17. Kapitel


17. Kapitel

Martin erweitert den Kreis seiner Bekanntschaften, erstarkt in der Weisheit und findet vortreffliche Gelegenheit, seine eigenen Erfahrungen mit denen Lummy Neds von den leichten Salisburywagen zu vergleichen

Sehr charakteristisch für Martin war, daß er die ganze Zeit über Mark Tapley so vollkommen vergessen hatte, als ob ein Mensch dieses Namens überhaupt gar nicht existierte; und wenn die Gestalt dieses Gentlemans wirklich einmal vor seinem innern Auge auftauchte, so entließ er sie jedesmal wie etwas ganz Nebensächliches. Erst als er wieder auf der Straße war, fiel ihm ein, es sei am Ende doch nicht so ganz unmöglich, daß Mr. Tapley mit der Zeit müde werden könnte, an der Schwelle des Bureaus der Grobian-Zeitung zu stehen und zu warten, und sagte daher seinem neuen Freunde, dem Fremden, wenn es ihm passe, mit nach jener Gegend zu gehen, so möchte er gern das kleine Geschäft jetzt abmachen.

»Wenn ich schon einmal von Geschäften rede«, sagte Martin, »darf ich, um hinter der amerikanischen Sitte nicht zurückzustehen, vielleicht fragen, was Sie denn an diese Stadt hier fesselt oder ob Sie vielleicht nur zu Besuch hier sind.«

»Jawohl, zu Besuch«, versetzte der Fremde. »Ich bin im Staate Massachusetts aufgewachsen und lebe jetzt dort. Meine Heimat ist eine ruhige kleine Landstadt. Ich komme nicht oft an solch belebte Orte wie diesen und kann Ihnen versichern, je mehr ich sie kennenlerne, desto mehr vergeht mir die Lust zu weitern Besuchen.«

»Sind Sie im Ausland gewesen?« fragte Martin.

»Allerdings, Sir.«

»Und wie die meisten Menschen, die viel auf Reisen waren, haben Sie dann wohl Ihre Heimat um so lieber gewonnen?« forschte Martin und betrachtete seinen Begleiter neugierig.

»Meine Heimat? Ja«, entgegnete der Amerikaner. »Mein Geburtsland, sofern es meine Heimat ist? Ja, auch dies.«

»Sie scheinen mit einem gewissen Vorbehalt zu sprechen«, sagte Martin.

»Hm«, meinte der Fremde. »Wenn Sie mich fragen, ob ich heimgekehrt bin, sozusagen versöhnt mit den Fehlern meines Vaterlandes oder mit einer höhern und bessern Meinung über diejenigen, die sich in Anbetracht der täglichen Zunahme ihrer Dollars für seine Freunde ausgeben, oder mit mehr Gleichgültigkeit gegenüber dem Umsichgreifen von gewissen Grundsätzen in betreff Auffassung der öffentlichen Angelegenheiten und des Privatverkehrs – denen außerhalb der Atmosphäre eines Kriminalgerichtshofes das Wort zu reden sogar für Ihre Old-Bailey-Advokaten schimpflich sein würde –, wenn Sie eine solche Frage an mich stellen, müßte ich allerdings unverhohlen verneinen. Wenn Sie mich ferner fragen, ob ich mich mit einer Sachlage abgefunden habe, die eine weite Kluft zwischen zwei Gesellschaftsklassen setzt – Klassen, von denen die eine, und die überwiegend größere, eine falsche Unabhängigkeit behauptet und doch ihr erbärmliches Dasein auf eine jammervolle Mißachtung aller gebildeten, veredelnden Konventionen stützt, wie es nur den rohesten Charakteren zusagen kann, während die andere in ihrem Abscheu vor so niedrigen Grundsätzen ihre Zuflucht zu den Annehmlichkeiten und Geistesverfeinerungen nimmt, die sie dem Privatleben abgewinnen kann, und die öffentliche Wohlfahrt dem Geschick überläßt, das möglicherweise aus den Konsequenzen eines allgemeinen Kampfes hervorgehen kann –, so antworte ich abermals: nein.«

»Oh«, erwiderte Martin bange und beklommen, denn er sah die Aussicht auf seine Zukunft als Architekt mit einem Male schnell verblassen.

»Mit einem Wort«, fing der andere wieder an, »ich kann nicht finden, ich kann es nicht glauben und gebe es deshalb auch nicht zu, daß wir ein Musterbild von Weisheit, ein Beispiel für die übrige Welt und der Urtypus der menschlichen Vernunft sind. Sie können zwar viel Selbstlob zu jeder Stunde des Tages hier hören, aber das hat seinen Grund lediglich darin, daß wir unser politisches Leben mit zwei unschätzbaren Vorteilen begannen.«

»Und worin bestehen diese?« fragte Martin.

»Erstens einmal darin, daß unsere Geschichte in einer verhältnismäßig so späten Periode ihren Anfang nahm, daß wir nicht die lange Kette von Erinnerungen an Blutvergießen und Grausamkeiten wie andere Nationen mit uns schleppen mußten. Wir erfreuen uns daher aller Lichtseiten gemachter Erfahrungen, ohne ihren Druck zu empfinden. Der andere Vorteil ist, daß wir ein ungeheueres Ländergebiet bewohnen und – bis jetzt wenigstens – keine allzu große Bevölkerung haben. Zieht man diese Tatsachen in Betracht, so haben wir immerhin wenig genug geleistet, denke ich.«

»Und wie steht’s mit dem Fortschritt?« fragte Martin schüchtern.

»Im Grunde genommen nicht so übel«, meinte der Fremde und zuckte die Achseln, »aber besonders viel brauchen wir uns auch darauf nicht einzubilden, denn die alten Länder haben sogar unter despotischen Regierungen ebensoviel, wenn nicht mehr, geleistet, ohne soviel Aufhebens davon zu machen. Mit Bezug auf England fällt der Vergleich allerdings günstig für uns aus, aber England bildet auch ein Extrem. Übrigens nichts für ungut, Sir; doch Sie haben mir ja bereits wegen meiner Offenherzigkeit Komplimente gemacht«, setzte er lachend hinzu.

»Oh, ich mache mir gar nichts daraus, daß Sie sich so offen über mein Vaterland aussprechen«, entgegnete Martin. »Aber Ihre entschiedene Sprache in betreff des Ihrigen überrascht mich.«

»Ich versichere Ihnen, solche Eigenschaften werden Sie hier nicht selten finden, allerdings nicht unter Leuten wie Oberst Diver, Jefferson Brick und Major Pawkins, obgleich sogar die Besten von uns etwas von dem Bedienten in Goldsmiths Komödie haben, der bekanntlich niemandem als sich selbst erlaubte, über seinen Gebieter zu schimpfen. Doch sprechen wir von etwas anderem«, setzte er hinzu. »Wie ich vermute, sind Sie wahrscheinlich in der Absicht hierher gekommen, Ihr Glück zu machen. Es sollte mir sehr leid tun, wenn ich Ihnen Ihre Hoffnungen raube. Ich bin nun aber ein paar Jahre älter als Sie und kann Ihnen vielleicht in einem oder dem andern Punkt immerhin Rat erteilen.«

Dieses Anerbieten war offenherzig und gut gemeint und hatte auch nichts von Neugierde oder Anmaßung an sich. Martin konnte sich einem so freundlichen Entgegenkommen unmöglich verschließen und setzte daher in Kürze auseinander, was ihn nach Amerika geführt habe. Sogar, daß er arm sei, verschwieg er nicht. Allerdings brachte er es mit einer Miene vor, aus der man entnehmen konnte, er habe noch Geld für sechs Monate und nicht bloß für sechs Wochen, wie es wirklich der Fall war. Immerhin jedoch gestand er seine Mittellosigkeit ein und versicherte, er werde für jeden Rat außerordentlich dankbar sein.

Es wäre für niemanden, am wenigsten aber für Martin, dessen Beobachtungsgabe bereits durch die Umstände geschärft war, schwer gewesen, zu bemerken, daß der Fremde ein langes Gesicht machte, als er schließlich mit seinen Projekten herausrückte. Zwar gab sich der Amerikaner alle Mühe, eine möglichst zuversichtliche Miene zu machen, konnte sich aber doch eines unwillkürlichen Kopfschüttelns nicht erwehren, das ungefähr soviel sagte: lieber Freund, das geht sicher schief.

Im allgemeinen sprach er Martin Mut zu und sagte, wenn auch in New York keine Aussichten wären, so wolle er doch die Sache genau überlegen und sich erkundigen, wo ein Baumeister noch am ehesten reüssieren könne. Dann sagte er Martin, sein Name sei Bevan, er selbst sei Arzt, aber er praktiziere selten oder fast nie, und dann erzählte er ihm noch allerlei sowohl über sich wie über seine Familie; und damit verging die Zeit, bis sie endlich das Bureau der Grobian-Zeitung erreichten.

Mr. Tapley schien es sich auf dem Treppenabsatz des ersten Stockes bequem gemacht zu haben, wenigstens drangen Töne, wie wenn jemand mit Aufgebot seiner ganzen Lungenkraft das »Rule Britannia« pfiffe, aus jener Gegend an ihr Ohr, ehe sie noch das Haus betreten hatten. Als sie die Stufen emporklommen, von denen herab diese Musik erscholl, fanden sie Mark mitten in einer Art Festung aus Gepäck verschanzt und seine Nationalhymne einem grauhaarigen Schwarzen zum besten gebend, der auf einem der Außenwerke der Verschanzung, nämlich auf einem Mantelsack, saß und Mark mit großen Augen anstarrte, während dieser, den Kopf auf die Hand gestützt, munter drauflos pfiff.

Mr. Tapley schien soeben erst diniert zu haben, denn ein Messer, eine leere Flasche und einige Fleischschnitten lagen auf seinem Schnupftuch vor ihm. Einen Teil seiner Zeit hatte er zur Verzierung der Zeitungsbureautüre benützt, auf der jetzt sein Name in fußgroßen Buchstaben – nebst dem Datum in kleinerer Schrift darüber – prangte. Das Ganze war mit einem zierlichen Rand eingefaßt und sah ungemein malerisch aus.

»Ich fürchtete schon, Sie seien verlorengegangen, Sir«, rief Mark, stand auf und brach sein Lied ab. »Hoffentlich nichts Unangenehmes vorgefallen, Sir?«

»Nein, Mark, wo ist Ihre Freundin?«

»Die verrückte Person, Sir? Oh, alles ganz gut abgelaufen.«

»Hat sie ihren Mann gefunden?«

»Ja, Sir. – Wenigstens seine Überbleibsel«, sagte Mark, sich verbessernd.

»Wieso? – Ist er denn tot?« »Das gerade nicht, Sir. Aber es steckt mehr Fieber in ihm, als sich mit Wohlbefinden verträgt. Wenn sie ihn nicht gefunden hätte, wahrhaftig, ich glaube, er wäre gestorben.«

»Er erwartete sie also?«

»Ja. Oder besser gesagt, ein Teil von ihm. Es kam nämlich schließlich ein dürrer alter Schatten herangekrochen, der seiner Gestalt von damals, als sie ihn das letztemal gesehen, so ähnlich war wie ihr Schatten ihrem eigenen Selbst, wenn ihn die Sonne besonders in die Länge zieht. Aber immerhin war es doch wenigstens ein Überrest von ihm, daran ist kein Zweifel. Und sie freute sich von Herzen, die arme Person, daß sie ihn endlich wiederhatte.«

»Hat er vielleicht Land gekauft?« fragte Mr. Bevan.

»Natürlich hat er Land gekauft«, sagte Mark und nickte mit dem Kopf. »Und sogar das Geld dafür bezahlt. Es seien große Vorteile damit verbunden, behaupteten die Agenten; jedenfalls war ein ganz unendlicher Vorteil dabei, nämlich Wasser ohne Ende.«

»Nun, ohne Wasser, glaube ich, hätte er doch auch gar nicht bestehen können«, bemerkte Martin mürrisch.

»Natürlich nicht, Sir. Und er hatte genug davon und brauchte keine Wassersteuer zu zahlen. Ganz abgesehen von drei oder vier schlammigen Flüssen in der Nähe wechselte der Wasserstand während der trockenen Jahreszeit auf dem Gute von vier bis zu sechs Fuß Tiefe. Wieviel er zur Regenzeit betrug, das wußte er nicht, denn er hatte keine Zeit gehabt, um lange herumzusondieren.«

»Ist das wahr?« fragte Martin.

»Höchst wahrscheinlich. Es wird so ein Mississippi- oder Missourigrundstück sein. – Er kam«, fuhr Mark fort, »von Dingsda herunter nach New York, um Weib und Kinder zu treffen, und heute nachmittag sind sie wieder mit dem Dampfboot fortgefahren. Und so glücklich waren sie, als wenn’s schnurstracks in den Himmel ginge. – Wenigstens nach dem Aussehen des armen Burschen zu urteilen.«

»Und darf ich fragen«, fragte Martin und sah den Neger an, »wer dieser Gentleman ist? Auch ein Freund von Ihnen?« »Nun Sir«, flüsterte ihm Mark vertraulich ins Ohr, »es ist ein Farbiger, Sir.«

»Halten Sie mich vielleicht für blind?« fragte Martin etwas ungeduldig. »Ich sehe das doch selbst. Ein schwärzeres Gesicht ist mir überhaupt noch nicht vorgekommen.«

»Gewiß, nicht, Sir!« rief Mark. »Wenn ich sage ›ein Farbiger‹, so meine ich damit: einer von denen, wo immer in den Fensterläden abgebildet hängen. – Einen ›Mensch und Bruder‹, Sie verstehen, Sir«, setzte er hinzu und schilderte seinem Herrn mit einer pantomimischen Handbewegung eine der Figuren, die man so oft in den Traktätchen und wohlfeilen Volksschriften zu sehen bekommt.

»Aha, ein Sklave«, rief Martin.

»Ja, ja, gewiß; nicht mehr und nicht weniger als ein Sklave. Als er noch jung war – schauen Sie nicht hin auf ihn, Sir, während ich von ihm spreche –, wurde er ins Bein geschossen, in den Arm gehauen, bei lebendigem Leibe gezeichnet wie eine Speckseite, geprügelt bis zur Unkenntlichkeit; – ein eisernes Halsband rieb ihm den Hals wund, und an Knöcheln und Handgelenken trug er Eisenringe. Die Spuren davon kann man heute noch sehen. Als ich gerade mein Dinner verzehrte, zog er sich den Rock aus und verdarb mir den ganzen Appetit damit.«

»Ist das wahr?« fragte Martin den Fremden, der neben ihm stand.

»Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln«, antwortete dieser mit gesenktem Blick und schüttelte den Kopf. »Es ist leider sehr oft zu wahr.«

»Gewiß ist es wahr«, versicherte Mark, »das weiß ich; denn er erzählte mir seine ganze Lebensgeschichte. Sein erster Herr starb. Der zweite ebenfalls; ein Sklave schlug ihm den Schädel mit einer Axt ein und ging nachher ins Wasser. Dann bekam der Nigger einen bessern Herrn. Jahre und Jahre hindurch sparte und sparte er, bis er genug Geld beisammen hatte, um sich damit die Freiheit erkaufen zu können. Er bekam sie ziemlich billig, weil es mit seinen Kräften fast vorbei und er selbst schwer krank war. – Dann kam er hierher, und jetzt spart er wieder, um sich vor seinem Tod noch eine kleine Freude zu gönnen, nämlich seine – nicht der Rede wert übrigens – seine Tochter loszukaufen«, rief Mr. Tapley mit verhaltener Erregung, »Freiheit für immer, hoch, hurra!«

»Still«, warnte Martin und legte die Hand auf Marks Mund, »bedenken Sie, wo Sie sind. – Was will der Neger hier?«

»Er wartet, um auf einem Schubkarren unser Gepäck fortzuführen. Er hätte es auf die Schultern genommen, aber ich mietete ihn für länger für einen sehr anständigen Preis – auf meine eigenen Kosten –, damit er mir ein wenig Gesellschaft leiste und mich aufheitere. Und jetzt bin ich auch wirklich wieder mordsfidel, und wenn ich reich genug wäre, einen langen Kontrakt mit ihm abschließen zu können, daß er mir täglich einmal vor die Augen käme, würde ich überhaupt nie mehr anders sein.« Dabei lag jedoch etwas in Mr. Tapleys Mienen, das unbedingt darauf schließen ließ, daß er seine Versicherung durchaus nicht wörtlich meine.

»Meiner Seel, Sir«, fügte er hinzu, »man ist in diesem Erdteil so in die Freiheit vernarrt, daß man mit ihr schachert wie mit einer Ware. Man hat eine solche Leidenschaft für Freiheit, daß man sich nicht versagen kann, sie sich sogar gegen andere herauszunehmen. Da ist dann natürlich schließlich die Folge davon – –«

»Schon gut«, unterbrach Martin ungeduldig; »nachdem Sie zu diesem Schluß gekommen sind, Mark, schenken Sie mir vielleicht ein wenig Gehör. – – Der Ort, wohin dieses Gepäck kommen soll, ist auf der Karte hier angegeben: Mrs. Pawkins‘ Logierhaus.«

»Mrs. Pawkins‘ Logierhaus«, wiederholte Mark. »Nun, Cicero!«

»Ist dies sein Name?« fragte Martin.

»Ja, so heißt er, Sir.«

Der Neger grinste freundlich auf seinem ledernen Mantelsack, der bei weitem nicht so schwarz war wie sein Gesicht, nickte bejahend und humpelte mit seinem Anteil an den weltlichen Gütern der Reisenden die Treppe hinunter, während Mark Tapley bereits mit dem seinigen abgezogen war.

Martin und der Fremde folgten ihnen zum Tor hinunter und wollten eben ihren Spaziergang wieder aufnehmen, als der Amerikaner plötzlich haltmachte und hastig fragte, ob dem jungen Mann auch zu trauen sei. »Mark? Oh, gewiß. In jeder Hinsicht.«

»Mißverstehen Sie mich nicht. Ich denke nur, es wäre besser, er ginge mit uns. Er ist ein ehrlicher Bursche und spricht so offen heraus, wie es ihm ums Herz ist.«

»Ja, sehen Sie«, sagte Martin lächelnd, »er ist eben noch nicht an das Leben in einer freien Republik gewöhnt. Das ist die Sache.«

»Ich glaube, gerade aus diesem Grund wäre es besser, er ginge mit uns«, versetzte der Fremde; »er könnte sonst in allerhand Unannehmlichkeiten geraten. Wir sind zwar kein Sklavenstaat, aber ich muß mit Beschämung gestehen, daß der Geist der Duldsamkeit nicht so allgemein hier ist, wie es den Anschein hat. Unser Benehmen zueinander ist nicht besonders maßvoll, wenn wir verschiedener Ansicht sind – und gar erst gegen Fremde. Daher glaube ich wirklich, es wäre besser, er ginge mit uns.«

Martin rief daraufhin Mark sogleich zu, er solle sich dicht hinter ihnen halten, und so ging Cicero mit seinem Gepäck den einen Weg und die drei einen andern.

Ein paar Stunden schlenderten Martin, Mr. Tapley und der Amerikaner zusammen in der Stadt herum, betrachteten sich die besten Aussichtspunkte und verweilten in den Hauptstraßen oder vor den öffentlichen Gebäuden, auf die Mr. Bevan seinen jungen Freund besonders aufmerksam machte. Da es bald Nacht wurde, schlug Martin vor, nach Mrs. Pawkins‘ Etablissement zu gehen, um dort einen Kaffee zu trinken. Er wurde jedoch hierin von seinem Freund überstimmt, der es sich durchaus nicht nehmen lassen wollte, ihn, sei es auch nur für eine Stunde, nach dem nahegelegenen Hause eines seiner Freunde zu führen. Martin war müde und hatte deshalb zu einem Besuch keine besondere Lust, fühlte jedoch, daß es wenig Takt verrate, die Bitte abzuschlagen, wenn Mr. Bevan schon so liebenswürdig sei, ihn bei Bekannten einführen zu wollen. Deshalb opferte er – also wenigstens einmal in seinem Leben – seinen eignen Willen den Wünschen eines andern auf und ließ sich den Vorschlag gnädigst gefallen. Einen Vorteil also hatte das Reisen bisher bereits für ihn gehabt.

Mr. Bevan klopfte an die Türe eines hübschen, mäßig großen Hauses, aus dessen Wohnzimmerfenster die Lichter hell auf die dunkle Straße herunterschienen. Sie wurde fast augenblicklich von einem Mann von so ausgesprochen irischem Typus geöffnet, daß man ordentlich erstaunt war, den Menschen nicht zerlumpt, sondern in einem ganzen Anzug vor sich zu sehen.

Mark der Obhut dieses Phänomens anempfehlend – denn als ein solches mußte der Mann in den Augen eines Engländers erscheinen –, ging Mr. Bevan nach dem Zimmer voran, das seinen gemütlichen Schein auf die Straße geworfen und dessen Bewohnern er Mr. Chuzzlewit als einen Gentleman aus England vorstellte, den er kürzlich kennenzulernen das Vergnügen gehabt habe. Man hieß die beiden Gäste freundlich und höflich willkommen, und in weniger als fünf Minuten saßen sie ganz behaglich am Kaminfeuer und unterhielten sich ungeniert mit der Familie.

Es waren zwei junge Damen zugegen, die eine achtzehn, die andere zwanzig Jahre alt; beide sehr schmächtig, aber sehr hübsch, – dann ihre Mutter, die nach Martins Ansicht viel älter und verwelkter aussah, als man von ihr hätte voraussetzen sollen, und ihre Großmutter, eine kleine, muntere Frau mit scharfen Augen, die über das Stadium des Alterns hinausgekommen und wieder ganz jung geworden zu sein schien. Außerdem waren anwesend: der Vater der beiden Damen und der Bruder derselben; der erstere ein Geschäftsmann, der andere ein Student; beide sehr herzlich zu Mr. Bevan und ihm hinsichtlich Gesichtsschnitt sehr ähnlich, was übrigens kein Wunder war, da er, wie es sich bald darauf herausstellte, ein naher Verwandter von ihnen war. Martin interessierten vor allem die beiden jungen Damen, nicht nur, weil sie, wie gesagt, sehr hübsch waren, sondern auch wegen ihrer wunderbar kleinen Schuhe und der außerordentlich dünnen seidenen Strümpfe, die jetzt auf den Schaukelstühlen in geradezu sinnverwirrendem Ausmaß sichtbar wurden.

Es war auch ohne Zweifel höchst angenehm, in einem traulichen, gut möblierten und von heiterem Kaminfeuer durchwärmten Zimmer zu sitzen, das eine Menge der anziehendsten Dinge und vor allem vier kleine zierliche Schuhe und ebensoviel seidene Strümpfe und – warum es nicht aussprechen – die dazugehörigen Beine umschloß. Und ohne Zweifel betrachtete Martin seine Lage durchaus in diesem Licht, um so mehr, wenn er der Erfahrungen, die er jüngst auf der »Schraube« und in Mrs. Pawkins‘ Kosthaus gemacht, gedachte. Die Folge davon war, daß er sich bemühte, möglichst angenehm zu erscheinen, und bereits, als der Tee und Kaffee aufgetragen wurde, von der ganzen Familie außerordentlich geschätzt war.

Ein zweiter entzückender Umstand ergab sich, ehe noch die erste Tasse Tee getrunken worden. Die ganze Familie war nämlich früher einmal in England gewesen, und das traf sich gut. Ein wenig irritierte es Martin zwar, als er erfuhr, daß alle die großen Herzoge, Lords, Marquisen, Herzoginnen, Ritter und Baronets Englands der Familie sämtlich genau bekannt waren, daß man aber trotzdem alles mögliche von ihm über sie wissen wollte. Doch zog er sich mit Antworten, wie: ja, o ja, er befand sich ganz wohl, oder: es ging ihm nie besser und so weiter noch so ziemlich gut aus der Schlinge. Ebenso, als ihn die jungen Damen nach den Goldfischchen in der griechischen Fontäne im Garten dieses oder jenes Edelmannes fragten, und ob noch so viele wie sonst darin seien. Ernst und nach reiflicher Überlegung antwortete er, es müßten ihrer jetzt mindestens zweimal so viele sein. Und die exotischen Gewächse? Oh, darüber ließe sich gar nichts sagen, man müsse das sehen, um es zu glauben. Dann kam die Reihe an die Erinnerungen und was Mr. Norris, der Vater, zu dem Marquis, was Mrs. Norris, die Mutter, zu der Marquise gesagt, und was dann wieder der Marquis und die Marquise geantwortet und wie sie auf ihr Ehrenwort versichert hätten, sie wünschten, Mr. Norris, der Vater, und Mrs. Norris, die Mutter, und die Misses Norris, die Töchter, und Mr. Norris junior, der Sohn, möchten doch ihren dauernden Aufenthalt in England nehmen und ihnen das Vergnügen ihres dauernden Verkehres schenken.

Darüber verfloß eine beträchtliche Zeit.

Etwas sonderbar und gewissermaßen inkonsequent kam es Martin vor, daß während dieser Erzählungen und auf dem Kulminationspunkt der Familienfreude darüber Mr. Norris, der Vater, und Mr. Norris junior, der Sohn, die, wie sie sagten, an jedem Posttage mit vier Mitgliedern des englischen Hochadels korrespondierten, sich so weit und breit über den unschätzbaren Vorteil ausließen, daß es in ihrem erleuchteten Vaterlande Amerika keine derartigen Auszeichnungen gebe und auch keinen andern Adel als den Adel der Natur, und die ganze amerikanische Gesellschaft sei auf die große Grundlage brüderlicher Liebe und natürlicher Gleichheit aufgebaut. Offen gestanden wurde Mr. Norris, der Vater, in seiner Rede über dieses unerschöpfliche Thema recht langweilig, bis schließlich Mr. Bevan seinen Gedanken dadurch eine andere Richtung gab, daß er nach den Bewohnern des nächsten Hauses fragte, worauf Mr. Norris, der Vater, bemerkte, daß der Herr Nachbar zu religiösen Ansichten hinneige, die er nicht billigen könne, weshalb er sich auch die Ehre versagen müsse, mit dem Gentleman näher bekannt zu werden. Mrs. Norris, die Mutter, fügte aus einem anderen Grunde hinzu, der übrigens zu demselben Resultat führte, sie glaube, die Leute wären gut genug in ihrer Art, aber durchaus nicht – gentil.

Dann kam die Rede auf ein Thema, das auf Martin einen tiefen Eindruck machte. Mr. Bevan erzählte nämlich die Geschichte von Mark und dem Neger, und dabei zeigte sich, daß sämtliche Norris Abolitionisten waren. Dieser erfreuliche Umstand veranlaßte Martin natürlich, sein Mitgefühl mit den unterdrückten und unglücklichen Schwarzen an den Tag zu legen. Den Ernst, mit dem er sich darüber ausließ, fand die eine der jungen Damen – und zwar die hübschere der beiden – ungemein belustigend, und als er sie nach der Ursache ihrer Heiterkeit fragte, konnte sie eine Weile vor lauter Lachen gar keine Antwort geben. – Als sie endlich wieder Worte fand, sagte sie, die Schwarzen seien so kuriose Menschen und so possierlich in ihrem Äußeren, daß es für Personen, die sie kennten, rein unmöglich sei, mit so ungereimten Teilen der Schöpfung irgendwelche ernstliche Gedanken in Verbindung zu bringen. Mr. Norris, der Vater, und Mrs. Norris senior, die Großmutter, waren ganz derselben Meinung, rein als ob die Leiden der Sklaverei nicht an und für sich schon schrecklich genug wären, um sogar in menschlichen Tieren etwas Ernstes sehen zu lassen, wären sie auch physisch noch so lächerlich und lächerlicher als die groteskesten Affen.

»Kurz«, sagte Mr. Norris, der Vater, und erledigte damit die Frage ein für allemal, »es herrscht eine natürliche Antipathie zwischen den beiden Rassen.« »Die«, fügte Martins Freund mit leiser Stimme hinzu, »so weit, geht, daß man sogar vor den grausamsten Martern und dem Schacher mit noch ungeborenen Generationen nicht zurückschreckt.«

Mr. Norris, der Sohn, sagte zwar nichts, zog aber ein sehr schiefes Gesicht und stäubte sich die Finger ab, wie es wohl Hamlet getan haben mochte, nachdem er Yoricks Schädel weggeworfen, und als habe er sich in dem Augenblick an einem Neger schwarz gemacht und es wäre etwas von dessen Farbe an ihm haften geblieben.

Um dem Gespräch wieder die frühere angenehme Richtung zu geben, ließ Martin das Thema lieber ganz fallen. Er sah ein, daß es bedenklich sei in Amerika, selbst unter den günstigsten Verhältnissen etwas derartiges zu berühren. Er wandte sich daher aufs neue den jungen Damen zu, die äußerst gewählt und in helle Farben gekleidet waren. Alles an ihnen stand zu den kleinen Schuhen und den dünnen Seidenstrümpfen in bestem Einklang. Er schloß daraus, daß sie sehr versiert sein mußten in den französischen Moden, und das stellte sich auch schließlich als Tatsache heraus. Namentlich die ältere Schwester, die sehr philosophisch angelegt schien und die Gesetze der Hydraulik und Menschheitsrechte im kleinen Finger hatte, verstand es auf geradezu verblüffende Weise, diese Kenntnisse auf alle möglichen Gegenstände – von Kunst und Staatswesen angefangen bis zur Kirche und Glauben – anzuwenden. Sie konnte darin so tiefsinnig und merkwürdig werden, daß sie damit einen Fremden in fünf Minuten in einen Zustand intermittierenden Irreseins zu versetzen imstande war.

Auch Martin fühlte, daß sich ihm bereits der Kopf zu drehen anfing, und um sich zu retten, ersuchte er die andere Schwester, zumal er ein Piano im Zimmer bemerkte, etwas zu singen. Sie erklärte sich gern dazu bereit, und sofort setzte ein Bravourkonzert ein, ausschließlich von den Misses Norris bestritten. Sie sangen in allen Sprachen, nur in ihrer Muttersprache nicht. Deutsch, französisch, italienisch, spanisch, portugiesisch, nur nichts Amerikanisches; nichts so Gemeines, wie ihre Muttersprache war. In dieser Hinsicht sind die Sprachen wie die Menschen selbst; alltäglich und ordinär zu Hause, aber ungemein nobel im Ausland. Fraglos wären die Misses Norris im Laufe der Zeit bis zum Hebräischen gekommen, wenn nicht eine Anmeldung des Irländers sie unterbrochen hätte, der plötzlich die Türe aufriß und mit lauter Stimme rief: »Schineräl Fladdock.«

»Oh«, riefen die Schwestern und hörten sofort auf zu spielen, »der General ist zurück!«

Fast im selben Augenblick stürzte der »General« in voller Balluniform so Hals über Kopf in die Stube, daß er sich mit den Füßen in den Teppich verwickelte, den Degen zwischen die Beine bekam, der Länge nach hinfiel und den Blicken der erstaunten Gesellschaft eine auffallende kleine Glatze auf seinem Scheitel präsentierte. Und das war das Ärgste noch nicht, denn da der Herr etwas beleibt und in etwas sehr knappe Kleider gezwängt war, so konnte er, einmal auf dem Boden, sich nicht so leicht wieder aufrichten, sondern lag da und krümmte sich und führte mit seinen Stiefeln Manöver aus, wie sie in der Kriegsgeschichte ihresgleichen suchen.

Natürlich stürzte sogleich alles zu seinem Beistand herbei und half ihm auf die Beine, aber seine Uniform war so tief durchdacht und wunderbar gearbeitet, daß er ganz steif und kerzengerade in die Höhe kam und wie ein toter Harlekin sich weder rühren noch regen konnte, bis er genau perpendikulär auf die Sohlen gestellt war. Dann aber kam plötzlich, wie durch ein Wunder, wieder Leben in ihn. Seitlich gehend wie ein Seekrebs bewegte er sich einher, um die Goldschnüre an seinen Epauletten durch Anstoßen nicht in Unordnung zu bringen, lächelte und begab sich grüßend zu der Frau vom Hause.

Die Freude und das Entzücken der Familie bei dieser unerwarteten Erscheinung des Generals Fladdock kannte keine Grenzen. Er wurde so warm aufgenommen, als ob New York im Belagerungszustand und kein anderer Feldherr für Geld oder gute Worte zu bekommen gewesen wäre. Allen Norris‘ schüttelte er der Reihe nach dreimal die Hand und musterte sie dann nach Art eines tapferen Kommandanten in einer Entfernung von ein paar Schritten, den Mantel über die rechte Schulter geworfen und auf der linken zurückgeschlagen, um seine männliche Heldenbrust in vollem Glanz zur Geltung kommen zu lassen. »Und so sehe ich denn wieder«, rief der General, »die auserlesensten Geister meines Vaterlandes von Angesicht zu Angesicht.«

»Ja«, sagte Mr. Norris, der Vater, »hier sind wir, General.«

Und nun drängten sich alle Norris um den General, fragten ihn, wie und wo er sich seit seinem letzten Besuch befunden, wie es ihm im Ausland gefallen, und namentlich, wie weit seine Bekanntschaft mit den großen Herzögen, Lords, Viscounts, Marquisen, Herzoginnen, Rittern und Baronets gediehen, an denen die Völker jener umnachteten Länder solche Freude hätten.

»Fragen Sie nicht«, sagte der General und erhob abwehrend die Hand, »ich habe mich die ganze Zeit immer unter ihnen herumgetrieben und Zeitungen mitgebracht, in denen mein Name gedruckt zu lesen steht und voll Lob erwähnt ist, und zwar« – er erhob seine Stimme zu größter Eindringlichkeit – »als eine der neuesten fashionablen Erscheinungen. – Ach Gott, wenn nur die schrecklichen Konventionalitäten in diesem Europa nicht wären.«

»Oh«, seufzte Mr. Norris, der Vater, schüttelte melancholisch den Kopf und warf Martin einen Blick zu, als wolle er sagen: »Ich kann es nicht in Abrede stellen, Sir; wollte Gott, ich könnte es.«

»– und diese unglaubliche Beschränkung moralischen Gefühls in jenem Lande!« rief der General. »Und der Mangel an sittlicher Würde im Menschen!«

»Ach!« seufzten sämtliche Norris‘, ganz überwältigt von Trostlosigkeit.

»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wenn ich nicht selbst an Ort und Stelle gewesen wäre. – Lieber Norris, Ihre Einbildungskraft ist sicherlich die eines starken Mannes, aber hätten Sie sich eine Vorstellung davon machen können, wenn Sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätten?«

»Nein«, antwortete Mr. Norris.

»Diese Exklusivität, dieser Stolz, diese Förmlichkeit, diese Zeremonien!« rief der General mit wachsendem Nachdruck. »Diese künstlichen Schranken zwischen Mensch und Mensch, die Einteilung der Gesellschaft nach Kasten! Nach allem, nur nicht nach dem Herzen.«

»Ach!« rief die ganze Familie. »Leider nur zu wahr, General!« »Aber halt, Sir«, rief Mr. Norris, der Vater, und faßte seinen Gast beim Arm, »Sie sind doch mit der ›Schraube‹ herübergekommen, General?«

»Jawohl, mit der ›Schraube‹«, war die Antwort.

»Ist’s denn möglich«, riefen die jungen Damen, »man denke!«

Der General schien gar nicht begreifen zu können, wieso seine Rückkehr mit der »Schraube« zu solcher Sensation Anlaß geben könne, und wurde auch nicht klüger daraus, als Mr. Norris ihm Martin mit den Worten vorstellte:

»Ein Reisegefährte von Ihnen, wie ich glaube.«

»Von mir?« rief der General. »Ausgeschlossen!«

Er hatte Martin natürlich nie gesehen, wohl aber dieser ihn, und jetzt stand der unglückliche junge Mann ihm Angesicht zu Angesicht gegenüber und erkannte in ihm den Gentleman, der sich gegen Ende der Reise mit in die Taschen gesteckten Händen und weit aufgeblähten Nüstern auf Deck dem Volke gezeigt hatte. Jeder von den Anwesenden faßte ihn ins Auge. Da war jetzt guter Rat teuer; die Wahrheit mußte an den Tag.

»Ich machte allerdings in demselben Schiff die Überfahrt mit wie der General, aber nicht in derselben Kajüte«, erklärte Martin mit leiser Stimme. »Ich war genötigt, mich in jeder Hinsicht einzuschränken und reiste daher im Zwischendeck.«

Wenn man den General vor eine geladene Kanone gestellt und aufgefordert hätte, sie in diesem Augenblick mit eigener Hand abzufeuern, so hätte er nicht in größere Bestürzung geraten können, als jetzt, wo er diese Worte vernahm.

Er, Fladdock, in voller militärischer Uniform, Fladdock, der General, Fladdock, der gefeierte Mann des ausländischen Adels, sollte einen Kerl kennen, der für vier Pfund zehn Schillinge in dem Zwischendeck eines Paketschiffes herübergekommen war! Und einen solchen Menschen mußte er in dem Heiligtum der New Yorker vornehmen Welt, im Herzen der New Yorker Aristokratie nisten finden! Es fehlte wenig, daß er die Hand an seinen Degengriff gelegt hätte.

Totenstille herrschte unter den Norris‘. Wenn die Geschichte ruchbar wurde, so hatte ihnen ihr Vetter vom Lande ein unauslöschliches Brandmal aufgedrückt. Sie waren die Leuchten, die Stars einer hohen New Yorker Sphäre. Es gab wohl noch andere fashionable Kreise über ihnen und unter ihnen, aber keiner von den Stars in einer dieser Sphären hatte mit denen der andern irgendwelche Berührungspunkte. Was nun, wenn dennoch ruchbar wurde, daß die Norris‘, durch das scheinbar anständige Äußere eines Menschen getäuscht, von ihrer Höhe herabgestiegen waren und einem dollarlosen und unbekannten Subjekt den Zutritt in ihre Familie gestattet hatten?! Oh, Schutzengel der reinen Republik, daß du so etwas hattest zugeben können!

»Gestatten Sie mir«, fing Martin nach einem schrecklichen Schweigen wieder an, »daß ich mich jetzt verabschiede; ich fühle, daß ich hier der Anlaß zu einer wenigstens ebenso großen Verlegenheit geworden bin, wie die ist, in der ich mich selbst befinde. Ehe ich mich jedoch entferne, halte ich es für meine Pflicht, diesen Gentleman hier von aller Schuld freizusprechen, denn ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß er meine soziale Unwürdigkeit nicht kannte, als er mich in die Gesellschaft hier einführte.«

Mit diesen Worten machte er den Norris‘ seine Verbeugung und entfernte sich, äußerlich so kalt wie ein Schneemann, aber innerlich förmlich fiebernd.

»Nun«, meinte Mr. Norris, der Vater, nachdem Martin die Türe hinter sich zugezogen, und sah sich blaß bis in die Lippen im Kreise der Anwesenden um. »Der junge Mann hat heute abend einen gesellschaftlichen Schliff und eine ungekünstelte Hochkultur gesehen, die er in seinem Vaterland nicht zu finden vermag. Hoffen wir, daß es den Sinn für Moral in ihm wecke.«

– Wenn dieser eigentümliche, transatlantische Artikel, das moralische Gefühl – denn wenn man den eingeborenen Staatsmännern, Rednern und Journalisten glauben darf, so hat Amerika ein Monopol darauf –, wenn dieser eigentümliche transatlantische Artikel ein liebevolles Wohlwollen für alle Menschen in sich faßt, so hätte es Martins moralischer Sinn in diesem Augenblick allerdings sehr stark nötig gehabt, ein wenig geweckt zu werden, denn wie er, Mark hinter sich, so die Straße entlang schritt, war sein unmoralischer Sinn in voller Tätigkeit begriffen und stachelte ihn an, gewisse blutdürstige Bemerkungen laut werden zu lassen, die aber zum Glück für ihn von niemandem gehört wurden. Er hatte sich jedoch bald wieder so weit gefaßt, daß er bei der Erinnerung an den kleinen Vorfall ein Lächeln aufbringen konnte, da hörte er plötzlich Schritte hinter sich, und als er sich umdrehte, sah er seinen Freund Mr. Bevan ihm atemlos nachkommen.

Einen Augenblick später schob der Amerikaner den Arm durch den seinen, ersuchte ihn, langsamer zu gehen, schwieg dann einige Minuten und sagte schließlich:

»Ich hoffe, Sie sprechen mich auch noch in persönlichem Sinne frei!«

»Wie meinen Sie das?« fragte Martin.

»Ich hoffe, Sie glauben doch nicht, daß ich den Ausgang unseres Besuches auch nur im entferntesten hätte voraussehen können. Aber diese Frage ist wohl kaum nötig.«

»Natürlich nicht«, sagte Martin. »Ich bin Ihnen im Gegenteil um so mehr für Ihre Güte verbunden, als ich jetzt klar sehe, aus welchem Stoff die guten Bürger hier gemacht sind.«

»Ich denke«, entgegnete der Amerikaner, »daß sie so ziemlich aus demselben Stoffe bestehen wie andere Menschen, wenn diese es nur immer eingestehen wollten.«

»Sie haben da nicht so unrecht«, gab Martin zu.

»Vermutlich«, fuhr Mr. Bevan fort, »kommen ähnliche Szenen wohl auch in englischen Komödien vor, und Sie dürfen keine besondern Ausnahmen darin entdecken. Freilich mag ein solcher Vorfall hierzulande lächerlicher erscheinen als anderswo, da wir immer soviel von ›Gleichheit‹ predigen. Was mich betrifft, kann ich wohl hinzusetzen, daß ich von Anfang genau wußte, daß Sie Ihre Fahrt im Zwischendeck machten, denn ich habe die Liste der Kajütenreisenden gelesen und Ihren Namen darunter nicht gefunden.«

»Um so mehr bin ich Ihnen dann verpflichtet«, sagte Martin.

»Norris ist in seiner Art ein sehr guter Mensch«, erklärte Mr. Bevan.

»So«, versetzte Martin trocken.

»O ja. Er hat viele vortreffliche Eigenschaften. Wenn Sie oder jemand anders sich als nicht gerade gleichberechtigtes Wesen an ihn gewendet und ihn um Rat oder Hilfe angegangen hätten, so wäre er die Freundlichkeit und Rücksicht selbst gewesen.«

»Ich hätte aber dazu nicht nötig gehabt, dreitausend Meilen von der Heimat wegzureisen, um einen solchen Charakter kennenzulernen!«

Weder Martin noch sein neuer Freund sprachen weiter auf dem Heimwege ein Wort und schritten stumm nebeneinander her, augenscheinlich hinreichend mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

Als sie in der Wohnung des Majors anlangten, war der Tee, das Souper, oder wie man sonst das Abendessen nennen wollte, vorüber, und nur das Tuch lag noch auf dem Tische, mit einigen Schmutzflecken dekoriert. An dem einen Ende der Tafel saßen Mrs. Jefferson Brick und zwei andere Damen bei ihren Tassen. Es mußte augenscheinlich eine außergewöhnliche Zusammenkunft sein, denn sie hatten ihre Hüte und Schals an, als ob sie eben erst nach Hause gekommen wären. Bei dem Lichte dreier Kerzen von ungleicher Länge, die in ebenso vielen verschieden geformten Leuchtern staken, nahm sich das Gemach fast noch unvorteilhafter aus als am Tage.

Die drei Damen hatten bei dem Eintritt Martins und seines Freundes in sehr lautem Tone miteinander gesprochen, hielten aber sofort inne, als sie die Herren erblickten, und wurden ungemein steif, wo nicht frostig. Sie fuhren jetzt fort, ihre Bemerkungen im Flüstertone miteinander auszutauschen, und allmählich griff eine Stimmung Platz, als ob plötzlich das Wasser in der Teekanne um zwanzig Grade gefallen sei.

»Sind Sie in der Versammlung gewesen, Mrs. Brick?« fragte Martins Freund mit einer Art eingeweihten Blinzelns.

»In der Vorlesung, Sir!«

»Bitte um Verzeihung. Ich weiß, Sie gehen selbstverständlich nie in eine Versammlung

Die Dame, die rechts von Mrs. Brick saß, hüstelte daraufhin, als wolle sie sagen: »Aber ich gehe hin.« Wie es übrigens auch wirklich der Fall war, und zwar jeden Abend in der Woche.

»Eine gute Predigt, Madame?« fragte Mr. Bevan und wandte sich zu dieser Dame. Die Gnädige schlug die Augen fromm gen Himmel auf und erwiderte. »Ja.« – Sie hatten sich nämlich sehr erbaut an einigen guten, kräftigen und gepfefferten Lehren, die allen ihren Freundinnen gehörig die Meinung gesagt und ihnen enthüllt hatten, wes Geistes Kinder sie seien. Auch war ihr Hut bei weitem der schönste in der ganzen Versammlung gewesen, und sie konnte daher nur mit Freude daran zurückdenken.

»Welchen Vorlesungskurs besuchen Sie gegenwärtig, Madame?« fragte Mr. Bevan weiter und wendete sich abermals an Mrs. Brick.

»Am Mittwoch: Philosophie der Seelen.«

»Und montags?«

»Philosophie des Verbrechens. Am Freitag: Philosophie der Pflanzen.«

»Wir haben den Donnerstag vergessen, meine Liebe«, mahnte eine der Damen.

»Philosophie der Staatswissenschaften«, bemerkte die dritte Dame.

»Nein«, verbesserte Mrs. Brick, »das ist am Dienstag.«

»Sie haben recht, am Donnerstag ist ja Philosophie der Materie.«

»Sie sehen, Mr. Chuzzlewit, unsere Damen sind vollauf beschäftigt«, erklärte Mr. Bevan.

»Das scheint mir allerdings so«, antwortete Martin. »In Anbetracht dieser ernsten Studien außer Hause und der Familienobliegenheiten im Hause kann den Damen unmöglich noch viel freie Zeit übrig bleiben.«

Er hielt hier inne, denn er bemerkte plötzlich, daß man ihn nicht mit sehr gnädigen Blicken betrachtete, wenn er sich auch nicht erklären konnte, warum. Aber als die Damen die Treppe hinauf in ihre Schlafzimmer gegangen waren, was bald darauf geschah, setzte ihm Mr. Bevan auseinander, die häusliche Plackerei stehe so tief unter der Würde dieser Philosophinnen, daß man hundert gegen eins wetten könne, keine von allen dreien sei imstande, auch nur die leichteste Frauenarbeit für sich zu verrichten oder das einfachste Kleidungsstück für eines ihrer Kinder herzustellen. »Und doch, glaube ich, wäre es vielleicht besser für sie, wenn sie sich mit stumpferen Werkzeugen beschäftigen wollten – zum Beispiel mit Stricknadeln«, sagte er. »Aber für eins kann ich gutstehen: sie tun sich nicht weh bei ihrer jetzigen Beschäftigung. – Andachtsstunden und Vorlesungen vertreten bei uns die Stelle der Bälle. Sie gehen hin, um sich von der Eintönigkeit des täglichen Lebens zu erholen, beneiden einander um ihre neuesten Kleider und gehen dann wieder nach Hause.«

»Meinen Sie mit dem ›nach Hause‹ gehen ein Haus wie dieses?«

»Oft ist es so. Aber ich sehe, Sie sind jetzt todmüde. Lassen Sie mich Ihnen gute Nacht sagen. Ihre Pläne wollen wir morgen früh genauer besprechen. Sie müssen übrigens inzwischen eingesehen haben, daß es Ihnen nicht viel nützen würde, hier zu bleiben und bessere Verhältnisse abzuwarten. Sie werden andere Orte aufsuchen müssen.«

»Das heißt für mich, noch tiefer ins Unglück zu geraten«, sagte Martin.

»Das will ich nicht hoffen. – Aber genug für heute. Gute Nacht.« Damit drückten die beiden Herren einander herzlich die Hand und trennten sich. Als Martin allein war, ließ die Erregung, in die ihn die große Veränderung und die Neuheit alles dessen, was er gesehen, versetzt und die ihn den Tag über bei allen Strapazen aufrecht erhalten hatte, plötzlich nach, und er fühlte sich mit einem Male so niedergeschlagen und abgehetzt, daß er nicht die Energie aufbringen konnte, sich die Treppe hinauf in seine Schlafkammer zu schleppen.

Zwölf oder fünfzehn Stunden, und was hatte sich da nicht alles in seinen Hoffnungen und sanguinischen Plänen geändert! Als Fremder hier in einem Lande, das so ganz anders war als seine Heimat, mußte er immer mehr und mehr zu der bangen Überzeugung kommen, daß sein Unternehmen als gescheitert zu betrachten sei. An Bord des Schiffes hatte es ihm oft keck und unüberlegt geschienen, nicht so aber, als er gelandet war. Jetzt zeigte es sich ihm in einem traurigen und abschreckenden Lichte. Was er sich auch ausmalen wollte, immer entmutigendere Bilder traten vor seine Seele, und selbst die Diamanten an seinem Finger hatten etwas von dem Glanze von Tränen, und ihr Funkeln schickte ihm keinen Hoffnungsstrahl.

So blieb er in düsterem Brüten bei dem Kaminfeuer sitzen, ohne auf die Schritte der Kostgänger zu achten, die – einer nach dem andern – von ihren Magazinen, Kontoren oder den benachbarten Bars zurückkehrten, um noch einen tüchtigen Schluck aus einem großen weißen Wasserkrug auf dem Seitentische zu tun, dann gleichsam von einer Art häßlichem Zauber bestrickt in der Nähe der Spucknäpfe verweilten und sich endlich schwerfällig zu Bett begaben. Zuletzt kam Mark Tapley, trat ein und schüttelte ihn am Ärmel, da er dachte, er sei eingeschlafen.

»Mark!?«

»All right, Sir«, sagte Mark und schneuzte das Licht, das er in der Hand trug. »Ihr Bett scheint mir nicht sonderlich groß, Sir, und auch ein durchaus nicht durstiger Mann könnte vor dem Frühstück all das Wasser ruhig austrinken, das Sie zum Waschen hier haben, und hinterdrein meinetwegen auch noch das Handtuch verspeisen. Aber Sie werden heute nacht wenigstens auf festem Lande schlafen, Sir.«

»Mir ist, als ob dieses Haus auf der See schwämme«, sagte Martin und stolperte beim Aufstehen; »ich fühle mich höchst elend.«

»Und mir ist so fidel zumute wie einem Kegeljungen, Sir«, versetzte Mark. »Meiner Seel, ich habe aber auch Grund dazu. Ich bin der Ansicht, daß ich von Rechts wegen hier hätte geboren werden sollen. Nehmen Sie sich in acht«, warnte er, »fallen Sie nicht! Übrigens, Sie erinnern sich doch noch des Gentlemans an Bord der ›Schraube‹, der so einen kleinen Koffer mithatte, Sir?«

»Das Felleisen. – ja.«

»Nun, Sir, heute abend ist sein Weißzeug aus der Wäsche gekommen und hängt jetzt vor der Türe des Schlafzimmers zum Trocknen. Wenn Sie hinaufgehen, schauen Sie sich’s mal an. Sie können dann leicht aus der Anzahl seiner Hemden ersehen, worin das Geheimnis seiner Art zu packen bestand.«

Martin war jedoch viel zu müde und niedergeschlagen, um auf irgend etwas zu achten, und deshalb interessierte ihn diese Entdeckung auch nicht weiter. Mr. Tapley, der sich durch seine Teilnahmslosigkeit nicht entmutigen ließ, führte ihn sodann unter das Dach des Hauses und in das für ihn bestimmte Schlafgemach, nämlich eine sehr kleine Kammer mit einem halben Fenster, einer Bettstätte wie ein Koffer ohne Deckel, zwei Stühlen und einem Stück Teppich – wie er in England zum Abreiben der Schuhe vor neuen Treppen liegt – und einem kleinen an die Wand genagelten Spiegel, außerdem einem Waschtisch und einem Krug samt Waschschüssel, die man ganz leicht für einen Milchtopf und einen Spülnapf hätte halten können.

»Ich denke, hierzulande poliert man sich mit einem trockenen Tuch«, erklärte Martin, »wahrhaftig, die Amerikaner müssen so etwas wie die Wasserscheu haben, Sir.«

»Es wäre mir lieb, wenn Sie mir die Stiefel ausziehen hälfen«, brummte Martin und warf sich in einen der Sessel; »ich kann mich kaum mehr rühren, ich bin halbtot vor Müdigkeit, Mark.«

»Morgen früh werden Sie das nicht mehr sagen, Sir«, tröstete Mr. Tapley. »Nicht einmal heute würden Sie’s sagen, wenn Sie dies hier probiert hätten.«

Damit brachte er einen sehr großen Becher zum Vorschein, der bis an den Rand mit kleinen Stückchen klaren durchscheinenden Eises gefüllt war, durch die ein paar dünne Zitronenscheiben und eine köstlich goldglänzende Flüssigkeit dem sehnsüchtigen Auge des Beschauers entgegenleuchteten.

»Was ist das?« fragte Martin.

Doch Mr. Tapley gab keine Antwort, er tauchte bloß ein Rohr in die Mischung, rührte damit die Eisstückchen um und gab Martin mit ausdrucksvoller Gebärde zu verstehen, daß der entzückte Trinker die Flüssigkeit mittels dieses Instrumentes aussaugen müsse.

Martin nahm das Glas mit erstauntem Blick, brachte die Lippen an den Strohhalm und schlug dann mit einem Male wie in Verzücken die Augen auf. Er hielt auch nicht mehr inne, bis das Glas bis auf den letzten Tropfen geleert war.

»So, Sir«, rief Mark und nahm ihm den Becher mit triumphierender Miene aus der Hand. »Wenn Sie zufälligerweise wieder mal halbtot sein sollten und ich nicht bei der Hand wäre, so haben Sie nichts weiter zu tun, als den nächsten besten Kellner zu bitten, er solle Ihnen einen ›Cobbler‹ holen.«

»Einen Cobbler?«

»Diese wundervolle Erfindung, Sir«, erklärte Mark und streichelte zärtlich das Glas, »heißt Cobbler. Sherry Cobbler. Wenn Sie aber den langen Namen nicht behalten können, so sagen Sie nur ›Cobbler‹. Sehen Sie, jetzt sind Sie selbst imstande, sich die Stiefel auszuziehen. Und das will doch was heißen. Kurz, Sie sind wieder ein ganz anderer Mensch.« Nachdem er sich dieser feierlichen Vorrede entledigt hatte, brachte er den Stiefelknecht.

»Fürchten Sie nicht, daß ich wieder kleinmütig werde, Mark«, begann Martin nach einer Weile, »aber Gott im Himmel, was wäre aber, wenn wir in eine wilde Gegend dieses Landes verschlagen würden – ohne einen Penny in der Tasche?«

»Nun, Sir«, versetzte der unverwüstliche Mr. Tapley, »nach dem, was wir bis jetzt gesehen haben, weiß ich nicht, ob wir in wilden Gegenden viel schlechter fahren würden als in zahmen.«

»O Tom Pinch, Tom Pinch!« jammerte Martin. »Was gäbe ich drum, wenn ich wieder bei dir sein und deine Stimme hören könnte; wär’s auch nur in der schäbigen Schlafkammer bei Pecksniff.«

»O Drache! Drache!« echote Mark lustig. »Läge nicht so viel Wasser zwischen dir und mir und wäre es nicht so feige, zurückzukehren, so weiß ich nicht, ob ich nicht dasselbe sagen möchte. Aber hier bin ich, lieber Drache, im amerikanischen New York, und du bist im europäischen Wiltshire. Und hier kann man sich ein Vermögen machen, lieber Drache, und noch obendrein für eine schöne junge Frau. – Und wenn du ’ne Leiter hinaufsteigen willst, darfst du nicht gleich bei der ersten Sprosse umkehren, sonst kommst du niemals nicht hinauf.«

»Sehr wahr, Mark!« rief Martin. »Wir müssen mutig in die Zukunft blicken.«

»In all den Märchenbüchern, Sir, wo ich je gelesen habe, wurden die Ritter, wenn sie sich umsahen, jedesmal in Stein verwandelt«, versetzte Mark, »und meine Meinung war immer, daß sie selbst daran schuld waren, und daß ihnen ganz recht geschehen ist. – Aber jetzt wünsche ich Ihnen gute Nacht, Sir, und angenehme Träume.«

»Dann müssen’s Träume aus der Heimat sein«, sagte Martin und kroch in sein Bett.

»Mein ich auch«, flüsterte Mark Tapley, als er außer Hörweite und in seinem eigenen Zimmer war, »denn wenn nicht – ehe wir aus dieser Patsche heraus sind – ’ne Zeit kommt, wo’s ’ne ziemliche Kunst sein wird, fidel zu bleiben, so will ich ein Vereinigter-Staaten-Mann sein.«

Lassen wir sie jetzt träumen und eingehen in das Reich, wo die phantastischen Schemen einer andern Welt sich miteinander mengen, und kehren wir zu dem Schauplatz unserer Geschichte zurück, weit übers Meer an die englische Küste.

18. Kapitel


18. Kapitel

Handelt wiederum von der Firma Anthony Chuzzlewit & Sohn. – Einer der Teilhaber tritt unerwarteterweise aus dem Geschäfte aus

Eine Veränderung kommt selten allein. Wenn jemand, der an einen engen Kreis von Freuden und Leiden gewöhnt ist, aus dem er sich selten entfernt, nur einen Schritt darüber hinaus tut, gleich gibt sein Abgang von dem eintönigen Schauplatz, auf dem er vordem eine so wichtige Rolle spielte, das Signal zu einem großen Durcheinander. Als ob in die Lücke, die er gerissen, augenblicklich der Keil der Veränderung eindränge, um, was vorher feste Masse gewesen, zu zersplittern! Dinge, die durch jahrelange Gewohnheit aneinander gekittet und gebunden waren, brechen in ebenso vielen Wochen zusammen. Im Nu explodiert die Mine, mit der die Zeit langsam die Verhältnisse einer Familie untergraben hat, und was zuvor Fels gewesen, ist plötzlich eitel Sand und Staub. Die meisten Menschen haben wohl schon in ihrem Leben derartige Erfahrungen gemacht. Bis zu welchem Grade die Gesetze der Veränderung ihre Herrschaft in dem beschränkten Wirkungskreis geltend machten, den Martin verlassen hatte, das soll jetzt getreulich auf diesen Seiten berichtet werden.

»Was das nur wieder für ein kaltes Frühjahr ist«, klagte der alte Anthony und rückte näher an das abendliche Kaminfeuer. »Es war doch wärmer um die Zeit, als ich jung war.«

»Lächerlich. So oder so, jedenfalls hast du nicht nötig, dir Löcher in den Rock zu brennen«, bemerkte Jonas liebevoll, seine Blicke von der gestrigen Zeitung erhebend. »Das Tuch ist nicht so billig, als daß man es nur so verschleudern könnte.«

»Ein tüchtiger Junge!« rief der Alte, hauchte in seine erfrorenen Hände und rieb sie zitterig aneinander, um sich zu erwärmen. »Ein gescheiter Junge! Niemals hat er sich der Kleiderfexerei hingegeben. Nein, nein, das muß man sagen. Alles, was recht ist.«

»Es kommt nur zu teuer, sonst hätt ich’s schon getan«, sagte Jonas und griff wieder nach dem Zeitungsblatt.

»Ja, ja«, kicherte der alte Mann, »wenn’s nicht so teuer wäre! Wenn’s umsonst wäre. – Aber es ist sehr kalt hier.«

»Laß das Feuer in Ruhe!« rief Mr. Jonas, seinen würdigen Vater im Gebrauch des Schürhakens unterbrechend. »Willst du vielleicht in deinen alten Tagen noch zum armen Manne werden, daß du so zu wüsten anfängst?«

»Dazu ist keine Zeit mehr, Jonas«, sagte der Greis.

»Keine Zeit zu was?«

»Um ein armer Mann zu werden.– Ich wollte, ich wäre jünger.«

»Ja, ja, du warst von jeher ein egoistischer Filz«, murmelte Jonas mit einem zornigen Blick. »Das war dir wieder einmal aus der Seele gesprochen. Möchtest dir nichts draus machen, in Not zu kommen, wenn du nur jünger wärst; was? Aber das eigene Fleisch und Blut dürfte in Not geraten, und du würdest dir den Teufel was daraus machen, alter Halunke!«

Nach diesem kindlichen Selbstgespräch nahm er seine Teetasse zur Hand, denn sie saßen gerade bei einem derartigen Mahle, und Vater, Sohn und Chuffey nahmen teil daran. Dann sah er seinen Erzeuger fest an und fuhr laut, seinen Tee dabei auslöffelnd, fort:

»Ja, ja! Not! Das wäre mir das Rechte. Du bist mir ein feiner Hecht, jetzt noch von Armut und Not zu sprechen. Du sagst, es ist keine Zeit mehr dazu. Das ist richtig. Gott sei Dank! Am liebsten würdest du wahrscheinlich noch ein paar Jahrhunderte leben, wenn du könntest, und noch immer nicht damit zufrieden sein. – Ja, ja, ich kenne dich.«

Der alte Mann seufzte und saß noch immer kauernd vor dem Kaminfeuer. Mr. Jonas schüttelte wütend seinen Teelöffel aus Britanniametall nach ihm und fuhr dann fort, auch noch von höherem Gesichtspunkt aus seine moralischen Gründe zu erörtern.

»Wenn du schon so denkst«, brummte er, »warum trittst du mir dann bei Lebzeiten nicht deinen Besitz ab und begnügst dich mit einer kleinen Jahresrente? Aber das wäre ja liebevoll gegen mich gehandelt, und das paßt dir natürlich nicht. Ich an deiner Stelle würde mich vor mir selbst schämen. Ich würde mich vor Scham wahrscheinlich unter die Erde verkriechen.«

Damit meinte er vermutlich ein Grab, eine Gruft, ein Mausoleum oder einen Friedhof oder sonst etwas, was er sich in seiner kindlichen Liebe beim wahren Namen zu nennen scheute. Er verfolgte das Thema indessen nicht weiter, denn Chuffey, der aus seiner Kaminecke heraus entdeckt haben mochte, daß Anthony zu horchen und Jonas zu sprechen scheine, rief plötzlich begeistert:

»Er ist wirklich Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit, ganz Ihr leiblicher Sohn, Sir.«

Er ließ sich dabei wohl kaum träumen, welch tiefer Sinn in seinen Worten lag oder wie sie bei der bitteren Satire, die sie enthielten, dem alten Mann ins Herz hätten schneiden müssen, hätte er geahnt, was dessen Sohn soeben vor sich hingemurmelt. Die lauten Worte Chuffeys weckten den Greis auf.

»Ja, ja, Chuffey, Jonas ist ein echtes Reis vom alten Stamm. – Es ist ein recht alter Stamm jetzt, Chuffey«, sagte Anthony mit seltsamer Unruhe in der Stimme.

»Ja, ja, verdammt alt«, höhnte Jonas beiseite.

»Nein, nein, nein«, rief Chuffey »nein, Mr. Chuzzlewit, gar nicht alt, Sir.«

»Es ist rein nicht mehr auszuhalten mit dem Kerl«, rief Jonas unwillig. »Meiner Seel, Vater, er wird schon wirklich ekelhaft. – Warum hält er nicht das Maul.« »Er sagt, Sie hätten unrecht«, rief Anthony dem alten Buchhalter zu.

»Pst, pst«, flüsterte Chuffey. »Ich weiß das besser, ich sage, er hat unrecht. Ja, ich sage: er hat unrecht. Er ist ein Knabe. Ja, ja, das ist er. Und auch Sie, Mr. Chuzzlewit, sind so ein Art Knabe! Ha, ha, ha! Gegen viele, die ich gekannt habe, sind Sie wirklich noch ein Knabe. Gegen mich und viele Hunderte von uns sind Sie ein Knabe. Kehren Sie sich nicht daran, was er sagt.«

Nach dieser außerordentlichen Rede – denn für Chuffey war dies ein geradezu beispielloser Ausbruch von Beredsamkeit – zog der arme alte Schemen von einem Buchhalter die Hand seines Prinzipals durch seinen gelähmten Arm, hielt sie dort fest und faltete seine eigene darauf, als wolle er ihn liebevoll verteidigen.

»Ich werde täglich tauber, Chuffey«, sagte Anthony mit so viel Weichheit oder, besser gesagt, mit so wenig Rauheit, als ihm überhaupt möglich war.

»Nein, nein«, rief Chuffey, »nein, das werden Sie nicht. Übrigens wenn auch, ich bin doch seit zwanzig Jahren taub.«

»Ich werde auch immer blinder«, klagte der alte Mann, traurig den Kopf schüttelnd.

»Das ist ein gutes Zeichen«, rief Chuffey, »ha, ha, das beste Zeichen, das man sich nur wünschen kann. Sie haben früher viel zu gut gesehen.«

Dabei tätschelte er Anthony sachte auf die Hand, wie man etwa ein Kind liebkost, zog sie noch weiter durch einen Arm und drohte mit zitterigem Finger nach der Stelle hin, wo Jonas saß. Da jedoch Anthony still und stumm blieb und kein Wort sprach, ließ er sie allmählich los und versank in seine gewohnte Stumpfheit. Nur von Zeit zu Zeit streichelte er den Rock seines alten Prinzipals, wie um sich zu überzeugen, daß er noch immer neben ihm sitze.

Mr. Jonas war so außer sich vor Erstaunen über dieses Vorgehen des stumpfsinnigen Buchhalters, daß er fortwährend die beiden Greise anstarrte, bis der eine wieder in seinen gewöhnlichen Geisteszustand und der andere in Schlummer versunken war; dann machte er seinem Gefühl ein wenig Luft, indem er zu Chuffey hinging und mit der geballten Faust eine Pantomime vor seiner Nase aufführte, als wolle er ihm das Lebenslicht ausblasen.

»So treiben sie es jetzt schon zwei oder drei Wochen«, murmelte er dabei nachdenklich, »ich habe mein Lebtag nicht gesehen, daß mein Vater je soviel Notiz von ihm nahm wie jetzt. – Willst du vielleicht erbschleichen, alter Chuff, was?«

Aber der alte Buchhalter ahnte so wenig von diesen Gedanken wie von der körperlichen Nähe von Mr. Jonas‘ geballter Faust, die zärtlich über seinem Haupte schwebte. Nachdem Jonas ihn sattsam angegrinst, nahm er die Kerzen vom Tisch, ging in die kleine Schreibstube mit der Glastür und zog einen Bund Schlüssel aus der Tasche. Dann öffnete er ein geheimes Schubfach, spähte jedoch dabei verstohlen ins andere Zimmer, um sich zu überzeugen, ob die beiden Alten auch noch immer vor dem Feuer säßen.

»Alles in Ordnung, wie immer«, brummte er, lehnte den aufgeschlagenen Pultdeckel an seinen Kopf und faltete ein Papier auseinander. »Da ist das Testament, Mister Chuff. Dreißig Pfund jährlich zu deinem Unterhalt, alter Junge, alles übrige dem Haupterben Jonas Chuzzlewit. Brauchst dich nicht zu bemühen und zärtlich zu sein, kriegst darum keinen Penny mehr. – – Was war das?«

Überrascht war er zusammengefahren. Und zwar mit Recht, denn ein Gesicht auf der anderen Seite der Glasscheibe blickte neugierig in die Schreibstube herein, jedoch nicht auf ihn, sondern auf das Papier in seiner Hand. Eine Sekunde später blickten die Augen auf und sahen ganz so aus wie die Mr. Pecksniffs.

Jonas ließ den Pultdeckel mit lautem Geräusch niederfallen, vergaß aber selbst in dieser Überraschung nicht, zuzuschließen, und blickte blaß und atemlos das Phantom an, das gleich drauf die Tür öffnete und eintrat.

»Was gibt’s?« rief Jonas zurückfahrend. »Wer ist da? Wo kommen Sie her? Was wollen Sie?«

»Was es gibt?« rief Mr. Pecksniffs Stimme.

Einen Augenblick später stand der würdige Architekt in der Stube.

»Ich komme Sie besuchen, Mr. Jonas.« »Was spionieren Sie hier herum?« fauchte Jonas zornig. »Was soll das heißen, so mir nichts, dir nichts nach London zu kommen und einen so unversehens zu überfallen? – Es ist doch wirklich zu arg, daß man nicht einmal die – die Zeitung in seinem eigenen Bureau lesen kann, ohne nicht von Leuten erschreckt zu werden. – Warum haben Sie nicht angeklopft?«

»Ich habe es doch getan, Jonas«, entschuldigte sich Pecksniff freundlich, »aber Sie haben mich nicht gehört. Ich war neugierig«, fügte er milde hinzu und legte die Hand auf die Schulter des jungen Mannes, »was Sie da eigentlich läsen, aber das Glas war zu trübe und schmutzig.«

Jonas blickte hastig nach den Fensterscheiben, die allerdings nicht sehr sauber waren; soweit schien also alles in Ordnung zu sein.

»War’s vielleicht Poesie?« fuhr Mr. Pecksniff fort und drohte dem jungen Mann scherzhaft mit dem Finger. »Oder Politik oder vielleicht der Kurszettel der Staatspapiere, oder haben Sie Lose nachgesehen? Haben Sie vielleicht gar das große Los gewonnen, wie?«

»Na, weit haben Sie nicht danebengeschossen«, antwortete Jonas sich fassend und schneuzte die Kerze. »Was zum Henker kommen Sie übrigens so unangemeldet nach London? – Schockschwerenot, da soll der Mensch nicht erschrecken, wenn er sich plötzlich von jemandem angestiert sieht, den er sechzig oder siebzig Meilen weit weg wähnt.«

»Glaub’s gerne«, lachte Mr. Pecksniff, »zweifle keinen Augenblick daran, mein lieber Jonas. – Der menschliche Geist – – –«

»Was geht mich der menschliche Geist an«, fuhr Jonas ungeduldig auf. »Was führt Sie hierher?«

»Eine kleine Geschäftssache«, antwortete Mr. Pecksniff, »die mir ganz unerwartet in den Wurf kam.«

»So? Weiter nichts? Gut. – Der Vater ist im Nebenzimmer. Heda, Alter, Pecksniff ist hier!« rief Jonas ärgerlich und schüttelte seinen würdigen Erzeuger hin und her. »Hörst du denn nicht? Pecksniff ist hier! Dummkopf!«

Die vereinigte Wirkung des Rüttelns und der liebevollen Anrede weckte endlich den alten Mann. Kichernd hieß er Mr. Pecksniff willkommen, einesteils erfreut, ihn hier zu sehen, andererseits erheitert durch die Erinnerung, ihn einen Heuchler genannt zu haben. Wie sich herausstellte, war Mr. Pecksniff erst eine Stunde in London und hatte noch keinen Tee getrunken. Er wurde daher gastfreundlich aufgefordert, sich an den Überresten des Mahles und mit einer Schinkenpastete zu erquicken. Jonas gab vor, in der nächsten Straße ein Geschäft zu haben, und entfernte sich mit dem Versprechen, wieder zurückzukommen, ehe noch der Gast mit seinem Imbiß fertig sei.

»Und jetzt, mein werter Herr«, wendete sich Mr. Pecksniff an Anthony, »jetzt, wo wir allein sind, bitte ich Sie, mir zu sagen, was Sie von mir wünschen. Ich sage ›allein‹, weil ich annehme, daß unser werter Freund, Mr. Chuffey hier, metaphorisch gesprochen – wie soll ich sagen – äh, –, ein Strohmann ist«, setzte er mit seinem süßesten Lächeln, den Kopf auf die Seite geneigt, hinzu.

»Er sieht uns weder, noch hört er uns«, erwiderte Anthony.

»Also gut. Dann bin ich so frei zu wiederholen, natürlich mit der lebhaftesten Sympathie für seine Leiden und der größten Bewunderung für seine ausgezeichneten Eigenschaften, die seinem Herzen wie seinem Kopf gleiche Ehre machen, daß er also wirklich ein sogenannter Strohmann ist. – – Sie wollten also eben bemerken, mein lieber Herr –«

»Ich wollte gar nichts bemerken«, knurrte der alte Mann.

»Aber ich«, sagte Pecksniff aufgeräumt.

»Also schießen Sie los! Was war es?«

»Daß ich niemals im Leben«, begann Mr. Pecksniff, stand aber vorher auf, um sich zu versichern, ob die Türe auch wirklich verschlossen sei, und stellte dann seinen Stuhl so, daß sie auch nicht einen Zoll weit geöffnet werden konnte, ohne daß man es sofort gemerkt hätte – »also, daß ich noch nie in meinem Leben durch etwas so überrascht wurde wie gestern durch Ihren Brief. Daß Sie mir die Ehre erwiesen, eine Beratung mit mir zu wünschen, setzt mich in Erstaunen. Daß Sie aber diese Beratung selbst mit Ausschluß Mr. Jonas‘ wünschten, das beweist einen Grad von Vertrauen gerade zu mir, dem Sie einstmals eine Beleidigung, und zwar eine schwere, angetan – eine Beleidigung allerdings bloß in Worten, und Sie haben sich beeilt, sie gutzumachen –, einen Grad von Vertrauen, wiederhole ich, der mich erfreut, der mich rührt, der mich tief erschüttert hat.«

Pecksniff war immer ein aalglatter Sprecher gewesen, aber diese kurze schwungvolle Anrede gab er besonders ölig und fließend von sich. Er hatte sich aber auch die größte Mühe gegeben, sie auf der Herfahrt nach London gehörig zu memorieren.

Vergeblich wartete er jetzt auf eine Antwort, denn der alte Anthony blieb in tiefstem Schweigen und mit vollkommen ausdrucksloser Miene sitzen. Auch schien er nicht den mindesten Wunsch zu fühlen, die Unterhaltung fortzusetzen, trotzdem Mr. Pecksniff mehrere Male nach der Türe blickte, seine Uhr herauszog und durch andere Gesten zu verstehen gab, daß seine Zeit bemessen sei und Jonas, wenn er Wort halte, bald zurückkehren müsse. Aber das Sonderbarste in diesem kuriosen Benehmen war, daß plötzlich und ohne ersichtlichen Grund die Züge Anthonys ihren alten Ausdruck annahmen. Leidenschaftlich schlug er mit der Hand auf den Tisch und rief, als ob gar keine Pause stattgefunden hätte:

»Wollen Sie nicht endlich den Mund halten, Sir, und mich ausreden lassen?«

Mr. Pecksniff erwiderte die Grobheit mit einem geschmeidigen Bückling und murmelte:

»Aha, also doch! Schon gestern fiel mir auf, wie zitterig seine Schriftzüge waren. Es ist eine Veränderung in ihm vorgegangen.«

»Jonas ist verliebt in Ihre Tochter, Pecksniff«, stieß der alte Mann in seinem gewöhnlichen barschen Ton hervor.

»Wenn ich nicht irre, so sprachen wir schon bei Mrs. Todgers darüber«, versetzte höflich Mr. Pecksniff.

»Sie brauchen nicht so laut zu sprechen«, schrie Anthony, »ich bin nicht taub.«

Allerdings hatte Mr. Pecksniff ziemlich laut gesprochen, aber nicht deswegen, weil er glaubte, Anthony sei taub, sondern weil er annahm, sein Begriffsvermögen fange an nachzulassen. Der rasche Tadel seines doch so wohl überlegten Vorgehens verblüffte ihn jetzt so sehr, daß er gar nicht wußte, was sagen, und daher nur mit einer zweiten geschmeidigen Verbeugung antwortete.

»Ich habe gesagt«, wiederholte der alte Mann, »daß Jonas in Ihre Tochter verliebt ist.«

»Ein entzückendes Mädchen, Sir«, murmelte Pecksniff, als er bemerkte, daß Anthony auf Antwort wartete; »ein entzückendes Mädchen, Mr. Chuzzlewit, obwohl ich als Vater es eigentlich nicht sagen sollte.«

»Sie bilden sich’s aber doch ein«, fuhr der alte Mann auf und streckte sein eingefallenes, schmalwangiges Gesicht wenigstens um eine Elle vor.

»Wozu die Komödie? Warum heucheln Sie denn schon wieder?«

»Aber mein werter Herr«, remonstrierte Mr. Pecksniff.

»Nennen Sie mich nicht immer ›werter Herr‹«, grollte Anthony. »Tun Sie nicht, als ob Sie ein Ehrenmann wären. Wenn Ihre Tochter wirklich so wäre, wie Sie mir einreden wollen, würde sie zu Jonas gar nicht passen. So wie sie ist, denke ich, paßt sie noch am besten für ihn. Was wäre, wenn er ein Frauenzimmer heiratete, das dann schließlich liederlich wird, Schulden macht und sein Vermögen durchbringt? Wenn ich einmal nicht mehr sein werde –«

Sein Gesicht veränderte sich so schauerlich, als er diese Worte aussprach, daß Mr. Pecksniff seinen Blick rasch von ihm abwandte.

»– und den Gedanken hätte mit hinübernehmen müssen, daß es so ist, so wäre das schlimmer, als wenn ich noch lebte und müßte es mitansehen. Eine unerträgliche Qual, wissen zu müssen, daß zum Fenster hinausgeworfen wird, was ich unter so viel Mühe und Entbehrungen zusammengerafft habe. – Nein«, fuhr er mit erstickter Stimme fort, »das wenigstens soll mir erspart bleiben. Wenn ich schon gehen muß, so soll wenigstens etwas gerettet und gewonnen sein.«

»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, flötete Mr. Pecksniff, »das sind krankhafte und ganz unnötige Grillen, ich versichere Ihnen. Ich fürchte, Sie sind krank, mein werter Herr.«

»Jedenfalls liege ich nicht im Sterben«, knurrte Anthony wütend. »Nein, noch nicht. Ich fühle, ich habe noch viele Jahre zu leben. Schauen Sie sich einmal den da an«, dabei deutete er auf den gebrechlichen Buchhalter. »Der Tod hat kein Recht, mich niederzumähen und ihn zurückzulassen.«

Mr. Pecksniff fühlte sich durch die Erregung des alten Mannes so eingeschüchtert, daß er nicht einmal Geistesgegenwart genug besaß, einen Brocken Moral aus dem großen Magazin in seiner Brust herauszufischen, und stotterte deshalb, ohne Zweifel sei es recht und billig, daß Mr. Chuffey zuerst in die Grube fahre und gewiß selbst – – nach allem, was er von ihm gehört und nach dem wenigen, was er von ihm wisse, zu schließen – – einsehen werde, wie schicklich es sei, es so bald wie möglich zu tun.

»Kommen Sie«, unterbrach Anthony und winkte ihn näher heran. »Jonas ist mein Erbe. Er wird einmal sehr reich sein und wäre ein guter Schwiegersohn für Sie, das wissen Sie so gut wie ich. – – Jonas ist verliebt in Ihre Tochter.«

»Ich weiß, ich weiß«, dachte Mr. Pecksniff. »Er hat mir’s doch oft genug gesagt.«

»Er könnte eine Reichere heiraten als sie, aber Ihre Tochter wäre die Frau danach, das zusammenzuhalten und zu behüten, was sie beide besitzen werden. Sie ist nicht mehr jung und auch nicht leichtsinnig und aus einem guten, harten, geizigen Stamm entsprossen. Aber spielen Sie kein zu feines Spiel! Sie hält ihn nur an einem Faden, und wenn man ihn zu fest anzieht – – ich kenne Jonas – –, so reißt er. Binden Sie ihn fest, wenn er in der richtigen Stimmung ist, Pecksniff, binden Sie ihn fest! Ihr Spiel ist zu fein; und wenn Sie so fortmachen, entwischt er Ihnen im letzten Augenblick. – – Ich bitte Sie, machen Sie kein solches Gesicht, Sie Aal, ich habe doch Augen, um zu sehen. Glauben Sie wirklich, ich hätte von Anfang an nicht bemerkt, wie Sie nach ihm geangelt haben?«

»Ich möchte doch wissen«, brummte Pecksniff mit einem pfiffigen Blick auf den Alten, »ob das alles ist, was er mir zu sagen hat.«

Aber der alte Anthony murmelte nur, sich die Hände reibend, stumpfsinnig vor sich hin, daß es kalt sei usw., zog seinen Sessel vor das Kaminfeuer, kehrte ihm den Rücken, ließ sein Kinn auf die Brust sinken und hatte augenscheinlich in der nächsten Minute die Anwesenheit seines Gastes ganz vergessen. So abgerissen und ungenügend auch diese kurze Besprechung gewesen war, so enthielt sie doch für Mr. Pecksniff eine Andeutung, die ihn, wenn er auch weiter nichts erfahren sollte, für seine Hin- und Herfahrt völlig schadlos hielt. Aus Mangel an Gelegenheit hatte er nie die Tiefen von Mr. Jonas‘ Wesen erforschen können, und jedes Rezept, wie er ihn zu behandeln habe, mußte für ihn von großem Werte sein. Das Einnicken Anthonys benutzend, machte er sich jetzt über die Erfrischungen her und trachtete durch allerlei scharfsinnige und auf Erregung von Aufmerksamkeit berechnete Mittel, wie zum Beispiel Husten, Schneuzen, Klappern mit den Tassen, Wetzen der Messer, geräuschvolles Niederlegen des Brotlaibes usw. den Alten wieder aufzuwecken. Aber alles war vergeblich, und Mr. Jonas kehrte zurück, ohne daß sein Vater wieder ein Wort gesprochen hätte.

»Was? Der Alte schläft schon wieder?« sagte Jonas und hängte seinen Hut auf. »Und wie er schnarcht, es ist unglaublich!«

»Ja, ja, er schnarcht sehr kräftig«, bestätigte Mr. Pecksniff.

»Kräftig?« wiederholte Jonas. »Ja, das muß man ihm lassen; er schnarcht für sechse.«

»Wissen Sie auch, Mr. Jonas«, säuselte Pecksniff, »daß es mir vorkommt, als ob Ihr Vater – erschrecken Sie nicht – marastisch wird?«

»So, glauben Sie?« höhnte Jonas. »Sie haben keine Idee, wie zäh der ist. Oh, der ist noch weit vom Abkratzen.«

»Es fiel mir auf, daß er sich stark verändert hat, sowohl in seinem Aussehen wie in seinem Benehmen«, bemerkte Mr. Pecksniff.

»So? Weiter nichts?« entgegnete Jonas und setzte sich mit verdrießlichem Blick nieder. »Und ich kann Ihnen sagen, er hat sich niemals besser befunden als gerade jetzt. Wie geht es übrigens zu Hause? Was macht Charitas?«

»Blüht und gedeiht, Mr. Jonas.«

»Und die ›andere‹? Wie geht’s der?«

»Oh, der kleine Schmetterling!« rief Mr. Pecksniff in zärtliches Sinnen verloren. »Sie ist wohl – sie befindet sich wohl. Schwärmt vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer wie eine Biene, flattert vom Bett zum Spiegel wie der Schmetterling, taucht ihr Schnäbelchen in unsern Johannisbeerwein wie der Kolibri. Ach! Wäre sie nur etwas weniger leichtsinnig und hätte sie nur die gediegenen Eigenschaften von Cherry, mein Freund.«

»Ist sie denn so leichtsinnig?« fragte Jonas.

»Nun – nun«, begütigte Mr. Pecksniff gefühlvoll, »ich will nicht ungerecht sein gegen mein Kind. Aber neben ihrer Schwester Cherry allerdings erscheint sie so. Was ist das übrigens für ein merkwürdiges Geräusch, Mr. Jonas?«

»Es wird was in dem Werk nicht in Ordnung sein, glaube ich«, sagte Jonas mit einem Blick auf die Wanduhr. »Die ›andre‹ ist also nicht ihr Liebling, was?«

Mr. Pecksniff wollte eben etwas Zärtliches sagen und hatte bereits sein Gesicht in innige Falten gelegt, als sich derselbe seltsame Ton plötzlich wieder hören ließ.

»Wahrhaftig, Mr. Jonas, das ist aber eine höchst merkwürdige Uhr«, rief er.

Er hätte allerdings recht gehabt, wenn das wunderliche Geräusch von ihr ausgegangen wäre, es war aber ein anderer Zeitmesser, der sich hier vernehmen ließ und rasch ablief.

Ein Schrei, der noch hundertmal schrecklicher klang, weil er aus dem Munde des sonst so schweigsamen Mr. Chuffey kam, lief durch das Haus. Und als sich beide erschreckt umsahen, bemerkten sie, wie Anthony Chuzzlewit ausgestreckt auf dem Boden lag und der alte Buchhalter neben ihm kniete.

Der Greis war von seinem Stuhle heruntergesunken und lag jetzt da, nach Atem ringend, und jede Sehne und jede Ader trat deutlich auf seinem hagern Gesicht hervor. Es war fürchterlich mitanzusehen, wie das Lebensprinzip, in diese welke Form eingeschlossen, gleich einem kraftvollen Dämon nach Erlösung rang und mit äußerster Gewalt sein altes Gefängnis zu zerreißen bemüht war.

Schon bei einem jungen Mann in der Fülle der Kräfte hätte ein solcher Verzweiflungskampf etwas Entsetzliches an sich gehabt, aber bei einem Greise, dessen welker, elender Körper jede der ungestümen Bewegungen seiner Glieder Lügen strafte, hatte das Schauspiel etwas geradezu Grauenhaftes. Man richtete den Kranken auf, und der in aller Eile geholte Wundarzt ließ ihn zur Ader und verordnete ihm einige Arzneimittel. Aber der Anfall währte so lange, daß es bereits Mitternacht vorbei war, als man Anthony – jetzt zwar ruhig, aber ganz bewußtlos und erschöpft – zu Bett brachte.

»Gehen Sie nicht«, flüsterte Jonas mit aschfahlen Lippen über das Bett hinüber Mr. Pecksniff ins Ohr. »Es war ein Glück, daß Sie zugegen waren, als der Anfall über ihn kam, man hätte es sonst vielleicht für mein Werk gehalten.«

»Für Ihr Werk?« rief Mr. Pecksniff.

»Was weiß man denn, was die Leute alles reden werden«, keuchte Jonas und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. »Wie sieht er jetzt aus?«

Mr. Pecksniff schüttelte den Kopf.

»Ich mache nicht gern Spaß, wissen Sie, Pecksniff, aber ich – ich habe nie seinen Tod herbeigewünscht. Glauben Sie, daß es sehr gefährlich ist?«

»Der Doktor behauptet es, Sie haben’s doch selbst gehört«, war Mr. Pecksniffs Antwort.

»Ach, das sagt er ja nur, um uns eine höhere Rechnung schreiben zu können, falls er ihn durchbringt«, meinte Jonas. »Sie dürfen jetzt nicht fortgehen, Pecksniff. Da es so weit mit ihm gekommen ist, möchte ich nicht ohne Zeugen sein. Nicht für tausend Pfund.«

Chuffey hörte und sprach kein Wort. Er hatte sich neben dem Bett in einen Stuhl gesetzt und blieb dort regungslos sitzen, nur hin und wieder beugte er den Kopf über das Kissen und schien zu lauschen. So trieb er es ohne Unterlaß fort. Einmal erwachte Pecksniff in der Nacht nach einem kurzen Schlummer mit dem wirren Eindruck, er habe ihn beten hören, aber es kam ihm so vor, als ob sich in die Gebete seltsamerweise Ziffern und Zahlen gemischt hätten.

Jonas saß gleichfalls die ganze Nacht über da, aber nicht an einer Stelle, wo ihn sein Vater, falls ihm das Bewußtsein zurückgekehrt wäre, hätte sehen können, sondern sozusagen versteckt und den Stand der Dinge nur aus Pecksniffs Augen ablesend. Er, der rohe Bursche, der das ganze Haus so lange tyrannisiert hatte, war jetzt ein feiger Köter geworden, der sich nicht zu rühren wagte und dermaßen am ganzen Leibe zitterte, daß sogar sein Schatten an der Wand ruhelos herumzuckte.

Es war bereits hellichter Tag, als sie, den alten Buchhalter bei dem Kranken zurücklassend, zum Frühstück hinuntergingen. Die Leute eilten auf der Straße hin und her, Fenster und Türen wurden geöffnet, Taschendiebe und Bettler nahmen ihren gewohnten Standort ein, die Arbeiter gingen an ihr Werk, die Handelsleute schlossen ihre Läden auf, Detektive und Konstabler lagen auf der Lauer, alle Arten von menschlichen Wesen mühten sich, jedes auf seine Weise, um ihren mühseligen Lebenserwerb ab, und der alte Mann auf seinem Sterbebett kämpfte so wütend um jedes Sandkorn in seinem schnell ablaufenden Stundenglase, als gälte es ein Königreich.

»Wenn etwas passiert, Pecksniff«, sagte Jonas, »so müssen Sie mir versprechen, hierzubleiben, bis alles vorüber ist. Sie sollen sehen und Zeuge sein, daß ich nichts tue, was man irgendwie mißdeuten könnte.«

»Ich weiß das, Mr. Jonas«, beruhigte ihn Mr. Pecksniff.

»Ja ja, aber ich will nicht, daß jemand daran zweifelt; niemand darf auch nur eine Silbe gegen mich sagen. Ich sehe es kommen, wie die Leute schwatzen werden, gerade, als wenn er nicht ein alter Mann wäre oder als ob ich das Geheimnis besäße, ihn für ewige Zeiten am Leben zu erhalten.«

Mr. Pecksniff versprach zu bleiben, und sie beendigten gerade schweigend ihr Frühstück, als plötzlich eine so geisterhafte Erscheinung vor ihnen auftauchte, daß Jonas laut aufschrie und beide vor Grausen zurückfuhren.

Der alte Anthony selbst war es, der jetzt in seinen gewöhnlichen Kleidern in der Stube stand – gerade vor dem Tisch. Er stützte sich auf seinen alten Buchhalter, und auf seinem bläulichen Gesicht, auf seinen blassen erstarrten Händen, in seinen gläsernen Augen und auf seiner Stirn stand von dem Finger der Ewigkeit das eine Wort geschrieben: Tod.

Er sprach, und seine Stimme klang scharf und hohl. Fast geisterhaft. Was er sagen wollte, weiß nur Gott. Es schienen Worte zu sein, was er hervorbrachte, aber keines Menschen Ohr hatte je dergleichen vernommen. Es war etwas Furchtbares, ihn so dastehen zu sehen und in einer Sprache lallen zu hören, die nicht mehr von dieser Welt war.

»Es geht ihm jetzt wieder besser«, erklärte Chuffey, »weit besser. Wenn man ihn in seinen alten Stuhl setzt, wird es ihm wieder wohler werden. Ich sagte ihm, es wäre nichts. Ich habe es ihm schon gestern gesagt.«

Dann setzten sie den Sterbenden in einen Armstuhl und rollten ihn ans Fenster. Sie machten die Türe auf und das Fenster, um ihn die frische Morgenluft genießen zu lassen, aber nicht alle Luft zwischen Himmel und Erde, und nicht alle Winde, die je über Erde und Meer gerauscht sind, hätten ihm neues frisches Leben einhauchen können. Würde man ihn bis über die Ohren in Goldstücke gesteckt haben, seine schwer gewordenen Finger hätten auch nichts mehr greifen können.

19. Kapitel


19. Kapitel

Einige außergewöhnliche Mitglieder der medizinischen Fakultät treten auf. Der treffliche Mr. Jonas beweist abermals seine kindliche Liebe

Mr. Pecksniff saß in einem Mietkabriolett, denn Mr. Jonas hatte zu ihm gesagt: »Sparen Sie kein Geld.«

Das Menschengeschlecht ist in seinem ganzen Wesen und Denken bodenlos schlecht, und Jonas war daher fest entschlossen, auch nicht ein Jota Veranlassung zu müßigen Gerüchten zu geben. Man sollte ihm nie zum Vorwurf machen, daß er bei dem Begräbnis seines Vaters mit Geld gegeizt habe. Deshalb hatte er – gültig bis zum Schluß der Beerdigungsfeierlichkeiten – das Motto ausgegeben: man spare keine Kosten.

Mr. Pecksniff war bei dem Leichenbestatter gewesen und befand sich jetzt auf dem Wege zu einem andern ihm empfohlenen dienstbaren Geist, nämlich einer Weibsperson, die bei Verstorbenen zu wachen und alle die geheimnisvollen nötigen Vorrichtungen vorzunehmen pflegte. Sie hieß, wie Mr. Pecksniff aus einem Zettel in seiner Hand ersah, Mrs. Gamp und wohnte in Kingsgate Street, High Holburn. Mr. Pecksniff rasselte daher in seiner Droschke über das Pflaster von Holborn, um Mrs. Gamp aufzusuchen.

Die Dame wohnte bei einem Vogelhändler. Die zweitnächste Tür führte zu einem berühmten Hammelpastetenladen, der gerade gegenüber echtes Katzenfleisch verkaufte. Wie alle solchen Etablissements trug auch dieser Laden ein entsprechendes Reklameschild über der Türe. Es war ein kleines Haus und daher sehr geeignet für Mrs. Gamp, die in ihrer höchsten Kunststufe Wochenwärterin oder, wie ihr Aushängeschild kühn besagte, Hebamme war. Sie konnte, da sie auf die Gasse hinaus und zu ebener Erde wohnte, bei Nacht leicht durch an die Fenster geworfene Kieselsteine oder vermittelst Spazierstöcken und Tabakspfeifenrohren geweckt und herausgeklopft werden. Das alles war nämlich weit wirksamer als der Haustürklopfer, der klugerweise so konstruiert war, daß er wohl die ganze Straße wecken und sogar Feueralarm in Holborn hätte verbreiten können, im Hause selbst jedoch unter keinen Umständen auch nur den mindesten Eindruck machte.

Mrs. Gamp war die ganze verflossene Nacht über auf gewesen, um einer Zeremonie beizuwohnen, der das Frauengeschlecht einen zweisilbigen Namen für den über Adam verhängten Fluch gegeben hat. Sie war dabei nicht allein tätig gewesen, sondern man hatte sie in Anbetracht ihres großen Rufes geholt, um einer andern Dame vom Fach mit Rat und Tat an die Hand zu gehen. Nachdem sodann alle interessanten Phasen des Falles ihr Ende erreicht, hatte sie sich wieder nach dem Hause des Vogelhändlers zurückgezogen und unverzüglich zu Bett begeben. Aus diesem Grunde waren daher zur Zeit des Vorfahrens von Mr. Pecksniffs Droschke Mrs. Gamps Vorhänge dicht zugezogen, und die Dame selbst lag dahinter in tiefstem Schlaf.

Wäre der Vogelhändler zu Hause geblieben, wie es sich gehört hätte, so würde das nicht viel bedeutet haben, so aber befand er sich auswärts, und sein Laden war verschlossen. Allerdings waren die Jalousien nicht heruntergelassen, und hinter jeder Fensterscheibe stand je ein winziger Käfig, in dem ein kleines Vögelchen zwitscherte, sein kleines Verzweiflungsballett abhüpfte und sich an den Stäben abflatterte, während ein melancholischer Blaufink, der daneben eine große Villa mit seinem Namen an der Tür bewohnte und sein Trinkwasser mittels eines kleinen Pumpwerks selbst hinaufziehen mußte, die Passanten stumm anflehte, sie möchten ihm doch für einen Penny Gift hineinmischen. Die Haustüre war geschlossen. Mr. Pecksniff drückte auf die Klinke, rüttelte daran und setzte eine jämmerlich tönende Klingel in Bewegung. Aber niemand erschien. Der Vogeldresseur war gleichzeitig Barbier und auch fashionabler Haarkräusler, und daher war es anzunehmen, daß man ihn nach dem Westende der Stadt gerufen hatte, um einen Lord oder eine Lady zu frisieren. Wie dem nun auch sein mochte, keinesfalls befand er sich auf seinem eigenen Grund und Boden. Auch war nichts vorhanden, was der Einbildungskraft eines nach ihm Fragenden hätte nachhelfen können, als ein bei derlei Kunstgenossen übliches gedrucktes Plakat, das einen Friseur in eleganter Haltung darstellte, wie er eine Modedame vor einem großartigen, aufgeklappten Pianoforte bediente.

In der Unschuld seines Herzens griff Mr. Pecksniff nach dem Türklopfer, aber schon beim ersten Doppelschlage wimmelte es an allen Fenstern der Straße von Frauenköpfen, und noch ehe er seine Aufforderung wiederholen konnte, sammelten sich Scharen verheirateter Damen, von denen einige ganz das Aussehen hatten, als ob sie selbst in Bälde Mrs. Gamp würden bemühen müssen, um die Türschwelle und riefen wie aus einem Mund mit höchstem Interesse:

»Klopfen Sie an das Fenster – klopfen Sie an das Fenster! Um Gottes willen, verlieren Sie ja keine Zeit, klopfen Sie an das Fenster!«

Unverzüglich borgte sich Mr. Pecksniff von seinem Kutscher die Peitsche aus und richtete gleich darauf eine nicht geringe Verheerung unter den Blumentöpfen des Hochparterres an. Mrs. Gamp wurde dadurch glücklich geweckt, und zur großen Freude der umstehenden Menge hörte man gleich darauf den Ruf erschallen:

»Ich komme schon!«

»Er ist so bleich wie Semmelkrumen«, sagte eine Matrone mit einem Blick auf Mr. Pecksniffs Gesicht.

»Das muß er auch sein, wenn er überhaupt menschliches Gefühl im Leibe hat«, bemerkte eine andere.

Eine dritte Dame meinte mit verschränkten Armen, es wäre besser gewesen, er hätte eine andere Zeit gewählt, um Mrs. Gamp zu holen, aber so sei’s ja bekanntlich immer.

Mr. Pecksniff fühlte sich begreiflicherweise sehr geniert, aus diesen Bemerkungen entnehmen zu müssen, man glaube, er komme zu Mrs. Gamp aus Gründen, die nicht das Ende, sondern den Anfang eines Lebens beträfen. Mrs. Gamp schien dasselbe zu glauben, wenigstens stieß sie das Fenster auf und rief, sich dabei hastig ankleidend, hinter den Gardinen hervor: »Ist es Mrs. Perkins?«

»Nein«, entgegnete Mr. Pecksniff scharf. »Nichts dergleichen. Im Gegenteil.«

»Ah, Sie sind’s, Mr. Whilks«, rief Mrs. Gamp. »Ach Gott, und Mrs. Whilks hat noch nicht einmal ein Steckkissen vorbereitet. Oder sind Sie’s vielleicht nicht, Mr. Whilks?«

»Es ist nicht Mr. Whilks«, beteuerte Pecksniff. »Ich kenne den Mann nicht. Es betrifft überhaupt nichts dergleichen. Ein Herr ist gestorben. Da man eine Person im Hause braucht, bin ich von Mr. Mould, dem Leichenbestatter, an Sie gewiesen worden.«

Mrs. Gamp, die für jeden ihrer Geschäftszweige einen besonderen Gesichtsausdruck vorrätig hatte, war inzwischen so weit, sich zeigen zu können. Sie steckte rasch eine Trauerphysiognomie zum Fenster heraus und sagte, sie werde sogleich hinunterkommen. Die versammelten Matronen nahmen es natürlich sehr übel, daß Mr. Pecksniffs Sendung von so geringer Wichtigkeit war, und die Dame mit den unterschlagenen Armen sagte ihm tüchtig ihre Meinung und betonte, es sei gewissenlos, Damen in delikaten Umständen mit der Erwähnung von Leichen zu erschrecken. Auch ein so scheußlicher Kerl wie er habe gewissermaßen Rücksichten zu nehmen. Auch die andern Damen sparten mit ähnlichen Ausdrücken nicht, und die Kinder, die sich inzwischen in etlichen Dutzenden angesammelt hatten, verhöhnten Mr. Pecksniff und gebärdeten sich wie eine Rotte kleiner Teufel. Der Ärmste pries sich glücklich, als Mrs. Gamp endlich erschien, packte sie ohne viel Zeremonien in die Droschke und fuhr, von den Verwünschungen der Menge verfolgt, von hinnen.

Mrs. Gamp hatte ein großes Bündel, ein Paar Überschuhe und einen gewaltigen Regenschirm mitgenommen, letzteren von der Farbe eines welken Blattes, außer an der Spitze, um die ein kreisrunder Fleck von hellem Blau geschickt eingeflickt war. Sie sah sehr erhitzt aus, offenbar von der Eile, zu der sie genötigt gewesen, und litt unter den irrigsten Vorstellungen hinsichtlich des Wesens des Kabrioletts. Sie schien nämlich diese Gattung Fuhrwerk mit einem Post- oder Frachtwagen zu verwechseln und bemühte sich beständig, während der ersten halben Meile ihr Gepäck durch das kleine Fenster auf den Bock zu zwängen und dem Kutscher zuzurufen, er solle ihr Päckchen doch in den Korb stecken. Als diese Wahnidee endlich bei ihr nachließ, löste sich ihr ganzes Wesen in Angst und Sorge um ihre Überschuhe auf, mit denen sie in einem fort auf Mr. Pecksniffs Schienbeinen Wurfscheibe spielte. Erst als sie vor dem Trauerhause vorführen, faßte sie sich so weit, um bemerken zu können:

»Also der Gentleman is tot, Sir. Das is a Jammer. Aber diesem Los entgeht keiner von uns. Es kommt so sicher wie das Geborenwerden, nur kann man’s net so genau vorhersagen. Ach Gott, der liebe, arme Herr!«

Mrs. Gamp war eine fette, alte Dame mit einer heiseren Stimme und einem Triefauge, das sie auf eine so merkwürdige Weise gen Himmel kehren konnte, daß man nur das Weiße drin zu sehen vermochte. Da sie sich überdies eines sehr kurzen Halses erfreute, so kostete es sie stets einige Mühe, den Kopf nach denen zu drehen, mit denen sie gerade sprach. Sie trug ein rostfleckiges schwarzes Kleid, dessen Aussehen durch den Umstand, daß sie Tabak zu schnupfen pflegte, nicht sehr gewonnen hatte, und ein dementsprechendes Halstuch und eine Haube. In diesen kläglichen Anzug pflegte sie sich bei solchen Gelegenheiten stets zu hüllen, erstens einmal, um damit ihre achtungsvolle Verehrung vor Toten auszudrücken, und dann, um die nächsten leidtragenden Verwandten stumm aufzufordern, ihr neue Trauerkleider zu verehren; ein Appell, der so häufig von glücklichem Erfolge gekrönt war, daß man zu jeder Stunde des Tages in mindestens einem Dutzend der Trödelläden Holborns ihr leibhaftiges Gespenst heraushängen sehen konnte. Ihr Gesicht und besonders die Nase waren etwas rot und geschwollen; auch konnte man sich nicht gut ihrer Gesellschaft erfreuen, ohne sich nicht eines gewissen Branntweinduftes bewußt zu werden. Wie die meisten Personen, die in ihrem Fach einen besonderen Ruf erworben haben, war auch sie dem ihrigen eifrig zugetan und ging, vielleicht von ihren natürlichen weiblichen Liebhabereien abgesehen, ebenso gern und bereitwillig zu einem Wochen- wie zu einem Totenbett.

»O mein, o mein!« wiederholte Mrs. Gamp, denn dies war für alle Trauerfälle ein höchst passender Ausdruck. »O mein. Als Gamp zu seiner ewigen Heimat zurückberufen wurde – ich sehe ihn noch vor mir, wie er in Guys Hospital lag mit einem Penny auf jedem Auge und das hölzerne Bein unter dem linken Arm –, da hab i glaubt, i müßt ohnmächtig zsammfalln. Aber i hab mi grad noch derfangt.«

Wenn man einem gewissen Gerüchte, das in den Kingsgate-Street-Zirkeln kursierte, Glauben schenken darf, hatte sie es in einer ganz überraschenden Weise getragen und dabei eine so intensive Seelenstärke an den Tag gelegt, daß sie sogar über Mr. Gamps sterbliche Überreste im Interesse der Wissenschaft verfügte. Allerdings war das jetzt schon zwanzig Jahre her, und das liebenswürdige Ehepaar hatte sich zuvor schon lange getrennt, da ihre Ansichten, besonders wenn sie etwas hinter die Binde gegossen hatten, nicht besonders miteinander harmonierten. »Sie sind wohl seitdem ziemlich gleichgültig geworden, nicht wahr?« fragte Mr. Pecksniff. »Gewohnheit kann zur zweiten Natur werden, Mrs. Gamp.«

»Ja, ja, man kann’s schon a zweite Natur nennen«, versetzte die Dame. »Erschtens sin solchene Sachen a Ansturm aufs Gfüll, und nacher werdens einem zur Gewohnheit, aber freilich hätt i net alls durchmachen können, was i schon durchgmacht hab, wenn i net hie und da an Schluck Schnaps gnommen hätt, aber immer natürli nur einen Schluck, mehr bin i beim besten Willen net imstande. Mrs. Harris, hab i gesagt, in dem letzten Fall, wo i dabei gwesen bin und wo sich’s um a junge Person ghandelt hat –, Mrs. Harris hab i gsagt, lassens die Flaschn auf dem Kaminsims stehn, aber redens mir net zu, etwas davon zu trinken; i muß immer nur die Lippen dran setzen, wenn i grad Lust hab, und dann will i tun, was i tun muß, so gut i’s halt imstand bin. Mrs. Gamp, hat die Harris gsagt, wenns je a nüchterne Person geben hat, wo von arbeitende Leut achtzehn Pence täglich nimmt und von vornehme drei Schilling sechs Pence, die Nachtwachen natürlich net mit eingrechnet«, betonte Mrs. Gamp mit Nachdruck, »so sind Sie diese unschätzbare Person. – Mrs.Harris, hab i drauf gsagt, reden S‘ nix von Lohn, und wenn i’s derschwingen kunnt, so möcht i für alle meine Mitmenschen umasunst das Totenbett herrichten, und würd’s mit Freuden tun und mit lauter Liebe. Aber was jetzt die sin, wo dem Hauswesen vorstehen, Mrs. Harris, hab i gsagt«, dabei heftete Mrs. Gamp ausdrucksvoll ihr Triefauge auf Mr. Pecksniff, »ob’s jetzt Herren sin oder Damen, so soll man mich net fragen, ob i was zu mir nehmen will, es genügt, wenn man die Flaschen mit Schnaps auf dem Kaminsims stehen laßt, damit i hie und da mir die Lippen anfeuchten kann, wann i grad Lust dazu hab.«

In diesem Augenblick fuhr die Droschke vor dem Hause vor. In dem Flur kam ihnen Mr. Mould, der Leichenbestatter, entgegen, ein kleiner, ältlicher, glatzköpfiger Gentleman in schwarzem Anzug. Er trug ein Notizbuch in der Hand, und eine massive goldene Uhrkette baumelte aus seiner Westentasche herunter. In seinem Gesicht lag ein mißglückter Versuch, traurig auszusehen, und zugleich ein Schmunzeln von Zufriedenheit, so daß er wie ein Mensch aussah, der nach einem Schluck auserlesenen Weins zunächst sich die Lippen leckt und dann die Leute glauben machen will, es sei eine bittere Arzenei gewesen.

»Mrs. Gamp, wie geht’s Ihnen?« fragte Mr. Mould mit einer Stimme, die so leise war wie sein Tritt.

»Ach, recht gut, i dank der Nachfrage«, versetzte Mrs. Gamp mit einem Knicks.

»Sie müssen hier ganz besonders Obacht geben, Mrs. Gamp; es ist kein gewöhnlicher Fall, Mrs. Gamp! Und richten Sie nur alles recht nett und hübsch her, Mrs. Gamp«, sagte der Leichenbestatter und nickte mit feierlicher Miene.

»Es soll alles geschehen«, versetzte Mrs. Gamp und machte abermals einen Knicks. »Ich hoffe, wir kennen uns.«

»Das hoffe ich auch, Mrs. Gamp«, sagte der Leichenbesorger.

Mrs. Gamp machte ihren dritten Knicks.

»Dies ist einer der ergreifendsten Fälle, Sir«, fuhr Mr. Mould – zu Mr. Pecksniff gewendet – fort, »den ich in all den Jahren meiner Berufstätigkeit gesehen habe.«

»Wirklich, Mr. Mould?« rief Mr. Pecksniff erschüttert. »Eine so von Herzen kommende Trauer, Sir, habe ich noch nie gesehen. Sie hat keine Grenzen – wahrhaftig, keine Grenzen« – Mr. Mould riß die Augen weit auf und stellte sich auf die Zehenspitzen – – »in punkto Kosten. Ich habe den Auftrag, Sir, mein ganzes Personal von stummen Leidtragenden aufzubieten. Und das kommt sehr hoch, Mr. Pecksniff. Was sie trinken, gar nicht mit eingerechnet. Und dann die silberplattierten Handgriffe von bester Qualität, mit den teuersten Engelsköpfen verziert! Auch an Trauerfedern darf kein Mangel sein. Kurz, Sir, es soll etwas absolut Prachtvolles werden.«

»Mein Freund, Mr. Jonas, ist ein vortrefflicher Mann«, flötete Mr. Pecksniff.

»Ich hab mein Lebtag lang viel Kindesliebe zu sehen bekommen, Sir«, versetzte Mr. Mould, »aber auch Unkindlichkeit. Das ist so unser Los. Unser Beruf bringt es mit sich, daß wir viele solche Geheimnisse kennenlernen. Aber eine Kindesliebe wie diese ist so ehrenvoll für die menschliche Natur, so berechnet, uns mit der Welt, in der wir leben, zu versöhnen, daß ich sagen kann, es ist mir noch nichts Ähnliches bisher vorgekommen. Sie beweist übrigens nur, Sir, was der vielbeweinte Schauspieldichter, der zu Stratford begraben liegt, gesagt hat: – ›daß in allem etwas Gutes zu finden ist‹.«

»Freut mich ungemein, so etwas aus Ihrem Munde zu hören, Mr. Mould«, rief Pecksniff.

»Sie sind sehr gütig, Sir. Und was Mr. Chuzzlewit für ein Mann war – Oh, was das für ein Mann war! Da reden sie immer«, fuhr Mould fort und winkte mit der Hand der ganzen großen Menschheit ab, »von Lord-Mayor, von Sheriff, Ratsherren und dem ganzen übrigen Plunder, aber man zeige mir einen Mann in dieser Stadt, der wert wäre, in den Schuhen des verstorbenen Mr. Chuzzlewit zu wandeln! Nein, nein«, rief Mould bitter, »man hebe sie auf, man hebe sie auf, man gebe ihnen neue Sohlen und bewahre sie für seinen Sohn auf, bis er reif genug ist, sie zu tragen. Aber keiner versuche, sie selbst anzuziehen, sie würden ihm nicht passen. – Wir kennen ihn«, schloß Mould und steckte sein Notizbuch wieder in die Tasche, »Wir kennen ihn und lassen uns nicht mit Speck fangen wie die Mäuse. – Guten Morgen, Mr. Pecksniff, guten Morgen.«

Mr. Pecksniff erwiderte das Kompliment, und Mould, überzeugt, daß er sich höchlichst ausgezeichnet, wandte sich zum Gehen. Ein Lächeln der Freude über seine Geschäftstüchtigkeit zuckte in seinen Mienen auf, verschwand aber schnell wieder, um einem Ausdruck der Niedergeschlagenheit und einem Seufzer Platz zu machen. Dann blickte er in seinen Hut, als ob er hier Trost suche, setzte ihn aber, da er offenbar nichts dergleichen darin fand, auf und entfernte sich mit leisem Schritt.

Mrs. Gamp und Mr. Pecksniff stiegen die Treppen hinauf. Man wies die Dame in die Kammer, wo die zugedeckten sterblichen Überreste Anthony Chuzzlewits lagen, nur von einem einzigen treuen, liebenden Menschenherz betrauert, und Mr. Pecksniff begab sich in die dunkle Wohnstube, um Jonas aufzusuchen, den er schon beinah zwei Stunden nicht gesehen hatte.

»Pecksniff«, begann Jonas flüsternd, »vergessen Sie nicht, Sie haben die Oberleitung über alles und müssen jedermann, der davon spricht, sagen können, daß alles in Ordnung vorgegangen ist! Wissen Sie übrigens niemanden, den Sie zum Leichenbegängnis einladen könnten?«

»Nein, Mr. Jonas, ich kenne niemanden.«

»Denn wenn das wäre«, versetzte Jonas, »so müßte man es unbedingt tun. Wir haben nichts zu verbergen!«

»Nein«, wiederholte Pecksniff nach kurzem Nachdenken. »Leider weiß ich niemanden. – Ich bin Ihnen wirklich sehr für Ihre freigebige Gastlichkeit verbunden, Mr. Jonas, aber beim besten Willen, ich weiß niemanden.« »Auch recht«, brummte Jonas, »Sie, ich, Chuffey und der Doktor werden gerade eine Droschke ausfüllen. Wir müssen den Doktor dabei haben, weil er weiß, wie die Sache vor sich ging und daß ich nichts daran ändern konnte.«

»Wo steckt denn unser lieber Freund, Mr. Chuffey?« fragte Pecksniff, sah sich in der Stube um und blinzelte mit den Augen, denn er war natürlich sehr ergriffen.

Er wurde dabei durch das plötzliche Auftauchen Mrs. Gamps erschreckt, die plötzlich ohne Schal und Haube, den Kopf in den Nacken geworfen, mit stolzem Gang zornig ins Zimmer trat und in spitzigem Ton eine Privatunterredung – draußen vor der Tür – mit ihm verlangte.

»Wenn Sie irgend etwas zu sagen haben, so können Sie es doch gerade so gut hier tun«, seufzte Mr. Pecksniff und schüttelte melancholisch den Kopf.

»Ich hab net viel zu sagen, wo die Leute trauern um Tote und Hingeschiedene«, entgegnete Mrs. Gamp, »aber nix für ungut, was ich sag, gehört zur Sache. Ich bin meinerzeit an vielen Orten gwesen, meine Herren, und hoffe zu wissen, was meine Schuldigkeit ist und wie ich sie zu erfüllen hab. Es war natürlich sehr sonderbar, wenn’s net so war, und sehr unrecht von so an feinen Herrn, wie der Herr Mould, der doch die höchsten Familien in unserm Land zur größten Zufriedenheit bedient hat, mich so zu empfehlen, wie er’s getan hat. Ich hab selbst schon viel Jammer mitgmacht«, sie legte großen Nachdruck auf diese Worte, »und kann ganz gut mitfühlen, wie’s einem is bei solchen Heimsuchungen, aber i bin ka Russ und a ka Preuß und kann’s daher net leiden, wenn eins spioniert.«

Ehe es möglich war, Mrs. Gamp zu antworten, fuhr sie, immer röter im Gesicht werdend, fort:

»’s ist net so einfach, meine Herren, in der Welt als a Witwe zu leben, bsonders wenn der Tag mit an Verlust anfangt, der sich net so leicht wieder einbringen laßt, aber ein jeds, wo sein Brot verdienen muß, hat auch seine eigenen Regeln und Bestimmungen, wo net übertreten werden dürfen. Manche Leut«, fuhr sie erregt fort und verschanzte sich hinter ihrem stärksten Beweisbollwerk, das, wie sie zu glauben schien, kein menschlicher Scharfsinn zu erstürmen vermochte, »manche Leut mögen Russen und manche mögen Preußen sein, aber die sin halt scho so geboren und müssen sich’s so gfallen lassen. Aber die, wo von einer andren Natur sin, die denken anders.«

»Wenn ich die gute Frau verstehe«, wandte sich Mr. Pecksniff zu Jonas, »so scheint Mr. Chuffey etwas lästig zu sein. Soll ich ihn herunterholen?«

»Ja, tun Sie’s«, riet Jonas. »Ich wollte gerade sagen, daß er noch oben sei, als Sie hereinkamen. Ich würde ihn selbst holen gehen, – – aber es wäre mir doch lieber, wenn Sie es täten, wenn es Ihnen einerlei ist.« Mr. Pecksniff entfernte sich sogleich bereitwillig. Mrs. Gamp folgte ihm, und ihre Miene hellte sich auf, als sie sah, daß er eine Flasche und ein Glas vom Tische mitnahm.

»Wissen S’«, sagte sie, »wenn’s net zu seinem eigenen Besten war, so möcht mir so wenig dran liegen, ob er da is oder net, als wenn er a Mucken war. Aber wenn eins an dergleichen Sachen net gewöhnt is, geht’s ihm nachher net so leicht wieder aus dem Kopf und ’s is a Freundschaftsdienst, wenn man so jemand net sein eigenen Willen laßt. – Und selbst«, schloß Mrs. Gamp, wahrscheinlich auf einige Redeblumen anspielend, die sie auf das Haupt Mr. Chuffeys gestreut haben mochte, »selbst wenn man so jemand ausschimpft, so geschieht’s nur, um eahm zu zerstreuen.«

Was für Epitheta sie auch immer dem alten Buchhalter gegeben haben mochte, aufgeheitert oder aufgeweckt hatte sie ihn nicht. Er saß noch immer neben dem Bett in dem Lehnstuhl, den er die ganze Nacht vorher eingenommen hatte, die Hände gefaltet und den Kopf auf die Brust gesenkt, und sah weder auf, als sie eintraten, noch gab er ein Zeichen des Bewußtseins von sich, bis ihn Mr. Pecksniff endlich am Arme berührte.

»Dreimal zwanzig und zehn«, sagte er, »macht null und sieben. Manche Menschen sind so zäh, daß sie’s bis viermal zwanzig bringen. Viermal null ist null und viermal zwei ist acht, macht achtzig. O warum warum – warum – lebte er nicht bis viermal null macht null und viermal zwei macht acht, gleich achtzig?«

»O du irdisches Jammertal«, rief Mrs. Gamp und bemächtigte sich des Glases und der Flasche. »Warum ist er gestorben vor seinem armen, alten, gebrechlichen Diener«, jammerte Chuffey, schlug die Hände zusammen und blickte kummervoll auf. »Was bleibt mir jetzt, wo er fort ist!«

»Mr. Jonas«, rief Pecksniff feierlich. »Mr. Jonas, mein lieber Freund!«

»Ich habe ihn so gern gehabt«, ächzte der alte Mann weinend. »Er war immer so gut gegen mich. Wir haben zusammen die Tara und den Rabatt in der Schule gelernt. Ich habe ihn einmal, ihn und sechs andere, in der Arithmetik ausgestochen. Gott verzeih mir’s, daß ich das Herz hatte, ihn auszustechen.«

»Kommen Sie, Mr. Chuffey«, tröstete ihn Pecksniff. »Kommen Sie mit. Fassen Sie sich, Mr. Chuffey.«

»Ja, das will ich«, hauchte der alte Buchhalter; »ja, ich will mich zusammennehmen – – wievielmal zwanzig – o Chuzzlewit und Sohn – Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit – Ihr eigenes Fleisch und Blut!«

Dann versank er wieder in seinen alten Stumpfsinn und ließ sich geduldig wegführen. Mrs. Gamp setzte sich, die Flasche auf dem einen und das Glas auf dem andern Knie, nieder und schüttelte eine Zeitlang trübe den Kopf; schließlich schenkte sie sich geistesabwesend ein wenig von dem Branntwein ein und erhob das Glas an ihre Lippen. Sie ließ einen zweiten, einen dritten Schluck folgen, und entweder waren ihre Gedanken über Tod und Leben so traurig oder ihre Bewunderung des Getränkes so überschwenglich, – kurz, sie verdrehte die Augen dermaßen, daß nur mehr das Weiße sichtbar war, und schüttelte dabei rastlos den Kopf.

Der alte Chuffey wurde in seinen gewohnten Winkel geführt und blieb dort sitzen, still und stumm. Nur hie und da stand er auf und ging in der Stube auf und ab, rang die Hände oder stieß plötzlich einen seltsamen wilden Schrei aus.

Eine ganze Woche lang blieben die drei so Tag für Tag um den Kamin versammelt, ohne das Haus zu verlassen. Mr. Pecksniff wäre wohl ganz gerne in den Abendstunden ein wenig ausgegangen, aber Jonas wollte auch nicht eine Minute allein sein. In dieser Weise brüteten sie in dem dunklen Zimmer vom Morgen bis in die Nacht ohne Erholung oder Zerstreuung. Der Gedanke an den, der da oben in der Leichenkammer steif und starr ausgestreckt lag, lastete so schwer auf Jonas, daß er fast darunter zusammenbrach. Während der ganzen langen sieben Tage und Nächte umspukte ihn ununterbrochen das schreckliche Gefühl, daß der Tote noch im Hause sei. Wenn sich die Türe bewegte, sah er mit leichenfahlem Gesicht und entsetztem Auge hin, als glaube er, gespenstische Finger hielten die Klinke umkrallt. Flackerte das Feuer im Luftzug, so blickte er über die Achsel in der Furcht, eine in Leichentücher gehüllte Gestalt zu sehen, die es mit ihrem schrecklichen Kleide fächelte. Das leiseste Geräusch machte ihn zusammenschauern und zusammenfahren, und einmal in der Nacht rief er bei dem Klang von Schritten über seinem Haupte, der Tote wandle, trap, trap, trap, in Leichenkleidern herum. Nachts lag seine Schlafmatratze auf dem Boden des Besucherzimmers, gerade so wie die Mr. Pecksniffs, da sein eigenes Zimmer Mrs. Gamp angewiesen worden war. Das Heulen eines Hundes vor dem Hause erfüllte ihn mit Entsetzen – mit einem Entsetzen, das er nicht verbergen konnte. Dem Widerschein des Lichtes aus der Leichenkammer, der sich an den gegenüberliegenden Fenstern widerspiegelte, wich er aus wie einem zornigen Auge.

Nacht für Nacht fuhr er aus seinem unruhigen Schlummer auf, blickte stier umher und rief nach dem Morgen. Die Leitung sämtlicher Angelegenheiten, sogar die Bestellung der täglichen Mahlzeiten, hatte er Mr. Pecksniff überlassen, der infolgedessen in der festen Überzeugung, der Leidtragende bedürfe des Trostes in Form kräftiger Nahrung, die Gelegenheit benützte, während dieser trübseligen Zeit nur die leckersten Sachen auf die Tafel setzen zu lassen. Zuckerbackwerk, geschmorte Nieren, Austern und andere leichtverdauliche Speisen für jedes Nachtessen und dazu die entsprechende Menge heißen Punsches, wobei er dann so viele moralische Reflexionen und geistige Tröstungen entwickelte, daß ein Heide davon hätte bekehrt werden müssen. Namentlich, wenn er nicht Englisch verstanden hätte.

Mr. Pecksniff war überdies keineswegs der einzige Leidtragende, der sich in diesen Tagen der Trübsal kulinarischer Genüsse hingab, denn auch Mrs. Gamp zeigte einen sehr erlesenen Geschmack in punkto Essen. Gehacktes Hammelfleisch wies sie mit Verachtung zurück. Auch hinsichtlich Trinken war sie sehr pünktlich und wählerisch; so verlangte sie eine Pinte milden Porters zum Lunch, eine Pinte zum Dinner, eine halbe Pinte als eine Art Zwischenstation zwischen Dinner und dem Tee und eine Pinte von dem berühmten starken Ale oder echten alten »Brighton Tipper« zum Souper. Außerdem stand beständig die Flasche Brandy auf dem Kamin, und dann und wann appellierte sie an die gute Erziehung ihrer Auftraggeber, sie zu einem Tropfen Wein einzuladen. Ebenso fanden sich Mr. Moulds Leute genötigt, ihren Gram wie ein junges Kätzchen am ersten Morgen seines Daseins zu ertränken, und pünktlich, ehe sie an ihr Geschäft gingen, benebelten sie sich, um allzu großer Ergriffenheit vorzubeugen. Kurz, die ganz seltsame Woche verging in schauerlicher Fidelität und grimmig stillem Wohlleben, und außer dem armen Chuffey feierte jeder, der in den Schattenbereich von Anthony Chuzzlewits Leichenbegängnis gehörte, ein Festmahl wie die Ghoule aus Tausendundeiner Nacht.

Endlich kam der Tag der Beisetzung. Mr. Mould lehnte, in der einen Hand die goldene Uhr, mit der andern ein Glas edlen Portweins zwischen Auge und Licht haltend, an dem Schreibpult in dem kleinen Glastürbureau und besprach sich mit Mrs. Gamp. Zwei stumme Leidtragende standen an der Haustür und schnitten so klägliche Gesichter, wie sich nur von Leuten eines profitablen Geschäftes erwarten ließ. Mr. Moulds ganzes Etablissement war aufgeboten und versah innerhalb und außerhalb des Hauses den Dienst. Federn nickten, Rosse schnaubten, Seide und Samt flatterte, kurz alles war geschehen – wie Mr. Mould nachdrücklich bemerkte – was für Geld geschehen konnte.

»Und was will man weiter, Mrs. Gamp!« rief er, nachdem er sein Glas geleert, mit den Lippen schmatzend.

»Natürlich nichts, Sir.«

»Natürlich nichts«, wiederholte Mr. Mould, »Sie haben recht, Mrs. Gamp. Weshalb verwenden eigentlich die Leute –« er füllte sein Glas abermals, »mehr Geld auf einen Todesfall, Mrs. Gamp, als auf eine Geburt? Das müssen Sie doch am besten wissen, es schlägt in Ihr Fach. Wie erklären Sie sich das?« »Na ja, weil mer halt an Leichenbestatter lieber sieht als a Hebamm«, gluckste Mrs. Gamp verschmitzt und strich sich ihr neues schwarzes Kleid glatt.

»Hahaha«, lachte Mr. Mould, »man sieht, Sie haben heute morgen auf anderer Leute Kosten gefrühstückt, Mrs. Gamp.«

Als jedoch sein Blick bei diesen Worten einen kleinen an der Wand hängenden Rasierspiegel streifte und er darin sein Gesicht ungebührlich heiter lächeln sah, setzte er sofort seine Trauermiene wieder auf.

»Seit Sie mich so gütig empfohlen haben, hab i net oft auf eigne Kosten gfrühstückt, und hoffentlich wird’s auch in Zukunft net der Fall sein«, entgegnete Mrs. Gamp mit einem apologisierenden Knicks.

»Nun«, meinte Mr. Mould, »wie die Vorsehung will. Ich kann Ihnen übrigens selbst sagen, Mrs. Gamp, worin der Grund liegt. Es kommt daher, daß das Anlegen des Geldes bei einem geordneten Unternehmen, wo alles im allerfeinsten Stil ausgeführt wird, wie ein Verband auf das gebrochene Herz wirkt und Balsam in die verwundete Seele gießt. Wenn Leute sterben, bedürfen die Herzen eines Verbandes; der Geist will Linderung haben. Sehen Sie sich zum Beispiel nur den Gentleman heut an, wie er aussieht!«

»Ein freigebiger Gentleman«, rief Mrs. Gamp enthusiastisch.

»Nein, nein«, versicherte der Leichenbestatter, »er ist durchaus kein freigebiger Herr für gewöhnlich. Da kennen Sie ihn schlecht. Aber ein betrübter Herr ist er, ein gefühlvoller Herr. Er weiß, was für ihn dabei alles herauskommen kann, wenn er seine Liebe und Verehrung für den Hingeschiedenen so an den Tag legt. Er hat für sein Geld«, erklärte Mr. Mould und schwenkte seine Uhrkette im Kreise herum, »erstens vier Trauerpferde vor jedem Wagen, ebensoviele samtene Pferdedecken, Kutscher in Tuchmänteln und Stulpenstiefeln, schwarzgefärbte Straußenfedern und eine Menge Begleiter zu Fuß, alle nach der neuesten Trauermode gekleidet, mit messingbeschlagenen Stäben in der Hand, und ein Grab – ff. Wenn er entsprechend zahlt, kann er sich sogar in der Westminster-Abtei begraben lassen. Nein, nein, Mrs. Gamp, Geld ist keine Schimäre, wenn man solche Sachen dafür haben kann.«

»Und ein wahrer Segen Gottes ist es«, sagte Mrs. Gamp, »daß es noch solche Leute gibt wie Sie, Mr. Mould, wo solchene Sachen verkaufen oder verschaffen.«

»Ja, Mrs. Gamp, da haben Sie recht«, rief der Leichenbestatter, »wir sollten ein viel höher geehrter Stand sein. Wir tun das Gute insgeheim und erröten, wenn es in unsern kleinen Rechnungen erwähnt wird. Wieviel Trost hab ich – ja ich –« rief Mr. Mould, »schon unter meinen Mitmenschen verbreitet mit meinen vier langschweifigen Prachtpferden, die gar nicht angeschirrt werden unter zehn Pfund zehn Schilling.«

Mrs. Gamp öffnete den Mund zu einer passenden Antwort, wurde jedoch durch das Eintreten eines von Mr. Moulds Gehilfen, seinem Hauptleidtragenden, einem fetten runden Mann, dessen Weste fast bis zu den Knien reichte, und mit einer über und über mit Finnen besäten Nase, unterbrochen. In frühern Jahren war der Mann ein zartes Bürschchen gewesen, dann aber, infolge seines beständigen Aufenthalts in der fetten Leichenatmosphäre nach und nach so üppig ins Kraut geschossen.

»Nun, Tacker«, fragte Mr. Mould, »ist unten alles bereit?«

»Ein wundervolles Schauspiel, Sir«, versetzte Tacker. »Die Pferde sind stolzer und frischer, als ich sie jemals gesehen hab, und mit die Köpf stoßen s‘, als ob s‘ wüßten, was die Federn kosten. Eins, zwei, drei, vier«, zählte Mr. Tacker sodann auf und warf vier schwarze Mäntel über den linken Arm.

»Ist Tom da mit dem Kuchen und dem Wein?« fragte Mr. Mould.

»Er muß im Augenblick kommen, Sir.«

»Dann«, sagte Mr. Mould, steckte seine Uhr ein und betrachtete sich in dem kleinen Rasierspiegel, um sicher zu sein, daß sein Gesicht auch den gehörigen Trauerausdruck habe, »dann, denke ich, können wir an die Arbeit gehen. – Geben Sie mir das Papier mit den Handschuhen her, Tacker. – – Oh, was war das für ein vortrefflicher Herr, der Verstorbene. – Tacker, Tacker, was war das für ein Mann!«

Mr. Tacker, der infolge seiner bei Leichenbegängnissen gesammelten großen Erfahrungen einen trefflichen pantomimischen Schauspieler hätte abgeben können, blinzelte Mrs. Gamp zu, ohne daß dies dem Ernste seines Gesichts, abgesehen von einem Grinsen, Abbruch getan hätte, und folgte seinem Gebieter ins nächste Zimmer.

Es gehörte zu Mr. Moulds gewerbsmäßigen Gepflogenheiten, von denen er nie abging, daß er sich stets das Ansehen gab, als ob er den Doktor nicht kenne, obgleich sie in Wahrheit nahe beieinander wohnten und sich oft, wie zum Beispiel im gegebenen Falle, in die Hände arbeiteten. Er händigte ihm jetzt ein paar schwarze Glacéhandschuhen ein, wie wenn er ihn nie in seinem Leben gesehen hätte, während der Doktor seinerseits sich so gemessen benahm, als habe er wohl von Leichenbestattern gehört oder gelesen, sei auch schon an ihren Läden vorbeigekommen, könne sich aber durchaus nicht erinnern, je mit einem Herrn dieses Schlages in Berührung gekommen zu sein.

»Wie? Handschuhe?« fragte der Doktor. »Bitte, Mr. Pecksniff, nach Ihnen.«

»Oh, bitte sehr, durchaus nicht«, versetzte Mr. Pecksniff.

»Sie sind sehr gütig«, bedankte sich der Doktor und wählte sich ein Paar Handschuhe. »Nun, Sir, wie ich Ihnen bereits sagte, wurde ich ungefähr um halb zwei Uhr zu dem Patienten gerufen – Kuchen und Wein, he? Welches ist der Portwein?«

Auch Mr. Pecksniff nahm ein Glas.

»Ungefähr um halb zwei Uhr morgens, Sir«, fing der Doktor wieder an, »wurde ich zu dem Patienten gerufen. Beim ersten Läuten der Nachtglocke springe ich aus dem Bett, reiße das Fenster auf, stecke den Kopf hinaus – – Mantel, eh? Bitte, ziehen Sie ihn nicht zu fest zu. – Ja, so wird’s gut sein.«

Nachdem Mr. Pecksniff in ähnlicher Weise eingekleidet war, fuhr der Doktor fort:

»Und stecke meinen Kopf hinaus – Hut? Lieber Freund, nein, das ist nicht der meinige. Pardon, Mr. Pecksniff, aber ich glaube, wir haben unabsichtlich unsere Kopfbedeckungen vertauscht. – Ich danke Ihnen. Nun, Sir, was ich sagen wollte –«

»Wir sind fertig«, unterbrach ihn Mould mit leiser Stimme.

»Fertig, wie?« fragte der Doktor. »Sehr gut. Mr. Pecksniff, ich werde Ihnen gelegentlich, wenn wir in der Kutsche sitzen, das Weitere erzählen. Es ist etwas seltsam. Fertig? Wie? Hoffentlich regnet’s doch nicht!« »Nein, es ist sehr schön, Sir«, entgegnete Mould.

»Ich fürchtete schon, wir würden nasses Wetter kriegen, denn mein Barometer fiel gestern sehr stark. Wir können uns Glück wünschen, daß wir so gut weggekommen sind.« – In diesem Augenblick traten Mr. Jonas und Chuffey ein. Hastig zog der Arzt sein weißes Taschentuch heraus und drückte es an die Augen, offenbar um einen Schmerzensausbruch zu verbergen. Dann schritt er Seite an Seite mit Mr. Pecksniff zur Türe hinaus.

Mr. Mould und seine Leute hatten die Großartigkeit der getroffenen Anstalten durchaus nicht übertrieben. Es war in der Tat ein glänzendes Begräbnis. Die vier Leichenwagenpferde warfen die Köpfe in die Höhe und scharrten mit den Hufen, als wüßten sie, daß ein Mensch gestorben sei, und triumphierten darüber. »Sie spannen uns ins Joch, peitschen uns, malträtieren uns und verkrüppeln uns nur zu ihrem Vergnügen, aber sterben müssen sie doch; hurra! Sterben müssen sie doch.«

Und fort ging der Leichenzug Anthony Chuzzlewits durch die schmalen Straßen und gewundenen Gäßchen der City. Verstohlen lugte Mr. Jonas aus dem Kutschenfenster, um den Eindruck zu beobachten, den das Gepränge auf die Menge mache. Mr. Mould wanderte mit langsamen Schritten einher und lauschte voller Stolz den bewundernden Ausrufen der Umstehenden. Der Doktor flüsterte Mr. Pecksniff seine Geschichte zu, ohne jedoch, wie es schien, dem Ende näher zu kommen als anfangs. Der arme alte Chuffey saß unbeobachtet in seiner Ecke und schluchzte. Schon bei Beginn der Zeremonie hatte er Mr. Mould großes Ärgernis gegeben, weil er sein Taschentuch ganz wider alles Herkommen im Hute getragen und sich die Augen mit den Fingerknöcheln gewischt hatte. Kurz, sein Benehmen verstieß gegen jeden Anstand und war überhaupt eines solchen feierlichen Anlasses unwürdig. Von Rechts wegen hätte man ihn gar nicht zuziehen dürfen.

Aber er war nun einmal da. Auch auf dem Kirchhof benahm er sich nicht weniger anstößig, denn er stützte sich auf Mr. Tacker, der ihm offen heraus sagte, er tauge zu einem solchen Begräbnis nicht; höchstens zu einem dritter Klasse. Aber Chuffey hörte ihn nicht, denn das Echo einer für immer verstummten Stimme klang in seinem Herzen wider. »Ich habe ihn so gern gehabt«, rief er immer wieder und sank auf das Grab nieder, als alles vorbei war. »Er war immer so gut gegen mich. Oh, mein lieber alter Freund und Herr!«

»Kommen Sie, kommen Sie, Mr. Chuffey«, redete ihm der Doktor zu, »das taugt zu nichts. Der Boden ist lehmig, Mr. Chuffey Sie dürfen das nicht tun, so fassen Sie sich doch!«

»Wenn’s die ordinärste Sorte Begräbnis und Mr. Chuffey ein Träger gewesen wäre, meine Herren«, sagte Mould desperat und half ihnen den armen alten Buchhalter aufheben, »meiner Seel, er hätte es nicht ärger treiben können.«

»Seien Sie ein Mann, Mr. Chuffey!« sagte auch Mr. Pecksniff.

»Seien Sie ein Gentleman, Mr. Chuffey!« redete ihm Mr. Mould zu. – »Mein Ehrenwort, lieber Freund«, murmelte der Doktor in streng verweisendem Tone und trat zu dem alten Buchhalter heran, »das ist schlimmer als bloße Schwachheit; es ist schlecht, selbstsüchtig und unrecht, Mr. Chuffey! Sie sollten sich an uns ein Beispiel nehmen, mein werter Herr, und nicht vergessen, daß Sie durch keine Bande des Blutes mit unserm Freund verbunden waren. Zumal ein sehr naher und sehr teuerer Verwandter von ihm da ist.«

»Ach ja, sein leiblicher Sohn!« rief der alte Mann und faltete leidenschaftlich die Hände. »Sein eigenes Fleisch und Blut!«

»Er ist nicht richtig im Kopfe«, erklärte Jonas und wurde blaß. »Sie dürfen nicht darauf achten, was er sagt. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er plötzlich den gräßlichsten Unsinn behauptete. Bitte, achten Sie nicht auf ihn. Ich tue es auch nicht. Mein Vater hat ihn meiner Fürsorge anempfohlen und damit genug. Was er sagt oder tut, ist gleichgültig. Ich werde schon für ihn sorgen.«

Ein Murmeln der Bewunderung erhob sich unter dem Trauergefolge – Mr. Mould und seine Leute mit eingeschlossen – über diesen neuen Beweis von Hochherzigkeit und kindlichem Sinn, aber Chuffey ließ es nicht mehr weiter darauf ankommen, sprach kein Wort mehr und kehrte stumm in seine Kutsche zurück.

Wohl erblaßte Jonas, als das Benehmen des alten Schreibers die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, jedoch war seine Bestürzung nur ganz vorübergehend, und bald erholte er sich wieder. Und das war nicht der einzige Wechsel, der an diesem Tage in ihm vorging.

Mr. Pecksniffs neugieriges Auge hatte bald herausgefunden, daß er auffallend ruhiger zu werden begann, sobald der Leichenzug das Haus verlassen hatte. Im Verlauf der Bestattungszeremonien wurde er bald ganz wieder wie sonst. Sein früheres Aussehen, seine Haltung, seine gewohnten angenehmen Eigentümlichkeiten in Sprache und Benehmen kehrten zurück, und in jeder Hinsicht wurde er wieder der frühere bestrickende Jonas. Als sie nach Hause fuhren, und ganz besonders, als sie dort anlangten und die Entdeckung machten, daß Licht und Luft durch die offenen Fenster hereinströmten, da fühlte sich Mr. Pecksniff so vollkommen überzeugt, Jonas sei ganz wieder der alte wie vor einer Woche, daß er freiwillig seine inzwischen erworbene Machtstellung aufgab und ohne einen Versuch, sie noch weiter zu behaupten, seine Stellung als milder und ergebener Gast wieder annahm. Mrs. Gamp kehrte zu dem Vogelhändler zurück und wurde noch in derselben Nacht zu einer Zwillingsgeburt herausgeklopft. Mr. Mould speiste heiter im Schoße seiner Familie und verbrachte den Abend höchst vergnügt in seinem Klub. Der Leichenwagen kehrte, nachdem er einige Zeit an der Tür eines lärmenden Wirtshauses gestanden, samt den Federbüschen und den zwölf auf dem Dache sitzenden rotnasigen Leichenbestattungsgehilfen, die sich jetzt an den schmutzigen Stiften hielten, an denen zur Zeit des Prunkes Büsche zu wehen pflegten, nach seinem Schuppen zurück. Die diversen Leichendraperien wurden sorgfältig in Schränke gelegt, die feurigen Rosse verfügten sich nach der Tränke ruhig in ihren Stall, und der Doktor vergnügte sich bei einem Hochzeitsmahle mit Wein und vergaß darüber seine Geschichte, die er noch immer nicht zu Ende erzählt hatte, ganz und gar. – Kurz, alles, was von dem Gepränge übrigblieb, beschränkte sich auf die genauen Aufzeichnungen in den Büchern des Leichenbestatters.

Und auch auf dem Friedhof war alles so gut wie vergessen. Die Tore wurden geschlossen, die Nacht dunkelte, und ein leichter Regen fiel auf das wuchernde Unkraut hernieder. Nur ein neuer Grabhügel, der am Tage vorher noch nicht dagewesen, war zu den übrigen hinzugekommen. Wie ein Maulwurf, der unter dem Boden fortwühlt, hatte die Zeit ein Häuflein Erde aufgeworfen, und das war alles.

2.Kapitel


2.Kapitel

Worin dem Leser gewisse Personen vorgeführt werden, mit denen er, wenn er will, genauer bekannt werden kann

Es war schon recht spät im Herbst, als die sinkende Sonne, sich durch den Nebel kämpfend, der sie den ganzen Tag über verschleierte, ihre hellen Strahlen auf das kleine, nur eine schwache Tagreise von der schönen, alten Stadt Salisbury entlegene Dorf Wiltshire herniedersandte.

Wie eine plötzlich aufblitzende Erinnerung die Seele eines Greises erhellt, goß sie ihre Herrlichkeit über die Landschaft, so daß entschwundene Jugend und Frische wieder neu aufzuleben schienen. Das feuchte Gras funkelte im Licht, die spärlichen grünen Flecken in den Hecken – wo noch ein paar belaubte Zweige ritterlich standhielten und bis auf den letzten Augenblick den schneidenden Winden und Frühreifen Widerstand leisteten – faßten sich ein Herz und wurden wieder lebensvoll und frisch; der Strom, der den ganzen Tag über trüb und verdrießlich dahingeflossen, zeigte ein heiteres Lächeln; die Vögel auf den nackten Zweigen begannen zu zwitschern, als glaubten sie voller Hoffnung, der Winter sei vorüber und der Frühling wieder im Anzuge. Der Wetterhahn auf dem spitzen Turmdach der alten Kirche glitzerte von seinem hohen Posten fröhlich herab, und die efeubeschatteten Fenster warfen einen solchen Lichterglanz auf den glühenden Himmel zurück, daß es schien, als seien in dem ehrwürdigen Gebäude zwanzig Sommer mit all ihrer Glut und Wärme aufgespeichert.

Selbst jene Merkmale der Jahreszeit, die so bedeutungsvoll vom kommenden Winter flüstern, zierten die Landschaft und hatten für den Augenblick nicht den Anflug von Traurigkeit wie sonst. Das gefallene Laub strömte einen lieblichen Duft aus und dämpfte die rauhen Töne ferner Pferdehufe und Räder. Da und dort streute der Bauer die Saat oder zog geräuschlos mit dem Pflug anmutige Streifen durch die weiche braune Erde. An den reglosen Zweigen der Sträucher hingen Herbstbeeren wie Korallenschnüre in den Fabelgärten, wo die Früchte Juwelen sind. Bäume standen, ihres Schmuckes beraubt, inmitten eines Häufleins gelber Blätter und sahen ihrem eigenen langsamen Verfalle traurig zu. Andere trugen zwar noch ihr Laub, aber es war dürr und runzelig, wie verbrannt, und hie und da lagen um die Stämme in roten Hügeln die Äpfel aufgehäuft, die sie dieses Jahr getragen. Nur die tapfern Immergrüns blickten ernst und düster drein, als seien sie von der Natur berufen, die Lehre zu verkündigen, daß es nicht immer die gefühlvollsten und frohherzigsten ihrer Lieblinge sind, denen sie die längste Lebensfrist gewährt. Quer durch ihre dunkeln Zweige hindurch brachen die Sonnenstrahlen Bahnen von tieferem Gold, und das rote Licht, das sich um ihre schwärzlichen Äste legte, diente ihnen als Folie, um den Glanz und die Pracht des sterbenden Tages noch zu erhöhen.

Ein Augenblick, und die Herrlichkeit war versunken. Die Sonne stieg hinab hinter die langen, dunkeln Berg- und Wolkenreihen, die im Westen eine luftige Stadt bildeten, Mauer auf Mauer und Zinnen auf Zinnen getürmt. Verschwunden war das Licht, das blinkende Turmdach wurde kalt und dunkel, der Strom vergaß sein Lächeln, die Vögel verstummten, und allüberall lagerte sich der Trübsinn des Winters. Da erhob sich ein Abendwind, und die Zweige krachten und raschelten zu seiner stöhnenden Musik, als führten Totengerippe einen Tanz auf. Die welken Blätter fuhren auf – aus ihrer Ruhe gestört –, wie um Schutz zu suchen vor seinem kalten Hauch; der Landmann spannte die Pferde aus und führte sie, das Haupt gesenkt, mit eiligem Schritt nach Hause. Aus den Fenstern der Hütten begannen die Lichter zu schimmern und in die dunkel werdenden Felder hinauszublinken.

Jetzt erwachte die Dorfschmiede zu ihrer ganzen glanzvollen Macht. Die eifrigen Blasbälge brausten ihr »Ha ha« dem hellen Feuer zu, das sausend Antwort gab und zu dem fröhlichen Klingen des Hammers vergnügt leuchtende Funken tanzen ließ. Das rote Eisen wetteiferte mit diesem Sprühen und warf freigebig glühende Edelsteine umher. Der starke Schmied und seine Gesellen führten so mächtige Schläge, daß selbst die melancholische Nacht froh wurde und Glut ihr dunkles Antlitz übergoß, wie sie durch Türen und Fenster herein neugierig einem Dutzend müßiger Zuschauer über die Schulter spähte. Wie gebannt standen die Gaffer da, warfen nur hin und wieder einen Blick in die Finsternis hinter sich, pflanzten ihre Ellenbogen noch träger und bequemer auf das Sims und lehnten sich noch ein wenig weiter hinein in die Schmiede – augenscheinlich ebenso wenig geneigt, sich zu entfernen, als hätten sie, wie Heimchen, ausdrücklich den Beruf, sich um die prasselnde Feuerstätte zu scharen.

Hui, wie der zornige Wind, erst seufzend, dann heulend, um die lustige Schmiede brauste, das Pförtchen auf und zu schlug und im Schornstein toste, als wolle er den braven Blasebalg verhöhnen, daß er so gehorsam arbeite. Ein ohnmächtiger Prahlhans war er trotz all seines Lärmens! Wenn er überhaupt einen Einfluß auf seinen rauhen Kameraden übte, so war es höchstens der, daß dieser sein fröhliches Lied noch lauter sang und das Feuer noch heller brennen und die Funken noch lustiger tanzen machte. Endlich sprühte es so toll ringsum, daß es dem sauertöpfischen Wind zu arg wurde und er mit einem Geheul entwich und dabei dem alten Schild vor dem Wirtshause einen Tritt gab, daß der blaue Drache sich noch höher als vorher aufrichtete und später – vor Weihnachten – ganz aus seinem morschen Rahmen herausfiel.

Für einen respektabeln Wind war es recht kleinlich, seinen Grimm an so armen Dingern wie den gefallenen Herbstblättern auszulassen. Kaum hatte er nämlich sein Mütchen an dem armen Drachen gekühlt, da stieß er auf einen großen Haufen Blätter und wirbelte sie so durcheinander, daß sie wild hierhin und dorthin flogen, sich überstürzten, auf ihren dünnen Kanten einherrollten, wahnsinnige Luftfahrten machten und im Übermaße ihrer Verzweiflung die außerordentlichsten Possen trieben. Und noch nicht zufrieden damit, sie umherzujagen, sonderte er eine kleine Partie ab, hetzte sie nach der Sägegrube eines Wagners und unter die Planken und das Werkholz im Hofe, spürte ihnen unter dem Sägemehl, das er in die Luft streute, wieder nach; und wenn er sie erwischte – o je, wie er ihnen da auf den Fersen folgte.

Es war eine schwindelnde Jagd, sie gerieten an unbesuchte Orte, wo kein Ausgang war und ihr Verfolger sie nach Belieben umherwirbeln konnte; sie krochen unter die Dachrinnen der Häuser und klammerten sich wie Fledermäuse dicht an die Seiten der Heuschober an; sie flogen zu offenen Stubenfenstern hinein und kauerten sich ins Gehege – kurz, allenthalben suchten sie Schutz. Das Possierlichste, was sie jedoch ausführten, war, daß sie sich das plötzliche Aufgehen von Mr. Pecksniffs Haustüre zunutze machten und wild in den Flur hineinstürmten. Der Wind kam gleich hinter ihnen drein, und da er die Hintertüre offen fand, blies er augenblicklich die Kerze, die Miss Pecksniff in der Hand hielt, aus und schlug die Haustüre mit solcher Gewalt Mr. Pecksniff an die Brust, daß dieser im Nu an der untersten Treppe auf dem Rücken lag. Dann solcher kleinlichen Heldentaten müde, eilte er lärmend von hinnen und fuhr über Moor und Wiesen, Tal und Hügel, bis er auf die See hinausgeriet, wo er mit andern zu gleichen Possen aufgelegten Freunden zusammentraf und eine lustige Nacht durchmachte.

Inzwischen lag Mr. Pecksniff, der von einer scharfen Treppenkante jene Art von Kopfstück erhalten hatte, die im Schädelinnern den bekannten Lichtertanz zu erzeugen pflegt, mit friedlichem Starrblick auf der Schwelle und sah seine Haustüre an. Es schien, als gebe ihm dieser Anblick mehr zu denken als die gewöhnlichen Haustüren, denn er blieb eine unsinnig lange Zeit liegen, ohne sich zu vergewissern, ob er Schaden genommen oder nicht. Ja, er gab nicht einmal eine Antwort, als Miss Pecksniff mit so schriller Stimme, daß sie ganz gut einer erzürnten jugendlichen Windsbraut hätte angehören können, durch das Schlüsselloch ein »Wer ist da!« rief. Und als die junge Dame die Türe abermals öffnete, die Kerze mit der Hand beschattend hinausschaute und herausfordernd nach jeder Richtung blickte, nur nicht dorthin, wo er lag, gab er weder einen Laut von sich, noch deutete er im geringsten den Wunsch an, aufgehoben zu werden.

»Oh, ich habe dich ganz gut gesehen«, rief Miss Pecksniff dem vermeintlichen Schelm nach, der, wie sie glaubte, geklopft und dann Reißaus genommen hatte. »Aber wir werden dich schon kriegen, Bürschchen!«

Mr. Pecksniff sagte noch immer nichts, vielleicht weil er sein Teil schon »gekriegt« hatte.

»Du bist jetzt um die Ecke, ich weiß schon!« rief Miss Pecksniff zwar aufs Geratewohl, aber es lag doch etwas Wahres darin, denn von Mr. Pecksniff, der eben im Begriffe stand, dem erwähnten Lichtertanz ein Ende zu machen und die Anzahl der Messingknäufe an seiner Haustüre von vier- oder fünfhundert, wie es ihm zuvor geschienen, auf etwa ein Dutzend zu reduzieren, ließ sich in gewissem Sinne wohl sagen, daß er »um die Ecke« wieder zu sich kam.

Nach einer lautgekreischten Drohung mit Gefängnis, Konstabler, Rad und Galgen war Miss Pecksniff gerade dabei, die Türe wieder zu schließen, als Mr. Pecksniff, der noch immer unten am Treppenabsatz lag, sich auf einem Ellenbogen aufrichtete und nieste.

»Himmel, welche Stimme!« rief Miss Pecksniff. »Mein Vater!«

Bei diesem Ausruf stürzte eine zweite Miss Pecksniff aus dem Wohnzimmer, und dann zerrten die beiden jungen Damen unter allerlei unzusammenhängenden Redensarten Mr. Pecksniff in eine sitzende Stellung.

»Papa!« riefen sie einstimmig. »Pa! So sprich doch, Pa! Mach kein so verstörtes Gesicht, liebster Pa!«

Da aber ein Gentleman in einem solchen Falle erfahrungsgemäß nicht Herr seines Mienenspiels zu sein pflegt, so fuhr Mr. Pecksniff fort, Mund und Augen sehr weit aufzusperren und seine Kinnlade nach Art eines Nußknackers sinken zu lassen. Da ihm außerdem der Hut herabgefallen, sein Gesicht bleich, sein Haar gesträubt und sein Rock sehr schmutzig war, so bot er einen derartig kläglichen Anblick, daß keine von den beiden Misses Pecksniff ein unwillkürliches Aufkreischen unterdrücken konnte.

»Macht weiter nichts«, sagte Mr. Pecksniff. »Ich fühle mich schon besser.«

»Er kommt wieder zu sich!« rief die jüngere Miss Pecksniff.

»Er spricht wieder!« stellte die Ältere fest.

Und mit diesen frohen Worten küßten sie Mr. Pecksniff auf beide Wangen und trugen ihn ins Zimmer. Sodann eilte die jüngere Miss Pecksniff wieder hinaus, um seinen Hut, ein Paket, seinen Schirm, seine Handschuhe und andere verstreute Kleinigkeiten aufzulesen, worauf sie die Haustüre schloß und sich mit ihrer Schwester anschickte, im Hinterzimmer Mr. Pecksniffs Wunden zu verbinden.

Diese waren nicht sehr bedenklicher Natur und beschränkten sich auf Hautschürfungen an denjenigen Teilen, die die ältere Miss Pecksniff an ihres Vaters Organismus »die Graupleten« nannte – nämlich an den Knien und Ellenbogen –, und außerdem auf das plötzliche Vorhandensein einer ganz neuen, dem Phrenologen unbekannten beulenartigen Erhöhung am Hinterkopf. Nachdem man diese Beschädigungen äußerlich mit Streifen von essiggetränktem Löschpapier und innerlich mit heißem Grog behandelt hatte, setzte sich die ältere Miss Pecksniff nieder, um den Tee zu bereiten, wozu bereits alles hergerichtet war, und die jüngere Miss Pecksniff holte inzwischen aus der Küche eine dampfende Schüssel mit Schinken und Eiern, setzte sie ihrem Vater vor und nahm dann auf einem Schemel zu seinen Füßen Platz, wodurch sie ihre Augen in gleiche Höhe mit dem Teebrett brachte.

Aus dieser kindlichen Stellung darf jedoch nicht geschlossen werden, daß sie so jung gewesen wäre, um der Kürze ihrer Beine wegen auf einem Schemel habe sitzen zu müssen. Sie wählte diesen Platz lediglich aus Einfalt und Unschuld und weil alles an ihr mädchenhaft, neckisch und wildfangartig war. Sie war das schelmischste und zugleich harmloseste junge Mädchen, das man sich nur denken konnte, die jüngere Miss Pecksniff, und darin lag ihr größter Reiz. Sie war zu naiv, zu unschuldig, zu kindisch-lebhaft, die jüngere Miss Pecksniff, als daß sie hätte einen Kamm tragen, ihr Haar frisieren oder in Zöpfe flechten mögen. Sie trug es kurz und natürlich gelockt. Ihre Gestalt war ziemlich üppig und eigentlich frauenhaft, aber trotzdem trug sie bisweilen ein Lätzchen. Und wie bezaubernd ihr das dann stand! Oh, die jüngere Miss Pecksniff war wirklich das »Zuckergoscherl«, wie sie von einem jungen Herrn in der lyrischen Ecke einer Provinzzeitung genannt wurde.

Mr. Pecksniff hingegen war der moralische Mann, – ein ernster Mann, ein Mann von nobler Denk- und Redeweise, der seine Tochter hatte Gratia taufen lassen. Gratia! Welch ein bezaubernder Name für ein Wesen von so reinem Herzen wie die jüngere Miss Pecksniff! Ihre Schwester hieß Charitas. Wie trefflich: Gratia und Charitas!

Charitas mit ihrem gebildeten und hellen Verstande und ihrem milden, seelenvollen Ernst verdiente so recht diesen Namen und bildete ein schönes Seitenstück zu ihrer Schwester! Welch liebliches Bild, wenn man sah, wie sie sich liebten, miteinander sympathisierten, sich gegenseitig als Stütze dienten, füreinander lebten und doch, gewissermaßen als Gegensatz, einander gelegentlich tadelten und sich Hindernisse in den Weg legten! Und die Krone in diesem ganzen entzückenden Register von Eigenschaften war, daß die beiden hübschen Wesen sich alles dessen so gar nicht bewußt waren! Sie hatten nicht die mindeste Ahnung davon, ebensowenig wie Mr. Pecksniff. Die Natur spielte sie gegeneinander aus: die beiden Misses Pecksniff hatten durchaus keine Hand dabei im Spiele.

Mr. Pecksniff, wie bereits erwähnt, war ein höchst moralischer Mann. Selbstverständlich! Vielleicht gab es überhaupt noch nie einen moralischern Mann als Mr. Pecksniff; namentlich aus seinen Gesprächen und Briefen ging das hervor. Einer seiner Bewunderer hatte einst von ihm gesagt, er trage einen wahren Fortunatussäckel von guten Grundsätzen in seinem Innern. In dieser Hinsicht war er fast wie das Mädchen in dem Feenmärchen, und wenn auch nicht wirkliche Diamanten von seinen Lippen fielen, so waren es doch glänzend nachgemachte von geradezu wundervollem Feuer. Er war ein höchst exemplarischer Mann und mit mehr Sittensprüchen ausgestattet als ein Schullesebuch. Einige wollten ihn mit einem Wegweiser verglichen wissen, der beständig nach einem Ort hinzeigt, aber nie selber hingeht. Doch das waren natürlich gehässige Feinde – weiter nichts als die Schatten, die sein Strahlenglanz erzeugte. Sogar seine Gurgel hatte etwas Moralisches. Man konnte einen guten Teil davon sehen, denn sie schaute über die niedere Umzäunung einer weißen Halsbinde hinweg, deren Schleife noch kein Sterblicher erblickt, da Mr. Pecksniff sie hinten zu binden pflegte, und da lag sie, ein Tal zwischen zwei Vorgebirgen von Vatermördern, friedvoll und bartlos vor dem erstaunten Auge des Beschauers. Sie schien für Mr. Pecksniff zu sagen: »Hier ist nicht Lug, nicht Trug, meine Damen und Herren; alles eitel Friede – eine heilige Ruhe durchdringt mich.« Ähnlich war es mit dem leicht ergrauten Haar, das, aus der Stirne gebürstet, bolzgerade in die Höhe stand oder sich in inniger Harmonie mit den Augenlidern leicht senkte. Dieselbe Biederkeit strahlten auch seine wohlgenährte, wenn auch nicht korpulente Figur und sein geschmeidiges, ölglattes Benehmen aus. Auch sein schlichter, schwarzer Anzug, sein Witwerstand, die baumelnde Lorgnette – kurz alles stand damit im Einklang und verkündete laut: »Seht, seht den moralischen Pecksniff!« Das Messingschild auf der Türe, das, da es Mr. Pecksniff angehörte, natürlich nicht lügen konnte, trug die Aufschrift:

PECKSNIFF, ARCHITEKT,

welchen Worten Mr. Pecksniff auf seinen Geschäftsadressen noch:

UND GÜTERBESCHAUER

hinzuzufügen pflegte. Letzteres konnte er in einem gewissen Sinne allerdings genannt werden, da er eine sehr umfassende Aussicht von den Fenstern seines Hauses aus genoß.

Von seinen Taten als Baumeister wußte man nichts Bestimmtes. Sicher war, daß er nie einen Plan entworfen oder etwas gebaut hatte; aber trotzdem hieß es allgemein, seine Kenntnisse gingen in dieser Hinsicht in geradezu schauerliche Tiefen.

Seine Berufstätigkeit beschränkte sich fast ausschließlich, wo nicht ganz, auf die Aufnahme von Zöglingen, denn das Zinseinsammeln für Haus- und Grundbesitzer, womit er sich hin und wieder zur Abwechslung beschäftigte, kann kaum ein architektonischer Akt genannt werden. Sein Genie betätigte sich darin, Eltern und Vormünder zu umgarnen und Pensionsgelder einzustecken. Kam ein junger Herr, nachdem auf ein Jahr vorausbezahlt worden, in Mr. Pecksniffs Haus, so borgte sich dieser von ihm sein Reißzeug aus, vorausgesetzt, daß es mit Silber ausgelegt oder in anderer Weise wertvoll war, ersuchte ihn, sich von diesem Augenblicke an als Mitglied der Familie zu betrachten, lobte ihn nach Umständen höchlichst bei seinen Eltern oder Vormündern und logierte ihn schließlich in einem geräumigen Zimmer im obern Stock ein, wo er in Gesellschaft einiger Zeichenbretter, Winkelmaße, steifbeiniger Zirkel und zweier oder dreier andrer junger Herren sich je nach dem Kontrakt drei oder fünf Jahre an Rissen der Salisbury-Kathedrale von jedem erdenklichen Gesichtspunkte aus vervollkommnen und im Bauen unzähliger Luftschlösser, Parlamentshäuser und anderer öffentlicher Gebäude nach Herzenslust üben konnte. An keinem Ort auf Erden wurden vielleicht je so viele prachtvolle Bauten dieser Art aufgeführt wie unter Mr. Pecksniffs Auspizien, und wenn nur der zwanzigste Teil der Kirchen, die in dieser »Schule« gebaut wurden – mit einer oder der andern Miss Pecksniff am Altare, um sich dem Architekten antrauen zu lassen – vom Parlamente für verwendbar erklärt werden könnte, so würde es mindestens für die nächsten fünf Jahrhunderte nicht mehr an Gotteshäusern fehlen.

»Selbst die irdischen Dinge, die wir soeben zu uns genommen«, sagte Mr. Pecksniff, nach Beendigung seiner Mahlzeit um sich blickend, »selbst der Rahm, der Zucker, der Tee, die Röstschnitten, der Schinken –«

»Und die Eier«, ergänzte Charitas mit leiser Stimme.

»Und die Eier. – Selbst sie haben ihre Moral. Seht, wie sie kommen und verschwinden! Jede Freude ist vergänglich. Sogar essen können wir nicht – ewig. Wenn wir in unschädlichen Flüssigkeiten zuviel des Guten tun, bekommen wir die Wassersucht, und von aufregenden Getränken werden wir betrunken. Welche Beruhigung liegt nicht in diesem Gedanken!«

»Sage nicht, Pa, wir werden betrunken«, bat die ältere Miss Pecksniff.

»Wenn ich sage wir, meine Liebe«, erwiderte der Vater, »so meine ich die Menschheit im allgemeinen – das menschliche Geschlecht als Gesamtheit und nicht in seiner Individualität. Die Moral hat nichts Persönliches, meine Liebe. Selbst so etwas«, erklärte Mr. Pecksniff und legte den Zeigefinger seiner linken Hand auf den Löschpapierstreifen an seinem Kopf, »so gering der Unfall auch gewesen sein mag, erinnert er uns doch, daß wir nichts weiter sind als« – er wollte sagen: »Würmer«, erinnerte sich aber noch rechtzeitig, daß diese Tiere sich nicht durch besondern Haarschmuck auszeichnen, und schloß deshalb mit den Worten: »Fleisch und Blut.«

»Was gleichfalls«, rief er nach einer Pause, während der er sich mit nicht sonderlichem Glücke nach neuen Moralbeispielen umgesehen zu haben schien – »was gleichfalls sehr beruhigend ist. Gratia, mein Kind, schüre das Feuer nach und schiebe die Asche zurück.«

Die junge Dame gehorchte, nahm dann ihren Schemel wieder ein und legte den einen Arm auf das Knie Mr. Pecksniffs, um ihn ihrer blühenden Wange als Unterlage dienen zu lassen. Miss Charitas rückte ihren Stuhl näher ans Feuer, wie jemand, der sich auf ein Gespräch gefaßt macht, und blickte erwartungsvoll ihren Vater an.

»Ja«, begann Mr. Pecksniff nach einer kurzen Pause, während der er stumm vor sich hingelächelt und zum Kamin hingenickt hatte – »ich bin in Erreichung meines Zieles abermals glücklich gewesen. In Bälde wird ein neuer Hausgenosse unter uns weilen.«

»Ein junger Mann, Papa?« fragte Charitas.

»J-ja, ein junger Mann«, antwortete Mr. Pecksniff. »Er will sich die schätzbare Gelegenheit zunutze machen, die sich ihm jetzt bietet, die Vorteile der besten praktischen Architekturbildungsschule mit den Annehmlichkeiten einer Heimat und dem beständigen Aufenthalt unter Leuten zu vereinigen, die (wie unbedeutend ihr Wirkungskreis und wie beschränkt ihre Fähigkeiten auch sein mögen) doch stets ihrer moralischen Verantwortlichkeit eingedenk sein werden.«

»Oh, Pa!« rief Gratia, schalkhaft ihren Finger erhebend, »siehe Annonce!«

»Du neckische – neckische Spottdrossel!« rief Mr. Pecksniff.

Wir müssen hier bemerken, daß Miss Pecksniff durchaus nicht musikalisch war und den Namen Drossel eigentlich nicht verdiente. Mr. Pecksniff pflegte nur häufig ein Wort zu gebrauchen, wenn er glaubte, daß es einen guten Klang habe und einen Satz passend abrunde, ohne sich dabei viel an dessen Bedeutung zu kehren. Und das tat er oft auf eine so kühne und originelle Weise, wenn seine Beredsamkeit einmal im Gange war, daß sogar die klügsten Leute darob in Verwirrung gerieten und den Atem anhielten.

»Ist er schön, Pa?« fragte die jüngere Tochter.

»Törichte Gracy!« tadelte die ältere Miss Pecksniff. (Gracy war nämlich ein Kosename für Gratia.) »Was zahlt er Kostgeld, Pa? Sag!«

»Ach, du lieber Himmel, Cherry!« rief Miss Gratia und hob mit dem gewinnendsten Kichern von der Welt ihre Händchen empor, »was du für ein geldsüchtiges Mädchen bist! O du garstiges, berechnendes, kluges Ding!«

Es war wahrhaft entzückend und eines idyllischen Schäferzeitalters würdig, wie die zwei Misses Pecksniff neckisch nach einander schlugen und dann mit einer Umarmung endeten.

»Er sieht gut aus«, erklärte Mr. Pecksniff langsam und deutlich; »recht gut. Übrigens erwarte ich nicht gerade direkt ein Kostgeld von ihm.« Trotz ihres so verschiedenartigen Naturells sperrten bei dieser Kunde sowohl Charitas wie Gratia ihre Augen so ungemein weit auf, und ihre Gesichter nahmen für den Moment einen so leeren Ausdruck an, daß es schien, als ob ihre Gedanken eigentlich doch in der Hauptsache einig gewesen wären.

»Wozu auch das?« fuhr Mr. Pecksniff fort, noch immer nach dem Feuer hinlächelnd. »Hoffentlich gibt es doch noch Uneigennützigkeit auf der Welt? Wir stehen nicht alle in feindlichen Reihen einander gegenüber – in der Offensive und der Defensive. Es gibt noch Menschen, die mitten hindurch wandeln und den Bedürftigen helfen, wo sie können und sich zu keiner der beiden Parteien schlagen. – Nich?«

Es lag etwas in diesem philanthropischen Erguß, was die Schwestern einigermaßen beruhigte. Sie wechselten einen Blick und wurden wieder heiter.

»Lasset uns nicht immer rechnen, Pläne machen und für die Zukunft sorgen«, sagte Mr. Pecksniff und lächelte immer holdseliger ins Feuer, »ich bin dessen müde. Wenn nur unsere Absicht gut und aufrichtig ist, so wollen wir ihr kühnlich willfahren, sollte sie uns auch Verlust bringen statt Gewinn. Was meinst du, Charitas?«

Und jetzt warf er zum erstenmal, seit er sich diesen Betrachtungen hingegeben, seinen Töchtern einen Blick zu, und als er bemerkte, daß beide lächelten, blinzelte er ihnen einen Moment so launig, aber doch mit einer Art frommen Schalkhaftigkeit zu, daß sich die jüngere sofort fröhlich auf sein Knie setzte, ihren schönen Arm um seinen Nacken schlang und ihn wohl zwanzigmal küßte. Während dieses Zärtlichkeitsergusses lachte sie auf die ausgelassenste Art, und auch die kluge Cherry nahm an ihrer Heiterkeit teil.

»Pst, pst!« ermahnte Mr. Pecksniff, schob seine Letztgeborene sanft zurück, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und nahm wieder eine ruhige Miene an. »Was das doch für Torheiten sind! Lasset uns auf der Hut sein, wenn wir ohne Grund lachen, daß wir nicht einen Grund zum Weinen finden. – Was hat sich seit gestern Neues im Hause zugetragen? John Westlock ist hoffentlich fort?«

»Nein, immer noch nicht«, versetzte Charitas.

»Und warum nicht? Seine Lehrzeit lief gestern ab. Auch weiß ich, daß sein Koffer gepackt war, denn ich sah ihn am Morgen im Flur stehen.«

»Er hat gestern im ›Drachen‹ übernachtet und mit Mr. Pinch diniert«, erklärte die junge Dame. »Sie haben den Abend zusammen verbracht, und Mr. Pinch ist erst sehr spät nach Hause gekommen.«

»Und als ich ihm diesen Morgen auf der Treppe begegnete, Pa«, fiel Gratia mit ihrer gewohnten Lebhaftigkeit ein, »o Gott, wie abscheulich er da aussah! Sein Gesicht spielte alle Farben, und seine Augen waren so trübe, als wären sie gesotten. Ich bemerkte sofort, daß er schrecklich Kopfweh haben müsse, und seine Kleider rochen – i Gitt nach« – hier schauderte die junge Dame zusammen – »nach Tabak und Punsch.«

»Nun, ich denke«, sagte Mr. Pecksniff mit seiner gewohnten Milde, obgleich mit der Miene eines Dulders, der schweres Unrecht mutig trägt, »ich denke, Mr. Pinch hätte etwas Besseres tun können, als die Gesellschaft eines Menschen zu suchen, der, wie er wohl weiß, in der letzten Zeit unseres langen Zusammenseins nichts unterlassen hat, meine Gefühle zu verletzen. Ich weiß nicht, ob es zart von Mr. Pinch gehandelt war. Ja, ich kann noch weiter gehen und sagen: ich bin nicht ganz überzeugt, ob es sich von Seite Mr. Pinchs überhaupt nur mit ganz gewöhnlicher Dankbarkeit verträgt.«

»Was läßt sich anderes von einem Mr. – Pinch erwarten?« rief Charitas verächtlich.

»Nun ja«, gab Mr. Pecksniff, die Hand gütig erhebend, zu, »man kann allerdings recht wohl sagen: was läßt sich von Mr. – Pinch erwarten; aber Mr. Pinch ist unser Nebenmensch, meine Liebe. Mr. Pinch ist ein Teil von der unendlichen Totalsumme der Menschheit, meine Teure, und wir haben ein Recht – ja, es ist sogar unsere Schuldigkeit, auch bei Mr. Pinch eine Entwicklung jener besseren Eigenschaften zu erwarten, deren Besitz uns eine bescheidene Selbstachtung einflößt. – Nein«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »behüte der Himmel, daß ich sage, von Mr. Pinch ließe sich nichts Besseres erwarten, oder daß ich sage, es lasse sich von irgendeinem Menschenkinde, wie verrucht es auch sein möge (was doch in der Tat bei Mr. Pinch nicht der Fall ist), nichts Gutes erwarten. Aber Mr. Pinch hat mich enttäuscht. Er hat mich verletzt. Aber wenn ich um dessentwillen auch ein wenig schlimmer von ihm denke, so lasse ich es doch nicht die ganze Menschheit entgelten. O nein, nein!«

»Horch!« rief Miss Charitas und hielt den Finger in die Höhe, da sich ein leises Pochen an der Haustür hören ließ. »Da kommt der Mensch! Denkt an mich, er kommt mit John Westlock zurück, um den Koffer zu holen, und will ihm ihn auf die Postkutsche schaffen helfen. Denkt an mich, ob das nicht seine Absicht ist!«

Noch während sie sprach, schien der Koffer, nach dem Geräusch zu schließen, aus dem Hause getragen zu werden; dann, nach einem kurzen Gemurmel von Frage und Antwort, hörte man ihn niedersetzen, und jemand klopfte an die Zimmertür.

»Herein!«; rief Mr. Pecksniff – nicht etwa strenge, nein, nur tugendhaft. »Herein!«

Ein linkischer, unbehilflich aussehender, sehr kurzsichtiger und trotz seiner Jugend kahlköpfiger Mensch machte von dieser Erlaubnis Gebrauch, blieb aber, als er bemerkte, daß Mr. Pecksniff ihm den Rücken zukehrte und in das Feuer blickte, mit der Türklinke in der Hand zögernd stehen. Er war nichts weniger als hübsch und trug einen schnupftabakfarbenen Rock von sehr plumpem Schnitt, der vom langen Tragen zerknittert und auf jede mögliche Weise zerdehnt und verzogen war; aber trotz seines Anzuges, seiner linkischen Art und seines krummen Buckels, der durch die lächerliche Gewohnheit, den Kopf vorwärts zu schieben, noch mehr auffiel, wäre doch niemand auf den Gedanken gekommen, den Menschen für einen Bösewicht zu halten, wenn nicht Mr. Pecksniff so etwas angedeutet hätte. Er mochte ungefähr um die Dreißig herum sein, hätte aber ebensogut sechzehn oder sechzig sein können, da er eines jener wunderlichen Geschöpfe war, die immer desto älter aussehen, je jünger sie sind.

Die Hand noch immer auf der Türklinke, ließ er wiederholt seinen Blick von Mr. Pecksniff zu Gratia, von Gratia zu Charitas und von Charitas wieder zu Mr. Pecksniff zurückschweifen; aber da die jungen Damen ebensosehr in das Feuer verliebt schienen wie ihr Vater und keins von dem Kleeblatt irgend Notiz von ihm nahm, begann er endlich:

»Oh, ich bitte um Verzeihung, Mr. Pecksniff – pardon, wenn ich lästig falle, aber –«

»Durchaus nicht, Mr. Pinch«, versetzte Mr. Pecksniff mit seinen süßesten Tönen, ohne sich jedoch umzusehen. »Bitte, Platz zu nehmen, Mr. Pinch. Haben Sie die Güte, die Tür zu schließen, Mr. Pinch.«

»Sehr wohl, Sir«, entgegnete Pinch, tat jedoch nicht, wie ihm geheißen worden, hielt die Tür vielmehr noch weiter offen und winkte ängstlich jemandem draußen zu. »Mr. Westlock, Sir, hat gehört, daß Sie wieder zu Hause sind –«

»Mr. Pinch, Mr. Pinch!« seufzte Mr. Pecksniff und rollte mit der Miene tiefster Schwermut seinen Stuhl herum, »ich hätte das nicht von Ihnen erwartet. Wirklich, ich habe das nicht um Sie verdient.«

»Nein, nein – aber möchten Sie nicht die Güte haben, Sir –« flehte Pinch angelegentlichst. »Mr. Westlock, Sir, reist ab und möchte nicht in Groll scheiden. Sie haben kürzlich mit Mr. Westlock einen Zwist gehabt. Kleine Mißhelligkeiten – – –« »Kleine Mißhelligkeiten!« rief Charitas spitz.

»Kleine Mißhelligkeiten?« echote Gratia.

»Meine Lieben!« rief Mr. Pecksniff innig pathetisch, »meine teuern Kinder!« Dann, nach einer feierlichen Pause, verbeugte er sich gelassen gegen Mr. Pinch, als wollte er sagen: »Fahren Sie fort.« Aber Mr. Pinch war so verlegen und blickte so hilflos auf die beiden Misses Pecksniff, daß die Unterhaltung wahrscheinlich ein rasches Ende genommen haben würde, wenn nicht ein hübsch aussehender junger Mann, kaum dem Jünglingsalter entwachsen, sich von der Haustüre her genähert und den Faden des Gesprächs aufgenommen hätte.

»Na, Mr. Pecksniff«, rief er mit einem Lächeln, »bitte, lassen Sie uns nicht im Bösen scheiden. Es tut mir sehr leid, daß wir Streit miteinander hatten, und namentlich tut es mir leid, Sie gekränkt zu haben. Tragen Sie mir beim Abschied keinen Groll nach, Sir.«

»Ich hege gegen keinen Menschen auf Erden Groll«, entgegnete Mr. Pecksniff milde.

»Ich sagte dir’s doch«, flüsterte Pinch; »ich wußte es doch. So ist er immer.«

»Dann werden Sie mir gewiß auch die Hand geben, Sir«, rief Westlock, trat ein paar Schritte vor und warf Mr. Pinch einen bedeutsamen Blick zu.

»Wie?« fragte Mr. Pecksniff in seinem gewinnendsten Tone.

»Dann werden Sie mir auch die Hand geben, Sir.«

»Nein, John«, lehnte Mr. Pecksniff mit wahrhaft himmlischer Ruhe ab, »ich gebe Ihnen nicht die Hand, John. Ich habe Ihnen vergeben. Ich hatte Ihnen bereits verziehen, noch ehe Sie aufhörten, mich zu schmähen und zu kränken. Ich habe Sie im Geiste umarmt, John, was mehr ist als ein Händedruck!«

»Nun, Pinch«, sagte der junge Mann und wandte sich mit Widerwillen von seinem Lehrer ab. »Nun, was habe ich dir gesagt?«

Der arme Pinch blickte unruhig auf Mr. Pecksniff, dessen Augen von Anfang an auf ihn geheftet gewesen, und schaute dann stumm und verlegen zur Decke empor.

»Und was Ihre Verzeihung anbelangt, Mr. Pecksniff«, fuhr der junge Mann fort, »so verzichte ich darauf. Ich brauche keine Vergebung von Ihnen.«

»Wirklich nicht, John?« rief Mr. Pecksniff. »Sie müssen. Sie können nichts dagegen tun. Die Kraft, zu vergeben, ist eine hohe Tugend, die weit über Ihrer Macht und Ihrem Einfluß steht, John. Ich will Ihnen verzeihen. Sie können mich einfach nicht dazu zwingen, allen Unrechts eingedenk zu sein, das Sie mir zugefügt haben, John.«

»Unrecht?« rief Westlock mit der ganzen Hitze und dem Ungestüm seiner Jugend. »Da hört sich wirklich alles auf! Unrecht! Ich soll ihm Unrecht angetan haben! Der fünfhundert Pfund will er wahrscheinlich nicht ›eingedenk‹ sein, die er mir unter falschen Vorspiegelungen herausgelockt hat, oder der siebzig Pfund jährlich für eine Kost und eine Wohnung, die für siebzehn zu teuer gewesen wären! Da schau einer diesen Märtyrer!«

»Geld, John«, deklamierte Mr. Pecksniff, »ist die Wurzel allen Übels. Ich bedaure, sehen zu müssen, daß es bereits an Ihnen seine üblen Früchte trägt. Doch ich will nicht daran denken und sogar das Betragen dieses irregeleiteten Menschen vergessen – –«, (dabei lag etwas in seiner Stimme, wenn er auch wie ein Mann sprach, der im Frieden mit der ganzen Welt lebt, das deutlich verriet: »Ich habe jetzt ein Auge auf diesen Schuft«) – »dieses irregeleiteten Menschen, der Sie diesen Abend wieder hierher gebracht hat und der – zum Glück darf ich sagen – vergeblich bemüht ist, die Herzensruhe und den Seelenfrieden eines Mannes zu stören, der sein Herzblut seinetwegen vergossen haben würde.«

Mr. Pecksniffs Stimme bebte bei diesen Worten, und seine Töchter brachen in Schluchzen aus. Außerdem schwammen noch andere Töne in der Luft, wie wenn zwei Geisterstimmen ausgerufen hätten – die eine: Bestie! die andere: Unmensch!

»Vergebung«, begann Mr. Pecksniff wiederum, »reine und aufrichtige Vergebung ist nicht unverträglich mit einem verwundeten Herzen, und vielleicht wird sie eben deshalb nur zu einer desto größeren Tugend. Obgleich meine Brust wund und bis ins Innerste verletzt ist durch die Undankbarkeit dieses Menschen, so sage ich doch mit Stolz und Freude, daß ich vergebe. Nein, ich bitte«, rief er, seine Stimme erhebend, als Pinch augenscheinlich sprechen wollte, »ich bitte dieses Individuum, keine Gegenbemerkungen zu machen. Der Betreffende wird mich wahrhaft verbinden, wenn er jetzt kein Wort mehr spricht, da ich nicht weiß, ob ich der Versuchung gewachsen bin. In ganz kurzer Zeit werde ich wieder Seelenstärke genug besitzen, um mit ihm reden zu können, als ob diese Vorfälle sich nie zugetragen hätten. Nur jetzt nicht«, – Mr. Pecksniff wendete sich wieder zum Feuer und winkte mit der Hand zur Türe, »nur jetzt nicht!«

»Bah!« rief John Westlock mit der ganzen Summe von Verachtung, die sich durch dieses einsilbige Wort ausdrücken läßt. »Guten Abend, meine Damen. Komm, Pinch, die Sache ist nicht wert, daß man daran denkt. Ich habe eben recht behalten und du unrecht. Es ist nur eine Kleinigkeit, aber ein andermal wirst du hoffentlich klüger sein.«

Mit diesen Worten klopfte er seinem betrübten Kameraden auf die Schulter, drehte sich auf dem Absatz um und ging in den Flur hinaus, wohin ihm der arme Pinch, nachdem er noch einige Sekunden unschlüssig und mit der Miene tiefsten geistigen Elends dagestanden, nachfolgte. Dann hoben sie zusammen den Koffer auf und machten sich auf den Weg zur Postkutsche.

Dies flüchtige Gefährt passierte allabendlich die Ecke einer unweit gelegenen Gasse, und dorthin lenkten sie ihre Schritte. Einige Minuten schritten sie schweigend dahin, bis endlich der junge Westlock in lautes Gelächter ausbrach. Aber immer noch blieb sein Kamerad stumm.

»Ich will dir was sagen, Pinch«, begann John nach einer längeren Pause – »du hast nicht halb genug vom Teufel im Leib. Was sage ich, halb genug? Nein, gar nichts.«

»Nun«, seufzte Pinch, »ich weiß wahrhaftig nicht – aber das ist doch eher ein Kompliment. Wenn ich nichts vom Teufel in mir habe, desto besser. Nicht?«

»Desto besser?« wiederholte Westlock hitzig. »Um so schlimmer, willst du wohl sagen.«

»Und doch«, fuhr Pinch, wie geistesabwesend und ohne auf den Einwurf seines Freundes zu achten, fort, »muß ich ziemlich viel vom Teufel in mir haben, denn wie hätte ich sonst Mr. Pecksniff so aufbringen können? Ich hätte ihm diesen Kummer – – – um alle Schätze der Welt – ich bitte dich, lache nicht, John. – Du weißt, wie betrübt er war!«

»Er betrübt?«

»Hast du denn nicht bemerkt, daß ihm fast die Tränen in die Augen traten?!« rief Pinch. »Gott, Gott, John, ist es vielleicht eine Kleinigkeit, einen Mann so bewegt zu sehen und zu wissen, daß man schuld daran ist?! Und hast du ihn nicht sagen hören, daß er sein Herzblut für mich vergossen hätte?«

»Ach was, Herzblut!« rief Westlock gereizt. »Er sollte dir lieber geben, was du nötiger brauchst! Beschäftigung, Unterricht, Taschengeld! Er gibt dir doch nicht einmal die entsprechende Portion Schöpsenbraten zu deinen Kartoffeln und Gemüsen!«

»Ich fürchte«, seufzte Pinch, »ich bin ein starker Esser. Ich kann es mir selbst nicht verhehlen, daß ich einen gewaltigen Appetit habe. Du weißt es doch auch, John.«

»Du ein starker Esser?« fuhr John entrüstet auf. »Woher, bitt ich dich, kannst denn du das überhaupt wissen?«

Die Frage schien etwas schwer zu beantworten, weshalb Mr. Pinch nur mit leiser Stimme wiederholte, er habe hinsichtlich dieses Punktes immerhin seine Bedenken und fürchte, daß er ein starker Esser sein müsse.

»Sei dem übrigens, wie ihm wolle«, fügte er hinzu, »das kommt wenig oder gar nicht in Betracht, wenn er mich nur nicht für undankbar hält, John. Es gibt kaum eine Sünde auf der Welt, die in meinen Augen so himmelschreiend ist wie Undank, und wenn er mir das zur Last legt und mich schuldig glaubt, so macht er mich elend und unglücklich.«

»Meinst du, er weiß das nicht recht gut?« rief Westlock verächtlich. »Aber komm, Pinch, ehe ich noch ein Wort darüber verliere, wollen wir einmal die Gründe betrachten, warum du ihm überhaupt zu Dank verpflichtet sein sollst. Aber warte, zuvor die Hände gewechselt, der Koffer ist zu schwer. So wird’s gehen. Also, fang an!«

»Erstlich«, begann Pinch, »nahm er mich, für viel weniger, als er anfangs forderte, als Zögling auf.«

»Gut«, versetzte John, ohne sich durch diesen Beleg von Großmut erschüttern zu lassen. »Und zweitens?«

»Zweitens?!« wiederholte Pinch in einer Art Verzweiflung; »zweitens – – das begreift überhaupt alles in sich! Meine arme, alte Großmutter starb glücklich in dem Gedanken, mich bei einem so trefflichen Manne untergebracht zu haben. Ich bin in seinem Hause aufgewachsen, genieße sein Vertrauen, bin sein Gehilfe und beziehe von ihm Gehalt. Geht’s mit seinem Geschäft besser, so bessern sich auch meine Aussichten. Alles dies und noch viel mehr gehört zu Nummer zwei. Und als Vorrede und Prolog zu ›erstens‹, John, mußt du einen Umstand berücksichtigen, den niemand besser kennt als ich – daß ich nämlich zu viel einfacheren und geringeren Dingen geboren bin und weder eine gute Hand noch Talent für sein Geschäft oder überhaupt für etwas anderes habe als für allerhand Kleinigkeiten, die niemandem etwas nützen.«

Pinch sagte das mit so viel Ernst und in so innigem Tone, daß sein Kamerad wider Willen einen Augenblick wie umgestimmt war. Sie hatten inzwischen den Eckstein am Ende der Gasse erreicht und setzten sich auf den Koffer.

»Ich glaube, Tom Pinch, du bist einer der besten Kerle, die es auf der Welt gibt«, begann Westlock nach einer Weile.

»Ach, ganz und gar nicht. Wenn du nur Pecksniff so gut kennen würdest wie ich, so könntest du das von ihm sagen und hättest dann wirklich recht.« »Gut, so soll er also meinetwegen alles sein, was du willst«, erklärte John. »Ich werde kein Wort mehr gegen ihn sagen.«

»Ich fürchte, du tust es um meinet- und nicht um seinetwillen«, seufzte Pinch und schüttelte ernst den Kopf.

»Sei es, wessentwegen es will, wenn es dich nur beruhigt, Tom. Oh, er ist ein famoser Mensch. Er hat natürlich nie den sauern Erwerb deiner armen Großmutter in die Tasche gesteckt – sie war Haushälterin, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Pinch, streichelte seine großen Knie und nickte: »Haushälterin bei einem Gentleman.«

»Pecksniff hat natürlich nie ihren sauer verdienten Sparpfennig eingeheimst und ihr Aussichten von deinem Glück und deinem Fortkommen vorgespiegelt, das sich, wie niemand besser wußte als er, nie verwirklichen konnte?! Er hat nie ihren Stolz auf dich und ihren Wunsch, daß du mindestens zu einem Gentleman herangebildet werden solltest, zu Gegenständen der Spekulation und des Wuchers gemacht?! Natürlich nicht! Was, Tom?!«

»Nein, gewiß nicht«, versicherte Tom und sah seinem Freunde ins Gesicht, als verstehe er ihn nicht recht.

»Ich sage doch auch«, entgegnete Westlock, »freilich, er hat es nie getan. Er hat nicht weniger genommen, als er anfänglich forderte, weil dieses Wenige ihre ganze Habe und mehr war, als er erwartet hatte; er nicht, Tom, Gott bewahre! Er hat dich zu seinem Gehilfen gemacht, weil du ihm in jeder Beziehung von Nutzen bist, weil dein wunderbarer Glaube an seine angeblichen Verdienste ihm, wenn es darauf ankommt, unschätzbare Dienste leistet, weil ein Abglanz deiner Ehrlichkeit auch auf ihn fällt, weil dein Lerneifer in deinen freien Stunden, wo du alte Bücher liest und fremde Sprachen studierst, sogar bis Salisbury bekannt ist und deshalb ihn, den Lehrer zu einem unterrichteten und ungemein bedeutenden Mann stempelt! Dir hat er nichts von seinem Renommee zu danken, Tom, nein, gewiß nicht.«

»Natürlich nicht«, sagte Pinch und sah seinen Freund noch unruhiger an als zuvor. »Pecksniff mir sein Renommee danken! So etwas!«

»Sage ich denn nicht auch, daß es lächerlich wäre, an so etwas auch nur zu denken?« spottete John.

»Freilich, es wäre der pure Wahnsinn«

»Wahnsinn!« brummte der junge Westlock. »Allerdings, Wahnsinn. Wer anders als ein Wahnsinniger könnte annehmen, Pecksniff läge irgend etwas daran, wenn man sich erzählte, der junge Mann, der sonntags unentgeltlich die Orgel spielt und sich an späten Sommerabenden emsig darin übt, sei sein Schüler – was, Tom? Wer sonst als ein Wahnsinniger könnte glauben, ein Mann wie er schlüge Kapital daraus, seinen Namen in jedermanns Mund zu wissen – eben wegen der tausend ›nutzlosen Kleinigkeiten‹, die du verrichtest, und die er natürlich dich gelehrt hat? Wer anders als ein Tollhäusler könnte glauben, du machest ihm hier in der ganzen Umgebung besser und billiger Reklame als ein öffentlicher Anschlag! – Nicht wahr, Tom? Ebensogut könnte jemand annehmen, er schütte nicht bei jeder Gelegenheit sein ganzes Herz und seine ganze Seele vor dir aus und zahle dir nicht ein geradezu übermäßiges Jahresgehalt – oder, um mich womöglich noch phantastischer auszudrücken – ebensogut könnte jemand glauben: daß Pecksniff dich schlau ausnützt – dich, der du so schüchtern und mißtrauisch gegen dich selbst und so vertrauensvoll gegen alle andern Menschen, am meisten aber gegen ihn, bist, der es am wenigsten verdient. Das wäre natürlich hirnverbrannte Tollheit, Tom!«

Mr. Pinch hatte alles das mit einer Verlegenheit angehört, die zum Teil durch den Inhalt der Rede seines Kameraden, zum Teil durch die heftige Art und den ungestümen Ton, mit dem dieser gesprochen, veranlaßt zu sein schien. Dann atmete er tief auf, blickte Westlock gespannt an, als wünsche er aus dessen Mienen den Sinn der eben gefallenen Worte zu lesen. Er wollte gerade antworten, da ertönte das Posthorn lustig aus der Dunkelheit und machte der Unterhaltung plötzlich ein Ende. – Wie es schien, zur großen Freude Johns, der rasch aufsprang und seinem Freunde die Hand reichte.

»Beide Hände, Tom! Von London aus schreibe ich dir, verlaß dich drauf!«

»Bitte, ja«, bat Pinch. »Ja. Sei so gut. Also, leb wohl und: Gott mit dir! Ich kann es kaum glauben, daß du wirklich gehst. Es ist mir, als seiest du erst gestern angekommen. Also, leb wohl, lieber alter Freund!«

John Westlock verabschiedete sich mit nicht weniger Herzlichkeit und sprang auf das Wagenverdeck hinauf. Und fort rollte die Kutsche im Trab die dunkle Straße hinab; die Lampen flimmerten hell, und das Horn weckte weit und breit das schlummernde Echo.

»So zieh denn deines Weges«, apostrophierte Pinch die Kutsche. »Du kommst mir wirklich vor wie ein lebendes Wesen – wie irgendein großes Ungeheuer, das von Zeit zu Zeit diesen Ort heimsucht, um meine Freunde hinaus in die Welt zu entführen. Du scheinst heute abend ja ungewöhnlich aufgeräumt und guter Dinge zu sein. Hast recht, du kannst jubeln über deine Beute. Er ist ein hübscher, talentvoller Junge und hat nur den einzigen Fehler – er meint’s zwar nicht so, wie er es sagt – aber er ist grausam ungerecht gegen Pecksniff.«

12. Kapitel


12. Kapitel

Geht, wenn auch nicht gleich, so doch später Mr. Pinch und andere sehr nahe an. Mr. Pecksniff spielt die Rolle des gekränkten Tugendboldes, und der junge Martin Chuzzlewit faßt einen verzweifelten Entschluß

Mr. Pinch und Martin hatten es sich inzwischen, den Sturm nicht im entferntesten ahnend, der ihnen bevorstand, in Mr. Pecksniffs Hallen so bequem wie möglich gemacht und wurden mit jedem Tage innigere Freunde. Martins Erfindungsgabe und die Leichtigkeit, mit der er eine Aufgabe zu bewältigen wußte, waren so bemerkenswert, daß die Elementarschule rasche Fortschritte machte und Tom wiederholt erklärte, wenn es überhaupt in irdischen Dingen eine Gewißheit oder bei menschlichen Beurteilern Unparteilichkeit gäbe, so könne einem so neuen und wertvollen Entwurf der erste Preis, falls es zu einem Wettbewerb käme, unmöglich entgehen. Martin seinerseits dachte zwar nicht ganz so sanguinisch, trug sich aber doch auch mit genügend hoffnungsvollen Erwartungen, um in seinem Eifer nicht zu erlahmen.

»Wenn einmal ein berühmter Architekt aus mir werden sollte, Tom«, sagte er eines Tages und hielt dabei mit Wohlgefallen seine Zeichnung auf Armeslänge vor sich hin, »so will ich Ihnen sagen, woran ich zuerst bauen würde.«

»Nun, und das wäre?« fragte Tom.

»An nichts anderm als an Ihrem Glück.«

»Was, Sie wollten das wirklich?« rief Tom Pinch so entzückt, als ob alles schon fix und fertig vor ihm stünde. »Wie unendlich freundlich von Ihnen.«

»Ja, Tom, das wollte ich«, bekräftigte Martin. »Und es müßte mir auf einem so starken Unterbau ruhen, daß es Ihr ganzes Leben überdauern sollte – und sogar Ihre Kinder und Kindeskinder sich noch daran erfreuen müßten. Ich würde Ihr Protektor sein, Tom, und den Mann möchte ich sehen, der meinem Schützling ein Haar zu krümmen wagen würde, wenn ich einmal Oberwasser hätte, Tom!«

»Auf mein Wort«, rief Mr. Pinch, »ich glaube nicht, daß ich mich jemals im Leben über etwas so gefreut habe wie über das, was Sie da sagen.«

»Und wenn ich etwas sage, so ist es mir auch ernst«, versicherte Martin mit einer so gönnerhaften, nachlässigen, ja fast an Mitleid grenzenden Herablassung, als ob er bereits erster Hofbaumeister in England wäre. »Ich würde es tun – ich würde Sie versorgen.«

»Ich fürchte«, meinte Tom kopfschüttelnd, »daß ich Ihnen bei meiner Ungeschicklichkeit keine große Ehre machen dürfte.«

»Pah, lächerlich!« erwiderte Martin. »Seien Sie deswegen außer Sorge. Wenn ich mir’s einmal in den Kopf setze zu behaupten: ›Pinch ist ein gescheiter Kerl, ich stehe für ihn ein‹, so möchte ich gern den sehen, der es wagen wollte, mir zu widersprechen. Außerdem, Tom – hol’s der Teufel –, Sie könnten mir wirklich auf hunderterlei Weise nützlich werden.«

»Wenn ich mich nicht in einem oder dem andern Punkte nützlich erwiese, so geschähe es gewiß nicht aus Mangel an gutem Willen«, versicherte Tom.

»Sie wären zum Beispiel so ganz der Mann danach«, fuhr Martin fort, »darüber zu wachen, daß meine Ideen auch gehörig durchgeführt würden – die Arbeiten zu beaufsichtigen, bis sie weit genug fortgeschritten wären, um auch für mich interessant zu sein – kurz, die Vorbereitungen zu leiten. Und dann wären Sie auch ausgezeichnet dafür, die Leute, während ich in meinen Studien begriffen bin, herumzuführen und mit ihnen von der Kunst zu sprechen und so weiter, was mich alles fürchterlich langweilen würde. Es müßte ganz verteufelt mein Renommee heben, Tom – ich gebe Ihnen mein Wort, daß es mein voller Ernst ist –, einen Mann von ihrer Bildung und nicht einen gewöhnlichen Hohlkopf um mich zu haben. Oh, ich wollte Sie schon auf den richtigen Posten stellen. Verlassen Sie sich darauf, Sie würden mir schon von Nutzen sein.«

Natürlich fiel es Tom bei seiner Bescheidenheit nicht im entferntesten ein, jemals eine erste Violine spielen zu wollen, und um so mehr entzückten ihn daher die Luftschlösser seines Freundes.

»Natürlich wäre ich dann mit ihr verheiratet, Tom«, fuhr Martin fort.

Was war es, das jetzt auf einmal Tom Pinchs Freude so plötzlich dämpfte und ihm das Blut in seine ehrlichen Wangen trieb, als durchzuckte etwas wie das Gefühl, er sei solcher freundlichen Gesinnungen unwürdig, sein Herz?

»Ich würde dann mit ihr verheiratet sein«, wiederholte Martin und lächelte, »und hoffentlich auch Kinder haben. – Und sie hätten Sie alle lieb, Tom.«

Mr. Pinch brachte keine Silbe heraus. Die Worte erstarben ihm auf den Lippen und erkämpften sich in seinem Innern ein geistigeres Leben zu reinen selbstlosen Gedanken.

»Alle Kinder hier herum haben Sie gern, Tom, und die meinigen würden Sie natürlich erst recht lieben. Vielleicht würde ich eines davon nach Ihnen nennen. Tom, was meinen Sie? Tom ist kein übler Name. Thomas Pinch Chuzzlewit. T.P.C. auf seinem Lätzchen würde sich ganz nett machen, sollt ich meinen.«

Tom räusperte sich und lächelte.

»Ich weiß, auch ihr würden Sie gut gefallen, Tom«, fuhr Martin fort. »Ach!« rief Tom mit erstickter Stimme.

»Ich weiß aufs Haar genau, was sie von Ihnen denken wird.« – Martin stützte das Kinn auf die Hand und blickte unverwandt auf die Fensterscheibe, als lese er dort seine Worte ab. »Denn ich kenne sie von Grund aus. Sie würde anfangs lächeln, wenn Sie mit ihr sprächen oder sie Sie ansähe – und noch obendrein recht lustig lächeln. Sie würden es doch nicht übelnehmen? Sie haben noch nie ein sonnigeres Lächeln als das ihrige gesehen; ich versichere Ihnen.«

»Nein, nein«, beteuerte Tom, »ich würde es gewiß nicht übelnehmen.«

»Und sie würde Sie so zart behandeln, Tom, wie ein Kind. – Das sind Sie übrigens beinahe in manchen Dingen – oder nicht, Tom?«

Mr. Pinch nickte verständnisinnig.

»Sie würde immer heiter und gut gelaunt sein, wenn Sie kämen«, fuhr Martin fort; »sie fände sehr bald heraus, was Sie für ein Mensch sind, und würde dann tun, als hätte sie Ihnen kleine Aufträge zu geben, oder Sie um kleine Dienste bitten, deren Erfüllung Sie, wie sie wüßte, mit Freuden übernehmen würden. Kurz, sie hätte Sie wirklich von Herzen gern, Tom, und verstünde Sie auch weit besser, als dies je bei mir der Fall sein könnte. Wie oft würde sie nicht sagen, was für ein harmloser, sanfter, gefälliger, guter Mensch Sie sind.«

Stumm hörte Pinch zu.

»Und um alter Zeiten willen und weil sie dann wüßte, daß Sie es waren, der in der kleinen, dumpfen Kirche drunten einst die Orgel spielte – noch obendrein umsonst –, so würden wir eine solche in unser Haus schaffen. Ich werde nach eigenen Plänen einen Musiksaal bauen, und das Instrument wird sich in einer Nische in dem einen Ende famos ausnehmen. Da können Sie dann drauflosspielen, Tom, bis Sie es satt haben, und da Sie dabei Dunkelheit so gern haben, können wir auch dunkel machen. Mary und ich, wir werden so manchen Sommerabend dort sitzen und Ihnen zuhören, Tom; verlassen Sie sich darauf!«

Es kostete vielleicht Tom Pinch eine größere Anstrengung, mit heiterer und dankbarer Miene von seinem Sitze aufzustehen und seinem Freunde beide Hände zu schütteln – forderte vielleicht eine weit größere Selbstverleugnung als so manche Großtat, die schon Famas zweideutige Trompete gewaltig ausposaunt hat. Ich sage »zweideutig«, denn da sie gar so gern über Gewaltakte weint, haben der Rauch und die Ausdünstung des Todes das brave Instrument arg verstimmt, und seine Töne sind nicht immer rein und echt.

»Es ist doch ein Beweis, wieviel gute Menschen es auf der Welt gibt«, sagte Tom und ließ charakteristischerweise seine eigenen Gefühle wieder ganz außer acht, »daß jeder, der hierherkommt, wie zum Beispiel Sie, weit rücksichtsvoller und freundlicher gegen mich ist, als ich zu hoffen ein Recht hätte, selbst wenn ich das sanguinischste Geschöpf unter der Sonne wäre, oder als ich mit der größten Beredsamkeit auszudrücken vermochte. – Wahrhaftig, es überwältigt mich förmlich. Aber seien Sie dessen versichert«, setzte er hinzu, »daß ich nicht undankbar bin – daß ich es nie vergessen werde und Ihnen die Aufrichtigkeit meiner Worte zu beweisen gedenke, sobald ich nur irgend dazu in der Lage bin.«

»Schon recht«, bemerkte Martin, lehnte sich, die Hände in den Taschen, in seinem Stuhl zurück und gähnte laut hinaus. »Wir halten da wunderschöne Reden, Tom, aber vorläufig bin ich noch bei Pecksniff und daher momentan noch eine gute Meile oder so von der Hochstraße zum Glücke entfernt. – Sie sagten übrigens, Sie hätten diesen Morgen wieder von – na, wie heißt er doch – gehört?«

»Wen meinen Sie?« fragte Tom, besorgt, sein Freund werde über einen Abwesenden etwas Nachteiliges sagen wollen.

»Aber, Sie wissen doch – wie war doch nur der Name – Nordhaar?«

»Westlock«, verbesserte Tom etwas lauter als gewöhnlich.

»Richtig – Westlock. Ich wußte ja, es war etwas mit Haar und einer Himmelsrichtung. – Nun, und was hören Sie von Westlock?«

»Oh, er ist jetzt glücklich im Besitz seines Vermögens«, rief Tom und nickte lächelnd.

»Was das für ein glücklicher Bursche ist!« seufzte Martin. »Ich wollte, ich wäre an seiner Stelle. Aber ist das das ganze Geheimnis, das Sie mir mitteilen wollten?«

»Nein«, entgegnete Tom; »nicht das ganze.«

»Also was sonst noch?« fragte Martin.

»Nun, ein Geheimnis ist’s gerade nicht. Und für Sie hat es auch kein besonderes Interesse, obgleich ich selbst sehr erfreut darüber bin. Als John noch hier war, pflegte er immer zu sagen: ›Denk an mich, Pinch, wenn einmal meines Vaters Testamentsexekutoren mit dem Schotter herausrücken‹ – er bediente sich hin und wieder recht sonderbarer Ausdrücke, aber das war so seine Art.«

»Mit dem Schotter herausrücken ist ein sehr gutes Wort«, meinte Martin, »besonders wenn’s von Seiten anderer Leute geschieht und die eigene Person betrifft. – Und was weiter? – Sie sind ein gewaltig langsamer Erzähler, Pinch!«

»Ich weiß es. – Leider«, gab Tom zu; »aber Sie haben mich ganz aus dem Konzept gebracht. – Was wollte ich doch nur sagen!?«

»Wenn die Testamentsexekutoren von Johns Vater mit dem Schotter herausrücken –« rief Martin ungeduldig.

»Ach, ja richtig. ›Also, dann – sagte John – werde ich dir ein Dinner geben, Finch, und extra deshalb nach Salisbury herunterkommen.‹ Als nun John neulich schrieb – Sie wissen, es war am Morgen vor Pecksniffs Abfahrt –, teilte er mir mit, seine Angelegenheiten seien jetzt so weit geordnet, und da er sein Geld in Bälde erhalten werde, frage er bei mir an, wann ich mit ihm in Salisbury zusammentreffen könne. Ich antwortete ihm, daß mir jeder Tag in dieser Woche gut passe, und teilte ihm auch außerdem mit, daß ein neuer Schüler hier sei – namentlich auch, was Sie für ein hübscher Mensch seien und daß ein herzliches Einvernehmen zwischen uns bestehe. Darauf schrieb mir John diesen Brief« – Tom zog ein Kuvert hervor – »und bestimmte den morgigen Tag für die Zusammenkunft. – Er läßt Sie übrigens grüßen und sähe es gern, wenn wir drei mitsammen speisten, nicht in dem Hause, wo wir sonst abzusteigen pflegen, sondern im allerersten Gasthof der Stadt. – Lesen Sie selbst, was er sagt.«

»Sehr gut«, versetzte Martin, den Brief mit seiner gewohnten Kälte überfliegend. »Sehr verbunden. Freut mich.«

Tom hätte gewünscht, seinen Freund ob des großen Ereignisses ein bißchen mehr erstaunt oder erfreut oder überhaupt ein wenig interessierter dafür zu sehen, aber Martin blieb vollkommen gelassen und verfiel wieder in seine Lieblingsunterhaltung, das Pfeifen. Dann machte er sich an seine Elementarschule, als ob nicht das mindeste Bemerkenswerte vorgefallen wäre.

Da Mr. Pecksniffs Pferd gewissermaßen als geheiligtes Tier angesehen wurde, das nur von dem Hohenpriester dieser heiligen Hallen selbst oder von irgend jemand benützt werden durfte, der ausdrücklich zum Stellvertreter von Fall zu Fall geweiht worden, so kamen die beiden jungen Leute überein, zu Fuß nach Salisbury zu gehen. Als daher die Zeit herankam, machten sie sich auf die Beine, und das war im Grunde auch eine bessere Reisemethode, als wenn sie das Gig benützt hätten, da kaltes, aber trockenes Wetter herrschte.

Besser? Ein tüchtiger, gesunder Spaziergang – vier gute Meilen in der Stunde – ist natürlich besser als das Humpeln und Rumpeln, Schütteln und Rütteln, Stoßen und Knarren in einem schäbigen alten Gig! Zwischen diesen beiden Methoden ist doch kaum ein Vergleich möglich! Es wäre rein eine Herabsetzung einer Fußwanderung, wollte man beide auch nur in einem Atem nennen. Wann hat je eine Fahrt in einem solchen Gig das Blut eines Menschen anders in Wallung gebracht als dadurch, daß sie ihn fürchten machte, den Hals zu brechen, und ihm eine fieberige Hitze in den Adern, in den Ohren und längs des ganzen Rückenmarks erzeugte, die zwar eigentümlich, aber keineswegs angenehm zu nennen ist? Wann hat je ein Gig geistige Fähigkeiten geschärft, außer wenn vielleicht der Gaul durchging und wie toll einen steilen Hügel hinunter gegen eine Steinmauer raste und dadurch die Insassen des Wagens nötigte, auf völlig neue und unerhörte Weise das Gefährt rückwärts zu verlassen? Nein, nein, viel besser ein Marsch als das Gig!

Die Luft war kalt, das ließ sich nicht in Abrede stellen, aber wäre es in dem Gig wohl behaglicher gewesen? Die Esse des Hufschmieds loderte hell auf und sprühte nur so, als sehnte sie sich danach, Menschenleiber zu wärmen; aber wäre der Anblick von den klebrigen Polstern eines Gig aus anheimelnder gewesen? Der Wind blies scharf – er schnitt dem wackern Wanderer, der sich seinen Weg weiterkämpfte, ins Gesicht, blendete ihn mit den eigenen Haarlocken – vorausgesetzt, daß diese nicht zu spärlich gesät waren –, und andernfalls mit dem winterlichen Staub, verschlug ihm den Atem wie ein Eisbad, riß ihm die Rockschöße zurück und drang ihm bis ins Mark der Knochen, – aber wäre dies nicht hundertmal schlimmer in einem Gig gewesen? – Also hole der Henker die Gigs!

Besser ein Marsch als ein Gig? Hat man je zwei Reisende – zu Wagen oder zu Pferd – mit so heißroten Wangen, mit so heitern, fröhlichen Gesichtern gesehen? Schallte jemals ein Lachen so fröhlich wie das der beiden jungen Männer, die sich jetzt unter den stärker heranfegenden Windstößen umdrehten, wieder in die scharfe Luft hineinsteuerten, lustig vorwärtstrabend mit der Röte der Gesundheit auf den Wangen, als könnte nichts gleichen Schritt mit ihnen halten, der Frohsinn ausgenommen, der sie anspornte? Ja, besser ein Marsch als ein Gig! Kommt da nicht soeben ein Mann des Wegs, der in einem solchen Vehikel sitzt? Man sehe ihn nur an, wie er vorbeifährt, die Peitsche in der linken Hand, die tauben Finger der rechten auf seinem erstarrten Beine reibend und mit den zu Stein gewordenen Zehen gegen das Fußbrett trommelnd. Ha, ha, ha! Wer möchte das rasche Pulsieren des Blutes gegen jenes erfrorene Elend vertauschen, wenn es auch zwanzig Meilen in der Stunde zurücklegt? Besser ein Marsch als ein Gig! Niemand in einem Gig hätte ein solches Interesse an den Meilensteinen nehmen können. Kein Mann in einem Gig wäre imstande gewesen, zu sehen, zu fühlen oder zu denken wie unsere lustigen Wanderer. Wie der Wind über diese duftigen Niederungen dahinstrich, konnte man seinen Weg verfolgen in dem dunkleren Gekreisel des Grases und in den tiefern Schatten an den Berglehnen! Ringsum auf der kahlen eisigen Ebene lag die Winternatur in ihrer ganzen frostigen Schönheit. Auch die lieblichsten Dinge im Leben sind nichts als Schatten, sie kommen und gehen, wechseln und schwinden dahin, so schnell wie diese!

Wieder eine Meile, und dann begann es zu schneien, und alles lag so weiß da, daß sich die Krähe, die dicht über den Boden dahinstrich, um den Windstößen auszuweichen, wie ein Tintenklecks in der Landschaft ausnahm. Und wie sehr es auch gegen die beiden jungen Leute anwehte und blies, ihre Rockschöße aufblähte und ihnen die Flocken in die Lider jagte, so hätten sie doch keinen Augenblick gewünscht, das Schneetreiben möge nachlassen, selbst wenn noch zwanzig Meilen Weges vor ihnen gelegen wären. Und siehe da! Die Türme der alten Kathedrale tauchen vor ihnen auf! Allmählich kommen sie in die umzäunten Straßen, die so feierlich stumm daliegen mit ihrem weißen Teppich. Endlich erscheint der Gasthof, in den sie bestellt sind, und sie zeigen dem erfrorenen Kellner so brennrot glühende Gesichter und sind so voll Lebendigkeit, daß der Mann ihre Anwesenheit fast wie eine Beleidigung auffaßt – ist er doch selbst von dem ewigen Hocken im überhitzten Kaffeezimmer blaß und blutleer – und ganz bestürzt dreinsieht.

Ein Prachtgasthof das! Die Halle ist eine wahre Waldlichtung voll totem Wildbret und an Schnüren herabhängenden Hammelkeulen. In der Ecke steht ein prächtiger Speiseschrank mit Glastüren und birgt kaltes Geflügel, edle Schinken und Torten, in denen sich der Himbeerschaum hinter gebackenem Gitterwerk so scheu zurückzieht, wie es sich für ein so köstliches Wesen geziemt. Aber im ersten Stock, am Hofende des Hauses in einem Zimmer, wo alle Vorhänge herabgelassen sind, da füllt loderndes Holzfeuer den halben Kamin an und strahlt seine Wärme auf die angelehnten Teller. Wachskerzen brennen allenthalben, eine Tafel ist für drei Personen mit Silber gedeckt, und Gläser blitzen darauf, mindestens für dreißig. Vor allem aber war da John Westlock – nicht der alte John, der er bei Pecksniff gewesen, sondern ein vornehmer Gentleman, sich wohl bewußt, daß er jetzt sein eigener Herr ist und Geld auf der Bank liegen hat; aber dann doch wieder in gewisser Hinsicht der alte John, denn kaum trat Tom Pinch ein, da streckte er ihm sogleich beide Hände entgegen und hieß ihn mit einer warmen Umarmung herzlich willkommen.

»Und dies«, sagte John, »ist also Mr. Chuzzlewit? Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«

John hatte von jeher ein eigentümlich freimütiges Wesen an sich; sie schüttelten einander die Hände, und die Freundschaft war im Nu geschlossen.

»Warte mal, Tom«, wendete sich John wieder an Tom und faßte ihn mit beiden Händen an der Schulter und drängte ihn auf Armeslänge zurück. »Laß dich mal ansehen. Wahrhaftig ganz und gar der alte, und nicht ein bißchen verändert.«

»Nun ja, kein Wunder. Es ist ja auch noch nicht so lange her«, meinte Tom Pinch.

»Mir kommt’s wie ein Menschenalter vor«, rief John, »und so sollte es von Rechts wegen dir auch gehen, du Schlingel.« Damit drückte er Tom in den bequemsten Stuhl, klopfte ihm herzlich auf den Rücken und war ganz wieder der alte fröhliche Bursche wie früher in Mr. Pecksniffs Schlafkammer, so daß Tom Pinch nicht wußte, ob er lachen oder weinen solle. Schließlich lachte er jedoch, und die beiden andern stimmten herzlich mit ein.

»Ich habe alle die Speisen und Getränke zum Dinner bestellt, von denen wir uns damals immer ausgemalt haben, daß sie ganz besonders fein sein müßten«, bemerkte Westlock.

»Wirklich?« rief Tom Pinch.

»Alles! Aber ich bitte dich, lache nicht vor dem Kellner, wenn du’s vermeiden kannst; mir scheint, ich habe auch gegrinst, als ich sie bestellte. – Es ist rein wie ein Traum.«

In diesem Punkte hatte John nun doch unrecht, denn wem wäre auch nur im Traum eine solche Suppe eingefallen, wie sie unmittelbar nachher auf den Tisch gesetzt wurde. Und dann erst die Fische, die Zwischengerichte, die Masse Geflügel und Süßigkeiten – kurz, alles was ein Kuvert zu zehn Schillingen sechs Pence, den Wein nicht miteingerechnet, nur zu bieten vermochte. Und der famose Champagner mit Eis, der Claret, der Portwein, der Sherry! – Wer solche Herrlichkeiten zu träumen imstande ist, der sollte lieber gleich zu Bett gehen und nicht mehr aufstehen.

Das Allerschönste beim Bankett war aber doch, daß niemand sich auch nur halb so über alles freute wie John selbst, der in der Überfülle seines Entzückens alle Augenblicke in ein schallendes Gelächter ausbrach und sich dann Mühe gab, eine übernatürlich feierliche Miene aufzusetzen, um die Kellner nicht glauben zu machen, er sei an derartige Gelage nicht gewöhnt. Einige von den Gerichten jedoch, die man ihm zum Tranchieren auftrug, kamen ihm so ungeheuer spaßhaft vor, daß er nicht mehr an sich halten konnte, und als Tom Pinch schließlich trotz des schüchternen Abratens eines Kellners nicht nur darauf bestand, die Außenwand einer hohen Pastete mit dem Löffel einzureißen, sondern sie sogar zu essen versuchte, da verlor er gänzlich seine Fassung und schüttelte sich hinter dem prächtigen Aufsatz am oberen Ende der Tafel vor Lachen, daß man ihn wahrscheinlich bis hinaus in die Küche hörte. Auch schämte er sich gar nicht, über sich selbst zu lachen, und bewies das, als sie sich nachher um das Kaminfeuer setzten, das Dessert aufgetragen wurde und der Oberkellner fragen kam, ob der etwas leichte und helle Portwein seinem Geschmack auch zusage oder ob er lieber einen kräftigeren und schwereren zu trinken wünsche. Ernsthaft erwiderte er, er sei vollkommen zufrieden mit dem Wein und halte ihn für ein ganz schneidiges Gewächs, und der Kellner verbeugte sich und ging. Aber dann gestand John seinen Freunden leise ein, daß er sich nicht im entferntesten auf Wein verstehe, und brach in ein unbändiges Gelächter aus.

So waren sie alle drei die ganze Zeit über fröhlich und guter Dinge, aber die angenehmsten Augenblicke waren doch die, wo sie um das Feuer herumsaßen, Nüsse knackend, Wein trinkend und gemütlich miteinander plaudernd.

Da Tom Pinch mit seinem Freunde, dem Gehilfen des Organisten, gerne ein paar Worte gesprochen hätte, verließ er auf einige Minuten sein warmes Eckplätzchen, um ihn nicht zu verpassen, und die beiden andern jungen Herren unterhielten sich unterdessen miteinander. Natürlich stießen sie in seiner Abwesenheit auf seine Gesundheit an, und John Westlock benützte die Gelegenheit, Martin zu versichern, daß es während seines ganzen Aufenthalts in Mr. Pecksniffs Hause auch nicht ein einziges Mal zu einem unfreundlichen Worte zwischen ihm und Tom gekommen sei. Dies führte zu einer eingehenderen Beleuchtung von Mr. Pinchs Charakter, und es fielen die Worte, daß Mr. Pecksniff ihn recht geschickt auszunutzen verstehe. Es blieb jedoch bei dieser oberflächlichen Andeutung, denn John wußte, wie Tom über diesen Punkt dachte, und hielt es auch für zweckmäßig, den neuen Schüler seine eigenen Erfahrungen machen zu lassen.

»Ja, ja, so ist es«, sagte Martin, »niemand kann Pinch mehr lieben als ich oder seinen guten Eigenschaften mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen; er ist wahrhaftig der gutmütigste Bursche, den ich jemals im Leben getroffen habe.«

»Leider nur etwas zu gutmütig«, versetzte John, der sofort begriff, wieviel die Uhr geschlagen hatte. »Das ist eben der Fehler an ihm.«

»Natürlich«, sagte Martin. »Sehr richtig. Da war zum Beispiel erst vor ungefähr einer Woche ein Kerl bei uns – ich glaube, er heißt Tigg –, der ihm all sein Geld mit dem Versprechen abborgte, es in einigen Tagen wieder zurückzuzahlen. Es war zwar nur eine halbe Guinee, aber es ist gut, daß es nicht mehr war, denn Pinch wird es nie mehr im Leben wiedersehen.«

»Armer Teufel«, sagte John, der dieser Erzählung aufmerksam zugehorcht hatte. – – »Vermutlich haben Sie noch gar nicht Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, wie stolz Tom in Geldangelegenheiten ist.«

»Was Sie nicht sagen! Nein, ich habe allerdings in dieser Hinsicht noch nichts bemerkt. Was meinen Sie damit? Borgt er sich nie etwas aus?«

John Westlock schüttelte den Kopf.

»Höchst merkwürdig«, meinte Martin und setzte sein Glas nieder. »Er ist aus den seltsamsten Charaktereigenschaften zusammengesetzt.«

»Ich glaube, er würde lieber sterben als ein Geldgeschenk annehmen«, fuhr Westlock fort.

»Unglaubliche Einfalt!« brummte Martin. – – »Noch ein Glas gefällig?«

»Sie natürlich«, sagte John, füllte sein Glas und sah Martin gespannt an, »wo Sie soviel älter sind als die meisten von Mr. Pecksniffs Schülern und daher auch weit mehr Erfahrung haben müssen, verstehen ihn ohne Zweifel – und sehen, wie leicht er sich betrügen läßt.«

»Allerdings«, gab Martin zu, streckte die Beine aus und hielt sein Weinglas zwischen Auge und Licht. »Und Mr. Pecksniff scheint das auch zu wissen und seine Töchter desgleichen – wie?«

John Westlock lächelte, gab aber keine Antwort.

»Übrigens, das bringt mich auf etwas anderes. – Wie hat Pecksniff Sie behandelt, und wie beurteilen Sie ihn jetzt? Jetzt, wo alles vorüber ist und Sie ganz unbeeinflußt sind.«

»Fragen Sie Pinch«, erwiderte Westlock; »er weiß genau, was diesbezüglich früher meine Ansichten waren. Ich kann Ihnen versichern, daß sie inzwischen nicht anders geworden sind.«

»Nein, nein«, fiel ihm Martin ins Wort, »ich möchte es doch lieber von Ihnen selbst hören.«

»Aber Pinch meint, ich sei ungerecht«, sagte John lächelnd.

»So, so. – Nun, dann kann ich mir ja ungefähr denken, wie die Sachen stehen«, versetzte Martin. »Bitte, sagen Sie mir ganz unverhohlen Ihre Meinung. Meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu genieren, denn ich sage Ihnen frei heraus, daß ich ihn meinerseits nicht leiden kann. Ich bin nur bei ihm, weil mich besondere Umstände dazu veranlassen. Wie ich glaube, besitze ich einiges Talent für das Baufach, und wenn hinsichtlich meiner Stellung zu ihm überhaupt von Verbindlichkeiten die Rede sein kann, so liegen sie auf seiner und nicht auf meiner Seite. Höchstens stehen die beiden Waagschalen gleich. – Reden Sie daher frei von der Leber weg.«

»Nun, wenn Sie’s denn durchaus haben wollen, daß ich Ihnen meine Meinung sage –« begann John Westlock.

»Ja, darum möchte ich Sie bitten«, erwiderte Martin. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür.«

»So muß ich rundheraus erklären, daß Pecksniff der heilloseste Schurke ist, den die Erde trägt.«

»Oho«, meinte Martin kaltblütig, »das ist etwas stark.«

»Nicht stärker, als er es verdient«, versetzte John. »Und wenn er mich auffordern würde, ihm meine Meinung ins Gesicht zu sagen, so würde ich es ohne Bedenken in den gleichen Ausdrücken tun. Schon die Art und Weise, wie er Pinch behandelt, würde hinreichen, meine Behauptung zu rechtfertigen. Aber wenn ich auf die Jahre zurückblicke, die ich in seinem Hause zugebracht habe, und mir dabei die Heuchelei, Schuftigkeit, Gemeinheit, Falschheit, die Speichelleckerei und das scheinheilige Wesen dieses Ehrenmannes vergegenwärtige, wenn ich daran denke, wie oft ich Zeuge davon war, wie oft ich eine Rolle dabei spielte, bloß weil ich sein Schüler war, so möchte ich mich, bei Gott, fast selbst verachten.«

Martin trank die Neige seines Glases aus und blickte ins Feuer.

»Ich will damit nicht sagen, daß ich wirklich Grund dazu hätte«, fuhr John Westlock fort, »denn die Schuld lag ja nicht an mir, und ich kann recht wohl begreifen, wie zum Beispiel Sie, wenn Sie ihn auch vollständig durchschauen, doch durch Umstände genötigt sein können, bei ihm zu bleiben. Ich teile Ihnen daher einfach mit, wie es mir zumute ist, und zwar noch jetzt, trotzdem, wie Sie sehr richtig sagen, alles vorüber ist und ich noch obendrein die Beruhigung habe zu wissen, daß er mich immer gehaßt hat und wir uns miteinander nie vertrugen und ich meinerseits keinen Augenblick Anstand nahm, ihm meine Meinung rundheraus zu sagen. Ja, sogar jetzt noch tut es mir leid, daß ich nicht schon als kleiner Junge dem Antrieb, der sich so oft in mir regte, Folge geleistet habe und davongelaufen bin, um im Ausland mein Glück zu versuchen.«

»Sie wollten ins Ausland gehen?« fragte Martin sehr interessiert. »Jawohl, um mir meinen Lebensunterhalt zu erwerben«, antwortete John, die Achseln zuckend, »natürlich erst, nachdem ich mich in der Heimat deswegen vergeblich bemüht; und dann hätte etwas Mutiges darin gelegen. – Doch jetzt genug davon, sprechen wir nicht mehr von dem Kerl und füllen wir lieber unsere Gläser.«

»Ganz wie’s beliebt«, sagte Martin. »Was mich selbst und meine Stellung zu ihm betrifft, so kann ich nur meine Erklärung von vorhin wiederholen. Ich bin bisher meine eigenen Wege mit ihm gegangen und werde es in Zukunft auch immer so halten. Und, aufrichtig gesprochen, ich glaube, er erwartet von mir, daß ich so eine Art Lückenbüßer für ihn werden soll. Er scheint mich jetzt deshalb schwer entbehren zu können. Ich habe es gleich gemerkt, als ich hinkam – Prosit!«

»Prosit! Ihr Wohl!« entgegnete Westlock. »Und möge es auch dem neuen Zögling so gut ergehen, wie er sich nur wünschen kann.«

»Was für einem neuen Zögling?«

»Dem glücklichen jungen Mann, der unter so günstigen Sternen geboren ist«, erwiderte John Westlock, »daß seine Eltern und Vormünder vom Schicksal bestimmt sind, sich durch Pecksniffs Annonce ködern zu lassen. Sie wissen doch, daß er schon wieder eine Annonce losgelassen hat.«

»Nein.«

»Ja, ja. Ich las sie kurz vor dem Essen in der gestrigen Zeitung. Ich kann mich gar nicht irren, daß sie von ihm herrührt, denn ich kenne seinen Stil zur Genüge. Übrigens still, da kommt Tom Pinch. – – Ist es nicht seltsam, daß man nur um so mehr Grund hat, ihn gern zu haben, je mehr er Pecksniff liebt, wenn bei ihm überhaupt noch eine Steigerung möglich ist? Aber jetzt kein Wort mehr, oder wir verderben ihm den ganzen Abend.«

John hatte kaum ausgesprochen, als Tom freudestrahlend wieder eintrat. Er rieb sich die Hände – mehr aus Fröhlichkeit als weil es kalt war, denn er hatte sich durch einen raschen Lauf warm gemacht –, setzte sich wieder in seine behagliche Ecke und fühlte sich so glücklich wie – nun, wie sich eben nur ein Tom Pinch glücklich fühlen konnte.

»Und so« – begann er, nachdem er seinen Freund eine Weile lang in stummer Wonne angesehen – »so bist du also wirklich ein Gentleman geworden, John. Nun, das laß ich mir gefallen.«

»Es ist nur ein Versuch, Tom, es ist nur ein Versuch«, versetzte Westlock gutmütig, »jetzt läßt sich noch nicht bestimmt sagen, was mit der Zeit aus mir wird.«

»Nun, deinen Koffer würdest du jetzt wohl keinesfalls mehr selbst zur Postkutsche tragen«, meinte Tom Pinch lächelnd, »sogar auf die Gefahr hin, daß er dir abhanden käme.«

»So, glaubst du«, versetzte John. »Nun, du mußt es ja wissen, Tom. Aber ich sage dir, es müßte ein sehr schwerer Koffer sein, den ich nicht selbst auf den Rücken nehmen würde, wenn es gälte, von Pecksniff wegzukommen, Tom.«

»Da haben wir’s«, rief Tom zu Martin gewendet. »Der einzige Fehler an ihm ist seine Ungerechtigkeit gegenüber Mr. Pecksniff. Kehren Sie sich übrigens nicht an das, was er in dieser Hinsicht behauptet, denn es spricht nichts als ein leidiges Vorurteil aus ihm.«

»Sie müssen nämlich wissen«, fiel John Westlock herzlich lachend ein und legte seine Hand auf Tom Pinchs Schulter, »bei Tom ist die Freiheit von Vorurteilen wahrhaft wunderbar. Wenn je ein Mensch einen anderen vom Grunde aus kannte und ihn im wahren Lichte sah, so läßt sich dies von Tom in erster Linie behaupten.«

»Ja, ja, das will ich meinen«, rief Tom. »Ich selbst habe es dir schon hundertmal gesagt. Wenn du ihn nur so genau kennen würdest wie ich – – und ich ließe es mich all mein Geld kosten, John, wenn ich dich so weit bringen könnte –, so müßtest du ihn bewundern, achten und verehren. Aber du kannst eben nicht anders. Oh, wie du seine Gefühle verwundet hast, als du weggingst!«

»Wenn ich überhaupt gewußt hätte, wie seinen Gefühlen beizukommen wäre«, erwiderte der junge Westlock, »so – verlaß dich drauf, Tom – würde ich mein Bestes getan haben, sie ein wenig empfindlicher anzugreifen. Da es jedoch unmöglich ist, jemanden an einer Stelle zu verwunden, die er gar nicht hat und von der man gar nicht weiß, ob sie überhaupt existiert, so fürchte ich, daß ich deine Lobsprüche nicht auf mich beziehen kann.«

Um nicht eine Unterhaltung fortzusetzen, die möglicherweise auf Martin einen verderblichen Einfluß üben konnte, behielt Mr. Pinch seine Antwort für sich. Aber John Westlock, den nicht einmal ein eiserner Knebel hätte zum Schweigen bringen können, wenn sich’s um Mr. Pecksniffs Verdienste handelte, fuhr fort:

»Seine Gefühle! O Gott, was er für ein zartfühlender Mensch ist. Seine Gefühle! Er ist ein wohlüberlegter, bewußter, moralischer Halunke. Seine Gefühle! Ach Gott! Ach Gott! – – Was hast du denn eigentlich, Tom?«

Mr. Pinch war nämlich inzwischen auf den Teppich vor den Herd getreten und knöpfte mit großer Hast seinen Rock zu.

»Ich kann das nicht länger mehr aushalten«, sagte Tom und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, wahrhaftig nicht, du mußt mich entschuldigen, John. Ich achte dich hoch, und wir sind miteinander befreundet; ich habe dich wirklich sehr gern und war heute außerordentlich erfreut, in dir den alten John wiederzufinden, aber solche Worte kann ich nicht mit anhören.«

»Nun, nun, ich bin eben einmal nicht anders, Tom, und du sagtest es ja selbst, du freuest dich, daß ich mich nicht geändert habe.«

»In dieser Hinsicht nicht«, entgegnete Tom Pinch. »Du mußt mich entschuldigen, John. Wahrhaftig, ich kann und will so etwas nicht länger mehr mit anhören. Es ist ungerecht von dir, und du solltest bedächtiger in deinen Äußerungen sein. Es hat mir immer schon wehe getan, wenn wir allein beisammen waren, aber unter Umständen wie den gegenwärtigen kann ich’s wahrhaftig nicht aushalten. Nein, es ist rein unmöglich.«

»Ja, ja, ich sehe ein, du hast recht«, rief John und wechselte mit Martin einen Blick, »und ich bin im Unrecht, Tom. Aber zum Kuckuck, wie sind wir schon wieder auf dieses unglückselige Thema gekommen. Also, ich bitte dich aus dem Grunde meines Herzens um Verzeihung.« »Wo du doch sonst einen so freien und männlichen Charakter hast«, sagte Finch, »kränkt mich dein Benehmen in diesem einzigen Punkte nur um so mehr. Mich brauchst du übrigens nicht um Verzeihung zu bitten, John, denn gegen mich bist du immer freundlich gewesen.«

»Nun, dann soll meine Abbitte Pecksniff gelten«, erwiderte der junge Westlock. »Ich tue ja alles, was du willst, Tom. Bist du jetzt zufrieden? Komm, wir wollen auf Mr. Pecksniffs Gesundheit trinken.«

»Ich danke dir«, rief Tom, drückte ihm freudig die Hand und füllte sein Glas. »Ich danke dir, John. Da mache ich von ganzem Herzen mit. Also Mr. Pecksniffs Gesundheit! Und möge das Glück ihm hold sein.« John Westlock trank auf diesen Toast, jedoch nur teilweise, denn er wünschte Pecksniff dabei etwas – was, klang nicht recht verständlich. Da die Eintracht jetzt völlig wiederhergestellt war, rückten die drei jungen Leute ihre Stühle dichter um das Kaminfeuer und plauderten vergnügt miteinander bis zur Schlafenszeit.

Kein Umstand hätte übrigens die Charakterverschiedenheit zwischen John Westlock und Martin Chuzzlewit besser beleuchten können als die Art, wie sie Tom Pinch nach dem eben geschilderten kleinen Zwiste betrachteten. Ihre Blicke zeigten allerdings eine gewisse Heiterkeit, aber damit hörte alle Ähnlichkeit zwischen ihnen auf. Der alte Schüler wußte gar nicht, was er alles tun solle, um Tom zu beweisen, wie herzlich er ihm zugetan sei, und seine Achtung vor ihm schien sogar an Ernst und Nachdruck noch gewonnen zu haben. Der neue dagegen wußte nichts anderes, als über Toms außerordentliche Abgeschmacktheit zu lachen, und in seine Heiterkeit mischten sich eine gewisse Geringschätzung und Verachtung, die anzudeuten schienen, daß Mr. Pinch doch gar zu einfältig sei, um unter Verhältnissen wie den gegebenen von einem vernünftigen Menschen als Freund behandelt werden zu können.

John Westlock, der niemals etwas halb tat, hatte für seine zwei Gäste Betten im Gasthof bestellt, und nachdem sie den Abend so glücklich verbracht, begaben sie sich zur Ruhe.

Mr. Pinch saß noch mit abgelegter Halsbinde und ausgezogenen Schuhen auf seinem Bettrand, um über die vielen guten Eigenschaften seines alten Freundes nachzudenken, als er durch ein Klopfen an die Türe seines Zimmers und durch Johns Stimme in seinen Grübeleien unterbrochen wurde.

»Du schläfst noch nicht, Tom?«

»Gott behüte, nein! Ich habe eben an dich gedacht«, versetzte Tom und öffnete die Türe, »komm nur herein!«

»Ich will dich nicht lange stören«, entschuldigte sich John. »Ich habe nur vergessen, diesen Abend einen kleinen Auftrag an dich zu bestellen, und ich fürchte, ich könnte ihn ganz vergessen, wenn ich mich jetzt seiner nicht entledige. – – Du bist, glaube ich, mit einem gewissen Mr. Tigg bekannt.«

»Tigg?« rief Tom. »Ja, ja, der Gentleman, der sich von mir Geld ausgeborgt hat.«

»Ja, ja, derselbe. Er hat mich also gebeten, dich zu grüßen und dir das Darlehen mit Dank zurückzuerstatten. Hier ist es. Ich denke, das Goldstück ist zwar echt, er selbst gehört aber leider zu einer sehr zweideutigen Art von Menschen, Tom.« Mr. Pinch nahm die halbe Guinee mit einem Gesicht in Empfang, dessen Glanz sogar den des Metalls hätte beschämen können, und sagte, er habe dessentwegen keine Sorge gehabt; es freue ihn übrigens, fügte er hinzu, daß Mr. Tigg so prompt und ehrenhaft in seinen Verbindlichkeiten sei.

»Nur eins muß ich dir noch sagen, Tom«, warf John hin, »daß der das nicht immer ist. Wenn ich dir einen Rat geben darf, so weiche ihm aus, so gut du irgend kannst, falls du ihm wieder begegnen solltest; namentlich aber merke dir – es ist mein voller Ernst –, leihe ihm unter keinen Umständen je wieder Geld.«

»Wieso?« fragte Tom und sperrte die Augen weit auf.

»Er gehört durchaus nicht zu den Bekanntschaften, auf die man stolz sein könnte«, fuhr der junge Westlock fort, »und es ist nur um so besser für dich, wenn du ihm zu verstehen gibst, daß du diese Meinung von ihm hast.«

»O weh, John«, sagte Mr. Pinch mit langem Gesicht und schüttelte kleinmütig den Kopf, »ich will doch nicht hoffen, daß du in schlechte Gesellschaft geraten bist?« »Nein«, versicherte John lachend, »hinsichtlich dieses Punktes brauchst du keine Sorge zu haben.«

»Aber es beunruhigt mich doch«, meinte Tom Pinch. »Ich kann mich eines unangenehmen Gefühles nicht erwehren, wenn ich dich so sprechen höre. Wenn Mr. Tigg so ist, wie du ihn schilderst, so solltest du ihn überhaupt nicht kennen. Lache, soviel du willst, aber ich versichere dir, mir kommt die Sache keineswegs lächerlich vor.«

»Nein, nein«, versetzte John und legte sein Gesicht in ernste Falten, »du hast ganz recht; die Sache ist nicht zum Lachen.«

»Weißt du, John«, fuhr Mr. Pinch eindringlich fort, »dein guter Charakter und deine Herzensgüte machen dich oft gedankenlos, und in einer solchen Hinsicht kann man nicht vorsichtig genug sein. Wirklich, es würde mich höchst unglücklich machen, wenn ich denken müßte, daß du in schlechte Gesellschaft geraten seist, denn ich weiß, wie schwer es dir werden würde, sie wieder abzuschütteln. Es würde mir weit lieber sein, ich hätte das Geld verloren, John, als es unter solchen Bedingungen wieder zurückzuerhalten.«

»Und ich versichere dir, mein lieber, guter, alter Freund«, rief John und faßte Toms beide Hände und lächelte ihm mit einem so heiteren und offenen Gesichte zu, daß sogar ein argwöhnischeres Herz als das seines Freundes hätte überzeugt werden müssen, »ich versichere dir, es ist nicht die geringste Gefahr vorhanden.«

»Gut«, rief Tom, »das freut mich – freut mich über die Maßen. Ich weiß, daß es zuverlässig wahr ist, was du mir da sagst. Du nimmst es mir doch nicht übel, John, daß ich so offenherzig zu dir war?«

»Ich es übelnehmen!« rief John mit einem herzlichen Händedruck. »Aus welchem Holze, glaubst du eigentlich, bin ich geschnitzt? Mr. Tigg und ich stehen überhaupt auf keinem so vertrauten Fuße miteinander, als daß du überhaupt nötig hättest, dich zu beunruhigen – darauf gebe ich dir mein feierliches Ehrenwort. Bist du jetzt ganz zufrieden?«

»Vollkommen«, antwortete Tom.

»Dann noch einmal: Gute Nacht!«

»Gute Nacht«, rief Tom. »Und angenehme Träume.« Und dann trennten sie sich für die Nacht – John leichtherzig und guter Laune und auch der arme Tom Pinch ganz zufriedengestellt, obgleich er noch, als er sich in seinem Bett zur Wand drehte, vor sich hin murmelte:

»Trotz alledem wäre es mir doch lieber, wenn er nicht mit Mr. Tigg bekannt wäre.«

Am andern Morgen frühstückten sie sehr zeitig miteinander, denn die beiden jungen Architekten wünschten, beizeiten wieder zu Hause zu sein, und auch John Westlock gedachte noch am selben Tage mit der Landkutsche nach London zurückzukehren. Da der Wagen erst einige Stunden später fuhr, leistete er seinen Freunden drei oder vier Meilen auf ihrem Heimwege Gesellschaft und trennte sich erst von ihnen, als es unbedingt nötig wurde. Der Abschied war ungewöhnlich herzlich, nicht nur zwischen ihm und Tom Pinch, sondern auch von Seiten Martins, der in ihm jemand ganz andern gefunden, als er den Schilderungen seines arglosen Begleiters zufolge zu treffen erwartet hatte.

Der junge Mr. Westlock war noch nicht weit gekommen, als er auf einer kleinen Anhöhe haltmachte und zurückblickte. Die beiden andern schritten rasch vorwärts, und Tom schien in eifrigem Gespräche begriffen zu sein. Martin hatte seinen Überrock ausgezogen, da sie jetzt den Wind im Rücken hatten, und trug ihn auf dem Arme. Plötzlich bemerkte John, daß ihm Tom nach kurzem Widerstreben seinen Mantel abnahm und jetzt doppelt zu schleppen hatte. Dieser unbedeutende Umstand machte einen tiefen Eindruck auf ihn, und er blieb stehen und sah den beiden nach, bis sie seinen Blicken entschwunden waren. Dann schüttelte er den Kopf, wie von unruhigen Gedanken gequält, und schritt gedankenvoll auf dem Wege nach Salisbury weiter.

Inzwischen trabten Martin und Tom wacker fort, bis sie wohlbehalten in Mr. Pecksniffs Behausung anlangten und dort einen kurzen Brief an Mr. Pinch vorfanden, der die Rückkehr der Familie mit derselben Abendpost meldete. Da der Wagen morgens gegen sechs Uhr an der Straßenecke anlangen mußte, so wünschte Mr. Pecksniff, daß das Gig sowie ein Karren für das Gepäck ihn um die genannte Zeit bei dem Wegweiser erwarten sollten. Um daher den Herrn des Hauses mit entsprechenden Ehren empfangen zu können, sahen sich die beiden jungen Leute genötigt, sehr früh aufzustehen und sich selbst an Ort und Stelle zu bemühen.

Es war der letzte heitere Tag, den sie miteinander verbringen sollten. Martin war mißlaunig und ersah jede Gelegenheit, seine eigenen Verhältnisse und Aussichten mit denen des jungen Mr. Westlock zu vergleichen, wobei er stets zu demselben verdrießlichen Schlusse kam. Diese Stimmung wirkte auch auf Tom niederdrückend, und weder der Gedanke an den Abschied am Morgen noch an das gestrige Bankett vermochten die Sache wesentlich zu bessern. Träge genug schwanden die Stunden dahin, und die beiden jungen Leute waren schließlich froh, sich zu Bett begeben zu können.

Weniger behaglich fanden sie es, als sie am nächsten Morgen um halb drei Uhr in der ganzen Kälte eines dunkeln Wintertages aufstehen mußten. Sie machten sich jedoch pünktlich auf die Beine und trafen eine volle halbe Stunde vor der festgesetzten Zeit am Wegweiser ein. Der Morgen war nichts weniger als lieblich, denn am Himmel hingen schwarze Wolken, und der Regen goß nur so hernieder, dennoch meinte Martin, es läge wenigstens ein gewisser Trost darin, denn das Biest von einem Gaul – damit meinte er Mr. Pecksniffs arabische Stute – werde auch bis auf die Knochen naß und es freue ihn daher in gewissem Sinne, daß es so unerhört schütte. Aus dieser Bemerkung zu schließen, hatte sich Martins Stimmung durchaus nicht gebessert, und wie er so neben Mr. Pinch wartend unter einer Hecke stand und auf den Regen, das Gig, den Karren und das dampfende Pferd hinblickte, brummte er unablässig. Vielleicht würde es sogar zu einem Streit mit Pinch gekommen sein, wären eben nicht zu einem Zwiste mindestens zwei Parteien unerläßlich notwendig.

Endlich ließ sich aus der Ferne das dumpfe Gerassel von Rädern vernehmen, und bald nachher fuhr der Postwagen, durch Schmutz und Schlamm platschend, heran. Nur ein einziger Außenpassagier kauerte sich unter einem triefenden Regenschirm in das Stroh, und der Kutscher, der Schaffner und die Pferde waren sämtlich elend durchnäßt. Sobald der Wagen haltmachte, ließ Mr. Pecksniff das Fenster herunter und rief Tom Pinch an. »Was sehe ich, Mr. Pinch! – Ist es denn möglich, daß Sie an einem solch unfreundlichen Morgen selbst herausgekommen sind?«

»Gewiß, Sir«, rief Tom und trat eilig an den Kutschenschlag heran, »Mr. Chuzzlewit und ich, Sir –«

»Oh«, sagte Mr. Pecksniff und sah über Martin hinweg in die Luft. »Oh, wahrhaftig! – – Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, nach den Koffern zu sehen, Mr. Pinch?«

Dann stieg er aus und half auch seinen Töchtern aus dem Wagen. Doch weder er noch die jungen Damen nahmen dabei die geringste Notiz von Martin, der herangetreten war, um seinen Beistand anzubieten. Mr. Pecksniff kehrte ihm sogar brüsk den Rücken. In gleicher Weise und unter tiefem Schweigen hob er seine Töchter in das Gig, folgte ihnen nach, ergriff die Zügel und fuhr nach Hause. Sprachlos vor Staunen starrte Martin erst die Kutsche und, als diese abgefahren war, Mr. Pinch und das Gepäck an. Als der Lastkarren sich gleichfalls entfernt hatte, wendete er sich zu Tom und fragte:

»Würden Sie vielleicht so freundlich sein, mir zu sagen, was das alles zu bedeuten hat?«

»Was?« fragte Tom.

»Das Benehmen dieses Kerls – des Monsieur Pecksniff. – Sie haben es doch gesehen.«

»Wahrhaftig, nein!« versicherte Tom. »Ich war mit den Koffern beschäftigt.«

»Macht weiter nichts«, brummte Martin. »Kommen Sie! Eilen wir uns, daß wir nach Hause kommen.«

Und ohne weiter ein Wort zu sprechen, brach er so hastig auf, daß Tom seine liebe Not hatte, gleichen Schritt mit ihm zu halten.

Achtlos ging er dabei mitten durch die Pfützen, die sich auf der Straße angesammelt hatten, stets geradeaus blickend und bisweilen höchst seltsam auflachend. Tom fühlte, daß alles, was er hätte sagen können, Martin nur noch störrischer machen mußte, und hoffte daher, wenn sie zu Hause angelangt sein würden, daß Mr. Pecksniff das Mißverständnis bald aufklären und den neuen Zögling, der doch im Hause so beliebt war, freundlich begrüßen werde. Wie erstaunt war er aber, als sie das Zimmer betraten und Pecksniff allein vor dem Feuer sitzen und heißen Tee trinken sahen, ohne daß er sich um seinen Verwandten im geringsten gekümmert oder Notiz von ihm genommen hätte.

»Schenken Sie sich eine Tasse Tee ein, Mr. Pinch – schenken Sie sich eine Tasse Tee ein«, sagte Mr. Pecksniff vielmehr, sich auffallenderweise nur an Tom wendend. »Sie müssen sehr durchfroren und naß geworden sein. Bitte, nehmen Sie etwas Tee und wärmen Sie sich hier am Kamin, Mr. Pinch.«

Tom sah bestürzt Martin an und bemerkte, daß dieser Mr. Pecksniff mit Blicken musterte, die etwas Drohendes an sich hatten.

»Nehmen Sie Platz, Mr. Pinch«, fuhr Mr. Pecksniff krampfhaft fort; »nehmen Sie Platz, wenn ich bitten darf. – – Also, was hat sich in unserer Abwesenheit alles ereignet, Mr. Pinch?«

»Sie – Sie werden sich sehr über die Pläne der Elementarschule freuen, Sir«, antwortete Tom; »sie sind beinahe fertig.«

»Würden Sie vielleicht die Güte haben, Mr. Pinch«, unterbrach ihn Pecksniff lächelnd und winkte mit der Hand ab, »alles, was auf diese Frage Bezug hat, vorderhand auf sich beruhen zu lassen. – Also, wie ist es Ihnen ergangen, Thomas – hum?«

Mr. Pinch blickte von seinem Herrn und Gebieter auf den neuen Zögling und von diesem wieder auf Mr. Pecksniff, war aber dabei so verwirrt und verlegen, daß er die nötige Geistesgegenwart nicht aufbringen konnte, um die Frage zu beantworten. Während dieser peinlichen Pause rührte Mr. Pecksniff beständig, sich wohl bewußt, daß ihn Martin immer noch mit drohenden Augen betrachte – trotzdem er nicht ein einziges Mal aufgesehen hatte –, eifrig in den Kohlen herum. Als das schließlich nicht mehr recht anging, beschäftigte er sich emsig mit Teetrinken.

»Nun, Mr. Pecksniff?« sagte Martin endlich mit schneidender Stimme. »Wenn Sie sich genügend erfrischt und erholt haben, so würde es mir lieb sein, wenn sie mir endlich sagen wollten, wie ich mir Ihr Benehmen zu deuten habe.«

»Und was –« nahm Mr. Pecksniff seine alte Frage wieder auf, »– und was, lieber Tom Pinch, haben Sie die ganze Zeit über getrieben? Nun?« Nachdem er diese Frage noch ein paarmal wiederholt hatte, schaute er sich im Zimmer um, um seine Verlegenheit zu verbergen.

Tom stand der Verstand beinah still, denn er wußte nicht, was er zu alledem sagen solle, und er wollte gerade durch eine bittende Gebärde Mr. Pecksniffs Aufmerksamkeit auf dessen Verwandten zu lenken versuchen, als Martin ihm jede weitere Mühe ersparte und selbst aufs neue das Wort ergriff.

»Mr. Pecksniff«, sagte Martin, trommelte leicht mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte und trat dann ein paar Schritte näher, so daß er den Herrn des Hauses beinahe mit der Hand hätte berühren können, »Sie haben gehört, was ich Sie soeben fragte. Würden Sie also die Gefälligkeit haben, mir zu antworten. Ich wiederhole meine Frage« – er erhob jetzt seine Stimme ein wenig – »was habe ich mir bei all dem zu denken?«

»Ich werde demnächst mit Ihnen darüber sprechen, Sir«, versetzte Mr. Pecksniff in strengem Tone und erhob jetzt zum erstenmal seine Blicke.

»Höchst liebenswürdig von Ihnen«, höhnte Martin, »aber mit einem ›Demnächst‹ gebe ich mich nicht zufrieden. Sie werden sich schon bemühen müssen, mit der Wahrheit herauszurücken.«

Mr. Pecksniff tat, als beschäftige er sich eifrig mit seinem Taschentuch, aber man konnte deutlich sehen, wie seine Hand zitterte.

»Und zwar gleich!« fuhr Martin fort und trommelte wieder auf dem Tische. »Und zwar jetzt! Ich lasse mich mit keinem ›Demnächst‹ abspeisen.«

»Wie? – Sie drohen mir, Sir?!« rief Mr. Pecksniff.

Martin sah ihn fest an, gab aber keine Antwort, obwohl ein aufmerksamer Beobachter ein ominöses Zucken um seine Mundwinkel und vielleicht eine unwillkürliche Bewegung seiner rechten Hand in der Richtung nach Mr. Pecksniffs Halsbinde hätte entdecken können.

»Es tut mir sehr leid, sagen zu müssen, Sir«, begann Mr. Pecksniff nach einer Pause, »daß es Ihnen sehr ähnlich sieht, wenn Sie mir drohen wollen. Sie haben mich hintergangen. Sie haben mich getäuscht, trotzdem Sie mich als vertrauensvoll und arglos kannten. Ja«, setzte er hinzu und erhob sich von seinem Stuhl, »und zwar durch falsche Angaben und trügerische Vorspiegelungen haben Sie sich in dieses Haus eingeschlichen, Sir.«

»Nur weiter, Sir«, sagte Martin mit geringschätzigem Lächeln; »ich verstehe. Was weiter?«

»Was weiter, Sir!« rief Pecksniff, am ganzen Leibe zitternd, und rieb sich krampfhaft die Hände. »Was weiter? Sie zwingen mich, Ihre Schande vor einer fremden Person zu veröffentlichen, was ich eigentlich nicht im Sinne gehabt habe. Ich kann nicht länger zugeben, daß mein Haus durch die Gegenwart eines Menschen geschändet wird, der zu einem Betrüger – zu einem schändlichen Betrüger geworden ist an einem ehrenhaften, allgemein geliebten, verehrten und verehrungswürdigen Gentleman – durch einen Menschen, der sich mir mit Arglist im Herzen näherte, wohl wissend, daß ich, so unbedeutend ich auch sein mag, doch ein ehrlicher Mensch bin, der in dieser irdischen Welt seine Pflicht zu tun sucht und ein Feind ist von aller Bosheit und Hinterlist. Ich beklage aufs tiefste Ihre Verderbtheit, Sir, und sehe mit Leid, daß Sie von dem Blumenpfade der Reinheit und des Friedens abgewichen sind« – dabei schlug der Treffliche an seine Brust oder vielmehr an seinen moralischen Garten – »aber ich kann nicht länger einem Aussätzigen – einer Schlange – Obdach geben. Weichen Sie von hinnen!« rief Mr. Pecksniff und streckte seine Hand aus. – »Weichen Sie von hinnen, junger Mann. Gleich allen, die Sie durchschaut haben, sage ich mich los von Ihnen!«

In welcher Absicht Martin bei diesen Worten einen Schritt vorwärts tat, läßt sich unmöglich sagen. Genug, daß Tom Pinch seine Arme um ihn schlang und ihn zurückhielt und daß im selben Augenblick Mr. Pecksniff hastig zurücktrat, ausglitt, über einen Sessel stolperte und in sitzender Stellung auf den Fußboden fiel, wo er, ohne einen Versuch zu machen aufzustehen, mit dem Kopf in die Ecke gelehnt, sitzen blieb. – Wahrscheinlich, weil er dies für die sicherste Stellung hielt.

»Lassen Sie mich, Pinch«, rief Martin und schüttelte Tom von sich ab. »Wofür halten Sie mich? Glauben Sie, daß ein Fußtritt ihn zu einer noch gemeineren Kreatur machen könnte? Glauben Sie, wenn ich ihm ins Gesicht spiee, daß ich ihn noch mehr erniedrigen könnte, als er sich selbst schon erniedrigt hat?! Sehen Sie ihn doch nur an! Ich bitte, sehen Sie ihn doch nur an, Pinch!«

Mr. Pinch sah unwillkürlich Mr. Pecksniff an, wie er, auf dem Teppich sitzend, den Kopf in einen Winkel der Wand gedrückt und mit allen Spuren einer unbequemen, langen Reise an Leib und Kleidern, nichts weniger als den Eindruck eines einnehmenden und würdevollen Menschen bot. Aber doch blieb er der treffliche Mr. Pecksniff, und es war unmöglich, ihn dieser einzigen Empfehlung bei Tom zu berauben. Sein Blick schien zu sagen: »Ach, Mr. Pinch, sehen Sie nur, hier sitze ich; Sie wissen, was der Dichter von einem Ehrenmanne singt. Und ein Ehrenmann ist eine von den wenigen großen Naturmerkwürdigkeiten, die man umsonst zu sehen kriegt. Bitte, sehen Sie mich nur an.«

»Und ich sage Ihnen«, rief Martin, »wie er da liegt, schmachvoll, ein erkauftes Werkzeug, ein Fußabkratzer für schmutzige Stiefel, ein lügnerischer, kriecherischer, gemeiner Hund, ist er das letzte und schlechteste von allem Gewürm auf Erden. Denken Sie an mich, Pinch, der Tag wird kommen – ich weiß es, denn während ich spreche, können Sie es in seinem Gesichte lesen –, an dem auch Sie erfahren werden, was für eine Sorte Mensch er ist. Sie werden ihn kennenlernen, wie ich ihn kenne, und er weiß ganz gut, in welchem Lichte er mir erscheint. Er sich von mir lossagen! Schauen Sie ihn nur an, diesen Tugendbold, Pinch, und lassen Sie sich seinen Anblick zur Warnung dienen.«

Dabei deutete er mit unaussprechlicher Verachtung auf Mr. Pecksniff, drückte sich dann schnell den Hut auf den Kopf und verließ das Haus. Er ging so rasch, daß er bereits das Dorf im Rücken hatte, als er Tom Pinch in einiger Entfernung hinter sich atemlos seinen Namen rufen hörte:

»Nun, was gibt’s?« fragte er, als Tom ihn eingeholt hatte.

»Ach, du lieber Gott«, rief Tom, »Sie wollen fort?«

»Fort?« wiederholte Martin. »Natürlich fort.«

»Aber doch nicht jetzt – in diesem Unwetter – zu Fuß – ohne Kleider – ohne Geld!«

»Ja«, antwortete Martin finster.

»Und wohin?« fragte Tom. »Wohin wollen Sie Ihre Schritte lenken?« »Ich weiß es nicht. – Doch ja! Ich will nach Amerika.«

»Ach, tun Sie das nicht«, rief Tom schmerzlich betrübt. »Sie dürfen das nicht! Besinnen Sie sich eines Bessern! Seien Sie doch nicht so furchtbar rücksichtslos gegen sich selbst. Bitte, gehen Sie nicht nach Amerika!«

»Mein Entschluß steht fest«, erwiderte Martin. »Ihr Freund hatte recht. Ich gehe nach Amerika. Gott behüte Sie, Pinch!«

»So nehmen Sie wenigstens dies!« rief Tom und drückte Martin in großer Erregung ein Buch in die Hand. »Ich muß jetzt zurück und kann nicht alles sagen, was ich möchte. Gottes Segen sei mit Ihnen. Sehen Sie sich das Blatt an, das ich im Buch eingebogen habe. Und jetzt Gott befohlen! Gott befohlen!«

Dann drückte er ihm die Hand, und Tränen liefen ihm über die Wangen.

In der nächsten Sekunde eilte jeder der beiden jungen Leute in einer andern Richtung fort.

13. Kapitel


13. Kapitel

Was aus Martin wurde, nachdem er Mr. Pecksniffs Haus verlassen, welchen Personen er begegnete, was er alles auszustehen hatte und was er für Neuigkeiten erfuhr

Achtlos, bloß Tom Pinchs Buch unter dem Arm und nicht einmal zum Schutz gegen den heftigen Regen seinen Rock zuknöpfend, schritt Martin schnellen Schrittes finster vorwärts, bis er an dem Wegweiser vorbeikam und auf die nach London führende Landstraße gelangte. Aber auch jetzt mäßigte er seine Hast nur wenig, wenn er auch begann, ernster zu überlegen und umherzuschauen und sich aus dem Banne der ungestümen Leidenschaften loszumachen, die ihn bisher gefangen gehalten.

Weder physisch noch geistig hatte er Grund, sich besonders behaglich zu fühlen. Der Morgen graute; ein Streifen wässerigen Lichtes dämmerte am östlichen Himmel, und unfreundliche Wolken trieben einher und sandten einen dicken nassen Nebel herab.

Von jedem Zweig und Strauch in den Hecken träufelte der Regen, und kleine Gießbäche bildeten sich neben dem Weg. Hundert kleine Kanäle liefen auf der Straße nach abwärts, und auf der Oberfläche jedes Teiches und jeder Gosse bewegten sich zahllose Ringe. Schlammig klatschte es unter dem Gras, und jede Furche in den gepflügten Feldern verwandelte sich in ein schmutziges Bächlein. Nirgends war ein lebendes Wesen zu sehen. Wenn sich die ganze beseelte Natur in Wasser aufgelöst haben würde, hätte der Anblick kaum öder und trostloser sein können.

Ebenso unerfreulich wie die Landschaft waren auch die Betrachtungen und Gedanken des jungen einsamen Wanderers. Ohne Geld und ohne Freunde, aufs höchste gereizt und in seinem Stolz und seiner Eigenliebe aufs tiefste verletzt, voll von Entwürfen, Plänen und doch aller Mittel zu ihrer Verwirklichung bar, hätte ihm auch der rachsüchtigste Feind, in Anbetracht der Summe von Seelenleiden, die ihn jetzt erfüllten, verzeihen müssen. Dabei fühlte er sich noch bis auf die Haut durchnäßt und bis ins Mark erkältet. In diesem kläglichen Zustande erinnerte er sich an Mr. Pinchs Buch – mehr, weil ihm das Tragen etwas lästig fiel als weil er hoffte, aus dieser Abschiedsgabe sich Trostes erholen zu können. Er warf einen Blick auf den abgerissenen Titel auf dem Rücken des Buches, und als er fand, daß es ein Band von der französischen Ausgabe des Baccalaureus von Salamanka war, so verwünschte er Toms Torheit aufs heftigste und war schon im Begriff, in seinem Ärger und seiner üblen Laune das Geschenk wegzuwerfen, als ihm eben noch zu rechter Zeit einfiel, daß Pinch ihn auf ein eingebogenes Blatt aufmerksam gemacht hatte. Er schlug daher das Buch auf, darauf gefaßt, weitern Anlaß zum Grimm gegen den armen Mr. Pinch zu finden, der glauben konnte, irgendeine Phrase von der Weisheit des Baccalaureus könne ihm unter solchen Umständen Hilfe bringen – fand aber –

Allerdings war es nicht viel, was er fand, aber doch war es Toms ganze Habe: ein halber Sovereign. Tom hatte das Goldstück hastig in ein Stück Papier gewickelt und mit einer Stecknadel auf das Blatt geheftet. Auf der Innenseite der Umhüllung stand mit Bleistift geschrieben: Ich brauche es nicht und wüßte nicht, was damit anfangen. Toms hochherzige Handlungsweise machte auf Martin einen tiefen Eindruck. Die Folge davon war, daß er sich nach kurzer Frist wieder ein wenig von seiner Mutlosigkeit erholte und sich erinnerte, daß er denn doch nicht so ganz ohne Mittel sei, besaß er doch noch einen Vorrat von Kleidern, den er in Mr. Pecksniffs Hause zurückgelassen, und außerdem noch eine goldene Uhr. Nicht wenig schmeichelte ihm auch der Gedanke, was er für ein bestrickender Mensch sein müsse, da er einen so tiefen Eindruck auf Tom gemacht habe, und wieviel er diesem überlegen sei und wie leicht er seinen Weg in der Welt werde machen können. Von diesem Gedanken beseelt und durch den Plan, jetzt in einem fremden Lande sein Glück zu versuchen, ermutigt, entschloß er sich, sein Äußerstes daran zu setzen, um ohne Zeitverlust auf die bestmögliche Weise nach London zu gelangen, wo er, nach Sammlung seiner Hilfsquellen, weiter mit sich zu Rate gehen könne.

Er war jetzt zehn gute Meilen vorn Dorfe entfernt und kehrte daher in einem kleinen Bierhause am Wege ein, um ein Frühstück zu sich zu nehmen, sich am Feuer zu wärmen und seinen Rock zu trocknen. Freilich war es ein ganz anderer Ort als der Gasthof, in dem John Westlock ihn bewirtet hatte, und es war nicht mehr Bequemlichkeit darin zu finden als in einer gewöhnlichen Garküche. Aber die Not bricht Eisen. Und was er gestern noch verschmäht haben würde, wurde jetzt für ihn zu einem auserlesenen Dinner. Eier, Schinken, ein Krug Bier waren keineswegs eine so rauhe Kost, wie er gemeint hatte, sondern entsprachen vollkommen der Inschrift auf dem Fensterladen, die verkündete, daß gute Bewirtung für Reisende hier zu haben sei. Als er sich gestärkt, schob er seinen leeren Teller zurück, setzte einen zweiten Krug vor sich auf den Kamin und blickte gedankenvoll in die Kohlenglut, bis ihn die Augen schmerzten. Dann betrachtete er die buntfarbigen Bibelbilder an den Wänden, die in kleine schwarze Rasierspiegelrahmen eingerahmt waren, und erbaute sich daran, wie die Weisen aus dem Morgenland, die übrigens eine starke Familienähnlichkeit miteinander aufwiesen, vor einer rosenroten Krippe beteten und der verlorene Sohn in fleckenfarbigen Lumpen zu seinem purpurgewandigen Vater zurückkehrte, sich in Gedanken bereits an dem seegrünen Kalbe im Hintergrunde labend. Dann blickte er durch das Fenster auf den prasselnden Regen, der schräge über das Wirtshausschild gegen das Haus schlug und den Pferdetrog fast zum Überlaufen brachte. Dann blickte er wieder in das Feuer und träumte. Er hatte diesen Prozeß bereits zum soundsovielten Male wiederholt, als das Geräusch von Rädern seine Aufmerksamkeit von ihrer Richtung ab- und dem Fenster zulenkte. Er bemerkte jetzt draußen einen von vier Pferden gezogenen, gedeckten Korbwagen, der, soviel er unterscheiden konnte, mit Korn und Stroh beladen war. Der Fuhrmann, der einzige menschliche Begleiter des Gespannes, machte vor dem Hause halt, um seine Tiere zu tränken, und kam dann, stampfend und aus Rock und Hut die Nässe schüttelnd, in das Zimmer.

Es war ein rotbäckiger, stämmiger junger Bursche mit einem gutmütigen Gesicht, der auch in seiner Kleidung eine gewisse Schmuckheit bekundete. Als er an das Kaminfeuer trat, berührte er grüßend seine triefende Stirn mit dem Zeigefinger seines steifledernen Handschuhs und bemerkte etwas unnötigerweise, daß draußen ein ungemein nasser Tag sei.

»Sehr naß«, bestätigte Martin.

»Ein solches Wetter ist mir überhaupt noch nicht vorgekommen.«

»Und mir auch nicht«, sagte Martin.

Der Fuhrmann warf einen Blick auf Martins beschmutzten Anzug, seine feuchten Hemdärmel und seinen Rock, der zum Trocknen vor dem Kamin hing, und fragte nach einer Pause, sich die Hände wärmend:

»Hat Sie der Regen erwischt, Sir?«

»Ja«, war die kurze Antwort.

»Ausgeritten vielleicht?«

»Ich wäre ausgeritten, wenn ich ein Pferd hätte, aber ich habe keins«, erwiderte Martin.

»Das ist schlimm«, meinte der Kutscher.

»Es könnte noch schlimmer sein«, sagte Martin. – Dann steckte er die Hände in die Taschen und fing, um dadurch anzudeuten, daß er sich keinen Pfifferling um Fortunas Launen kümmere, an zu pfeifen. Ungefähr eine Minute lang sah der Kutscher ihn verstohlen an und pfiff ebenfalls, die Hände sich am Kaminfeuer wärmend. Dann fragte er und deutete mit dem Daumen auf die Straße hinaus:

»Geht’s hinauf oder hinunter?«

»Was ist hinauf?«

»Nach London, natürlich.«

»Also hinauf«, sagte Martin und warf gleichgültig den Kopf zurück, als wollte er sagen: Jetzt wissen Sie’s endlich, steckte die Hände noch tiefer in die Taschen, änderte die Melodie und pfiff etwas lauter.

»Ich fahre auch hinauf, Sir«, begann der Kutscher wieder. »Nach Hounslow zehn Meilen von hier nach London zu.«

»So?« rief Martin, hielt inne und sah den Mann an.

Der Kutscher spritzte ein paar Tropfen mit der nassen Hand ins Feuer, daß es zischte, und antwortete: »Ja, allerdings, ich fahre hinauf.«

»Hören Sie mal«, sagte Martin, »ich möchte gerne offen mit Ihnen reden. Sie schließen vielleicht nach meinen Kleidern, daß ich ziemlich viel Geld übrig habe. Das ist nun aber nicht so. Alles, was ich für eine Wagenfahrt bezahlen könnte, wäre eine Krone, da ich nicht mehr als zwei besitze. Wenn Sie mich für diesen Betrag und für meine Weste oder mein seidenes Halstuch da mitnehmen wollen, so ist’s mir recht. Wollen Sie nicht, so können Sie’s ja bleiben lassen.«

»Kurz und bündig«, bemerkte der Kutscher.

»Verlangen Sie mehr?« fragte Martin. »Ich habe nicht mehr und kann nicht mehr geben. Also hat der Handel ein Ende.« Dann fing er wieder an zu pfeifen.

»Habe ich denn gesagt, daß ich mehr will, was?« fragte der Kutscher ein wenig entrüstet.

»Sie haben aber auch nicht gesagt, daß Ihnen mein Anerbieten paßt«, erwiderte Martin.

»Ich könnt‘ es doch nicht. Sie ließen mich ja nicht zu Worte kommen. Was die Weste übrigens anbelangt, so würde ich nicht um alles in der Welt einen Gentleman seiner Weste berauben. Aber mit dem seidenen Tuch, das ist etwas anderes. Wenn Sie zufrieden sind, daß wir bis Hounslow fahren, nehme ich es als Geschenk an.«

»Also gut, dann wäre das Geschäft in Ordnung«, sagte Martin.

»Ja«, sagte auch der andere.

»Nun, dann trinken Sie dieses Bier hier aus.« – Martin reichte ihm den Krug und zog seinen Rock geschwind an. »Und dann können wir aufbrechen, wenn es Ihnen paßt.«

In weiteren zwei Minuten hatte er seine Rechnung, die einen Schilling betrug, bezahlt und sich der vollen Länge nach auf einem trockenen Strohbündel in dem Korbwagen ausgestreckt, dessen Plane vorn ein wenig geöffnet wurde, damit er sich auch mit seinem neuen Freunde unterhalten konnte. Dann ging es in herzhaftem Tempo vorwärts.

Der Fuhrmann hieß, wie Martin bald erfuhr, William Simmons, allgemein unter dem Namen »Bill« bekannt, und sein flottes Äußeres erklärte sich hinlänglich durch seine Verbindung mit einem großen Stellwagenetablissement in Hounslow, wohin er jetzt seine Ladung von einer Meierei in Wiltshire fuhr, die zu seinen Kundschaften gehörte. Er fuhr sehr häufig, wie er sagte, mit solchen Aufträgen die Landstraße auf und nieder und hatte dabei auch nach maroden oder kranken Pferden zu sehen, von denen er übrigens ein langes und breites zu erzählen wußte. Augenblicklich strebte er nach der Würde eines festangestellten Kutschers und sah in Bälde der ersehnten Beförderung entgegen. Außerdem war er musikalisch und trug ein kleines Klapphorn in der Tasche, auf dem er, sooft das Gespräch ins Stocken kam, die ersten paar Takte von einer Menge von Liedern spielte und dann ruckweise abbrach.

»Ach ja«, seufzte Bill, fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen und steckte sein Instrument in die Tasche, nachdem er zuvor das Mundstück abgeschraubt hatte, um die Röhre abtropfen zu lassen. »Da lobe ich mir Lummy Ned von den leichten Salisburywagen. – Ja, der war ein musikalisches Talent. Er war als Kondukteur bei der Post angestellt und versah seinen Dienst, daß die Leute nur so –«

»Ist er tot?« fragte Martin.

»Tot?« versetzte Bill mit verächtlichem Achselzucken. »Nein! Ned läßt sich nicht so leicht beim Sterben erwischen. Der hat was Besseres zu tun.«

»Sie haben aber von ihm in der Vergangenheit gesprochen«, meinte Martin, »und daher glaubte ich, daß er nicht mehr am Leben sei.«

»Ach so, deshalb!« rief Bill. »Nun, ich meinte, daß er nicht mehr in England sei. Er ist nach den Vereinigten Staaten ausgewandert.«

»So?« sagte Martin mit plötzlicher Teilnahme. »Wann?« »Vor fünf Jahren ungefähr. Er hatte in der Gegend hierherum eine Wirtschaft angefangen und konnte seinen Verbindlichkeiten nicht nachkommen. Deshalb brach er eines Tages, ohne ein Wörtchen davon verlauten zu lassen, nach Liverpool auf und schiffte sich nach den Vereinigten Staaten ein.«

»Nun, und?« fragte Martin.

»Nun, als er dort landete, ohne einen Penny für einen Schluck Bier, da war man natürlich gewaltig froh, ihn auf amerikanischem Grund und Boden begrüßen zu können.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Martin etwas verächtlich.

»Was ich damit sagen will? Nun, weiter nichts als das: in den Vereinigten Staaten sind alle Menschen gleich. Oder etwa nicht? Dort macht sich keiner den Teufel was daraus, ob einer tausend Pfund hat oder gar nichts. Besonders in New York soll’s so sein, wo Ned an Land ging.«

»In New York also«, brummte Martin gedankenvoll.

»Ja, in New York. Ich weiß das, weil er nach Hause schrieb, es habe ihn lebhaft an das alte York erinnert, weil es diesem in jeder Hinsicht – gänzlich unähnlich sei. Ich weiß nicht, auf was für besondere Geschäfte sich Ned verlegt hat, aber er schrieb nach Hause, daß er und seine Freunde immer Lieder von Columbia und dem Präsidenten, den sie demnächst aufzuhängen gedächten, sängen, und so glaube ich, es muß eine Staatswirtschaft oder sonst etwas Flottes gewesen sein. Aber sei es, wie’s will, jedenfalls hat er sein Glück gemacht.«

»Wirklich?«

»Jawohl, ich weiß es. Denn er verlor sein ganzes Vermögen wieder den Tag darauf in sechsundzwanzig Banken, die umgeschmissen haben. Sobald er sich darüber klar war, schickte er ein ganzes Pack Banknoten an seinen Vater und einen sehr kindlichen Brief dazu. Ich weiß das, weil man sie in unserm Hof drunten gegen ein kleines Eintrittsgeld zum Besten des alten Gentlemans zeigte, damit er sich im Armenhaus ein wenig Tabak kaufen könne.«

»Das war doch wirklich ein einfältiger Kerl, daß er nicht besser auf sein Geld achtgab, nachdem er sich einmal etwas erworben hatte«, sagte Martin unwillig.

»Da haben Sie ganz recht«, versetzte Bill, »besonders weil’s lauter Papier war und er sehr leicht darauf hätte achtgeben können, wenn er’s in ein kleines Päckchen zusammengebunden hätte.«

Martin sagte nichts, sondern schlief bald darauf ein und schlummerte ein paar Stunden. Als er erwachte, hatte der Regen aufgehört, weshalb er seinen Sitz neben Bill wieder einnahm und ihn ausfragte, wie lange der glückliche Kondukteur von den leichten Salisburywagen zur Überfahrt gebraucht, welche Jahreszeit er zur Reise gewählt, wie das Schiff, das er benützt, geheißen, wieviel Reisegeld er bezahlt und ob er viel unter der Seekrankheit gelitten habe und so weiter. Über alle diese Einzelheiten wußte jedoch Bill nur wenig oder gar keine Auskunft zu geben, denn er antwortete entweder augenscheinlich aufs Geratewohl, oder er gab zu, nie etwas davon gehört oder alles Nähere vergessen zu haben. Kurz, Martin konnte nichts Wesentliches erfahren, so angelegentlich er sich auch erkundigte.

Den ganzen Tag über holperten sie weiter und machten so oft halt – das eine Mal, um Erfrischungen einzunehmen, das andere Mal, um die Pferde oder das Geschirr zu wechseln, jetzt wegen dieser, dann wegen jener Geschäftsangelegenheit, die mit dem Postkutschenverkehr in Verbindung stand und so weiter –, daß es schließlich Mitternacht wurde, als sie Hounslow erreichten. In einiger Entfernung von den Ställen, die das Standquartier des Korbwagens waren, stieg Martin ab, zahlte seine Krone und drängte seinem wackern Freund das seidene Tuch auf, ungeachtet der vielen Beteuerungen desselben, daß er ihn nicht berauben wolle, wobei jedoch seine gierigen Blicke seine Worte Lügen straften. Als das abgetan war, trennten sie sich. Der Wagen fuhr in seinen Hof, und die Tore wurden zugemacht. Während Martin in der dunkeln Straße stehen blieb und sich vorkam wie einer, der ausgestoßen und verlassen ist von der ganzen Welt, ohne einen Schlüssel zu haben, das Tor zum Reiche des Glücks zu öffnen.

Aber auch in diesem Augenblicke der Zaghaftigkeit, und noch oft später, wirkte die Erinnerung an Mr. Pecksniff wie eine Labung auf ihn, und der in seiner Seele erwachende Unwille war gerade das beste Mittel, ihn zu hartnäckiger Ausdauer anzuspornen. Unter dem Einflüsse dieses feurigen Belebungsmittels brach er ohne weiteres nach London auf, und als er dort in tiefster Nacht anlangte und daher keine Herberge mehr offen fand, trieb er sich bis zum Morgen in den Straßen und auf den freien Plätzen umher.

Etwa eine Stunde vor Tagesgrauen gelangte er in die bescheideneren Regionen von Adelphi, redete dort einen Mann in einer Pelzmütze an, der eben die Läden einer armseligen Wirtsstube öffnete, und fragte ihn, da er fremd sei, ob er nicht ein Bett haben könne. Zum Glück antwortete der Mann bejahend. Martin fühlte sich überglücklich und dankte dem Himmel, als er in das freilich nichts weniger als prächtige, aber doch leidlich reine Lager kroch, um Wärme, Ruhe und Vergessenheit zu suchen.

Er erwachte erst gegen Abend, und als er sich gewaschen, angekleidet und etwas zu sich genommen hatte, war es bereits wieder dunkel geworden. Dies paßte ihm jedoch nur um so besser, als er sich jetzt in die unbedingte Notwendigkeit versetzt sah, seine Uhr zu irgendeinem Pfandleiher zu tragen, und zu einem solchen Zwecke sogar am längsten Tage des Jahres bis zum Einbruch der Nacht gewartet haben würde, und wenn er die Stunden auch ohne einen Bissen zu genießen hätte verbringen müssen. Er kam an mehr goldenen Bällen – den Aushängeschildern der Pfandleiher – vorüber, als wohl sämtliche Jongleure Europas seit dem Anbeginn ihrer technischen Tätigkeit zu ihren Gaukeleien verwendet hatten, ehe er sich zugunsten irgendeines besonderen Ladens, wo wiederum derartige Symbole ausgehängt waren, entschied. Dann kehrte er zu einem der ersten, die er gesehen, zurück, trat durch eine Nebentüre des Hofes ein, wo die drei Kugeln mit der Inschrift »Geld auszuleihen« in gespenstigem Transparent sich wiederholten, und traf auf eine Reihe kleinerer Verschläge oder Privatlogen, die zur Bedienung der verschämteren und weniger abgebrühten Kunden bestimmt waren. Nachdem er sich in einen derselben hineingeschlichen, zog er seine Uhr heraus und legte sie auf den Ladentisch.

»Auf Ehr und Seligkeit«, hörte er eine Stimme in der nächsten Abteilung offenbar zu dem Ladenbesitzer sagen, »Sie müssen mehr geben. Sie müssen eine Kleinigkeit mehr geben, wahrhaftig. Sie müssen eine halbe Viertelunze Zuwaage geben, wenn Sie mit Ihrem Pfund Fleisch herausrücken, bester Freund, und zwei Schillinge sechs Pence daraus machen.« Martin fuhr unwillkürlich zusammen, denn die Stimme kam ihm bekannt vor.

»Sie haben immer das Maul voll Unsinn«, schimpfte der Pfandleiher, rollte das Paket, es schien ein Hemd zu sein, auf und probierte seine Feder auf dem Rechentisch.

»Soll ich’s vielleicht voll Gold haben, wenn ich zu Ihnen komme«, lachte Mr. Tigg. »Ha, ha; auch eine Idee. Machen Sie’s rund; zwei und sechs, lieber Freund, nur dieses eine Mal noch. Eine halbe Krone ist ein recht hübsches Geldstück – zwei und sechs! Wer gibt mehr? Zwei und sechs. Zum ersten, zum zweiten und zum –«

»Bevor ich sage ›zum dritten‹«, brummte der Pfandleiher, »können Sie lange warten. Das Ding ist schon ganz grau vom Tragen.«

»Sein Herr ist grau geworden im Dienst eines undankbaren Vaterlandes! Also, Sie machen zwei und sechs daraus, denke ich.«

»Ich gebe nicht mehr darauf«, entgegnete der Ladeninhaber, »als ich immer gebe, nämlich zwei Schilling. – Derselbe Name wie gewöhnlich, nicht wahr?«

»Derselbe Name«, sagte Mr. Tigg. »Mein Anrecht auf den erloschenen Pairstitel ist vom Oberhaus noch immer nicht bestätigt.«

»Die alte Adresse?« »Nein, nein. Ich habe mein Hotel von der City von Nummer achtunddreißig, Mayfair, auf Nummer eintausendfünfhundertzweiundvierzig, Park Lane, verlegt.«

»Sie werden doch nicht verlangen, daß ich das aufschreiben soll, was?« sagte der Mann lachend.

»Schreiben Sie auf, was Sie wollen, mein Freund«, entgegnete Mr. Tigg. »Die Tatsache steht nun doch einmal fest. Die Gelasse für den Unterkellermeister und den fünften Lakaien waren in Nummer achtunddreißig in Mayfair von ganz verwünscht schlechter Beschaffenheit, und ich sah mich deshalb genötigt, mit Rücksicht auf meine verwöhnte Dienerschaft das elegante und bequeme Gebäude Nummer eintausendfünfhundertzweiundvierzig, Park Lane, zu mieten. Also geben Sie drei Schillinge und sechs Pence her und besuchen sie mich mal gelegentlich.«

Der Pfandleiher fühlte sich durch diese humorvollen Ergüsse so erbaut, daß sogar Mr. Tigg selbst einen Ausbruch schnurrigen Behagens nicht unterdrücken konnte. Seine fröhliche Stimmung erweckte in ihm schließlich sogar den Wunsch nachzusehen, ob der Kunde im nächsten Verschlag seinen Witz auch wirklich gehört habe, und um sich davon zu überzeugen, guckte er um die Scheidewand herum und erkannte im nächsten Augenblick bei der Beleuchtung der Gaslampe Martin.

»Hol mich der Teufel«, rief er aus und reckte den Kopf vor. »Das ist doch das erstaunlichste Zusammentreffen, das jemals in der alten oder neuen Geschichte passiert ist. Wie geht’s Ihnen? Was bringen Sie für Neuigkeiten aus den ackerbauenden Distrikten? Was machen unsere Freunde, die Pecksniffs? Ha, ha, ha. David, schenken Sie doch auf der Stelle diesem Gentleman, der ein guter Freund von mir ist, ihre ganz besondere Aufmerksamkeit.«

»Da! Wollen Sie vielleicht die Güte haben, mir auf dieses Pfand hier so viel wie möglich zu borgen?« sagte Martin und händigte dem Pfandverleiher seine Uhr aus. »Ich brauche dringend Geld.«

»Er braucht dringend Geld!« rief Mr. Tigg voll Mitgefühl. »Haben Sie die Güte, Ihr Alleräußerstes für meinen Freund zu tun. Sie hören, er braucht dringend Geld. Bedienen Sie meinen Freund, als ob ich’s selbst wäre. Eine goldene Uhr, David! Zylinderwerk, geht auf vier Rubinen, englische Aufhängung, horizontale Balanciere, und für richtigen Gang garantiere ich mit meinem Ehrenwort, da ich Gelegenheit hatte, das Werk jahrelang und unter den heikelsten Umständen zu beobachten.« Dabei blinzelte er Martin zu, um ihm bemerklich zu machen, daß diese Empfehlung einen bedeutenden Einfluß auf den Pfandleiher ausüben werde. »Nun, was haben Sie meinem Freunde zu sagen, David? Geben Sie sich alle erdenkliche Mühe, sich bei dieser neuen Kundschaft gut einzuführen.«

»Wenn’s Ihnen recht ist, so kann ich Ihnen auf die Uhr drei Pfund borgen«, wendete sich der Pfandleiher in familiärem Ton zu Martin. »Sie ist sehr altmodisch, und ich kann deshalb nicht mehr geben.«

»Nun, das lasse ich mir gefallen«, rief Mr. Tigg. »Zwei Pfund zwölf Schillinge sechs Pence für die Uhr, und sieben Schillinge sechs Pence aus persönlichen Rücksichten. – Wirklich, ich freue mich sehr darüber. Es mag eine Schwäche von mir sein, aber ich kann nicht anders – drei Pfund sind gut – wir nehmen sie. Der Name meines Freundes ist Smivey: Chicken Smivey in Holborn, Nummer sechsundzwanzigeinhalb B, Aftermieter.« Dabei blinzelte er Martin zu, um ihm zu bedeuten, daß jetzt alle vom Gesetz vorgeschriebenen Zeremonien beendigt seien und er weiter nichts zu tun habe, als das Geld einzustecken.

Es stellte sich heraus, daß er nicht falsch prophezeit hatte, denn Martin, dem keine andere Wahl blieb, als zu nehmen, was ihm geboten wurde, drückte seine Zustimmung durch ein Nicken mit dem Kopfe aus, worauf sofort das Geld auf den Tisch hingezählt wurde. An der Türe schloß sich ihm Mr. Tigg an, faßte ihn am Arme, begleitete ihn auf die Straße hinaus und gratulierte ihm zu dem erfolgreichen Ausgang des Geschäftes.

»Danken Sie mir nicht lange wegen meiner Verwendung«, sagte er, »Sie wissen, ich kann dergleichen nicht leiden.«

»Glauben Sie vielleicht, es wäre mir so etwas auch nur im entferntesten in den Sinn gekommen?« sagte Martin, blieb stehen und machte sich los.

»Sie sind sehr gütig«, lachte Mr. Tigg, »ich danke Ihnen.« »Ich dächte, Sir«, sagte Martin und biß sich auf die Lippen, »die Stadt ist ziemlich groß, und wir könnten ganz gut verschiedene Wege einschlagen. Wenn Sie mir angeben wollen, wohin sie der Ihrige führt, so kann ich ja den entgegengesetzten einschlagen.«

Mr. Tigg öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Martin kam ihm zuvor.

»Nach dem, was sie soeben gesehen haben, brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen, daß ich nicht in der Lage bin, etwas für Ihren Freund, Mr. Slyme, tun zu können. Auch halte ich es für ebenso unnötig, Ihnen zu versichern, daß ich die Ehre Ihrer Gesellschaft gerne entbehre.«

»Halt!« rief Mr. Tigg und streckte die Hand aus. »Halt! Es gibt ein sehr merkwürdiges, altersgraues, sehr wahres Sprichwort, das behauptet, es sei die Pflicht des Menschen, zuerst gerecht und dann erst großmütig zu sein. Seien Sie jetzt das erstere – zu dem anderen werden Sie gleich Gelegenheit haben. Bitte, bringen Sie mich nicht in Verbindung mit dem Subjekt Slyme, beehren Sie das Subjekt Slyme nicht mit der Auszeichnung, es wäre mein Freund; denn das ist durchaus nicht der Fall. Ich habe mich genötigt gesehen, Sir, den Menschen fallenzulassen, den Sie Slyme nennen. Ich weiß durchaus nichts von der Person, die Sie Slyme nennen. Ich bin, Sir«, setzte Mr. Tigg hinzu und schlug sich auf die Brust, »ich bin eine preisgekrönte Orchidee von einer ganz anderen Kultur und ganz verschiedener Abstammung und habe nichts gemein mit dem Kohlstrunk Slyme, Sir.«

»Das alles ist mir sehr gleichgültig«, versetzte Martin kalt. »Es ist mir auch völlig egal, ob Sie jetzt auf eigene Rechnung vagabundieren oder das Geschäft noch in Kompanie mit Mr. Slyme führen. Kurz und gut, ich wünsche keinen Verkehr mit Ihnen. – In Teufelsnamen, Mensch«, setzte er hinzu, konnte aber trotz seines Ärgers ein Lächeln nicht unterdrücken, als er Mr. Tigg mit dem Rücken gegen den Fensterladen lehnen und sich mit Seelenruhe seinen Scheitel frisieren sah. »Wollen Sie dorthin gehen oder diesen Weg hier einschlagen?«

»Erlauben Sie mir gefälligst, Sie daran zu erinnern, Sir«, sagte Mr. Tigg mit großer Würde, »daß Sie – nicht ich – daß Sie –, ich wiederhole es noch einmal: daß Sie – meine Vermittlung in Ihren Angelegenheiten zu einer kalten und entfremdenden Geschäftssache machen, während ich geneigt war, sie im Lichte einer freundschaftlichen Bemühung zu betrachten. Wie übrigens jetzt die Sachen stehen, Sir, erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich wegen der geringen Dienste, die ich Ihnen bei dem Geldgeschäft heute abend geleistet, eine Kleinigkeit erwarte, um sie einem wohltätigen Zwecke zuzuwenden. Nach der Art und Weise, wie Sie mit mir gesprochen haben«, schloß Mr. Tigg, »würde ich es nicht als Beleidigung betrachten, wenn Sie mir gefälligst eine Krone anbieten wollten.«

Martin zog ein solches Geldstück aus der Tasche und warf es dem Gentleman zu. Mr. Tigg fing es auf, betrachtete es genau, um sich von seiner Echtheit zu überzeugen, ließ es auf seiner Hand wie einen Kreisel tanzen und begrub es dann in seiner Tasche. Schließlich lüftete er mit militärischem Anstand seinen Hut um ein paar Zoll, sann gravitätisch nach, für welche Richtung er sich entscheiden und welchen Grafen oder Marquis von seinen Freunden er zunächst mit seinem Besuche beehren solle, steckte die Hände in seine Rocktaschen und stolzierte davon. Martin schlug die entgegengesetzte Richtung ein.

Der ganze stattgefundene Vorgang hatte etwas Demütigendes für ihn, und er verwünschte immer wieder und wieder das Mißgeschick, mit diesem Menschen in dem Laden des Pfandleihers zusammengetroffen zu sein. Immerhin gereichte es ihm zum Tröste, daß Mr. Tigg selbst zugestanden hatte, die Verbindung zwischen ihm und Slyme habe aufgehört. Dadurch wurde wenigstens, wie Martin folgerte, verhindert, daß seine drückende Lage irgendeinem Mitgliede seiner Familie bekannt wurde. Schon der Gedanke an diese Möglichkeit einer solchen Bloßstellung verletzte seinen Stolz und erfüllte ihn mit Scham. Allerdings war genügend Grund vorhanden, in was immer für Erklärungen Mr. Tiggs das größte Mißtrauen zu setzen und ihnen auch nicht den mindesten Glauben zu schenken. Wenn sich aber Martin daran erinnerte, auf welchem Fuße dieser Gentleman mit seinem Freunde gestanden hatte und wie wahrscheinlich es war, daß er ein von Mr. Slyme unabhängiges Geschäft eröffnet habe, kam ihm die Aussage des Ehrenmannes immerhin plausibel vor; wenigstens hoffte er, es möchte der Fall sein, und das war vorderhand genügend.

Sobald er sich mit dem nötigen Geld, wie bereits erzählt, für seine augenblicklichen Bedürfnisse versehen hatte, war sein erster Schritt, seine Schlafstelle in dem Wirtshaus bis auf weitere Kündigung zu mieten und ein förmliches Schreiben an Tom Pinch abzusenden – er wußte genau, daß es Mr. Pecksniff lesen würde –, worin er ihn ersuchte, ihm mit der nächsten Londoner Post seine Kleider zu schicken, zugleich aber der Adresse die Weisung beifügte, daß sie auf dem Postbureau liegen bleiben sollten, bis sie abgeholt würden. Nachdem er diese Maßregeln getroffen, verbrachte er die Zeit bis zur Ankunft seines Gepäckes – nämlich drei Tage – mit Nachfragen wegen der Überfahrtsbedingungen nach Amerika. Er hoffte, es könne sich ihm bei dieser Gelegenheit die Möglichkeit irgendeiner kleinen Stelle an Bord bieten. Als er jedoch fand, daß sich etwas dieser Art nicht von selbst präsentierte, und die Folgen weiteren Zeitverlustes fürchtete, so brachte er sein Anliegen in Form einer kurzen Annonce zu Papier, die er in ein paar der gelesensten Zeitungen einrücken ließ. Bis die zwanzig oder dreißig Anfragen, die, wie er meinte, nicht ausbleiben könnten, einlaufen würden, traf er unter seiner Garderobe eine engere Wahl und trug das übrige in den Laden des Pfandverleihers, um es in klingende Münze umzusetzen.

Dabei fiel ihm auf, wie rasch und doch fast unmerklich er Feingefühl und Selbstachtung verlor. Was ihn noch vor ein paar Tagen bis ins tiefste Innere mit Scham erfüllt hätte, betrieb er bald mit so wenig Bedenken, als wenn es sich ganz von selbst verstünde. Als er das erstemal den Pfandleiher besucht hatte, war es ihm auf seinem Wege vorgekommen, als sähen ihm alle Vorübergehenden forschend in die Augen, wohin er ginge. Auf dem Rückwege schien es, als mache der ganze Menschenstrom vor ihm halt und wiche ihm aus, genau wissend, woher er komme. Und jetzt? Das Urteil der Leute war ihm mit einem Male vollständig gleichgültig geworden! Bei seinen ersten Wanderungen durch die langweiligen Straßen hatte er sich gestellt, als verfolge er einen ganz bestimmten Zweck, jetzt aber verfiel er bald in den bummligen Gang eines gedankenlosen Pflastertreters, der, an einem Strohhalm kauend, um die Straßenecken schlendert und wohl fünfzigmal des Tages an demselben Ort hin und her geht, teilnahmslos und geistesabwesend immer in dieselben Fensterläden guckend. Anfangs verließ er seine Wohnung mit einem unruhigen Gefühl, weil er sich scheute, auch nur von den zufällig Vorübergehenden, die er nie zuvor gesehen hatte und auch wohl nie wieder zu sehen bekommen würde, bemerkt zu werden. – Es berührte ihn peinlich, am Morgen aus einem Wirtshaus zu kommen, aber jetzt machte er sich nichts mehr daraus, sogar vor der Türe herumzulungern oder sich nachlässig neben dem Gestell zu sonnen, das von oben bis unten mit hölzernen Nägeln besteckt war, an denen die Bierkannen wie Früchte eines Zinnbaumes hingen. Und doch hatte es kaum fünf Wochen gebraucht, bis er die unterste Sprosse dieser langen Leiter erreicht hatte.

Fünf Wochen! Von all den zwanzig oder dreißig Anfragen, die er erhofft, war auch nicht eine einzige eingelaufen. Sein Geld – und selbst der Zuschuß, den er sich durch Veräußerung seiner entbehrlichen Kleidungsstücke verschafft hatte, freilich war es nicht viel, denn Kleider sind bekanntlich teuer zu kaufen, aber fast wertlos im Leihamt – schwand rasch dahin. Was sollte er beginnen? Manchmal überkam ihn eine Art Verzweiflung, und dann stürzte er wieder fort, obgleich er eben erst nach Hause gekommen war, um nach demselben Platz, den er schon zwanzigmal besucht, zurückzukehren, um einen neuen Versuch zu machen; aber alles war vergebens. Er war um vieles zu alt für einen Kajütenjungen und viel zu unerfahren, um auch nur als gewöhnlicher Matrose angenommen zu werden. Auch sein Anzug und sein ganzes übriges Äußeres stand seinen Anerbietungen, sich den niedrigsten Diensten zu unterziehen, hinderlich im Wege. Und doch durfte er nichts unversucht lassen, langte doch alles, was er besaß, nicht hin, um auch nur im Zwischendeck Amerika erreichen zu können.

Es ist bezeichnend für den menschlichen Geist, daß Martin die ganze Zeit über keinen Augenblick zweifelte und sogar felsenfest davon überzeugt war, er würde in der neuen Welt die großartigsten Dinge zur Ausführung bringen können, wenn er nur einmal drüben wäre. In demselben Maße, in dem er von Tag zu Tag kleinmütiger in England wurde, und die Möglichkeiten, sich Mittel zu verschaffen, um nach Amerika zu kommen, immer mehr und mehr schwanden, desto tiefer lebte er sich in die Überzeugung hinein, drüben sei der einzige Ort, wo er sein hohes Ziel erreichen könne. Ununterbrochen quälte er sich mit dem Gedanken ab, es könnten in der Zwischenzeit Leute hinübergehen, die ihm in der Ausführung aller seiner Pläne, die seinem Herzen so teuer waren, zuvorkämen. Oft dachte er an John Westlock und sah sich nach ihm bei allen Gelegenheiten um, durchwanderte sogar London drei Tage lang ausdrücklich in der Absicht, ihm zu begegnen. Wenn ihm dies auch nicht glückte, so wäre er doch nicht im geringsten davor zurückgeschreckt, sich von ihm Geld auszuborgen, was ihm Westlock ohne Zweifel auch sofort geliehen haben würde. Aber andererseits konnte er es doch nicht über sich gewinnen, an Pinch zu schreiben und ihn zu fragen, wo sein Freund zu finden sei. Allerdings hatte er Tom ziemlich gern, aber das Bewußtsein seiner eigenen Überlegenheit erlaubte es ihm nicht, einen Menschen, dem er nichts weiter als ein Gönner sein wollte, zum Ausgangspunkt seines Glückes zu machen. Schon der Gedanke daran verletzte seinen Stolz aufs tiefste.

Wahrscheinlich würde er schließlich doch nachgegeben haben und hätte es ohne Zweifel auch bald müssen, wenn nicht ein sehr sonderbares und unvorhergesehenes Ereignis eingetreten wäre.

Nach Ablauf der genannten fünf Wochen befand er sich in einer wahrhaft verzweifelten Lage. Als er eines Abends nach seiner Wohnung zurückkehrte, sich betrübt nach seiner Schlafkammer hinaufschlich und eine Kerze an der Gasflamme im Schenkstübchen anzünden wollte, hörte er den Wirt seinen Namen nennen. Da er ihn stets verschwiegen hatte, so stutzte er daher nicht wenig, und seine Verwirrung war so augenfällig, daß der Wirt ihn mit der Bemerkung zu beruhigen für nötig hielt: es sei nur von einem Briefe die Rede.

»Von einem Briefe!« rief Martin.

»An Mr. Martin Chuzzlewit«, erklärte der Wirt und las die Adresse eines Schreibens, das er in der Hand hielt, ab. »Abgestempelt nachmittags, Hauptpostamt, franko.«

Martin nahm das Kuvert entgegen, bedankte sich und ging die Treppe hinauf. Der Umschlag war nur mit einer Oblate zugeklebt und die Handschrift ihm gänzlich unbekannt. Er öffnete das Schreiben und fand darin – ohne Namen, Adresse oder sonstigen Aufschluß – eine Note der englischen Bank im Betrag von zwanzig Pfund.

Vor Erstaunen und Entzücken fast versteinert, eilte er sogleich in die Wirtsstube hinunter, um sich zu überzeugen, ob die Note auch echt sei, und dann wieder mit größter Hast hinaufzustürmen, um sich wohl zum fünfzigsten Male zu überzeugen, ob nicht doch irgendwo eine kleine Notiz angebracht sei oder eine Zeile sich vorfinde. Vor lauter Mutmaßungen wurde er schließlich fast närrisch, konnte aber am Ende doch weiter nichts herausbringen, als daß die Note wirklich da und er plötzlich ein reicher Mann geworden war. Dann kam er zu dem Schlusse, es sich vorderhand wieder einmal bei einem guten, aber frugalen Mahle auf seinem Zimmer wohl sein zu lassen, befahl zu diesem Zwecke ein Kaminfeuer anzuzünden und begab sich auf den Weg, um etwas einzukaufen.

Er suchte sich ein paar Schnitten kaltes Ochsenfleisch, Schinken, französisches Brot und Butter aus und kehrte gleich darauf mit ziemlich schwer beladenen Taschen wieder heim. Wenig erfreulich für ihn war, daß er sein Zimmer voll Rauch fand, was davon herrührte, daß die Abzugsröhren fehlerhaft konstruiert waren und man überdies beim Einheizen vergessen hatte, ein paar Säcke und andere Kleinigkeiten wegzunehmen, die in der Röhre gelegen hatten. Doch war das Versehen bereits wiedergutgemacht und das Fenster durch ein vorgelegtes Holzscheit zum Offenbleiben gezwungen worden, so daß es in Bälde in der Stube ziemlich behaglich war, von ein bißchen Augenbeißen und Husten vielleicht abgesehen.

Martin war nicht in der Stimmung, sich über diese Mißhelligkeiten zu beklagen, selbst wenn sie noch unerträglicher gewesen wären, besonders da eine glänzende Flasche Porter auf dem Tische stand. Als sich das Dienstmädchen entfernen wollte, erteilte er ihr noch die besondere Weisung, etwas Heißes herzurichten, damit er es haben könne, sobald er klingle. Da der kalte Braten in einen Theaterzettel eingewickelt war, bediente er sich dieses Papiers als Tafeltuch, legte es mit der bedruckten Seite nach unten auf den kleinen runden Tisch und ordnete sein Mahl darauf. Der untere Teil der Bettstatt vertrat, da sie dicht an den Kamin stieß, die Stelle eines Serviertisches, und als diese Vorbereitungen beendigt waren, schob Martin einen alten Lehnsessel in die wärmste Kaminecke, um sodann behaglich darauf Platz zu nehmen.

Er hatte soeben mit großem Appetit zu essen angefangen und sah sich dabei mit der triumphierenden Vorahnung in dem Stübchen um, daß er es am nächsten Tage wohl für immer verlassen werde, als seine Aufmerksamkeit durch einen leisen Schritt auf der Treppe draußen erregt wurde. Gleich darauf ertönte ein Klopfen an der Türe, und zwar so leise, daß das Holzscheit im Fenster aufs lebhafteste darüber erschrak und auf die Straße hinunterfiel.

»Aha, Kohlen kommen«, murmelte Martin. »Herein!«

»Ich bin so frei, Sir«, versetzte eine Mannesstimme. »Ihr Diener, Sir!«

Martin starrte das Gesicht an, das sich jetzt auf der Schwelle verbeugte. Er erinnerte sich der Züge und des Ausdrucks vollkommen, hatte aber ganz und gar vergessen, wem sie angehörten.

»Ich heiße Tapley, Sir«, sagte der Besucher, »ich bin derselbe, der früher im Drachen bedienstet war und fort mußte, weil es ihm an Anlaß zur nötigen Fröhlichkeit fehlte.«

»Aha! Richtig!« rief Martin. »Ich bitte Sie, wie kommen Sie hierher?«

»Durch den Vorplatz und die Treppe herauf, Sir«, entgegnete Mark.

»Nein, ich meine, wie Sie mich aufgefunden haben?«

»Nun, Sir«, antwortete Mark, »es kam mir so vor, als ob ich Sie ein paarmal auf der Straße gesehen hätte. Und als ich vorhin mit so hungrigem Magen, daß man ganz gut heiter dabei sein kann, in die Bude des Garkochs drüben hineinschaute, bemerkte ich, daß Sie drin Einkäufe machten.«

Martin errötete, als Mr. Tapley auf den Tisch deutete, und fragte etwas hastig:

»Und was weiter?« »Nun, Sir, und da nahm ich mir die Freiheit, Ihnen nachzugehen. Und da ich drunten sagte, Sie erwarteten mich, so ließ man mich herauf.«

»Haben Sie mir etwas auszurichten, weil Sie angaben, daß Sie von mir erwartet würden?« fragte Martin.

»Nein, Sir, das gerade nicht, ich sagte es nur so. Es war ein frommer Betrug, weiter nichts.«

Martin warf Mark einen ärgerlichen Blick zu. Es lag jedoch eine solche Heiterkeit in dem ganzen Auftreten des jungen Mannes, die nicht die Spur von Aufdringlichkeit oder Familiarität an sich hatte, daß es ihn vollkommen entwaffnete. Außerdem hatte er viele Wochen lang ein sehr einsames Leben geführt, und die bekannte Stimme klang angenehm in seinem Ohr.

»Tapley«, sagte er, »ich will offen gegen Sie sein. Nach alledem, was ich sehe und von Pinch über Sie gehört habe, sind Sie offenbar kein Mensch, den bloße unverschämte Neugierde oder ein ähnlicher Beweggrund hierherführt. Setzen Sie sich, es freut mich, Sie zu sehen.«

»Danke, Sir«, versetzte Mark, »ich möchte aber doch lieber stehen.«

»Wenn Sie nicht Platz nehmen wollen, so spreche ich überhaupt nicht mit Ihnen«, entgegnete Martin.

»Also gut, Sir, Ihr Wunsch ist mir Befehl. Also hier bin ich.«

Mit diesen Worten setzte sich Mark auf die Bettstelle.

»Greifen Sie zu«, lud ihn Martin ein und reichte ihm sein einziges Messer hin.

»Danke, Sir«, lehnte Mr. Tapley ab, »bis Sie fertig sind.«

»Wenn Sie jetzt nicht wollen, so kriegen Sie gar nichts.«

»Also gut, Sir«, versetzte Mark, »wenn Sie’s denn durchaus haben wollen.«

Damit langte er herzhaft zu und ließ sich’s gut schmecken. Nachdem Martin während eines kurzen Schweigens das gleiche getan, fragte er plötzlich:

»Was treiben Sie in London?«

»Nichts, Sir.«

»Wieso nichts?«

»Ich bin stellenlos.« »Das tut mir Ihretwegen leid«, sagte Martin.

»Ich möchte gern eine Dienerstelle bei einem ledigen Herrn annehmen«, nahm Mark seine Rede wieder auf. »Geht er ins Ausland, um so besser, denn ich möchte mir gern die Welt ein bißchen ansehen. Auf Lohn lege ich kein besonderes Gewicht.«

Er sagte dies in so bedeutungsvollem Tone, daß Martin im Essen innehielt und sagte:

»Wenn Sie mich meinen –«

»Ja, Sie meine ich, Sir.«

»– so können Sie schon aus der Art und Weise, wie ich hier lebe, schließen, daß ich nicht die Mittel besitze, mir einen Bedienten zu halten. Außerdem reise ich demnächst nach Amerika.«

»Ei, Sir«, erwiderte Mark, ohne sich dadurch abschrecken zu lassen, »nach allem, was ich hörte, möchte ich wohl glauben, daß Amerika ganz der Ort danach wäre, wo ein Mensch wie ich fidel sein kann.«

Abermals blickte ihn Martin ärgerlich an, aber wieder machte sein Verdruß unwillkürlich einem Lächeln Platz.

»Gott behüte, Sir«, rief Mark, »was hilft’s da, Verstecken zu spielen und um die Sache herumzugehen wie die Katze um den heißen Brei, wenn man mit ein paar Worten ins reine kommen kann. Ich habe Sie seit vierzehn Tagen nicht aus dem Gesicht verloren und wohl gemerkt, daß in Ihren Angelegenheiten irgendeine Schraube los sein muß. Auch dachte ich mir schon, als ich Sie das erstemal im Drachen drunten sah, daß es früher oder später so kommen müsse. Nun, Sir, hier bin ich, und zwar ohne Stelle. Fürs nächste Jahr brauche ich auch keinen Lohn, denn ich habe mir im Drachen etwas erspart – ich wollte es zwar nicht, aber es ging eben nicht anders –, und wenn’s wo ein bißchen drunter und drüber geht, so freut mich das nur um so mehr. Sie gefallen mir, und ich möchte gern meinen Mann stellen unter Umständen, wo andere Leute niedergeschlagen sein würden. Wollen Sie mich also nehmen oder fortschicken?«

»Aber wie kann ich Sie denn nehmen?«

»Wenn ich sage ›nehmen‹«, versetzte Mark, »so verstehe ich darunter, mich gehen zu lassen, und unter ›gehen lassen‹ verstehe ich, Sie sollen mich mit Ihnen gehen lassen – denn gehen will ich, wohin es auch sei. Da Sie gerade von Amerika sprechen, so sehe ich mit einemmal klar, daß dies ganz der Ort ist, wo man wirklich fidel sein kann, und wenn ich meine Fahrt in dem Schiff, in dem Sie fahren, nicht zahlen darf, Sir, so zahle ich sie eben in einem andern. Denken Sie an meine Worte: wenn ich allein fahre, so wird es meinem Grundsatze getreu in dem morschesten, gebrechlichsten und elendesten Kasten geschehen, in dem man für Geld oder gute Worte einen Platz kriegen kann. Wenn ich dann auf meiner Reise zugrunde gehe, so haben Sie mich auf dem Gewissen; und verlassen Sie sich darauf, ich werde dann als Gespenst Nacht für Nacht mit Doppelschlägen an Ihre Türe klopfen.«

»Das ist doch Narrheit«, sagte Martin unwirsch.

»Also gut, Sir«, entgegnete Mark. »Freut mich, das zu hören, und wenn Sie mich nicht mitgehen lassen, so wird es vielleicht um so tröstlicher für Sie sein, daß Sie diese Meinung von der Sache gehabt haben. Ich widerspreche nicht gern einem Gentleman, aber das eine sag ich Ihnen, wenn ich dann nicht in der miserabelsten Nußschale, wie nur je eine aus dem Hafen schwamm, nach Amerika auswandere, so will ich – –«

»Das kann Ihnen aber doch unmöglich ernst sein«, versetzte Martin. – »Mein vollkommener Ernst«, versicherte Mark.

»Nein, nein, ich kenne Sie besser«, lachte Martin.

»Also gut, Sir«, sagte Mark wieder mit sehr entschiedener Miene. »Lassen wir’s, wie’s ist, und geben Sie acht, wie’s ausfallen wird. Meiner Seel, das einzige Bedenken, das ich dabei habe, besteht darin, ob’s nicht am Ende selbstsüchtig von mir ist, mich Ihnen aufzudrängen; denn einem Gentleman wie Ihnen muß es natürlich drüben so leichtfallen, seinen Weg zu machen, wie einem Bohrer, wenn er auf Tannenholz stößt.«

Damit berührte er Martins schwache Seite, der denn auch sofort nachgab und sich des Gefühls nicht erwehren konnte, was dieser Mark doch für ein munterer Bursche sei und wie wohl ihm in dieser schwermütigen Atmosphäre seine Fröhlichkeit bereits getan habe.

»Nun allerdings, Mark«, gab er zu, »ich würde die Reise nicht unternehmen, wenn ich nicht die Hoffnung hätte, daß es mir drüben gutgehen wird. Ich habe vielleicht Eigenschaften, die mir bei meinem Fortkommen gut zustatten kommen werden.«

»Natürlich haben Sie die«, entgegnete Mr. Tapley. »jeder Mensch weiß das.«

»Sie sehen«, fuhr Martin fort, stützte sein Kinn auf die Hand und blickte in die Kohlenglut, »gute Baumeister für Wohnungen müssen in jedem Lande sehr gesucht sein. Gar erst in Amerika, wo die Leute ohne Unterlaß ihren Aufenthalt ändern und sozusagen nomadisieren. Es ist klar, daß sie dann doch Häuser haben müssen, um darin zu wohnen.«

»Das glaube ich auch, Sir«, bemerkte Mark, »und gerade, wo die Sachen so stehen, muß sich einem Baumeister die allergünstigste Gelegenheit bieten, von der ich nur je habe reden hören.«

Martin blickte ihn forschend an und konnte sich des Argwohns nicht erwehren, daß diese Bemerkung einen Zweifel an dem glücklichen Erfolge seiner Pläne verbergen solle. Indessen beruhigte er sich wieder, als er sah, daß Mr. Tapley mit dem gutmütigsten Gesicht von der Welt an dem Fleisch und Brot fortarbeitete. Bald stieg ihm jedoch noch ein Bedenken auf. Er zog das Kuvert hervor, in dem die Geldnote eingeschlossen gewesen, hielt es Mark hin und faßte ihn dabei fest ins Auge.

»Sagen Sie mir die Wahrheit! Wissen Sie etwas davon?«

Mark drehte den Brief um und um, betrachtete ihn von allen Seiten, hielt die Aufschrift bald gerade, bald verkehrt und schüttelte schließlich mit einem so unbefangenen Ausdruck des Erstaunens über diese Frage den Kopf, daß Martin das Kuvert wieder zurücknahm und sagte:

»Gut, ich sehe schon, Sie wissen nichts davon. Übrigens, wie sollten Sie auch? Immerhin merkwürdig, wieso der Brief an mich kam. – – Nun gut, Tapley«, fügte er nach einem kurzen Besinnen hinzu, »ich will Ihnen meine Geschichte erzählen, und dann werden Sie klarer sehen, an was für ein Geschick Sie sich ketten, wenn Sie mit mir reisen.«

»Ich bitte einen Augenblick um Verzeihung, Sir«, unterbrach ihn Mark, »aber ehe Sie weiter sprechen, möchte ich Sie fragen: nehmen Sie mich also mit, oder wollen Sie mich abweisen – mich, den Mark Tapley, vormals im Blauen Drachen, der sich auf das gute Zeugnis Mr. Pinchs berufen kann und einen Gentleman von Ihren hohen Fähigkeiten sucht, um von ihm lernen zu können? Oder soll ich Ihnen in achtungsvoller Entfernung folgen, während Sie, was gar nicht fehlen kann, die höchste Stufe der Glücksleiter erklimmen? – – Nun, Sir«, setzte er hinzu, »für Sie kann’s von sehr geringer Bedeutung sein – und da liegt der Haken –, aber für mich ist’s von großer Wichtigkeit. Wollen Sie so gut sein und dies ins Auge fassen?«

Diese zweite Attacke auf Martins schwachen Punkt ließ erkennen, daß Mr. Tapley ein sehr gewandter und schlauer Beobachter war. Mochte jedoch der Schuß absichtlich oder zufällig sein, jedenfalls traf er ins Schwarze, denn Martin ließ sich immer mehr und mehr erweichen und sagte schließlich mit einer Herablassung, die ihm nach den vielen Wochen Demütigung unendlich wohl tat:

»Nun, wir wollen’s überlegen, Tapley. Sie können mir ja morgen sagen, ob Sie noch derselben Ansicht sind.«

»Dann, Sir«, versetzte Mark und rieb sich die Hände, »ist die Sache so gut wie abgemacht. Bitte, fahren Sie jetzt fort, Sir, wenn’s gefällig ist. Ich bin ganz Ohr.«

Martin sah ins Feuer und warf hin und wieder einen Blick auf Mark, der bei solchen Gelegenheiten stets mit dem Kopfe nickte, um sein großes Interesse und seine gespannteste Aufmerksamkeit zu bekunden. Dabei erzählte er die Hauptpunkte seiner Geschichte in ähnlicher Weise, wie er sie vor einiger Zeit Mr. Pinch mitgeteilt hatte. Allerdings paßte er sie, wie es ihm in diesem Falle richtiger vorkam, Mr. Tapleys Begriffsvermögen an und berührte deshalb seine Liebesangelegenheit nur ganz kurz und mit wenigen Worten. Doch machte er in diesem Falle die Rechnung ohne den Wirt, denn Mark interessierte sich ganz besonders und aufs lebhafteste für diesen Teil der Geschichte und stellte allerhand darauf bezügliche Fragen, wobei er sich damit entschuldigte, er glaube sich um so mehr berechtigt dazu, als er die junge Dame im Blauen Drachen gesehen habe.

»Eine junge Dame, in die verliebt zu sein sich jeder Gentleman zur Ehre anrechnen müßte«, bemerkte Mark mit Nachdruck. »Gewiß und wahrhaftig.« »Leider haben Sie sie gesehen, als sie sich nicht sehr glücklich fühlte«, entgegnete Martin, wieder wie vorher in die Kohlenglut blickend. »Ja, wenn Sie sie in ihren frühern Zeiten gesehen hätten!«

»Allerdings war sie ein bißchen niedergeschlagen, Sir, und etwas blasser im Gesicht, als man gerade hätte wünschen können«, gab Mark zu, »aber nichtsdestoweniger sah sie doch recht gut aus. – In London hat sie übrigens schon wieder besser ausgesehen.«

Martin wandte seinen Blick vom Feuer ab und starrte Mark an, als fürchte er, einen Wahnsinnigen vor sich zu haben. Dann fragte er ihn, was er damit sagen wolle.

»Nichts für ungut«, entschuldigte sich Mark, »ich habe nur gemeint, daß sie vielleicht glücklicher sei, trotzdem Sie ihr jetzt fehlten. Aber es kam mir wirklich so vor, als ob sie besser aussähe, Sir.«

»Wie? Wollen Sie damit sagen, sie sei in London gewesen?« fragte Martin, stand auf und stieß seinen Stuhl zurück.

»Natürlich«, sagte Mark und erhob sich gleichfalls voll Staunen von der Bettstelle.

»Und habe ich das so zu verstehen, als ob sie noch jetzt in London wäre?«

»Höchstwahrscheinlich, Sir, ist sie hier. Wenigstens war sie’s noch vor einer Woche.«

»Und wissen Sie, wo sie wohnt?«

»Sie vielleicht nicht?«

»Ach, mein lieber Freund!« rief Martin und faßte Mark bei beiden Armen. »Seit ich das Haus meines Großvaters verließ, habe ich sie doch nicht wiedergesehen!«

»Na, da höre einer!« rief Mark, schlug mit der geballten Faust dermaßen auf den kleinen Tisch, daß die Fleischschnitten darauf tanzten, und sein ganzes Gesicht bis hinauf zur Stirne leuchtete vor Entzücken. »Jetzt sagen Sie selbst, bin ich nicht Ihr natürlicher, geborener, vom Schicksal ausdrücklich für Sie bestimmter Diener? Und wenn’s nicht so ist, so gibt’s kein solches Ding mehr in der ganzen Welt wie den Blauen Drachen. Zum Kuckuck noch einmal! Als ich da neulich zufällig auf einem alten Kirchhof in der City auf und ab spazierte, um mich in eine fröhliche Stimmung zu versetzen, da sah ich Ihren Großvater wohl eine geschlagene Stunde lang hin und her wackeln. Ich bin ihm dann in Todgers‘ Logierhaus für Handelsbeflissene nachgegangen und habe gesehen, wie er wieder herauskam und sich in sein Hotel begab. Und dann suchte ich ihn auf und sagte ihm, ich möchte in seine Dienste treten; ich sei ihm auf eigene Kosten nachgereist, denn ich hätte schon damals im Sinne gehabt, mich ihm anzubieten, ehe ich den Drachen verließ. Und wer saß bei ihm in der Stube? Nun, die junge Dame. Sie lachte übers ganze Gesicht, und das war wirklich reizend anzusehen. Ihr Großvater sagte: ›Kommen Sie nächste Woche wieder‹, und als ich das tat, sagte er, er könne von seinem Grundsatz, niemandem mehr zu trauen, nicht abgehen. Deshalb wolle er mich nicht anstellen. Aber zu gleicher Zeit stand etwas zu trinken da, und das schmeckte wirklich prächtig. Nun«, rief Mr. Tapley mit einem drolligen Gemisch von Vergnügen und Ärger, »was hat man für Ehre davon, unter solchen Umständen fidel zu sein? Kann man da überhaupt anders, wenn die Sachen so stehen?«

Martin stand eine Weile da und blickte Mr. Tapley an, als ob er seinen Ohren nicht traue und nicht glauben könne, daß der Mann wahrhaftig vor ihm stehe. Endlich fragte er ihn, ob er meine, der jungen Dame insgeheim einen Brief zustellen zu können, wenn sie sich noch in London aufhalte.

»Ob ich meine?!« rief Mark. »Freilich meine ich! – Setzen Sie sich jetzt nieder, Sir, und schreiben Sie, Sir.«

Damit räumte er den Tisch mit ein paar energischen Griffen auf, das heißt, er streifte alles, was darauf lag, in den Ofen, holte das Schreibzeug vom Kaminsims herunter, setzte für Martin einen Stuhl hin, drückte ihn hinein, tauchte die Feder ins Tintenfaß und gab sie ihm in die Hand.

»Also frisch drauflos, Sir!« rief er. »Machen Sie’s ordentlich, Sir. – Ob ich glaube, ihr einen Brief zustellen zu können?! Natürlich glaube ich das. Aber jetzt ans Geschäft, Sir!«

Martin ließ sich nicht lange zureden, sondern ging mit großer Behendigkeit ans Werk, während sich Mr. Tapley ohne weitere Umstände die Funktionen eines Kammerdieners und Faktotums anmaßte, d. h. seinen Rock auszog, den Kamin abräumte, das Zimmer ordnete und dabei stets mit halblauter Stimme vor sich hin murmelte.

»Eine nette Art von Logis«, brummte er, rieb sich die Nase mit der Handhabe der Kohlenschaufel und sah sich in der ärmlichen Stube um, »das nenne ich mir Komfort. Sogar der Regen kommt durchs Dach herunter. Auch nicht übel. Und die belebte olle Bettstätte hier mit ner Armee von braunen Vampiren darin; – na, da kann man wenigstens fidel sein! Und diese zerlumpte Nachtmütze! – – – Heda! Jane!« rief er die Treppe hinunter. »Bringen Sie doch mal ’n Glas Heißes für meinen Herrn herauf, wie ich Sie vorhin habe eins mischen sehen! – So ist’s recht, Sir«, fügte er zu Martin gewendet hinzu, »tun Sie nur, als ob’s Ihnen höllisch schlimm zumute sei, und lassen Sie’s auch an Zärtlichkeit nicht fehlen. – Sie können nicht zu dick auftragen!«

14. Kapitel


14. Kapitel

Martin sagt seiner Geliebten Lebewohl und erweist dem unbedeutenden Individuum, dessen Glück er zu machen gedenkt, die Ehre, sie seinem Schutz zu empfehlen

Als der Brief, wie es sich gehört, unterzeichnet und versiegelt war, wurde er Mark Tapley zu möglichst schleuniger Beförderung ausgehändigt. Auch die Zustellung ging glücklich vonstatten, und Mark konnte noch am selben Abend unmittelbar vor Torschluß mit der angenehmen Nachricht zurückkehren, er habe das Schreiben der jungen Dame hinauf geschickt und einen kleinen eigenhändig geschriebenen Zettel beigelegt, damit es den Anschein habe, als handle es sich nur um einen Versuch von ihm, in Mr. Chuzzlewits Dienste einzutreten. Sie sei dann selber heruntergekommen und habe in großer Hast und Aufregung gesagt, sie wolle seinen Herrn im St.-James-Park treffen.

Martin und sein neuer Diener kamen daraufhin sofort überein, Mark solle zur festgesetzten Stunde in der Nähe des Hotels auf die junge Dame warten und sie nach dem Orte des Rendezvous begleiten. Nach dieser Vereinbarung trennten sie sich für die Nacht, aber Martin nahm, bevor er zu Bett ging, wieder die Feder zur Hand und schrieb einen zweiten Brief, dessen Inhalt wir bald kennenlernen werden.

Noch vor Tagesgrauen stand er auf und begab sich gegen Morgen in den Park, der das alleruneinladendste Kleid seiner gesamten dreihundertfünfundsechzig Jahrestage angelegt zu haben schien, denn es war ein selten rauhes, feuchtes und dunkles Wetter, die Wolken sahen so schmutzig aus wie der Boden, und die dunstige Perspektive jeder Allee oder Straße verschwand im Nebel wie hinter einem grauen Vorhang.

»Wahrhaftig ein prächtiges Wetter«, schimpfte Martin ärgerlich vor sich hin, »um wie ein Dieb hier auf und ab zu laufen. Schönes Wetter für eine Zusammenkunft zweier Liebender im Freien und auf einem öffentlichen Spazierweg. Es ist höchste Zeit, daß ich mich in ein anderes Land begebe, ehe es noch weiter mit mir bergab geht.«

Wäre er ein wenig konsequenter in seinen Betrachtungen gewesen, so hätte er einsehen müssen, daß ein solcher Tag für eine Dame doch nur noch ungeeigneter zu einem Rendezvous sei als für einen Herrn, aber seine Gedanken nahmen bald eine andere Richtung, da er seiner Geliebten in kurzer Entfernung ansichtig wurde und sich daher beeilte, ihr entgegenzugehen.

Ihr Begleiter, Mr. Tapley, hielt sich taktvoll im Hintergrunde und betrachtete den Nebel anscheinend mit gespanntestem Interesse.

»Mein geliebter Martin«, rief Mary.

»Meine liebe Mary«, sagte Martin. Liebende sind ein so sonderbarer Schlag Menschenkinder, daß diese paar Worte alles waren, was die beiden einander vorläufig zu sagen hatten, obgleich Martin Marys Arm und auch ihre Hand nahm und sie dann auf dem verborgensten Wege ungefähr ein halbes Dutzendmal auf und ab gingen.

»Wenn du dich seit unserer Trennung überhaupt geändert hast«, fing Martin endlich an und betrachtete Mary mit stolzem Entzücken, »so kann ich dir nur sagen, daß du noch viel schöner geworden bist.« Wäre Mary aus dem gewöhnlichen Holze liebeskranker junger Damen geschnitzt gewesen, so hätte sie diese Behauptung unbedingt in Abrede gestellt und erwidert, sie sei eine wahre Vogelscheuche geworden und Kummer und Tränen hätten sie ganz entstellt; langsam welke sie dem frühen Grabe entgegen, die Leiden ihrer Seele seien unaussprechlich – kurz, sie würde mit Worten oder Tränen, vielleicht auch mit einer Mischung von beidem etwas derartiges gesagt und ihn so elend wie möglich gemacht haben. So aber war sie in einer ernsteren Lebensschule aufgewachsen, als die ist, der die meisten jungen Mädchen ihre Sinnesart verdanken, und ihr ganzes Wesen war gekräftigt durch rauhen Zwang und Not. In allen Stunden der Prüfung hatte sie sich selbstlos und aufopfernd gezeigt und trotz ihrer Jugend etwas von jenen höhern Eigenschaften edler Herzen gewonnen, die sich so oft in den Leiden und Kämpfen der spätem Jahre entwickeln. Unverdorben und unverwöhnt in ihren Freuden und mit offener und inniger Zuneigung dem Gegenstande ihrer ersten Liebe zugetan, sah sie in Martin nur den Mann, der um ihretwillen aus einer glücklichen Heimat vertrieben worden, und es fiel ihr ebensowenig ein, diese ihre Liebe zu ihm in andern als freudig und erhebenden Worten voll froher Hoffnung und dankbaren Vertrauens kundzugeben, als daß sie daran gedacht hätte, sich in Phrasen irgendwelcher Art zu ergehen.

»Aber was ist denn mit dir vorgegangen, Martin?« fragte sie. »Das geht mich am allernächsten an. Du siehst ernster und kummervoller aus, als du sonst zu sein pflegtest?«

»Was das betrifft, meine Liebe«, sagte Martin und legte den Arm um Marys Taille, nachdem er sich zuvor umgesehen, ob kein Beobachter in der Nähe sei, und nur Mr. Tapley erblickt hatte, den der Nebel womöglich noch mehr als vorher zu interessieren schien. »Es würde mich auch wundern, wenn es sich anders verhielte, denn mein Leben ist – namentlich in der letzten Zeit – sehr hart gewesen.«

»Das glaube ich gern«, seufzte Mary. »Aber wann habe ich je vergessen, an dich und deine Leiden zu denken?«

»Hoffentlich nicht oft«, sagte Martin. »Und ich bin auch überzeugt, daß es nicht oft geschah, und habe auch ein gewisses Recht, es zu erwarten. Denn wahrhaftig, viel Verdruß und Entbehrung haben mich heimgesucht.«

»Und wie wenig kann ich dir dein Opfer vergelten«, rief Mary traurigem Lächeln. »Du hast einen hohen Preis für ein armseliges Herz bezahlt; aber es ist wenigstens dein und hängt mit Treue an dir.«

»Ich bin überzeugt davon«, sagte Martin, »sonst würde ich mich nicht in meine gegenwärtige Lage begeben haben. Aber sprich nicht von einem armseligen Herzen: Es ist ein reiches Herz. – – Aber jetzt will ich dir einen Plan mitteilen, Geliebte, über den du anfänglich erschrecken wirst, aber ich will ihn um deinetwillen zur Ausführung bringen. – – Ich gehe« – fügte er langsam hinzu und blickte tief in ihre erstaunten, leuchtenden dunkeln Augen – – »ich gehe ins Ausland.«

»Ins Ausland, Martin?«

»Nur nach Amerika. Erschüttert dich das so, daß du so zusammenzuckst?«

»Wenn es mich einen Augenblick erschüttert hat«, erwiderte Mary nach einer Pause, erhob ihr Haupt und sah ihm voll ins Gesicht, »war’s der kummervolle Gedanke, was du um meinetwillen alles zu ertragen dich entschließest. Ich getraue mich nicht, dir abzuraten, Martin – – aber Amerika ist so weit weg. Und die lange gefährliche Reise! Not und Krankheit ist überall schrecklich, aber in einem fremden Lande nur um so schrecklicher. Hast du dies alles überlegt?«

»Überlegt!« rief Martin ungestüm, fast heftig, trotzdem er Mary aufs zärtlichste liebte. »Warum fragst du mich nicht lieber, ob ich daran gedacht habe, in der Heimat Hungers zu sterben, oder ob mir nicht der Gedanke gekommen sei, mein Lebtag als Lastträger zu arbeiten oder auf den Straßen die Pferde zu halten, um Tag für Tag mein Stückchen Brot zu verdienen. – Aber beruhige dich«, setzte er in milderem Tone hinzu. »Du darfst das Köpfchen nicht hängen lassen, denn ich brauche Ermutigung, und die allein kann mir dein süßes Antlitz geben. Ja, so ist’s recht, jetzt bist du wieder lieb.«

»Ich will mir Mühe geben«, antwortete Mary durch Tränen lächelnd. »Wollen und Handeln ist bei dir immer dasselbe, ich weiß das doch von alters her«, rief Martin heiter. »So ist’s recht; jetzt kann ich dir alle meine Pläne mit so frohem Herzen mitteilen, als ob du bereits mein kleines Frauchen wärst, Mary.«

Sie schmiegte sich inniger an ihn, blickte ihm ins Gesicht und bat ihn fortzufahren.

»Du siehst«, sagte Martin und spielte mit der kleinen Hand, die auf seinem Arme ruhte, »daß alle meine Versuche, hier in meinem Vaterland in die Höhe zu kommen, vereitelt wurden und, sozusagen, in der Wiege starben. Ich will nicht sagen, wer daran schuld ist, denn das würde uns beiden Schmerz bereiten – genug, daß es so ist. – – Hast du übrigens nicht in der letzten Zeit von einem Verwandten von mir namens Pecksniff reden hören? Beantworte mir nur, was ich frage, bitte, und weiter nichts.«

»Ich habe zu meinem Erstaunen deinen Großvater sagen hören, Pecksniff sei ein besserer Mensch, als er geglaubt habe.«

»Dachte ich’s doch«, fiel ihr Martin ins Wort.

»Auch würden wir ihn, hieß es, wahrscheinlich näher kennenlernen, wenn wir ihn nicht sogar besuchen und bei ihm und, ich glaube, seinen Töchtern wohnen sollen. – – Er hat doch Töchter, nicht wahr?«

»Ja, ja, zwei«, antwortete Martin. »Ein famoses Pärchen; Edelsteine vom reinsten Wasser.«

»Du scherzt wohl?«

»Ja, ja, in gewissem Sinne, aber es ist mir sehr ernst. Es ist auch gleichzeitig sehr ärgerlich«, sagte Martin. »Ich kenne diesen Pecksniff, denn ich habe eine Zeitlang als Schüler bei ihm gewohnt und Kränkung und Unbill genug von ihm erfahren müssen. Was ich übrigens auch im Scherz gesagt haben mag, wenn du mit der Zeit in Verkehr mit seiner Familie treten solltest, so vergiß nie – auch nicht einen Augenblick, wenn der Schein auch noch so gegen mich sprechen sollte –, daß dieser Pecksniff ein Schurke durch und durch ist.«

»Wirklich?«

»In Gedanken, Worten und Taten – kurz, in allem ein Schurke vom Scheitel bis zur Sohle. Von seinen Töchtern kann ich nur soviel sagen, daß sie gehorsame junge Mädchen und ihres Vaters würdig sind. Es ist zwar eine Abschweifung vom Hauptthema, es führt mich aber doch auf das, was ich sagen wollte.« Dann hielt er inne, um Mary wieder in die Augen zu blicken, warf hastig einen Blick zurück, und da er bemerkte, daß niemand in der Nähe war und auch Mark sich noch immer gewaltig für den Nebel interessierte, so sah er jetzt nicht nur auf ihre Lippen, sondern küßte sie auch.

»Ich reise also in Bälde nach Amerika und habe die feste Aussicht, dort mein Glück zu machen und dann sofort wieder zurückzukehren. Ich hole dich vielleicht erst in ein paar Jahren ab, aber dann mache ich rücksichtslos meine Ansprüche auf dich geltend. Nach solchen langen Prüfungen darf ich es tun, ohne fürchten zu müssen, du hieltest es immer noch für deine Pflicht, dich an den anzuklammern, der mich – denn er ist es und niemand sonst – im Vaterland nicht in die Höhe kommen lassen will und es mit allen Mitteln zu verhindern sucht. Wie lange ich abwesend sein werde, ist natürlich noch ungewiß, aber jedenfalls kannst du dich darauf verlassen, daß es nicht allzulange dauern wird.«

»Und inzwischen – –?«

»Das ist es ja eben, auf das ich jetzt kommen will. Inzwischen sollst du immer ausführlich erfahren, wie es mir geht.«

Er hielt inne, nahm den Brief, den er abends zuvor geschrieben, aus der Tasche und fuhr fort:

»Im Dienste und im Hause dieses Kerls – – unter ›Kerl‹ verstehe ich natürlich Mr. Pecksniff – lebt ein gewisser Pinch; merke wohl auf: Er ist ein armer wunderlicher einfacher Mensch, aber durchaus ehrlich, aufrichtig, voll Diensteifer und mir herzlich zugetan – was ich ihm auch in Zukunft dadurch vergelten will, daß ich ihm irgendwie im Leben forthelfe.«

»Daraus erkenne ich wieder deine alte Hochherzigkeit, Martin.«

»Ach Gott«, versetzte Martin, »es ist nicht der Rede wert. Er ist sehr dankbar und wünscht mir zu dienen, und damit ist die Sache abgetan. – – Ich habe also diesem Pinch eines Abends meine ganze Geschichte kurz, alles von mir und dir – erzählt. Ich kann dir versichern, daß er sich nicht wenig dafür interessierte. Er kennt dich nämlich. Ja, ja, du brauchst nicht überrascht zu sein – du hast ihn nämlich einmal in der Kirche jenes Dorfes dort unten die Orgel spielen gehört, und er hat gesehen, wie du zugehört hast. Daher auch seine Begeisterung für dich.«

»Was! Er war der Orgelspieler!« rief Mary. »Da muß ich ihm ja von Herzen dankbar sein.«

»Ja, er war es. Und er treibt das Geschäft noch immer, obschon es ihm nichts einträgt. Es hat, ich versichere dir, noch nie einen so einfachen, schlichten Burschen gegeben; er ist fast ein Kind an Gutmütigkeit, sei versichert.«

»Ich bin überzeugt davon«, erwiderte Mary mit Wärme. »Er muß es sein.«

»Ja, daran ist kein Zweifel«, versetzte Martin in seiner gewöhnlichen leichtfertigen Weise, »er ist es. – Also, da ist mir eingefallen – aber halt! Wenn ich dir den Brief vorlese, den ich ihm heute abend per Post zusenden will, so wirst du alles daraus am besten ersehen. Also: ›Mein lieber Tom Pinch!‹ – das klingt vielleicht etwas kollegial«, setzte er schnell hinzu, da er sich plötzlich erinnerte, sich bei der letzten Begegnung Tom gegenüber ziemlich stolz benommen zu haben, »aber ich nenne ihn meinen lieben Tom Pinch, weil er es gern hat.«

»Das ist lieb von dir«, sagte Mary.

»Na ja, es schadet ja weiter nichts, freundlich zu sein, wo man kann. Wie ich bereits sagte, ist er wirklich ein vortrefflicher Mensch. Also. ›Mein lieber Tom Pinch – Sie erhalten gegenwärtiges Schreiben als Beilage zu einem Brief an Mrs. Lupin im Blauen Drachen, die ich in ein paar Zeilen gebeten habe, Ihnen mein Schreiben einzuhändigen, ohne gegen irgend jemanden davon Erwähnung zu tun. So wird sie es auch mit allen zukünftigen Briefen, die sie von mir empfangen dürfte, halten. Der Grund, weshalb ich so handle, wird Ihnen leicht begreiflich sein‹ – zwar weiß ich nicht, ob er’s wirklich begreifen wird –« setzte Martin, von dem Schreiben aufblickend, hinzu – »denn der arme Bursche ist von etwas langsamer Fassungskraft, aber mit der Zeit wird er’s schon herausfinden. – ›Mein Grund besteht einzig und allein darin, daß ich nicht wünsche, meine Briefe von andern Leuten gelesen zu wissen; namentlich nicht von jenem Schurken, den Sie für einen Engel halten.‹«

»Damit ist Mr. Pecksniff gemeint?« fragte Mary. »Jawohl«, antwortete Martin. – »›Sie werden das einsehen, lieber Mr. Pinch. Ich habe mittlerweile Anstalten getroffen, nach Amerika zu reisen, und Sie werden sich wahrscheinlich wundern, wenn Sie hören, daß Mark Tapley mich begleiten will. Seltsamerweise bin ich in London mit ihm zusammengetroffen, und er besteht drauf, sich unter meinen Schutz zu stellen‹ – Mark Tapley ist natürlich«, schaltete er ein, »unser Freund dort im Hintergrund.«

Mary freute sich sehr über diese Mitteilung und warf Mark einen freundlichen Blick zu, den dieser, für einen Moment sein Nebelstudium unterbrechend, voll Entzücken quittierte. Sie sagte auch so laut, daß er es hören mußte, er sei eine brave Seele und ein lustiger Bursche und werde, davon sei sie überzeugt, treu zu seinem Herrn halten – Lobsprüche, die Mr. Tapley auch wirklich verdienen zu wollen sich innerlich fest gelobte, und wenn er dafür in den Tod gehen müßte.

»›Und jetzt, mein lieber Pinch‹«, las Martin in seinem Brief weiter, »›will ich mein ganzes Vertrauen auf Sie setzen, da ich weiß, daß ich mich auf Ihre Ehre und Verschwiegenheit verlassen kann und überdies momentan auch niemanden habe, auf den ich bauen könnte.‹«

»Möchtest du nicht lieber diese Stelle weglassen, Martin?« fragte Mary schüchtern.

»Meinst du? Gut, dann will ich sie wegstreichen. – Aber es ist doch die buchstäbliche Wahrheit!«

»Es klingt aber doch vielleicht ein wenig unfreundlich.«

»Ach Gott, mir liegt schließlich nicht viel an Pinch«, sagte Martin. »Ich wüßte auch nicht, warum ich mit ihm gar so zeremoniell verfahren sollte. Da du es übrigens wünschest, so kann ich’s ja auslassen und die Stelle wegstreichen. – – Also weiter – ›ich werde nicht nur meine Briefe an die junge Dame, von der ich Ihnen erzählt habe, an Sie senden, damit Sie sie ihr zustellen können, sondern ich empfehle auch die Dame selbst Ihrem Schutze, im Falle Sie in meiner Abwesenheit mit ihr zusammentreffen sollten. Ich habe Grund anzunehmen, daß ihr einander bald und oft sehen werdet, und wenn Sie in Ihrer Lage auch nur wenig tun können, um die ihrige zu erleichtern, so baue ich doch nichtsdestoweniger auf Sie und setze voraus, daß Sie alles aufbieten werden, um das Vertrauen zu rechtfertigen, das ich in Sie gesetzt habe.‹« – – –

»Du siehst, meine liebe Mary«, schloß Martin, »du wirst da jemanden haben – gleichgültig, wie schlicht und einfach er auch sein mag –, mit dem du von mir sprechen kannst; und schon beim ersten Gespräch mit ihm wirst du fühlen, daß du ebensowenig verlegen ihm gegenüber zu sein brauchst, als wenn er ein altes Weib wäre.«

»Nun, wie man das auch auffassen mag«, meinte Mary lächelnd, »jedenfalls ist er dein Freund, und das genügt.«

»Ja, ja, er ist mein Freund«, sagte Martin, »gewiß. Ich habe ihm übrigens bereits mit nicht mißzuverstehenden Worten angedeutet, daß wir ihn immer im Auge behalten und unter unseren Schutz nehmen werden. Es ist ein guter Charakterzug von ihm, daß er dankbar, ja, sogar sehr dankbar ist, und ich weiß, mein Schatz, du wirst einen besonderen Gefallen an ihm finden. Allerdings hat er viel Komisches und Altfränkisches an sich, aber du kannst das ja gnädig übersehen. Und wenn du über ihn lachen mußt, macht es schließlich auch nichts; er freut sich sogar darüber.«

»Ich denke nicht, daß ich ihn auf diese Probe stellen werde, Martin.«

»Ich glaube es auch nicht. Ich meinte nur, wenn du das Lachen wirklich nicht mehr verbeißen könntest. Es wird dir immerhin ein bißchen schwer werden, deinen Ernst zu bewahren. – Kehren wir übrigens zu dem Briefe zurück. Er schließt also folgendermaßen: ›Ich weiß, daß ich nicht nötig habe, mich weiter über die Art und die Wichtigkeit dieses auf Sie gesetzten Vertrauens zu verbreiten, und ich will Ihnen daher jetzt Lebewohl sagen in der Hoffnung, bei unserem nächsten Wiedersehen, wenn es mir gut ergangen sein wird, für Ihr Glück und Fortkommen sorgen zu können, als ob es mein eigenes wäre. Darauf können Sie sich verlassen. Inzwischen verbleibe ich, lieber Tom Pinch, Ihr aufrichtiger Martin Chuzzlewit.

Nachschrift. – Ich schließe hier den Betrag bei, den Sie so freundlich waren, mir – – –‹« »Hm«, unterbrach sich Martin und faltete den Brief hastig zusammen, »das gehört nicht hierher.«

In diesem Augenblick trat Mark Tapley mit der Meldung heran, daß die Glocke auf der Horse-Guards-Kaserne soeben geschlagen habe.

»Ich würde mich nicht getrauen, die Sache zu erwähnen«, entschuldigte er sich, »wenn mich nicht das gnädige Fräulein ausdrücklich dazu aufgefordert hätte.«

»Ja«, sagte Mary, »so ist es, und ich danke Ihnen. Sie haben ganz recht. – Nur noch eine Minute; ich werde gleich bereit sein. – – Wir haben jetzt nur mehr für ein paar eilige Worte des Lebewohls Zeit, mein geliebter Martin, und obwohl mir noch gar viel auf dem Herzen läge, so muß ich es doch bis zu der glücklichen Zeit unserer nächsten Zusammenkunft ungesagt sein lassen. Gebe der Himmel, daß es bald sein wird und alles gut ausfällt. Doch davor ist mir nicht bange.«

»Bange!« rief Martin. »Warum auch? Was bedeuten ein paar Monate und was schließlich ein ganzes Jahr? Wenn ich glücklich wieder zurück bin und meinen Weg im Leben gemacht habe, dann mag der Rückblick auf diese Trennung vielleicht schmerzlich sein; aber jetzt?! Ich schwöre dir’s, ich möchte mir keine günstigeren Auspizien wünschen, selbst wenn ich könnte. Jetzt bin ich gezwungen, zu handeln; was ich sonst vielleicht nicht getan hätte.«

»Ja, ja, ich fühle auch, daß es gut so ist. – Also, wann gedenkst du abzureisen?«

»Wir brechen heute abend nach Liverpool auf. – Wie ich höre, geht alle drei Tage ein Schiff ab, und nach vier Wochen – oder vielleicht nicht einmal das – kommen wir drüben an. Was bedeutet übrigens auch ein Monat! Wie viele sind ihrer nicht schon verstrichen, seit wir uns zum letztenmal gesehen haben!«

»Ja, ja, es ist eine lange Zeit her«, entgegnete Mary, in seinen heiteren Ton einstimmend, »wenn es uns auch jetzt kaum wie Tage erscheint.«

»Kaum wie Tage«, bestätigte Martin. »Und dann werde ich andere Gegenden und andere Leute mit anderen Sitten und Gebräuchen sehen, andere Sorgen und andere Hoffnungen haben. Wie im Fluge wird mir die Zeit vergehen. Ich kann alles ertragen, nur Eintönigkeit nicht, Mary.«

»Ein Viertel!« mahnte Mr. Tapley.

»Gleich komme ich«, rief Mary. – »Nur noch eins, lieber Martin, laß mich dir sagen. Du hast mich vorhin gebeten, ich solle dir in betreff nur eines einzigen Punktes deine Frage beantworten, aber du mußt noch etwas wissen, sonst könnte ich nicht ruhig sein. Seit jener Trennung nämlich, an der ich unglücklicherweise die Schuld trage, hat dein Großvater auch nicht ein einziges Mal deinen Namen fallen lassen – weder in Liebe noch in Haß –, und nach wie vor ist er gleich freundlich zu mir.«

»Für letzteres bin ich ihm dankbar, für weiter aber auch nichts«, versetzte Martin. »Daß er meinen Namen je wieder erwähnt, erwarte ich weder, noch wünsche ich es. Vielleicht wird er meiner noch einmal mit Vorwürfen gedenken – in seinem Testamente vielleicht. Sei es darum, wenn es ihm Freude macht. Erhalte ich Kunde davon, wird er bereits längst in seinem Grabe liegen – eine Satire auf seinen eigenen Groll.«

»Ach, Martin«, rief Mary, »wenn du dich einmal in einer nachdenklichen Stunde, an einem einsamen Winterabend, oder wenn die Sommerlüfte wehen, oder bei einer einschmeichelnden Musik, bei Gedanken an Tod, Heimat oder Kindheit seiner oder irgendeines Menschen erinnerst, der dir je unrecht getan hat, so weiß ich, daß du ihm vergeben wirst.«

»Wenn ich das glauben sollte«, entgegnete Martin unmutig, »so müßte ich mir vornehmen, ihn zu solchen Zeiten ganz aus meinem Gedächtnis zu streichen, um mir die Schande einer derartigen Schwäche zu ersparen. Es liegt mir nicht, das Spielzeug oder die Puppe irgendeines Menschen, am wenigsten die seinige, zu sein. Habe ich nicht für das bißchen Annehmlichkeit, das ich bei ihm genossen, seiner Launenhaftigkeit beinahe meine ganze Jugend opfern müssen? Wir beiden sind jetzt quitt, oder zum mindesten überwiegen seine Verdienste die meinigen nicht so bedeutend, daß ich zum Ausgleich abgeschmackterweise auch noch vergeben und vergessen müßte. Ich weiß ganz gut, daß er dir verboten hat, meinen Namen zu erwähnen«, fügte er erregt hinzu, »sag, ist es nicht so?« »Das ist schon lange her«, entgegnete Mary, »und zwar gleich nach eurem Zwiste und bevor du noch sein Haus verlassen hattest. Seitdem hat er es nicht wieder getan.«

»Und zwar deswegen nicht, weil er keinen Anlaß dazu hatte«, sagte Martin; »doch das ist übrigens jetzt nicht weiter von Belang. Ich glaube, es wird jedenfalls das beste sein, Geliebte« – er drückte Mary hastig an sich, denn die Zeit des Abschieds war gekommen – »wir tun so, wenn wir einander schreiben, als ob er gestorben wäre. – Und jetzt behüt dich Gott! Es ist ein seltsamer Ort für ein solches Zusammentreffen und einen solchen Abschied, aber unser nächstes Wiedersehen soll an einem besseren und unser nächstes und letztes Scheiden an einem schlechteren stattfinden.«

»Noch eine Frage muß ich an dich richten, Martin«, rief Mary. »Bist du für deine Reise auch gehörig mit Geld versehen?«

»Ob ich damit versehen bin?« rief Martin, entweder aus Stolz oder wirklich in der Absicht, sie zu beruhigen, bemüht, ihr die Wahrheit zu verhehlen. »Ob ich mit Geld versehen bin? Nun, das wäre vielleicht eine Frage für die Frau eines Auswanderers. Wie könnte ich denn ohne Mittel zu Wasser oder zu Lande weiterkommen, Schatz?«

»Ich meine, ob du genug hast?«

»Genug? Mehr als genug. Die ganze Tasche voll. Mark und ich sind bei Licht betrachtet so reich, als ob wir Fortunats Säckel in unserem Gepäck hätten.«

»Es hat halb geschlagen«, mahnte Mr. Tapley.

»So leb wohl, Martin, viel tausendmal!« rief Mary mit bebender Stimme.

Ein »Lebewohl« ist ein bitterer Trost. Mark Tapley wußte das vollkommen; vielleicht war’s ihm vom Lesen her bekannt, vielleicht aus Erfahrung, vielleicht sagte es ihm sein eigenes Herz. Wie er zu diesem Wissen kam, kann man unmöglich erklären, aber instinktiv tat er das Klügste, was man in einem solchem Umstande tun konnte, er gab sich nämlich den Anschein, als sei er von einem heftigen Niesen befallen, und wandte das Gesicht ab, so daß die beiden Liebenden gewissermaßen unbeachtet und allein waren. Eine kurze Pause, dann eilte Mary hastig mit heruntergelassenem Schleier an Mark vorbei und winkte ihm, ihr zu folgen. Ehe sie um die Ecke bog, machte sie noch einmal halt, blickte zurück und winkte Martin mit der Hand. Er wollte zu ihr eilen und ihr noch ein paar Abschiedsworte sagen, aber sie wandte sich um und eilte schnellen Schrittes davon.

Als Mark in Martins Behausung zurückkehrte, fand er seinen Herrn verdrießlich vor dem verstaubten Kamin sitzen, beide Füße an die Gitterstange angestammt, die Ellenbogen auf den Knien und das Kinn auf die Handflächen aufgestützt.

»Nun, Mark?«

»Nun, Sir?« sagte Mark und atmete tief auf. »Das gnädige Fräulein ist jetzt wohlbehalten wieder zu Hause, und ich bin froh darüber. Sie läßt Ihnen noch alles mögliche Gute und Schöne ausrichten, Sir, und sendet Ihnen dies hier«, damit händigte er Martin einen Ring ein, »als Andenken.«

»Diamanten!« rief Martin, bedeckte den Ring mit Küssen, nicht etwa seines Wertes wegen, zu seiner Ehre sei es gesagt, sondern, weil er von Mary kam, und steckte ihn an seinen kleinen Finger. »Prachtvolle Diamanten. Mein Großvater ist wahrhaftig ein wunderlicher Kauz, Mark; er muß ihr den Ring offenbar geschenkt haben.«

Mark Tapley war sofort davon überzeugt, daß sie ihn gekauft hatte, um ihrem nichtsahnenden Geliebten für den Fall der Not einen Wertgegenstand an die Hand zu geben, so fest, wie er wußte, daß es Tag und nicht Nacht war, aber er sagte kein Wort. Allerdings hatte er weiter keine Kenntnis hinsichtlich der Herkunft des Geschmeides, das jetzt an Martins ausgestrecktem Finger glänzte, aber dennoch war er so durchdrungen davon, daß sie dafür ihre sämtlichen Ersparnisse ausgegeben hatte, als wäre er dabeigewesen, wie das Geld Guinee für Guinee auf den Tisch des Juweliers hingezählt worden! Martins befremdende Kurzsichtigkeit in dieser Beziehung ließ ihm plötzlich einen tiefen Blick in das Innerste seines Charakters tun, und der Grundzug seines Wesens war ihm mit einem Male kein Geheimnis mehr.

»Sie ist des Opfers wert, das ich für sie gebracht habe«, sagte Martin, verschränkte die Arme und blickte nachdenklich in die glimmende Asche im Kamin. »Ja, sie ist dessen wert! Keine Schätze der Welt« – dabei streichelte er sich gedankenverloren das Kinn – »hätten mich für den Verlust eines solchen Herzens schadlos halten können; – ganz abgesehen davon, daß ich, als ich um ihre Liebe warb, nur dem Drange meines eigenen Herzens folgte und allerdings zugleich die selbstsüchtigen Absichten anderer durchkreuzte, die kein Anrecht auf sie hatten. – – Ja, ja, sie verdient das ihr gebrachte Opfer vollständig, daran ist kein Zweifel.«

Diese leise gemurmelten Worte schienen Mr. Tapleys Ohr erreicht zu haben, wenigstens blieb er mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck unbeweglich stehen, bis Martin aus seinem Grübeln erwachte und sich nach ihm umsah. Da wandte er sich ab, als fiele ihm plötzlich die Notwendigkeit gewisser Reisevorbereitungen ein, lächelte gezwungen und schien sich, nach den Bewegungen seiner Lippen zu schließen, zu denken:

»Na, das kommt ja recht nett.«

15. Kapitel


15. Kapitel

Sei mir gegrüßt, Columbia!

Eine dunkle und traurige Nacht! Die Menschen schmiegten sich in ihre Betten oder sammelten sich um das späte Kaminfeuer. Die Not fröstelte an den Straßenecken, und die Kirchentürme summten noch unter den schwachen Vibrationen ihrer eigenen Zungen, die soeben erst mit gespenstischem Ruf die erste Stunde nach Mitternacht verkündet hatten. Die Erde lag unter einem schwarzen Leichentuch, als sei sie das Grab des gestrigen Tages. Gruppen dunkler Bäume nickten trauervoll mit ihren riesigen Leichenfederbüschen. Alles war still und lautlos oder lag in tiefem Schlummer, ausgenommen die unruhigen Wolken, die über den Mond dahinhuschten, und der unstete Wind, der bald auf dem Boden dahinkroch, wie um zu horchen, und dann rauschend weiterzog, bald wieder haltmachte, um gleich darauf seine Fährte wieder aufzunehmen wie der Wilde auf der Spur eines Feindes. Wie schuldbeladene Gespenster schienen Wind und Wolken nach einem gemeinsamen finsteren Versammlungsort zu ziehen; befreit aus der drückenden Fessel, die da Erde heißt, jagten sie über die endlose Fläche der Gewässer. Dort heulten sie, tobten und brüllten und wüteten die ganze Nacht hindurch. Tönende Stimmen hallten aus den Höhlen an der Küste jener sagenhaften Insel wider, die Tausende von Meilen inmitten zürnender Wellen schläft. Dort begegneten einander die brausenden Stürme, in unbekannten Einöden der Welt erzeugt, und rangen und stritten mit der ganzen Wut ungezügelter Freiheit miteinander, bis die See, bis zur Raserei aufgepeitscht, in ein noch weit gewaltigeres Toben ausbrach und der ganze Schauplatz sich in wirbelnden Wahnsinn verwandelte.

Weiter, weiter und immer weiter, bis ins Unabsehbare rollten die hoch sich aufbäumenden Wogen. Berge und Höhlen entstanden, doch schon im nächsten Augenblick wurde der Berg wieder zum Tal und das Tal zum Berg – und das Meer schien ein einziger kochender Strudel. Verfolgung, wilde Flucht, tolle Rückkehr, Welle auf Welle und ein wütender Kampf ringsum und dann aufsprudelnder Schaum, der als weißer Schein durch die schwarze Nacht leuchtete; ein unablässiger Wechsel von Ort, Gestalt und Farbe; in nichts Beständigkeit als im ewigen Kampfe. Fort, fort und fort rollten die Wogen dahin, dunkler wurde die Nacht und lauter heulten die Winde und ungestümer wurden die Millionen Stimmen des Meeres, wie der Sturm den wilden Ruf weitertrug: »Ein Schiff!«

Vorwärts arbeitet sich ein Schiff, mutvoll mit den Elementen ringend; die hohen Masten zittern, die Spieren knarren unter dem gewaltigen Druck. Dahin geht es, jetzt hoch auf den sich bäumenden Wogen, jetzt tief unten in den dunklen Wasserschluchten, wie um sich zu verbergen, und lauter und lauter scheinen die Stimmen der Stürme zu rufen: »Ein Schiff!«

Doch weiter kämpft sich das wackere Fahrzeug und, über seine Kühnheit und die vorauseilende Kunde seines Nahens erstaunt, erheben sich die zornigen Wellen, wie um sich einander über die weißen Häupter hinweg sehen zu können, drängen sich um seinen Bord und rauschen heran von ferne in schrecklicher Neugier. Hoch über ihm brechen sie sich, rund umher brausend in wildem Getümmel, um dann stöhnend zurückzuweichen, jede die Schwester in grimmigem Zorne zertrümmernd. Furchtlos bahnt sich das Schiff seinen Weg vorwärts, mit düsterbrennenden Lichtern und schlafenden Menschen an Bord. Trotz der unaufhörlich über Deck rauschenden Sturzwellen, deren Treiben auch der Tag noch kein Ende machen zu wollen scheint. Durch jede Spalte und Ritze späht das todbringende Element, voll Haß bemüht, die dünne Planke zu zerbersten, die den Seemann von seinem Grab in der bodenlosen Tiefe trennt.

Unter den schlafenden Reisenden an Bord befanden sich auch Martin und Mark Tapley, beide durch die ungewohnte schlingernde Bewegung des Schiffes in ohnmachtsähnlichen Schlummer versetzt und sich der dumpfigen Luft der Kojen so wenig bewußt wie des Aufruhrs draußen.

Das Tageslicht schien bereits hell durch die Luken, als Mark mit dem unbestimmten Gefühl erwachte, er habe sich in eine Bettstelle niedergelegt, in der im Laufe der Nacht das Unterste zuoberst gekehrt worden sei. Das erste, dessen er ansichtig wurde, und zwar senkrecht über seinem Kopf, waren seine eigenen Fersen.

»Ha«, sagte er, nachdem er es nach langem Kampfe mit dem Auf- und Niederrollen des Schiffes endlich zu einer sitzenden Stellung gebracht, »na, das ist, dächte ich, das erstemal in meinem Leben, daß ich die ganze Nacht über auf dem Kopf gestanden habe.«

»Dann müssen Sie sich eben nicht mit dem Kopf leewärts legen«, brummte ein Mann in einer der Schlafstellen.

»Wohin soll ich mich mit meinem Kopf nicht legen?« fragte Mark.

Der Mann wiederholte seinen guten Rat.

»Na, dann werd ich’s das nächstemal bleiben lassen«, sagte Mark, »wenn ich nur erst mal weiß, in welcher Gegend das Land, das Sie soeben genannt haben, liegt. – Übrigens kann ich Ihnen auch einen Rat geben: gehen Sie lieber auf festem Lande als auf einem Schiff schlafen.«

Der Mann knurrte mißvergnügt etwas durch die Zähne, drehte sich auf die andere Seite und zog sich das Bettuch über die Ohren.

»Denn«, sagte Mark Tapley und verfolgte den Gedanken im Selbstgespräch leise weiter, »die See ist das Unvernünftigste überhaupt. Nie weiß sie, was sie eigentlich will. Sie hat eben keine geistige Beschäftigung; daher ihre Zerfahrenheit. Wie die Polarbären in der Menagerie wackelt sie auch immer mit dem Kopf von einer Seite zur anderen. Nicht einen Augenblick kann sie ruhig sein. Das kommt natürlich von ihrer entsetzlichen Borniertheit.«

»Sind Sie’s, Mark?« fragte eine müde Stimme aus einer Koje nebenan. »Jawohl, Sir. Oder besser gesagt: der schäbige Rest, der noch von mir übrig ist nach dieser vierzehntägigen greulichen Mißhandlung«, versetzte Mark Tapley. »Wenn ich bedenke, was ich seit unserer Ankunft an Bord für ’ne Art Lauseleben geführt habe, kann nicht gut mehr viel von mir übrig sein; darauf möchte ich schwören, Sir. Ganz besonders, wenn ich mich erinnere, was ich an genossenen Leckerbissen wieder von mir gegeben habe. – Wie geht es Ihnen übrigens heut morgen, Sir?«

»Hundsmiserabel«, stöhnte Martin. »Das ist ja furchtbar!«

»Da kann man wenigstens noch Ehre einlegen«, murmelte Mark, drückte die Hand auf seine schmerzende Stirn und blickte mit kläglichem Grinsen umher. »Und das ist ein großer Trost. Man kann sich’s wahrhaftig hoch anrechnen, wenn man hier nicht den Mut verliert. Ja ja, das Gute belohnt sich selbst. Daher auch die Fröhlichkeit.«

Mark hatte insofern recht, als tatsächlich jeder, der als Zwischendeckpassagier des schönen und schnellsegelnden Paketschiffes »Die Schraube« sich seine gute Laune bewahren wollte, auf seine eigenen Hilfsquellen angewiesen war und sich seinen guten Humor ebensogut wie seinen Mundvorrat, da zu beiden der Herr des Schiffes nichts beisteuerte, selbst mitgebracht haben mußte.

Ein dunkler, niedriger, erstickender Kajütenraum, bis zum Platzen mit Männern, Weibern und Kindern in den verschiedensten Stadien der Seekrankheit und des Elends angefüllt, ist niemals ein besonders angenehmer Unterhaltungsort. Wenn er aber so vollgestopft ist wie in diesem Falle, wo Matratzen und Betten auf dem Boden aufgehäuft lagen und auch nicht das kleinste Fleckchen mehr rein und sauber war, – dann wird nicht nur jede heitere Stimmung im Keime erstickt, sondern es entsteht geradezu Mißmut in seiner schlimmsten Form. Mark bemerkte das, sooft er sich umsah, und demgemäß stieg auch seine gute Laune. An Bord befanden sich Engländer, Irländer, Welshmen und Schotten, sämtlich mit ihrem kleinen Vorrat an halbverdorbenen Speisen und in schäbigen Kleidern. Fast alle hatten ihre Familien bei sich; ihre Weiber und Sprößlinge. Kinder jeglichen Alters, vom Säugling angefangen bis zur schlampigen halbwüchsigen Dirne, waren in dem engen Raum zusammengepfercht und litten gemeinsam an all den Qualen, die in Armut, Krankheit, Heimatlosigkeit, Sorgen und langer Seereise bei rauhem Wetter ihren Grund haben, und doch gab es in dieser ungesunden Arche Noah vielleicht weniger Bemänglung oder Zank als anderswo unter sogenannten geordneten Verhältnissen oder Hauswesen.

Mit pfiffiger Miene blickte Mark umher, und seine Mienen heiterten sich auf. Hier beugte sich eine alte Großmutter über ein krankes Kind, wiegte es in ihren Armen, die fast ebenso schwach waren wie die jungen Gliedmaßen des Kleinen; dort flickte ein armes Weib, ein Kind im Schoße, die Kleider eines andern kleinen Geschöpfes und beschwichtigte ein drittes, das von der dürftigen Bettstelle zu ihr hinkroch. Alte Männer verrichteten unbehilflich ihre kleinen Hausarbeiten, und gebräunte Gesellen – Riesen an Gestalt – erwiesen ihrer Umgebung allerlei zarte kleine Liebesdienste, wie man sie nur von den weichherzigsten, sanftesten Zwergen hätte erwarten können. Selbst der Blödsinnige drüben in der Ecke, der sonst den ganzen Tag über brütend dasaß, fühlte sich davon angesteckt und schnappte mit den Fingern, um ein weinendes Kindchen zu trösten.

»Na«, sagte Mark, nickte einer Frau zu, die ihre drei Kinder dicht neben ihm ankleidete, und lachte dabei von einem Ohr bis zum andern, »geben Sie mir mal eins von den Kleinen herüber.«

»Ich dächte, es wäre besser, Sie besorgten das Frühstück, Mark, statt daß Sie sich mit Leuten abgeben, die Sie nichts angehen«, bemerkte Martin ärgerlich. »Ganz recht«, meinte Mark, »das könnte aber vielleicht sie besorgen. Das wäre dann eine famose Arbeitsteilung, Sir. Ich wasche ihr die Buben, und sie macht uns den Tee. – Ich habe mich nie aufs Teekochen verstanden, aber ein Kind kann jeder Mensch waschen.«

Die Frau, die sehr zart und krank war, empfand seine Freundlichkeit um so tiefer, als er ihr überdies Nacht für Nacht seinen Mantel lieh und sich selbst auf den nackten Brettern mit einem Teppich begnügte – nur Martin, der selten aufstand oder für sonst etwas Augen hatte, war bitterböse über Marks Torheit und gab sein Mißvergnügen durch ein unwilliges Gebrumm zu erkennen.

»Ja, ja, es ist wahrhaftig so«, sagte Mark und bürstete das Haar des Kindes so geschickt wie ein ausgelernter Friseurgehilfe.

»Wovon sprechen Sie jetzt schon wieder?« fragte Martin.

»Von dem, was Sie gesagt haben«, versetzte Mark, »oder vielmehr, was Sie sagen wollten, als Sie vorhin Ihren Gefühlen in so trübseliger Weise Luft machten. – Ich bin ganz Ihrer Ansicht; es ist gewiß sehr hart für sie.«

»Was ist hart?«

»Die Reise allein machen zu müssen mit diesen kleinen Bälgern da. Zu dieser Jahreszeit sich einer solchen Reise zu unterziehen, um zu ihrem Gatten zu gelangen. – – – Wenn Sie nicht wollen, daß Ihnen die Seife ins Auge kommt, junger Herr«, sagte er zu dem zweiten Knirps, den er sich eben am Waschbecken vornahm, »werden Sie guttun, Ihre Gucklöcher zuzumachen.«

»Wo hofft sie denn ihren Mann zu treffen?« fragte Martin gähnend.

»Ich fürchte sehr«, meinte Mr. Tapley mit leiser Stimme, »daß sie es selbst nicht recht weiß. Hoffentlich werden sie sich nicht verfehlen. Sie schickte ihm ihren letzten Brief durch irgendeinen Auswanderer; aber auch sonst scheint keine sonderlich klare Verständigung zwischen ihnen stattgefunden zu haben. Wenn er daher nicht am Ufer steht und sein Schnupftuch schwenkt, wie es auf den Bildern im Gesangbuch abgebildet ist, so bin ich der Meinung, daß die Sache verdammt faul ausgehen wird.« »Aber in Teufels Namen, wie kommt das Weib dazu, sich an Bord eines Schiffes zu begeben, wenn das Ganze nur so ein Wagnis aufs Geratewohl ist?« rief Martin.

Mark sah einen Augenblick auf und erwiderte dann sehr ruhig:

»Hm. Das läßt sich leicht fragen. Ich kann mir’s auch nicht recht zusammenreimen. Vor zwei Jahren ist er ausgewandert. Sie war sehr arm und nicht sonderlich angesehen in ihrer Heimat. Natürlich wollte sie da zu ihm. Sehr sonderbar, daß sie hier ist; höchst erstaunlich, und ein bißchen verrückt vielleicht. Anders läßt sich’s nicht erklären.«

Martin fühlte sich zu seekrank, um auf diese Worte irgendeine Antwort zu geben oder auch nur auf sie zu achten. Inzwischen war der Gegenstand ihrer Unterhaltung mit etwas heißem Tee zurückgekommen und unterbrach auf diese Weise wirksam eine Wiederaufnahme des Themas von seiten Mr. Tapleys, der, sobald er sein Frühstück eingenommen und Martins Bett zurechtgemacht hatte, sich aufs Oberdeck verfügte, um das Service, das aus zwei zinnernen Näpfen und einer Rasierbüchse aus demselben Metalle bestand, auszuspülen.

Auch ihn hatte die Seekrankheit bei dem Schlingern des Schiffes sehr mitgenommen. Da er sich jedoch fest vorgenommen, auch unter den widrigsten Verhältnissen »Ehre einzulegen«, wie er es nannte, so bildete er sozusagen die Seele des Zwischendecks. Er machte sich auch nicht viel daraus, sogar mitten in einem launigen Gespräch aus Übligkeit beiseite gehen zu müssen; und jedesmal kehrte er nachher in der allerbesten und heitersten Laune zurück, um es wieder fortzusetzen, als ob ein bißchen Erbrechen die allergewöhnlichste Sache von der Welt wäre.

Auch als bei Besserung seines Befindens sich seine natürliche gute Laune von selbst wieder hob, merkte man das kaum, so fröhlich hatte er schon vorher geschienen. Nur sein Pflichteifer steigerte sich womöglich, und unverdrossen ließ er sich’s gefallen, daß man zu allen Tagesstunden seine Dienste in Anspruch nahm.

Wenn sich ein Sonnenstrahl an dem dunkeln Himmel zeigte, eilte er sofort in die Kajüte hinunter und kam gleich darauf mit irgendeinem Frauenzimmer am Arm, einem halben Dutzend Kindern, einem kranken Mann, einem Bett, einer Pfanne, einem Korb oder sonst irgendeinem Objekt, gleichviel ob belebt oder unbelebt, wieder zum Vorschein. Wenn gegen Mittag für ein paar Stunden schönes Wetter einsetzte und die armen Teufel, die zu andern Zeiten selten oder nie auf Deck kamen, heraufkrochen, sich auf die Deckplanken niederlegten und zu essen versuchten, so konnte man wetten, daß Mr. Tapley mitten unter dem Häuflein stand, Pökelfleisch und Zwieback verteilend, Grog einschenkend, den Kindern mit seinem Taschenmesser Brot abschneidend oder zur allgemeinen Zerstreuung aus einer uralten Zeitung vorlesend. Zuweilen sang er auch irgendein Lied, schrieb für Leute, die es selbst nicht verstanden, Briefe an ihre Freunde in der Heimat, machte Witze mit den Matrosen, wurde auch gelegentlich in die Nässe geschleudert und tauchte dann triefend aus einem Schauer von Sprühe auf, oder ging da und dort hilfreich an die Hand. Kurz, immer zeigte er sich tätig und fleißig. Wenn abends auf dem Verdeck Feuer angezündet wurde und die unter dem Takel- oder Segelwerk umherfliegenden Funken das Schiff mit sicherer Vernichtung durch Brand zu bedrohen schienen, im Falle es den wäßrigen und luftigen Elementen nicht gelingen sollte, die Zerstörung zu bewerkstelligen, so war es wieder Mr. Tapley, der, den Rock abgelegt und die Hemdsärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, bei allen Küchenverrichtungen mithalf, den Koch machte und die seltsamsten Gerichte auf den Tisch trug oder bereiten half, bis ihn schließlich jeder als eine Art Autorität anerkannte; mit einem Wort, niemals gab es wohl eine beliebtere Person an Bord des edeln und schnell segelnden Paketschiffes »Die Schraube« als Mark Tapley; und schließlich erntete er eine so allgemeine Bewunderung, daß er innerlich schon wieder ernstlich zu zweifeln begann, ob es noch eine Kunst genannt werden könne, unter so günstigen Bedingungen fidel zu sein.

»Wenn das so weitergeht«, sagte er vor sich hin, »so sehe ich keinen großen Unterschied zwischen der Schraube und dem Drachen. Ich glaube, es ist mir wirklich beschieden, nie und nirgends Ehre einzulegen, und ich fange wahrhaftig an zu fürchten, daß das Schicksal sich verschworen hat, mir die Welt leicht zu machen.« »Was glauben Sie, Mark«, rief Martin aus seiner Koje, in deren Nähe Mr. Tapley diese Worte vor sich hingesprochen hatte; »wann wird das alles endlich einmal ein Ende nehmen?«

»Wie ich höre«, berichtete Mark, »werden wir in einer Woche oder so irgendeinen Hafen anlaufen. Das Schiff beeilt sich jetzt, wie sich ein Schiff überhaupt nur beeilen kann. Aber das ist weiter nichts Anerkennenswertes; es ist seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.«

»Dieser Meinung bin ich auch«, brummte Martin.

»Sie würden sich, glaube ich, wohler befinden, wenn Sie mal aus ihrer Koje rauskröchen«, bemerkte Mark.

»Ja, natürlich; damit die Damen und Herren vom Hinterdeck sehen«, grollte Martin verdrossen, »wie ich mich unter dem elenden Bettlervolk herumtreiben muß, mit dem dieses elende Loch vollgepfropft ist. Und da sollte ich mich dann besser fühlen!«

»Gott sei Dank, daß ich nicht aus eigener Erfahrung weiß, wie ein Gentleman innerlich fühlt«, sagte Mark. »Aber ich sollte meinen, daß es auch einem Gentleman hier unten viel unbehaglicher zumute sein müßte als oben in der frischen Luft; besonders, wo die Damen und Herren von der Hinterkajüte gerade so wenig von ihm wissen wie er von ihnen.«

»Davon verstehen Sie offenbar nichts«, brummte Martin verdrossen.

»Sehr leicht möglich, Sir; das kommt bei mir öfters vor«, versetzte Mark in seiner unerschütterlichen Heiterkeit.

»Glauben Sie vielleicht, daß es mir Vergnügen macht, hier zu liegen?« fragte Martin, richtete sich auf den Ellbogen auf und warf einen ärgerlichen Blick auf ihn.

»Sämtliche Narrenhäuser der Welt zusammengenommen haben nicht einen einzigen Verrückten aufzuweisen, der so etwas glauben würde.«

»Warum reden Sie mir also dann zu, daß ich aufstehen soll?« fragte Martin. »Ich bleibe hier liegen, um nicht später einmal, wenn ich in bessern Verhältnissen sein werde, von irgendeinem Geldprotzen als der Mensch erkannt zu werden, der zugleich mit ihm als Zwischendeckpassagier nach Amerika gefahren ist. Ich bleibe hier liegen, um mich versteckt zu halten und weil ich nicht in der Neuen Welt mit dem Stempel tiefster Armut gebrandmarkt ankommen will. Hätte ich einen Platz auf dem Hinterdeck bezahlen können, so würde ich mich öffentlich zeigen wie die andern. Da das leider nicht der Fall ist, muß ich mich eben verbergen.«

»Das tut mir sehr leid, Sir«, bedauerte Mark. »Ich habe nicht wissen können, daß Sie sich’s so zu Herzen nehmen.«

»Natürlich, wie können Sie’s denn auch wissen, wenn ich’s Ihnen nicht sage. – – Sie machen sich selbstverständlich nichts daraus, sich unter die Leute hier zu mischen. Sie sind’s wahrscheinlich gewöhnt. Bei mir ist aber das Gegenteil der Fall. Glauben Sie mir, es ist kein Mann an Bord, der so viel leidet wie ich. Wie?« Er richtete sich auf und sah Mark mit einer Mischung von Ernsthaftigkeit und Neugierde an.

Mark schnitt ein Gesicht und schien es offenbar für sehr schwer zu halten, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Schließlich erlöste ihn Martin selbst aus seiner Verlegenheit, indem er sich wieder zurücklehnte, nach seinem Buche griff, in dem er vorhin gelesen, und sagte:

»Aber was stelle ich Ihnen auch solche Fragen, wo Sie doch die wahre Bedeutung meiner Worte gar nicht verstehen können. Machen Sie mir, bitte, ein wenig Branntwein mit Wasser zurecht; kalt und sehr schwach; – und dann geben Sie mir einen Zwieback und sagen Sie Ihrer wertgeschätzten Freundin, sie solle darauf achten, daß ihre Kinder heute nacht sich ein wenig ruhiger verhalten. Vergessen Sie aber nicht, ihr es auszurichten; wir könnten sonst leicht aneinandergeraten.«

Mit großer Bereitwilligkeit kam Mr. Tapley diesem Befehl nach, und dabei schien seine gute Laune wieder aufzuleben; wenigstens brummte er vor sich hin, daß die »Schraube«, was die Möglichkeit beträfe, aus dem Fidelsein eine Kunst zu machen, doch so mancherlei vor dem »Drachen« voraus habe.

Kurze Zeit darauf entstand eine große Aufregung an Bord, und allerhand Prophezeiungen kursierten hinsichtlich des Tages, ja sogar der Stunde, in der man New York bestimmt erreichen werde. So viel Gedränge und Neugierige, die alle nach Land ausspähten, hatte es bis jetzt noch nicht auf dem Verdeck gegeben. Wie eine Krankheit überfiel alle die Sucht, morgens einzupacken, was abends wieder ausgepackt werden mußte, und wer Briefe zu besorgen, Freunde zu treffen oder irgendeinen bestimmten Lebensplan für Amerika hatte, besprach wohl hundertmal am Tag, was ihm am meisten am Herzen lag. Und da die Zahl solcher Passagiere sehr klein, die der andern aber sehr groß war, so gab es wenig Sprecher und sehr viel Zuhörer. Leute, die auf der ganzen Fahrt unwohl gewesen waren, wurden jetzt plötzlich gesund, und den stets Gesunden wurde noch wohler. Ein amerikanischer Gentleman vom Hinterdeck, der auf der ganzen Fahrt im Pelz und Wachsleinwandanzug eingemummt dagesessen, tauchte jetzt mit einem Male mit einem sehr glänzenden, sehr hohen und sehr schwarzen Hute auf und hantierte beständig mit einem kleinen Felleisen aus Naturleder herum, das seine sämtlichen Kleider nebst Wäsche, Bürsten, Rasierzeug, Büchern, Juwelen und andern unentbehrlichen Dingen enthielt. Die Hände tief in die Taschen vergraben, wanderte er auf dem Verdeck auf und ab mit aufgeblasenen Nüstern, als atme er schon die Luft der Freiheit ein, die bekanntlich allen Tyrannen den Tod bringt und niemals – vereinzelte Fälle vielleicht ausgenommen – von Sklavennaturen eingeatmet werden kann. Ein englischer Gentleman, der stark im Verdachte stand, ein flüchtiger Bankkassierer zu sein und mancherlei mitgenommen zu haben, was von Rechts wegen in die Kassen gehörte, wurde sehr beredt hinsichtlich des Themas »Menschenrechte« und summte ohne Unterlaß die Marseillaise. Kurz, überall herrschte die größte Aufregung an Bord. Immer mehr näherte sich das Schiff der Küste, und endlich, in einer sternenhellen Nacht, wurde ein Lotse an Bord genommen, ein paar Stunden später bis zum Morgen beigelegt und die Ankunft des Dampfers erwartet, in dem die Passagiere an Land gebracht werden sollten.

Die Barkasse langte bald nach Tagesgrauen an und blieb eine Stunde oder so Bord an Bord neben der »Schraube« liegen, ein Ereignis, das sogar die stummen Heizer sichtlich mit Interesse erfüllte. Dann wurde die gesamte lebende Fracht auf die Barkasse geschafft, darunter Mark, der noch immer seine arme Freundin und ihre drei Kinder bemutterte, und Martin, der wieder in seinen gewöhnlichen Anzug gekleidet war, darüber aber einen schmutzigen alten Mantel trug, um nicht aufzufallen.

Der Dampfer, der mit seiner Überdeckmaschine wie ein ungeheures Insekt oder antediluvianisches Ungeheuer aussah, schoß rasch eine schöne Bucht hinauf, und gleich darauf wurden einige Anhöhen, Inseln und eine große weitläufig angelegte Stadt sichtbar.

»Also dies«, sagte Mr. Tapley und ließ seinen Blick über das Panorama hinschweifen, »also das ist das Land der Freiheit. Gut. Freut mich. Mir ist jedes Land recht – nach so viel Wasser. Sei mir gegrüßt, Columbia!«

11. Kapitel


11. Kapitel

Worin ein gewisser Herr einer gewissen Dame seine besondere Aufmerksamkeit zollt und mehr als ein zukünftiges Ereignis seine Schatten vorauswirft

In zwei oder drei Tagen sollte die Familie von Todgers‘ abreisen, und die Herren Handelsbeflissenen waren samt und sonders wegen der bevorstehenden Trennung untröstlich. Miss Charitas Pecksniff saß gerade mit ihrer Schwester im Bankettsaale und säumte für Mr. Jinkins sechs neue Taschentücher, als »Old Bailey« eintrat, zuvörderst den frommen Wunsch ausdrückte, er »wolle verdammt sein», und dann in seiner einschmeichelnden Weise der jungen Dame zu verstehen gab, es harre ihrer im Gesellschaftszimmer ein Besuch, der ihr seine Aufwartung zu machen wünsche. Vielleicht bewies diese Mitteilung schlagender als die längsten Reden die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit des jugendlichen Portiers, sintemalen er in der Tat den Besuch zuletzt an der Haustüre gesehen und nach dem Bedeuten, sich nur hinaufzubemühen, seinem eigenen Orts- und Spürsinn überlassen hatte. Ausgeschlossen war es daher keineswegs, daß der Gast in diesem Augenblick nach dem Dache des Hauses hinaufwanderte oder sich vergeblich aus einem Labyrinth von Schlafkammern herauszuwinden suchte, zumal Mrs. Todgers‘ Etablissement ganz das Haus danach war, in dem ein Fremder ohne ortskundigen Lotsen recht hübsch in die Lage kommen konnte, an einen Platz zu gelangen, den er am allermindesten erwartete oder wünschte.

»Ein Herr zu mir?« rief Charitas und hielt in ihrer Arbeit inne. »Was nicht gar, Bailey!«

»Oder vielleicht ja gar», sagte Old Bailey neckisch.

Diese Bemerkung wäre an sich etwas dunkel gewesen, wenn sie der Jüngling nicht mit einer Pantomime begleitet hätte, die ein Arm in Arm zum Altar schreitendes Liebespärchen darstellen und damit die zärtlichen Absichten des Besuches draußen andeuten sollte. Miss Charitas tat, als ob sie diese Kühnheit höchlich übelnehme, konnte sich aber trotzdem eines Lächelns nicht erwehren. Bailey war freilich ein wunderlicher Junge, aber so albern auch sein Benehmen zu sein pflegte, so lag ihm doch meistens irgend etwas Sinngemäßes zugrunde.

»Aber ich kenne hier gar keinen fremden Herrn, Bailey«, sagte Miss Pecksniff. »Du mußt dich wohl geirrt haben.«

Mr. Bailey lächelte bloß über die unerhörte Zumutung und betrachtete die jungen Damen mit unverminderter Heiterkeit.

»Meine liebe Gratia«, wendete sich Charitas an ihre Schwester, »wer kann das nur sein? Seltsam, nicht? Ich möchte mich am liebsten verleugnen lassen. Weißt du, es ist gar so sonderbar!«

Gratia witterte augenblicklich hinter diesen Worten eine versteckte Selbstüberhebung oder die Absicht – da sie selbst soviel Furore bei den Herren Handelsbeflissenen gemacht –, ihre Schwester wolle sich an ihr rächen, und versetzte daher liebreich und feinfühlig, es sei ohne Zweifel »sehr sonderbar« und durchaus unbegreiflich, was der lächerliche Unbekannte mit seinem Besuch wollen könne.

»Unbegreiflich! Natürlich!« schrillte Charitas. »Um so unbegreiflicher, daß du dich darüber so ärgerst, mein Herz!«

»Ich mich ärgern?« spöttelte Gratia und fing an, eine Arie zu trällern.

»Ich fürchte, sie haben dir den Kopf verdreht, du einfältiges Ding«, sagte Charitas.

»Weißt du, liebste Schwester«, gestand Gratia mit entzückender Offenherzigkeit, »daß ich das selbst schon lang gefürchtet habe? Soviel Hofmachen und Schmeichelei, soviel Weihrauch und Vergötterung könnte wahrhaftig einen stärkern Kopf als den meinigen verdrehen. Welch ein Trost muß es für dich sein, meine Liebe, es in dieser Hinsicht so gut zu haben und nicht von diesem abgeschmackten Männervolk gequält zu werden. Wie fängst du es nur an, Cherry?«

Diese arglose Frage würde zweifelsohne zu den stürmischsten Resultaten geführt haben, hätte nicht Mr. Bailey, außer sich vor Entzücken über die Wendung, die das Gespräch zu nehmen drohte, sich angeschickt, einen ekstatischen Freudentanz aufzuführen, um seinem Ergötzen Ausdruck zu verleihen, und die beiden Schwestern dadurch veranlaßt, getreu ihrer guten Erziehung den Schein zu wahren. Sie vertrugen sich daher schnell wieder und bedeuteten Mr. Bailey einmütig, sie würden, wenn er nicht sofort aufhöre, Mrs. Todgers von seinem Betragen in Kenntnis setzen und eine gebührende Züchtigung für ihn beantragen. Der Jüngling drückte daraufhin sofort die Bitterkeit seiner Zerknirschung dadurch aus, daß er tat, als wische er sich den heißen Tränenstrom mit der Schürze ab und winde sie dann angestrengt aus, öffnete aber gleich darauf, um sein Vergehen wiedergutzumachen, Miss Charitas die Türe, so daß sie prunkvoll abziehen und die Treppe hinaufgehen konnte, ihren geheimnisvollen Anbeter zu empfangen.

Infolge eines sonderbaren Zusammenwirkens günstiger Umstände hatte dieser inzwischen das Gesellschaftszimmer glücklich aufgefunden und war jetzt der einzige Insasse desselben.

»Ah, Cousine!« begann er. »Da bin ich, wie Sie sehen. Ich möchte wetten, Sie haben geglaubt, ich sei verlorengegangen. Na, wie ist’s Ihnen denn in der Zwischenzeit ergangen?«

Miss Charitas erwiderte, sie befände sich vollkommen wohl, und reichte Jonas Chuzzlewit die Hand.

»Das ist recht«, sagte Mr. Jonas, »und haben Sie sich von den Reisestrapazen gut erholt? – Na, und was macht denn ›die andere‹?«

»Ich glaube, meine Schwester ist ebenfalls ganz wohl, wenigstens hat sie sich nicht über Unwohlsein beklagt, Sir. Aber vielleicht wollen Sie sie sehen und selbst fragen?«

»Nein, nein, Cousine!« lehnte Mr. Jonas ab und ließ sich neben der jungen Dame am Fenstersitz nieder. »Es eilt gar nicht. Gar kein Grund jetzt. Was Sie doch für ein grausames Mädel sind!«

»Sie wissen auch viel, ob ich’s bin oder nicht«, erwiderte Cherry.

»Hm, wohl möglich«, gab Mr. Jonas zu. »Aber sagen Sie, haben Sie nicht geglaubt, ich sei verlorengegangen? Sie haben mir das noch gar nicht beantwortet.«

»Ich habe überhaupt gar nicht darüber nachgedacht«, antwortete Cherry. »Wirklich nicht? Hm, merkwürdig! Na, vielleicht hat’s die andere getan?«

»Ich kann wahrhaftig nicht sagen, was meine Schwester gedacht oder nicht gedacht hat«, erwiderte Cherry »Sie hat mit mir kein Wort darüber gesprochen.«

»Hat sie auch nicht darüber gelacht?«

»Nein, nicht einmal das.«

»Lachen kann sie fürchterlich – was?« fragte Jonas und dämpfte vertraulich seine Stimme.

»Sie ist sehr lebhaft«, gab Cherry zu.

»Lebhaftigkeit ist ganz hübsch, wenn sie nur nicht zum Geldausgeben führt. – Meinen Sie nicht auch?«

»Allerdings«, entgegnete Cherry mit einer Gesetztheit, die ihrer Antwort einen ungemein uneigennützigen Anstrich verlieh.

»So eine Lebhaftigkeit, meine ich, wie die Ihrige«, bemerkte Mr. Jonas und stieß seine Cousine mit dem Ellenbogen an. »Ich hätte Sie schon früher besucht, wußte aber nicht, wo Sie wohnen. – Wie schnell Sie sich an jenem Morgen auf und davon gemacht haben!«

»Ich befolgte nur die Weisungen meines Papas.«

»Ich wollte, er hätte mir seine Adresse gegeben«, brummte Jonas, »dann hätte ich Sie früher ausfindig gemacht. Es wär‘ mir sogar jetzt unmöglich gewesen, wenn ich ihn nicht diesen Morgen unterwegs getroffen hätte. – Was er für ein aalglatter, schlauer Kunde ist, ganz wie ein Kater – hab ich nicht recht?«

»Möchten Sie nicht gefälligst ein wenig achtungsvoller von meinem Vater sprechen, Mr. Jonas«, erwiderte Charitas. »Ich kann einen solchen Ton nicht dulden – nicht einmal im Scherz.«

»Ah bah! Sie können von meinem Vater ja auch sagen, was Sie wollen; ich gebe Ihnen volle Erlaubnis dazu«, entgegnete Jonas. »Ich glaube, es ist bloß der Wunsch, einem im Wege zu sein, der ihn am Leben erhält, und nicht der Blutkreislauf. – Für wie alt halten Sie übrigens meinen Vater, Cousine?«

»Er ist sicher hochbetagt«, schätzte Miss Charitas; »aber dabei ein schöner alter Gentleman.«

»Ein schöner alter Gentleman!« höhnte Jonas und schlug ärgerlich auf den Deckel seines Hutes. »Hm. Na! Ich dächte, es wäre schon höchste Zeit, daß er – – –. Achtzig Jahre ist er jetzt glücklich!«

»Wirklich?«

»Und Schockschwerenot, hat er’s schon so weit gebracht, ohne abzukratzen, möchte ich wissen, was ihn hindern sollte, neunzig oder gar hundert zu werden. Ein Mensch mit nur ein bißchen Gefühl im Leib sollte sich schämen, achtzig Jahre alt zu werden – von mehr gar nicht zu reden. Möchte gern wissen, wo da die Religion bleibt, wenn einer dermaßen die Bibel zuschanden macht. Siebzig Jahr, wenn’s hoch kommt, sagt die Bibel, dauert das Leben, und kein Mensch, der einigermaßen Gewissen und Gefühl für das besitzt, was von ihm erwartet wird, hat nach dieser Zeit noch etwas auf der Welt zu schaffen –.

Aber genug jetzt von dem Alten. Wozu sich da auch noch giften. – Ich bin gekommen, um Sie zu einem Spaziergang abzuholen, Cousine, damit Sie ein paar der Sehenswürdigkeiten in Augenschein nehmen können. Dann kommen Sie mit mir in unser Haus und nehmen einen kleinen Imbiß ein. Pecksniff wird, wie er sagt, gegen Abend wahrscheinlich auch vorsprechen und Sie nach Hause bringen. Wenn Sie mir übrigens nicht glauben wollen, kann ich’s Ihnen ja schriftlich beweisen; ich ließ mir dies da von ihm geben, weil er mir sagte, er habe noch ein paar Besorgungen zu machen. Gelt, es geht halt nichts über schwarz auf weiß. Ha, ha! – Übrigens, vergessen Sie nicht, auch ›die andere‹ mitzubringen!«

Miss Charitas warf einen Blick auf das Autogramm ihres Vaters, das bloß die Worte enthielt. »Geht mit eurem Vetter, Kinder. Laßt womöglich Einigkeit unter uns walten«, zierte sich noch eine Weile, um ihrer Einwilligung den gebührenden Wert zu verleihen, und entfernte sich dann, um sich mit ihrer Schwester für den Ausflug anzuziehen. Bald darauf kehrte sie wieder zurück, von Miss Gratia begleitet, der es durchaus nicht behagte, den Schauplatz ihrer Triumphe in Todgers‘ Etablissement der Gesellschaft Mr. Jonas‘ und seines achtbaren Vaters wegen zu verlassen.

»Aha!« rief Jonas. »Aha, da sind Sie ja – was?«

»Ja, Sie Ekel« versetzte Gratia, »da bin ich. – Ich kann Ihnen aber versichern, daß ich weit lieber anderswo wäre.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst?« rief Mr. Jonas. »Mir werden Sie nicht einreden, daß das wirklich Ihr Ernst ist.«

»Denken Sie sich, was Sie wollen, Sie Ekel«, erwiderte Gratia. »Ich bleibe bei meiner Ansicht, und die ist, daß Sie ein unangenehmer, abscheulicher, widerwärtiger Mensch sind.«

Dabei lachte sie herzlich und schien überhaupt äußerst vergnügt zu sein.

»Na, Sie sind mir die richtige!« sagte Mr. Jonas. »Nicht wahr, sie ist ein Lausmädel – was, Cousine?«

Miss Charitas erwiderte, sie sei wirklich außerstande, zu sagen, worin die Hauptmerkmale eines »Lausmädels« bestünden, und wenn sie auch in dieser Hinsicht informiert wäre, so könne sie doch unmöglich einräumen, daß ein Geschöpf mit so unzeremoniösem Namen in ihrer Familie existiere – am allerwenigsten in der Person einer geliebten Schwester, »welcher Art«, setzte sie mit einem giftigen Blick hinzu, »welcher Art deren wahrer Charakter auch sein möge.«

»Alles recht schön, mein Schatz«, sagte Gratia, »aber ich erkläre, wenn wir nicht bald ausgehen, nehme ich meinen Hut wieder ab und bleibe zu Hause.«

Diese Drohung erreichte den gewünschten Zweck, weitere Sticheleien zu verhindern; der Vorschlag Mr. Jonas‘, die Debatte zu vertagen, wurde angenommen, und alle drei verließen einmütig das Haus. An der Haustüre reichte Mr. Jonas jeder der jungen Damen einen Arm, und »Old Bailey«, der ihnen von dem Dachfenster aus zusah, begrüßte diesen Akt von Galanterie mit einem lauten und heftigen Hustenanfall, der erst ein Ende nahm, als sie um die Ecke bogen.

Mr. Jonas leitete die Unterhaltung mit der Frage ein, ob die Damen auch gute Fußgängerinnen seien, und als sie bejahten, stellte er ihre pedestrischen Fähigkeiten auf die denkbar härteste Probe; das heißt, er zeigte ihnen an einem einzigen Vormittag mehr Sehenswürdigkeiten in Gestalt von Brücken, Straßen, Theaterfronten und anderen wohlfeilen Merkwürdigkeiten, als ein Durchschnittsmensch in zwölf Monaten vertragen hätte. Geradezu auffallend war sein unüberwindlicher Widerwillen gegen das Innere von Gebäuden, deren Besichtigung mit Entree verbunden war und die er offenbar genau kannte; wenigstens erklärte er sie durchwegs für abscheulich und gräßlich langweilig. Seine Überzeugung in dieser Hinsicht wurzelte so tief, daß er sich vor Lachen gar nicht fassen konnte, und als Miss Charitas zufälligerweise erwähnte, sie seien zwei- oder dreimal mit Mr. Jinkins und der Gesellschaft von Todgers – natürlich auf deren Kosten – im Theater gewesen, die Herren für ganz unglaubliche Einfaltspinsel erklärte.

Nachdem sie etliche Stunden umhergeschlendert und völlig erschöpft waren – es begann bereits zu dämmern –, meinte Mr. Jonas, er wolle den Damen jetzt einen der besten Späße vormachen, die ihm bekannt seien. Dieser Witz war ungemein praktischer Art und bestand darin, daß er eine Droschke nach dem »entlegensten Punkte mietete, der sich für einen Schilling erreichen läßt.« Glücklicherweise erreichten sie so den Ort, wo Mr. Jonas wohnte, sonst wäre der Spaß daneben gelungen.

Die alte, seit Jahrzehnten existierende Firma Anthony Chuzzlewit & Sohn, Manchesterwaren und so weiter, hatte ihr Geschäftslokal in einer engen Straße hinter dem Postamt, wo jedes Gebäude selbst an den schönsten Sommermorgen in tiefstem Dunkel liegt, – wo in den Hundstagen die Hausmeister auf das Pflaster vor den Wohnungen ihrer Chefs phantastische Ornamente gießen und man bei warmem Wetter in den Torwegen geschniegelte Gentlemen müßig umherstehen sehen kann, die Hände in den Taschen ihrer symmetrischen Hosenbeine und in den Anblick ihrer Stiefel versunken – augenscheinlich ihr schwerstes Tagewerk –, vielleicht davon abgesehen, daß sie hin und wieder Federn hinter den Ohren tragen.

Es war ein düsteres, schmutziges, verrußtes, baufälliges, altes Haus, aber das hinderte weder Mr. Chuzzlewit noch seinen Sohn, hier nicht nur ihren Geschäften, sondern auch ihren Vergnügungen obzuliegen. Weder der junge noch der alte Herr hatten jemals anderswo gewohnt oder sich um etwas gekümmert, das über ihre engen Grenzen hinausging.

Das Geschäft war, wie man sich leicht denken kann, hier die Hauptsache, und zwar in solchem Maße, daß jeglicher Komfort in den Hintergrund trat und man sogar bei den häuslichen Einrichtungen auf Schritt und Tritt auf Bureaugegenstände stieß. So hingen zum Beispiel in den armseligen Schlafkammern Bündel verstaubter alter Briefe an den Wänden; unbrauchbar gewordene Stoffmuster und Überbleibsel von verdorbenen Waren lagen umher, und die schmalen Bettgestelle, die Waschtische und Teppichfetzen waren als Gegenstände untergeordneter Bedeutung und notwendige Übel des Privatlebens kunterbunt in den Ecken zusammengedrängt. Das einzige Wohnzimmer bildete, dem gleichen Grundsatze gemäß, ein Chaos von Kisten, Truhen und alten Papieren und war weit reichlicher mit Kontorböcken als mit Sesseln ausgestattet – gar nicht zu gedenken eines Ungeheuers von Schreibpult, das bis über die Mitte der Stube hinreichte, und einer über dem Kamin in die Wand eingelassenen eisernen Geldkasse. Der vereinsamte kleine Tisch, der zum Speisen und geselligen Beisammensein bestimmt war, verhielt sich hinsichtlich seines Ausmaßes zu den Pulten und anderen Geschäftsrequisiten ungefähr ebenso wie Anmut und Heiterkeit in der Lebensführung des alten Mannes und seines Sohnes zu dem Ringen und Jagen nach Reichtum, dem sie von jeher obgelegen.

Im gegenwärtigen Augenblick war er notdürftig für ein Dinner gedeckt, und in einem Stuhl vor dem Kaminfeuer saß Anthony selbst, stand aber auf, als der Damenbesuch eintrat, um seinen Sohn und die schönen Schwestern zu bewillkommnen.

»Nun, Gespenst«, begrüßte Mr. Jonas seinen Vater mit dem Kosenamen, den er ihm in solchen Fällen beizulegen pflegte; »ist das Essen bald fertig?«

»Ich dächte, ja«, versetzte der alte Mann.

»Was heißt das: ich dächte? – Wissen möcht ich’s«, knurrte Jonas ärgerlich.

»Na, gewiß weiß ich’s selber auch nicht«, entschuldigte sich der Patriarch.

»Das glaube ich dir aufs Wort«, brummte Jonas. »Du, und einmal etwas genau wissen! – Gib mir lieber die Kerze her; ich brauche sie für die Mädels.«

Anthony reichte ihm einen verbeulten alten Kontorleuchter, und Mr. Jonas geleitete die jungen Damen in die anstoßende Schlafkammer, wo sie ihre Schals und Hüte ablegen konnten. Dann beschäftigte er sich damit, eine Weinflasche zu entkorken und das Tranchiermesser zu wetzen, und machte seinem Vater halblaut Komplimente, bis die Schwestern zurückkamen und das Essen aufgetragen wurde. Das Dinner bestand aus einer gebratenen Hammelkeule mit Gemüse und Kartoffeln und wurde von einem alten Weib in Schlappschuhen serviert oder vielmehr ohne weitere Umstände auf den Tisch gestellt.

»Sie sehen, Cousine – Junggesellenwirtschaft!« bemerkte Mr. Jonas zu Charitas. »Da wird’s wieder was zu lachen geben für ›die andere‹, wenn sie nach Hause kommt – meinen Sie nicht? Da – Sie setzen sich rechts neben mich, und sie kann links neben mir Platz nehmen. Na, ›Andere‹, haben Sie keine Lust?«

»Sie sind eine so widerwärtige Vogelscheuche«, versetzte Gratia, »daß mir der Appetit vergehen wird, wenn ich neben Ihnen sitze. Aber, es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben.«

»Na, ist die vielleicht nicht lebhaft – was?« flüsterte Mr. Jonas mit seiner beliebten Ellenbogenemphase der älteren Schwester zu.

»Ich bitte, lassen Sie mich doch schon in Ruhe«, versetzte Miss Charitas gereizt. »Ich habe wirklich diese albernen Fragen nachgerade satt.«

»Hallo, was treibt denn mein wertgeschätzter greiser Vater schon wieder?« rief Mr. Jonas, als er bemerkte, daß der alte Herr, statt seinen Platz am Tisch einzunehmen, im Zimmer auf und nieder ging. »Was suchst du denn?«

»Ich habe meine Brille verlegt, Jonas«, antwortete der alte Anthony.

»Na, setz dich halt ohne Brille nieder. Ich glaube, zum Essen und Trinken wirst du sie wohl nicht nötig haben. – Wo bleibt übrigens die Schlafmütze, der alte Chuffey? – Na, Dummkopf! Können Sie sich vielleicht nicht mehr an Ihren Namen erinnern, – was?«

Fast hatte es den Anschein, als ob das wirklich der Fall sei; wenigstens kam Mr. Chuffey erst, als Mr. Chuzzlewit senior ihn wiederholt laut gerufen, aus dem kleinen Kontor, das von dem Speisezimmer durch einen Bretterverschlag getrennt war, hervor. Er war ein altes triefäugiges, schmalwangiges Männchen, altmodisch, in einen abgenutzten schwarzen Anzug, der an Verstaubtheit mit dem Hausgerät wetteiferte, gekleidet. Seine kurzen Kniehosen waren mit zerschlissenen Bänderbüscheln geschmückt und die Schuhe mit Armeleuteriemen zugeschnürt, während der untere Teil seiner Spindelbeine in schmutzigen, schwarzwollenen Strümpfen stak. Er sah aus, als hätte man ihn vor einem halben Jahrhundert in einer Rumpelkammer vergessen und soeben erst wieder aufgefunden.

Er kam jetzt langsam auf den Tisch zugeschlichen und ließ sich endlich unentschlossen auf einen Stuhl nieder. Als ihn seine trüben Sinne die Anwesenheit von Fremden und zumal von fremden Damen erkennen ließen, erhob er sich wieder, augenscheinlich in der Absicht, eine Verbeugung zu machen, setzte sich dann aber, ohne sie gemacht zu haben, hauchte in seine welken Hände und verblieb mit seiner armen blauen Nase unbeweglich über den Teller gebeugt, mit seinen blöden Augen ausdruckslos vor sich hinstarrend.

»Unser Buchhalter«, stellte ihn Mr. Jonas als Wirt und Zeremonienmeister vor, »der alte Chuffey.«

»Ist er taub?« fragte eine der jungen Damen.

»Nicht daß ich wüßte. – Vater, ist er eigentlich taub oder nicht?«

»Er hat mir nie gesagt, daß er’s sei«, versetzte der alte Mann.

»Oder blind?« fragten die Mädchen.

»Hm. Auch nicht. Wüßte nicht, daß er blind wäre. Was meinst du, Vater?«

»Gewiß nicht«, versicherte Anthony.

»Ich will Ihnen sagen, was er ist«, wendete sich Jonas vertraulich zu den jungen Damen, »erstens einmal ist er schauderhaft alt, und das mißfällt mir ganz besonders an ihm, denn ich glaube, mein Vater hat sich an seiner Langlebigkeit angesteckt. – Und zweitens ist er ein kurioser alter Kauz«, setzte er laut hinzu, »der keinen anderen Menschen versteht als ihn!«

Dabei deutete er mit der Tranchiergabel auf seinen ehrenwerten Erzeuger, um keinen Irrtum aufkommen zu lassen, wen er meinte.

»Oh, wie sonderbar!« riefen die Schwestern. »Na ja, wissen Sie«, erklärte Jonas, »er hat sein ganzes Leben lang sein altes Gehirn mit Ziffern und Buchhalterei unfruchtbar gemacht. Vor etlichen zwanzig Jahren bekam er’s Fieber und phantasierte drei Wochen lang. Dabei rechnete und rechnete er bis in die Millionen hinein. Ich glaube, er ist heute noch nicht damit zurechtgekommen. Doch unser Geschäft hat gegenwärtig keinen sonderlichen Umfang, und er ist kein übler Buchhalter.«

»Sogar ein sehr guter«, bemerkte Anthony

»Na, keinesfalls ein teurer. Er verdient sein Salz und Brot, und das genügt schließlich. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß er kaum jemand anderen versteht als meinen Vater; den versteht er aber auch immer, und dann spitzt er die Ohren. Er ist eben schon lange an ihn gewöhnt. Ich habe ihn sogar schon einmal mit meinem Vater Whist spielen und einen ganz guten Rubber machen sehen, obschon er damals so wenig wußte, gegen wen er spielte, wie Sie.«

»Hat er denn keinen Appetit?« fragte Gratia.

»Hm, ja. Wahrscheinlich«, antwortete Jonas und handhabte selbst Messer und Gabel sehr emsig. »Er ißt schon – nur muß man ihm zureden. Solang der Vater da ist, macht er sich nichts draus, eine Minute oder auch eine Stunde zu warten. Wenn ich mal scharf im Zuge bin, wie es heute der Fall ist, stupse ich ihn immer erst, bis ich selbst meinen eigenen Heißhunger ein bißchen gestillt habe. – Na, Chuffey Dussel, – was ist’s mit dem Essen?«

Chuffey blieb unbeweglich.

»Immer der verdrehte alte Spitzbube«, brummte Mr. Jonas und verhalf sich kaltblütig zu einem neuen Stück Braten. »Frag du ihn, Vater!«

»Ob Sie nicht essen wollen? – Sind Sie bereit, Chuffey?« fragte der alte Mann.

»Ja, ja«, antwortete Chuffey, beim ersten Klang dieser Stimme aus seinem Versunkensein erwachend. »Ja, ja. Ganz bereit, Mr. Chuzzlewit. Ganz bereit, Sir, ganz bereit.«

Dann hielt er lächelnd inne und harrte auf eine weitere Ansprache. Als diese nicht erfolgte, nahm sein Gesicht allmählich wieder den früheren nichtssagenden Ausdruck an. »Geben Sie acht, gleich wird er ungemein appetitlich werden«, bemerkte Jonas zu den jungen Damen und reichte die Portion des alten Mannes seinem Vater hinüber. »Er erstickt nämlich immer beinah, wenn’s nicht grad Fleischbrühe ist. Schauen Sie ihn nur an! Haben Sie je einen Droschkengaul mit so gläsernen Augen gesehen, wie ihn? War’s nicht so ein Mordsspaß mit ihm, hätte ich ihn heute nicht zu Tisch kommen lassen; aber ich hab mir gedacht, es wird Sie unterhalten.«

Glücklicherweise vernahm der bedauernswerte Greis von diesen menschenfreundlichen Reden ebensowenig wie überhaupt von all dem, was in seiner Gegenwart gesprochen wurde; da jedoch die Hammelkeule zäh und sein Zahnfleisch weich war, so bewahrheitete sich alsbald die Voraussage hinsichtlich seiner Neigung zum Ersticken, und sein junger Prinzipal hatte vollauf Gelegenheit, zu versichern, das sei das Ergötzlichste, was er in seinem Leben gesehen, und er werde vor Lachen noch platzen. Ja, er ging sogar so weit, den Schwestern zu versichern, Chuffey überböte in dieser Hinsicht sogar noch seinen Vater, was doch, wie er bedeutungsvoll hinzufügte, wirklich ein starkes Stück sei.

Sonderbar genug war es, daß ein so alter Mann wie Anthony Chuzzlewit Wohlgefallen an den Spottreden finden konnte, in denen sich sein vortrefflicher Sohn auf Unkosten des armen Schattens von einem Menschen erging, aber es war nichtsdestoweniger der Fall, wenn auch weniger aus Rücksichtslosigkeit für den greisen Buchhalter als vielmehr aus Freude über die Witzigkeit seines Sprößlings. Nur aus diesem Grunde rieb er sich auch immer entzückt die Hände bei den rohen Anspielungen des jungen Mannes auf ihn selbst und kicherte verstohlen, als wollte er sagen: ich bin doch sein Lehrer! Ich habe ihn herangebildet. Er ist mein Erbe – schlau, listig und habsüchtig. Er wird mein Geld sicherlich nicht verschleudern. Dafür habe ich mich geplagt. Das ist das große Ziel und der Zweck meines Lebens gewesen.

Chuffey trödelte so lange beim Essen, daß Mr. Jonas endlich die Geduld verlor, ihm den Teller wegriß und seinen Vater ersuchte, dem verehrungswürdigen Greis zu bedeuten, er möge gefälligst an »seinem Brot weitermümmeln« – was dieser auch unverzüglich ausrichtete. »Ja, ja!« rief der alte Buchhalter, und sein Gesicht hellte sich auf, als die bekannte Stimme sein Ohr traf; »schon recht – schon recht. Er ist Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit! – Ein gerissener junger Herr – aber Gottes Segen über ihn, Gottes Segen über ihn!«

Mr. Jonas kam dies – und vielleicht nicht mit Unrecht – so absonderlich kindisch vor, daß er sich vor Lachen nur so schüttelte und zu seiner Cousine sagte, er fürchte, Chuffey werde eines schönen Tages noch sein Tod sein. Dann wurde das Tischtuch entfernt und eine Flasche Wein gebracht. Mr. Jonas füllte den jungen Damen die Gläser und forderte sie auf, sich nur ordentlich dazuzuhalten; sie dürften versichert sein, im Keller befänden sich noch eine ganze Menge Flaschen. Natürlich, fügte er gleich darauf hastig hinzu, mache er nur Spaß.

»Also, auf Pecksniffs Gesundheit!« rief Anthony. »Ihr Vater soll leben, meine Lieben! Ein gescheiter Mann, der Pecksniff. Ein schlauer Mann! – Aber doch ein Heuchler, was? Ein Heuchler – sagt selber, Mädels! – Was? Ha, ha, ha! Ja, das ist er – unter Freunden gesprochen – das ist er. Ich denke deshalb nicht schlechter von ihm. Wenn er’s nur nicht so übertriebe. Man kann alles übertreiben, meine Lieben – sogar die Heuchelei. Fragt nur Jonas!«

»Nur die Sorge ums eigene Wohl kann man nicht übertreiben«, bemerkte der hoffnungsvolle junge Mann mit vollem Munde.

»Hört ihr’s, Kinder?« rief Anthony entzückt. »Das nenne ich Weisheit! Wirklich ein Vorbild, der Jonas! Ganz recht, darin kann man nicht leicht übertreiben.«

»Ausgenommen«, flüsterte Mr. Jonas Miss Charitas zu, »ausgenommen, wenn einer zu lange lebt. – Ha, ha! – Sagen Sie’s auch der ›andern‹!«

»Aber du lieber Himmel«, rief Cherry verdrießlich. »Warum sagen Sie’s ihr denn nicht selbst?«

»Sie macht sich immer so gern lustig über einen«, meinte Mr. Jonas.

»Also, warum kümmern Sie sich dann immer um sie! Sehen Sie denn nicht, daß Sie sich nichts aus Ihnen macht? Muß man Ihnen das wirklich erst sagen?« Mr. Jonas erwiderte weiter kein Wort, blickte aber Gratia mit einer so ausdrucksvollen Miene an, daß man deutlich darin lesen konnte: »Verlaß dich drauf, das Herz wird mir deshalb nicht brechen«; dann liebäugelte er mit Charitas noch zärtlicher als zuvor und bat sie in seiner ritterlichen Weise, doch ein wenig näher zu rücken.

»Es gibt übrigens noch etwas, das sich gleichfalls nicht so leicht übertreiben läßt, Vater«, bemerkte er nach einer kurzen Pause.

»Und das wäre?« fragte Anthony Chuzzlewit, schon im voraus grinsend.

»Das Profitmachen! – Ehrlich währt am längsten,– – bevor man’s zu was bringt. Das ist die erste Regel für den Geschäftsmann – alles andre ist dummes Zeug.«

Entzückt applaudierte der alte Herr, daß es nur so widerhallte, und war derart von der Sentenz seines Sohnes erbaut, daß er sich sogar der Mühe unterzog, sie Chuffey mitzuteilen, der sich darob in all den matten Freudenäußerungen erging, deren er fähig war, das heißt sich die Hände rieb, mit dem Kopfe wackelte, mit seinen wässerigen Augen blinzelte und in pfeifenden Tönen rief: »Gut! Gut! – Ganz Ihr Fleisch und Blut, Mr. Chuzzlewit!« Es lag etwas Versöhnendes in dem Enthusiasmus des armen Greises; eine gewisse Sympathie mit dem einzigen Menschen, an den er durch das Band eines jahrelangen Verkehrs und seine jetzige Hilflosigkeit gefesselt war. Und hätte sich jemand die Mühe genommen, ihn zu beobachten, so würde er vielleicht darin die trübseligen Spuren einer einst gutgearteten Natur in diesem bis auf den Grund ausgelaugten Geschöpfe entdeckt haben.

Hier natürlich schenkte niemand diesem Umstand irgendwelche Aufmerksamkeit, und so zog sich Chuffey in einen dunklen Winkel neben dem Kamin zurück, wo er stets seine Abende zuzubringen pflegte, und ließ weiter nichts mehr von sich sehen oder hören – ein einziges Mal vielleicht ausgenommen, als man ihm eine Tasse Tee reichte, in die er dann mechanisch sein Brot eintunkte. Es war kein Grund zur Annahme vorhanden, daß er zu solchen Zeiten schlief, ebensowenig aber auch, daß er irgend etwas hörte, sah, fühlte oder dachte; er war sozusagen eingefroren – wenn sich überhaupt ein Ausdruck, der einen so ausgeprägt kräftigen Prozeß bezeichnet, auf seinen Zustand anwenden läßt –, bis er wieder für einen Augenblick infolge eines Wortes oder einer Berührung von Seiten Anthonys auftaute.

Miss Charitas bereitete auf Mr. Jonas‘ Bitte den Tee und kam sich dabei so ganz als junge Hausfrau vor, daß sie in die allerlieblichste Verwirrung geriet, um so mehr, als ihr Vetter dicht neben ihr saß und Ihr allerhand berauschende Worte ins Ohr flüsterte. Miss Gratia ihrerseits fühlte so deutlich, der Abend gehöre ausschließlich dem Pärchen an, daß sie über einer gestrigen Zeitung gähnte, in Gedanken ganz bei den Herren Handelsbeflissenen, die in diesem Augenblick ohne Zweifel nach ihrer Rückkehr schmachteten. Da überdies Anthony sich rücksichtslos dem Schlafe hingab, hatten Jonas und Cherry völlig freies Spiel, solange es ihnen beliebte.

Als das Teeservice abgeräumt worden war, brachte der liebenswürdige junge Mann ein schmutziges Kartenspiel zum Vorschein und unterhielt die beiden Schwestern mit allerhand kleinen Kunststücken, die immer darauf hinausliefen, eine von beiden zu einer Wette zu verlocken, daß das oder jenes unmöglich sei, dann mit Sicherheit zu gewinnen und das Geld einzustreichen. Dabei versicherte Mr. Jonas unablässig, diese Kunstfertigkeiten seien jetzt in den gebildetsten Zirkeln äußerst beliebt und große Summen flössen auf solche Art von einer Hand in die andere. Im Grunde seines Herzens glaubte er das auch, denn es gibt bekanntlich ebensogut eine Borniertheit der List wie eine Einfalt der Unschuld, und in allen Fällen, wo Spitzbüberei oder Niedertracht die Grundlage eines Glaubensbekenntnisses bildeten, war Jonas einer der Gläubigsten. Überdies kannte seine wirklich ungeheuerliche Unwissenheit keine Grenzen.

Zum Taugenichts vom reinsten Wasser fehlte ihm eigentlich nur eine Eigenschaft – nämlich die einzig gute: die Freigebigkeit. Aber da standen ihm immer seine Habsucht und sein Geiz im Wege, und wie ein Gift bisweilen das andere neutralisiert, wenn sonstige Gegenmittel nichts nützen, so wurde eine böse Leidenschaft für ihn der Hemmschuh, sich ganz und gar dem Laster hinzugeben, wo die Tugend in eigener Person vergeblich versucht haben würde, ihn zurückzuhalten.

Mittlerweile war es bereits ziemlich spät geworden, und da Mr. Pecksniff immer noch nicht erschien, äußerten die jungen Damen den Wunsch, nach Hause zu gehen. Allein das wollte Mr. Jonas in seiner Galanterie durchaus nicht zugeben, bis sie nicht noch etwas Brot, Käse und Porter genossen hätten, und selbst dann suchte er sie immer noch aufzuhalten, indem er Miss Charitas immer wieder aufforderte, doch »ein bißchen näher zu rücken« oder noch ein Weilchen zu bleiben, und allerhand andere schmeichelhafte Bitten in seiner gastfreundlichen und charmanten Art vorbrachte. Erst als alle seine Bemühungen fruchtlos blieben, nahm er seinen Hut und zog seinen Überrock an, um sie zu Todgers zu begleiten, mit dem Bemerken, er wisse wohl, daß sie lieber gingen als führen, und er sei in diesem Punkte auch ganz ihrer Meinung.

»Gute Nacht«, sagte Anthony. »Gute Nacht! Und meine Empfehlung – ha, ha, ha! – meine Empfehlung an Pecksniff. Nehmt euch vor eurem Vetter in acht, meine Lieben. Er ist ein gefährlicher Junge. Vor allen Dingen, fahrt euch seinetwegen nicht in die Haare!«

»Ach herrje. Wegen dieser Vogelscheuche!« rief Gratia. »Schon der Gedanke, sich seinetwillen zu zanken! Bitte, behalte ihn nur ruhig für dich, liebste Cherry. Ich schenke dir von Herzen gern meinen Anteil an ihm.«

»Aha, ich bin also eine saure Traube – was, Cousine?« entgegnete Jonas.

Miss Charitas war über diesen schlagfertigen Witz mehr ergötzt, als man bei seiner Abgedroschenheit hätte voraussetzen dürfen, aber aus reiner schwesterlicher Liebe nahm sie Mr. Jonas tüchtig dafür ins Gebet und erklärte ihm, er dürfe unter keinen Umständen mehr so grausam gegen die arme Gratia sein, sonst sähe sie sich tatsächlich genötigt, ihm ihr Wohlwollen zu entziehen. Gratia ließ sich jedoch nicht aus der Fassung bringen und lachte nur laut auf, und dann traten alle drei einmütig ihren Weg an. Jonas führte an jedem Arm eine Cousine und drückte von Zeit zu Zeit heimlich Gratia, und zwar so fest, daß sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Da er jedoch stets nur mit Charitas flüsterte und ihr gegenüber die größte Aufmerksamkeit an den Tag legte, war das offenbar nur eine Verwechslung seinerseits. Als sie endlich bei Todgers anlangten und die Türe geöffnet wurde, riß sich Gratia hastig los und eilte die Treppe hinauf. Charitas und Jonas aber blieben noch ein paar Minuten unten stehen und plauderten miteinander; kurz, es war klar, wie die Sachen standen – wie Mrs. Todgers am nächsten Morgen zu einer Freundin bemerkte, und sie freue sich darüber, setzte sie hinzu, denn es sei wahrhaftig höchste Zeit, daß Miss Pecksniff unter die Haube komme.

Und dann kam der Tag, an dem das glänzende Gestirn, das so plötzlich an Todgers‘ Himmel erschienen war und seinen milden Sonnenglanz in Jinkins‘ düster schattige Brust geworfen hatte, wieder verschwinden, nein, verstaut – wie ein Packpapierpaket, ein Fischkorb, ein Austernfäßchen, ein fetter Gentleman oder sonst ein Stück prosaische Wirklichkeit – in einer Postkutsche und aufs Land hinaus entführt werden sollte.

»Nie, meine teuern Misses Pecksniff«, sagte Mrs. Todgers, als die Damen sich in der letzten Nacht ihres Aufenthalts zur Ruhe begaben, »nie habe ich ein Logierhaus so gebrochenen Herzens gesehen wie das meinige in diesem Augenblick. Ich glaube nicht, daß meine Herren so bald wieder dieselben sein werden wie früher. – Auf Wochen hinaus nicht. – Sie haben viel zu verantworten, Sie beide!«

Bescheiden leugneten die jungen Damen, irgendeinen Einfluß auf diesen unseligen Stand der Dinge genommen zu haben, und drückten ihr tiefstes Bedauern aus.

»Und noch obendrein Ihr frommer Papa!« rief Mrs. Todgers. »Ist das ein Verlust! Meine lieben Misses Pecksniff, Ihr Papa ist ein wahrer Engelsbote des Friedens und der Liebe.«

Etwas ungewiß hinsichtlich der Beschaffenheit der »Liebe«, deren Verkünder ihr Vater gewesen sein sollte, nahmen die jungen Damen dieses Kompliment ziemlich kühl auf.

»Wenn ich nicht so hoch und teuer versprochen hätte, zu schweigen«, änderte Mrs. Todgers rasch das Thema, »so möchte ich Ihnen gar zu gern verraten, warum ich Sie bitten muß, heute nacht die kleine Türe zwischen Ihrem und meinem Zimmer offen zu lassen. Ich glaube, es würde Sie riesig interessieren. Aber ich kann leider nicht, denn ich hab‘ Mr. Jinkins feierlich versprechen müssen, so stumm zu sein wie das Grab.«

»Bitte, liebe Mrs. Todgers, bitte, sagen Sie’s doch«, flehten die beiden jungen Damen.

»Nun also gut, meine lieben süßen Misses Pecksniff«, begann Mrs. Todgers nach längerem innerem Kampfe; »meine lieben Kinder – wenn Sie mir erlauben wollen, Sie am Abend vor unserer Trennung so zu nennen –, Mr. Jinkins und die übrigen Herren haben eine kleine musikalische Überraschung für Sie vorbereitet und beabsichtigen, Ihnen in stiller Nacht auf der Treppe vor der Türe ein Ständchen zu bringen. Ich muß zwar gestehen, daß es mir lieber gewesen wäre«, meinte Mrs. Todgers mit ihrem gewohnten Scharfblick, »man hätte eine frühere Stunde dazu gewählt, denn, wenn Herren lang aufbleiben, trinken sie, und wenn sie trinken, sind sie vielleicht weniger musikalisch als sonst. Aber Sie haben’s nun mal nicht anders haben wollen, und ich weiß, meine teuern Misses Pecksniff, daß Sie sich über einen solchen Beweis von Aufmerksamkeit nur freuen werden.«

Die jungen Damen waren über diese Nachricht anfangs so aufgeregt, daß sie beteuerten, sie könnten nicht an ein Zubettgehen denken, ehe nicht die Serenade vorüber sei; eine halbe Stunde Wartens machte sie jedoch in ihrem Entschluß so wankend, daß sie nicht bloß zu Bett gingen, sondern sogar fest einschliefen. Auch waren sie durchaus nicht übertrieben entzückt, als eine Weile später gewisse süße Klänge die Stille der Nacht unterbrachen und sie aus ihrem Schlummer weckten.

Aber erschütternd war es – sogar sehr erschütternd. Selbst der verwöhnteste Geschmack hätte sich nichts Schauerlicheres wünschen können. Der sangesfreudige Gentleman war der Ober-Pompesfunebresmann, Jinkins der Baß, und die übrigen bedienten sich willkürlich der Töne, die ihnen gerade einfielen. Der »jüngste Gentleman der Gesellschaft« machte seiner Schwermut auf der Flöte Luft. Er blies zwar nicht viel, aber das wirkte nur um so vorteilhafter. Wenn die beiden Misses Pecksniff und Mrs. Todgers an Selbstverbrennung zugrunde gegangen wären und die Serenade hätte ihren Exequien gegolten, nichts würde so tief die Verzweiflung haben ausdrücken können, die in dem Chorgesang »Wir winden dir den Jungfernkranz« lag. Es war ein Requiem, eine Totenklage, ein Stöhnen, ein Geheul, ein Wehruf und ein Lamento – kurz, es umfaßte alles, was es an Tönen Jammervolles und Erschütterndes gibt. Die Flöte des »jüngsten Gentleman der Gesellschaft« blies wild und krampfhaft – die Töne kamen und gingen stoßweise wie der Wind. Für eine Weile verstummte er ganz und gar, aber als Mrs. Todgers und die jungen Damen schon darüber einig waren, er müsse, von seinen Gefühlen überwältigt, sich in Tränen zurückgezogen haben, fing er wieder plötzlich in den höchsten Flageolettönen an, daß es einem förmlich den Atem verschlug. Er war ein erbarmungsloser, unberechenbarer Virtuose. Kaum glaubte man ihn erwischt zu haben, brach er ab, und dachte man, er pausiere ganz und gar, tauchte er mit einer Leistung auf, die einen geradezu verblüffte.

Es kamen mehrere Lieder an die Reihe, vielleicht zwei oder drei zuviel, aber das war, wie Mrs. Todgers sagte, nur eine Übertreibung in gutem Sinne. Doch selbst jetzt – selbst in diesem feierlichen Augenblick, bei dem man hätte glauben sollen, die ergreifenden Töne drängten bis in die tiefsten Tiefen der Seele, konnte Mr. Jinkins den »jüngsten Gentleman der Gesellschaft« nicht ungeschoren lassen. Vor der zweiten Piece bat er ihn inständig – man denke nur, der Ruchlose – erbat er sich’s obendrein als eine besondere Gunst: er möge nicht blasen. Ja, so sagte er wörtlich – nicht blasen! Man konnte den erregten Atem des jüngsten Gentlemans durch das Schlüsselloch bis ins Zimmer hören. Aber er blies nicht. Wie hätte auch eine armselige Flöte die Leidenschaften wiedergeben können, die seine Brust durchtobten! Sogar eine Posaune hätte nicht ausgereicht.

Die Serenade näherte sich ihrem Ende. Um der Huldigung die Krone aufzusetzen, hatte der literarische Gentleman auf die Abreise der Damen ein Gedicht gemacht und es einer alten Melodie angepaßt. Alle wirkten dabei mit, nur der jüngste Gentleman nicht, der aus ebenerwähnten Gründen ein furchtbares Schweigen beobachtete. Das Gedicht rief, klassischen Vorbildern angepaßt, das Orakel des Apollo an, es solle verraten, was wohl aus Todgers werden würde, wenn Charitas und Gratia aus seinen Mauern gewichen seien. Das Orakel gab darauf keine Antwort, die der Rede wert gewesen wäre – ganz nach der Art aller Orakel seit den ältesten Zeiten bis herab auf die unsrige, und die Dichtung ging daher auf den Beweis über, daß England nur deshalb den Beinamen: die glückliche Insel trage, weil die Misses Pecksniff auf ihr wohnten. – Von da bis zur Verhymnung des Meeres war nur ein Schritt, und so schloß das Ganze mit den Versen:

»Heil Pecksniff, dem Edlen! Zu heimischen Zonen
Sanft gleite sein Fahrzeug – die Winde im Bann,
Dieweil ringsum bestaunen voll Stolz die Tritonen
Den Baumeister, Künstler und Mann!«

Nach glücklicher Vorführung dieses herrlichen Phantasiegebildes zogen sich die Herren allmählich in ihre Schlafgemächer zurück, um die Musik noch aus der Entfernung erklingen und endlich ersterben zu lassen. Dann lag wieder tiefe Stille über Todgers‘ Etablissement.

Mr. Bailey behielt sich seine musikalische Huldigung bis zum Morgen vor, und als die jungen Damen vor ihren Koffern knieten und mit Einpacken beschäftigt waren, steckte er den Kopf in die Stube und entzückte sie durch Nachahmung der Stimme eines jungen Hundes in bedrängten Umständen.

»Na, Fräuleins«, sagte er dann, »fahren S‘ jetzt heim? – Schad‘ eigentlich – was?«

»Ja, Bailey, wir fahren nach Hause«, entgegnete Gratia.

»Haben S‘ net Lust, einem von die Herren a Haarlocken zum Andenken dazulassen? – Oder tragen S‘ leicht falsche?«

Die Damen lachten herzlich und versicherten, daß das natürlich nicht der Fall sei.

»Na so ganz natürlich is dös net«, meinte Bailey. »Mrs. Todgers‘ Haar zum Beispiel san falsch – ich hab’s amal am Fensternagel hängen sehen. Und dann geh i auch um d‘ Essenszeit öfter hinter ihr her und zupf dran; aber sie merkt’s net. – Übrigens, Fräuln, i kündig jetzt auf. Ich lasse mir’s net länger mehr gfallen, daß sie mir alle möglichen Schimpfnamen gibt.«

Miss Gratia fragte, welche Pläne er sich denn hinsichtlich seiner Zukunft gemacht habe, und Mr. Bailey erwiderte, er wolle entweder Jockey werden oder in die Armee eintreten.

»In die Armee?« riefen die beiden jungen Damen lachend.

»No, warum denn nöt?« meinte Bailey. »Es gibt Trommler genug im Tower. Dös weiß a jeder. – Is das Vaterland leicht nöt stolz auf sie?«

»Du willst also mit aller Gewalt erschossen werden, wie ich sehe«, bemerkte Gratia.

»No, was wär da weiter?« rief Mr. Bailey. »A feins Leben is ’s halt doch, Fräuln, oder leicht net? Immer noch gscheiter, ’s fliegt oam a Kanonenkugel am Buckl ausi als a Nudelwalker jeden Tag. – Allaweil wirft s‘ mir oan nach, wann die Herren zviel essen. – Als ob i da was dafür kunnt«, setzte Bailey ergrimmt hinzu. »Was kann denn i dafür, wanns alles auffressen!«

»Aber dafür gibt dir gewiß niemand die Schuld«, entgegnete Gratia.

»So, meinen S‘?! – No ja, was verstengan denn Sö davon! Natürli kann mir neamd d‘ Schuld gebn, aber tun teans es doch. – Na; i laß mir dös net länger gfallen, daß i’s immer ausfressen muß, wann die Fleischpreis steigen. – I bleib net mehr länger. – Drum«, fügte Mr. Bailey, von einem Ohr bis zum andern grinsend, hinzu, – »wann S‘ mir leicht was geben wollen, so tun S‘ es lieber gleich jetzt. – Wann S‘ leicht amal wiederkommen, bin i nimmer da. Und, was mein Nachfolger sein wird, so weiß i jetzt schon, daß er’s net verdient.«

Die jungen Damen entsprachen, sowohl für Mr. Pecksniff als auch für sich, diesem weisen Rat und beschenkten aus Rücksicht für ihre Privatfreundschaft Mr. Bailey so freigebig, daß dieser kaum wußte, wie er seine Dankbarkeit zur Genüge an den Tag legen sollte, denn der Umstand, daß er während des Restes des Tages des öftern geheimnisvoll auf seine Tasche klopfte und sonstige geistreiche Anspielungen machte, konnte doch nur als ein unvollkommener Ausdruck dafür angesehen werden. Auch legte er den denkbar größten Diensteifer an den Tag, zerquetschte eine Hutschachtel, beschädigte das Gepäck Mr. Pecksniffs beim Herunterholen aus der Dachkammer so stark wie nur irgend möglich – kurz, bemühte sich nach Kräften, seine Erkenntlichkeit in jeder Hinsicht zu beweisen. Zur Mittagszeit kamen Mr. Pecksniff und Mr. Jinkins Arm in Arm zum Dinner nach Hause, denn letzterer hatte ausdrücklich wegen des feierlichen Anlasses einen halbtägigen Urlaub genommen und damit natürlich einen ungeheuern Vorsprung sowohl über den »jüngsten Gentleman der Gesellschaft« wie nicht minder über die andern Herren gewonnen, deren Zeit – ärgerlich genug – bis abends in Anspruch genommen war.

Mr. Pecksniff ließ eine Flasche Wein springen, und es war eigentlich recht gemütlich, trotz der vielen und langen Lamentationen über die Notwendigkeit der bevorstehenden Trennung. Mitten in ihrer Unterhaltung wurden der alte Anthony und sein Sohn gemeldet – sehr zu Mr. Pecksniffs Überraschung und zum größten Ärger für Mr. Jinkins.

»Komme, Ihnen Adieu zu sagen, wie Sie sehen«, sagte Anthony leise, setzte sich mit Mr. Pecksniff an einen Nebentisch und ließ die andern sich miteinander unterhalten. »Ich sehe nicht ein, weshalb wir Feinde sein sollten. Getrennt sind wir wie die zwei Hälften einer Schere, Pecksniff, aber vereinigt können wir was zuwege bringen. Was meinen Sie?«

»Einmütigkeit, mein werter Herr«, flötete Mr. Pecksniff, »ist immer etwas Herrliches!«

»Na, wie man’s nimmt«, meinte der alte Mann, »es gibt schon gewisse Leute, mit denen ich lieber in Feindschaft als in Eintracht leben würde. Doch Sie wissen ja, wie ich von Ihnen denke.«

Mr. Pecksniff, dem noch immer der »Heuchler« im Magen lag, antwortete nur mit einer krampfhaften Kopfbewegung, die zwischen einer bejahenden Verbeugung und einem verneinenden Schütteln die Mitte hielt.

»Nämlich sehr schmeichelhaft für Sie«, fuhr Anthony fort; »mein Wort, außerordentlich schmeichelhaft. Es war ein unwillkürlicher Tribut – damals –, den ich Ihren Fähigkeiten zollte, wenn auch die Zeit nicht sonderlich günstig für Komplimente war. Übrigens haben wir uns ja inzwischen in der Postkutsche gründlich ausgesprochen und sind jetzt vollkommen miteinander im klaren.«

»O ja, vollkommen!« pflichtete Mr. Pecksniff mit einer Miene bei, die deutlich verriet, wie heroisch er sein Schicksal, so grausam verkannt zu werden, zu tragen wußte. Dann schwiegen beide eine kleine Weile.

Anthony sah nach seinem Sohne hin, der seinen Platz neben Miss Charitas eingenommen hatte, dann auf Mr. Pecksniff, und so mehrere Male hin und her. Zufälligerweise nahmen Mr. Pecksniffs Blicke eine ähnliche Richtung, aber als er es gewahr wurde, schlug er rasch die Augen nieder, um den alten Mann nichts darin lesen zu lassen.

»Jonas ist ein geriebener Junge«, begann Anthony wieder.

»Ja, es scheint so«, gab Mr. Pecksniff offenherzig zu.

»Und vorsichtig.«

»Ich zweifle nicht daran, auch vorsichtig«, versetzte Mr. Pecksniff.

»Schauen Sie ihn nur an«, flüsterte ihm Anthony ins Ohr. »Ich glaube, er macht sich an Ihre Tochter heran.«

»Pst, mein werter Herr«, verwies Mr. Pecksniff, immer noch mit geschlossenen Augen; »junges Volk – junges Volk, ich bitte Sie – und noch obendrein Vetter und Cousine – was ist da weiter dabei!«

»Na, ich glaube, die Verwandtschaft spielt da unserer Erfahrung nach keine besonders große Rolle«, meinte Anthony.

»Glauben Sie nicht, daß da ein bißchen mehr dahinter sein könnte?«

»Kann man unmöglich mit Bestimmtheit sagen«, versetzte Mr. Pecksniff. »Ganz unmöglich! Sie setzen mich übrigens in Erstaunen.«

»Ja, kann ich mir denken«, sagte der alte Mann trocken. »Es kann Bestand haben – ich meine das Zärtlichtun, nicht das Erstaunen; möglich aber auch, daß es bald wieder ein Ende nimmt. Angenommen jedoch, es wäre von Dauer. – Na, Sie haben Ihr Nest hübsch mit Federchen ausgefüttert, und bei mir ist das gleiche der Fall; – die Sache könnte dann für uns beide recht interessant werden.«

Mr. Pecksniff lächelte mild und öffnete den Mund zu einer Antwort, aber Anthony fiel ihm ins Wort.

»Ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Sie haben natürlich noch keinen Augenblick an dergleichen gedacht. In einem Punkte, der das Glück ihres teuern Kindes so nahe angeht, können Sie als zärtlicher Vater keine Meinung abgeben und so weiter. Ja, ja, ganz recht, und sieht Ihnen auch ähnlich! – Mir aber, mein lieber Pecksniff«, setzte Anthony hinzu und legte seine Hand auf den Ärmel des würdigen Architekten, »kommt es vor, es könnte einen von uns benachteiligen, wenn wir so sorglos noch weiter so täten, als ob wir nichts sähen. Dies wäre mir für meinen Teil nun nicht besonders lieb, und Sie werden schon entschuldigen, wenn ich mir die Freiheit nehme, die Sache in Bälde ins reine gebracht sehen zu wollen. Meinen Dank übrigens, daß Sie mir so lange und aufmerksam zugehört haben. Wir wissen jetzt wenigstens beide Bescheid, und das kann nur angenehm sein.«

Mit diesen Worten stand der alte Mann auf, nickte Mr. Pecksniff verständnisinnig zu und ging zu den jungen Leuten. – Der vortreffliche Architekt hingegen blieb, etwas verdutzt über dieses unverblümte Verfahren seiner Verwandten, sitzen und konnte sich des unangenehmen Gefühls nicht erwehren, mit seinen eigenen Waffen geschlagen worden zu sein.

Postkutschen pflegen nicht zu warten, und es wurde langsam Zeit, sich nach dem Bureau zu begeben, das ganz in der Nähe lag. Das Gepäck war bereits besorgt, und so konnte man sich ohne weiteres zum Aufbruch anschicken. Die Misses Pecksniff und Mrs. Todgers setzten ihre Hüte auf, und bald war die ganze Gesellschaft unterwegs. Die Pferde waren bereits eingespannt, und auch der größte Teil der Herren Handelsbeflissenen hatte sich schon eingefunden – der »jüngste Gentleman« mit eingeschlossen, der, sichtlich aufgeregt, in einem Zustande tiefster geistiger Niedergeschlagenheit am Wagenschlag stand.

Nichts ließ sich mit dem Schmerz vergleichen, mit dem Mrs. Todgers von den jungen Damen Abschied nahm, ausgenommen höchstens die gewaltige Erregung, die sie ergriff, als sie Mr. Pecksniff Lebewohl sagte. Wohl noch nie wurde ein Taschentuch so oft aus einer flachen Retikule herausgezogen und wieder hineingesteckt als das Mrs. Todgers‘, als sie, auf beiden Seiten von je einem Herrn Handelsbeflissenen gestützt, neben dem Kutschenschlag auf dem Pflaster stand. Dabei suchte sie bei dem Lichte der Wagenlaternen so viele Blicke auf das Gesicht des vorbildlichen Mannes zu erhaschen, als es das beständige Dazwischentreten Mr. Jinkins‘ nur irgend gestatte. Mr. Jinkins nämlich, bis zum letzten Augenblick ein Stein des Anstoßes im Leben des »jüngsten Gentleman«, stand auf dem Kutschentritte und plauderte mit den Damen.

Den andern Kutschentritt hielt, kraft seines Vorrechts als Vetter, Mr. Jonas besetzt, und so sah sich der »jüngste Gentleman«, trotzdem er sich als erster an Ort und Stelle eingefunden, unter die schwarz und roten Plakate und die Porträts der Eilwagen in dem Einschreibebureau zurückgedrängt – mitten unter die schweren Gepäckstücke, und überdies der schmählichen Rücksichtslosigkeit der Lastträger aufs unwürdigste preisgegeben. Diese ungeschickte Position, verbunden mit großer nervöser Erregtheit, war schuld, daß das Pech des »jüngsten Gentleman« schließlich seinen Höhepunkt erreichte. Als er nämlich im Augenblick des Scheidens mit einer Blume – einer Treibhausblume, die viel Geld gekostet hatte – nach Gratias schöner Hand zielte, traf er damit den Kutscher auf den Bauch, und der Mann steckte sie freundlich lächelnd in sein Knopfloch.

Und dann waren sie fort und »Todgers« wieder allein.

Die beiden jungen Damen lehnten sich jede in eine Ecke zurück und überließen sich schmerzlichen Gedanken, und Mr. Pecksniff konzentrierte, die Erinnerungen an vergängliche, gesellige Vergnügungen aus seinem Herzen ausschaltend, die ganze Kraft seines Geistes auf den einen großen tugendhaften Entschluß, jenen Undankbaren zu verstoßen, der zur Zeit noch immer unter seinem Dache weilte und den Altar seiner Hausgötter durch seine Anwesenheit schändete.

1. Kapitel


1. Kapitel

Einleitung. Der Stammbaum der Familie Chuzzlewit

Da sich begreiflicherweise niemand, weder Herr noch Dame, der einigermaßen auf guten Ruf hält, für die Familie Chuzzlewit interessieren kann, ohne nicht zuvor über deren Alter und Stammbaum Erkundigungen eingezogen zu haben, so sei hier versichert, daß die Chuzzlewits zweifellos in gerader Linie von Adam und Eva abstammten und schon in den frühesten Zeiten zur Klasse der Grundbesitzer gehörten. Sollten daher Neidlinge einwenden, ein oder der andere Chuzzlewit habe jemals gar zu viel Familienstolz an den Tag gelegt, so wird man gewiß eine solche Schwäche nicht nur verzeihlich, sondern sogar löblich finden, wenn man bedenkt, wie hoch dieses Haus in Anbetracht seiner langen Ahnenreihe über allen andern steht.

Es ist höchst bemerkenswert, daß sogar schon die älteste Familie, von der wir wissen, einen Mörder und Landstreicher aufzuweisen hatte; und ebenso stoßen wir auch stets in den Annalen jeder alten Familie auf unzählige Wiederholungsfälle desselben Charakterzuges. Man kann es vielleicht als Grundsatz aufstellen, daß, je länger die Ahnenreihe, um so größer auch die Summe von Gewalttat und unstetem Lebenswandel ist. Waren doch in alten Zeiten diese beiden nobeln Passionen als Mittel zur Wiederherstellung zerrütteter Vermögensverhältnisse sowohl wie als gesunde Leibesübung bei den Vornehmen gleich beliebt.

Welche Quelle inniger Herzensfreude muß es daher sein, wenn man erfährt, daß die Chuzzlewits zu den verschiedensten Zeitepochen bei Verschwörungen, Mord und Totschlag mit beteiligt waren. Man sagt ihnen sogar nach, daß sie des öfteren, vom Scheitel bis zur Zehe in schuß- und hiebfesten Stahl gehüllt, ihre in Lederwämser gekleideten Söldner mit nimmerwankendem Mut in den Tod geführt hätten und sodann wohlbehalten zu den Ihrigen zurückgekehrt seien.

Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß wenigstens ein Chuzzlewit mit Wilhelm dem Eroberer nach England herüberkam und von Britannien Besitz ergriff. Es hat allerdings nicht den Anschein, als ob dieser erlauchte Ahne sich beim Besitzergreifen besonders ausgezeichnet hätte; – wenigstens fiel die Familie zu keiner Zeit besonders durch großen Grundbesitz auf. Und daß der große Normanne bei derartigen Eigentumsverleihungen an seine Günstlinge die Tugend der Freigebigkeit und Dankbarkeit ebenso frei entfaltete, wenn es galt, fremdes Gut zu verschenken, wie andere Große, ist doch allgemein bekannt.

Es unterliegt ferner keinem Zweifel, daß ein Chuzzlewit bei der Pulververschwörung beteiligt war, wenn nicht gar der Erzverräter Fawkes selbst zu diesem merkwürdigen Geschlechte gehörte, was recht wohl möglich wäre, da der Sage nach einst ein gewisser Chuzzlewit nach Hispanien auswanderte und daselbst eine Spanierin ehelichte, mit der er einen olivenfarbigen Sprößling zeugte. Diese Annahme gewinnt noch an Wahrscheinlichkeit, wenn man erfährt, daß in späteren Zeiten viele Chuzzlewits, nachdem sie bei anderen Unternehmungen gescheitert, sich – offenbar erblich belastet – ohne die mindeste vernünftige Hoffnung, dadurch reich zu werden, oder aus sonst einem erdenklichen Grund als Kohlenhändler etabliert und Monat um Monat ohne Unterlaß düster bei einem kleinen Brennvorrat Wache gehalten haben, ohne daß sie auch nur ein einziges Mal mit einem Käufer ein Geschäft gemacht hätten. Die auffallende Ähnlichkeit zwischen diesem Verfahren und dem, das ihr großer Ahnherr in den unterirdischen Gewölben des Parlamentshauses von Westminster beobachtete, ist zu augenscheinlich und interessant, als daß es noch eines Kommentars bedürfte.

Nicht minder klar ist durch mündliche Tradition erwiesen, daß zu irgendeiner nicht bestimmt angegebenen Epoche eine würdige Matrone lebte, die so vertraut mit dem Anschüren von Feuer aller Art – besonders von Liebesflammen – war, daß man sie nur die »Amorsfackel« nannte, unter welchem Spitznamen sie bis auf den heutigen Tag in der Familienchronik weiterlebt. Wer könnte da noch zweifeln, daß sie die Spanierin war – die Mutter von Chuzzlewit Fawkes!

Es gibt indes auch noch einen anderen Beleg für die unmittelbare Beziehung dieser Familie zu jenem denkwürdigen Ereignis – der Pulververschwörung –, der jeden Zweifler, wenn es überhaupt nach den vorausgeschickten schlagenden Beweisen einen solchen noch geben kann, vollständig überzeugen muß.

Noch vor wenigen Jahren befand sich nämlich im Besitz eines wohlhabenden und dabei höchst achtbaren und in jeder Hinsicht glaubwürdigen und makellosen Mitgliedes der Chuzzlewits eine Blendlaterne von unzweifelhaftem Alter. Und, was noch interessanter ist, sie sah genau so aus wie die, die noch heutzutage allgemein in Gebrauch sind. Der genannte Gentleman ist zwar jetzt tot, war aber jeden Augenblick bereit, einen Eid darauf abzulegen, und beteuerte wiederholt aufs feierlichste, er habe zu verschiedenen Malen seine Großmutter, wenn diese die ehrwürdige Reliquie betrachtet, sagen hören: »Ei ja! Diese Laterne hat mein vierter Sohn am fünften November als Guy Fawkes getragen.« Diese merkwürdigen Worte mußten natürlich einen tiefen Eindruck auf ihn machen, weshalb er es auch liebte, den Ausspruch häufig zum besten zu geben. Die richtige Auslegung liegt auf der Hand. Die alte Dame, zwar von Natur aus sehr stark an Geist, war immerhin gebrechlich und hinfällig und litt auch bekanntermaßen an jener Verwirrung der Ideen oder doch wenigstens der Sprache, die so oft eine Folge des Greisentums und der Geschwätzigkeit ist. Offenbar wollte sie sagen: »Ei ja! Diese Laterne wurde getragen von meinem Ahnherrn« – nicht vierten Sohn, was ein Anachronismus wäre – »am fünften November. Und dieser war Guy Fawkes.« Hier haben wir mit einem Mal eine bestimmte, klare und natürliche Erklärung, die im vollkommensten Einklange mit dem Charakter der Sprecherin steht. So offenkundig läßt die Anekdote nur diese und keine andere Deutung zu, daß es kaum verlohnt hätte, sie in ihrer ursprünglichen Fassung vorzutragen, wenn sie nicht einen Beweis abgäbe, was sich alles nicht nur in historischer Prosa, sondern auch in Versen bei nur ein bißchen Aufwand von Fleiß von seiten eines Kommentators bewerkstelligen läßt.

Wohl verlautet, daß in neuerer Zeit kein Chuzzlewit auf vertrautem Fuß mit der feinen Gesellschaft gestanden hätte, aber auch hier müssen die schmähsüchtigen Verleumder, deren boshaftes Gehirn solche armseligen Erdichtungen schmiedete, vor den Tatsachen verstummen. Mehrere Mitglieder der Familie sind im Besitz von Dokumenten, aus denen aufs bestimmteste und in klaren Worten hervorgeht, daß ein gewisser Diggory Chuzzlewit sehr häufig beim Herzog Schmalhans zu Gaste war. Er war ein so stereotyper Gast an der Tafel dieses allgemein bekannten Edelmannes, und die Gastfreundschaft und Gesellschaft Seiner Gnaden wurde ihm so unablässig gewissermaßen aufgezwungen, daß er dieser Ehre nur mit Widerstreben entsprach und gelegentlich an seine Freunde schrieb: wenn sie sich nicht soundso dem Überbringer gegenüber verhielten, so bliebe ihm keine andere Wahl, als wieder bei dem Herzog Schmalhans zu Mittag zu essen.

Das nur als Beispiel!

Es wäre nutzlos, die hohe und stolze Stellung wie auch die ungemeine Bedeutsamkeit der Chuzzlewits zu verschiedenen Zeitepochen weiterhin zu erörtern. Sollte es in den Bereich vernünftiger Wahrscheinlichkeitsberechnung fallen, daß weitere Belege gefordert würden, so könnten sie zu wahren Bergen aufgeschichtet werden, deren Gewicht auch den verwegensten Skeptizismus zermalmen müßte. Wir haben über der Familiengruft bereits einen stattlichen Tumulus angehäuft und wollen es für dies Kapitel damit bewenden lassen. Nur als letzten Spaten Erde wollen wir hinzufügen, daß viele Chuzzlewits, sowohl männliche wie weibliche, nach dem höchst glaubwürdigen brieflichen Zeugnis ihrer Mütter fein geschnittene Nasen, ausgeprägte Kinne, Formen, die einem Bildhauer als Modell hätten dienen können, wunderschöne Gliedmaßen und so transparente glatte Stirnen hatten, daß die blauen verzweigten Adern darauf wie die Wege auf einer Himmelskarte durchschimmerten. Schon diese Tatsache allein würde jede Streitfrage hinsichtlich Herkunft mit einem Male erledigen, da bekanntlich alle diese Kennzeichen charakteristische Merkmale vornehmer Persönlichkeiten sind.

Da nun ausreichend bewiesen ist, daß es den Chuzzlewits durchaus nicht an Herkunft fehlt und sie zu der einen oder andern Zeit sich einer Bedeutsamkeit erfreuten, die nicht ermangeln kann, sie für alle Wohlgesinnten zu einer sehr schätzenswerten Bekanntschaft zu machen, so mag ihre Geschichte jetzt ihren Verlauf nehmen. Da ferner aus dem Alter der Familie zu folgern ist, daß sie zur Begründung und Vermehrung des Menschengeschlechts einen hübschen Beitrag geliefert hat, so wird es eines Tages Zeit sein, darzulegen, daß diejenigen Familienglieder, die in diesem Buche aufgeführt werden, noch viele Ur- und Gegenbilder in der uns umgebenden großen Welt haben. Vorderhand mag es genügen, im allgemeinen zu bemerken, erstens: daß man recht wohl behaupten darf – ohne gerade die Theorie zu Hilfe zu nehmen, die den wahrscheinlichen Ursprung unseres Geschlechts auf die Affen zurückleitet –, daß so manche Menschen recht kuriose Stücklein spielen; und zweitens: daß es – unbeschadet der Blumenbachschen Lehre, die den Adamsabkömmlingen weit mehr charakteristische Ähnlichkeiten mit den Schweinen als irgend andern lebenden Wesen in der Schöpfung zumutet – wieder andere gibt, die auf eine ganz merkwürdig geschickte Weise für ihre eigne Haut zu sorgen wissen.