Hause.

Die breiten Treppen seines römischen Palastes waren in seinen gebrochenen Augen zu den engen Treppen seines Londoner Gefängnisses zusammengeschrumpft, und er würde sich von niemand haben anrühren lassen als von ihr und seinem Bruder. Sie brachten ihn ohne Hilfe in sein Zimmer hinauf und legten ihn auf sein Bett. Und von diesem Augenblick war in seinem gelähmten Geist, der sich nur noch des Ortes erinnerte, wo er seine Schwingen gebrochen, der Traum verwischt, durch den er sich seit jener Zeit getastet, und er wußte von nichts mehr als vom Marschallgefängnis. Wenn er Tritte auf der Straße hörte, hielt er sie für die alten traurigen Schritte auf dem Hof. Wenn die Stunde zum Schließen kam, glaubte er, alle Fremden seien nun für die Nacht ausgeschlossen. Wenn dann wieder die Stunde zum Öffnen kam, wollte er um jeden Preis Bob sehen, so daß sie genötigt waren, eine Geschichte zu erfinden, wie dieser Bob, der edle Schließer, der seit vielen Jahren tot war, sich erkältet habe – aber morgen oder den nächsten Tag oder den übernächsten wieder ausgehen zu können hoffe.

Er wurde so außerordentlich schwach, daß er seine Hand nicht aufheben konnte. Aber er ließ seinem Bruder, wie er es seit lange gewohnt war, seine Nachsicht angedeihen und sagte wohl fünfzigmal am Tage, wenn er ihn an seinem Bett stehen sah, mit wohlwollender Teilnahme: »Nein, guter Frederick, setze dich. Du bist wirklich sehr schwach.«

Sie versuchten es mit Mrs. General, ihm sein früheres klares Bewußtsein zu geben, aber er hatte nicht die geringste Ahnung von ihr. Ein beleidigender Verdacht schlich sich sogar in sein Gehirn, sie wolle nämlich Mrs. Bangham ersetzen und sei dem Trunk ergeben. Er machte ihr in maßlosen Ausdrücken Vorwürfe darüber und drang so ungestüm in seine Tochter, sie solle zum Marschall gehen und ihn bitten, sie hinauszuschaffen, daß man sie nach diesem ersten mißlungenen Versuche nicht mehr zum Vorschein brachte.

Mit Ausnahme der einmaligen Frage, ›ob Tip in die Stadt gegangen sei‹, schien er keine Erinnerung an seine beiden abwesenden Kinder zu haben. Aber das Kind, das so viel für ihn getan und so armselig dafür belohnt worden, verlor sich keinen Augenblick aus seinem Gedächtnis. Nicht, daß er sie geschont hätte oder fürchtete, sie möchte durch das Wachen und die Anstrengung sich aufreiben; er machte sich darüber so wenig Sorgen wie gewöhnlich. Nein, er liebte sie auf seine alte Weise. Sie waren wieder im Gefängnis, und sie pflegte ihn, und er bedurfte ihrer beständig und konnte sich nicht ohne sie hin und her wenden; er sagte ihr bisweilen, daß er gern viel um ihretwillen gelitten. Sie aber beugte sich mit ihrem stillen Gesicht zu ihm herab und hätte ihr eigenes Leben hingegeben, wenn sie das seine damit hätte wieder anfachen können.

Als er auf diese schmerzlose Weise zwei bis drei Tage lang an Kräften abgenommen, bemerkte sie, daß ihn das Ticken seiner Uhr inkommodiere – einer prachtvollen goldenen Uhr, die viel Lärm mit ihrem Gehen machte, wie wenn sonst nichts ginge als sie und die Zeit. Sie ließ sie ablaufen; aber er war immer noch unruhig und gab zu verstehen, daß es das nicht gewesen, was er gewollt. Endlich raffte er sich soweit auf, um zu erklären, daß er Geld auf diese Uhr aufgenommen zu wissen wünsche. Er war sehr angenehm berührt, als sie vorgab, sie zu diesem Zweck fortzunehmen, und er fand von da ab die kleinen Delikatessen von Wein und Gelee weit besser als früher.

Er gab bald deutlich zu verstehen, daß das seinem Wunsche gemäß sei: denn er schickte ein oder zwei Tage später seine Hemdenknöpfe und Fingerringe fort. Es gewährte ihm eine ganz erstaunliche

Mr. Dorrits Tod.

Befriedigung, wenn er ihr diese Aufträge erteilt, und schien sie wie die methodischsten und vorsorglichsten Anordnungen, die man treffen könnte, zu betrachten. Nachdem seine Kleinodien oder zum mindesten diejenigen, die er davon zu sehen imstande, versetzt waren, zogen seine Kleider seine Aufmerksamkeit auf sich; und es ist so wahrscheinlich wie nicht, daß ihn einige Tage die Befriedigung am Leben erhielt, sie Stück für Stück zu einem eingebildeten Pfandleiher zu schicken.

So beugte sich Klein-Dorrit zehn Tage lang über sein Kissen und legte ihre Wange an die seine. Bisweilen war sie so erschöpft, daß sie beide einige Minuten lang schliefen. Dann erwachte sie wieder, um mit rasch fließenden stillen Tränen zu bedenken, was sie mit ihrem Gesicht berührte, und über das geliebte Gesicht auf dem Pfühl einen dunklern Schatten ziehen zu sehen, als der Schatten der Mauer des Marschallgefängnisses.

Leise und unmerklich verschwammen alle Linien des Plans zu dem großen Schlosse, eine nach der andern. Unmerklich wurde das Gesicht, auf dem sich diese Linien kreuz und quer gezogen hatten, glatt und schön. Unmerklich verschwanden die Schatten der Gefängnisgitter und der Zickzackstacheln auf dem Mauerfirst. Unmerklich wurde das Gesicht zu einem weit jüngeren Ebenbild ihres eigenen, als sie es sonst unter dem grauen Haar zu sehen gewöhnt war, und schlief endlich zur ewigen Ruhe ein.

Anfangs war ihr Oheim ganz verstört, »O, mein Bruder! O, William, William! Du gehst mir voran, du gehst allein. Du sollst gehen, und ich soll bleiben. Du, der so viel höher stand. Du ein so ausgezeichneter, vornehmer Charakter, und ich eine arme, nutzlose Kreatur, die zu nichts taugt und die niemand vermißt haben würde!«

Das tat ihr für den Augenblick soweit gut, als sie an ihn denken, ihm eine Stütze sein mußte. »Onkel, lieber Onkel, schon dich, schone mich!«

Der alte Mann war nicht taub für die letzten Worte. Als er sich zusammenzunehmen anfing, tat er es, um sie zu schonen. Er kümmerte sich nicht um sie; aber mit der ganzen Kraft, die seinem ehrlichen Herzen noch übrigblieb, dem Herzen, das so lange geschlummert und nun aufwachte, um gebrochen zu werden, ehrte und segnete er sie.

»O Gott!« rief er, ehe sie das Zimmer verließen, indem er seine runzlichen Hände über ihr faltete. »Du siehst dieses Kind meines teuren verstorbenen Bruders. Alles, was ich mit meinen halbblinden und sündigen Augen gesehen, hast du klar und hell erkannt. Nicht ein Haar ihres Hauptes soll vor dir gekrümmt werden. Du wirst sie aufrechterhalten bis zu ihrer letzten Stunde. Und ich weiß, du wirst sie belohnen in der andern Welt!«

Sie blieben in einem schwach erleuchteten Zimmer, bis es beinahe Mitternacht war, und saßen still und traurig beisammen. Bisweilen suchte sein Schmerz Erleichterung in einem Ausbruch, gleich jenem, in dem er zuerst seinen Ausdruck gefunden; aber außer daß die Kraft, die er noch besaß, solchen Anstrengungen nicht mehr standhalten konnte, erinnerte er sich auch stets wieder ihrer Worte, machte sich Vorwürfe und beruhigte sich. Die einzige Äußerung, mit der er seinem Kummer Luft machte, war der häufige Ausruf, daß sein Bruder allein von der Erde geschieden, daß sie beim Eingang ihres Lebens zusammengewesen, daß sie zusammen ins Unglück geraten, daß sie in den langen Jahren ihrer langen Armut zusammengehalten, daß sie bis auf den heutigen Tag zusammengeblieben, und daß dieser Bruder dennoch allein, allein von hinnen gegangen.

Sie schieden mit schwerem und kummervollem Herzen. Sie wollte ihn erst in seinem eigenen Zimmer verlassen, und sie sah ihn sich in seinen Kleidern auf das Bett legen und deckte ihn mit eignen Händen zu. Dann sank sie auf ihr Bett und fiel in einen tiefen Schlaf: den Schlaf der Erschöpfung und Ruhe, obgleich nicht vollständig befreit von einem alles durchdringenden Schmerzbewußtsein. Schlafe, gute Klein-Dorrit. Schlafe die Nacht hindurch!

Es war Mondnacht; aber der Mond ging spät auf, da der Vollmond längst vorüber. Als er hoch an dem friedlichen Firmament stand, schien er durch halbgeschlossene Jalousien in das feierlich stille Gemach, wo die unsicheren Schritte und Tritte eines Lebens vor so kurzer Zeit stillgestanden. Zwei stumme Gestalten waren im Zimmer; zwei Gestalten, gleich still und regungslos, gleich entfernt durch einen unüberschreitbaren Raum von der fruchtbaren Erde und allem, was sie birgt, obgleich sie bald in ihr liegen werden.

Eine Gestalt ruhte auf dem Bett. Die andere kniete auf dem Boden und war über sie gesunken; die Arme ruhten leicht und friedlich auf der Bettdecke; das Gesicht war herabgesunken, so daß die Lippen die Hand berührten, über die sein letzter Atem sich gebeugt hatte. Die beiden Brüder standen vor ihrem Vater, weit erhaben über dem dämmerartigen Urteil der Welt; hoch über ihren Nebeln und Finsternissen.

Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

Mrs. General.

Es ist unerläßlich, die vollendete Dame vorzustellen, die bedeutend genug im Gefolge der Familie Dorrit war, um ihre eigne Linie im Fremdenbuch zu haben.

Mrs. General war die Tochter eines geistlichen Würdenträgers an einem Bischofssitz, wo sie den Ton angegeben, bis sie so nahe an fünfundvierzig war, wie es eine einzelne Dame sein kann. Ein steifer Kommissariatsbeamter von sechzig Jahren, bekannt als ein Mann, der auf strenge Zucht hielt, verliebte sich zu dieser Zeit in die Anstandsgefühle, die sie vierspännig durch die Bischofsstadt kutschierte, und hatte darum angehalten, neben ihr seinen Sitz auf dem Zeremonienwagen nehmen zu dürfen, an den dieses Gespann geschirrt war. Nachdem sein Heiratsantrag von der Dame angenommen worden, nahm der Beamte seinen Sitz hinter den Anstandsgefühlen mit großer Ehrbarkeit ein, und Mrs. General lenkte die Zügel, bis er starb. Im Verlauf ihrer gemeinsamen Reisen überfuhren sie verschiedene Leute, die den Anstandsgefühlen in den Weg kamen; aber immer großartig und mit äußerster Ruhe.

Nachdem der Kommissariatsbeamte mit allem dem Dienst entsprechenden Aufwande begraben worden (das ganze Gespann von Anstandsgefühlen war an seinen Leichenwagen geschirrt, und sie hatten alle Federn und schwarze Samtschabracken mit seinem Wappenschild in der Ecke), begann Mrs. General nachzuprüfen, welche Masse Staub und Asche bei den Bankiers deponiert sei. Es wurde ruchbar, daß der Kommissariatsbeamte in der Stille Mrs. General zuvorgekommen und sich einige Jahre vor der Hochzeit eine Leibrente gekauft, welchen Umstand er verschwiegen hatte, indem er zur Zeit seiner Bewerbung vorgab, sein Einkommen datiere von den Zinsen seines Vermögens. Mrs. General sah infolgedessen ihre Mittel so verringert, daß, wenn sie nicht mit ihrem Verstande sehr im reinen gewesen, sie sich hätte veranlaßt fühlen können, die Richtigkeit des Teiles der Leichenrede zu bezweifeln, der behauptete, der Kommissariatsbeamte könne nichts mit sich hinübernehmen.

In dieser Lage kam Mrs. General auf den Gedanken, sie wolle sich der »Geistesbildung« und gesellschaftlichen Erziehung einer jungen vornehmen Dame widmen. Oder auch die Anstandsgefühle an den Wagen einer reichen jungen Erbin oder einer Witwe schirren und zu gleicher Zeit Kutscher und Schaffner eines solchen Fuhrwerks durch die sozialen Irrgänge werden. Die Mitteilung, die Mrs. General ihren geistlichen und kommissariatlichen Bekanntschaften von dieser Idee machte, fand so warmen Beifall, daß, wenn die Verdienste der Dame nicht so außer allem Zweifel gestanden hätten, die Vermutung nahegelegen wäre, man wolle sie los werden. Zeugnisse, die Mrs. General als ein Wunder von Frömmigkeit, Gelehrsamkeit, Tugend und feiner Lebensart schilderten, wurden von einflußreichen Quartieren verschwenderisch beigesteuert, und ein ehrwürdiger Archidiakon vergoß sogar Tränen, wenn er an sein Zeugnis über die Vollkommenheiten (die ihm von Leuten, auf die er sich verlassen konnte, geschildert wurden) dachte, obgleich er nie in seinem ganzen Leben die Ehre und den sittlichen Genuß gehabt, seine Blicke auf Mrs. General ruhen zu lassen.

So gleichsam von Kirche und Staat zu ihrer Mission beordert, fühlte sich Mrs. General, die immer auf vornehmem Boden gewandelt, in der Lage, diesen zu behaupten, und begann damit, ein sehr stolzes Gesicht zur Schau zu tragen. Es trat eine Zwischenzeit von einiger Dauer ein, während der nicht auf Mrs. General geboten wurde. Endlich eröffnete ein gräflicher Witwer mit einer Tochter von vierzehn Jahren Unterhandlungen mit der Dame, und da es entweder im Charakter der angeborenen Würde oder der künstlichen Politik von Mrs. General lag (sicher jedoch eines von beiden), sich dabei zu benehmen, als wäre sie weit mehr die Gesuchte, denn die Suchende, verfolgte der Witwer Mrs. General, bis es ihm gelang, sie zu bewegen, seiner Tochter Geist und Sitten beizubringen.

Die Durchführung dieser Aufgabe beschäftigte Mrs. General ungefähr sieben Jahre. Währenddessen machte sie die Tour durch Europa und sah den größten Teil jenes umfangreichen Durcheinanders von Dingen, die wesentlich jeder Mensch von seiner Bildung mit den Augen andrer Leute und niemals mit den seinen sehen sollte. Als ihre Aufgabe endlich gelöst war, hatte sich nicht nur die junge Dame, sondern gleicherweise auch ihr Vater, der Witwer, zum Heiraten entschlossen. Der Witwer, der nun Mrs. General unbequem und kostspielig zu finden begann, wurde beinahe ebenso vernarrt in ihre Verdienste, als es der Archidiakonus gewesen, und verbreitete solche Lobeserhebungen ihres ausnehmenden Wertes in allen Quartieren, wo er glaubte, es könne sich eine Gelegenheit bieten, ihren Segen auf jemand andern zu übertragen, daß Mrs. General ein geschätzterer Name denn je war.

Der Phönix stand auf dieser erhabenen Stange zu vermieten, als Mr. Dorrit, der in jüngster Zeit in den Besitz seiner Erbschaft gekommen war, seinen Bankiers gegenüber erwähnte, er wünsche eine feingebildete, gesittete, mit der guten Gesellschaft bekannte und vertraute Dame zu finden, die geeignet wäre, zu gleicher Zeit die Erziehung seiner Töchter zu übernehmen und als Ehrendame oder Anstandswauwau zu dienen. Mr. Dorrits Bankiers, als die Bankiers des gräflichen Witwers, sagten augenblicklich: »Mrs. General.«

Dem Lichte folgend, das ihm so glücklich aufgegangen, und das einstimmige Urteil der ganzen Bekanntschaft von Mrs. General so erhaben findend, wie wir bereits erwähnt, nahm sich Mr. Dorrit die Mühe, sich nach der Grafschaft des gräflichen Witwers zu begeben und Mrs. General kennenzulernen, in der er eine Dame fand, die seine höchsten Erwartungen übertraf. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Mr. Dorrit, »wenn ich Sie frage – ha – welche Belohn –«

»Nein,« versetzte Mrs. General, ihn unterbrechend, »das ist eine Sache, auf die ich lieber nicht eingehen möchte. Ich habe nie darüber mit meinen Freunden hier verhandelt, und ich kann die Delikatesse, mit der ich diese Sache stets betrachtet, Mr. Dorrit, nicht überwinden. Ich bin keine Gouvernante, wie Sie bemerkt haben werden –«

»O, gewiß nicht!« sagte Mr. Dorrit. »Bitte, Madame, glauben Sie nicht einen Augenblick, daß ich so etwas denke.« Er errötete wirklich, daß man ihn habe in solchem Verdacht haben können.

Mrs. General neigte feierlich den Kopf. »Ich kann deshalb nicht einen Preis auf Dienste setzen, die ich mit Vergnügen leiste, wenn ich sie freiwillig leisten kann, die ich jedoch als Ersatz unter keiner Bedingung zu leisten imstande wäre. Auch weiß ich nicht, wie und wo ich einen Fall finden sollte, der dem meinen ähnlich wäre. Er ist einzig in seiner Art.«

»Allerdings. Aber wie sollte man denn«, bemerkte Mr. Dorrit ganz natürlich, »die Sache anfangen?«

»Ich kann nichts dagegen einwenden,« sagte Mrs. General, »obgleich selbst das mir unangenehm ist, wenn Mr. Dorrit im Vertrauen meine Freunde fragt, wieviel sie vierteljährlich an meine Bankiers auszubezahlen gewohnt waren.«

Mr. Dorrit verbeugte sich zustimmend.

»Erlauben Sie mir, hinzuzufügen,« sagte Mrs. General, »daß ich mich nicht weiter auf dieses Kapitel einlassen werde. Ferner, daß ich keine zweite oder untergeordnete Stellung einnehmen kann. Wenn mir die Ehre zuteil würde, Mr. Dorrits Familie kennenzulernen – ich glaube, von zwei Töchtern war die Rede?«

»Zwei Töchter.«

»So könnte ich es nur unter der Bedingung vollkommener Gleichheit, als Gesellschafterin, Beschützerin, Mentor und Freundin annehmen.«

Mr. Dorrit kam es trotz des Bewußtseins seiner Würde vor, als ob es wirklich eine Freundlichkeit wäre, wenn sie es überhaupt unter irgendeiner Bedingung annähme. Er ließ dies beinahe in seinen Worten merken.

»Ich glaube,« wiederholte Mrs. General, »von zwei Töchtern war die Rede.«

»Zwei Töchter,« sagte Mr. Dorrit wieder.

»Es würde deshalb nötig sein,« sagte Mrs. General, »ein Drittel mehr zu der Summe hinzuzufügen (wie groß immer ihr Betrag auch sein mag), die meine Freunde hier bei meinen Bankiers niederzulegen gewohnt waren.«

Mr. Dorrit verlor keine Zeit, die delikate Frage dem gräflichen Witwer vorzulegen, und da er fand, daß dieser gewohnt war, jährlich dreihundert Pfund an die Bankiers von Mrs. General zu bezahlen, kam er, ohne seine Arithmetik besonders anzustrengen, zu dem Resultat, daß er vier bezahlen müsse. Da Mrs. General ein Artikel von jener glänzenden Außenseite war, der einen glauben macht, daß sie jeden Preises wert sei, so machte er ihr den förmlichen Antrag, ihm zu gestatten, sie als ein Glied seiner Familie zu betrachten. Mrs. General bewilligte das stolze Privilegium und gehörte von nun an zur Familie.

Persönlich war Mrs. General, mit Einschluß ihrer Toiletten, die eine bedeutende Rolle dabei spielten, von würdiger, imposanter Erscheinung: groß, rauschend und sehr umfangreich; beständig aufrecht hinter ihren Anstandsgefühlen. Man hätte sie nach den Höhen der Alpen und den Tiefen von Herkulanum mitnehmen können, und nahm sie auch mit, ohne daß eine Falte ihres Kleides aus der Ordnung gekommen oder eine Stecknadel verrückt worden wäre. Wenn ihr Gesicht und ihr Haar ein ziemlich mehliges Aussehen hatten, als wenn dies vom Aufenthalt in einer außerordentlich eleganten Mühle käme, so war dies eher darum der Fall, weil sie überhaupt eine kreidige Natur, als weil sie ihre Gesichtsfarbe mit Veilchenpulver aufbesserte oder grau geworden war. Wenn ihre Augen keinen Ausdruck besaßen, so war dies wohl deshalb der Fall, weil sie nichts auszudrücken hatten. Wenn sie wenig Runzeln besaß, so war es, weil ihr Geist nie seinen Namen oder eine Inschrift auf ihr Gesicht gezeichnet. Eine kalte, wachsartige, ausgelöschte Person, die niemals gut geleuchtet hatte.

Mrs. General hatte keine Meinungen. Ihre Art, einen Geist zu bilden, war die, daß sie ihn hütete, sich Meinungen zu bilden. Sie hatte eine kleine Anzahl kreisförmiger geistiger Rinnen oder Schienen, auf denen sie kleine Züge von andrer Leute Meinungen führte, die sich niemals überholten und nie irgendwohin kamen. Selbst ihr Anstandsgefühl konnte nicht bestreiten, daß es Unanständigkeit in der Welt gebe; aber Mrs. Generals Art, sich davon loszumachen, war, dergleichen aus dem Gesichtskreis zu rücken und glauben zu lassen, daß das gar nicht existiere. Dies war eine zweite Art, wie sie den Geist bildete – alle schwierigen Dinge in Schränke zu kramen, diese zuzuschließen und zu behaupten, sie existierten nicht. Es war die leichteste Art und ohne Vergleich die anständigste.

Mrs. General konnte nichts Angreifendes hören. Unglücksfälle, Jammer und Mißhandlungen durften nie vor ihr erwähnt werden. Leidenschaft schlief gewöhnlich in Mrs. Generals Gegenwart ein und Blut ging in Milch und Wasser über. Das wenige zu firnissen und zu beschönigen, was in der Welt übrigblieb, wenn man alle diese Abzüge gemacht, war Mrs. Generals Aufgabe. In diesem ihrem Bildungsprozeß tauchte sie den kleinsten Pinsel in den größten Topf und firnißte die Oberfläche aller Dinge, die in Betracht kamen. Je mehr Risse eine Sache hatte, desto mehr firnißte sie.

Es war Firnis in Mrs. Generals Stimme, Firnis in Mrs. Generals Berührung, eine Firnisatmosphäre um Mrs. Generals Gestalt. Mrs. Generals Träume waren sicher gefirnißt – wenn sie welche hatte –, als sie in den Armen des guten hl. Bernhard schlief, während der federige Schnee auf seinen Hausgiebel fiel.

Zwanzigstes Kapitel.


Zwanzigstes Kapitel.

Einleitung zum nächsten

Die Passagiere stiegen vom Paketboot an dem Hafendamm von Calais aus. Calais war ein niedrigliegender und niederdrückender Ort in diesem Augenblick, wo die Ebbe aus ihrem niedrigsten Punkte stand. Es war auf der Barre nur noch so viel Wasser, um das Paketboot hereinzulassen; und nun sah die Barre selbst, während eine seichte Brandung sich darüber hinwälzte, wie ein träges, eben an die Oberfläche gekommenes Seeungeheuer aus, dessen Gestalt nur undeutlich zu unterscheiden war, während es so schlafend dalag. Der hagere, ganz weiße Leuchtturm, der wie ein Gespenst am Meeresufer umging, als wäre er der Geist eines Gebäudes, das einst Farbe und Rundung gehabt, weinte melancholische Tränen, wenn die See gegen ihn angestürmt. Die langen Reihen nackter, schwarzer Pfähle, schleimig und naß und wasserzerfressen, mit Leichenkränzen von Seetang, die die letzte Flut ihnen umgewunden, hätten einen unheimlich aussehenden Meereskirchhof vorstellen können. Jeder wellenumbrauste, windumsauste Gegenstand erschien unter dem weiten, grauen Himmel, in dem Lärm von Wind und Meer und vor den krausen Gestalten der Brandung, die sich wild an ihnen brach, so niedrig und klein, daß man sich wundern mußte, daß es überhaupt noch ein Calais gab und daß seine niedrigen Tore und niedrigen Mauern und niedrigen Dächer und niedrigen Gräben und niedrigen Dünen und niedrigen Festungsgräben und flachen Straßen nicht längst der unterwühlenden und belagernden See zur Beute geworden wie die Festungen, die die Kinder am Meeresufer bauen.

Nach vielfachem Ausgleiten zwischen schleimigen Pfählen und Planken, vielfachem Stolpern auf nassen Treppen und mancher Überwindung der Schwierigkeiten, die das Salzwasser bot, traten die Passagiere ihre trostlose Wanderung über den Hafendamm an, wo alle französischen Vagabunden und englischen Flüchtlinge der Stadt (die Hälfte der Bevölkerung) sie erwarteten, um sie von ihrer Verwirrung sich nicht erholen zu lassen. Nachdem alle Engländer sie aufmerksam besichtigt und alle Franzosen als Beute in Anspruch genommen und sich streitig gemacht und endlich Beschlag auf sie gelegt hatten, durften sie, nachdem sie ein meilenlanges Handgemenge durchgemacht hatten, endlich die Straßen betreten und hitzig verfolgt ihre verschiedenen Richtungen einschlagen.

Clennam, den mehr als eine Sorge in Anspruch nahm, war unter diesen Opfern. Nachdem er die Wehrlosesten unter seinen Landsleuten aus dieser äußerst peinlichen Lage befreit hatte, ging er allein seines Weges oder eigentlich so allein, wie es möglich war, verfolgt von einem eingeborenen Herrn in einem schmierigen Anzug und einer Mütze von derselben Beschaffenheit, der ihm in einer Entfernung von fünfzig Schritt nacheilte und ihm beständig in geradebrechtem Englisch nachrief: »Sir! Sir! halten Sie! Ich führe Sie nach dem schönsten Hotel!«

Aber selbst dieser gastfreundliche Mann mußte zuletzt zurückbleiben, und Clennam setzte seinen Weg unbelästigt fort. Die Stadt hatte ein ruhiges, stilles Aussehen nach dem Lärm des Kanals und des Strandes, und die Öde hatte im Vergleich damit sogar etwas Angenehmes. Er begegnete neuen Gruppen seiner Landsleute, die alle ein wucherpflanzenartiges Aussehen hatten, als wenn sie einmal zu stark geblüht hätten, wie gewisse ungesunde Arten von Blumen, und wären nun reines Unkraut; sie hatten den Anstrich, als wenn sie Tag für Tag in einem beschränkten Raum die Runde machten, was ihn stark an das Marschallgefängnis erinnerte. Aber ohne weiter Notiz von ihnen zu nehmen, als genügte, um diesen Gedanken in ihm wachzurufen, suchte er eine gewisse Straße und Hausnummer auf, die er im Kopfe hatte.

»Pancks nannte mir dies«, murmelte er vor sich hin, als er vor einem düstern Hause stillhielt, das mit seiner Adresse korrespondierte. »Ich denke, seine Weisung wird richtig sein und seine Entdeckung unter Mr. Casbys zerstreuten Papieren unbestreitbar, sonst würde ich dies schwerlich für das richtige Haus gehalten haben.«

Ein totes Haus mit einer kahlen Mauer gegenüber und einem öden Torweg an der Seite, wo ein hängender Glockengriff ein totes Geklingel und ein Klopfer ein totes, mattes Geklopf hervorbrachte, das nicht kräftig genug zu sein schien, um selbst durch die geborstene Tür durchzudringen. Die Tür ging jedoch langsam durch eine tote Springfeder auf, und er schloß sie hinter sich, als er in einen stillen Hof trat, den bald eine andere kahle Wand abschloß, an der man den Versuch gemacht, einige Schlinggewächse emporzuziehen, die jedoch abgestorben waren; auch hatte man einen kleinen Springbrunnen in einer Grotte angelegt, er war jedoch vertrocknet; die kleine Statuette, die man darauf angebracht, war zerbrochen.

Der Eingang in dies Haus war zur Linken und war wie der äußere Torweg mit zwei gedruckten Anschlägen in französischer und englischer Sprache geschmückt, die meldeten, daß hier augenblicklich möblierte Zimmer zu vermieten seien. Eine kräftige, muntere Bauerfrau, ganz Strumpf, Unterrock, weiße Mütze und Ohrring, stand hier in einem dunklen Torweg und sagte, indem sie ihre hübschen, weißen Zähne zeigte, in gebrochenem Englisch: »Was gibt es, Sir? Wen rufen Sie?«

Elennam antwortete auf französisch: Die englische Dame, er wünsche die englische Dame zu sprechen.

»So treten Sie ein und kommen Sie herauf, wenn’s gefällig«, versetzte die Bäuerin jetzt gleichfalls französisch. Er tat beides und folgte ihr eine dunkle kahle Treppe hinauf nach einem hinteren Zimmer des ersten Stocks. Hier hatte man eine düstere Aussicht auf den stillen Hof und die abgestorbenen Schlinggewächse und den vertrockneten Springbrunnen und das Piedestal der zerbrochenen Statuette.

»Monsieur Blandois«, sagte Elennam.

»Mit Vergnügen, Monsieur.«

Darauf entfernte sich die Frau und ließ ihm Zeit, sich in dem Zimmer umzusehen. Es war das Muster eines Zimmers, wie sie in solchen Häusern immer zu finden sind. Kühl, düster und dunkel. Ein gebohnerter, sehr glatter Boden. Ein Zimmer, nicht groß genug, um darin Schlittschuh zu laufen; und ungeeignet zum bequemen Betrieb einer andern Beschäftigung. Rot und weiß verhangene Fenster, eine kleine Strohmatte, ein kleiner runder Tisch mit einer wirren Masse von Beinen, plumpe Strohstühle, zwei große, rotsamtne Armstühle, in denen Platz genug war, um sich unbehaglich zu fühlen, ein Schreibtisch, ein Kaminspiegel aus mehreren Stücken zusammengesetzt, der sich aber das Ansehen gab, als wäre er aus einem Stück, ein paar übertrieben glänzende Vasen mit äußerst künstlichen Blumen: zwischen ihnen ein griechischer Krieger mit abgenommenem Helm, der dem Genius Frankreichs eine Uhr opfert.

Nach einer kurzen Pause ging eine Nebentür auf und eine Dame trat ein. Sie legte großes Erstaunen an den Tag, als sie Clennam sah, und ihr Blick lief im Zimmer umher, als ob sie noch jemand suche.

»Verzeihen Sie, Miß Wade. Ich bin allein.«

»Man hat mir doch nicht Ihren Namen gemeldet?«

»Nein; ich weiß das. Entschuldigen Sie mich. Ich habe bereits die Erfahrung gehabt, daß mein Name Sie nicht gerade sehr zu einer Unterredung mit mir geneigt macht; und ich wagte, den Namen eines Mannes nennen zu lassen, den ich suche.«

»Bitte«, versetzte sie, indem sie ihm so kalt einen Stuhl anbot, daß er stehenblieb, »unter welchem Namen ließen Sie sich melden?«

»Unter dem Namen Blandois.«

»Blandois?«

»Ein Name, den Sie kennen.«

»Es ist seltsam«, sagte sie, indem sie ihre Stirn runzelte, »daß Sie beständig ein Interesse an mir und meinen Bekanntschaften, an mir und meinen Angelegenheiten nehmen, das man gar nicht von Ihnen heischt, Mr. Clennam. Ich weiß nicht, was Sie wollen.«

»Verzeihen Sie. Sie kennen jenen Namen?«

»Was können Sie mit dem Namen zu schaffen haben? Was kann ich mit dem Namen zu schaffen haben? Was geht es Sie an, ob ich irgendeinen Namen kenne oder nicht? Ich kenne viele Namen und habe noch mehr vergessen. Dieser kann zu der einen oder zu der andern Klasse gehören, oder ich habe ihn vielleicht auch nie vernommen. Ich kenne keinen Grund, warum ich mich darüber besinnen oder mich nach ihm fragen lassen sollte.«

»Wenn Sie mir erlauben wollen«, sagte Clennam, »so werde ich Ihnen den Grund sagen, weshalb ich mich mit so großem Eifer danach erkundige. Ich gebe zu, daß ich zudringlich bin, und ich muß Sie sehr ernstlich um Verzeihung bitten, daß ich es bin. Der Grund rührt ganz von mir her. Ich will durchaus nicht andeuten, daß es irgendwie Ihretwegen geschähe.«

»Gut, Sir«, versetzte sie, indem sie etwas weniger stolz als zuvor ihre frühere Aufforderung, sich zu setzen, wiederholte; – er gehorchte ihr diesmal, da sie das gleiche tat. »Ich freue mich wenigstens zu erfahren, daß es sich nicht abermals um eine Sklavin eines Ihrer Freunde handelt, die nicht frei wählen darf und die ich weggelockt habe. Ich will Ihren Grund hören, wenn’s gefällig ist.«

»Um bei der Person zu bleiben, von der wir sprechen«, sagte Clennam, »lassen Sie mich bemerken, daß es dieselbe Person ist, die Sie vor einiger Zeit in London trafen. Sie werden sich erinnern, es war unweit des Flusses – in Adelphi.«

»Sie mischen sich auf ganz unerklärliche Weise in meine Geschäfte«, antwortete sie und sah ihn mit strenger Unzufriedenheit an. »Wie wissen Sie das?«

»Ich bitte Sie, es nicht übelzunehmen. Durch reinen Zufall.«

»Wie durch Zufall?«

»Durch den einfachen Zufall, daß ich in der Straße hinter Ihnen drein ging und Zeuge der Zusammenkunft war.«

»Sprechen Sie von sich selbst oder von sonst jemand?«

»Von mir selbst. Ich sah es.«

»Allerdings war es auf offener Straße«, bemerkte sie, nachdem sie einige Augenblicke nachgedacht und ihr Ärger nachgelassen hatte, »fünfzig Leute hätten es sehen können. Es würde nichts ausgemacht haben.«

»Ich lege auch keine Bedeutung darauf, es gesehen zu haben; ebensowenig bringe ich meinen Besuch (außer als eine Erklärung, daß ich überhaupt hierherkomme) oder die Gunst, die ich mir von Ihnen zu erbitten habe, in irgendwelche Verbindung damit.«

»Oh! Sie haben von mir eine Gunst zu erbitten! Es dünkt mich«, und das schöne Gesicht sah ihn bitter an, »als wenn Sie milder geworden wären, Mr. Clennam.«

Er begnügte sich, mit einer leichten Handbewegung dagegen zu protestieren, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Dann erwähnte er Blandois‘ Verschwinden, von dem sie wahrscheinlich gehört hätte? Nein. So unwahrscheinlich es ihn auch dünken möge, habe sie doch nichts davon gehört. Er möge sich umsehen (sagte sie) und selbst urteilen, wie eine allgemeine Kunde zu dem Ohr einer Frau dringen könne, die hier, ganz ihrem Schmerze lebend, wohne. Als sie diese Verneinung ausgesprochen, an deren Wahrheit er glaubte, fragte sie ihn, was es mit dem Verschwinden für eine Bewandtnis habe? Dies veranlaßte ihn, die Umstände ausführlich zu erzählen, und seinen lebhaften Wunsch zu erkennen zu geben, zu erfahren, was wirklich aus dem Mann geworden, um den schwarzen Verdacht zu verscheuchen, der auf seiner Mutter Haus lastete. Sie hörte ihn mit sichtlichem Staunen an und verriet mehr heimliche Teilnahme, als er bisher an ihr bemerkt hatte; aber dennoch änderte sich dadurch nichts Wesentliches in ihrem fernhaltenden, stolzen und verschlossenen Wesen. Als er zu Ende war, sagte sie nichts als die Worte:

»Sie haben mir noch nicht gesagt, was die Sache mich angeht und welche Gunst Sie von mir fordern. Wollen Sie die Güte haben, jetzt darauf zu kommen?«

»Ich setze voraus«, sagte Arthur, noch immer bemüht, ihr verächtliches stolzes Benehmen zu besänftigen, »daß, da Sie im Verkehr – darf ich sagen, im vertrauten Verkehr? – mit dieser Person stehen –«

»Sie können natürlich sagen, was Ihnen beliebt«, bemerkte sie, »aber ich unterschreibe Ihre Voraussetzungen nicht, Mr. Clennam, so wenig wie die jedes andern.«

»– daß, da Sie wenigstens im persönlichen Verkehr mit ihm stehen«, sagte Clennam, seine Worte anders stellend, um einem neuen Widerspruch zu begegnen, »Sie mir etwas von seinem früheren Tun und Treiben, seinen Erlebnissen, seinem gewöhnlichen Wohnorte werden sagen können, daß Sie mir eine Andeutung an die Hand geben können, um ihn am ehesten aufzufinden und ihn entweder herbeizuschaffen oder nachzuweisen, was aus ihm geworden ist. Das ist die Gefälligkeit, die ich mir von Ihnen erbitte, und ich erbitte sie in einer Seelenpein, auf die Sie einige Rücksicht nehmen werden. Wenn Sie irgendeinen Grund haben, mir Bedingungen aufzuerlegen, so werde ich ihn achten, ohne weiter danach zu fragen.«

»Sie haben mich zufällig mit dem Manne auf der Straße gesehen«, bemerkte sie, nachdem sie sehr zu seinem Verdruß sich offenbar mehr mit ihren eigenen Gedanken über diese Sache als mit seiner Bitte beschäftigt hatte. »Sie kannten also den Mann früher?«

»Nicht früher: ich lernte ihn erst später kennen. Ich habe ihn nie zuvor gesehen, aber ich sah ihn wieder in jener Nacht, als er verschwunden ist. Wirklich in meiner Mutter Hause. Dort verließ ich ihn. Sie werden in diesem Blatt alles finden, was von ihm bekannt ist.«

Er übergab ihr einen der gedruckten Zettel, den sie mit ruhigem und aufmerksamem Gesicht las.

»Das ist mehr, als ich von ihm wußte«, sagte sie und gab das Blatt zurück.

Clennams Blick gab seine schmerzliche Enttäuschung zu erkennen, vielleicht sogar seinen Unglauben; denn sie fügte in dem gleichen teilnahmslosen Tone hinzu: »Sie glauben es nicht. Und doch ist dem so. Was den persönlichen Verkehr betrifft, so scheint es mir, daß er im persönlichen Verkehr mit Ihrer Mutter stand: Und dennoch sagen Sie, Sie glaubten ihrer Erklärung, daß sie nicht mehr von ihm wisse.«

Es lag ein so deutlicher Verdacht in diesen Worten und dem Lächeln, das sie begleitete, daß Clennam das Blut in die Wangen schoß.

»Nun, Sir«, sagte sie mit einem grausamen Vergnügen den Stich wiederholend, »ich will offen gegen Sie sein, wie Sie nur immer wünschen mögen. Ich will gestehen, daß, wenn mir etwas an meinem Ruf läge (was nicht der Fall ist) oder ich mir einen guten Namen zu erhalten hätte (was wieder nicht der Fall ist, denn es ist außerordentlich gleichgültig, ob er für gut oder schlecht gilt), so würde ich mich für schwer kompromittiert halten, daß ich irgend etwas mit diesem Menschen zu tun gehabt habe. Aber er schritt nie über meine Schwelle – noch hat er je mit mir bis Mitternacht zusammengesessen.«

Sie rächte ihren alten Groll, indem sie so die Sache gegen ihn kehrte. Es lag nicht in ihrer Natur, zu schonen, und sie hatte kein Mitleid. »Daß er ein gemeiner, für Geld zu habender Mann ist: daß ich ihn zuerst in Italien fand, wo er sich herumtrieb (und wo ich vor nicht langer Zeit war), und daß ich ihn dort als das geeignetste Werkzeug für einen Zweck, den ich gerade verfolgte, in Sold nahm, will ich Ihnen offen gestehen. Kurz, ich hielt es für der Mühe wert, zu meinem Vergnügen – zur Befriedigung eines sehr lebhaften Gefühls – einen Spion zu bezahlen, der mir für Geld zutrug, was ich wissen wollte. Ich bezahlte diese Kreatur. Und ich darf wohl sagen, wenn ich ihn zu einem solchen Geschäft gebraucht und wenn ich ihm genug hätte bezahlen können und wenn er es im Dunkeln tun gekonnt, ohne etwas zu riskieren, er würde jemand mit ebensowenig Bedenken das Leben genommen haben, wie er mein Geld nahm. Das ist wenigstens meine Meinung von ihm; und ich sehe, sie ist nicht sehr von der Ihrigen verschieden. Die Ansicht Ihrer Mutter von ihm, darf ich wohl annehmen (indem ich Ihrem Beispiele folge, dies und jenes anzunehmen), war eine ganz andere.«

»Meine Mutter, lassen Sie mich Ihnen sagen«, versetzte Clennam, »kam erst im unglücklichen Verlauf des Geschäftes mit ihm in Verkehr.«

»Es scheint mir ein unglückliches Geschäft gewesen zu sein, das ihn mit ihr in Verkehr brachte«, versetzte Miß Wade; »und die Geschäftsstunden waren bei dieser Gelegenheit sehr spät.«

»Sie wollen zu verstehen geben«, sagte Arthur, unter diesen kaltblütigen Stichen zuckend, deren Kraft er bereits tief gefühlt hatte, »daß noch etwas –«

»Mr. Clennam«, unterbrach sie ihn ruhig, »erinnern Sie sich, daß ich durchaus nicht andeutungsweise von diesem Manne spreche. Er ist, ich sage es noch einmal ohne allen Hehl, eine niedrige Söldnernatur. Ich glaube, ein solches Geschöpf geht überall hin, wo es für sich etwas zu tun findet. Wenn ich nichts für ihn zu tun gehabt hätte, so würden Sie ihn und mich nicht beisammen gesehen haben.«

Gequält von der Beharrlichkeit, mit der sie diese dunkle Seite der Sache, die ihm selbst wie ein flüchtiger Schatten durch die Seele zog, ihm vor Augen hielt, schwieg Clennam.

»Ich sprach von ihm, als ob er noch lebte«, fügte sie hinzu, »aber er kann ebensogut aus irgendeinem Grunde aus dem Wege geschafft worden sein. Mir ist es völlig gleichgültig. Ich habe nichts weiter mit ihm zu schaffen.«

Mit einem schweren Seufzer und verzweifelnder Miene stand Arthur Clennam langsam auf. Sie stand nicht auch auf, sondern sagte, nachdem sie ihn eine Zeitlang mit einem festen Blick voll Argwohn und die Lippen fest zusammengepreßt betrachtet hatte:

»Er war der Lieblingsumgang Ihres werten Freundes Mr. Gowan, nicht wahr? Warum holen Sie sich nicht Rat bei Ihrem werten Freunde?«

Die Antwort, daß er nicht sein werter Freund sei, stand bereits auf Arthurs Lippen; aber er hielt sie zurück, indem er sich an seine alten Kämpfe und Entschlüsse erinnerte, und sagte:

»Anderes, als daß er Blandois nicht gesehen, seitdem dieser von England abgereist ist, weiß Mr. Gowan nichts von ihm. Es war eine zufällige Reisebekanntschaft.«

»Eine zufällige Reisebekanntschaft!« wiederholte sie. »Ja. Ihr werter Freund hat wohl das Bedürfnis, sich mit allen Bekanntschaften, die er machen kann, zu amüsieren, wenn man bedenkt, was für eine Frau er hat. Ich hasse seine Frau, Sir.«

Die Aufgeregtheit und die Leidenschaft, mit der sie dies sagte und die um so auffälliger war, als sie sich sonst so sehr in ihrer Gewalt hatte, fesselte Clennams Aufmerksamkeit und bewog ihn, noch länger zu bleiben. Es blitzte aus ihren dunklen Augen, als sie ihn ansah, zuckte in ihren Nasenflügeln und durchglühte sogar den Atem, den sie ausströmte; auf ihrem Gesicht lag im übrigen eine geringschätzige Ruhe verbreitet, und ihre Haltung war so sicher und stolz, als ob sie völlig gleichgültig gegen alles wäre, was um sie her vorging.

»Alles, was ich sagen will, Miß Wade«, bemerkte er, »ist, daß man Ihnen keinen Anlaß zu einem Gefühl gegeben haben kann, das, wie ich glaube, niemand mit Ihnen teilt.«

»Sie mögen Ihren werten Freund fragen, wenn Sie wollen, was er über diese Sache denkt«, versetzte sie.

»Ich stehe kaum auf so vertrautem Fuße mit meinem werten Freunde«, sagte Arthur, trotz seiner Entschlüsse, »um eine solche Berührung der Sache sehr wahrscheinlich zu machen, Miß Wade.«

»Ich hasse ihn«, versetzte sie. »Mehr als seine Frau noch, weil ich einst töricht genug und treulos genug gegen mich selbst war, ihn fast zu lieben. Sie haben mich nur bei gewöhnlichen Gelegenheiten gesehen, Sir, wo Sie mich vermutlich auch nur für ein gewöhnliches Weib gehalten, höchstens etwas eigenwilliger als die meisten andern sind. Sie wissen nicht, was ich unter Hassen verstehe; Sie können es nicht wissen, ohne zu wissen, mit welcher Sorgfalt ich mich und die Menschen um mich her studiert habe. Aus diesem Grunde hatte ich seit einiger Zeit Lust, Ihnen meine Lebensgeschichte zu erzählen – nicht um Ihre gute Meinung mir zu gewinnen, denn ich lege keinen Wert darauf, sondern damit Sie begreifen, wenn Sie an Ihren werten Freund und an Ihre werte Freundin denken, was ich unter Haß verstehe. Soll ich Ihnen etwas geben, was ich geschrieben und für Sie zurückgelegt habe, oder soll ich es behalten?«

Arthur bat sie, es ihm zu geben. Sie ging nach dem Schreibtisch, schloß ihn auf und holte aus einer verborgenen Schublade einige zusammengelegte Bogen Papier hervor. Ohne ihn im mindesten zu gewinnen zu suchen, ja, kaum die Worte an ihn richtend, sondern eher sprechend, als rechtfertigte sie sich gegen ihren Spiegel wegen ihres Trotzes, sagte sie, indem sie ihm die Papiere gab: »Jetzt werden Sie erfahren, was ich unter Haß verstehe! Genug jedoch davon. Sir, Sie mögen mich nun vorübergehend in einer billigen leeren Londoner Wohnung finden oder in einem Hause von Calais, Sie werden stets Harriet bei mir treffen. Sie möchten sie vielleicht gern sehen, ehe Sie gehen. Harriet, kommen Sie!« Sie rief Harriet noch einmal. Auf das zweite Rufen kam Harriet, einst Tattycoram.

»Hier ist Mr. Clennam«, sagte Miß Wade, »er kommt nicht Ihretwegen; er hat Sie aufgegeben. Ich vermute es wenigstens.«

»Da ich weder Autorität noch Einfluß habe – ja«, stimmte Clennam bei.

»Sie sehen, er sucht Sie nicht, aber er sucht dennoch jemand. Er möchte wissen, wo jener Blandois ist.«

»Mit dem ich Sie am Strand zu London sah«, fügte Arthur als nähere Bezeichnung hinzu.

»Wenn Sie etwas von ihm wissen, Harriet, außer daß er von Venedig kam – was wir alle bereits wissen – so sagen Sie es Mr. Clennam offen.«

»Ich weiß nichts weiter von ihm«, sagte das Mädchen.

»Sind Sie zufrieden?« fragte Miß Wade Arthur.

Er hatte keinen Grund, ihnen nicht zu glauben; das Benehmen des Mädchens war so natürlich, daß es beinahe hätte überzeugend wirken müssen, wenn er früher gezweifelt hätte. Er antwortete: »Ich muß anderswo etwas zu erfahren suchen.«

Er ging nicht im selben Augenblick; aber er war bereits aufgestanden, ehe das Mädchen eintrat, und sie glaubte offenbar, er sei im Begriff zu gehen. Sie sah ihn lebhaft an und sagte:

»Geht es ihnen gut, Sir?«

»Wem?«

Sie unterbrach sich selbst, indem sie im Begriff war zu sagen: »ihnen allen«; sie sah Miß Wade an und sagte: »Mr. und Mrs. Meagles.«

»Jawohl, als ich zuletzt von ihnen hörte, – sie sind nicht in England. Erlauben Sie mir beiläufig eine Frage. Ist es wahr, daß man Sie dort gesehen hat?«

»Wo? Wo will man mich gesehen haben?« versetzte das Mädchen und schlug verdrießlich die Augen nieder.

»Als Sie an der Gartentür des Landhauses standen.«

»Nein«, sagte Miß Wade. »Sie war nie dort.«

»Sie irren sich«, sagte das Mädchen. »Ich ging, als wir das letztemal in London waren, hin. Ich tat es eines Nachmittags, als Sie mich allein ließen. Und ich warf einen Blick hinein.«

»Du armseliges Geschöpf«, versetzte Miß Wade mit unendlicher Verachtung; »hat all unser Zusammensein, haben alle unsere Gespräche und alle Ihre früheren Klagen so wenig bewirken können?«

»Es war ja ganz unschuldig, einen Augenblick hineinzublicken, als ich an der Gartentür stand«, sagte das Mädchen. »Ich bemerkte an den Fenstern, daß die Familie nicht da war.« »Warum gingen Sie in die Nähe jenes Ortes?«

»Weil ich ihn sehen wollte, weil ich fühlte, daß ich gern wieder einmal einen Blick darauf ruhen lassen würde.«

Wie so die beiden hübschen Gesichter sich gegenseitig ansahen, hatte Clennam ein Gefühl, als ob diese beiden Naturen sich beide beständig zerfleischen müßten.

»Oh!« sagte Miß Wade, kalt ihrem Blick gebietend und ihn abwendend, »wenn Sie irgend den Wunsch hatten, den Ort wiederzusehen, wo Sie jenes Leben führten, von dem ich Sie befreite, weil Sie zur Erkenntnis gekommen waren, was das für ein Leben sei, so ist das etwas anderes. Aber ist das Ihre Wahrheit gegen mich? Ist das Ihre Treue gegen mich? Heißt das gemeinschaftliche Sache mit mir machen? Sie sind des Vertrauens nicht würdig, das ich Ihnen geschenkt habe. Sie sind nicht besser als ein Schoßhündchen und täten besser, Sie gingen zu den Leuten zurück, die Ihnen noch mehr als die Peitsche zu kosten geben.«

»Wenn Sie im Beisein eines Dritten so von ihnen sprechen, so werden Sie mich reizen, ihre Partei zu ergreifen«, sagte das Mädchen.

»Kehren Sie zu ihnen zurück«, entgegnete Miß Wade. »Gehen Sie nur zu ihnen zurück.«

»Sie wissen Wohl«, versetzte nun Harriet, »daß ich nie zu ihnen zurückkehren werde. Sie wissen ganz wohl, daß ich mich von ihnen losgesagt habe und nie mehr zu ihnen zurückkehren kann, will und werde. Also sprechen Sie nicht mehr von ihnen, Miß Wade.«

»Sie ziehen ihren Überfluß Ihrer weniger üppigen Kost hier vor«, versetzte sie. »Sie setzen sie hinauf und mich herunter. Was hätte ich sonst von Ihnen erwarten können. Ich hätte es wissen sollen.«

»Dem ist nicht so«, sagte das Mädchen, hochrot werdend, »und Sie sagen nicht, was Sie meinen. Ich weiß, was Sie meinen. Sie machen mir unter der Hand den Vorwurf, daß ich niemand habe als Sie. Und weil ich niemand habe als Sie, glauben Sie, ich solle alles tun und lassen, was Sie wünschen, und solle mir jede Beleidigung von Ihnen gefallen lassen. Sie sind in jeder Hinsicht so schlimm wie jene. Aber ich will mich nicht ganz zahm und unterwürfig machen lassen. Ich sage es noch einmal, daß ich hinging, um mir das Haus anzusehen, weil ich oft gedacht, daß ich es gern noch einmal sehen würde. Ich will mich noch einmal erkundigen, wie sie sich befinden, weil ich sie einst lieb gehabt und bisweilen gedacht habe, sie seien freundlich gegen mich.«

Darauf sagte Clennam, er sei überzeugt, sie würden sie freundlich aufnehmen, wenn sie jemals zurückzukehren wünschen sollte.

»Nie!« sagte das Mädchen leidenschaftlich. »Das werde ich nie tun. Niemand weiß dies besser als Miß Wade, obgleich sie mich schmäht, weil sie mich von sich abhängig gemacht hat. Und ich weiß, daß ich es bin; und ich weiß, daß es ihr außerordentliche Freude macht, wenn sie es mir vorwerfen kann.« »Ein guter Vorwand!« sagte Miß Wade mit nicht weniger Entrüstung, Stolz und Bitterkeit; »aber zu abgenützt, um zu bedecken, was ich klar dahinter sehe. Meine Armut hält den Wettstreit mit deren Geld nicht aus. Es ist besser, auf der Stelle zurückzukehren, besser, auf der Stelle zurückzukehren und damit die Sache abzumachen!«

Arthur Clennam betrachtete sie, wie sie in dem dunklen beschränkten Zimmer unfern voneinander standen, jedes nur seinem Zorn sich stolz hingebend, jedes mit dem festen Entschluß, sein eigenes Herz und das des andern zu peinigen. Er sprach etwas vom Abschiednehmen; aber Miß Wade neigte einfach den Kopf, und Harriet tat mit der geheuchelten Demut einer abhängigen Sklavin (aber dennoch nicht, ohne Trotz), als ob sie zu niedrig stände, um zu beachten oder beachtet zu werden.

Er ging die dunkle Wendeltreppe hinab in den Hof mit einem lebhafteren Gefühl des düstern Eindrucks, den die leere Mauer und die abgestorbenen Gewächse und die vertrocknete Fontäne und die geborstene Statue auf ihn machte. Ganz beschäftigt mit dem Gedanken an das, was er in diesem Hause gesehen und gehört, und an das Fehlschlagen aller seiner Bemühungen, die Spur des verdächtigen Charakters, der verschwunden war, aufzufinden, kehrte er mit demselben Paketboot nach London zurück, das ihn herübergebracht hatte. Auf dem Wege nahm er die Papiere auseinander und las in ihnen, was das nächste Kapitel wiedergibt.

Einundzwanzigstes Kapitel.


Einundzwanzigstes Kapitel.

Die Geschichte einer Selbstquälerin

Ich hatte das Unglück, nicht einfältig zu sein. Schon in frühester Jugend durchschaute ich, was meine Umgebung mir verborgen zu halten dachte. Wäre ich gewöhnlich hintergangen worden, statt daß ich gewöhnlich hinter die Wahrheit kam, so hätte ich so ruhig leben können, wie die meisten Toren leben.

Meine Kindheit verlebte ich bei meiner Großmutter, das heißt bei einer Dame, die diese Stelle bei mir vertrat und diesen Titel für sich in Anspruch nahm. Sie hatte kein Recht auf denselben, aber ich – so töricht war ich doch damals – hegte kein Mißtrauen gegen sie. Sie hatte einige Kinder ihrer eigenen Familie bei sich und einige Kinder von anderen Leuten. Lauter Mädchen, zehn an der Zahl, mich eingerechnet. Wir lebten alle miteinander, wurden alle zusammen erzogen.

Ich muß ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich zu merken anfing, wie entschlossen diese Mädchen waren, mich zu bevormunden. Man sagte mir, ich sei eine Waise. Es war keine andere Waise unter uns; und ich bemerkte (das war der erste Nachteil, nicht einfältig zu sein), daß sie mich mit einem zudringlichen Mitleid und mit einer gewissen Überlegenheit schonten. Ich nahm dies nicht so unbesonnen hin. Ich stellte sie oft auf die Probe. Ich konnte sie nur mit Mühe dahin bringen, daß sie sich mit mir zankten. Wenn es mir bei einer gelang, so kam sie gewiß nach einer oder zwei Stunden und versuchte eine Aussöhnung. Ich stellte sie immer und immer wieder auf die Probe und erlebte es nie, daß eine auf mich gewartet hätte, bis ich begonnen. Sie verziehen mir immer in ihrer Eitelkeit und Herablassung. Kleine Ebenbilder erwachsener Leute.

Eines der Mädchen war meine erwählte Freundin. Ich liebte dieses dumme unbedeutende Geschöpf mit einer Leidenschaft, die sie ebensowenig verdiente, wie ich mich ihrer erinnern kann, ohne mich zu schämen, obgleich ich nur ein Kind war. Sie hatte, was man ein liebenswürdiges Temperament, ein liebevolles Wesen nannte. Sie hatte für jedes von uns einen freundlichen Blick und ein freundliches Lächeln. Ich glaube, es war nicht eine Seele im Hause außer mir, die wußte, daß sie es vorsätzlich tat, um mich zu verletzen und zu erbittern.

Demungeachtet liebte ich dieses unwürdige Mädchen so, daß mein Leben durch meine Liebe zu ihr ein ungemein unruhiges wurde. Ich bekam beständig Strafreden und zog mir ihren Unwillen zu, weil, wie sie es nannte, ich »sie reize«, mit andern Worten, weil ich dem Mädchen seine kleine Perfidie vorwarf und sie zu Tränen brachte, indem ich ihr zeigte, wie ich in ihrem Herzen las. Und dennoch liebte ich das Kind aufrichtig und begleitete sie mal während der Festtage nach Hause.

Sie war zu Hause schlimmer, als sie in der Schule gewesen war. Sie hatte eine Unzahl von Kusinen und Bekannten, und wir tanzten zu Hause bei ihr und bei andern Leuten, und sowohl zu Hause als auswärts quälte sie meine Liebe, daß es nicht zu ertragen war. Ihre Absicht war, alle in sich verliebt zu machen und mich vor Eifersucht wahnsinnig werden zu lassen, mit allen vertraut und gegen alle liebreich zu sein – und mich vor Neid vergehen zu lassen. Des Abends, wenn wir allein in unserm Schlafzimmer waren, machte ich ihr gewöhnlich Vorwürfe und zeigte ihr, wie sehr ich ihre niedrige Gesinnung durchschaue; dann weinte sie in einem fort und sagte, ich sei grausam; dann hielt ich sie in meinen Armen bis zum Morgen: und liebte sie so sehr wie immer, und oft war es mir, als wenn, lieber denn so zu leiden, ich sie so in meinen Armen halten und mich in einen tiefen Strom stürzen möchte – wo ich sie immer noch umschlungen halten würde, wenn wir beide längst tot wären.

Es kam zu einem Ende, und ich wurde wieder frei. In der Familie war eine Tante, die mich nicht leiden mochte. Ich zweifle, daß irgend jemand von der Familie mich leiden mochte; aber ich kümmerte mich ja auch nicht darum, daß sie mich leiden mochten, so sehr nahm mich ganz und gar dieses eine Mädchen in Anspruch. Die Tante war eine junge Frau, und sie hatte eine ernste Art, mich mit ihren Augen zu beobachten. Sie war eine kecke Frau und sah mich mit unverhohlenem Mitleid an. Nach einer von den Nächten, von denen ich gesprochen, kam ich vor dem Frühstück in ein Gewächshaus.

Charlotte (so hieß meine falsche junge Freundin) war vor mir hinuntergegangen, und ich hörte, wie ihre Tante mit ihr von mir sprach, als ich eintrat. Ich blieb einen Augenblick stehen, wo ich war, und lauschte, von dem Laub versteckt.

Die Tante sagte: »Charlotte, Miss Wade quält dich zu Tode, und das darf nicht fortdauern.« Ich wiederhole wörtlich, was ich gehört hatte.

Was antwortete sie nun? Sagte sie: »Ich bin es, die sie zu Tode quält, ich, die sie beständig auf der Folter hält, ich bin der Henker, und doch sagt sie mir jede Nacht, dass sie mich von Herzen liebt, obwohl sie weiß, was sie von mir zu erdulden hat?« Nein. Meine erste denkwürdige Erfahrung entsprach ganz dem, was ich von ihr erwartet, und all meinen übrigen Erfahrungen. Sie begann zu schluchzen und zu weinen (um sich die Teilnahme der Tante zu sichern) und sagte: »Liebe Tante, sie hat ein unglückliches Temperament; auch andere Mädchen in der Schule, außer mir, geben sich viele Mühe, es zu bessern: wir geben uns alle viele Mühe.«

Als sie dies sagte, liebkoste die Tante sie, als wenn sie etwas Edles gesagt hätte, statt etwas Verächtliches und Falsches, und ging auf die niederträchtige Behauptung durch die Antwort ein: »Aber es gibt für alles Vernünftige Grenzen, mein liebes Kind, und ich sehe, daß dies arme dürftige Mädchen dir mehr beständigen und nutzlosen Schmerz verursacht, als sogar ein so guter Zweck rechtfertigt.«

Das arme dürftige Geschöpf trat aus seinem Schlupfwinkel hervor, wie Sie sich wohl denken können, und sagte: »Schicken Sie mich nach Hause.« Ich habe nie ein anderes Wort zu einem von ihnen gesprochen als: »Schicken Sie mich nach Hause, oder ich werde allein heimgehen, bei Tag und Nacht!« Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner vermeintlichen Großmutter, wenn man mich zur Vollendung meiner Erziehung nicht anderswohin schicke, ehe dies Mädchen oder eines von den andern zurückkäme, so würde ich mir lieber die Augen ausbrennen, indem ich mich selbst in das Feuer würfe, als den Anblick ihrer intriganten Gesichter ertragen.

Ich kam darauf unter andre junge Mädchen und fand sie nicht besser. Schöne Worte und schöner Schein: aber ich durchschaute diese Versicherungen von sich und ihre Herabsetzungen meiner Person, und sie waren nicht besser. Ehe ich sie verließ, erfuhr ich, daß ich keine Großmutter und keine anerkannten Verwandten hatte. Ich beleuchtete mit dem Lichte dieses Wissens meine Vergangenheit und meine Zukunft. Es zeigte mir viele neue Gelegenheiten, wo Leute über mich triumphierten, während sie sich den Anschein gaben, als behandelten sie mich voll Rücksicht oder erwiesen mir einen Dienst.

Ein Geschäftsmann hatte für mich ein kleines Vermögen zu verwalten. Ich sollte Gouvernante werden und kam in die Familie eines armen Edelmanns, der zwei Töchter hatte – kleine Mädchen, aber die Eltern wünschten sie womöglich unter einer Erzieherin aufwachsen zu lassen. Die Mutter war jung und hübsch. Vom ersten Augenblick an machte sie es recht in die Augen fallend, daß sie mich mit großem Zartgefühl behandeln wolle. Ich behielt meinen Groll für mich; aber ich wußte recht wohl, daß dies ihre Art war, sich mit dem Bewußtsein zu schmeicheln, daß sie meine Herrin sei und ihre Dienerin anders behandeln könnte, wenn ihr das in den Sinn käme.

Ich sage, daß ich keinen Groll hegte, und es war auch nicht der Fall; aber ich zeigte ihr, indem ich ihr nicht zu Gefallen lebte, daß ich sie durchschaute. Wenn sie mich aufforderte, Wein zu nehmen, so nahm ich Wasser. Wenn etwas ausgesucht Feines auf den Tisch kam, so schickte sie es immer mir; aber ich lehnte, es stets ab und aß von den verschmähten Gerichten. Dies Zurückweisen ihrer Gönnerschaft war ein scharfer Gegendruck und gab mir ein Gefühl der Unabhängigkeit. Ich liebte die Kinder. Sie waren schüchtern, aber im ganzen sehr willig, sich an mich anzuschließen. Es war jedoch eine Kinderfrau im Hause, eine Frau mit einem rosigen Gesicht, die immer ihre Heiterkeit und ihre gute Stimmung jedermann aufdrängte: sie hatte beide gestillt und sich ihre Liebe zu erwerben gewußt, ehe ich sie sah. Ich hätte, wenn diese Frau nicht gewesen wäre, mit meinem Schicksal zufrieden sein können. Ihre Kunstgriffe, ihren beständigen Wettkampf mit mir vor den Kindern zu zeigen, hätte manches Mädchen an meiner Stelle nicht bemerkt; aber ich durchschaute sie vom ersten Augenblick an. Unter dem Vorwand, in meinem Zimmer aufzuräumen und mich zu bedienen und für meine Garderobe zu sorgen (was sie alles mit großer Geschäftigkeit besorgte), war sie beständig um mich. Der schlauste ihrer vielen Kunstgriffe war die Art, wie sie sich stellte, als gebe sie sich Mühe, die Kinder mich liebgewinnen zu lehren. Sie führte sie mit allen möglichen Liebkosungen zu mir. »Kommt zur guten Miß Wade, kommt zur lieben Miß Wade, kommt zur hübschen Miß Wade. Sie liebt euch so sehr. Miß Wade ist eine gescheite Dame, die eine Menge von Büchern gelesen hat und euch weit bessere und interessantere Geschichten erzählen kann als ich. Kommt und hört Miß Wade zu!« Wie konnte ich ihre Aufmerksamkeit gewinnen, während mein Herz gegen diese gemeinen Pläne sich empörte? Wie konnte ich mich wundern, wenn ich sah, wie ihre unschuldigen Gesichter sich abwandten und ihre Arme sich um den Hals der Kinderfrau schlangen statt um den meinen. Dann sah sie mich wieder an, strich die Haare aus dem Gesicht und sagte: »Sie werden bald zu Ihnen kommen. Miß Wade; sie sind sehr einfach und herzensgut; grämen Sie sich nicht deshalb, Ma’am.« Das war ein Triumph für sie.

Noch etwas anderes tat die Frau. Bisweilen, wenn sie sah, daß es ihr gelungen war, mich auf diese Weise in ein finsteres, dumpfes Brüten zu versetzen, richtete sie die Aufmerksamkeit der Kinder darauf und zeigte ihnen den Unterschied zwischen ihr und mir. »Still! Die arme Miß Wade ist nicht wohl. Macht kein Geräusch, Kinder, sie hat Kopfweh. Kommt, tröstet sie. Kommt und fragt sie, ob sie sich besser befinde. Kommt und bittet sie, daß sie sich zu Bett lege. Ich hoffe, Sie haben doch keinen Kummer, der Sie drückt, Ma’am? Nehmen Sie’s nicht so schwer, Madame, und grämen Sie sich nicht.«

Es wurde unausstehlich. Als die gnädige Frau, meine Herrin, eines Tages, da ich allein war, zu mir kam und ich recht lebhaft fühlte, daß ich es nicht länger ertragen könne, sagte ich ihr, daß ich um meine Entlassung bitten müsse. Ich könne das Zusammensein mit dieser Dawes nicht ertragen.

»Miß Wade! Die arme Dawes hat Sie ja so sehr lieb: sie würde alles für Sie tun!«

Ich wußte es im voraus, daß sie das sagen würde; ich war ganz darauf vorbereitet; ich antwortete nur, es sei nicht meine Sache, meiner Herrin zu widersprechen; ich müsse gehen.

»Ich hoffe, Miß Wade«, versetzte sie, indem sie augenblicklich den Ton der Überlegenheit anschlug, den sie bis dahin so schwach verdeckt hatte, »daß nichts, was ich seit unsrem Zusammensein gesagt oder getan habe, Ihren Gebrauch dieses unangenehmen Wortes ›Herrin‹ gerechtfertigt habe. Es müßte ganz unabsichtlich von meiner Seite geschehen sein. Bitte sagen Sie mir, was es ist.«

Ich antwortete, daß ich mich nicht zu beklagen habe, weder über meine Herrin, noch gegen meine Herrin; aber ich müßte fort.

Sie war einen Augenblick unschlüssig, setzte sich aber dann neben mich und legte ihre Hand auf die meine, als wenn diese Ehre jede Erinnerung verwischen würde.

»Miß Wade, ich fürchte, Sie sind unglücklich, aus Gründen, auf die ich keinen Einfluß habe.«

Ich lächelte, indem ich an die Erfahrung dachte, die dieses Wort mir vor Augen rief, und sagte: »Ich habe vermutlich ein unglückliches Temperament.«

»Ich sagte das nicht.«

»Es läßt sich auf solche Weise alles erklären«, sagte ich.

»Wohl möglich; aber ich sagte das nicht. Was ich zu berühren wünschte, ist etwas ganz anderes. Mein Gemahl und ich haben mehrmals darüber gesprochen, seit wir mit Schmerz bemerkt haben, daß Sie sich nicht behaglich bei uns fühlen.«

»Behaglich? Oh! Sie sind so vornehme Leute, Mylady«, sagte ich.

»Ich bin unglücklich, wenn ich ein Wort gebrauchte – und offenbar ist dies der Fall -, das gar nicht in meiner Absicht lag. (Sie hatte meine Antwort nicht erwartet, die sie in Verlegenheit setzte.) Ich meinte nur, daß Sie sich nicht glücklich bei uns fühlen. Es ist ein schwieriger Gegenstand, über den nicht leicht zu sprechen ist: aber eine junge Frau kann das doch wohl gegenüber einer andern tun, – kurz, wir haben befürchtet, daß gewisse Familienverhältnisse, an denen niemand weniger schuld sein kann als Sie, auf Ihren Geist niederdrückend wirken möchten. Wenn dies der Fall ist, so lassen Sie uns bitten, daß Sie sich nicht zu sehr darüber grämen. Mein Gatte selbst, wie wohl bekannt ist, hatte früher eine sehr liebe Schwester, die nicht seine rechtmäßige Schwester war, die jedoch allgemein beliebt und geachtet war.«

Ich sah gleich, daß sie mich nur wegen dieser Verstorbenen aufgenommen hatte, wer diese auch war, nur um mir diese gegenüberzustellen und dadurch einen Vorteil über mich zu haben: ich sah darin, daß die Kinderfrau es wußte, eine Aufmunterung für sie, mich zu quälen, wie sie es getan hatte; und ich sah in dem Fernbleiben der Kinder den Ausdruck des unbestimmten Gefühls, daß ich nicht sei wie andere Leute. Ich verließ noch am selben Abend das Haus.

Nach ein oder zwei kurzen ähnlichen Erfahrungen, die hier zu erzählen unnütz wäre, trat ich in eine andere Familie, wo ich nur einen Zögling hatte: ein Mädchen von fünfzehn Jahren, die einzige Tochter des Hauses. Die Eltern waren ältliche Leute: Leute von Rang und Vermögen. Ein Neffe, den sie auferzogen, besuchte neben manchen andern Gästen das Haus häufig, und er begann, mir den Hof zu machen. Ich war entschlossen, ihn zurückzuweisen: denn ich hatte den festen Vorsatz, als ich in diese Familie eintrat, mich von niemand mitleidig und herablassend behandeln zu lassen. Aber er schrieb mir einen Brief. Es führte dazu, daß wir uns verlobten.

Er war ein Jahr jünger als ich und sah noch jünger aus, als diese Verlobung eingegangen wurde. Er war auf Urlaub von Indien, wo er einen Posten innehatte, der bald sehr einträglich zu werden versprach. In sechs Monaten wollten wir uns heiraten und dann nach Indien gehen. Ich sollte im Hause bleiben, und im Hause sollte auch die Hochzeit gefeiert werden. Niemand hatte etwas gegen die Sache einzuwenden.

Ich kann nicht verschweigen, daß er mich bewunderte: aber ich würde es gern, wenn ich es könnte. Eitelkeit ist bei dieser Erklärung nicht im Spiel, denn seine Bewunderung quälte mich. Er gab sich keine Mühe, sie zu verbergen: ja, er machte nur den Eindruck, als stellte er mich unter den reichen Leuten aus, um zu zeigen, daß er mich wegen meines Gesichts gekauft und seinen Kauf rechtfertigen wolle. Sie schätzten mich im stillen ab, wie ich sah, und waren neugierig, was wohl mein voller Wert wäre. Ich war entschlossen, sie es nicht wissen zu lassen. Ich war unbeweglich vor ihnen und stumm und hätte mich lieber von jedem von ihnen töten lassen, als daß ich mich zur Schau gestellt, um mir ihren Beifall zu erringen.

Er sagte mir, ich handle ungerecht gegen mich. Ich sagte ihm, das sei nicht der Fall, und gerade weil ich gegen mich gerecht sei und bis zum letzten Augenblick bleiben würde, wolle ich mich nicht herablassen, einen von ihnen zu gewinnen zu suchen. Er war betroffen und sogar verletzt, als ich hinzufügte, ich wünschte, er würde seine Neigung zu mir nicht so zur Schau tragen: aber er sagte, er wolle selbst diese ehrlichen Regungen seiner Liebe meinem Frieden opfern.

Unter diesem Vorwand begann er Vergeltung an mir zu üben. Ganze Stunden lang hielt er sich fern von mir, indem er mit jedermann eher als mit mir sprach. Ich saß halbe Abende lang allein und unbemerkt, während er mit seiner jungen Kusine, meinem Zögling, sich unterhielt. Während dieser Zeit las ich in den Augen der Leute, daß sie dachten, diese beiden paßten besser zusammen als er und ich. Ich ahnte ihre Gedanken und erwog sie lange bei mir, während ich so dasaß, bis ich fühlte, daß sein junges Aussehen mich lächerlich mache, und ich habe gegen mich gewütet, daß ich ihn jemals geliebt hatte.

Denn ich liebte ihn einst. So wenig er es verdiente und so wenig er an all diese Kämpfe dachte, die es mich kostete, – Kämpfe, die ihn hätten bis an mein Lebensende mir ganz zu eigen und dankbar machen sollen – liebte ich ihn. Ich ertrug es, daß seine Kusine ihn mir ins Gesicht lobte und zu glauben vorgab, daß es mir Freude mache, obgleich sie wohl wußte, daß es mir das Herz zerriß. Ich ertrug es um seinetwillen. Während ich in seiner Gegenwart dasaß und mir alles von ihm geschehene Unrecht, alle Vernachlässigungen ins Gedächtnis zurückrief und mir überlegte, ob ich nicht gleich aus dem Hause fliehen sollte, um es nie wieder zu sehen, – liebte ich ihn.

Seine Tante – man wolle sich erinnern, daß es meine Herrin war – trug absichtlich und wohlüberlegt zu meinen Prüfungen und Qualen bei. Es machte ihr Vergnügen, sich in Schilderungen unseres Lebens in Indien und des Hauses, das wir machen, und der Gesellschaft, die wir bei uns sehen würden, sobald er sein Avancement habe, zu ergehen. Mein Stolz empörte sich gegen dieses plumpe Hervorheben des Kontrastes, in dem mein Leben als Frau zu meiner gegenwärtigen abhängigen und untergeordneten Stellung stehen würde. Ich verbarg meine Entrüstung; aber ich zeigte ihr, daß ihre Absicht an mir nicht unerreicht bleibe, und bezahlte ihre Quälereien mit geheuchelter Demut. Was sie schildere, sei sicherlich zu viel Ehre für mich, sagte ich dann gewöhnlich. Ich fürchtete, einen so großen Wechsel der Verhältnisse nicht ertragen zu können, wenn man sich denke, eine Gouvernante, die Gouvernante ihrer Tochter, die zu einer so hohen Auszeichnung gelange! Sie war verlegen, und alle übrigen waren verlegen, wenn ich auf solche Weise antwortete. Sie wußten, daß ich sie vollständig verstand.

Gerade zu der Zeit, als meine Qual am höchsten gestiegen und ich am aufgebrachtesten gegen die Undankbarkeit meines Geliebten war – der sich so wenig um die zahllosen Kränkungen kümmerte, die ich um seinetwillen erfuhr, erschien Ihr teurer Freund, Mr. Gowan, in dem Hause. Er war mit demselben seit lange befreundet, aber auf Reisen gewesen. Er merkte mit einem Blick, wie es stand, und verstand mich.

Er war die erste Person, die mir je im Leben begegnet, die mich verstand. Er war nicht dreimal bei uns gewesen, als ich schon wußte, daß er jeder Regung meines Geistes folgte. In seiner kalten nachlässigen Weise, wie er sich gegen alle und gegen mich benahm und die ganze Sache behandelte, sah ich das deutlich. In seiner flüchtigen Beteurung der Bewunderung meines künftigen Gatten, in seinem Enthusiasmus über unsere Verbindung und unsere Aussichten, in seinem hoffnungsvollen Glückwunsch zu unserm künftigen Reichtum und seinen niedergeschlagenen Äußerungen über seine Armut – alle gleich hohl, ironisch und voll Spott – sah ich das klar. Er machte mich immer ungehaltener über mich und lehrte mich, mich verachten, indem er mir alles, was mich umgab, in einem neuen hassenswerten Lichte zeigte, während er sich beständig den Anschein gab, als stelle er sie mir in ihrem besten Lichte, zu meiner und seiner Bewunderung dar. Er war wie der aufgeputzte Tod in den holländischen Totentänzen; was für eine Gestalt es sein mochte, die er mit seinem Arm umfaßte, mochte sie jung oder alt sein, hübsch oder häßlich, ob er mit ihr tanzte, sang, spielte oder betete, sie bekam ein geisterhaftes Aussehen.

Sie werden begreifen, daß, wenn Ihr teurer Freund mir Komplimente machte, er mich wirklich bedauerte: daß, wenn er mich in meinem Kummer zu trösten suchte, er jede schmerzende Wunde bloßlegte: daß, wenn er erklärte, mein »getreuer Schäfer« zu sein, der verliebteste junge Mann mit dem zärtlichsten Herzen, das jemals geschlagen, er meine alte Besorgnis wieder wachrief, man mache mich lächerlich. Das waren keine großen Dienste, werden Sie sagen. Sie waren dennoch annehmbar für mich, weil sie das Echo meines eigenen Gefühls waren und meine eigene Ansicht bestätigten. Ich war bald gern in der Gesellschaft Ihres teuren Freundes, lieber als in jeder andern.

Als ich gewahr wurde (was fast sogleich geschah), daß Eifersucht daraus entstand, war mir diese Gesellschaft noch lieber. Hatte ich nicht selbst von Eifersucht leiden müssen und sollte ich allein leiden? Nein. Er sollte wissen, was es ist. Ich freute mich, daß er es erfahren sollte; ich freute mich, daß er es tief empfand, und ich hoffte es. Mehr noch. Er war zahm im Vergleich mit Mr. Gowan, der mich auf gleichem Fuß zu behandeln verstand und unsre elende Umgebung zu zergliedern wußte.

Das ging so fort, bis die Tante, meine Herrin, es übernahm, mit mir zu sprechen. Es sei kaum der Rede wert: sie wüßte, ich dächte nichts dabei: aber sie möchte von sich aus die Andeutung machen, und sie wisse, daß eine solche genüge, ob es nicht besser wäre, wenn ich etwas weniger mit Mr. Gowan verkehrte.

Ich fragte sie, wie sie für das, was ich meinte, stehen könne? Sie antwortete, sie könne gewiß dafür stehen, daß ich nichts Böses dabei denke. Ich dankte ihr, sagte jedoch, ich würde vorziehen, für mich selbst zu stehen und mir selbst Rede zu stehen. Ihre andern Diener würden ihr wahrscheinlich für ein gutes Zeugnis dankbar sein, aber ich brauchte keines.

So gab ein Wort das andere, und es bot sich die Veranlassung, sie zu fragen, wie sie wisse, daß es nur eine Andeutung von ihr bedürfe, um mich gehorchen zu machen? Ob sie meine Geburt oder meinen Lohn dabei in Anschlag bringe? Ich sei nicht mit Leib und Seele gekauft. Sie scheine zu glauben, daß ihr ausgezeichneter Neffe auf den Sklavenmarkt gegangen und sich eine Frau erhandelt habe.

Es würde wahrscheinlich früher oder später zu dem Ende gekommen sein, zu dem es kam, aber sie brachte die Sache sogleich zur Entscheidung. Sie sagte mir mit gemachtem Mitleid, daß ich ein unglückliches Temperament habe. Bei dieser Wiederholung der alten boshaften Beleidigung hielt ich nicht länger an mich, sondern setzte ihr alles auseinander, was ich von ihr wußte und gesehen, und was ich innerlich durchgemacht, seitdem ich diese verabscheuungswerte Stellung, mit ihrem Neffen verlobt zu sein, eingenommen hätte. Ich sagte ihr, Mr. Gowan sei mein einziger Trost in meiner Erniedrigung; ich hätte es zu lange ertragen und schüttle es zu spät ab; aber ich wolle nie wieder einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Und dies geschah auch.

Ihr werter Freund folgte mir in meine Einsamkeit und war sehr drollig, wenn er über den Bruch des Verhältnisses sprach: obgleich ihm auch die ausgezeichneten Leute leid taten (in ihrer Art die besten, die er kannte) und die Notwendigkeit bedauerte, bloße Stubenfluren rädern zu müssen. Er beteuerte bald und weit aufrichtiger, als ich vermutete, daß er nicht wert sei, vor einer Frau von solchen Gaben und solcher Charakterkraft Gnade zu finden: aber – schon gut, schon gut! –

Ihr werter Freund amüsierte mich und amüsierte sich, solange er daran Geschmack fand; und dann erinnerte er mich, daß wir beide Leute von Welt seien und daß wir beide die Welt kennten, daß wir beide wüßten, es gebe keine Poesie auf Erden, daß wir beide darauf gefaßt seien, verschiedene Wege zu gehen, um unser Glück zu suchen wie vernünftige Menschen, und daß wir beide einsähen, wenn wir uns wieder einmal begegnen sollten, wir uns als die besten Freunde von der Welt begrüßen würden. So sagte er, und ich widersprach ihm nicht.

Es dauerte nicht lange, so entdeckte ich, daß er seiner gegenwärtigen Frau den Hof machte, und daß man mit ihr weggereist sei, um sie aus seinem Bereich zu bringen. Ich haßte sie damals, ganz wie ich sie jetzt noch hasse; und ich konnte deshalb natürlich nichts mehr wünschen, als daß sie ihn heirate. Aber ich hatte keine Ruhe mehr, ich mußte sie sehen – ich war so neugierig, daß ich fühlte, es sei einer der wenigen Genüsse, die mir noch geblieben wären. Ich machte einige kleine Reisen: reiste, bis ich mit ihr zusammenkam und mit ihr und ihnen reiste. Ihr teurer Freund war, wie ich glaube, Ihnen damals noch nicht bekannt, und er hatte Ihnen noch keinen jener ausgezeichneten Beweise seiner Freundschaft gegeben, mit denen er Sie seitdem beschenkte.

In dieser Gesellschaft befand sich ein Mädchen, dessen Lage in verschiedenen Beziehungen der meinen so ähnlich war, und in dessen Charakter ich mit Interesse und Freude viel von dem als mir eigentümlich bezeichneten Widerstand gegen anmaßende Gönnerschaft und Selbstsucht fand, die sich Freundlichkeit, Herablassung, Wohlwollen und andre schönen Namen beilegt. Ich hörte oft von ihr sagen, »daß sie ein unglückliches Temperament habe«. Da ich wohl wußte, was durch diese bequeme Phrase gesagt werden sollte, und da ich eine Gefährtin brauchte, die wußte, was ich wußte, und erfahren, was ich erfahren hatte, so kam ich auf den Gedanken, das Mädchen von ihrer Sklaverei und dem Gefühl ungerechter Behandlung zu befreien. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, daß es mir gelang.

Wir haben die ganze Zeit zusammen gelebt und meine kleinen Mittel miteinander geteilt.

Zweiundzwanzigstes Kapitel.


Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?

Arthur Clennam hatte seine nutzlose Expedition nach Calais inmitten eines großen Geschäftsandrangs gemacht. Eine gewisse barbarische Macht, mit bedeutenden Besitzungen auf der Landkarte, brauchte die Dienste von ein bis zwei Ingenieuren von rascher Erfindungsgabe und Entschlossenheit in der Durchführung: praktischen Männern, die die Menschen und Mittel, die ihr Scharfsinn für notwendig hielt, aus bestem Material, das sie finden konnten, zu machen imstande waren; und die so kühn und fruchtbar in der Verwendung solchen Stoffes zu ihrem Zweck waren als im Entwerfen ihrer Pläne selbst. Da diese Macht eine barbarische war, so kamen sie nicht auf den Gedanken, eine große Nationalsache in einem Circumlocution Office zu begraben, wie man starken Wein in einem Keller vom Licht abschließt, bis sein Feuer und seine Jugend verflogen und die Arbeiter, die im Weinberg gearbeitet und die Trauben gepreßt, zu Staub geworden sind. Mit charakteristischer Unwissenheit handelte diese Macht nach dem entschiedensten und energischsten Begriffe, »wie man’s machen müsse«, und zeigte nie die geringste Achtung vor der großen politischen Wissenschaft, »wie man’s nicht machen müsse«, oder beachtete sie auch nur im mindesten. Kurz, sie hatte eine barbarische Art, die letztere geheimnisvolle Kunst in der Person jedes erleuchteten Kopfes, der sie übte, totzuschlagen.

In dieser Richtung wurden die Männer, deren man bedurfte, gesucht und gefunden: was schon an und für sich ein höchst unzivilisiertes und unregelmäßiges Verfahren war. Als man sie gefunden, behandelte man sie mit großem Vertrauen und vieler Auszeichnung (was abermals die größte politische Unwissenheit bewies) und lud sie ein, sogleich zu kommen und zu tun, was ihnen als Aufgabe gestellt war. Kurz, man betrachtete sie als Männer, die etwas zu tun beabsichtigten, und die mit andern Männern einen Kontrakt eingehen, die etwas getan wissen wollten.

Daniel Doyce war einer von den Auserwählten. Man konnte nicht absehen, ob er Monate oder Jahre abwesend sein würde. Die Vorbereitungen zu seiner Abreise und die gewissenhafte Zusammenstellung aller Einzelheiten und Resultate ihres gemeinschaftlichen Geschäfts, damit er eine Übersicht habe, veranlaßte in kurzer Zeit große Arbeit, die Clennam Tag und Nacht beschäftigt hatte. Im ersten freien Augenblick war er über See gegangen und war ebenso bald wieder zurückgekehrt, um Doyce Lebewohl zu sagen.

Arthur legte ihm jetzt sorgfältig und genau den Stand ihrer Gewinne und Verluste, ihrer Verbindlichkeiten und Aussichten dar. Daniel sah alles in seiner geduldigen Weise durch und bewunderte es ganz außerordentlich. Er ging die Rechnungen durch, und sie erschienen ihm ein weit sinnreicherer Mechanismus, als er jemals einen konstruiert, und blieb dann betrachtend vor ihnen stehen und hielt den Hut in der Hand, als wenn er in die Betrachtung einer herrlichen Maschine versunken wäre.

»Es ist alles wunderschön, Clennam, so einfach und geordnet. Nichts kann einfacher sein. Nichts kann besser sein.«

»Ich freue mich, daß Sie der Sache Ihre Billigung zuteil werden lassen, Doyce. Was jedoch nun die Verwendung unseres Kapitals während Ihrer Abwesenheit betrifft und das Flüssigmachen der Summen, die das Geschäft von Zeit zu Zeit nötig hat –« Sein Associé unterbrach ihn.

»Was das betrifft und alles andere, so bleibt das Ihnen überlassen. Sie werden auch künftig in allen derartigen Dingen für uns beide handeln, wie Sie bisher getan, und meiner Seele eine Last abnehmen, um die sie sich bisher leichter gefühlt hat.«

»Obgleich, wie ich Ihnen oft sage«, versetzte Clennam, »Sie ganz ungerecht Ihre Fähigkeiten als Geschäftsmann herabsetzen.«

»Vielleicht wohl«, sagte Doyce lächelnd. »Und vielleicht auch nicht. Wie dem nun aber auch sei, ich habe einen Beruf, den ich gründlicher als dergleichen Sachen studiert, und ich tauge besser für diesen Beruf. Ich habe vollkommenes Vertrauen in meinen Associé gesetzt, und ich bin überzeugt, daß er tun wird, was das beste ist. Wenn ich ein Vorurteil in Beziehung auf Geld und Geldzahlen habe«, fuhr er fort, indem er den sprechenden Arbeiterdaumen auf den Revers des Rockes seines Associé legte, »so ist es gegen das Spekulieren. Ich glaube nicht, daß ich ein anderes habe. Ich möchte freilich behaupten, daß ich dieses Vorurteil habe allein deshalb, weil ich niemals ernstlich darüber nachgedacht habe.«

»Aber Sie sollten es kein Vorurteil nennen«, sagte Clennam. »Mein lieber Doyce, es ist der gesundeste Verstand.«

»Ich freue mich, daß Sie so denken«, versetzte Doyce.

»Eben jetzt, keine halbe Stunde, ehe Sie kamen, sagte ich dasselbe zu Pancks, der hier vorsprach. Wir waren beide der Ansicht, daß das Anlegen von Kapitalien in unsicheren Unternehmungen eine der gefährlichsten, wenn auch eine der gewöhnlichsten von den Torheiten ist, die häufig sogar den Namen Verbrechen verdienen.« »Pancks?« sagte Doyce, indem er seinen Hut hinten in die Höhe schob und mit einer vertrauensvollen Miene nickte. »Ja, ja, ja, das ist ein vorsichtiger Mann.«

»Allerdings, er ist ein sehr vorsichtiger Mann«, versetzte Arthur. »Ein wahres Muster von Vorsicht.«

Sie schienen beide aus dem vorsichtigen Charakter von Pancks weit mehr Befriedigung zu schöpfen, als man aus ihrem Gespräch schließen konnte.

»Und jetzt«, sagte Daniel, indem er auf seine Uhr blickte, »da Zeit und Flut auf niemand warten, mein wackerer Associé, und da ich bereit bin abzureisen, denn meine Bagage ist bereits vor der Tür unten, so lassen Sie mich Ihnen ein letztes Wort sagen. Sie sollten mir eine Bitte gewähren.«

»Jede Bitte, die Sie aussprechen. – Ausgenommen«, Clennam kam rasch mit seiner Ausnahme, denn er las rasch auf dem Gesicht seines Associé, »ausgenommen die, daß ich Ihre Erfindung auf sich beruhen lassen soll.«

»Das ist die Bitte, und Sie wissen sie schon im voraus«, sagte Doyce.

»So sage ich nein. Ich sage entschieden nein. Jetzt, da ich einmal begonnen, will ich einen entschiedenen Grund, eine verläßliche Darlegung, etwas, was wie eine wirkliche Antwort aussieht, von diesen Leuten haben.«

»Sie werden sie aber nicht erhalten«, versetzte Doyce, den Kopf schüttelnd. »Ich gebe Ihnen mein Wort, Sie bekommen sie nicht.«

»Wenigstens will ich es versuchen«, sagte Clennam. »Es wird mir keinen Kummer machen, wenn ich es versuche.«

»Davon bin ich nicht überzeugt«, versetzte Doyce, indem er ihm überredend die Hand auf die Schulter legte. »Es hat mir Kummer bereitet, Freund. Es hat mich alt, müde gemacht, es hat mich geärgert und enttäuscht. Es tut niemand gut, wenn seine Geduld erschöpft wird und er Unrecht leiden zu müssen glaubt. Ich meine selbst jetzt schon, daß nutzloses Warten auf Verzögerungen und Ausflüchte Ihnen etwas von der Elastizität genommen, die Sie früher besessen haben.«

»Familiensorgen mögen daran im Augenblick schuldig sein«, sagte Clennam, »aber nicht amtliche Quälereien. Noch nicht, ich bin noch nicht verwundet und verletzt.«

»Dann wollen Sie also meine Bitte nicht gewähren?«

»Entschieden nicht«, sagte Clennam. »Ich würde mich schämen, wenn ich mich so bald aus dem Felde schlagen ließe, wo ein weit älterer und weit näher bei der Sache interessierter Mann so lange und so tapfer ausgehalten hat.«

Da es unmöglich war, ihn andern Sinns zu machen, erwiderte Daniel Doyce den Druck seiner Hand, und nach einem Abschiedsblick in dem Kontor umher ging er mit ihm die Treppe hinab. Doyce wollte nach Southampton, um dort die kleine Zahl seiner Mitreisenden zu treffen; und ein Wagen stand an der Tür, wohl ausgestattet und gepackt, und bereit, ihn fortzufahren. Die Arbeiter standen an der Tür, um ihn abreisen zu sehen, und waren außerordentlich stolz auf ihn. »Glückliche Reise, Mr. Doyce!« sagte einer von ihnen, »wo Sie auch hingehen mögen, die Leute werden finden, daß sie einen Mann berufen, einen Mann, der seine Instrumente kennt und den seine Instrumente kennen, einen Mann, der will und der kann, und wenn das kein Mann ist, wo ist dann noch ein Mann!« Diese Rede, von einem sonst mürrischen Freiwilligen gehalten, der im Hintergrund stand, und dem man früher so etwas gar nicht zugetraut hatte, wurde mit drei lauten Cheers aufgenommen; und der Sprecher wurde dadurch in der Folge ein Mann von Ansehen und Bedeutung. Inmitten der drei Cheers sagte ihnen Daniel ein herzliches: »Lebet wohl, Ihr Lieben!« und der Wagen verschwand, als wenn die Erschütterung der Luft ihn aus dem Hofe zum blutenden Herzen hinausgeblasen hätte.

Mr. Baptist hatte als dankbarer Mensch, der einen Vertrauensposten einnahm, unter den Arbeitern gestanden und bei diesen Cheers so viel mitgejauchzt, als es einem Fremden überhaupt möglich ist. Denn niemand auf der Welt kann so »cheer« rufen wie die Engländer, die, wenn es ihnen ernst damit ist, so ihr Blut und Feuer zusammenraffen, daß man glauben möchte, ihre ganze Geschichte vom sächsischen Alfred bis auf unsere Tage brause mit allen ihren Bannern im Winde daher. Mr. Baptist war gewissermaßen vor dem Sturm einhergewirbelt worden und schöpfte ganz verwirrt Atem, als Clennam ihm winkte, er solle mit ihm hinaufkommen und Bücher und Papiere wieder an ihren Platz bringen.

Während der nach der Abreise eintretenden Stille – in jener ersten Leere, die immer auf jede Trennung folgt und eine Ahnung von der großen Trennung gibt, die beständig über der ganzen Menschheit schwebt – stand Arthur an seinem Pulte und sah träumerisch einem Sonnenstrahle nach. Aber seine freigewordene Aufmerksamkeit kehrte bald zu dem Gegenstand zurück, der seine Gedanken am meisten beschäftigte, und er begann zum hundertsten Male auf jedem Umstand zu verweilen, der in jener geheimnisvollen Nacht, als er den Mann bei seiner Mutter gesehen, sich seinem Gedächtnisse eingeprägt hatte. Wiederum stieß der Mann in der krummen Straße auf ihn, wiederum folgte er dem Mann und verlor ihn aus den Augen, wiederum fand er den Mann auf dem Hofe, nach dem Hause hinaufschauend, wiederum folgte er dem Mann und stand neben ihm auf den Stufen der Haustür.

»Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Compagnon de la Majolaine;
Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Immer froh!«

Es war nicht das erstemal, daß er sich das Liedchen aus dem Kinderspiel zurückrief, von dem jener Mann, als er neben ihm stand, diesen Vers gesummt hatte; aber er wußte so wenig, daß er es hörbar gesummt, daß er erschrak, als er den nächsten Vers hörte:

»Die Blüte aller Ritterschaft,
Compagnon de la Majolaine,
Die Blüte aller Ritterschaft,
Immer froh!«

Cavaletto hatte bescheiden die Worte und die Melodie ergänzt, da er geglaubt hatte, er habe abgebrochen, weil ihm die Fortsetzung unbekannt war.

»Ah! Sie kennen das Lied, Cavaletto?«

»Beim Bacchus, ja, Sir! Jedermann kennt es in Frankreich. Ich habe es oft von kleinen Kindern singen hören. Das letztemal, als ich es gehört«, sagte Mr. Baptist, früher Cavaletto, der immer zu seiner von Jugend auf gewohnten Konstruktion des Satzes zurückkehrte, wenn sein Gedächtnis sich der Heimat näherte, »war es von einer süßen kleinen Stimme. Einer kleinen, sehr hübschen, sehr unschuldigen Stimme. Altro!«

»Das letztemal, daß ich es gehört habe«, versetzte Arthur, »war es von einer Stimme, die ganz das Gegenteil von hübsch und ganz das Gegenteil von unschuldig war.« Er sagte dies mehr zu sich als zu seinem Gefährten und fügte mit jenes Mannes weitern Worten bei sich hinzu: »Tod meines Lebens, es liegt in meinem Charakter, ungeduldig zu sein.«

»Oh!« lief Cavaletto erstaunt, und alle Farbe war mit einem Male aus seinem Gesicht verschwunden.

»Was gibt es?«

»Sir! Sie wissen, wo ich dieses Lied zum letztenmal gehört habe?«

Mit der raschen Gebärdensprache des Italieners machten seine Hände den Umriß einer großen Habichtsnase, zerzausten seine Haare, machten seine Oberlippe dick, um einen vollen Schnurrbart anzudeuten, und warfen den schweren Zipfel eines eingebildeten Mantels über seine Schulter. Während er dies mit einer Schnelligkeit tat, die jedem unbegreiflich ist, der nicht einen italienischen Landmann beobachtet hat, zeigte er ein sehr merkwürdiges und falsches Lächeln. Die ganze Veränderung fuhr wie ein Blitz über ihn hin, und er stand im selben Augenblick wieder leichenblaß und erstaunt vor seinem Patron.

»Im Namen aller Wunder«, sagte Clennam, »was wollten Sie damit sagen? Kennen Sie einen Mann mit Namen Blandois?«

»Nein«, sagte Mr. Baptist, den Kopf schüttelnd.

»Sie haben eben einen Mann beschrieben, der dabei war, als Sie jenes Lied hörten, nicht wahr?«

»Ja!« sagte Mr. Baptist, fünfzigmal nickend.

»Und hieß er nicht Blandois?«

»Nein!« sagte Mr. Baptist. »Altro, Altro, Altro, Altro!« Er konnte mit der gleichzeitigen Bewegung seines Kopfes und seines rechten Zeigefingers nicht energisch genug von sich abweisen.

»Halt!« rief Clennam und breitete die Bekanntmachung auf seinem Pulte aus. »War es dieser Mann? Sie verstehen doch, was ich laut lese?«

»Ganz und gar. Vollkommen.«

»Aber sehen Sie zugleich hinein. Kommen Sie hierher und sehen Sie mir über die Schulter, während ich lese.«

Mr. Baptist näherte sich, folgte jedem Wort mit seinen raschen Augen, sah und hörte alles mit der größten Ungeduld; dann schlug er mit beiden Händen flach auf den Zettel, als wenn er in seiner Wut ein gefährliches Tier finge, und rief, indem er Clennam dabei fest ins Auge faßte: »Das ist der Mann! Sehen Sie ihn!«

»Das ist mir von unendlich größerer Wichtigkeit«, sagte Clennam äußerst aufgeregt, »als Sie sich denken können. Sagen Sie mir, wo Sie den Mann kennengelernt haben.«

Mr. Baptist, der das Papier sehr langsam und sehr ungern losließ und zwei bis drei Schritte zurücktrat, tat, als ob er seine Hände abstäubte, und versetzte sehr gegen seinen Willen:

»In Marsiglia – Marseilles.«

»Was war er?«

»Ein Gefangener und – Altro! Ich glaube ja! – ein«, Mr. Baptist trat näher, um ihm zuzuflüstern, »ein Mörder!«

Mr. Clennam fuhr zurück, als wenn das Wort ihm einen Schlag versetzt: so furchtbar ließ es ihm den Verkehr seiner Mutter mit diesem Mann erscheinen. Cavaletto sank auf ein Knie und bat ihn mit den lebhaftesten Gebärden, anzuhören, was ihn in solche schlechte Gesellschaft gebracht.

Er erzählte ihm vollkommen der Wahrheit gemäß, wie er durch ein kleines Schmuggelgeschäft in das Gefängnis geraten, wie er seinerzeit wieder frei geworden, und wie er sein früheres Tun und Treiben aufgegeben habe. Wie er in dem Wirtshaus zum Tagesanbruch in Chalons an der Saone von demselben Mörder, der damals den Namen Lagnier angenommen, obgleich er früher Rigaud geheißen, bei Nacht in seinem Bett aufgeweckt worden sei; wie der Mörder ihm vorgeschlagen, sie wollten gemeinschaftliche Sache machen; wie er solche Furcht und solchen Abscheu vor dem Mörder gehegt, daß er mit Tagesanbruch ihm entflohen sei, und wie ihn seitdem beständig die Angst gequält habe, dem Mörder wieder zu begegnen und von ihm als alter Bekannter angeredet zu werden. Als er dies mit großer Emphase und einem Nachdruck auf dem Worte Mörder, der seiner Muttersprache eigentümlich war, und der es Clennam nicht gerade weniger schrecklich machte, erzählt hatte, sprang er plötzlich wieder auf, stürzte auf den Zettel los und rief mit einer Heftigkeit, die bei jedem Nordländer unbedingt Wahnsinn gewesen wäre: »Sehen Sie hier den Mörder! Das ist derselbe!«

In seiner heftigen Aufregung vergaß er ganz die Tatsache, daß er kürzlich in London den Mörder gesehen hatte. Als er sich daran erinnerte, schöpfte Clennam anfangs Hoffnung, das Zusammentreffen möchte von späterem Datum sein als der nächtliche Besuch bei seiner Mutter, aber Cavaletto wußte zu genau Zeit und Ort, um einen Zweifel offen zu lassen, daß es vorher gewesen war.

»Hören Sie nun«, sagte Arthur mit großem Ernst. »Dieser Mann ist, wie wir hier gelesen haben, gänzlich verschwunden.«

»Das ist mir äußerst angenehm«, sagte Cavaletto, indem er seine Blicke dankbar zum Himmel erhob. »Tausend Dank dem Himmel! Verwünschter Mörder!«

»Nicht doch«, versetzte Clennam, »denn bis ich nicht etwas weiteres von ihm höre, habe ich keine ruhige Stunde.«

»Genug, Wohltäter; das ist etwas anderes. Bitte tausendmal um Entschuldigung.«

»Jetzt, Cavaletto«, sagte Clennam, indem er ihn sanft beim Arme umdrehte, daß sie sich in die Augen sehen konnten. »Ich bin überzeugt, daß Sie für das wenige, was ich für Sie tun konnte, der aufrichtigste und dankbarste Mensch sind.«

»Ich schwöre es«, rief der andere.

»Ich weiß es. Wenn Sie diesen Mann finden oder herausbringen, was aus ihm geworden ist, oder irgendeine spätere Kunde von ihm bekommen könnten, so würden Sie mir einen Dienst erweisen, der mir über jeden andern in der Welt ginge, und würden mich (mit weit mehr Grund) so dankbar gegen Sie machen, wie Sie es gegen mich sind.«

»Ich weiß nicht, wohin ich meine Blicke richten soll«, rief der kleine Mann, indem er Arthurs Hand in seiner Begeisterung küßte, «ich weiß nicht, wo beginnen. Ich weiß nicht, wohin gehen. Aber Mut! Genug! Es ist eins! Ich gehe noch diesen Augenblick.«

»Kein Wort davon mit jemand anderem als mir, Cavaletto!«

»Altro!« rief Cavaletto. Und war in größter Eile fort.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Mrs. Affery macht ein bedingtes Versprechen bezüglich ihrer Träume.

Clennam, der jetzt allein war, während die ausdrucksvollen Blicke und Gebärden Mr. Baptists, ehemals Giovanni Baptista Cavaletto, ihm lebhaft vor der Seele standen, begann einen langweiligen Tag. Vergebens suchte er seine Aufmerksamkeit zu fesseln, indem er sie auf ein Geschäft oder einen Gedankengang richtete; sie lag beständig vor dem unheimlichen Hauptgedanken vor Anker und wollte bei keiner andern Idee festhalten. Wie wenn ein Verbrecher in einem stillstehenden Boote auf einem tiefen klaren Flusse an Ketten gebunden gewesen wäre, verurteilt, wie zahllose Meilen Wassers auch an ihm vorüberflossen, immer den Leichnam des Mitmenschen, den er ertränkt, am Grunde liegen zu sehen, unbeweglich und unveränderlich, nur daß die Wirbel ihn bald breit, bald lang machten, seine Umrisse bald auseinander-, bald zusammenzogen, so sah Arthur, unter dem wechselnden Flusse durchsichtiger Gedanken und Phantasiebilder, die verschwanden und durch andere ebenso rasch wieder ersetzt wurden, unveränderlich und düster, und unverrückbar von seinem Platze, den einen Gegenstand, von dem er sich mit aller Macht loszureißen suchte, und dem er nicht entfliehen konnte.

Die Überzeugung, die er jetzt besaß, daß Blandois, wie auch sein wahrer Name lauten mochte, einer der schlimmsten Charaktere sei, vermehrte die Last seiner Sorgen wesentlich. Wenn auch morgen schon das Verschwinden sich erklärte, so blieb doch die Tatsache, daß seine Mutter mit einem solchen Mann in Verbindung gestanden, unverändert stehen. Daß die Verbindung von geheimnisvoller Art, und daß sie unterwürfig gegen ihn gewesen und sich vor ihm gefürchtet, hoffte er, werde niemand bekannt sein außer ihm; da er es jedoch wußte, wie konnte er es von seinen alten unbestimmten Befürchtungen trennen und wie glauben, daß in solchen Beziehungen nichts Schlimmes sei?

Ihre Entschlossenheit, nicht mit ihm auf diese Frage einzugehen, und seine Kenntnis ihres unbeugsamen Charakters erhöhte das Gefühl seiner Hilflosigkeit. Es wirkte wie der Druck eines Traumes, denken zu müssen, daß Schande und Bloßstellung ihr und seines Vaters Gedächtnis drohe, und wie durch eine eherne Mauer von der Möglichkeit abgehalten zu sein, ihnen zu Hilfe zu kommen. Der Vorsatz, den er in seine Heimat zurückgebracht und an dem er beständig seit jener Zeit festgehalten hatte, wurde, immer wenn er fürchtete, daß es am meisten dränge, von seiner Mutter mit größter Entschiedenheit vereitelt. Sein Rat, seine Energie, seine Tätigkeit, sein Geld, sein Kredit, all seine Mittel wurden nutzlos gemacht. Wenn sie den alten Einfluß aus den Zeiten der Fabel gehabt und die, die sie angesehen, in Stein verwandelt hätte, sie könnte sie nicht machtloser gemacht haben (so erschien es ihm in seinem Herzenselend) als jetzt, wo sie ihr starres Antlitz in ihrem düstern Zimmer ihm zuwandte.

Aber das Licht, das ihm durch die Entdeckung des heutigen Tages aufgegangen war und das auf diese Betrachtungen fiel, brachte ihn zu dem Entschluß, ein entschiedeneres Verfahren einzuschlagen. Auf die Rechtlichkeit seines Vorsatzes bauend und durch ein Gefühl ringsumher schwer drohender Gefahr gedrängt, beschloß er, wenn seine Mutter fortfahre, unnahbar für ihn zu bleiben, sich in seiner Verzweiflung an Affery zu wenden. Wenn sie dazu gebracht werden könnte, offenherzig zu sein und, was an ihr war, zu tun, um den Zauberbann des Geheimnisses, der auf dem Hause lag, zu brechen, so mußte er auch die Lähmung loswerden, die ihm mit jeder Stunde, die über sein Haupt hinging, fühlbarer wurde. Das war das Resultat der Herzensbeklemmung, die ihn den ganzen Tag niedergedrückt hatte, und dies der Entschluß, den er zur Ausführung bringen wollte, sobald der Tag zu Ende ging.

Seine erste Enttäuschung, als er an das Haus kam, war, die Tür offen und Mr. Flintwinch auf der Treppe eine Pfeife rauchend zu finden. Wenn die Umstände sich nur gewöhnlich günstig gestaltet hätten, würde Mrs. Affery die Tür auf sein Pochen geöffnet haben. Da die Umstände jedoch ungewöhnlich ungünstig waren, so stand die Tür offen, und Mr. Flintwinch rauchte seine Pfeife auf der Treppe.

»Guten Abend«, sagte Arthur.

»Guten Abend«, sagte Mr. Flintwinch.

Der Rauch kam in gewundenen Wölkchen aus Mr. Flintwinchs Munde, als wenn er sich durch seinen ganzen verdrehten Körper gewunden und in seinen krummen Hals zurückkäme, ehe er herausträte, um sich mit dem Rauch der gewundenen Kamine und dem Nebel des gewundenen Flusses zu vermischen.

»Wissen Sie irgend etwas Neues?« sagte Arthur.

»Wir wissen nichts Neues«, sagte Jeremiah.

»Ich meine von dem fremden Mann«, erklärte Arthur.

»Ich meine von dem fremden Mann«, sagte Jeremiah.

Er sah so griesgrämig aus, wie er so quer dastand, mit dem Knoten seiner Halsbinde unter dem Ohr, daß Clennam der Gedanke in den Sinn kam, und dies nicht zum erstenmal, ob Flintwinch nicht in seinem eignen Interesse Blandois auf die Seite geschafft hatte? Galt es sein Geheimnis und seine Sicherheit? Er war klein und gebeugt und vielleicht nicht sehr stark; aber er war zähe wie ein alter Eibenbaum und listig wie eine alte Dohle. Wenn solch ein Mann hinter einen weit jüngeren und weit kräftigeren Mann kommt und den festen Willen hat, ihm den Garaus zu machen und sich nicht erweichen zu lassen, so ließ sich das an diesem einsamen Ort zu so später Stunde gar leicht machen.

Während in dem krankhaften Zustande seiner Phantasie diese Gedanken sich über den Grundgedanken lagerten, der Clennams Geist unablässig beschäftigte, stand Mr. Flintwinch mit einem bösartigen Ausdruck seines Gesichtes da und betrachtete das gegenüberliegende Haus über den Einfahrtweg mit gekrümmtem Nacken und einem Auge; und er machte mehr den Eindruck, als wolle er die Mundspitze seiner Pfeife zerbeißen, als sich an ihr erfreuen. Und doch genoß er sie in seiner Weise.

»Sie werden das nächste Mal, wenn Sie wiederkommen, wie mich dünkt, Mr. Arthur, mein Bild malen können«, sagte Mr. Flintwinch trocken, als er sich bückte, um die Asche auszuklopfen.

Etwas verlegen, als er inneward, was er getan, bat Arthur um Verzeihung, wenn er ihn unhöflich lange angesehen hatte. »Aber meine Gedanken drehen sich so viel um diesen Gegenstand«, sagte er, »daß ich mich ganz vergesse.«

»Hah! Ich sehe nicht ein«, versetzte Flintwinch gemächlich, »warum das Sie kümmern sollte, Arthur.«

»Nicht?«

»Nein«, sagte Flintwinch kurz und entschieden; ganz als wenn er von der Hunderasse wäre und nach Arthurs Hand schnappte.

»Es ist gleichgültig für mich, wenn ich solche Plakate angeschlagen sehe? Es ist gleichgültig für mich, wenn ich meiner Mutter Haus und Wohnung in solcher Verbindung in der Leute Mund sehe?«

»Ich sehe keinen Grund ein«, versetzte Mr. Flintwinch, indem er sich die hornige Wange strich, »warum das für Sie so wichtig sein soll. Aber ich sage Ihnen, was ich sehe, Arthur«, fuhr er fort, indem er nach den Fenstern hinaufblickte, »ich sehe das Kamin- und Kerzenlicht im Zimmer Ihrer Mutter.«

»Und was hat das damit zu schaffen?«

»Nun, Sir, ich ersehe daraus«, sagte Flintwinch, sich an ihm hinaufschraubend, »daß, wenn es rätlich ist (wie das Sprichwort sagt), einen schlafenden Hund liegen zu lassen, es vielleicht ebenso rätlich ist, einen vermißten Hund liegen zu lassen. Kümmern Sie sich nicht darum. Sie stehen beide gewöhnlich bald genug wieder auf.«

Mr. Flintwinch drehte sich kurz um, nachdem er diese Bemerkung gemacht hatte, und ging in die dunkle Halle. Clennam stand da und folgte ihm mit den Blicken, während er in dem kleinen Zimmer an der Seite in die Phosphorbüchse tauchte, um ein Licht anzuzünden, und nach drei- bis viermaligem Versuch endlich Licht gemacht hatte, worauf er die trübe Lampe an der Wand anzündete. Während der ganzen Zeit beschäftigte sich Mr. Clennam mit der vermutlichen Art und Weise – mehr, als wenn sie ihm von einer unsichtbaren Hand gezeigt würden, denn als daß er sie selbst beschwöre – mit der vermutlichen Art und Weise, sagen wir, von Mr. Flintwinchs Mitteln und Wegen, jene dunklere Tat zu tun und die Spuren derselben in einem der dunklen Schattengänge ringsumher zu entfernen.

»Nun, mein Herr«, sagte der mürrische Jeremiah, »ist es Ihnen angenehm, mit mir heraufzukommen?«

»Meine Mutter ist hoffentlich allein?«

»Nein«, sagte Mr. Flintwinch, »Mr. Casby und seine Tochter sind bei ihr. Sie kamen, während ich rauchte; ich blieb deshalb zurück, um meine Pfeife auszurauchen.«

Das war die zweite Enttäuschung. Arthur machte keine Bemerkung darüber und ging nach dem Zimmer seiner Mutter, wo Mr. Casby und Flora Tee mit Sardellenbrot und gerösteten Schnitten mit Butter nahmen. Die Überreste dieser Delikatessen waren noch nicht entfernt, weder von dem Tisch, noch von dem erhitzten Gesicht Afferys, die mit der Röstgabel in der Hand wie eine Art allegorischer Figur aussah, nur daß sie in Beziehung auf die sinnbildliche Bedeutung ihrer Erscheinung weit im Vorteil gegenüber dem gewöhnlichen Schlag der Allegorien war.

Flora hatte ihren Hut und Schal auf eine Art über das Bett ausgebreitet, daß man deutlich erkennen konnte, sie beabsichtige einige Zeit zu bleiben. Auch Mr. Casby strahlte neben dem Kaminrücken, indem die wohlwollenden Erhöhungen auf seiner Stirn glänzten, als wenn die warme Butter der gerösteten Schnitten durch den patriarchalischen Schädel schwitzte, und sein Gesicht so rot war, als wenn der Färbestoff des Sardellenteiges über diese patriarchalische Physiognomie sich ausbreitete. Da er dies bei dem Austausch der gewöhnlichen Begrüßungen bemerkte, beschloß Clennam ohne Aufschub mit seiner Mutter zu sprechen.

Es war eine alte Gewohnheit, da sie niemals ihr Zimmer verließ, wenn ihr jemand etwas im geheimen sagen wollte, sie an ihren Schreibtisch zu rollen; dort saß sie gewöhnlich, den Rücken ihres Stuhls dem übrigen Zimmer zukehrend, während die Person, die mit ihr sprach, in einer Ecke auf einem Stuhl saß, der immer zu diesem Zwecke bereit stand. Ausgenommen, daß es lange her war, seit Mutter und Sohn ohne Einmischung einer dritten Person miteinander gesprochen, war es eine alte Gewohnheit, die jeder Besuch von Mrs. Clennam kannte, daß sie mit einem Wort der Entschuldigung wegen der Unterbrechung befragt wurde, ob man mit ihr in einer Geschäftsangelegenheit sprechen könne, und wenn sie bejahend antwortete, daß man sie in der bezeichneten Richtung fortrollte.

Als deshalb Arthur eine solche Entschuldigung machte und diesen Wunsch aussprach, dann sie an ihren Schreibtisch rollte und sich auf den Stuhl setzte, begann Mrs. Finching noch lauter und schneller zu sprechen, um anzudeuten, daß sie nichts hören könne, und Mr. Casby strich seine langen weißen Haare mit schläfriger Ruhe.

»Mutter, ich habe heute etwas gehört, wovon ich überzeugt bin, daß Sie es nicht wissen, und das Sie, nach meiner Ansicht, wissen müssen: es betrifft das frühere Leben des Mannes, den ich hier traf.«

»Ich weiß nichts von dem früheren Leben des Mannes, den du hier trafst, Arthur.«

Sie sprach laut. Er hatte seine Stimme gedämpft; aber sie wies dieses Entgegenkommen des Vertrauens ab, wie sie jedes andere Entgegenkommen abwies, und sprach in ihrer gewöhnlichen Weise und in ihrem gewöhnlichen strengen Tone.

»Ich habe dies nicht auf Umwegen erfahren; sondern es ist mir ganz direkt zugekommen.«

Sie fragte ihn, genau wie zuvor, ob er ausdrücklich deshalb gekommen sei, um ihr zu sagen, was es sei.

»Ich halte es für gut, daß Sie es wissen.«

»Und was ist es?«

»Er saß in einem französischen Gefängnis.«

Sie antwortete mit der größten Ruhe: »Ich halte das für sehr möglich.«

»Aber in einem Gefängnis für Verbrecher, Mutter. Er war eines Mordes beschuldigt.«

Sie fuhr bei diesem Worte zusammen, und ihre Blicke drückten ihren unwillkürlichen Schauer aus. Aber sie sprach dennoch laut, als sie fragte:

»Wer sagte dir das?«

»Ein Mann, der mit ihm gefangen saß.«

»Die Vergangenheit jenes Mannes war dir, glaube ich, nicht bekannt, ehe er dies sagte?«

»Nein.«

»Aber der Mann selbst?«

»Ja.«

»Das ist auch mein und Mr. Flintwinchs Fall mit jenem andern Mann. Die Ähnlichkeit ist indes, darf ich wohl sagen, nicht so groß, da der Mensch, der dir diese Mitteilung gemacht, dir wohl nicht durch einen Brief eines Korrespondenten zugeführt wurde, bei dem er Geld deponiert hatte? Wie steht es mit diesem Punkte der Parallele?«

Arthur hatte keine andere Wahl, als zu erklären, daß sein Gewährsmann ihm nicht durch Vermittlung solcher Beglaubigungsschreiben, wie überhaupt durch gar keine Beglaubigungsschreiben, bekannt geworden. Mrs. Clennams aufmerksames Gesicht bekam immer mehr den Ausdruck strengen Triumphs, und sie versetzte mit Emphase: »Nimm dich in acht mit deinem Urteil über andere. Ich sage dir, Arthur, nimm dich in acht mit deinem Urteil: es könnte dir gefährlich werden!«

Ihre Emphase lag ebensosehr in dem Ausdruck ihrer Augen als in dem Nachdruck, den sie auf ihre Worte legte. Sie sah ihn unverwandt an, und wenn er bei seinem Eintritt ins Haus die geringste Hoffnung im stillen hegte, Eindruck auf sie zu machen, so verscheuchte ihr Blick diese Hoffnung wieder aus seinem Herzen.

»Mutter, kann ich Ihnen in nichts behilflich sein?«

»Nein.«

»Wollen Sie mir kein Vertrauen schenken, mir keinen Auftrag und keine Erklärung geben? Wollen Sie keinen Rat von mir annehmen? Wollen Sie mich Ihnen nicht näher kommen lassen?«

»Wie kannst du mich so fragen? Bist du es denn nicht gewesen, der sich von meinen Sachen losgesagt? Es war nicht mein Werk, sondern das deine. Wie kannst du beständig eine solche Frage an mich richten? Du weißt, daß du mich den Händen Mr. Flintwinchs überließest, und daß er nun deine Stelle einnimmt.«

Mit einem Blicke auf Jeremiah sah Clennam sogar an den Gamaschen desselben, daß seine ganze Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war, obwohl er, sein Kinn reibend, an der Wand lehnte und tat, als ob er auf Flora horchte, die in höchst zerstreuender Weise sich in einem Chaos von Gegenständen bewegte, in dem Makrelen und Mr. Finchings Tante in einer Schaukel mit Maikäfern und dem Weinhandel verstrickt wurden.

»Ein Gefangener in einem französischen Gefängnis, der des Mordes angeklagt war«, wiederholte Mrs. Clennam, ruhig überlegend, was ihr Sohn gesagt. »Das ist alles, was du von seinem Mitgefangenen über ihn erfahren hast?«

»Genau genommen alles.«

»Und war der Mitgefangene auch sein Mitschuldiger, ebenfalls ein Mörder? Aber er wird freilich besser von sich als von seinem Freunde sprechen; ich brauche gar nicht zu fragen. Casby, Arthur sagt mir –«

»Halten Sie ein, Mutter. Halten Sie ein, halten Sie ein!« Er unterbrach sie rasch, denn es war ihm nicht in den Sinn gekommen, daß sie laut preisgeben würde, was er ihr gesagt hatte.

»Was soll’s?« fragte sie mißvergnügt. »Was gibt’s?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Casby – und auch Sie, Mrs. Finching – gestatten Sie nur noch einen Augenblick mit meiner Mutter –«

Er hatte seine Hand auf ihren Stuhl gelegt, sie hätte ihn sonst mit einem Druck des Fußes auf den Boden herumgedreht. Sie saßen sich auf diese Weise noch immer gegenüber. Sie sah ihn an, während er an die Möglichkeit eines Resultats dachte, das er nicht beabsichtigt und nicht voraussehen konnte, und das er von dem Offenkundigwerden von Cavalettos Enthüllung fürchten mußte; er kam deshalb rasch zu dem Entschluß, daß es besser wäre, wenn man gar nicht davon spräche; obwohl ihn bei seiner Mitteilung vielleicht kein entschiedenerer Grund leitete, als daß er es für gewiß betrachtete, seine Mutter werde es für sich und ihren Kompagnon behalten.

»Was gibt es?« sagte sie wiederum ungeduldig. »Was soll’s?«

»Ich meinte nicht, daß Sie wiederholen sollten, was ich Ihnen mitteilte. Ich hielte es für besser, wenn Sie’s nicht preisgeben.«

»Machst du mir das zur Bedingung?«

»Nun ja!«

»So bedenke wohl, du bist es, der daraus ein Geheimnis macht«, sagte sie, ihre Hand aufhebend, »nicht ich. Du bist es, Arthur, der Zweifel und Verdacht und Bitten um Aufklärungen hierherbringt, und du bist es, Arthur, der Geheimnisse hier hereinschleppt. Was gilt es mir, wo der Mann war oder was er war? Was kann es mir bedeuten? Die ganze Welt darf es wissen, wenn sie es wissen will, es gilt mir gleich. Nun, laß mich gehen.«

Er gab ihrem gebietenden und stolzen Blick nach und rollte ihren Stuhl wieder zurück an den Ort, wo er vorher gestanden hatte. Während er dies tat, bemerkte er einen übermütigen Ausdruck auf Mr. Flintwinchs Gesicht, der gewiß nicht durch Flora hervorgerufen war. Die Art und Weise, wie sie sein Wissen und seinen Angriff und seine Pläne gegen ihn drehte, überzeugte ihn sogar noch weit mehr als die Entschiedenheit und Festigkeit seiner Mutter von der Vergeblichkeit aller seiner Bemühungen. Es blieb ihm nichts übrig, als sich an seine alte Freundin Affery zu wenden.

Aber selbst nur dies höchst zweifelhafte und näherbringende Ziel zu erreichen, sich an Affery wenden zu können, schien eine der wenigst versprechenden menschlichen Unternehmungen. Sie war so vollständig in der Sklaverei der beiden Gescheiten, wurde so systematisch von dem einen oder andern beaufsichtigt und fürchtete sich außerdem so sehr, im Hause umherzugehen, daß jede Gelegenheit, mit ihr allein sprechen zu können, im voraus unmöglich zu sein schien. Überdies hatte Mrs. Affery durch gewisse Mittel (es war nicht schwer zu ahnen, daß es die strengen Argumente ihres Eheherrn waren) eine so lebendige Überzeugung von der Gefährlichkeit, irgend etwas unter irgendwelchen Umständen zu sagen, gewonnen, daß sie die ganze Zeit in einem Winkel stehengeblieben war, indem sie sich mit ihrem symbolischen Instrument vor jedem Nahenden schützte; so daß, als Flora oder der flaschengrüne Patriarch selbst einige Worte an sie richteten, sie wie eine Stumme jedes Gespräch mit ihrer Röstgabel von sich abwies.

Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, Affery zu vermögen, daß sie ihn ansehe, während sie den Tisch abräumte und das Teeservice reinigte, dachte Arthur an ein Auskunftsmittel, zu dem ihm Flora behilflich sein sollte. Er flüsterte ihr deshalb zu: »Könnten Sie nicht sagen, Sie möchten gern einen Gang durch das Haus machen?«

Die arme Flora, die immer in der schwankenden Erwartung der Zeit war, wo Clennam seine Jugend wieder aufleben lassen und sterblich in sie verliebt sein würde, vernahm das Geflüster mit dem höchsten Entzücken; denn es wurde nicht nur durch seinen geheimnisvollen Charakter ihr wertvoll, sondern bahnte ihr auch den Weg zu einem zärtlichen Rendezvous, bei dem er ihr den Zustand seiner Neigungen erklären würde. Sie begann deshalb alsbald den Wink auszuführen.

»Ach mein Gott, das gute alte Zimmer«, sagte Flora und sah sich dabei um, »es sieht gerade noch immer so aus Mrs. Clennam das rührt mich wahrhaftig nur ist es etwas rauchiger was sich mit der Zeit erwarten ließ und was wir alle erwarten müssen und worein wir uns fügen müssen ob wir Lust haben oder nicht wie ich überzeugt bin daß es auch mit mir der Fall sein wird nur daß ich nicht gerade rauchiger geworden aber schrecklich viel dicker was dasselbe oder gar noch schlimmer wenn ich an die Tage denke wo Papa mich hierherbrachte das kleinste Mädchen eine reine Frostbeulenmasse und man mich auf einem Stuhle festsetzte die Füße auf den Rädern wo ich Arthur – bitte entschuldigen Sie – Mr. Clennam den kleinsten Knaben in der furchtbarsten Halskrause und Jacke ansah ehe Mr. Finching erschien ein nebliger Schatten am Horizont und aufmerksam gegen mich war wie das wohlbekannte Gespenst eines gewissen Ortes in Deutschland der mit B anfängt eine moralische Lehre die uns sagt daß alle Wege im Leben den Wegen im Norden von England ähnlich sind wo sie die Kohlen gewinnen und das Eisen und die Dinge die mit Asche bedeckt sind.«

Nachdem sie den Tribut eines Seufzers der Unbeständigkeit der menschlichen Dinge bezahlt, fuhr Flora rasch in ihrem Vorhaben fort.

»Nicht daß jemals sein schlimmster Feind hätte sagen können es sei ein freundliches Haus denn das war es nie aber es machte immer einen großen Eindruck ein verliebtes Gedächtnis erinnert sich einer Gelegenheit in der Jugend ehe das Urteil reif war wo Arthur –- eingewurzelte Gewohnheit – Mr. Clennam mich in eine unbenutzte Küche hinabnahm die in außerordentlich verschimmeltem Zustande war und mir den Vorschlag machte mich dort mein ganzes Leben lang zu verbergen und mich mit dem zu nähren was er von seinen Mahlzeiten beiseite schaffen könnte außer wenn er während der Feiertage nicht zu Hause oder in Ungnade und auf trocken Brot gesetzt war, was in jener friedlichen Zeit gar häufig vorkam – wäre es unpassend oder zuviel verlangt wenn ich bäte man möge mir erlauben diese Szene wieder in meinem Gedächtnis aufzufrischen und einen Gang durch das Haus zu machen?«

Mrs. Clennam, die Mrs. Finching gezwungen für die Güte dankte, daß sie überhaupt hier sei, obwohl ihr Besuch (vor Arthurs unerwartetem Erscheinen) eine Art reiner Gutmütigkeit und nicht des Egoismus war, sagte ihr, daß ihr das ganze Haus offen stehe. Flora stand auf und sah Arthur mit einem Blicke an, der ihn aufforderte, daß er sie begleite. »Gewiß«, sagte er laut, »und Affery wird uns hoffentlich leuchten.«

Affery entschuldigte sich mit den Worten: »Verlangen Sie nichts von mir, Arthur!« als Mr. Flintwinch sie zum Schweigen brachte, indem er sagte: »Warum nicht? Affery, was ist mit dir, Weib? Warum nicht, Dirne?« Auf solche Weise zur Rede gestellt, kam sie aus ihrem Winkel hervor, lieferte die Röstgabel der einen Hand ihres Gatten aus und nahm den Leuchter, den er ihr bot, von der andern in Empfang.

»Geh voran, du Närrin!« sagte Jeremiah. »Wollen Sie hinauf- oder hinuntergehen, Mrs. Finching?«

Flora antwortete: »Hinunter!«

»Dann gehe die Treppe hinunter voran, Affery«, sagte Jeremiah. »Und mache deine Sache gut, sonst komme ich die Treppe hinunter und falle über dich her!«

Affery ging der Expedition voran, Jeremiah schloß sie. Er hatte nicht die Absicht, sie zu verlassen. Clennam sah zurück, und da er bemerkte, daß er drei Stufen hinterdrein in der kältesten und methodischsten Weise folgte, rief er mit leiser Stimme: »Kann man ihn denn nicht loswerden?« Flora beruhigte ihn, indem sie rasch antwortete: »Nun obgleich nicht ganz passend Arthur und etwas woran ich vor einem jüngern Mann oder einem Fremden nicht denken möchte kümmere ich mich doch nicht um ihn besonders wenn Sie es so wünschen und vorausgesetzt Sie haben die Güte mich nicht zu fest anzufassen.«

Da er nicht das Herz hatte, zu erklären, daß das gar nicht sei, was er meinte, bog Arthur seinen unterstützenden Arm um Floras Hüfte.

»O du meine Güte«, sagte sie, »Sie sind wirklich sehr gehorsam, und es ist gewiß außerordentlich ehrenhaft und artig von Ihnen aber wenn Sie mich etwas fester anfassen wollten würde ich es doch nicht für zudringlich halten.«

In dieser albernen Stellung, die in unendlichem Widerspruch mit der Beklommenheit seines Herzens stand, stieg Clennam in den untern Stock des Hauses hinab, und er fand, je dunkler es wurde, desto schwerer wurde Flora und umgekehrt. Als sie von der düstern Küchenregion zurückkehrten, die so traurig wie möglich war, ging Mrs. Affery mit dem Licht in seines Vaters einstiges Zimmer und dann in das alte Speisezimmer, immer voran wie ein Phantom, das man nicht einholen kann; auch wandte sie sich weder um, noch antwortete sie, wenn er flüsterte: »Affery, ich möchte mit Ihnen sprechen!«

In dem Speisezimmer überkam Flora der sentimentale Wunsch, in das Drachenkabinett hineinzusehen, das Arthur so oft in den Tagen seiner Kindheit verschlungen – wahrscheinlich wohl auch, weil es als ein sehr dunkles Kabinett die vortreffliche Gelegenheit bot, sehr schwer zu sein. Arthur, der beinahe verzweifelte, öffnete es, als man ein Klopfen an der äußeren Tür hörte.

Mrs. Affery zog mit einem unterdrückten Schrei ihre Schürze über den Kopf.

»Wie? Du brauchst wohl wieder eine Dosis?« sagte Mr. Flintwinch. »Du sollst sie haben, Frau. Du sollst eine tüchtige Dosis haben! Oh! Ich will dich striegeln und prügeln!«

»Geht inzwischen jemand nach der Tür?« sagte Arthur.

»Ich gehe inzwischen nach der Tür, Sir«, versetzte der alte Mann, so wild, daß es klar wurde, er fühle, in solcher Verlegenheit müsse er selbst gehen, obgleich er vorgezogen hätte, nicht zu gehen. »Bleibe indessen ruhig stehen! Affery, wenn du dich um einen Zoll breit bewegst oder ein Wort in deiner Dummheit sprichst, so werde ich die Dosis verdreifachen.«

Sobald er gegangen war, ließ Arthur Mrs. Finching los; es war dies mit einiger Schwierigkeit verbunden, weil diese Dame seine Absicht mißverstand und ihre Arrangements so traf, daß sie ihn fesselten, statt ihm freie Hand zu lassen.

»Affery, sprechen Sie jetzt mit mir!«

»Berühren Sie mich nicht, Arthur!« rief sie, ihm ausweichend. »Kommen Sie mir nicht nahe. Er wird Sie sehen. Jeremiah wird es sehen. Tun Sie es nicht.«

»Er kann mich nicht sehen«, versetzte Arthur, indem er die Tat mit dem Worte verband, »wenn ich das Licht ausblase.«

»Er wird Sie hören«, rief Affery.

»Er kann mich nicht hören«, versetzte Arthur, indem er wieder die Tat dem Wort folgen ließ, »wenn ich Sie in dieses dunkle Kabinett ziehe und hier spreche. Warum verbergen Sie Ihr Gesicht?«

»Weil ich etwas zu sehen fürchte.«

»Sie können nicht fürchten, in dieser Dunkelheit etwas zu sehen, Affery.«

»Doch, ich fürchte mich. Noch mehr, als wenn es hell wäre.«

»Warum fürchten Sie sich?«

»Weil das Haus voll von Geheimnissen steckt; weil es voll Geflüster und Gewisper ist; weil es voll Geräusch ist. Es wird mich noch umbringen, wenn Jeremiah mich nicht vorher erdrosselt; was er sicherlich tut.«

»Ich habe hier nie ein Geräusch gehört, das der Beachtung wert gewesen.«

»Ach ja! Aber Sie würden solches hören, wenn Sie noch in dem Hause wohnten und darin herumgehen müßten wie ich«, sagte Affery; »und Sie würden fühlen, daß es wohl der Beachtung wert ist, und Sie würden zu bersten glauben, wenn Sie nicht davon sprechen dürften. Da ist Jeremiah! Sie werden noch schuld sein, daß man mich umbringt.«

»Meine gute Affery, ich erkläre Ihnen feierlich, daß ich das Licht der offenen Tür auf den Fliesen des Ganges sehen kann, und das würden Sie auch können, wenn Sie die Schürze von Ihrem Gesicht und Ihren Augen wegnehmen wollten.«

»Ich möchte das nicht tun«, sagte Affery, »ich möchte es um keinen Preis tun, Arthur. Ich habe immer etwas vor den Augen, wenn es Jeremiah nicht sieht, und sogar bisweilen, wenn er es sieht.«

»Er kann die Tür nicht schließen, ohne daß ich es sehe«, sagte Arthur, »Sie sind so sicher bei mir, als wenn er fünfzig Meilen von mir entfernt wäre.«

(»Ich wünschte, er wäre es!« rief Affery.)

»Affery, ich möchte wissen, was hier für ein Unrecht begangen worden; ich möchte einiges Licht auf die Geheimnisse dieses Hauses geworfen wissen.«

»Ich sage Ihnen, Arthur«, unterbrach sie ihn, »das Geheimnis besteht in dem Geräusch, dem Gerassel und dem Schleichen, dem Zittern und den Tritten über uns und unter uns.«

»Aber das sind doch nicht alle Geheimnisse?«

»Ich weiß nicht«, sagte Affery. »Fragen Sie mich nicht mehr, Ihre ehemalige Geliebte ist in der Nähe, und sie ist eine Schwätzerin.«

Seine Geliebte war allerdings so nahe bei der Hand, daß sie in diesem Augenblick in einem wirklichen Winkel von fünfundvierzig Graden sich schwankend zu ihm herabneigte und ihnen ins Wort fiel, um Mrs. Affery mit mehr Ernst als direkter Beteuerung zu versichern, was sie auch hören möge, nichts werde über ihre Lippen kommen, sondern sie werde es für sich behalten, wenn auch nur um Arthurs willen – sie wisse wohl, diese Vertraulichkeit klinge aufdringlich, besser Doyce und Clennam.

»Ich wende mich bittend an Sie, Affery, an Sie, eine der wenigen angenehmen Erinnerungen aus früheren Zeiten, die ich habe, – um meiner Mutter, um Ihres Mannes, um meiner, um unserer aller willen wende ich mich an Sie. Ich bin überzeugt, Sie können mir etwas sagen, was sich auf das Hierherkommen dieses Mannes bezieht, wenn Sie nur wollen.«

»Nun, so will ich Ihnen sagen, Arthur«, versetzte Affery, – »Jeremiah kommt.«

»Nein, wahrhaftig nicht. Die Tür ist offen, und er steht draußen und spricht.«

»So will ich Ihnen sagen«, sagte Affery, nachdem sie gelauscht hatte, »daß das erstemal, als er kam, er selbst das Geräusch hörte. ›Was ist das?‹ sagte er zu mir. ›Ich weiß nicht, was es ist‹, sagte ich zu ihm, indem ich ihn festhalte, ›aber ich habe es schon oft gehört.‹ Während ich dies sage, steht er an allen Gliedern zitternd da und starrt mich an.«

»War er oft hier?«

»Nur jenes Mal, und als er zum letzten Male hier war.«

»Was sahen Sie von ihm an jenem letzten Abend, nachdem ich fortgegangen war?«

»Die beiden Gescheiten waren ganz allein mit ihm. Jeremiah kam hüpfend neben mir her, nachdem ich Sie hinausgelassen (er kommt immer hüpfend neben mir her, wenn er mir wehe tun will), und sagte zu mir: ›Nun, Affery, ich komme hinter dir drein, Weib, um dir Füße zu machen.‹ Damit nahm er mich hinten am Halse und drückte mich, bis ich den Mund aufsperrte, und trieb mich vor sich zu Bett, indem er mich den ganzen Weg zwickte. Das nennt er mir Füße machen. Oh, er ist ein bösartiger Mann.«

»Und hörten und sahen Sie sonst nichts, Affery?«

»Sagte ich Ihnen nicht, ich wurde zu Bett geschickt, Arthur? Hier ist er!«

»Ich versichere Sie, er ist noch immer an der Tür. Dieses Geflüster und Gewisper, Affery, von dem Sie gesprochen haben, was ist das?«

»Wie kann ich wissen! Fragen Sie mich nicht weiter, Arthur. Gehen Sie jetzt.«

»Ich versichere Sie, er ist noch immer an der Tür. Das Geflüster und Gewisper, von dem Sie gesprochen, Affery. Was ist damit?«

»Wie sollt‘ ich es wissen! Fragen Sie mich nicht danach, Arthur. Gehen Sie!«

»Aber meine liebe Affery, wenn ich nicht einen Einblick in diese verborgenen Dinge, trotz Ihres Mannes und trotz meiner Mutter, bekommen kann, so wird das größte Verderben daraus entstehen.«

»Fragen Sie mich nichts«, wiederholte Affery. »Ich war die ganze Zeit in einem Traum. Gehen Sie, gehen Sie!«

»Sie sagten das früher schon«, versetzte Arthur. »Sie gebrauchten denselben Ausdruck in jener Nacht an der Tür, als ich Sie fragte, was hier vorgehe. Was meinen Sie mit dem Ausdruck ›in einem Traum sein‹?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Gehen Sie! Ich würde es Ihnen nicht sagen, wenn Sie allein wären; noch weniger, da Ihre ehemalige Geliebte zugegen ist.«

Es war gleich vergeblich, daß Arthur bat und Flora ihre Verschwiegenheit beteuerte. Affery, die die ganze Zeit zitterte und sich loszumachen suchte, hatte ein taubes Ohr für alle Beschwörungen und dachte nur, wie sie aus dem Kabinett hinauskommen, könnte.

»Ich würde lieber Jeremiah rufen, als noch ein Wort sagen! Ich werde ihn rufen, wenn Sie nicht aufhören, mit mir zu sprechen. Vernehmen Sie das allerletzte Wort, das ich sage, ehe ich ihn rufe. Wenn Sie jemals der beiden Gescheiten Meister werden (Sie sollten es tun, wie ich Ihnen am ersten Tage Ihrer Ankunft sagte, denn Sie haben hier nicht so lange Jahre zugebracht, daß Sie sich Ihr Leben lang zu fürchten brauchen wie ich), so werden Sie ihrer vor meinen Augen Meister; und dann sagen Sie zu mir: ›Affery, erzählen Sie Ihre Träume.‹ Vielleicht erzähle ich sie Ihnen dann.«

Das Schließen der Tür schnitt Arthurs Antwort ab. Sie stellten sich wieder an den Ort, wo Jeremiah sie verlassen; und Clennam, der vortrat, als der alte Mann zurückkam, sagte ihm, daß er durch Zufall das Licht ausgelöscht habe. Mr. Flintwinch sah darauf hin, während er es an der Lampe in der Halle wieder anzündete, und beobachtete ein tiefes Schweigen bezüglich der Person, mit der er gesprochen hatte. Vielleicht forderte seine Reizbarkeit Ersatz für die Langeweile, die ihm der Besuch verursacht; wie dem nun auch war, er wurde so ärgerlich, als er seine Frau mit der Schürze über dem Kopf sah, daß er über sie herfiel, und indem er ihre verhüllte Nase zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, in dem Druck, mit dem er jene umdrehte, seine ganze Schraubkraft zu erschöpfen schien.

Flora entband Arthur der Besichtigung des Hauses nicht früher, als bis sie auch in seinem ehemaligen Schlafzimmer gewesen war, das sich in dem Giebelstock befand. Seine Gedanken waren mit andern Dingen beschäftigt als mit dieser Besichtigungstour; aber später, wenn er sich bisweilen wieder daran erinnerte, fiel ihm besonders die dumpfe Luftlosigkeit des Hauses auf; ferner, daß man die Spur ihrer Tritte in dem Staub der obern Boden sah; und daß endlich eine Zimmertür Widerstand leistete, was Affery veranlaßte, laut zu schreien, es habe sich jemand drin verborgen, auf welchem Glauben sie beharrte, obgleich man jemand suchte und niemand fand. Als sie endlich nach seiner Mutter Zimmer zurückkehrten, fanden sie sie, das Gesicht mit ihrer eingehüllten Hand beschattend, während sie leise mit dem Patriarchen sprach, der vor dem Kamin stand. Seine blauen Augen, sein glatter Kopf und seine seidenen Haare, die sich ihnen zuwandten, als sie eintraten, verliehen einen unschätzbaren Wert und eine unerschöpfliche Liebe der Bemerkung, die er machte:

»So, Sie haben das Haus sich angesehen, – das Haus – das Haus sich angesehen!«

Es war an und für sich nicht gerade ein Juwel von Wohlwollen und Weisheit, aber er machte seine Worte doch zu einem Muster von beidem, daß man gerne eine Kopie davon gehabt hätte.

Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Der Abend eines langen Tages

Der berühmte Mann und anerkannte Schmuck der Nation, Mr. Merdle, schritt auf seiner glänzenden Bahn voran. Es begann weit und breit anerkannt zu werden, daß ein Mann, der der Gesellschaft den bewundernswerten Dienst geleistet, so viel Geld aus ihr herauszuschlagen, nicht ein Mitglied vom Unterhause bleiben dürfe. Man sprach mit Zuversicht von einer Baronie; häufig war auch von der Pairswürde die Rede. Das Gerücht ging, Mr. Merdle habe sein goldenes Gesicht von einer Baronie mit Verachtung abgewandt; er habe Lord Decimus offen zu verstehen gegeben, daß eine Baronie nicht genug für ihn sei; er habe gesagt: »Nein, eine Pairswürde oder einfach Merdle.« Man erzählte sich, dies habe Lord Decimus‘ adliges Kinn so tief in eine Pfütze von Zweifeln gestürzt, wie eine so hohe Person sinken konnte. Denn die Barnacles, als eine abgesonderte Gruppe in der Schöpfung, waren der Ansicht, daß solche Auszeichnungen nur für sie seien und daß, wenn ein Soldat, Seemann oder Advokat geadelt würde, sie ihn gleichsam durch einen Akt besonderer Herablassung an der Familientür empfingen und diese dann alsbald wieder schlössen. Nicht allein (sagte das Gerücht) hatte der verlegene Decimus seine eignen Erben dabei vor Augen, sondern er wußte auch von mehreren Barnacles, die auf der Liste standen und mit den Ansprüchen des vornehmsten Geistes in Kollision kamen. Mit Recht oder Unrecht, das Gerücht war sehr geschäftig, und Lord Decimus, der die Schwierigkeit in ernstliche Erwägung zog, oder von dem man vermutete, daß er es tat, lieh ihm einigen Vorschub, indem er bei verschiedenen öffentlichen Gelegenheiten seinen Elefantentrott durch eine Dschungel von hochgewachsenen Redensarten anschlug, indem er auf seinem Rüssel Mr. Merdle als Riesenunternehmungsgeist, Reichtum von England, Elastizität, Kredit, Kapital, Wohlfahrt und alle Arten von Segen hin und her bewegte.

So ruhig mähte die alte Sense fort, daß volle drei Monate unbemerkt vergangen waren, seit die beiden englischen Brüder in ein Grab auf dem Fremdenkirchhof von Rom gelegt worden waren. Mr. und Mrs. Sparkler hatten sich nun in ihrem eignen Hause eingerichtet; ein kleines Herrschaftshaus, etwa von der Tite Barnacle-Klasse, ein wahrer Triumph der Unbequemlichkeit mit dem beständigen Geruch der Suppe vom vorgestrigen Tage und von Wagenpferden, aber außerordentlich teuer, weil es genau im Mittelpunkt des bewohnbaren Globus lag. In dieser beneidenswerten Wohnung (und sie wurden wirklich darum von vielen beneidet) hatte Mrs. Sparkler die Absicht, sogleich sich ans Werk der Vernichtung des Busens zu machen, als der Ausbruch der Feindseligkeiten durch die Ankunft des Kuriers mit der Todesnachricht unterbrochen wurde. Mrs. Sparkler, die nicht gefühllos war, hatte die Kunde mit einem heftigen Ausbruch von Schmerz vernommen, der zwölf Stunden lang dauerte. Nach diesen hatte sie sich aufgerafft, um an ihre Trauerkleidung zu denken und alle Vorbereitungen zu treffen, die sie so vorteilhaft machen könnten wie Mrs. Merdle. Ein düsterer Schatten fiel auf mehr als eine hohe Familie (so berichteten die höflichsten Anzeigen), und der Kurier kehrte wieder zurück.

Mr. und Mrs. Sparkler hatten allein gespeist, und der düstere Schatten ruhte auf ihnen; nun lag Mrs. Sparkler auf einem Salonsofa. Es war ein heißer Sommersonntagsabend. Die Wohnung in der Mitte des bewohnbaren Globus, die zu allen Zeiten verstopft und verschlossen war, als wenn sie an einer unheilbaren Erkältung des Kopfes litt, war an jenem Abend besonders dumpf. Die Kirchenglocken hatten ihr abscheulichstes Gewimmer angestimmt, das in den Straßen ein unmelodisches Echo fand, und die erleuchteten Fenster der Kirchen hatten in dem grauen Nebel ihre gelbe Farbe verloren und waren in dunkles Schwarz übergegangen. Mrs. Sparkler, die auf ihrem Sofa lag und lange durch ein offenes Fenster auf der entgegengesetzten Seite über Nelken- und andere Blumenkistchen hinweg nach der entgegengesetzten Seite einer engen Straße gesehen hatte, war dieses Anblicks müde. Mrs. Sparkler sah dann zu einem andern Fenster hinaus, wo ihr Gatte auf dem Balkon stand, und ward bald auch dieses Anblicks müde. Mrs. Sparkler sah sich selbst in ihrer Trauerkleidung an und ward sogar dieses Anblicks müde; obgleich natürlich nicht so müde wie die beiden andern Male.

»Es ist, als wenn man in einem Brunnen läge«, sagte Mrs. Sparkler, indem sie verdrießlich ihre Stellung änderte. »Mein Gott, Edmund, wenn du etwas zu sagen hast, warum sagst du es nicht?«

Mr. Sparkler hätte aufrichtig antworten können: »Meine Liebe, ich habe nichts zu sagen.« Da ihm jedoch diese passende Antwort nicht einfiel, so begnügte er sich, den Balkon zu verlassen und sich neben das Sofa zu stellen, auf dem seine Frau lag.

»Du meine Güte, Edmund!« sagte Mrs. Sparkler noch verdrießlicher, »du wirst die Nelken noch in deine Nase stecken! Laß das, bitte!«

Mr. Sparkler, der geistesabwesend war – vielleicht wörtlicher geistesabwesend, als man gewöhnlich diese Phrase versteht –, hatte so dicht an einem Schößling in seiner Hand gerochen, daß er das fragliche Vergehen beinahe begangen hätte. Er sagte lächelnd: »Ich bitte um Vergebung, meine Liebe«, und warf ihn zum Fenster hinaus. »Du machst mir Kopfweh, wenn du in dieser Stellung bleibst, Edmund«, sagte Mrs. Sparkler, indem sie nach einer weitern Minute die Blicke zu ihm erhob. »Du siehst in diesem Lichte so ungeheuer groß aus. Setze dich.«

»Gern, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler. Und stellte einen Stuhl an den Ort, wo er gestanden hatte.

»Wenn ich nicht wüßte, daß der längste Tag vorüber ist«, sagte Fanny, furchtbar gähnend, »so wäre ich fest überzeugt gewesen, dies sei der längste Tag. Ich habe nie einen solchen Tag erlebt.«

»Ist das dein Fächer, meine Liebe?« fragte Mr. Sparkler, indem er einen solchen aufhob und ihn ihr gab.

»Edmund«, versetzte seine Frau noch müder, »frage nicht dergleichen, ich bitte dich. Wem kann er denn gehören als mir?«

»Ja, ich dachte mir, daß er dir gehören werde«, sagte Mr. Sparkler.

»Dann solltest du nicht fragen«, versetzte Fanny. Nach einer kurzen Weile drehte sie sich auf ihrem Sofa um und rief: »Mein Gott, mein Gott, es war noch kein Tag so lang wie dieser!« Nach einer zweiten Pause erhob sie sich langsam, ging auf und nieder und kam wieder zurück.

»Meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler, den ein origineller Gedanke durchblitzte, »ich denke, du wirst einen Nervenanfall haben –«

»Oh! Nervenanfall!« wiederholte Mrs. Sparkler. »Sage das nicht!«

»Mein anbetungswürdiges Kind!« bat Mr. Sparkler, »versuche deinen aromatischen Essig. Ich habe meine Mutter oft Gebrauch davon machen sehen, und es schien sie zu erfrischen. Und sie ist, wie du wohl bemerkt haben wirst, eine außerordentliche feine Frau, die keinen –«

»Gütiger Gott!« rief Fanny, wieder auffahrend, »es ist, um alle Geduld zu verlieren! Das ist gewiß der langweiligste Tag, der je über der Welt anbrach!«

Mr. Sparkler sah ihr demütig nach, während sie im Zimmer auf und ab ging, und schien etwas erschrocken. Nachdem sie mehrere Kleinigkeiten umhergeworfen und aus allen drei Fenstern in die dunkler werdende Straße hinabgesehen hatte, kehrte sie zu ihrem Sofa zurück und warf sich in die Kissen.

»Nun, Edmund, komm hierher! Komm etwas näher, weil ich dich mit meinem Fächer zu berühren imstande sein möchte, um dir genau einzuschärfen, was ich dir nun zu sagen im Begriff bin. So wird’s recht sein. Schon nahe genug. Oh, du siehst so groß aus!«

Mr. Sparkler entschuldigte sich wegen dieses Umstandes, versicherte, daß er nichts dafür könne, und sagte »unsre Jungen«, ohne besonders zu sagen, welche Jungen, hätten ihn gewöhnlich Quinbus Flestrin Junior oder den »Young Man Mountain« genannt. »Das hättest du mir früher sagen sollen«, klagte Fanny. »Meine Liebe«, versetzte Mr. Sparkler, fast angenehm berührt, »ich wußte nicht, daß dich das interessieren würde, sonst würde ich dir gewiß davon gesprochen haben.«

»Nein! Um aller Güte willen, sprich nicht«, sagte Fanny, »ich möchte selbst sprechen. Edmund, wir dürfen nicht mehr allein sein. Ich muß Vorkehrungen treffen, die es unmöglich machen, daß ich immer wieder in diesen Zustand schrecklicher Gedrücktheit verfalle, in dem ich mich heute abend befinde.«

»Meine Liebe«, antwortete Mr. Sparkler, »da du als eine außerordentlich feine Frau bekannt bist, die keinen –«

»O, Grundgütiger!« rief Fanny.

Mr. Sparkler wurde durch die Heftigkeit dieses Ausrufs, der von einem Auffahren vom Sofa und einem Niedersinken begleitet war, so außer Fassung gebracht, daß es ein bis zwei Minuten dauerte, ehe er sich imstande fühlte, zur Erklärung zu sagen:

»Ich wollte sagen, meine Liebe, jedermann wisse, du seiest darauf angewiesen, in Gesellschaft zu glänzen.«

»Darauf angewiesen, in. Gesellschaft zu glänzen«, versetzte Fanny mit großer Gereiztheit! »ja, wahrhaftig. Ich erhole mich durch die Besuche kaum von dem Schlag des Todes meines armen teuren Vaters und meines armen Onkels – obgleich ich nicht verhehle, daß das letztere eine große Wohltat war, denn wenn man nicht in Gesellschaft gebracht werden kann, so tut man besser zu sterben –«

»Du meinst damit hoffentlich nicht mich?« unterbrach sie Mr. Sparkler demütig.

»Edmund, Edmund, du könntest einen Heiligen aus der Fassung bringen. Spreche ich nicht ausdrücklich von meinem armen Onkel?«

»Du sahst mich so bedeutsam an, mein liebes Kind«, sagte Mr. Sparkler, »daß mir etwas unbehaglich wurde. Ich danke dir, meine Liebe.«

»Nun hast du mich aus dem Konzept gebracht«, bemerkte Fanny mit einem resignierten Schlag ihres Fächers, »und ich ginge besser zu Bett.« .

»Tue das nicht, meine Liebe«, drängte Mr. Sparkler. »Bleibe noch etwas.«

Fanny wartete noch etwas lange; sie lehnte sich zurück, schloß die Augen und zog die Augenbrauen mit einem hoffnungslosen Ausdruck hinauf, als wenn sie alle irdischen Dinge völlig aufgegeben hätte. Endlich öffnete sie ohne die geringste Warnung die Augen wieder und begann in ihrer kurzen, scharfen Weise:

»Was geschieht, frage ich? Was geschieht? In der Lebensperiode, wo ich am meisten in der Gesellschaft glänzen sollte und aus sehr wichtigen Gründen am meisten in der Gesellschaft zu glänzen wünschte – sehe ich mich in einer Lage, die bis zu einem gewissen Grade mich unfähig macht, in Gesellschaft zu erscheinen. Es ist wahrhaftig schrecklich!«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler, »ich glaube nicht, daß du deshalb zu Hause zu bleiben brauchst.« »Edmund, du lächerlicher Mensch«, versetzte Fanny mit großer Entrüstung; »glaubst du, daß eine Frau in der Blüte der Jugend, und nicht ganz aller persönlichen Reize bar, sich zu solcher Zeit mit ihrer Gestalt dem Vergleich mit einer Frau aussetzen darf, die in jeder andern Beziehung unter ihr steht? Wenn du das glaubst, so bist du ein grenzenloser Narr.«

Mr. Sparkler machte den bescheidenen Einwurf, er habe gemeint, »daß es sich überwinden ließe.«

»Überwinden!« sagte Fanny in grenzenlosem Zorn.

»Eine Zeitlang!« meinte Mr. Sparkler bescheiden.

Diesen letzten schwachen Einwurf keiner Beachtung würdigend, erklärte Mrs. Sparkler mit bitterem Ausdruck, daß es wirklich zu traurig sei und hinreichend, einen zu dem Wunsche zu bringen, man wäre tot.

»Freilich«, sagte sie, als sie sich einigermaßen des Gefühls entschlagen, daß sie grausam behandelt werde, »so empörend es ist, und so grausam es scheint, man muß sich eben darein finden.«

»Namentlich, wenn man es erwarten mußte«, sagte Mr. Sparkler.

»Edmund«, versetzte seine Frau, »wenn du nichts Passenderes zu tun weißt, als die Frau zu beleidigen zu suchen, die dich mit ihrer Hand beehrte, wenn sie sich unglücklich fühlt, so glaube ich, es wäre besser, du gingest zu Bett.«

Mr. Sparkler war sehr unglücklich über diese Beschuldigung und suchte sich aufs zärtlichste und ernstlichste zu entschuldigen. Seine Entschuldigung wurde angenommen; aber Mrs. Sparkler bat ihn, auf die andere Seite des Sofas zu gehen, hinter dem Fenstervorhang zu sitzen und leiser zu sprechen.

»Nun, Edmund«, sagte sie, indem sie ihren Fächer ausstreckte und ihn damit auf Armslänge berührte, »was ich dir sagen wollte, als du wie gewöhnlich zu schwatzen begannst, ist, daß ich nicht länger allein zu sein im Sinne habe und daß, wenn die Umstände mir verbieten, nach Belieben auszugehen, ich es arrangieren muß, beständig die einen oder die andern bei mir zu haben; denn ich kann und will keinen solchen Tag mehr erleben wie den heutigen.«

Mr. Sparklers Ansicht in Beziehung auf diesen Plan war in Kürze die, daß kein Unsinn darin sei. Er fügte hinzu: »Und außerdem, wie du weißt, wirst du bald deine Schwester hier haben –«

»Die liebe Amy, ja!« rief Mrs. Sparkler mit einem liebevollen Seufzer. »Ein allerliebstes kleines Ding. Aber Amy würde allein doch nicht genügen.«

Mr. Sparkler war im Begriff, mit einem fragenden »Nein?« zu antworten. Aber er sah, welche Gefahr für ihn darin lag, und sagte bestätigend: »Nein. Allerdings nicht: sie würde allein nicht genügen.«

»Nein, Edmund. Denn nicht nur sind die Vorzüge dieses kostbaren Kindes von jener stillen Art, daß sie eines Kontrastes bedürfen – Leben und Bewegung um sich her brauchen, um sie ins richtige Licht zu stellen und sie allgemein beliebt zu machen; sondern sie muß in mehr als einer Beziehung aufgeweckt werden.« »Das ist es«, sagte Mr. Sparkler, »aufgeweckt.«

»Bitte, laß das, Edmund! Deine Gewohnheit zu unterbrechen, ohne daß du das geringste von der Welt zu sagen hast, bringt einen in Verwirrung. Das mußt du dir abgewöhnen. Ich sprach von Amy; meine arme Kleine war außerordentlich anhänglich an den armen Papa und hat gewiß seinen Tod schmerzlich beweint und sich sehr gehärmt. Ich habe es ja auch getan. Ich habe den Verlust tief empfunden. Aber Amy wird ihn noch schmerzlicher empfunden haben, da sie die ganze Zeit an Ort und Stelle war und den armen, lieben Papa bis zum letzten Augenblick gepflegt hat; was mir leider nicht vergönnt war.«

Hier hielt Fanny inne, um zu weinen, und sagte dann: »Der liebe, liebe, gute Papa! Was für ein echter Gentleman er war! Was für ein Kontrast mit dem armen Onkel!«

»Die Nachwirkungen dieser Prüfungszeit«, fuhr sie fort, »wird man bei meiner guten kleinen Maus durch Aufheiterung zu verwischen suchen müssen. Ebenso die Nachwirkungen der langen Pflege bei Edwards Krankheit: einer Pflege, die noch nicht vorüber ist und die noch einige Zeit dauern kann, die außerdem uns alle so lange nicht zur Ruhe kommen läßt, bis die Angelegenheiten des armen guten Papa ins reine gebracht werden können. Glücklicherweise sind die Papiere bei seinen Agenten hier alle gesiegelt und verschlossen, wié er sie zurückließ, als er gewissermaßen ahnungsvoll nach England kam; seine Sachen sind in dem geordneten Zustande, daß es mit ihnen Zeit hat, bis mein Bruder Edward sich in Sizilien wieder so weit erholt hat, um herüberzukommen und anzuordnen, was zu tun ist, auszuführen oder was sonst geschehen soll.«

»Er konnte keine bessere Pflegerin bei sich haben«, war Mr. Sparkler so kühn auszusprechen.

»Es ist ein Wunder, daß ich dir recht geben kann«, versetzte seine Frau, indem sie langsam ihre Augenlider etwas nach ihm hinrichtete (sie predigte sonst, als wenn es den Möbeln des Wohnzimmers gälte), »und deinen Worten beipflichten kann. Er konnte keine bessere Pflegerin bei sich haben. Es gibt Zeiten, wo mein liebes Kind für einen lebhaften Geist etwas Ermüdendes hat; aber als Pflegerin ist sie die Vollkommenheit selbst. Die beste Amy, die es gibt!«

Mr. Sparkler, dem nach seinem letzten Erfolg der Mut rasch gestiegen war, bemerkte, Edward schlage sich wahrlich lange herum.

»Wenn ›sich herumschlagen‹ der technische Ausdruck für Unwohlsein ist«, versetzte Mrs. Sparkler, »so ist das allerdings der Fall. Wenn aber nicht, so bin ich außerstande, eine Meinung über die barbarische Sprache abzugeben, die du an Edwards Schwester richtest. Daß er sich das Malariafieber irgendwo geholt – entweder, als er Tag und Nacht nach Rom reiste, wo er doch zu spät angekommen, um den armen lieben Papa noch vor dem Sterben zu sehen, oder bei einer andern unglücklichen Gelegenheit – ist unzweifelhaft, wenn es das ist, was du meinst. Ebenso, daß sein außerordentlich leichtfertiges, Leben die Krankheit sehr gefährlich für ihn gemacht hat.« Mr. Sparkler hielt es für einen ähnlichen Fall, wie den mit einzelnen von unsern jungen Leuten in Westindien, wenn sie das gelbe Fieber bekommen. Mrs. Sparkler schloß ihre Augen wieder und wies jede Bekanntschaft mit unseren jungen Leuten in Westindien oder dem gelben Fieber von sich ab.

»Amy«, fuhr sie fort, als sie ihre Augen wieder öffnete, »wird es nötig haben, daß man sie von den Nachwirkungen mancher ermüdenden und bangen Woche durch Erheiterung befreit. Endlich wird sie nötig haben, daß man ihr die Richtung aufs Niedrige benimmt, die, wie ich wohl weiß, in der Tiefe ihres Herzens ruht. Frage mich nicht, Edmund, was es ist, weil ich dir eine Antwort versagen müßte.«

»Ich will es auch gar nicht wissen, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Ich werde somit manches an meinem lieben Kind gutzumachen haben«, fuhr Mrs. Sparkler fort, »und kann sie nicht bald genug bei mir haben. Die liebenswürdigen und lieben kleinen Füßchen! Was das Ordnen der Angelegenheiten des armen Papa betrifft, so ist mein Interesse dabei durchaus nicht selbstsüchtiger Natur. Papa zeigte sich außerordentlich freigebig gegen mich, als ich heiratete, und ich habe wenig oder nichts zu erwarten. Vorausgesetzt, daß er kein rechtsgültiges Testament gemacht, das Mrs. General ein Legat aussetzt, bin ich zufrieden. Der liebe Papa, der liebe Papa!« Sie weinte wieder, aber Mrs. General war das beste stärkende Mittel. Der Name schon veranlaßte sie, ihre Augen zu trocknen und zu sagen:

«Es ist ein sehr ermutigender Umstand bei Edwards Krankheit, ich erkenne es mit Dank an, und es gibt mir die größte Zuversicht, daß sein Kopf nicht gelitten oder sein Geist schwächer geworden ist – wenigstens nicht bis zu des lieben Papas Tod –, daß er Mrs. General augenblicklich ausbezahlte und sie aus dem Hause wegschickte. Ich muß ihm dafür meinen Beifall zollen. Ich könnte ihm viel vergeben, weil er so rasch und so genau tat, was ich selbst getan haben würde!«

Mrs. Sparkler glühte ganz vor Dankbarkeit, als man zweimal an die Tür pochen hörte. Ein höchst wunderliches Pochen. Leise, als wenn man ein Geräusch zu machen oder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermeiden wollte. Lange, als wenn die Person, die klopfte, mit andern Dingen beschäftigt wäre und aufzuhören vergäße.

»Hallo!« sagte. Mr. Sparkler. »Wer ist das?«

»Doch nicht Amy und Edward, ohne es uns zuvor wissen zu lassen und ohne einen Wagen?« sagte Mrs. Sparkler. »Sieh hinaus!«

Das Zimmer war dunkel, aber die Straße war wegen der Lampen heller. Mr. Sparklers Kopf sah, während er über den Balkon herabschaute, so groß und schwer aus, daß er das Übergewicht zu bekommen und den Unbekannten unten plattzuschlagen drohte.

»Es ist ein Mann«, sagte Mr. Sparkler. »Ich kann nicht sehen, wer – halt, indessen!«

Bei diesem zweiten Gedanken ging er wieder auf den Balkon und sah zum zweiten Male hinab. Er kam zurück, als die Tür unten geöffnet wurde, und meldete, daß, er »seines Erziehers Hut« erkannt zu haben glaube. Er hatte sich nicht getäuscht, denn sein Erzieher trat unmittelbar darauf mit seinem Hut in der Hand in das Zimmer.

»Lichter!« sagte Mr. Sparkler mit einem Wort der Entschuldigung wegen der Dunkelheit.

»Es ist hell genug für mich«, sagte Mr. Merdle.

Als die Lichter hereingebracht waren, sah man Mr. Merdle hinter der Tür stehen und sich auf die Lippen beißen, »Ich dachte, ich wollte euch besuchen«, sagte er. »Ich bin jetzt gerade sehr beschäftigt; und da ich zufällig einen Gang durch die Stadt machte, dachte ich, ich wollte euch besuchen.«

Da er wie zu einem Diner gekleidet war, fragte Fanny, wo er diniert habe?

»Nun«, sagte Mr. Merdle, »ich habe eigentlich nirgends diniert.«

»Sie haben doch gespeist?« sagte Fanny.

»Ja – nein, ich habe eigentlich nicht gespeist«, sagte Mr. Merdle.

Er fuhr mit der Hand über die Stirn und besann sich, als wenn er die Sache nicht ganz gewiß wüßte. Man bot ihm etwas zu essen an. »Nein, ich danke«, sagte Mr. Merdle. »Ich habe keinen Appetit. Ich wollte mit Mrs. Merdle auswärts speisen. Da ich aber die Lust verlor, ließ ich Mrs. Merdle, gerade als wir in den Wagen stiegen, allein gehen und dachte, ich wolle statt dessen einen Gang durch die Stadt machen.«

Ob er Tee oder Kaffee wolle? »Nein, ich danke«, sagte Mr. Merdle. »Ich war einen Augenblick im Klub und trank eine Flasche Wein.«

Nun nahm Mr. Merdle den Stuhl, den Edmund Sparkler ihm angeboten und den er bisher langsam vor sich hergeschoben hatte, wie ein unbehilflicher Mensch, der zum ersten Male ein Paar Schlittschuhe anhat und sich nicht entschließen kann, damit auszuschreiten. Dann stellte er seinen Hut auf einen anderen Stuhl neben sich, sah in denselben hinein, als wenn er zwanzig Fuß tief wäre, und sagte wieder: »Ihr seht, ich wollte euch einen Besuch machen.«

»Sehr schmeichelhaft für uns«, sagte Fanny, »denn Sie sind kein Mann, der Besuche macht.«

»N – ein«, versetzte Mr. Merdle, der sich inzwischen an den Rockärmeln in Haft genommen. »Nein, ich bin kein Mann, der Besuche macht.«

»Dafür haben Sie zu viel zu tun«, sagte Fanny. »Da Sie so viel zu tun haben, Mr. Merdle, ist der Mangel an Appetit bei Ihnen sehr bedenklich, und Sie müssen etwas dafür tun. Sie dürfen nicht krank sein.«

»Oh, ich bin ganz wohl«, versetzte Mr. Merdle, nachdem er die Sache überlegt hatte. »Ich bin so wohl wie immer. Ich bin wohl genug. Ich bin so wohl, wie ich zu sein brauche.«

Der vornehmste Geist des Zeitalters, treu seinem Charakter, immer so wenig wie möglich für sich zu sagen zu haben, und dies nur mit großer Mühe zu sagen, ward wieder stumm. Mrs. Sparkler hätte gern gewußt, wie lange der vornehmste Geist zu bleiben beabsichtige.

»Ich sprach vom armen Papa, als Sie eintraten, Sir.«

»Ah! Ein hübsches Zusammentreffen«, sagte Mr. Merdle.

Fanny sah das nicht ein, aber hielt es für ihre Aufgabe, weiterzusprechen. »Ich sagte«, fuhr sie fort, »meines Bruders Krankheit habe einen Aufschub der Prüfung und Ordnung des Vermögens meines Papa veranlaßt.«

»Ja, ja«, sagte Mr. Merdle. »Sie veranlaßte einen Aufschub.«

»Nicht, daß dieser gerade von Bedeutung wäre«, sagte Fanny.

»Nein«, stimmte Mr. Merdle bei, nachdem er den ganzen Kreis, rings im Zimmer umher, soweit sein Gesichtskreis reichte, gemustert hatte, »nicht daß es von Bedeutung wäre.«

»Das einzige, woran mir, liegt«, sagte Fanny, »ist, daß Mrs. General nichts bekommt.«

» Siewird nichts bekommen«, sagte Mr. Merdle.

Fanny war entzückt, ihn diese Ansicht aussprechen zu hören. Nachdem Mr. Merdle noch einen Blick in die Tiefen seines Hutes geworfen, als wenn er darin etwas zu sehen glaubte, fuhr er sich in die Haare und hing langsam seiner letzten Bemerkung die bestätigenden Worten an: »Oh, sicher nicht. Nein. Sie nicht. Nicht wahrscheinlich.«

Da dieser Gesprächsgegenstand erschöpft zu sein schien und auch Mr. Merdle, so fragte Fanny, ob er Mrs. Merdle und den Wagen unterwegs abholen würde?

»Nein«, antwortete er; »ich werde den kürzesten Weg machen, und Mrs. Merdle« – dabei blickte er über das Innere seiner beiden Hände hin, als wenn er sich sein Schicksal prophezeite– »für sich selbst sorgen lassen. Ich bin überzeugt, es wird ihr gelingen.«

»Wahrscheinlich«, sagte Fanny.

Es entstand eine lange Pause, wahrend der Mrs. Sparkler, sich wieder in ihr Sofa zurücklegend, die Augen schloß und ihre Augenbrauen in die Höhe zog, um sich wie zuvor ganz von weltlichen Dingen abzuwenden.

»Aber«, sagte Mr. Merdle, »ich halte euch und mich auf, Ich dachte, ich wollte euch einen Besuch machen.«

»Gewiß, wir fühlen uns sehr geschmeichelt«, sagte Fanny.

»So will ich denn gehen«, fügte Mr. Merdle hinzu und stand auf. »Könnten Sie mir ein Federmesser leihen?« .

Es sei doch seltsam, bemerkte Fanny lächelnd, daß sie, die es selten über sich vermöchte, auch nur einen Brief zu schreiben, einem Mann von so großen Geschäften etwas leihen sollte. »Nicht wahr?« stimmte Mr. Merdle bei; »aber ich brauche ein solches; und ich weiß, ihr habt zur Hochzeit mehrere kleine Keepsakes bekommen, mit Scheren und Zänglein und dergleichen. Ihr sollt es morgen wiederhaben.«

»Edmund«, sagte Mrs. Sparkler, »öffne mal (aber sehr vorsichtig, ich bitte dich dringend, denn du bist so ungeschickt), öffne das Perlmutterkästchen auf meinem kleinen Tischchen dort, und gib Mr. Merdle das Perlmutterfedermesser.«

»Ich danke«, sagte Mr. Merdle, »aber wenn Sie eines mit einem dunklern Griff hätten, so würde ich das vorziehen.«

»Schildpatt?«

»Ich denke«, sagte Mr. Merdle, »ja. Ich glaube, ich würde Schildpatt vorziehen.«

Edmund erhielt demzufolge Befehl, das Schildpattkästchen aufzumachen und Mr. Merdle das Schildpattfedermesser zu geben. Während er dies tat, sagte seine Frau gnädig zu dem großen Geist:

»Ich werde Ihnen verzeihen, wenn Sie einen Tintenfleck darauf machen.«

»Ich denke nicht, einen Tintenfleck darauf zu machen«, sagte Mr. Merdle.

Der berühmte Besuch streckte jetzt seinen Ärmelaufschlag vor und begrub für einen Augenblick Mrs. Sparklers Hand, Armgelenke, Bracelet und alles darin. Wo sich seine eigene Hand hinverlor, war nicht deutlich, aber Mrs. Sparkler konnte sie so wenig fühlen, als wenn er ein hochverdienter Chelseaveteran oder Greenwichpensionär gewesen wäre.

Vollständig überzeugt, als dieser das Zimmer verließ, daß es der längste Tag sei, der jemals zu Ende gegangen, und daß nie eine Frau existiert, die, nicht ganz aller persönlichen Reize bar, so von einfältigen und langweiligen Leuten gequält würde, trat Fanny auf den Balkon hinaus, um etwas frische Luft zu schöpfen. Tränen des Verdrusses füllten ihre Augen, und sie machten den Eindruck durch sie, als ob der bejahrte Mr. Merdle, wie er die Straße hinabging, spränge und walzte und sich im Kreise herumdrehte, als wäre er von verschiedenen Teufeln besessen.

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Der Fortschritt einer Epidemie.

Daß es mindestens ebenso schwierig sei, einer moralischen Ansteckung Einhalt zu tun als einer physischen; daß eine solche Krankheit mit der Bösartigkeit und Raschheit der Pest umsichgreife; daß die Ansteckung, wenn sie mal begonnen, keinen Stand und Beruf schone, sondern sich auf Leute von der besten Gesundheit werfe und an den unempfänglichsten Konstitutionen hervorbreche, ist eine durch die Erfahrung ebensosehr bestätigte Tatsache, als daß wir menschlichen Geschöpfe in einer Atmosphäre atmen. Ein unschätzbares Glück wäre es für alle, wenn die Angesteckten, in deren Schwäche und Verdorbenheit sich der Giftstoff erzeugte, augenblicklich festgenommen und in strengen Gewahrsam gebracht (wir wollen nicht gerade sagen summarisch erstickt) werden könnten, ehe der Giftstoff sich weiter zu verbreiten imstande wäre.

Wie ein großes Feuer die Luft weit in der Runde mit seinem Krachen erfüllt, so ließ die heilige Flamme, die die mächtigen Barnacles angefacht, die Luft immer weiter und weiter von dem Namen Merdle erschallen. Er ertönte von jeder Lippe und klang in jedes Ohr. Ein Mann wie Mr. Merdle existierte außer ihm nicht, hatte niemals existiert und konnte niemals wieder existieren. Niemand, wie wir früher erwähnten, wußte, was er getan; aber jedermann wußte, daß er das größte Wunder sei, das jemals existierte.

Im Bleeding Heard Yard, wo es keinen unverwendeten halben Penny gab, nahm man ebenso lebhaftes Interesse an diesem Ausbund von Menschen als an der Fondsbörse. Mrs. Plornish, nunmehr Inhaberin eines kleinen Spezerei- und Allerleikrams in einem kleinen Laden am lebhaftesten Ende des Hofes, oben an der Treppe, in dem ihr kleiner alter Vater und Maggy sie unterstützten, predigte gewöhnlich ihren Kunden über den Ladentisch hinüber von ihm. Mr. Plornish, der einen kleinen Anteil an dem Geschäft eines kleinen Bauunternehmens in der Nachbarschaft hatte, sagte, mit der Kelle in der Hand, wenn er oben auf den Gerüsten oder auf den Dachziegeln der Häuser stand, wie die Leute ihm erzählten, sei Mr. Merdle der Mann, »der alles in bezug auf das, was wir alle erwarten, sage ich euch, ins Geleise bringen könnte und, sage ich euch, soviel wir brauchen, sicher auch ins Haus schaffen wird.« Von Mr. Baptist, dem einzigen Mieter von Mr. und Mrs. Plornish, flüsterten sich die Leute zu, er lege die Ersparnisse, die er bei seinem einfachen und mäßigen Leben mache, zurück, um sie in einer oder der andern von Mr. Merdles Unternehmungen anzulegen. Die Bewohnerinnen des Bleeding Heard Yard teilten, wenn sie ihr Lot Tee und ihren Zentner Klatsch holten, Mr. Plornish mit, daß, wie sie von ihrer Base Mary Anne gehört hätten, die in diesem Fache arbeite, die Kleider von Mrs. Merdle drei Frachtwagen füllen würden. Daß sie eine so schöne Frau sei, wie nur irgendwo eine existierte, und einen Busen habe wie Marmor. Daß, soviel sie gehört, ihr Sohn aus einer früheren Ehe bei der Regierung angestellt worden; daß dieser erste Gemahl derselben ein General gewesen, und Armeen habe er ins Feld geführt und sei siegreich aus dem Kampfe hervorgegangen, wenn man alles glauben dürfe, was erzählt werde. Daß man behaupte, Mr. Merdle habe gesagt, wenn sie es ihm der Mühe wert machten, das ganze Ministerium zu übernehmen, wollte er es ohne Profit tun, aber es übernehmen und dabei verlieren könne er nicht. Daß jedoch nicht zu erwarten gewesen, er würde verlieren, denn seine Wege seien, ohne Übertreibung dürfe man das sagen, mit Gold gepflastert; daß es aber sehr zu bedauern wäre, daß man nicht etwas Hübsches zusammengeschossen, um ihm die Übernahme der Mühe wert zu machen; denn solche und nur solche Leute wüßten, wie hoch das Brot und das Fleisch im Preise gestiegen; und solche und nur solche Leute könnten und würden die teuren Preise wieder herunterbringen.

So epidemisch und heftig war das Fieber im Bleeding Heard Yard, daß es selbst an Mr. Pancks‘ Einsammlungstagen nicht von den Patienten wich. Die Krankheit nahm bei solchen Gelegenheiten die eigentümliche Form an, daß die Kranken eine unergründliche Entschuldigung und einen unerschöpflichen Trost in Anspielungen auf den Zaubernamen fanden. »Nun denn!« sagte Mr. Pancks gewöhnlich zu einem säumigen Mietmann, »bezahlen Sie! Vorwärts!«

»Ich habe es nicht«, antwortet der Säumige. »Ich sage Ihnen die Wahrheit, wenn ich behaupte, ich habe auch nicht einen einzigen Sixpence.«

«Das geht nicht, wie Sie wissen«, versetzt dann Mr. Pancks. »Sie werden doch nicht glauben, daß das gehen kann?«

Der Schuldner gibt mit einem niedergeschlagenen »Nein, Sir«, zu, daß er das selbst nicht glaube.

»Mein Hauseigentümer läßt sich das nicht gefallen, wie Sie sich denken können«, antwortet Mr. Pancks. »Er schickt mich nicht deshalb her. Bezahlen Sie! Vorwärts!«

Der Schuldner antwortet dann: »Ach, Mr. Pancks. Wenn ich der reiche Herr wäre, dessen Name in jedermanns Munde ist, – wenn ich Merdle hieße, Sir, würde ich augenblicklich bezahlen und mit Freuden bezahlen.«

Zwiegespräche über die Mietefrage fanden gewöhnlich an den Haustüren oder in den Gängen statt und dies in Gegenwart verschiedener tief teilnehmender »blutender Herzen«. Eine Anspielung dieser Art rief stets bei ihnen ein leises zustimmendes Gemurmel hervor, als ob jene ganz überzeugend wäre; und der säumige Schuldner, mochte er auch vorher noch so ratlos und niedergeschlagen sein, fühlte sich davon immer ein wenig getröstet.

»Wenn ich Mr. Merdle wäre, Sir, so sollten Sie keine Ursache haben, über mich zu klagen. Nein, wahrhaftig nicht!« fährt der Schuldner mit Kopfschütteln fort. »Ich würde dann so rasch bezahlen, Mr. Pancks, daß Sie das Geld gar nicht erst zu verlangen brauchten.«

Dabei hörte man abermals das zustimmende Gemurmel, das sagen wollte, es sei unmöglich, etwas Besseres vorzubringen, und es stehe dem Bezahlen wohl am nächsten.

Mr. Pancks sah sich dann genötigt, während er die Sache in sein Notizbuch eintrug, sich mit den Worten zu begnügen: »Gut! Sie werden Exekution ins Haus bekommen und hinausgesetzt werden; das ist’s, was Sie treffen wird. Das nützt nichts, mir da von Mr. Merdle vorzuschwatzen. Sie sind mal nicht Mr. Merdle, so wenig wie ich.«

»Nein, Sir,« antwortete der Schuldner. »Ich wünschte nur, Sie wären es, Sir.«

»Sie wären nachsichtiger gegen uns, wenn Sie Mr. Merdle wären, Sir,« fuhr dann der Schuldner, mutiger werdend, fort, »und es wäre besser für alle Teile. Besser für uns und besser für Sie. Sie würden dann nicht nötig haben, uns zu quälen, und brauchten sich selbst auch nicht zu quälen. Es würde Ihnen leichter ums Herz sein, Sir, und Sie würden milder gegen andre sein, wenn Sie Mr. Merdle wären.«

Mr. Pancks, den diese unpersönlichen Komplimente immer sehr verblüfften, erholte sich nie wieder nach einem solchen Angriff. Er konnte nur an seinen Nägeln beißen und auf den nächsten säumigen Schuldner losdampfen. Der Chorus der »blutenden Herzen« sammelte sich dann um den Schuldner, den er soeben verlassen, und die übertriebensten Gerüchte in Beziehung auf die Masse baren Geldes in Mr. Merdles Besitz gingen dann zu ihrem nicht geringen Tröste im Kreise herum.

Nach einer der vielen solchen Niederlagen an einem der vielen Zinstage machte Mr. Pancks nach Beendigung der Tagesgeschäfte, mit seinem Notizbuch unter dem Arm, einen Besuch in Mr. Plornishs Winkel. Mr. Panck’s Zweck war nicht geschäftlicher, sondern sozialer Natur. Er hatte einen schweren Tag gehabt und bedurfte einiger Erheiterung. Er stand jetzt auf freundschaftlichem Fuße mit der Familie Plornish, da er oft bei ähnlichen Gelegenheiten sie besucht und mit ihnen von Miß Dorrit geplaudert und Erinnerungen ausgetauscht hatte.

Mrs. Plornishs Wohnstübchen hinter dem Laden war nach ihrer eigenen Angabe eingerichtet und gemalt worden und bot auf der Seite des Ladens ein kleines Phantasiestück, das Mrs. Plornish große Freude machte. Dieser poetische Reiz, der dem Stübchen gegeben wurde, bestand darin, daß man die Wand so gemalt, daß sie das Äußere einer strohgedeckten Hütte darstellte: der Künstler hatte (so effektvoll, als es die höchst unproportionierten Verhältnisse nur erlaubten) die wirkliche Tür und das wirkliche Fenster darauf angebracht. Die bescheidene Sonnenblume und die Rosenpappel waren in üppiger Pracht und großem Gedeihen vor dieser ländlichen Wohnung dargestellt, während eine dicke Masse Rauchs, die aus dem Kamin aufstieg, von dem guten Leben drinnen oder vielleicht davon zeugte, daß er lange nicht gekehrt worden. Ein treuer Hund war in dem Moment dargestellt, wie er von der Schwelle auffährt und dem befreundeten Besucher an die Füße springt: ein rundes Taubenhaus, von einer Wolke Tauben umhüllt, erhob sich hinter dem Gartengeländer. An der Tür, wenn sie geschlossen war, befand sich ein Messingschild mit der Aufschrift: »Glückshütte, T. und M. Plornish«: die beiden Namen gehörten Mann und Frau. Keine Poesie und keine Kunst hatte je größeren Reiz für die Phantasie, als die Verbindung beider in dieser gemalten Hütte für Mrs. Plornish hatte. Es war ihr einerlei, daß Plornish die Gewohnheit hatte, sich daran zu lehnen, wenn er nach der Arbeit seine Pfeife rauchte, wenn sein Hut den Taubenschlag und alle Tauben verdeckte, wenn sein Rücken das Haus verschwinden ließ und seine Hände in der Tasche den blühenden Garten ausrodeten und das ganze umliegende Land wüstlegten. Für Mrs. Plornish blieb es immer ein außerordentlich schönes Hüttchen, eine herrliche Täuschung; und sie machte sich nichts daraus, daß Mr. Plornishs Auge einige Zoll über dem Giebelschlafzimmer im Dache war. Nachdem der Laden geschlossen war, hinauszukommen und ihren Vater ein Lied drinnen singen zu hören, war für sie ein wahrhaftes ländliches Fest, das goldne Zeitalter war wieder angebrochen. Und wahrhaftig, wenn diese herrliche Zeit hätte wiederkehren können oder überhaupt je existiert hätte, so möchte man bezweifeln, ob sie je herzlicher bewundernde Töchter hätten zeugen können als diese arme Frau.

Von dem Klingeln an der Ladentür aufmerksam gemacht, kam sie aus der »Glückshütte«, um zu sehen, wer es sei. »Ich dachte mir’s doch, daß Sie es sein würden, Mr. Pancks«, sagte sie, »denn es ist Ihr gewöhnlicher Abend, nicht wahr? Sehen Sie, hier ist auch schon der Vater auf den Klang der Glocke wie ein flinker junger Ladendiener herbeigeeilt. Sieht er nicht prächtig aus? Vater freut sich mehr, daß Sie es sind, als wenn’s ein Kunde wäre, denn er plaudert gar zu gern: und wenn die Rede auf Miß Dorrit kommt, so ist ihm das um so lieber. Sie haben Vater noch nie so gut bei Stimme gehört wie gegenwärtig«, sagte Mrs. Plornish, und ihre eigne Stimme zitterte vor Stolz und Freude. »Er hat uns vergangenen Abend Strophen in einer Weise gesungen, daß Plornish aufstand und ihm folgende Rede über den Tisch hinüber hielt: ›John Edward Nandy‹, sagte Plorish zum Vater, ›ich habe Euch nie solchen Triller singen hören wie heute abend.‹ Ist das nicht wohltuend, Mr. Pancks; nicht wahr?«

Mr. Pancks, der den Alten in seiner freundlichsten Weise angeschnaubt hatte, antwortete bejahend und fragte beiläufig, ob der muntre Altrobursche schon da sei? Mrs. Plornish antwortete, nein, noch nicht, er sei mit einer Arbeit nach dem Westend gegangen und habe gesagt, er wolle zur Teezeit wieder da sein. Mr. Pancks wurde dann gastfreundlich eingeladen, in die »Glückshütte« zu treten, wo er den älteren Master Plornish fand, der eben aus der Schule gekommen war. Als er den jungen Schüler über die Fortschritte, die er heute in der Schule gemacht, leicht examinierte, fand er, daß die vorgerückteren Schüler, die schon große Buchstaben und das M. schrieben, als Vorschrift die Worte »Merdle, Millionen« erhalten hatten.

»Und wie geht es Ihnen im Geschäft, Mrs. Plornish«, sagte Pancks, »da wir gerade von Millionen sprechen?«

»Es geht seinen soliden Gang, Sir«, versetzte Mrs. Plornish. »Lieber Vater, würdest du wohl in den Laden gehen und das Fenster ein wenig putzen, ehe der Tee fertig ist, du verstehst das so vortrefflich.«

John Edward Nandy humpelte hinaus, ganz vergnügt, den Wunsch seiner Tochter erfüllen zu können. Mrs. Plornish, die immer bei Erwähnung von Geldangelegenheiten vor dem alten Mann in tödlicher Verlegenheit war, da sie befürchtete, eine ihrer Äußerungen möchte seinen Stolz verletzen und ihn verleiten, wieder in das Armenhaus zu gehen, konnte nun ganz offenherzig gegen Mr. Pancks sein.

»Es ist wahr, daß das Geschäft seinen soliden Gang geht«, sagte Mrs. Plornish, indem sie leiser sprach, »und auch eine ausgezeichnete Kundschaft hat. Das einzige, was ihm im Wege steht, Sir, ist der Kredit.«

Diese Fatalität, die die meisten Leute, die in Geschäftsbeziehung zu den Bewohnern des »blutenden Herzens« standen, in ihrer ganzen Strenge fühlten, war ein großer Stein des Anstoßes für das Geschäft von Mrs. Plornish. Als Mr. Dorrit sie in dem Laden eingerichtet hatte, legten die »blutenden Herzen« eine große Rührung und den festen Entschluß an den Tag, sie dabei zu unterstützen, ein Zug, der der menschlichen Natur große Ehre macht. Anerkennend, daß sie als ein langjähriges Mitglied ihrer Gemeinde einen Anspruch auf ihre Großmut habe, verpflichteten sie sich mit lebhafter Teilnahme, komme was da wolle, bei Mrs. Plornish zu kaufen und ihre Gönnerschaft keinem andern Geschäft zuzuwenden. Von diesen edlen Gefühlen getragen, hatten sie sich sogar etwas übernommen und Luxus im Ankauf von Waren in dem Spezereigeschäft getrieben, indem sie die Linie überschritten, die sie sonst gewöhnlich zogen: dabei entschuldigten sie sich gegenseitig damit, wenn sie zu viel täten, geschehe es ja nur für eine Nachbarin und Freundin: für wen sollte man denn über die Schnur hauen, wenn nicht für eine solche? So unterstützt ging das Geschäft außerordentlich glänzend, und die vorrätigen Artikel gingen reißend ab. Kurz, wenn die »blutenden Herzen« nur bezahlt hätten, wäre das Geschäft ein äußerst brillantes gewesen: da sie sich jedoch ausschließlich aufs Borgen verlegten, so hatten die wirklich realisierten Gewinne noch nicht begonnen, sich in den Büchern zu zeigen.

Mr. Pancks machte ein wahres Stachelschwein aus sich, indem er bei der Betrachtung dieser Sachlage sich beständig durch die Haare strich, als der alte Mr. Nandy, mit geheimnisvoller Miene wieder in die Hütte tretend, die Anwesenden aufforderte, hinauszukommen und zu sehen, wie seltsam sich Mr. Baptist gebare, dem etwas begegnet sein müsse, das ihn erschreckt hätte. Alle drei gingen in den Laden hinaus und sahen durch das Fenster, wie Mr. Baptist, blaß und aufgeregt, folgende Wunderlichkeiten den Zuschauern zum besten gab. Zuerst gewahrte man ihn, wie er oben an der Treppe, die in den Hof hinabführte, die Straße hinauf und hinab blickte, wobei er mit dem Kopf vorsichtig dicht an der Ladentür hervorlugte. Nach sehr ängstlichem Forschen kam er aus seinem Hinterhalt hervor und ging rasch die Straße hinab, als wenn er ganz fortgehen wollte: dann kehrte er plötzlich um und ging im selben Schritt und mit derselben Verstellung die Straße hinauf. Als er ebensoweit die Straße hinauf als hinunter gegangen war, ging er quer über den Weg und verschwand. Was dieses letzte Manöver beabsichtigte, ward erst klar, als er von der Treppe herab plötzlich in den Laden trat, woraus hervorging, daß er einen großen und versteckten Umweg an Doyce und Clennam vorbei gemacht haben und dann gerade über den Hof gelaufen sein mußte. Er war deshalb, wie man sich denken kann, ganz außer Atem, und sein Herz schien rascher zu schlagen als die kleine Ladenglocke, die von seinem hastigen Türzuwerfen hinter ihm zitterte und klingelte.

»Hallo, alter Junge!« sagte Mr. Pancks. »Altro, alter Bursche! Was gibt’s?«

Mr. Baptist oder Signor Cavaletto verstand nunmehr das Englische beinahe so gut als Mr. Pancks selbst und konnte es auch sehr gut sprechen. Nichtsdestoweniger mischte sich Mrs. Plornish, mit verzeihlichem Stolz auf ihr Talent, das sie zu allem nur nicht zur Italienerin machte, als Dolmetscherin in das Gespräch.

»Ich fragen«, sagte Mrs. Plornish, »was geschehen sein?«

»Kommen Sie in die kleine ›Glückshütte‹, Padrona«, versetzte Mr. Baptiste, indem er noch verstohlener als gewöhnlich mit verkehrter Hand den rechten Zeigefinger rückwärtsdrehte. »Kommen Sie!«

Mrs. Plornish war stolz auf den Titel Padrona, dem sie nicht so sehr die Bedeutung Herrin vom Hause als Meisterin der italienischen Sprache beilegte. Sie erfüllte deshalb augenblicklich Mr. Baptists Wunsch, und sie traten alle in die Hütte.

»Ich hoffe, Sie sein nicht erschrocken«, sagte Mrs. Plornish und machte sich mit ihrem gewöhnlichen Reichtum an Auswegen zum Dolmetscher gegenüber von Mr. Pancks. »Was geschehen sein? Padrona wünsche wissen?«

»Ich habe jemand gesehen«, versetzte Baptist. »Ich habe ihn rincontrato.«

»Ihn? wer ihn sein?« fragte Mrs. Plornish.

»Ein schlechter Mann. Der schlechteste Mensch. Ich hoffte, ihn nie wieder in meinem Leben zu sehen.«

»Wie wissen, daß schlecht sein?« fragte Mrs. Plornish.

»Das ist gleichgültig, Padrona. Ich weiß es nur zu gut.«

»Er Euch aber gesehen?« fragte Mr. Plornish.

»Nein, ich hoffe nicht. Ich glaube nicht.«

»Er sagte«, erklärte dann Mrs. Plornish, sich mit gnädiger Herablassung an ihren Vater und Mr. Pancks wendend, »daß er einem schlechten Mann begegnet sei, jedoch hoffe, nicht von ihm gesehen worden zu sein. Nun«, fragte Mr. Plornish, zum italienischen Idiom zurückkehrend, »warum hoffen, daß schlechter Mann Euch nicht gesehen?«

»Beste Padrona«, versetzte der kleine Ausländer, den sie so gnädig beschützte, »bitte, fragen Sie nicht. Noch einmal sage ich, es ist gleichgültig. Ich will ihn nicht sehen, ich will nicht von ihm gekannt sein – nimmer, nimmer. Genug, Schönste. Lassen wir die Sache!«

Der Gegenstand war ihm so unangenehm und brachte seine gewöhnliche Munterkeit in solche Verwirrung, daß Mrs. Plornish sich enthielt, weiter in ihn zu dringen, um so mehr, als der Tee schon einige Zeit auf dem Feuer gezogen hatte. Aber sie war nichtsdestoweniger sehr überrascht und neugierig, wenn sie auch keine Fragen mehr an ihn richtete; das gleiche war mit Mr. Pancks der Fall, dessen ausdrucksvolles Atmen, seit der kleine Mann eingetreten war, sehr schwerfällig geworden, wie bei einer Lokomotive, die mit einer großen Last einen steilen Abhang hinaufarbeitet. Maggy, die jetzt besser gekleidet war als früher, aber dem monströsen Charakter ihrer Haube treu geblieben, hatte seit dem ersten Augenblick mit offenem Mund und Augen im Hintergrund gestanden, und die starrenden und gaffenden Augen verloren nichts an Breite durch die vorzeitige Beseitigung der Sache. Wenn auch nicht mehr von der Sache geredet wurde, schien man doch von allen Seiten noch daran zu denken; selbst den beiden kleinen Plornishs ging die Sache nicht aus dem Kopf, denn sie nahmen an dem Abendessen in einer Weise teil, als wenn das Essen von Butter und Brot beinahe überflüssig würde durch die peinliche Wahrscheinlichkeit, daß der schlimmste aller Menschen ehestens erscheinen werde, um sie alle aufzuessen. Mr. Baptist begann nach und nach etwas munterer zu werden; aber er verließ nicht einen Augenblick den Stuhl, den er hinter der Tür und dicht am Fenster eingenommen, obgleich es nicht sein gewöhnlicher Platz war. Sooft die kleine Glocke klang, fuhr er zusammen und sah versteckt hinaus, mit dem Zipfel des kleinen Vorhangs in der Hand und dem übrigen vor dem Gesicht, offenbar nichts weniger als beruhigt, daß der Gefürchtete trotz all seiner Umwege und Schliche mit der furchtbaren Sicherheit eines Bluthundes ihn ausfindig machen würde.

Das Kommen von zwei oder drei Kunden und von Mr. Plornish, was verschiedene Male Unruhe hervorbrachte, veranlaßte Mr. Baptist häufig genug, seine Manöver zu machen, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich zu richten. Der Tee war getrunken und die Kinder zu Bett, und Mrs. Plornish brachte bereits den schüchternen Wunsch vor, ihr Vater möchte ihnen Chloë singen, als die Glocke wiederum ertönte und Mr. Clennam eintrat.

Clennam hatte lange über seinen Büchern und Briefen gesessen; denn die Wartezimmer des Circumlocution Office raubten ihm viel Zeit. Außerdem war er sehr niedergebeugt und unruhig durch den jüngsten Vorfall in seiner Mutter Hause. Er sah angegriffen und verlassen aus. Er fühlte es auch; aber nichtsdestoweniger ging er von seinem Kontor nach diesem Ende des Hofes, um ihnen mitzuteilen, daß er einen weiteren Brief von Miß Dorrit erhalten habe.

Diese Neuigkeit machte in der Hütte eine Sensation, die die allgemeine Aufmerksamkeit von Mr. Baptist ablenkte. Maggy, die sich alsbald in den Vordergrund drängte, schien die Nachrichten von ihrer kleinen Mutter gleicherweise mit Ohren, Nase, Mund und Augen einzusaugen, nur daß die letzteren von Tränen verschleiert waren. Sie war besonders erfreut, als Clennam ihr versicherte, daß es in Rom Spitäler gebe, und zwar sehr gut eingerichtete Spitäler. Mr. Pancks stieg im Ansehen, weil er in dem Briefe besonders erwähnt war. Jedermann war erfreut und voll Teilnahme und Clennam für seine Mühe wohl belohnt.

»Aber Sie sind müde, Sir. Lassen Sie mich eine Tasse Tee für Sie zurechtmachen«, sagte Mrs. Plornish, »wenn Sie sich herablassen wollen, eine solche in der Hütte anzunehmen, und vielen Dank auch, daß Sie uns so freundlich im Andenken behalten.«

Mr. Plornish, der es für seine Pflicht als Wirt hielt, seine persönliche Anerkennung hinzuzufügen, brachte sie in der Form vor, die immer sein höchstes Ideal der Verbindung von Zeremonie und Offenheit darstellte.

»John Edward Nandy«, sagte Plornish, indem er sich an den Alten wandte. »Sir. Es ist nicht zu oft, daß Ihr anspruchslose Handlungen ohne einen Funken von Stolz seht, und wenn Ihr deshalb sie seht, so erkennt sie mit dankbarer Verehrung an, denn wenn Ihr sie nicht seht und braucht sie einmal, wo Ihr sie nicht zu sehen bekommt, so ist es natürlich, daß Euch ganz recht geschieht.«

Auf diese Anrede antwortete Mr. Nandy:

»Ich bin ganz und gar Eurer Meinung, Thomas, und Eure Meinung ist dieselbe wie die meine, und deshalb kein Wort weiter davon, und da ich mit dieser Meinung nicht hinter dem Berge halte, sondern frei heraussage, ja, Thomas, ja, und diese Meinung ist die, in der Ihr und ich immer mit allen übereinstimmen und da also keine Verschiedenheit der Meinungen obwaltet, so kann nur eine Meinung sein, ganz gewiß, ja, Thomas, ja!«

Arthur sprach es mit etwas weniger Formalität aus, wie sehr es ihm wohltue, daß sie eine so kleine Aufmerksamkeit von seiner Seite so freundlich aufnähmen, und erklärte hinsichtlich des Tees, daß er noch nicht gespeist und direkt nach Hause gehen wollte, um sich nach einem angestrengten Tage zu erquicken, sonst würde er das gastfreundliche Anerbieten gern angenommen haben. Da Mr. Pancks ziemlich geräuschvoll seinen Dampf für die Abfahrt anspannte, schloß er mit der Frage an diesen Herrn, ob er ihn begleiten wollte? Mr. Pancks sagte, er wünsche nichts angelegentlicher, und die beiden verabschiedeten sich von der »Glückshütte«.

»Wenn Sie mit mir nach Hause gehen wollten, Pancks«, sagte Arthur, als sie auf der Straße waren, »und das Diner oder Souper, wie Sie’s heißen mögen, mit mir teilen wollten, so würden Sie mir nahezu einen Liebesdienst erzeigen; denn ich bin heute abend sehr müde und schlimmer Laune.«

»Verlangen Sie einen größern Dienst als diesen von mir«, sagte Pancks, »wenn Sie einen brauchen, und er soll getan werden.«

Zwischen diesem exzentrischen Charakter und Clennam hatte sich ein beständig wachsendes stilles Einvernehmen und Vertrauen hergestellt, seitdem Mr. Pancks auf dem Hofe des Marshalseagefängnisses über den Rücken von Mr. Rugg geflogen war. Als an dem denkwürdigen Tage der Abreise der Familie der Wagen wegfuhr, hatten diese beiden zusammen ihm nachgesehen und waren langsam miteinander weitergegangen. Als der erste Brief von Klein-Dorrit ankam, hörte niemand mit größerem Interesse seinen Inhalt als Mr. Pancks. Der zweite Brief, der gegenwärtig sich in Clennams Brusttasche befand, erwähnte seinen Namen ganz besonders. Obgleich er nie ein Geständnis oder eine Beteuerung gegen Clennam hatte laut werden lassen, und obgleich, was er soeben gesagt, wenig genug den Worten nach war, war doch die Überzeugung immer lebhafter und stärker bei Clennam geworden, daß Mr. Pancks in seiner eigentümlichen seltsamen Weise eine Neigung zu ihm gefaßt. Wenn man alle diese Fäden zusammenwand, so wurde Pancks an diesem Abend ein wahres Notankertau für ihn.

»Ich bin ganz allein«, sagte Arthur, als sie weitergingen. »Mein Kompagnon ist verreist, um an einem andern Ort etwas in der Branche unsres Geschäfts, die er besorgt, zu ordnen, und Sie werden ganz ungeniert sein.«

»Danke. Sie haben wohl eben nicht besonders auf den kleinen Altro geachtet, nicht wahr?« sagte Pancks.

»Nein. Warum?«

»Er ist ein munterer Junge, und ich bin ihm gut«, sagte Pancks. »Es muß ihm heute etwas Unangenehmes zugestoßen sein. Haben Sie keine Idee, was das sein mag, was ihn so außer Fassung gebracht?«

»Sie setzen mich in Erstaunen! Nein, durchaus nicht.«

Mr. Pancks setzte die Gründe zu seiner Frage auseinander. Arthur war ganz unvorbereitet und außerstande, eine Erklärung dafür beizubringen.

»Vielleicht fragen Sie ihn«, sagte Pancks, »da er ein Fremder ist?«

»Was soll ich ihn fragen?« versetzte Clennam.

»Was er auf der Seele hat.«

»Ich glaube, ich sollte zuerst selbst sehen, ob er etwas auf der Seele hat. Ich fand ihn immer und in jeder Beziehung so fleißig, so dankbar (für das wenige) und so zuverlässig, daß es aussehen möchte, als wenn ich ihm mißtraute. Und das wäre doch sehr ungerecht.«

»Wohl wahr«, sagte Pancks. »Aber wahrhaftig, Sie dürften kein Hauseigentümer sein, Mr. Clennam. Sie wären viel zu zartfühlend.«

»Was das betrifft«, versetzte Clennam lachend, »so habe ich auch kein großes Anrecht auf Cavaletto. Sein Holzschnitzen ist sein Broterwerb. Er hat die Schlüssel der Fabrik in Verwahrung, wacht jede zweite Nacht und vertritt gewissermaßen die Stelle eines Hausmeisters; aber wir haben wenig Arbeit für sein Fach und Talent, nur was wir haben, geben wir ihm. Nein, ich bin mehr sein Berater als sein Herr. Wenn ich mich seinen ständigen Rechtsfreund und Bankier nenne, so komme ich der Wahrheit noch näher. Da ich gerade davon spreche, daß ich sein Bankier sei, ist es nicht seltsam, Pancks, daß die Spekulationen, die jetzt in so vieler Leute Kopf herumgehen, auch den kleinen Cavaletto so lebhaft beschäftigen?«

»Spekulationen?« versetzte Pancks mit Schnauben. »Was für Spekulationen?«

»Die Spekulationen von Merdle.« »Ah! die Unternehmungen«, sagte Pancks. »Ja, ja! Ich wußte nicht, daß Sie von den Unternehmungen sprechen.«

Seine rasche Art, zu antworten, veranlaßte Clennam ihn zweifelhaft anzusehen, ob er mehr meine, als er sagte. Da jedoch seine Antwort von rascherem Gang und einem entsprechend lebhafteren Arbeiten der Maschinen begleitet war, so verfolgte Arthur die Sache nicht weiter, und sie kamen bald bei seinem Hause an.

Ein Diner, bestehend aus Suppe und Taubenpastete, auf einem kleinen runden Tisch vor dem Kamin aufgetragen und mit einer Flasche guten Weins versüßt, ölte Pancks Räderwerk auf höchst wirksame Weise ein; so daß, als Clennam seine türkische Pfeife holte und Mr. Pancks eine zweite türkische Pfeife übergab, der letztere sich außerordentlich behaglich fühlte.

Sie dampften eine Zeitlang schweigend, Pancks wie ein Dampfboot, das Wind, Flut, ruhige See und alle andern Bedingungen zu einer glücklichen Fahrt hat. Er war der erste, der zu sprechen anfing und sagte:

»Ja, Unternehmungen ist das richtige Wort.«

Clennam antwortete mit seinem früheren Blick: »Ah!«

»Ja, Ich komme darauf zurück, wie Sie sehen«, sagte Pancks.

»Ja. Ich sehe, Sie kommen darauf zurück«, versetzte Clennam, der neugierig war, warum.

»Ist es nicht seltsam, daß die Sache auch dem kleinen Altro im Kopfe herumgeht? Hm?« sagte Pancks, während er weiterrauchte, »Stellten Sie nicht die Frage so?«

»O ja, das war’s, was ich sagte.«

»So! Aber denken Sie sich nur, der ganze Hof ist voll davon. Sie kommen mir an meinen Zinstagen alle damit, wo ich nur hinkommen mag. Ob sie bezahlen oder nicht bezahlen. Merdle, Merdle, Merdle. Immer Merdle.«

»Sehr seltsam, wie diese Verblendung sich aller bemeistert«, sagte Arthur.

»Nicht wahr?« versetzte Pancks. Nachdem er eine oder zwei Minuten fortgeraucht, fügte er trockner, als sich mit seiner kürzlichen Ölung vertrug, hinzu: »Weil, wie Sie wissen, die Leute die Sache nicht verstehen.«

»Nicht im geringsten«, stimmte Clennam bei.

»Nicht im geringsten«, rief Pancks. »Sie verstehen nichts von Zahlen. Verstehen nichts von Geldfragen. Machen keine Berechnung. Haben nie eine solche gemacht, Sir!«

»Hätten sie das getan –« war Clennam im Begriff zu sagen, als Pancks ohne eine Veränderung des Gesichts einen seine gewöhnlichen Nasen- oder Kehlanstrengungen übertreffenden Ton hervorbrachte, daß er innehielt.

»Hätten sie das getan?« wiederholte Pancks in fragendem Tone.

»Ich dachte – Sie sprächen«, sagte Arthur, der in Verlegenheit war, welchen Namen er dieser Unterbrechung geben sollte.

»Durchaus nicht«, sagte Pancks. »Noch nicht. In einer Minute vielleicht. Wenn sie also das getan?« bemerkte Clennam, der nicht recht wußte, wie er seinen Freund nehmen sollte, »nun, so denke ich, würden sie es besser gewußt haben.«

»Wieso, Mr. Clennam?« fragte Pancks rasch und mit einem seltsamen Ausdruck, als wenn er seit dem Beginn des Gesprächs mit dem schweren Kaliber geladen gewesen, das er jetzt abschoß. »Sie haben recht, wissen Sie. Sie verstehen es nicht, aber sie haben recht.«

»Recht, wenn Sie Cavelettos Meinung, mit Mr. Merdle zu spekulieren, teilen?«

»Allerdings, Sir«, sagte Pancks. »Ich bin auf die Sache näher eingegangen. Ich habe die Berechnungen gemacht. Ich habe nachgerechnet. Sie sind gut und sicher.« Erleichtert von seiner Last, als er soweit gekommen war, sog Mr. Pancks einen so langen Zug, als seine Lungen erlaubten, aus seiner türkischen Pfeife und sah Clennam schlau und unverwandt an, während er aus- und eindampfte.

In solchen Augenblicken begann Mr. Pancks den gefährlichen Giftstoff, mit dem er geschwängert war, auszuströmen. Das ist die Art, wie die Krankheiten sich verbreiten; das ist die seine und verdeckte Weise, wie sie um sich greifen.

»Glauben Sie, mein guter Pancks«, fragte Clennam emphatisch, »daß Sie zum Beispiel Ihre tausend Pfund bei einem solchen Unternehmen aufs Spiel setzen würden?«

»Gewiß«, sagte Pancks, »und habe es auch bereits getan, Sir.«

Mr. Pancks sog abermals langsam den Rauch ein und dann noch einmal und warf dabei einen langen schlauen Blick auf Clennam.

»Ich sage Ihnen, Mr. Clennam, ich habe mich dabei beteiligt«, sagte Pancks. »Es ist ein Mann von ungeheuren Mitteln – enormem Kapitalvermögen – und von großem Einfluß bei der Regierung. Es sind die besten Spekulationen, die im Augenblick im Gange sind. Sie sind sicher. Sie sind gewiß.«

»So!« versetzte Clennam, indem er zuerst seinen Gefährten ernst ansah und dann ernst in das Feuer blickte. »Sie setzen mich in Erstaunen!«

»Bah!« versetzte Pancks. »Sagen Sie das nicht, Sir. Sie sollten das selbst so machen. Warum machen Sie´s nicht wie ich?«

Von wem Mr. Pancks die epidemische Krankheit geerbt, konnte er ebensowenig sagen, als wenn er unbewußterweise von einem Fieber befallen worden wäre. Zuerst, wie manche physische Krankheiten, aus der Verderbtheit der Menschen entstanden, und dann in ihrer Unwissenheit weiter verbreitet, stecken diese Epidemien nach einiger Zeit gar manche Leidende an, die weder unwissend noch verderbt sind. Mr. Pancks mochte dir Krankheit selbst von einem Subjekte dieser Art geerbt haben oder nicht, jedenfalls erschien er vor Clennam als ein solcher, und der Krankheitsstoff, den er verbreitete, war um so bösartiger. »Gewiß, Sir!« versetzte Pancks keck, indem er Dampf ausblies. »Und ich wünschte nur, es wäre zehnmal soviel.«

Clennam lagen an diesem Abend zweierlei Dinge auf seiner vereinsamten Seele: das eine war seines Kompagnons lang hinausgeschobene Hoffnungen; das andre, was er bei seiner Mutter gesehen und gehört hatte. In dem erleichternden Bewußtsein, Mr. Pancks bei sich zu haben und diesem Manne sein Vertrauen schenken zu können, fing er von beiden Dingen zu reden an, und beide brachten ihn mit vermehrter und beschleunigter Kraft auf den Ausgangspunkt zurück.

Es machte sich auf die einfachste Weise. Indem er die Spekulationsfrage, nach einer Pause, während der er durch den Rauch seiner Pfeife auf das Feuer geblickt hatte, verließ, erzählte er Pancks, wie und warum er mit dem großen Staatsdepartment in Berührung stehe. »Es ist eine harte Sache gewesen und ist es noch für Doyce«, sagte er zuletzt mit dem ganzen ehrlichen Gefühl, das der Gegenstand immer in ihm erweckte.

»Allerdings, sehr hart,« gab Pancks zu. »Aber Sie haben die Sache für ihn in die Hand genommen, Mr. Clennam.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie besorgen die Geldangelegenheiten des Geschäfts?«

»Ja, so gut ich kann.«

»Besorgen sie jedenfalls besser, Sir«, sagte Pancks. »Belohnen ihn für seine Mühe und seine fehlgeschlagenen Hoffnungen. Bieten ihm die Chancen, die die Zeit herbeiführt. Er, der geduldige und vielbeschäftigte Techniker, würde doch nie auf diese Weise Nutzen ziehen können. Er verläßt sich auf Sie, Sir.«

»Ich tue mein Bestes, Pancks«, versetzte Clennam, dem etwas unbehaglich wurde. »Um diese neuen Unternehmungen, von denen ich keine Erfahrung habe, genau zu prüfen, dazu glaube ich, nicht mehr zu taugen. Ich werde alt.«

»Alt werden?« rief Pancks. »Ha, ha!«

Es lag etwas so unzweifelhaft Ungemachtes in diesem wunderbaren Lachen und in dem langandauernden Schnauben und Pusten, das Mr. Pancks Erstaunen über diesen Gedanken und die Zurückweisung desselben ausdrückte, daß es außer allem Zweifel war, es sei ihm ernst damit.

»Alt werden?« rief Pancks. »Hört, hört, hört! Alt? Hört, hört!«

Diese positive Weigerung, auch nur einen einzigen Augenblick diesen Gedanken zu hegen, die sich in Mr. Pancks‘ fortdauerndem Schnauben wie in den Ausrufungen aussprach, ließen auch Arthur nicht länger daran festhalten. Ja, er befürchtete, es möchte Mr. Pancks in dem heftigen Kampf zwischen dem Atem, den er ausstieß, und dem Rauch, den er hinunterschluckte, ein Unglück passieren. Dieses Verzichten auf den zweiten Gesprächsgegenstand brachte ihn auf den dritten.

»Und Sie haben wirklich Ihre tausend Pfund in der Unternehmung angelegt?« Clennam hatte sich das Wort bereits angeeignet. »Jung, alt oder in mittleren Jahren, Pancks«, sagte er, als eine gelegene Pause eintrat, »ich befinde mich in einer sehr peinlichen und ungewissen Lage, in einem Zustand, der mich bezweifeln läßt, ob überhaupt etwas, was mir zu gehören scheint, auch wirklich mir gehört. Soll ich Ihnen sagen, wie das kommt? Soll ich Ihnen volles Vertrauen schenken?«

»Allerdings Sir«, sagte Pancks, »wenn Sie mich desselben für würdig halten.«

»Gewiß.«

»Das können Sie auch!« Mr. Pancks‘ kurze und scharfe Antwort, bekräftigt durch das plötzliche Ausstrecken seiner kohligen Hand, war ungemein ausdrucksvoll und überzeugend. Arthur schüttelte ihm warm die Hand.

Indem er nun seine alten Befürchtungen so milde darstellte wie möglich, ohne unverständlich zu werden, und seine Mutter dabei niemals mit Namen nannte, sondern nur unbestimmt von einer Verwandten sprach, vertraute er Mr. Pancks in Umrissen die Befürchtungen mit, die er hegte, und die Zusammenkunft, bei der er zugegen gewesen war. Mr. Pancks hörte mit solchem Interesse zu, daß er, die Annehmlichkeit der türkischen Pfeife ganz vergessend, sie an das Kamingitter unter die Feuereisen stellte und während der ganzen Zeit, solange ihm erzählt wurde, die Zinken und Haken seiner Haare mit den Händen am ganzen Kopf in die Höhe strich, daß er, als die Sache zum Schluß kam, wie ein Handwerkerhamlet aussah, der mit dem Geist seines Vaters spricht.

»Bringt mich wieder auf die Unternehmungen zurück, Sir!« rief er laut, indem er dabei Clennam lebhaft auf das Knie schlug. »Ich meine nicht, daß Sie sich arm machen sollen, um ein Unrecht, das Sie gar nicht begangen, wieder gutzumachen. Das ist Ihre Sache. Ein Mann muß für sich selbst sorgen. Aber ich sage nur so viel. Da Sie fürchten, Sie werden Geld brauchen, um Ihr eigen Blut von Schmach und Schande zu retten – so suchen Sie soviel wie möglich zu erwerben!«

Arthur schüttelte seinen Kopf, aber sah ihn auch gedankenvoll an,

»Werden Sie so reich, wie Sie können, Sir«, beschwor ihn Pancks mit mächtiger Konzentration aller seiner Energie auf diesen Rat. »Seien Sie so reich, wie Sie es mit Ehren können. Es ist Ihre Pflicht. Nicht Ihretwegen, sondern andrer wegen tun Sie’s. Fassen Sie die Zeit beim Schopfe. Der arme Mr. Doyce (der wirklich alt wird) muß sich auf Sie verlassen. Ihr Verwandter hängt von Ihnen ab. Sie wissen nicht, was alles von Ihnen abhängt.«

»Schon recht, schon recht!« versetzte Arthur. »Genug für heute abend.«

»Noch ein Wort, Mr. Clennam«, versetzte Pancks, »dann soll es genug sein für heute abend. Warum sollten Sie allen Gewinn den Unersättlichen, Schelmen und Betrügern überlassen? Warum wollen Sie allen Gewinn, der zu machen ist, meinem Hauseigentümer und dergleichen Leuten überlassen? Und doch tun Sie es. Wenn ich sage Sie, so meine ich Leute wie Sie. Sie wissen, daß Sie das tun. Ich muß das jeden Tag meines Lebens sehen. Ich sehe nichts anderes. Es ist mein Beruf, es zu sehen. Deshalb sage ich«, drängte Pancks, »man muß wagen und gewinnen.«

»Aber wenn es heißt, wagen und verlieren, wie ist es dann?« sagte Arthur.

»Kann nicht geschehen, Sir«, versetzte Pancks. »Ich habe einen tiefen Blick in die Sache getan. Der Name überall obenan – ungeheure Mittel – enormes Kapital – großartige Stellung! – hohe Verbindungen – Einfluß auf die Regierung. Kann nicht sein!«

Nach dieser sie Sache zu» Abschluß, bringenden Auseinandersetzung, beruhigte sich Mr. Pancks nach und nach wieder und ließ sein Haar sich wieder so weit senken, als dies der größten Überredungskunst möglich war, reklamierte die Pfeife wieder aus den Feuereisen, stopfte sie aufs neue und rauchte sie aus. Sie sprachen wenig mehr, leisteten jedoch einander Gesellschaft, indem sie schweigend dieselben Gegenstände verfolgten, und schieden nicht vor Mitternacht. Als Mr. Pancks Abschied nahm, steuerte er, nachdem er Mr. Clennam die Hand geschüttelt, ganz um ihn herum, ehe er zur Tür hinausdampfte. Dies nahm Arthur als eine Versicherung auf, daß er sich ganz auf Pancks verlassen könne, wenn er je in die Notwendigkeit versetzt werden sollte, seines Beistandes zu bedürfen, sei es nun in einem von den Punkten, von denen heute abend die Rede gewesen, oder in irgendeiner andern ihn berührenden Angelegenheit.

Während des ganzen nächsten Tages, und selbst solange seine Gedanken auf ganz andere Dinge gerichtet waren, fiel ihm bisweilen Mr. Pancks Spekulation mit seinen tausend Pfund und die Behauptung ein, daß er einen tiefen Blick in die Sache getan hätte. Er dachte, wie sanguinisch Mr. Pancks in dieser Sache sei, während er doch sonst keinen sanguinischen Charakter habe. Er dachte an das große Nationaldepartement und an die Freude, die es ihm gewähren würde, Doyce in besseren Umständen zu sehen. Er dachte an den dunkel drohenden Ort, der in seiner Erinnerung den Namen Heimat trug, und an die sich zusammenziehenden Schatten, die ihn noch dunkler drohend denn sonst machten. Er bemerkte aufs neue, daß, wohin er sich wandte, er den berühmten Mann Merdle sah, hörte oder berührte; er fand es sogar schwer, ein paar Stunden lang hintereinander an seinem Pult zu bleiben, ohne daß sich durch irgendeine oder andere Vermittlung dieser Name seinen körperlichen Sinnen dargeboten hatte. Er begann es doch seltsam zu finden, daß er überall war, und daß niemand als er ihm zu mißtrauen scheine. Und doch, wenn er soweit war, begann er sich zu erinnern, daß ja selbst er ihm nicht mißtraue; er hatte sich nur zufällig davon ferngehalten.

Solche Symptome sind, wenn eine Krankheit der Art grassiert, die Zeichen des Krankwerdens.

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Rats erholen.

Als die Briten am Ufer der gelben Tiber erfuhren, daß ihr intelligenter Landsmann Mr. Sparkler einer der Lords des Circumlocution Office geworden, nahmen sie es als eine Nachricht auf, die sie nicht näher anging als jede andere Neuigkeit – jedes andre Ereignis oder Verbrechen – in den englischen Zeitungen. Die einen lachten, die andern sagten, als Entschuldigung, die Stelle sei eine Sinekure, und jeder Dummkopf, der seinen Namen richtig schreiben könne, sei gut genug für dieselbe: noch andre endlich, und dies waren die feierlichsten politischen Orakel, sagten, Decimus handle klug, sich zu verstärken, und der einzige konstitutionelle Zweck aller Stellen, die Decimus zu vergeben habe, sei, daß Decimus sich verstärke. Einige gallige Briten waren allerdings vorhanden, die diesen Glaubensartikel nicht unterschreiben wollten: aber ihre Einwürfe waren rein theoretischer Art. In praktischer Hinsicht ließen sie die Sache gleichgültig liegen, als wenn es die Sache andrer irgendwo oder nirgendwo befindlichen Briten wäre. In gleicher Weise behaupteten viele Briten in der Heimat, wenigstens vierundzwanzig Stunden lang nachher, daß diese unsichtbaren und namenlosen Briten »die Sache in die Hand nehmen sollten« und daß, wenn sie sich’s ruhig gefallen ließen, sie es auch nicht besser verdienten. Aber welcher Klasse diese trägen und gleichgültigen Briten angehörten, und wo diese unglücklichen Geschöpfe steckten, und weshalb sie sich verbargen, und woher es beständig kam, daß sie ihr Interesse vernachlässigten, während so viele andere Briten sich gar nicht erklären konnten, warum sie sich nicht um ihre Interessen kümmerten, war weder den Leuten an dem Ufer der gelben Tiber noch den Leuten am Ufer der schwarzen Themse klar.

Mrs. Merdle verbreitete die Nachricht, wie sie auch die Gratulationen empfing, mit der sorglosesten Grazie, die die Sache sehr zu ihrem Vorteil hob, wie die Fassung den Juwel. Ja, sagte sie, Edmund hat die Stelle angenommen. Mr. Merdle wünschte, daß er sie annehme, und er hat sie angenommen. Sie hoffe, die Stellung werde Edmund gefallen, aber gewiß wisse sie es nicht. Sie würde ihn einen großen Teil des Jahres in der Stadt festhalten, und er ziehe das Land vor. Es sei jedoch keine unangenehme Stellung – und es sei doch eine Stellung. Es sei nicht zu leugnen, daß es ein Kompliment für Mr. Merdle und keineswegs schlecht sei, wenn Edmund Geschmack daran finde. Es sei ganz gut, daß er etwas zu tun habe, und sei auch ganz gut, daß er etwas dafür bekäme. Ob es besser für Edmund, als wenn er in der Armee diente, das müsse man erst abwarten.

So sprach der Busen, geübt in der Kunst, scheinbar nur wenig Wert auf etwas zu legen und es dadurch gerade im Wert zu steigern. Indessen machte Henry Gowan, den Decimus abgeworfen, die Rundreise bei allen seinen bekannten, von der Porta del Popolo bis nach Albano, und beteuerte fast (wenn auch nicht ganz) mit Tränen in den Augen, daß Sparkler der gutmütigste, einfachste, kurz, der liebenswürdigste Esel sei, der jemals auf der Staatswiese gegrast: und daß nur eines ihm (Gowan) Freude bereitet, falls jener (der geliebte Esel) diesen Posten nicht bekommen, und das wäre gewesen, wenn er (Gowan) den Posten erhalten hätte. Er sagte, er passe ganz vortrefflich für Sparkler. Es sei nichts dabei zu tun und das würde er allerliebst machen, und dabei sei eine hübsche Besoldung einzustreichen und diese würde er allerliebst einstreichen; es sei eine angenehme, ganz passende, vortreffliche Stellung, und er vergab dem Verleiher derselben beinahe, daß er ihn übergangen, in der Freude darüber, daß der liebe Esel, für den er eine so große Vorliebe hatte, einen so guten Stall bekommen habe. Damit ließ sein Wohlwollen sich noch nicht genügen. Er nahm sich die Mühe, bei allen geselligen Gelegenheiten Mr. Sparkler hervorzuholen und ihn in der Gesellschaft zu zeigen; und obgleich diese rücksichtsvolle Handlung stets damit endigte, daß dieser junge Mann sich in einem traurigen und hilflosen geistigen Lichte zeigte, so ließ sich doch nicht an der freundlichen Absicht zweifeln.

Nur der Gegenstand von Mr. Sparklers Herzensneigung erlaubte sich daran zu zweifeln. Miß Fanny war nun in der schwierigen Lage, allgemein als dieser Gegenstand bekannt zu sein und Mr. Sparkler nicht verabschiedet zu haben, obgleich sie ihn sehr launisch behandelte. Daher war sie genug mit diesem Gentleman verknüpft, um sich kompromitiert zu fühlen, wenn er sich mehr als gewöhnlich lächerlich zeigte, und daher kam sie, da es ihr keineswegs an raschen Einfällen fehlte, ihm gegen Gowan zu Hilfe und leistete ihm sehr gute Dienste. Aber während sie dies tat, schämte sie sich seiner, unentschlossen, ob sie ihn gehen lassen oder ihn noch entschiedener aufreizen sollte, durch die Befürchtung in Verwirrung gesetzt, daß sie sich jeden Tag mehr in das Netz ihrer Ungewißheiten verstrickte, und gequält von dem Argwohn, daß Mrs. Merdle über ihre Verlegenheit triumphiere. Bei so stürmisch bewegtem Gemüt war es nicht zu verwundern, daß Miß Fanny eines Abends von einem Konzert und Ball bei Mrs. Merdle in großer Aufregung nach Hause kam, und als die Schwester sie liebreich trösten suchte, diese von dem Toilettentisch wegstieß, an dem sie saß, und zornig weinend mit gehobenem Busen erklärte, daß sie alle Menschen verabscheue und wünschte, sie wäre tot.

»Liebe Fanny, was gibt es? Sage es mir.«

»Was es gibt, du kleiner Maulwurf«, sagte Fanny. »Wenn du nicht die Blindeste der Blinden wärest, so brauchtest du mich nicht zu fragen. Der Gedanke, zu behaupten zu wagen, daß man Augen im Kopfe habe, und mich doch zu fragen, was es gebe?«

»Handelt es sich um Mr. Sparkler, meine Liebe?«

»Mi–ster Spark–ler!« wiederholte Fanny mit unendlicher Verachtung, als wenn er das letzte im Sonnensystem wäre, was möglicherweise ihrem Geiste nahe sein konnte. »Nein, Miß Fledermaus, das ist’s nicht.«

Alsbald jedoch wieder bereuend, daß sie ihrer Schwester solche Namen gegeben, erklärte sie unter Seufzern, sie wisse, sie mache sich verhaßt, aber die Leute drängten sie dazu.

»Ich glaube, du bist heute abend nicht ganz wohl, liebe Fanny.«

»Welch ein Unsinn!« versetzte das junge Mädchen ärgerlich werdend, »ich bin so wohl wie du. Vielleicht könnte ich sagen besser, ohne damit zu prahlen.«

Die arme Klein-Dorrit, die nicht wußte, wie sie ein beruhigendes Wort anbringen sollte, ohne befürchten zu müssen, zurückgewiesen zu werden, hielt es für das beste, ruhig zu bleiben. Anfangs nahm Fanny auch dies übel auf, indem sie ihrem Spiegel versicherte, daß von allen Prüfungen, die ein Mädchen ertragen müßte, eine Schwester, die nicht begreifen wolle, die größte Prüfung sei. Sie wisse, daß sie zu Zeiten in schrecklicher Stimmung sei; sie wisse, sie mache sich verhaßt, nichts wäre so gut für sie, als wenn man es ihr offen sagte; da sie jedoch eine Schwester habe, die nichts begreifen wolle, so sage man es ihr nie, und daher komme es, daß sie geradezu gereizt und gestachelt sei, sich unangenehm zu machen. Außerdem (sagte sie zornig zu ihrem Spiegel) wolle sie nicht, daß man ihr verzeihe. Es sei doch nicht richtig, wenn sie sich immer durch die Nachsicht einer jüngern Schwester demütigen lassen müsse. Das sei die Kunst, – daß man sie immer in die Lage bringe, wo ihr vergeben werden müsse, ob sie’s nun wolle, oder nicht. Zuletzt brach sie in heftiges Weinen aus, und als ihre Schwester kam und sich dicht neben sie setzte, um sie zu trösten, sagte sie: »Amy, du bist ein Engel!«

»Aber ich will dir etwas sagen, liebe Kleine«, sagte Fanny, als die Sanftmut ihrer Schwester sie etwas beruhigt hatte, »es ist jetzt an einem Punkt angekommen, daß es nicht mehr so fortgehen kann und soll, wie es im Augenblick geht, und daß auf die eine oder andere Art ein Ende gemacht werden muß.«

Da die Erklärung unbestimmt, obgleich sehr peremtorisch war, gab Klein-Dorrit zur Antwort: »Laß uns näher von der Sache sprechen.«

»Ganz recht, meine Liebe«, stimmte Fanny zu, während sie ihre Augen trocknete. »Laß uns von der Sache sprechen. Ich bin jetzt wieder vernünftig, und du sollst mir deinen Rat geben. Willst du mir deinen Rat geben, mein süßes Kind?«

Selbst Amy lächelte über diese Idee, sagte jedoch: »Ich will es, Fanny, so gut ich kann.«

»Dank dir, liebste Amy«, versetzte Fanny, indem sie sie küßte. »Du bist mein Anker.«

Nachdem sie ihren Anker mit großer Liebe geküßt, nahm Fanny einen Flacon mit feinem Parfüm vom Tisch und rief ihrem Mädchen, daß sie ihr ein feines Taschentuch bringe. Dann entließ sie die Dienerin für diese Nacht und machte sich bereit, sich Rats zu holen, indem sie von Zeit zu Zeit sich die Augen und Stirn mit dem Tuche betupfte, um sich zu kühlen.

»Meine Liebe«, begann Fanny, »unsre Charaktere und Ansichten sind sehr verschiedener Art (küsse mich wieder, mein Liebling), um es sehr wahrscheinlich zu machen, daß dich das, was ich zu sagen im Begriff bin, überraschen werde. Was ich sagen will, meine Liebe, ist, daß wir, trotz unseres großen Vermögens, sozial nicht die richtige Stellung einnehmen. Du wirst nicht verstehen, was ich meine, Amy?«

»Ich glaube doch, daß ich dich verstehen werde, wenn du noch ein paar Worte mehr sagst«, versetzte Amy mild.

»Gut, mein Liebe, was ich meine, ist dies, daß wir im ganzen Neulinge im fashionablen Leben sind.«

»Ich bin überzeugt, Fanny«, warf Klein-Dorrit in ihrem Eifer zu bewundern ein, »niemand wird dies an dir entdecken.«

»Gut, mein liebes Kind, vielleicht nicht«, sagte Fanny, »obgleich es recht freundlich und liebevoll von dir ist, du kostbares Mädchen, das zu sagen.« Hier tupfte sie die Stirn ihrer Schwester und blies ein wenig darauf. »Aber du bist, wie jedermann weiß, das liebste kleine Ding, das jemals existiert! Um jedoch wieder auf das frühere zu kommen, mein Kind. Papa ist außerordentlich vornehm in seinem Wesen und sehr gut unterrichtet; aber er ist in einigen Kleinigkeiten etwas verschieden von andern Gentlemen in seinen Vermögensumständen: teils infolgedessen, was er durchgemacht, der arme liebe Mann; teils, glaube ich, weil es ihm oft einfällt, daß andere Leute daran denken, während er mit ihnen spricht. Der Dünkel, meine Liebe, ist ganz unpräsentabel. Obgleich ein lieber Mann, dem ich sehr zugetan bin, ist er doch sozial höchst anstößig. Edward ist furchtbar verschwenderisch und liederlich. Ich sage damit nicht, daß etwas Ungentiles dabei sei – weit entfernt –, aber ich meine, daß er nichts geschickt angreift und daß er, wenn ich mich so ausdrücken darf, für den Ruf der Liederlichkeit, in den er sich setzt, nicht genug bekommt.«

»Der arme Edward!« seufzte Klein-Dorrit, und die ganze Geschichte der Familie lag in diesem Seufzer.

»Ja. Und auch du Arme und ich Arme«, versetzte Fanny ziemlich scharf. »Sehr wahr. Ferner, meine Liebe, haben wir keine Mutter, nur eine Mrs. General. Und ich sage dir noch einmal, mein Liebling, diese Mrs. General, wenn ich ein gewöhnliches Sprichwort umkehren und auf sie anwenden darf, ist eine Katze in Handschuhen, die Mäuse fangen wird. Diese Frau, davon bin ich fest überzeugt, wird unsere Stiefmutter werden.«

»Ich kann mir kaum denken, Fanny«, – Fanny unterbrach sie.

»Widersprich mir nicht, Amy«, sagte sie, »weil ich es besser weiß.« Da sie fühlte, daß sie wieder etwas scharf gewesen, tupfte sie ihrer Schwester Stirn und blies darauf. »Um jedoch wieder auf die Sache zu kommen, meine Liebe. Es entsteht jetzt für mich die Frage (aber ich bin stolz und lebhaft, Amy, wie du wohl weißt, vielleicht zu sehr), ob ich mich entschließen und es auf mich nehmen soll, der Familie durchzuhelfen.«

»Wie?« fragte Amy ängstlich.

»Ich will mich nicht von Mrs. General bestiefmuttern lassen«, sagte Fanny, ohne die Frage zu beantworten, »und ich will mich, auch in keiner Weise von Mrs. Merdle patronisieren und quälen lassen.«

Klein-Dorrit legte ihre Hand auf die Hand, die das Parfümfläschchen hielt, und sah dabei noch ängstlicher aus. Fanny, die ihre eigene Stirn mit dem heftigen Tupfen, das sie nun begann, eigentlich mehr strafte, fuhr etwas heftig fort:

»Daß er auf die eine oder andere Art – das Wie ist gleichgültig –- eine sehr gute Stellung bekommen hat, kann niemand leugnen. Daß er eine gute Partie ist, kann ebenfalls niemand leugnen. Und was die Frage betrifft, ob er gescheit oder nicht gescheit, so zweifle ich sehr, ob ein gescheiter Mann für mich taugte. Ich kann mal nicht nachgeben. Ich wäre nicht imstande, mich ihm genügend unterzuordnen.«

»Ah, meine liebe Fanny!« rief Klein-Dorrit, die eine Art von Schrecken erfaßt hatte, als sie begriff, was ihre Schwester meinte. »Wenn du jemanden liebtest, würden alle diese Gefühle sich ändern. Wenn du jemanden liebtest, würdest du nicht mehr du selbst sein, sondern dich ganz in der Hingabe an ihn aufgeben und verlieren. Wenn du ihn liebtest, Fanny«, – Fanny hatte mit Tupfen aufgehört und sah sie fest an.

«Oh, wirklich!« rief Fanny. »Wirklich? Der Tausend, wieviel gewisse Leute über gewisse Dinge wissen. Man sagte, jedermann habe einen Lieblingsgegenstand, und ich scheine wirklich den deinen berührt zu haben, Amy. Ich habe nur gescherzt, du kleines Ding«, sagte sie und betupfte dabei die Stirn ihrer Schwester; »aber sei kein albernes Kätzchen, und sprich nicht leichtsinnig und beredt von entarteten Unmöglichkeiten. So! Nun will ich aber wieder auf meine Sache zurückkommen.«

»Liebe Fanny, laß mich dir zuerst sagen, daß es mir weit lieber wäre, wenn wir für ein dürftiges Auskommen arbeiteten, als daß ich dich reich und mit Mr. Sparkler verheiratet sehen sollte.«

»Ich soll dich sagen lassen, meine Liebe?« versetzte Fanny. »Nun, ganz natürlich werde ich dich alles sagen lassen. Du brauchst dir hoffentlich keinen Zwang anzutun. Wir sind beieinander, um uns offen auszusprechen. Und was das Heiraten mit Mr. Sparkler betrifft, so habe ich nicht die geringste Absicht, es heute nacht, meine Liebe, oder morgen früh zu tun.«

»Aber irgendeinmal?«

»Niemals, soviel ich für jetzt weiß«, antwortete Fanny gleichgültig. Dann plötzlich aus ihrer Gleichgültigkeit in glühende Unruhe übergehend, fügte sie hinzu: »Du sprichst von gescheiten Männern, du kleines Ding. Es ist ganz hübsch und leicht, von gescheiten Männern zu sprechen: aber wo sind sie? Ich sehe sie nirgend in meiner Nähe!«

»Meine liebe Fanny, in der kurzen Zeit« –

»Kurze Zeit oder lange Zeit«, unterbrach Fanny, »ich bin unsrer Stellung überdrüssig, unsre Stellung ist mir zuwider, und wenig wäre nötig, um mich zu bewegen, sie zu verändern. Andre Mädchen, die anders erzogen und in andern Verhältnissen sind, würden sich vielleicht über das wundern, was ich sage oder tue. Meinetwegen, ihr Leben und ihr Charakter weist ihnen die Richtschnur an; mir weist sie mein Leben und mein Charakter an.«

»Fanny, meine liebe Fanny, du weißt, daß du Eigenschaften besitzest, die dich zur Gattin eines Mr. Sparkler weit überlegenen Mannes befähigen.«

»Amy, meine liebe Amy«, versetzte Fanny, ihre Worte parodierend, »ich weiß, daß ich eine entschiedenere, bestimmtere Stellung in der Gesellschaft einnehmen möchte, durch die ich mich mit größerem Nachdruck gegen diese insolente Frau behaupten könnte,«

»Würdest du dann – vergib mir die Frage, Fanny – ihren Sohn heiraten?«

»Nun, vielleicht«, sagte Fanny mit triumphierendem Lächeln. »Es kann viel weniger versprechende Wege geben, zu seinem Ziele zu kommen als diese, meine Liebe. Diese insolente Person denkt jetzt vielleicht, daß es ein großer Erfolg ihrer Taktik wäre, wenn sie ihren Sohn an mich losschlüge und mich losschälte. Aber es fällt ihr vielleicht wenig ein, wie ich’s ihr vergelten würde, wenn ich ihren Sohn heiratete. Ich würde ihr in allem opponieren und ihr den Rang streitig machen. Ich würde mir dies als Lebensaufgabe stellen.«

Fanny setzte das Riechfläschchen nieder, als sie soweit gekommen war, und ging im Zimmer auf und ab: sie blieb jedoch immer stehen, sobald sie sprach.

»Eines, mein Kind, könnte ich sicher tun: ich könnte sie älter machen, und ich würde es auch tun!«

Sie ging wieder auf und nieder.

»Ich würde von ihr als von einer alten Frau sprechen. Ich würde tun, als wüßt‘ ich – wenn ich’s auch nicht wüßte, aber ich wüßt‘ es von ihrem Sohne –, wie alt sie sei. Und sie sollte mich sagen hören, liebevoll, ganz wie es mir gebührt, und voll Hingebung, wie gut sie aussehe, wenn man ihr Alter in Anschlag bringe. Ich könnte sie älter aussehen machen, sofern ich weit jünger neben ihr wäre. Ich bin vielleicht nicht so hübsch wie sie, ich bin keine Autorität in dieser Beziehung, wie ich glaube: aber ich weiß, ich bin hübsch genug, um ihr ein Dorn im Auge zu sein. Und ich wäre es auch wirklich.«

»Aber, meine liebe Schwester, möchtest du dich auf solche Weise zu einem unglücklichen Leben verurteilen?«

»Das wäre ja kein unglückliches Leben für mich, Amy. Das wäre das Leben, wie ich’s brauche. Sei es nun, daß meine Disposition oder meine Umstände mich darauf hinweisen, das gilt gleich: ich brauche mal ein solches Leben mehr als ein anderes.«

Es klang eine gewisse Verzweiflung aus diesen Worten heraus, aber mit einem kurzen stolzen Lachen begann sie aufs neue im Zimmer auf und ab zu gehen, und nachdem sie vor einem großen Spiegel vorübergekommen, begann sie abermals stehenzubleiben. »Figur! Figur, Amy! Wohl, die Frau hat eine hübsche Figur. Ich will ihr geben, was ihr gebührt, und leugne es nicht. Aber ist sie darin allen andern so sehr überlegen, daß sie geradezu unnahbar wird? Auf mein Wort, ich bin davon nicht so sehr überzeugt. Gib einer viel jüngern Frau, wenn sie verheiratet ist, die Erlaubnis, sich so zu kleiden, wie sie, wir wollen sehen, wie es dann steht, meine Liebe!«

Es lag etwas in diesem Gedanken, das ihr angenehm war und schmeichelte, wodurch sie in bessere Stimmung kam und sich wieder setzte. Sie nahm ihrer Schwester Hände in die ihren, klatschte mit allen vier Händen über ihrem Kopfe, während sie Amy lachend ins Gesicht sah, und sagte:

»Und die Tänzerin, Amy, die sie ganz vergessen hat – die Tänzerin, die auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir hatte, und an die ich sie auch nie erinnere, o Liebe, nein! –, sollte durch ihr Leben tanzen und ihr im Wege herumtanzen nach einer Melodie, die ihre anmaßende Ruhe ein wenig aufrütteln würde. Ein ganz klein wenig, meine liebe Amy, nur ein ganz klein wenig!«

Da sie dem ernsten und bittenden Blicke Amys begegnete, brachte sie die vier Hände herunter und legte nur eine auf Amys Mund.

»Widersprich mir nicht, Kind«, sagte sie in ernsterem Ton, »weil es doch nichts nützt. Ich verstehe diese Sachen weit besser als du. Ich bin noch durchaus nicht entschlossen, aber es wird schon kommen. Wir haben nun die Sache ruhig miteinander besprochen und können zu Bett gehen. Du allerbestes und liebstes kleines Mäuschen, gute Nacht!« Mit diesen Worten lichtete Fanny ihren Anker und ließ – nachdem sie sich so viel Rats geholt – des Ratholens für diesmal genug sein.

Von dieser Zeit an beobachtete Amy die Behandlung, die Mr. Sparkler von seinem Unterdrücker zuteil wurde, mit neuen Gründen, allem, was zwischen ihnen vorging, Bedeutung beizulegen. Es gab Zeiten, wo Fanny durchaus nicht imstande zu sein schien, seine geistige Schwäche zu ertragen, und wo sie so ärgerlich und ungeduldig darüber wurde, daß sie gar nicht übel Lust hatte, ihm den Abschied zu geben. Zu andern Zeiten kam sie besser mit ihm zurecht, wo er sie amüsierte und das Bewußtsein der Überlegenheit diese andere Wagschale in der Schwebe zu erhalten schien.

Wenn Mr. Sparkler nicht der getreueste und gehorsamste Liebhaber gewesen wäre, so hätte die Härte, mit der er behandelt wurde, ihn wohl dazu bringen können, den Schauplatz seiner Leiden zu fliehen und mindestens die ganze Entfernung von Rom nach London zwischen sich und die Zauberin zu bringen. Aber er hatte keinen größeren Eigenwillen denn ein Boot, das von einem Dampfschiff ins Schlepptau genommen ist, und er folgte seiner grausamen Gebieterin, von gleich starker Macht in Bewegung gesetzt, durch dick und dünn. Mrs. Merdle sprach während dieser Zeit wenig mit Fanny, aber desto mehr von ihr. Sie war wie gezwungen, sie durch ihre Lorgnette anzusehen und in der allgemeinen Unterhaltung sich Lobeserhebungen über ihre Schönheit und die Unwiderstehlichkeit derselben abringen zu lassen. Der herausfordernde Charakter, den Fanny annahm, wenn sie diese Lobsprüche hörte (wie dies gewöhnlich geschah), zeugte nicht von Konzessionen, die sie dem unparteiischen Busen machte: aber die größte Rache, die der Busen nahm, war, recht vernehmlich zu sagen: »Eine verwöhnte Schönheit – aber bei diesem Gesicht und dieser Gestalt, kann man sich darüber wundern?«

Es mochte ungefähr einen Monat oder sechs Wochen nach dem Abend sein, an dem man sich Rats geholt, als Klein-Dorrit ein neues Einverständnis zwischen Mr. Sparkler und Fanny zu entdecken schien. Wie wenn ein Vertrag stipuliert worden, sprach Mr. Sparkler kaum je, ohne erst Fanny zuvor um Erlaubnis angesehen zu haben. Diese junge Dame war zu diskret, um ihn je wieder anzusehen: hatte Mr. Sparkler jedoch Erlaubnis zu sprechen, so schwieg sie: hatte er diese nicht, so sprach sie selbst. Außerdem ward es in die Augen springend, daß sooft Henry Gowan ihm den Freundschaftsdienst erweisen wollte, ihn bloßzustellen, er nicht bloßzustellen war. Und nicht allein das, sondern er pflegte auch stets ohne die mindeste nachweisbare Beziehung in der Welt etwas zu sagen, was einen solchen Stachel in sich hatte, daß Gowan augenblicklich sich zurückzog, als wenn er seine Hand in einen Bienenkorb gesteckt hätte.

Noch ein andrer Umstand bestärkte Klein-Dorrit nachdrücklich in ihren Besorgnissen, obgleich die Sache an und für sich unbedeutend war. Mr. Sparklers Benehmen gegen sie wurde anders. Es wurde brüderlich. Bisweilen, wenn sie in den äußersten Kreisen der Gesellschaft war – sei es nun im eigenen Hause, bei Mrs. Merdle oder sonstwo –, sah sie sich unversehens von Mr. Sparklers Arm umschlungen. Mr. Sparkler gab nie die geringste Erklärung über diese Aufmerksamkeit, sondern lächelte nur mit der Miene eines läppischen, zufriedenen, gutmütigen Menschen, der Eigentumsrechte geltend macht, was bei einem so schwerfälligen Menschen ominös ausdrucksvoll war.

Klein-Dorrit war eines Tages zu Hause und dachte mit schwerem Herzen an Fanny. Sie hatten ein Zimmer an dem einen Ende ihrer Reihe von Salons, das fast ganz aus einem über die Straße hervorragenden Erker bestand und das malerische Leben und Treiben des Korso hinauf und hinunter beherrschte. Um drei oder vier Uhr nachmittags, nach englischer Zeitrechnung, war die Aussicht von diesem Fenster sehr hübsch und eigentümlich: und Klein-Dorrit saß gewöhnlich in sinnendes Träumen versunken hier, wie sie in Venedig auf ihrem Balkon die Zeit zu verscheuchen gewöhnt gewesen war. Als sie eines Tages so dasaß, wurde sie sanft auf der Schulter berührt, und Fanny sagte: »Nun, meine liebe Amy«, und nahm neben ihr Platz. Ihr Sitz war ein Teil des Fensters; wenn eine Prozession oder eine derartige Feierlichkeit war, so pflegten sie bunte Teppiche aus diesem Fenster hinauszuhängen und knieten oder saßen auf einem Sitz und schauten über die glänzende Farbenpracht hinaus. An jenem Tage war jedoch keine Prozession, und Klein-Dorrit staunte einigermaßen darüber, daß Fanny zu dieser Stunde zu Hause war, während sie sonst gewöhnlich um diese Zeit ausritt.

»Nun, Amy«, sagte Fanny, »woran denkst du, kleines Geschöpf?«

»Ich dachte an dich, Fanny.«

»Wirklich? Welch ein Zusammentreffen. Hier ist noch jemand, muß ich dir sagen. Du hast doch nicht auch an diesen jemand gedacht; hm, Amy?«

Amy hatte wirklich auch an diesen Jemand gedacht: denn es war Mr. Sparkler. Sie sagte es jedoch nicht, als sie ihm die Hand gab. Mr. Sparkler kam herbei und setzte sich auf die andre Seite von ihr, und sie fühlte den brüderlichen Arm hinter sich herkommen, der offenbar auch Fanny einzuschließen im Begriff war.

»Nun, meine kleine Schwester«, sagte Fanny mit einem Seufzer, »ich denke, du weißt, was das bedeutet?«

»Sie ist so schön, wie sie feurig angebetet wird«, stammelte Mr. Sparkler, »und es ist kein Unsinn an ihr – es ist alles in Ordnung.«

»Du brauchst das nicht auseinanderzusetzen, Edmund«, sagte Fanny.

»Nein, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Kurz, mein Kind«, fuhr Fanny fort, »um es gleich heraus zu sagen, wir sind verlobt. Wir müssen heute abend oder morgen mit Papa davon sprechen, wie sich die Gelegenheit bietet. Dann ist die Sache abgemacht, und wir brauchen wenig Worte mehr darüber zu verlieren.«

»Meine liebe Fanny«, sagte Mr. Sparkler mit ehererbietigem Wesen, »ich möchte Amy ein Wort sagen.«

»Nun! nun! sage es meinetwegen«, versetzte die junge Dame.

»Ich bin überzeugt, meine liebe Amy«, sagte Mr. Sparkler, »wenn je ein Mädchen existiert, außer unsrer hochbegabten und schönen Schwester, die keinen Unsinn an sich hat –«

»Wir wissen das alle wohl, Edmund«, warf Miß Fanny ein. »Sprich nicht davon. Bitte, sprich von etwas anderem als davon, daß wir keinen Unsinn an uns haben.«

»Ja, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler. »Und ich versichere Ihnen, Amy, daß nichts ein größeres Glück für mich, für mich sein kann – nächst dem Glück, durch die Wahl eines so herrlichen Mädchens geehrt zu sein, das nicht ein Atom von –«

»Bitte, Edmund, bitte«, unterbrach ihn Fanny, mit einem leichten Aufstampfen ihres hübschen Fußes auf den Boden. »Meine Liebe, du hast ganz recht«, sagte Mr. Sparkler, »und ich weiß, es ist meine Gewohnheit. Was ich Ihnen erklären wollte,, war, daß nichts ein größeres Glück für mich sein kann, mich sein kann – nächst dem Glück der Verbindung mit dem ausgezeichnetsten und herrlichsten Mädchen –, als das Glück zu haben, die aufrichtige Freundschaft Amys mir zu gewinnen und erhalten zu suchen. Ich bin vielleicht«, sagte Mr. Sparkler mit männlicher Offenheit, »über manche Dinge nicht immer ganz im reinen und aufgeklärt, und ich bin überzeugt, daß, wenn Sie die Gesellschaft um ihre Meinung befragen, diese ziemlich einstimmig sagen wird, ich sei es nicht, aber in Beziehung auf Amy bin ich im reinen!«

Mr. Sparkler küßte sie zum Zeugnis dessen.

»Ein Messer, eine Gabel und ein Zimmer wird immer Amy zu Gebote stehen«, fuhr Mr. Sparkler fort, der im Vergleich mit seinen Redeantezedenzien ganz weitschweifig wurde. »Mein Erzieher wird, das bin ich überzeugt, immer stolz sein, jemanden zu empfangen, den ich so hoch achte. Und rücksichtlich meiner Mutter«, sagte Mr. Sparkler, »welche eine merkwürdig schöne Frau ist –«

»Edmund, Edmund!« rief Fanny wie zuvor.

»Mit deiner Erlaubnis, meine Seele«, entschuldigte sich Mr. Sparkler. »Ich weiß, ich habe die Gewohnheit, und ich bin dir sehr dankbar, mein anbetungswürdiges Mädchen, daß du dir die Mühe nimmst, mich zurechtzuweisen; aber meine Mutter ist, nach der allgemeinen Stimme, eine merkwürdig schöne Frau und hat wirklich keinen Unsinn an sich.«

»Das mag sein oder nicht«, versetzte Fanny, »aber ich bitte, sprich nicht wieder davon.«

»Es soll nicht mehr geschehen, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Dann hast du wirklich nichts mehr zu sagen, Edmund, nicht wahr«, fragte Fanny.

»So wenig, mein anbetungswürdiges Mädchen«, antwortete Mr. Sparkler, »daß ich mich entschuldige, so viel gesagt zu haben.«

Mr. Sparkler bemerkte durch eine Art Inspiration, daß die Frage die weitere enthielt, ob es nicht besser wäre, wenn er ginge? Er zog daher den brüderlichen Arm zurück und sagte hübsch, daß er mit ihrer Erlaubnis Abschied nehmen wolle. Er ging, nicht ohne Amys Glückwunsch zu empfangen, so gut sie dies in ihrer Aufregung und Betrübnis zu tun imstande war.

Als er fort war, sagte sie: »O Fanny, Fanny!« und drehte sich in dem hellen Fenster nach ihrer Schwester um und sank ihr an die Brust und weinte dort. Fanny lachte anfangs; aber bald lag ihr Gesicht an dem ihrer Schwester, und nun weinte auch sie – ein wenig. Es war das letztemal, daß Fanny zeigte, daß ein verborgenes, unterdrücktes oder überwundenes Gefühl in dieser Richtung in ihr lebte. Von dieser Stunde an lag der Weg, den sie gewählt, vor ihr, und sie ging ihn mit ihrem herrischen, eigenwilligen Schritt.

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Keine gegründete Ursache und kein Hindernis, warum diese beiden Personen nicht getraut werden sollen.

Als Mr. Dorrit durch seine ältere Tochter angezeigt wurde, daß sie einen Heiratsantrag von Mr. Sparkler erhalten, mit dem sie sich verlobt habe, nahm er diese Mitteilung zu gleicher Zeit mit großer Würde und mit pomphafter Entfaltung seines väterlichen Stolzes auf: denn seine Würde vergrößerte sich durch die erweiterte Aussicht auf ein vorteilhaftes Terrain, von dem aus man leicht Bekanntschaften machen konnte, und sein väterlicher Stolz entwickelte sich durch Miß Fannys bereitwillige Sympathie mit seinem großen Lebenszweck. Er gab ihr zu verstehen, daß ihr edler Ehrgeiz harmonische Echos in seinem Herzen finde, und gab ihr seinen Segen, als einem Kinde voll Pflichtgefühl und guter Grundsätze, das sich der Vergrößerung des Familiennamens opfere.

Zu Mr. Sparkler, als Fanny ihm die Erlaubnis zu erscheinen gab, sagte Mr. Dorrit, er wolle nicht verhehlen, daß die Verbindung, die Mr. Sparkler ihm vorzuschlagen so freundlich sei, ganz mit seinen Gefühlen harmoniere, da sie sowohl mit den Herzensneigungen seiner Tochter Fanny im Einklang stehe, als auch eine Familienverbindung der freundlichsten Art mit Mr. Merdle, dem ersten Geist des Zeitalters, anknüpfe. Auch Mrs. Merdles, als einer tonangebenden, durch Eleganz, Grazie und Schönheit gleich ausgezeichneten Dame, erwähnte er in sehr rühmenden Ausdrücken. Er halte es jedoch für seine Pflicht zu bemerken (er sei überzeugt, ein Mann von Mr. Sparklers feinem Geist würde seine Worte richtig beurteilen), daß er diesen Antrag nicht als eine abgemachte Sache betrachten könne, bis er erlaubt habe, sich mit Mr. Merdle in Korrespondenz zu setzen, und sich versichert hätte, die Sache stimme soweit mit den Plänen dieses großen Mannes überein, daß seine (Mr. Dorrits) Tochter, in dem, was er, ohne den Schein der Dienerei auf sich zu laden, das Auge der großen Welt nennen dürfe, eine Stellung erhalte, wie ihr Stand, ihre Mitgift und ihre Aussichten ihn für sie zu fordern berechtigten. Während er dies sage, was sein Charakter als Mann von einiger Stellung und sein Charakter als Vater in gleicher Weise von ihm forderten, wolle er nicht so diplomatisch sein, zu verbergen, daß der Vorschlag vorderhand in hoffnungsvoller Unentschiedenheit bleibe und bloß bedingt angenommen sei, und daß er Mr. Sparkler für das Kompliment, das er ihm und seiner Familie gemacht habe, danke. Er schloß mit einigen weiteren und noch allgemeineren Bemerkungen über den – ha – Charakter eines unabhängigen Mannes und den – hm – Charakter eines möglicherweise zu parteiischen und von Bewunderung erfüllten Vaters. Alles in allem nahm er Mr. Sparklers Antrag ungefähr gerade so entgegen, wie er drei bis vier halbe Kronen in vergangenen Zeiten von ihm angenommen hätte. Mr. Sparkler, der sich durch die auf sein harmloses Haupt gehäuften Worte ganz betäubt fühlte, gab eine kurze, aber passende Antwort, die nicht weniger noch mehr besagen wollte, als daß er schon lange bemerkt, Miß Fanny habe keinen Unsinn an sich, und nicht zweifle, daß es seinem Erzieher genehm sein werde. Als er so weit gekommen, schloß ihn der Gegenstand seiner Neigung wie eine Büchse mit einer Springfeder zu und schickte ihn fort.

Als Mr. Dorrit kurz darauf dem Busen seinen Besuch abstattete, wurde er mit großer Achtung empfangen. Mrs. Merdle hatte durch Edmund von der Sache gehört. Sie sei anfangs sehr erstaunt gewesen, da sie nicht gedacht hätte, daß Edmund heiraten würde. Die Gesellschaft habe gedacht, Edmund würde nicht heiraten, und doch habe sie natürlich als Frau gesehen (wir Frauen sehen instinktmäßig dergleichen Sachen, Mr. Dorrit!), daß Edmund außerordentlich von Miß Dorrit eingenommen sei, und sie habe offen ausgesprochen, Mr. Dorrit treffe eine große Verantwortung, daß er ein so reizendes Mädchen ins Ausland gebracht habe, das seinen Landsleuten die Köpfe verdrehe.

»Darf ich also zu schließen wagen, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »daß die Richtung, die die Neigung von Mr. Sparkler genommen, von – ha – Ihnen gebilligt wird?«

»Ich versichere Ihnen, Mr. Dorrit«, versetzte die Dame, »daß es mir persönlich angenehm ist.«

Das sei für Mr. Dorrit sehr erfreulich.

»Persönlich«, wiederholte Mrs. Merdle, »angenehm.«

Diese zufällige Wiederholung des Wortes »persönlich« veranlaßte Mr. Dorrit, die Hoffnung auszudrücken, daß Mr. Merdles Zustimmung nicht ausbleiben werde.

»Ich kann es nicht auf mich nehmen«, sagte Mrs. Merdle, »positiv für Mr. Merdle zu antworten; Männer, namentlich Männer, die die Gesellschaft Kapitalisten nennt, haben ihre eignen Ideen über diese Sachen. Aber ich sollte denken – doch ist es nur eine Meinung, Mr. Dorrit –, ich sollte denken, daß es Mr. Merdle im ganzen« – hier hielt sie eine Rundschau über sich, ehe sie behaglich hinzufügte – »sehr angenehm sein werde.«

Bei der Erwähnung von Männern, die die Gesellschaft Kapitalisten nennt, hatte Mr. Dorrit gehustet, als ob er einen inneren Protest nicht unterdrücken könnte. Mrs. Merdle hatte es bemerkt und fuhr fort, um diesen Wink aufzunehmen.

»Obwohl es freilich, Mr. Dorrit, kaum nötig ist, diese Bemerkung zu machen; ich wollte nur die größte Offenheit gegen einen Mann an den Tag legen, den ich so hoch schätze und mit dem ich in noch angenehmere Verbindung zu kommen das Vergnügen zu haben hoffe. Denn es läßt sich mit der größten Wahrscheinlichkeit voraussetzen, daß Sie diese Sachen von Mr. Merdles eigenem Gesichtspunkte aus betrachten, wenn die Umstände nicht etwa es für Mr. Merdle glücklicher- oder unglücklicherweise so gestalten, daß er ganz in Geschäften steckt und, wie groß diese auch sein mögen, sein Horizont dadurch sich etwas verengt hat. Ich bin ein wahres Kind in Beziehung auf Geschäfte«, sagte Mrs. Merdle, »aber ich fürchte, das könnte der Fall sein.«

Dieses gewandte Hin- und Herwägen von Mr. Dorrit und Mr. Merdle, daß jeder den andern in die Höhe schnellte und jeder den andern herabzog und keiner im Vorteil blieb, wirkte beruhigend auf Mr. Dorrits Husten. Er bemerkte mit der größten Höflichkeit, er müsse bitten, daß die vollendete und anmutige Mrs. Merdle (sie verbeugte sich bei diesem Kompliment) sich der Ansicht entschlage, als wenn solche Unternehmungen wie die von Mr. Merdle, die ganz anderer Art als die jämmerlichen Unternehmungen der übrigen Menschen, irgendeine geringere Wirkung hätten, als den Geist, in dem sie empfangen worden, zu erweitern und vergrößern. »Sie sind die Großherzigkeit selbst«, erwiderte Mrs. Merdle mit ihrem anmutigsten Lächeln, »wir wollen uns dieser Hoffnung hingeben. Aber ich gestehe, daß ich in meinen Ansichten von Geschäften beinahe abergläubisch bin.«

Mr. Dorrit warf hier ein anderes Kompliment ein, das besagen wollte, Geschäfte, gerade wie die Zeit, die dabei so kostbar, seien für Sklaven gemacht; daß sie deshalb nichts für Mrs. Merdle taugen, die alle Herzen nach ihrem Gefallen regiere. Mrs. Merdle lachte und brachte Mr. Dorrit die Idee von dem Erröten des Busens bei – einem ihrer besten Effekte.

»Ich sagte dies bloß«, erklärte sie dann, »weil Mr. Merdle immer das größte Interesse an Edmund nahm und stets den lebhaftesten Wunsch an den Tag legte, seiner Zukunft förderlich zu sein. Edmunds öffentliche Stellung, denke ich, kennen Sie. Seine Privatstellung ruht ganz in Mr. Merdles Händen. In meiner kindischen Unfähigkeit für alles, was Geschäft heißt, versichere ich Sie, daß ich nichts weiter weiß.«

Mr. Dorrit drückte aufs neue in seiner Weise die Überzeugung aus, daß Geschäftssachen außerhalb des Gesichtskreises von Zauberinnen, die alles zu Sklaven machen, liegen. Er erwähnte dann seine Absicht, als Gentleman und Vater an Mr. Merdle zu schreiben. Mrs. Merdle war von ganzem Herzen – oder mit all ihrer Kunst, was genau dasselbe war – einverstanden und schickte selbst mit umgehender Post einen vorbereitenden Brief an das achte Wunder der Welt.

In seiner brieflichen Mitteilung wie in seinen Gesprächen und Abhandlungen über die große Frage, um die es sich handelte, umgab Mr. Dorrit die Sache mit Floskeln aller Art, wie Schreibkünstler die Schreib- und Rechenbücher mit Arabesken verschönern, wodurch die Titel der Elementarregeln der Arithmetik in Schwäne, Adler, Greife und andere kalligraphische Unterhaltungen auseinanderlaufen und die Anfangsbuchstaben in Extasen von Feder und Tinte Leib und Seele verleugnen. Nichtsdestoweniger machte er den Gegenstand seines Briefes hinlänglich klar, um Mr. Merdle in den Stand zu setzen, sagen zu können, daß er die Sache aus dieser Quelle erfahren habe. Mr. Merdle antwortete Mr. Dorrit demgemäß; Mr. Dorrit antwortete Mr. Merdle; Mr. Merdle antwortete Mr. Dorrit, und bald verlautete, daß die korrespondierenden Mächte zu einem befriedigenden Einverständnis gediehen seien.

Nun erst und nicht früher trat Miß Fanny, vollständig für ihre neue Rolle kostümiert, auf die Szene. Nun und nicht früher saugte sie Mr. Sparkler ganz in ihrem Lichte auf und leuchtete für beide und noch zwanzig mehr. Nicht länger den Mangel eines bestimmten Platzes und Charakters vermissend, was ihr so vielen Kummer verursacht, begann dieses schöne Schiff in einer festen Richtung zu steuern und mit einem Tiefgang und einem Gleichgewicht, die ihre hohen Seglereigenschaften entfalteten.

»Nachdem die Präliminarien zur Zufriedenheit arrangiert sind, so denke ich, mein liebes Kind«, sagte Mr. Dorrit, »will ich – ha – formell Mrs. General …«

»Papa«, versetzte Fanny, indem sie ihm bei diesem Namen rasch ins Wort fiel, »ich sehe nicht ein, was Mrs. General damit zu tun haben sollte.«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Dorrit, »es ist ein Akt der Höflichkeit gegen – hm – eine feingebildete und noble Dame –«

»Oh! ich habe Mrs. Generals feine Bildung und Noblesse satt, Papa«, sagte Fanny, »ich bin Mrs. Generals müde.«

»Müde«, wiederholte Mr. Dorrit mit vorwurfsvollem Erstaunen, »Mrs. Generals müde!«

»Ganz übersatt, Papa«, sagte Fanny, »ich weiß wirklich nicht, was sie mit meiner Heirat zu tun hat. Lasse sie sich mit ihren eigenen Heiratsprojekten beschäftigen – wenn sie welche hat.«

»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit mit ernster und schwerfälliger Langsamkeit des Begreifens, die stark mit der Leichtfertigkeit seiner Tochter kontrastierte, »ich bitte, mir gefälligst erklären zu wollen – ha –, was du meinst.«

»Ich meine, Papa«, sagte Fanny, »daß, wenn Mrs. General zufällig selbst Heiratsprojekte haben sollte, diese meiner Ansicht nach ihre freie Zeit in Anspruch zu nehmen imstande sein werden. Wenn sie keine solchen hat, um so besser: aber ich wünsche doch nicht die Ehre zu haben, ihr besondere Mitteilung zu machen.«

»Erlaube mir zu fragen, Fanny«, sagte Mr. Dorrit, »weshalb nicht?«

»Weil sie selbst hinter meine Verlobung kommen kann, Papa«, versetzte Fanny. »Sie ist meiner Ansicht nach wachsam genug. Ich glaube das an ihr beobachtet zu haben. Kommt sie nicht selbst dahinter, so wird sie’s merken, wenn ich verheiratet bin. Und ich hoffe, Sie werden mich deshalb nicht der Liebe gegen Sie zu ermangeln glauben, wenn ich sage, es scheint mir immer noch Zeit genug für Mrs. General zu sein.«

»Fanny«, versetzte Mr. Dorrit, »ich bin erstaunt, ich bin höchst ungehalten über diese – hm – launenhafte und unbegreifliche Gehässigkeit, die du gegen – ha – Mrs. General an den Tag legst.«

Bei diesen Worten erhob er sich mit einem festen Blick voll strengen Vorwurfs von seinem Stuhl und blieb in seiner Würde vor seiner Tochter stehen. Seine Tochter drehte das Bracelet an ihrem Arm, sah ihn bald an, bald von ihm weg und sagte: »Nun gut. Ich bedaure wirklich, wenn es dir nicht gefällt: aber ich kann mal nicht anders. Ich bin kein Kind mehr und bin nicht Amy, ich muß sprechen.«

»Fanny«, sagte Mr. Dorrit halb atemlos nach majestätischem Schweigen, »wenn ich verlange, daß du hier bleibst, während ich Mrs. General, als einer ausgezeichneten Dame, die – hm – ein treues Mitglied unserer Familie ist, – die Veränderung mitteile, die unter uns beabsichtigt ist; wenn ich – ha – nicht allein dies fordere, sondern – hm – darauf bestehe –«

»O, Papa«, fiel Fanny mit bedeutungsvollem Nachdruck ein, »wenn du, wie es scheint, so großes Gewicht darauf legst, so ist es meine Pflicht, zu gehorchen. Ich hoffe jedoch, daß ich mir meine Gedanken darüber machen darf, denn ich muß mir unter so bewandten Umständen welche machen.« Fanny setzte sich darauf mit einer Ergebung, die, wenn man die Extreme betrachtete, wie Herausforderung aussah: und ihr Vater, der entweder sie keiner Antwort würdigte oder nicht wußte, was er antworten sollte, lief nach Mr. Tinkler.

»Mrs. General.«

Mr. Tinkler, der nicht gewöhnt war, so kurze Befehle zu erhalten, wenn es sich um die schöne Firnisserin handelte, blieb stehen. Mr. Dorrit aber, der das ganze Marschallgefängnis und alle Ehrengaben in diesem Stehenbleiben erblickte, fuhr augenblicklich auf ihn zu und rief: »Wie können Sie es wagen, Sir? Was wollen Sie damit?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Mr. Tinkler zu seiner Verteidigung, »ich wünschte zu wissen –«

»Sie wünschten nichts zu wissen, Herr«, rief Mr. Dorrit stark gerötet. »Sagen Sie mir das nicht. Ha! Das war nichts. Sie haben sich einen Spott erlaubt, Herr.«

»Ich versichere Sie, Sir –«, begann Mr. Tinkler.

»Versichern Sie mir nichts!« sagte Mr. Dorrit. »Ich will keine Versicherung von einem Bedienten. Sie haben sich einen Spott zuschulden kommen lassen. Sie können zum Teufel gehen –-hm – die ganze Dienerschaft kann zum Teufel gehen, auf was warten Sie noch?«

»Nur auf meinen Auftrag, Sir.«

»Das ist nicht wahr, Sie haben Ihren Auftrag. Ha – hm. Meine Empfehlung an Mrs. General, und ich lasse sie bitten, die Güte zu haben, herüberzukommen, wenn es ihr gefällig, nur auf einige Minuten. Das ist Ihr Auftrag.« Bei der Entledigung dieses Auftrags ließ Mr. Tinkler vielleicht verlauten, daß Mr. Dorrit höchst aufgebracht sei. Wie dem nun auch war, Mrs. Generals Kleider hörte man alsbald draußen mit ungewöhnlicher Eile rauschen – ja, man möchte beinahe sagen anprallen. An der Tür ließen sie sich jedoch wieder nieder und schwebten mit gewöhnlicher Kälte herein.

»Mrs. General«, sagte Mr. Dorrit, »setzen Sie sich.«

Mrs. General ließ sich mit anmutig dankender Verbeugung, die einen schönen Bogen bildete, in den Stuhl nieder, den ihr Mr. Dorrit anbot.

»Madame«, fuhr dieser fort, »da Sie die Freundlichkeit hatten, sich – hm – mit der Bildung meiner Töchter zu beschäftigen, und da ich überzeugt bin, daß nichts, was dieselben nahe angeht – ha –, Ihnen gleichgültig sein kann –«

»Ganz unmöglich«, sagte Mrs. General in ihrer ruhigsten Art.

»– so wünsche ich Ihnen mitzuteilen, Madame, daß meine anwesende Tochter –«

Mrs. General machte eine leichte Kopfverbeugung gegen Fanny. Diese machte gleichfalls eine sehr tiefe Kopfverbeugung gegen Mrs. General und richtete sich dann wieder stolz auf.

»– daß meine Tochter Fanny sich – ha – mit Mr. Sparkler verlobt hat, den Sie kennen. Sie werden von nun an der Hälfte Ihrer schwierigen – ha – schwierigen Aufgabe enthoben sein.« – Mr. Dorrit wiederholte seine Worte mit einem ärgerlichen Blick auf Fanny. »Dagegen wird, wie ich hoffe, in keinem andern Teil der Stellung, die Sie im Augenblick in meiner Familie einzunehmen die Güte haben, die geringste Änderung oder Verminderung eintreten.«

»Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, während ihre behandschuhten Hände in exemplarischer Ruhe aufeinander lagen, »ist stets ungemein rücksichtsvoll und schlägt meine freundlichen Dienste viel zu hoch an.«

(Miß Fanny hustete, als wollte sie sagen: »Sie haben recht!«)

»Miß Dorrit hat ohne Zweifel mit der größten Besonnenheit gewählt, soweit dies die Umstände gestatteten, und wird mir wohl erlauben, ihr meine aufrichtigsten Glückwünsche darzubringen. Wenn keine Fesseln der Leidenschaft uns binden«, Mrs. General schloß ihre Augen bei dem Worte, als ob sie es nicht aussprechen und dabei jemanden ansehen könnte, »wenn die nächsten Verwandten ihre Zustimmung geben und das stolze Gebäude einer Familie dadurch befestigt wird – so sind dies gewöhnlich gute Vorbedeutungen. Ich hoffe. Miß Dorrit wird mir erlauben, ihr meine besten Glückwünsche darzubringen.«

Hier hielt Mrs. General inne und fügte bei sich hinzu, um ihr Gesicht wieder in die richtigen Falten zu legen: »Papa, Potatoes, Poultry, Prunes und Prism.«

»Mr. Dorrit«, fügte sie laut hinzu, »zeigt sich sehr verbindlich gegen mich: und für die Aufmerksamkeit, ja, ich möchte sagen Auszeichnung, daß mir von ihm und Miß Dorrit so früh diese vertrauliche Mitteilung geworden ist, erlaube ich mir, meinen lebhaftesten Dank auszusprechen. Mein Dank und mein Glückwunsch gehören gleicherweise Mr. Dorrit und Miß Dorrit.«

»Mir«, bemerkte Miß Fanny, »ist dies ausnehmend erfreulich, ganz außerordentlich erfreulich. Das wohltuende Bewußtsein, daß Sie nichts gegen meine Verbindung einzuwenden haben, Mrs. General, nimmt mir wahrhaftig eine große Last vom Herzen. Ich weiß kaum, was ich getan«, sagte Fanny, »wenn Sie Einwürfe gemacht, Mrs. General.«

Mrs. General änderte die Lage ihrer Handschuhe, indem sie den rechten nach oben, den linken nach unten legte und dabei lächelte, während ihr Mund Prunes und Prism auszusprechen schien.

»Ihre Zufriedenheit mir zu erhalten, Mrs. General,« sagte Fanny mit einem Lächeln, in dem nichts von Prunes und Prism zu gewahren war, »wird natürlich das höchste Streben meines Lebens sein; sie zu verlieren, wäre natürlich das größte Unglück für mich. Ich bin jedoch überzeugt, Ihre große Freundlichkeit wird nichts dagegen haben, und ich hoffe, auch Papa wird nichts dagegen haben, wenn ich einen kleinen Irrtum, den Sie begangen, berichtige. Die besten Menschen sind so sehr dem Irrtum ausgesetzt, daß selbst Sie, Mrs. General, einen kleinen Irrtum begangen haben. Die Aufmerksamkeit und Auszeichnung, deren Sie so nachdrücklich als in diesem Vertrauen liegend erwähnten, Mrs. General, mögen allerdings äußerst schmeichelhaft und wohltuend sein; aber sie kommen nicht von mir. Das Verdienst, Sie wegen dieser Sache zu Rate gezogen zu haben, wäre so groß für mich gewesen, daß ich fühle, ich darf keinen Anspruch darauf machen, wenn ich es nicht wirklich habe. Es ist ganz und gar Papas Verdienst. Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Ermutigung und Ihr Wohlwollen, aber Papa war es, der sie heischte. Ich habe Ihnen zu danken, Mrs. General, daß Sie meine Brust von einer schweren Last befreiten, indem Sie so freundlich Ihre Zustimmung zu meiner Verbindung geben; aber Sie haben mir durchaus nicht dafür zu danken. Ich hoffe, Sie werden auch künftig, wenn ich das Vaterhaus verlassen habe, mein Tun und Treiben billigen, und meine Schwester wird der Lieblingsgegenstand Ihrer herablassenden Güte sein, Mrs. General.«

Nach dieser Anrede, die sie in ihrer höflichsten Weise vorbrachte, verließ Miß Fanny das Zimmer mit artiger und freundlicher Miene, um mit dunkelrotem Gesicht die Treppe hinaufzustürmen, sobald sie aus dem Hörkreis war, auf ihre Schwester loszufahren, sie einen kleinen Hamster zu schelten, sie zu schütteln, daß sie die Augen besser öffne, ihr zu sagen, was unten vorgegangen, und sie zu fragen, was sie jetzt von Papa dächte?

Gegen Mrs. Merdle benahm sich die junge Dame mit großer Unabhängigkeit und Selbstbeherrschung; aber noch immer, ohne entschieden die Feindseligkeiten zu eröffnen. Bisweilen hatten sie ein kleines Scharmützel, wenn Fanny sich durch diese Dame auf den Rücken geklopft glaubte, oder wenn Mrs. Merdle besonders jung und gut aussah; aber Mrs. Merdle schloß diese Waffengänge immer nach kurzer Zeit damit, daß sie mit der anmutigsten Gleichgültigkeit in ihre Kissen sank und ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtete. Die Gesellschaft (denn dieses geheimnisvolle Wesen saß auch auf den sieben Hügeln) fand, daß Miß Fanny sich durch ihre Verlobung sehr gebessert habe. Sie war zugänglicher, freier und einnehmender, weit weniger anmaßend; und dies in solchem Grade, daß sie jetzt ein ganzes Heer von Verehrern und Bewunderern um sich versammelte – zu nicht geringem Ärger der Frauen, die heiratsfähige Töchter hatten und die gewissermaßen wegen des Miß Dorritschen Kriegsfalls aus der Gesellschaft aufstanden und eine rebellische Fahne aufpflanzten. Miß Dorrit, die sich der Unruhen freute, die sie hervorrief, schritt nicht nur in eigner Person stolz durch dieselben hindurch, sondern führte selbst Mr. Sparkler prahlend durch die Massen, indem sie zu sagen schien: »Wenn ich es für passend halte, nur von diesem einen schwachen Gefangenen lieber, als von einem stärkeren in Fesseln begleitet, meinen Triumphzug zu halten, so ist das meine Sache. Genug, ich will es so!« Mr. Sparkler seinerseits fragte nichts, sondern ging, wohin man ihn führte, tat, was man ihm sagte, fühlte, daß, wenn er wegen seiner Brautwahl ausgezeichnet wurde, diese Auszeichnung zu erringen ihm wenig Mühe gekostet, und war herzlich dankbar für diese öffentliche Anerkennung.

Da der Winter seinem Ende entgegeneilte und der Frühling nahte, während diese Dinge vor sich gingen, wurde es nötig, daß Mr. Sparkler in die Heimat zurückkehrte und die ihm angewiesene Stellung für die Betätigung und Richtung seines Geistes, seiner Kenntnisse, seines Handelstalentes, seiner geistigen und körperlichen Kräfte einnehme. Das Land Shakespeares, Miltons, Bacons, Newtons, Watts, das Land eines Heeres von verstorbenen und lebenden abstrakten Philosophen, Naturphilosophen und Bezwingern der Natur und Kunst in ihren Myriaden Formen rief Mr. Sparkler, daß er komme und sich seiner annehme, da es sonst zugrunde gehen müsse. Mr. Sparkler, der nicht imstande war, den Todesschrei, der aus der Tiefe der Seele seines Landes drang, zu widerstehen, erklärte, daß er gehen müsse.

Dadurch wurde natürlich die Frage, wann, wo und wie Mr. Sparkler dem ersten Mädchen der ganzen Welt, das keinen Unsinn an sich habe, angetraut werden sollte, zu einer brennenden. Die Lösung derselben teilte Miß Fanny, nachdem man eine Zeitlang geheime Verhandlungen darüber gepflogen, ihrer Schwester selbst mit.

»Nun, mein Kind«, sagte sie, indem sie sie eines Tages aufsuchte, »ich will dir etwas sagen. Es ist eben erst zum Beschluß gekommen, und natürlich eile ich im selben Augenblick zu dir, wo die Sache zum Beschluß gekommen ist.« »Deine Heirat, Fanny?«

»Mein kostbares Kind«, sagte Fanny, »greife mir nicht vor. Lasse mich auf meine Weise mein Vertrauen mit dir teilen, du kleines, unruhiges Ding. Wenn ich deine Vermutung wörtlich beantwortete, so würde ich nein antworten. Denn es handelt sich nicht so sehr um meine Heirat als um Edmunds Heirat.«

Klein-Dorrit schien, und vielleicht nicht ohne Ursache, etwas verlegen, diese seine Unterscheidung zu verstehen.

»Ich mache keine Schwierigkeit«, rief Fanny, »und habe keine Eile. Mich braucht man auf keinem öffentlichen Bureau, noch bedarf man meiner Stimme sonstwo. Aber Edmund wird verlangt. Und Edmund ist sehr niedergeschlagen, daß er fort muß, und wahrhaftig, ich wünschte nicht, daß er sich selbst überlassen wäre. Denn wo es möglich – und es ist gewöhnlich möglich – etwas Törichtes zu tun, so tut er es sicher.«

Als sie diesen unparteiischen Inbegriff des Vertrauens, das man auf ihren künftigen Gatten setzen könne, geschlossen, nahm sie mit einer Geschäftsmiene den Hut ab, den sie trug, und ließ ihn an den Bändern auf dem Boden baumeln.

»Es handelt sich deshalb mehr um Edmund, als um mich. Doch wir brauchen nicht mehr davon zu sagen. Es springt von selbst in die Augen. Nun, meine liebste Amy, wenn die Frage aufsteigt, geht er allein, oder geht er nicht allein?, so steigt die weitere Frage auf, sollen wir hier und bald getraut werden, oder sollen wir in der Heimat und in einigen Monaten getraut werden?«

»Ich sehe, ich soll dich verlieren, Fanny.«

»Was für ein kleines Ding du bist«, rief Fanny, halb nachsichtig und halb ungeduldig, »daß du mir immer zuvorkommst! Bitte, mein Liebling, lasse mich ausreden. Jene Frau«, sie sprach natürlich von Mrs. Merdle, »bleibt bis nach Ostern hier; im Falle ich nun hier heirate und mit Edmund nach London gehe, hätte ich den Vorsprung vor ihr. Das ist etwas. Weiter, Amy. Ist jene Frau mir au« dem Wege, so wüßte ich nicht, was ich Besonderes gegen den Vorschlag einzuwenden haben sollte, den Mr. Merdle Papa machte, daß Edmund und ich unsere Wohnung in jenem Hause aufschlagen – du weißt, wo du einst mit einer Tänzerin warst, meine Liebe –, bis unser eigenes Haus gewählt und eingerichtet werden kann. Noch weiter, Amy. Da Papa immer die Absicht hatte, im Frühjahr nach London zu gehen, so würden wir, wenn Edmund und ich verheiratet wären, nach Florenz gehen, wohin uns Papa nachkäme, und wir könnten dann alle drei zusammen nach Hause reisen. Mr. Merdle hatte Papa gebeten, in dem bereits erwähnten Hause bei ihm zu wohnen, und ich glaube auch, er hat die Absicht. Aber er ist Herr seines Tuns, und über diesen Punkt (der auch gar nicht wesentlich ist) kann ich nicht mit Bestimmtheit sprechen.«

Fanny legte auf den Unterschied, daß Papa Herr seines Tuns sei, was bei Mr. Sparkler in keiner Weise der Fall, durch die Art, wie sie die Sache darstellte, einen besonderen Nachdruck. Ihre Schwester bemerkte es jedoch nicht; denn ihre Gefühle waren zwischen dem Schmerz einer baldigen Trennung und dem sehnsüchtigen Wunsche geteilt, daß man auch sie in den Plan, England zu besuchen, mit eingeschlossen habe.

»Das sind die Arrangements, liebe Fanny?«

»Das sind die Arrangements!« wiederholte Fanny. »Nun, wahrhaftig, Kind, du stellst mich nicht wenig auf die Probe. Du weißt, ich hütete mich ganz besonders davor, die Worte so zu setzen, daß irgendeine derartige Deutung möglich war. Was ich sagte, war, daß gewisse Fragen sich darbieten; und dies sind die Fragen.«

Klein-Dorrits gedankenvolle Augen ruhten zärtlich und sanft auf ihr.

»Nun, mein süßes Mädchen«, sagte Fanny, ihren Hut an seinen Bändern mit großer Ungeduld hin- und herschwingend, »was soll das Stieren? Eine kleine Eule könnte mich ebenso stark ansehen. Ich verlange Rat von dir, Amy. Was rätst du mir zu tun?«

»Glaubst du«, fragte Klein-Dorrit nach kurzem Zögern überredend, »glaubst du, Fanny, daß es nicht besser wäre, wenn man alles in Betracht zieht, daß du die Heirat noch einige Monate verschöbest?«

»Nein, kleine Schildkröte«, versetzte Fanny in außerordentlich scharfem Tone, »das denke ich durchaus nicht.«

Hier schleuderte sie den Hut ganz von sich und warf sich in einen Stuhl. Aber gleich darauf wieder von zärtlichen Gefühlen ergriffen, sprang sie vom Stuhl auf und kniete auf den Boden nieder, um ihre Schwester und den Stuhl und alles zu umarmen.

»Glaube nicht, daß ich heftig und unfreundlich bin, liebes Kind, ich bin es wirklich nicht. Aber du bist so ein kleines närrisches Ding! Du machst, daß man dir gleich den Kopf abbeißt, wenn man dich liebkosen möchte. Habe ich dir nicht gesagt, mein liebes Kind, daß man Edmund nicht sich selbst überlassen darf? Und weißt du wirklich nicht, daß dem so ist?«

»Doch, doch, Fanny. Du sagtest das, ich weiß es.«

»Und du weißt es, das weiß ich«, versetzte Fanny. »Nun, mein kostbares Kind! Wenn man ihn nicht sich selbst überlassen darf, denke ich, so sollt‘ ich mit ihm gehen – habe ich dich also, liebste Amy, so zu verstehen, daß du, nachdem du gehört, welche Schritte in dieser Sache möglich sind, mir im ganzen rätst, sie zu tun?«

»Es scheint so, meine Liebe«, sagte Klein-Dorrit.

»Nun gut!« rief Fanny mit resignierter Miene, »dann muß es wohl auch geschehen? Ich kam zu dir, meine Liebe, in dem Augenblick, wo ich den Zweifel und die Notwendigkeit, einen Entschluß zu fassen, fühlte. Ich habe meinen Entschluß nunmehr gefaßt. So mag es nun sein.«

Nachdem Fanny in dieser musterhaften Weise schwesterlichem Rat und dem Drang der Umstände nachgegeben, wurde sie außerordentlich wohlwollend, wie jemand, der seine eigenen Neigungen der teuersten Freundin geopfert und in diesem Bewußtsein ein höchst wohltuendes Gefühl empfand. »Im Grunde, meine Amy«, sagte sie zu ihrer Schwester, »bist du das beste kleine Geschöpf, das man sich denken kann; voll Klugheit und Einsicht; und ich wüßte nicht, wie ich’s ohne dich anfangen sollte!«

Mit diesen Worten umarmte sie sie noch einmal und mit noch größerer Innigkeit und Herzlichkeit.

»Nicht, daß ich beabsichtigte, je ohne dich zu sein, Amy, keineswegs, denn ich hoffe, wir werden beinahe unzertrennlich sein. Und nun, mein Liebling, will ich auch dir einen Rat geben. Wenn du hier allein mit Mrs. General bleibst –«

»Ich soll hier allein mit Mrs. General bleiben?« sagte Klein-Dorrit ruhig.

»Natürlich, mein kostbares Kind, bis der Papa zurückkommt! Wenn du nicht etwa Edward Gesellschaft nennen willst, was er gewiß nicht ist, selbst wenn er hier ist, und noch weniger natürlich, wenn er in Neapel oder Sizilien ist. Ich war im Begriff, zu sagen – aber du bist solch ein närrisches Ding, daß du einen aus dem Konzept bringst – wenn du hier allein mit Mrs. General zurückbleibst, Amy, so dulde nicht, daß sie dich irgendwie auf schlaue Weise dazu bringt, es als etwas Natürliches anzusehen, daß sie sich um Papa oder daß Papa sich um sie bekümmert. Sie wird das tun, wenn sie es kann. Ich kenne ihre schlaue Manier, sich mit ihren Handschuhen fortzutasten. Du aber darfst sie unter keiner Bedingung verstehen. Und wenn Papa dir bei seiner Rückkehr sagen sollte, daß er die Absicht habe, Mrs. General zu deiner Mama zu machen (was durch mein Weggehen nicht wenig wahrscheinlich wird), so rate ich dir, daß du sogleich erklärst: »Papa, ich bitte, mich entschieden dagegen aussprechen zu dürfen. Fanny hat mich davor gewarnt; sie ist dagegen, und ich bin dagegen.« Ich will damit nicht sagen, daß irgendein Einwurf von deiner Seite auch nur die geringste Wirkung zu machen, Aussicht hat, oder daß ich glaube, du werdest ihn mit der nötigen Festigkeit vorbringen. Aber es handelt sich hier um ein Prinzip – ein kindliches Prinzip, und ich bitte dich dringend, dich nicht von Mrs. General bestiefmuttern zu lassen, ohne jenes Prinzip dadurch zu manifestieren, daß du es jedermann so unbehaglich wie möglich machst. Ich erwarte von dir nicht, daß du fest bei demselben beharrst – ich weiß wirklich, du wirst es nicht tun, soweit die Sache Papa betrifft, aber ich möchte dich zum Bewußtsein des Pflichtgefühls bringen. Was die Unterstützung von meiner Seite oder den Widerspruch betrifft, den ich gegen eine solche Heirat einsetzen kann, so werde ich dich nicht im Stiche lassen, meine Liebe. Alles Gewicht, das mir meine Stellung als verheiratete Frau gibt, die nicht ganz aller Anziehungskraft entbehrt, – und gewohnt, dieser Frau Widerstand zu leisten, wie dies immer bei mir der Fall sein wird – all dies Gewicht, darauf kannst du dich verlassen, werde ich auf das Haupt und das falsche Haar (denn ich bin überzeugt, es ist nicht echt, so häßlich es auch ist, und so unwahrscheinlich es auch ist, daß jemand vernünftiges Geld dafür ausgeben sollte) von Mrs. General fallen lassen!«

Klein-Dorrit hörte diesen Rat an, ohne zu wagen, etwas gegen denselben einzuwenden, ohne jedoch auch Fanny irgendeinen Grund zu dem Glauben zu geben, sie beabsichtige, ihn zu befolgen. Da Fanny nun gewissermaßen ihr Jungfrauenleben förmlich abgeschlossen und ihre weltlichen Angelegenheiten geordnet hatte, begann sie mit dem ihr eigentümlichen Eifer, sich für die ernste Veränderung in ihrer Lage vorzubereiten.

Die Vorbereitung bestand darin, daß sie ihr Mädchen, in Begleitung eines Kuriers, nach Paris sandte, um die Ausstattung für eine Braut zu kaufen, der die gegenwärtige Erzählung –- ohne ins Platte zu verfallen – keinen englischen Namen geben kann, der jedoch einen französischen Namen zu geben (nach dem gewöhnlichen Grundsatz, bei der Sprache zu bleiben, in der sie mal geschrieben), ihr ebenso widerstrebt. Die von diesen Agenten angekaufte schöne und reiche Garderobe machte im Verlaufe weniger Wochen ihren Weg durch das dazwischen liegende Land, das mit Zollhäusern überfüllt war, in dem eine ungeheure Armee schäbiger Bettler in Uniform garnisonierte, die beständig die Bitte um Almosen wiederholten, als wenn jeder einzelne dieser Krieger der alte Belisar wäre, und deren es so zahlreiche Legionen gab, daß, wenn der Kurier nicht genau anderthalb Scheffel Silbergeld ausgegeben hätte, um ihrer Not abzuhelfen, sie durch das bloße Umdrehen schon die Garderobe zerfetzt hätten, ehe sie nach Rom gelangt wäre. Aus all diesen Gefahren ging sie jedoch siegreich hervor, Zoll um Zoll, und kam in bester Beschaffenheit am Ziel ihrer Reise an.

Dort wurde sie auserlesenen Gesellschaften von Besucherinnen vorgelegt, in deren zartem Busen sie unversöhnliche Gefühle weckte. Gleichzeitig wurden lebhafte Vorbereitungen für den Tag gemacht, an dem einige von diesen Schätzen öffentlich zur Schau gestellt werden sollten. Die Hälfte der Engländer in der Stadt des Romulus erhielt Einladungskarten zum Frühstück; die andre Hälfte machte Vorbereitungen, um als kritisierende Freiwillige an verschiedenen Vorposten der Feierlichkeit unter Waffen zu sein. Der hochgestellte und ausgezeichnete englische Signor Edgardo Dorrit kam mit Extrapost durch den tiefen Schmutz und auf den schlechten Wegen von Neapel (wo er dem strebenden neapolitanischen Adel Manieren beibrachte), um der Feierlichkeit anzuwohnen. Das beste Hotel und alle seine Kochkünstler waren mit der Bereitung des Festmahles in Anspruch genommen. Die Anweisungen von Mr. Dorrit brachten bei Torlonia beinahe eine Krisis hervor. Der britische Konsul hatte während seines ganzen Konsulats keine solche Hochzeit gehabt.

Der Tag erschien, und die Wölfin auf dem Kapitol hätte vor Neid die Zähne fletschen können, wenn sie hatte sehen müssen, wie die Inselwilden die Sache heutzutage treiben. Die bösen Kaiser der Soldateska mit den Mördergesichtern, denen die Bildhauer die abscheuliche Häßlichkeit nicht hatten wegschmeicheln können, hätten von ihren Piedestalen herabkommen können, um die Braut zu entführen. Die vertrocknete alte Fontäne, wo sich ehedem die Gladiatoren gewaschen, hätte zu Ehren der Feierlichkeit wieder springen können. Der Tempel der Vesta hätte sich wieder aus seinen Trümmern erheben können, um bei dieser feierlichen Gelegenheit sich in seiner ganzen Schönheit zu zeigen. Sie hätten es tun können: aber taten es nicht. Wie lebendige Wesen – selbst wie manchmal die Herren und Herrinnen der Schöpfung – hätten sie viel tun können, taten aber nichts. Die Feierlichkeit ging mit staunenswertem Pomp vor sich: Mönche in schwarzen Kutten, weißen Kutten und braunen Kutten blieben stehen, um den Wagen nachzusehen; herumziehende Landleute in Schafpelzen bettelten und bliesen unter den Fenstern des Hauses; die englischen Freiwilligen zogen vorüber; der Tag verging bis zur Vesperstunde; das Fest war vorbei; die Tausende von Kirchenglocken läuteten, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, und St. Peter leugnete, daß er irgend etwas damit zu tun habe.

Inzwischen war die Braut dem Ziel ihrer ersten Tagreise auf dem Wege nach Florenz nahe. Es war eine Eigentümlichkeit dieser Hochzeit, daß sie ganz nur Braut war. Niemand nahm von dem Bräutigam Notiz. Niemand nahm von der ersten Brautjungfer Notiz. Wenige hätten vor dem Glanz Klein-Dorrit (die diese Stelle versah) bemerken können, selbst vorausgesetzt, daß viele sie gesucht hätten. So war die Braut in ihren schönen Wagen gestiegen, zufällig von dem Bräutigam begleitet, und fing jetzt an, nachdem sie wenige Minuten lang sanft über ein schönes Pflaster gerollt, sich durch einen melancholischen Sumpf und durch eine lange, lange Straße von Verfall und Trümmern hindurchzuwinden. Andere Hochzeitswagen sollen vorher und seitdem dieselbe Straße gefahren sein.

Wenn sich Klein-Dorrit an diesem Abend ein wenig einsam und gedrückt fühlte, so würde sie nichts so sehr erleichtert haben, als wenn sie neben ihrem Vater wie in frühern Zeiten an der Arbeit hätte sitzen oder ihm sein Nachtessen und sein Bett bereiten können. Aber daran war jetzt nicht zu denken, wo sie mit Mrs. General auf dem Bock der Zeremonienkutsche saß. Und das Nachtessen! Wenn Mr. Dorrit ein solches verlangte, mußten ein italienischer Koch und ein Schweizer Konditor Mützen so hoch wie die Mitra des Papstes aufsetzen und die Geheimnisse von Alchimisten in einem mit kupfernen Kasserollen versehenen Laboratorium unter der Erde verrichten, ehe er es bekommen konnte.

Er war an diesem Abend sententiös und belehrend; wäre er einfach herzlich gewesen, so hätte das Klein-Dorrit wohler getan; aber sie nahm ihn, wie er war – wann hatte sie ihn nicht genommen, wie er war – und faßte ihn von seiner besten Seite auf. Mrs. General zog sich endlich zurück. Ihr Weggehen am I?7 Abend war immer ihre frostigste Zeremonie, als fände sie es notwendig, die menschliche Phantasie zu Stein erstarren zu machen, daß man ihr nicht folge. Als sie ihre strengen Präliminarien gemacht, die bis zu platonischen Übungen sich verstiegen, verließ sie das Zimmer. Klein-Dorrit schlang dann ihren Arm um ihres Vaters Hals, um ihm gute Nacht zu sagen.

»Meine liebe Amy«, sagte Mr. Dorrit, indem er ihre Hand ergriff, »das ist das Ende eines Tages, der mich – ha – sehr gerührt und mir sehr wohlgetan hat.«

»Wohl auch ein wenig müde gemacht, Vater?«

»Nein«, sagte Mr. Dorrit, »nein, ich fühle keine Müdigkeit, wenn sie eine so – hm – mit Freude der reinsten Art verbundene Veranlassung hat.«

Klein-Dorrit freute sich, ihn bei so guter Stimmung zu finden, und lächelte voll Glückseligkeit.

»Mein Liebe«, fuhr er fort. »Dies ist ein Tag – ha –, der als ein gutes Beispiel gelten kann. Ein gutes Beispiel, mein treuer Liebling, – hm – für dich.«

Klein-Dorrit, durch seine Worte etwas in Verlegenheit gebracht, wußte nicht, was sie sagen sollte, obgleich er innehielt, als ob er erwartete, sie werde etwas sagen.

»Amy«, fuhr er fort, »deine liebe Schwester, unsere Fanny, hat – ha, hm – eine Ehe geschlossen, die vortrefflich geeignet ist, die Basis unserer – ha – Bekanntschaft auszudehnen und unsere – hm – sozialen Beziehungen zu konsolidieren. Meine Liebe, ich glaube, daß die Zeit nicht fern sein wird, wo eine – ha – annehmbare Partie sich für dich finden wird.«

»O, nein! Laß mich bei dir bleiben. Ich bitte dich, laß mich bei dir bleiben. Ich verlange nichts weiter, als bei dir zu bleiben und für dich zu sorgen!«

Sie sagte es wie jemand, der plötzlich aufgeschreckt wird.

»Nein, Amy, Amy«, sagte Mr. Dorrit. »Das ist schwach und kindisch, schwach und kindisch. Deine Stellung – ha – legt dir eine Verpflichtung auf. Es gilt, diese Stellung geltend zu machen; ich kann – ha – selbst für mich sorgen. Oder«, fügte er nach einem Augenblick hinzu, »wenn ich jemand brauchte, der für mich sorgte, so – hm – kann ich, mit dem – ha – Segen der Vorsehung, jemand finden, der für mich sorgt. Ich kann nicht – ha, hm – alle Last auf dich wälzen, liebes Kind, und – ha – dich gewissermaßen aufopfern.«

O, welch eine Tageszeit für diese Beteurung von Selbstverleugnung: o; welche Zeit, um sie mit einer Miene auszusprechen, als ob man Glauben für sie forderte; welch eine Zeit, daran zu glauben, wenn das möglich wäre!

»Sprich nicht, Amy. Ich sage es ganz entschieden, ich kann das nicht zugeben. – Ich – ha – darf – es nicht zugeben. Mein – hm – Gewissen würde es nicht erlauben. Ich ergreife daher die mir durch diese angenehme und rührende Gelegenheit gebotene Veranlassung, dir feierlich – ha – kundzutun, daß es jetzt mein innigster Wunsch und Vorsatz ist, dich – ha – angemessen (ich wiederhole angemessen) verheiratet zu sehen.«

»O nein, mein lieber Vater, ich bitte dich!«

»Amy!« sagte Mr. Dorrit, »ich bin fest überzeugt, daß, wenn die Sache, die wir hier besprechen, einer Person von höherer Weltkenntnis, größerem Zartgefühl und schärferer Einsicht vorgelegt würde – wir wollen zum Beispiel sagen, Mrs. General –, so würden nicht zweierlei Ansichten über den – hm – liebevollen Charakter und die Richtigkeit meiner Gefühle stattfinden. Da ich jedoch deinen liebevollen und gehorsamen Charakter aus – hm – Erfahrung kenne, so bin ich überzeugt, daß ich nichts weiter zu sagen brauche. Ich habe – hm – für den Augenblick keinen Gatten, den ich dir vorschlagen könnte; ich habe sogar nicht mal einen in Aussicht. Ich wünsche nur – ha –, daß wir uns verstehen. Hm. Gute Nacht, meine liebe und einzig mir bleibende Tochter. Gute Nacht. Gott sei mit dir!«

Wenn Klein-Dorrit jemals in dieser Nacht der Gedanke kam, daß er sie jetzt in seinem Glücke leicht hingeben könnte, jetzt, da er im Sinn hatte, sie durch eine zweite Gattin zu ersetzen, so verscheuchte sie diesen Gedanken alsbald wieder. Unverändert treu gegen ihn wie in den schlimmsten Zeiten, wo sie allein mit ihrer Hand ihn gestützt und aufrechterhalten, wies sie diesen Gedanken von sich ab und kannte in ihrer tränenvollen Ruhelosigkeit keinen herberen Gedanken, als daß er jetzt alles im Licht ihres Reichtums und mit der beständigen Sorge ins Auge faßte, reich zu bleiben und reicher zu werden.

Sie saßen noch drei Wochen länger in ihrer Staatskutsche, mit Mrs. General auf dem Bock; dann reiste er nach Florenz, um mit Fanny zusammenzutreffen. Klein-Dorrit hätte ihm so gern bis dahin Gesellschaft geleistet, einzig um ihrer Liebe willen, und wäre dann, an ihr teures England denkend, zurückgekehrt. Aber da der Kurier mit der Braut gegangen, war der Kammerdiener nunmehr an der Reihe; und diese wäre erst an sie gekommen, wenn man niemand mehr für Geld hätte haben können.

Mrs. General nahm das Leben leicht – so leicht, heißt das, wie sie überhaupt etwas nehmen konnte –, als der römische Haushalt in ihrem alleinigen Besitz blieb; und Klein-Dorrit fuhr oft in einem Mietswagen, den man ihnen gelassen, aus oder sprang auch allein aus dem Wagen und wanderte unter den Ruinen des alten Rom umher. Die Trümmer des großen alten Amphitheaters, der alten Tempel, der alten erinnerungsreichen Bogengänge, der alten vielbetretenen Straße, der alten Gräber erschienen ihr außer in ihrer eigentlichen Gestalt auch als Ruinen des alten Marschallgefängnisses – als Ruinen ihres eigenen ehemaligen Lebens – als Ruinen der Gesichter und Gestalten derer, die es damals bevölkert, als Ruinen der Neigungen, Hoffnungen, Sorgen und Freuden, die darin gewaltet hatten. Zwei untergegangene Sphären I?9 des Tuns und Leidens standen vor dem einsamen Mädchen, das oft auf einem zerbröckelten Steine saß; und an dem einsamen Orte, unter dem blauen Himmel, sah sie beides zugleich.

Dann kam gewöhnlich Mrs. General, nahm allem die Farbe, wie Natur und Kunst alle Farbe aus ihr genommen; sie schob zwischen Mr. Eustaces Text überall Prunes und Prism, wo sie nur konnte; sah sich überall nach Mr. Eustace und Kompagnie um und hatte sonst für nichts Auge; scharrte die dürrsten Knochen Altertum zusammen und verschlang sie ohne menschliches Erbarmen – wie ein Werwolf in Handschuhen.