13. Kapitel

Was aus Martin wurde, nachdem er Mr. Pecksniffs Haus verlassen, welchen Personen er begegnete, was er alles auszustehen hatte und was er für Neuigkeiten erfuhr

Achtlos, bloß Tom Pinchs Buch unter dem Arm und nicht einmal zum Schutz gegen den heftigen Regen seinen Rock zuknöpfend, schritt Martin schnellen Schrittes finster vorwärts, bis er an dem Wegweiser vorbeikam und auf die nach London führende Landstraße gelangte. Aber auch jetzt mäßigte er seine Hast nur wenig, wenn er auch begann, ernster zu überlegen und umherzuschauen und sich aus dem Banne der ungestümen Leidenschaften loszumachen, die ihn bisher gefangen gehalten.

Weder physisch noch geistig hatte er Grund, sich besonders behaglich zu fühlen. Der Morgen graute; ein Streifen wässerigen Lichtes dämmerte am östlichen Himmel, und unfreundliche Wolken trieben einher und sandten einen dicken nassen Nebel herab.

Von jedem Zweig und Strauch in den Hecken träufelte der Regen, und kleine Gießbäche bildeten sich neben dem Weg. Hundert kleine Kanäle liefen auf der Straße nach abwärts, und auf der Oberfläche jedes Teiches und jeder Gosse bewegten sich zahllose Ringe. Schlammig klatschte es unter dem Gras, und jede Furche in den gepflügten Feldern verwandelte sich in ein schmutziges Bächlein. Nirgends war ein lebendes Wesen zu sehen. Wenn sich die ganze beseelte Natur in Wasser aufgelöst haben würde, hätte der Anblick kaum öder und trostloser sein können.

Ebenso unerfreulich wie die Landschaft waren auch die Betrachtungen und Gedanken des jungen einsamen Wanderers. Ohne Geld und ohne Freunde, aufs höchste gereizt und in seinem Stolz und seiner Eigenliebe aufs tiefste verletzt, voll von Entwürfen, Plänen und doch aller Mittel zu ihrer Verwirklichung bar, hätte ihm auch der rachsüchtigste Feind, in Anbetracht der Summe von Seelenleiden, die ihn jetzt erfüllten, verzeihen müssen. Dabei fühlte er sich noch bis auf die Haut durchnäßt und bis ins Mark erkältet. In diesem kläglichen Zustande erinnerte er sich an Mr. Pinchs Buch – mehr, weil ihm das Tragen etwas lästig fiel als weil er hoffte, aus dieser Abschiedsgabe sich Trostes erholen zu können. Er warf einen Blick auf den abgerissenen Titel auf dem Rücken des Buches, und als er fand, daß es ein Band von der französischen Ausgabe des Baccalaureus von Salamanka war, so verwünschte er Toms Torheit aufs heftigste und war schon im Begriff, in seinem Ärger und seiner üblen Laune das Geschenk wegzuwerfen, als ihm eben noch zu rechter Zeit einfiel, daß Pinch ihn auf ein eingebogenes Blatt aufmerksam gemacht hatte. Er schlug daher das Buch auf, darauf gefaßt, weitern Anlaß zum Grimm gegen den armen Mr. Pinch zu finden, der glauben konnte, irgendeine Phrase von der Weisheit des Baccalaureus könne ihm unter solchen Umständen Hilfe bringen – fand aber –

Allerdings war es nicht viel, was er fand, aber doch war es Toms ganze Habe: ein halber Sovereign. Tom hatte das Goldstück hastig in ein Stück Papier gewickelt und mit einer Stecknadel auf das Blatt geheftet. Auf der Innenseite der Umhüllung stand mit Bleistift geschrieben: Ich brauche es nicht und wüßte nicht, was damit anfangen. Toms hochherzige Handlungsweise machte auf Martin einen tiefen Eindruck. Die Folge davon war, daß er sich nach kurzer Frist wieder ein wenig von seiner Mutlosigkeit erholte und sich erinnerte, daß er denn doch nicht so ganz ohne Mittel sei, besaß er doch noch einen Vorrat von Kleidern, den er in Mr. Pecksniffs Hause zurückgelassen, und außerdem noch eine goldene Uhr. Nicht wenig schmeichelte ihm auch der Gedanke, was er für ein bestrickender Mensch sein müsse, da er einen so tiefen Eindruck auf Tom gemacht habe, und wieviel er diesem überlegen sei und wie leicht er seinen Weg in der Welt werde machen können. Von diesem Gedanken beseelt und durch den Plan, jetzt in einem fremden Lande sein Glück zu versuchen, ermutigt, entschloß er sich, sein Äußerstes daran zu setzen, um ohne Zeitverlust auf die bestmögliche Weise nach London zu gelangen, wo er, nach Sammlung seiner Hilfsquellen, weiter mit sich zu Rate gehen könne.

Er war jetzt zehn gute Meilen vorn Dorfe entfernt und kehrte daher in einem kleinen Bierhause am Wege ein, um ein Frühstück zu sich zu nehmen, sich am Feuer zu wärmen und seinen Rock zu trocknen. Freilich war es ein ganz anderer Ort als der Gasthof, in dem John Westlock ihn bewirtet hatte, und es war nicht mehr Bequemlichkeit darin zu finden als in einer gewöhnlichen Garküche. Aber die Not bricht Eisen. Und was er gestern noch verschmäht haben würde, wurde jetzt für ihn zu einem auserlesenen Dinner. Eier, Schinken, ein Krug Bier waren keineswegs eine so rauhe Kost, wie er gemeint hatte, sondern entsprachen vollkommen der Inschrift auf dem Fensterladen, die verkündete, daß gute Bewirtung für Reisende hier zu haben sei. Als er sich gestärkt, schob er seinen leeren Teller zurück, setzte einen zweiten Krug vor sich auf den Kamin und blickte gedankenvoll in die Kohlenglut, bis ihn die Augen schmerzten. Dann betrachtete er die buntfarbigen Bibelbilder an den Wänden, die in kleine schwarze Rasierspiegelrahmen eingerahmt waren, und erbaute sich daran, wie die Weisen aus dem Morgenland, die übrigens eine starke Familienähnlichkeit miteinander aufwiesen, vor einer rosenroten Krippe beteten und der verlorene Sohn in fleckenfarbigen Lumpen zu seinem purpurgewandigen Vater zurückkehrte, sich in Gedanken bereits an dem seegrünen Kalbe im Hintergrunde labend. Dann blickte er durch das Fenster auf den prasselnden Regen, der schräge über das Wirtshausschild gegen das Haus schlug und den Pferdetrog fast zum Überlaufen brachte. Dann blickte er wieder in das Feuer und träumte. Er hatte diesen Prozeß bereits zum soundsovielten Male wiederholt, als das Geräusch von Rädern seine Aufmerksamkeit von ihrer Richtung ab- und dem Fenster zulenkte. Er bemerkte jetzt draußen einen von vier Pferden gezogenen, gedeckten Korbwagen, der, soviel er unterscheiden konnte, mit Korn und Stroh beladen war. Der Fuhrmann, der einzige menschliche Begleiter des Gespannes, machte vor dem Hause halt, um seine Tiere zu tränken, und kam dann, stampfend und aus Rock und Hut die Nässe schüttelnd, in das Zimmer.

Es war ein rotbäckiger, stämmiger junger Bursche mit einem gutmütigen Gesicht, der auch in seiner Kleidung eine gewisse Schmuckheit bekundete. Als er an das Kaminfeuer trat, berührte er grüßend seine triefende Stirn mit dem Zeigefinger seines steifledernen Handschuhs und bemerkte etwas unnötigerweise, daß draußen ein ungemein nasser Tag sei.

»Sehr naß«, bestätigte Martin.

»Ein solches Wetter ist mir überhaupt noch nicht vorgekommen.«

»Und mir auch nicht«, sagte Martin.

Der Fuhrmann warf einen Blick auf Martins beschmutzten Anzug, seine feuchten Hemdärmel und seinen Rock, der zum Trocknen vor dem Kamin hing, und fragte nach einer Pause, sich die Hände wärmend:

»Hat Sie der Regen erwischt, Sir?«

»Ja«, war die kurze Antwort.

»Ausgeritten vielleicht?«

»Ich wäre ausgeritten, wenn ich ein Pferd hätte, aber ich habe keins«, erwiderte Martin.

»Das ist schlimm«, meinte der Kutscher.

»Es könnte noch schlimmer sein«, sagte Martin. – Dann steckte er die Hände in die Taschen und fing, um dadurch anzudeuten, daß er sich keinen Pfifferling um Fortunas Launen kümmere, an zu pfeifen. Ungefähr eine Minute lang sah der Kutscher ihn verstohlen an und pfiff ebenfalls, die Hände sich am Kaminfeuer wärmend. Dann fragte er und deutete mit dem Daumen auf die Straße hinaus:

»Geht’s hinauf oder hinunter?«

»Was ist hinauf?«

»Nach London, natürlich.«

»Also hinauf«, sagte Martin und warf gleichgültig den Kopf zurück, als wollte er sagen: Jetzt wissen Sie’s endlich, steckte die Hände noch tiefer in die Taschen, änderte die Melodie und pfiff etwas lauter.

»Ich fahre auch hinauf, Sir«, begann der Kutscher wieder. »Nach Hounslow zehn Meilen von hier nach London zu.«

»So?« rief Martin, hielt inne und sah den Mann an.

Der Kutscher spritzte ein paar Tropfen mit der nassen Hand ins Feuer, daß es zischte, und antwortete: »Ja, allerdings, ich fahre hinauf.«

»Hören Sie mal«, sagte Martin, »ich möchte gerne offen mit Ihnen reden. Sie schließen vielleicht nach meinen Kleidern, daß ich ziemlich viel Geld übrig habe. Das ist nun aber nicht so. Alles, was ich für eine Wagenfahrt bezahlen könnte, wäre eine Krone, da ich nicht mehr als zwei besitze. Wenn Sie mich für diesen Betrag und für meine Weste oder mein seidenes Halstuch da mitnehmen wollen, so ist’s mir recht. Wollen Sie nicht, so können Sie’s ja bleiben lassen.«

»Kurz und bündig«, bemerkte der Kutscher.

»Verlangen Sie mehr?« fragte Martin. »Ich habe nicht mehr und kann nicht mehr geben. Also hat der Handel ein Ende.« Dann fing er wieder an zu pfeifen.

»Habe ich denn gesagt, daß ich mehr will, was?« fragte der Kutscher ein wenig entrüstet.

»Sie haben aber auch nicht gesagt, daß Ihnen mein Anerbieten paßt«, erwiderte Martin.

»Ich könnt‘ es doch nicht. Sie ließen mich ja nicht zu Worte kommen. Was die Weste übrigens anbelangt, so würde ich nicht um alles in der Welt einen Gentleman seiner Weste berauben. Aber mit dem seidenen Tuch, das ist etwas anderes. Wenn Sie zufrieden sind, daß wir bis Hounslow fahren, nehme ich es als Geschenk an.«

»Also gut, dann wäre das Geschäft in Ordnung«, sagte Martin.

»Ja«, sagte auch der andere.

»Nun, dann trinken Sie dieses Bier hier aus.« – Martin reichte ihm den Krug und zog seinen Rock geschwind an. »Und dann können wir aufbrechen, wenn es Ihnen paßt.«

In weiteren zwei Minuten hatte er seine Rechnung, die einen Schilling betrug, bezahlt und sich der vollen Länge nach auf einem trockenen Strohbündel in dem Korbwagen ausgestreckt, dessen Plane vorn ein wenig geöffnet wurde, damit er sich auch mit seinem neuen Freunde unterhalten konnte. Dann ging es in herzhaftem Tempo vorwärts.

Der Fuhrmann hieß, wie Martin bald erfuhr, William Simmons, allgemein unter dem Namen »Bill« bekannt, und sein flottes Äußeres erklärte sich hinlänglich durch seine Verbindung mit einem großen Stellwagenetablissement in Hounslow, wohin er jetzt seine Ladung von einer Meierei in Wiltshire fuhr, die zu seinen Kundschaften gehörte. Er fuhr sehr häufig, wie er sagte, mit solchen Aufträgen die Landstraße auf und nieder und hatte dabei auch nach maroden oder kranken Pferden zu sehen, von denen er übrigens ein langes und breites zu erzählen wußte. Augenblicklich strebte er nach der Würde eines festangestellten Kutschers und sah in Bälde der ersehnten Beförderung entgegen. Außerdem war er musikalisch und trug ein kleines Klapphorn in der Tasche, auf dem er, sooft das Gespräch ins Stocken kam, die ersten paar Takte von einer Menge von Liedern spielte und dann ruckweise abbrach.

»Ach ja«, seufzte Bill, fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen und steckte sein Instrument in die Tasche, nachdem er zuvor das Mundstück abgeschraubt hatte, um die Röhre abtropfen zu lassen. »Da lobe ich mir Lummy Ned von den leichten Salisburywagen. – Ja, der war ein musikalisches Talent. Er war als Kondukteur bei der Post angestellt und versah seinen Dienst, daß die Leute nur so –«

»Ist er tot?« fragte Martin.

»Tot?« versetzte Bill mit verächtlichem Achselzucken. »Nein! Ned läßt sich nicht so leicht beim Sterben erwischen. Der hat was Besseres zu tun.«

»Sie haben aber von ihm in der Vergangenheit gesprochen«, meinte Martin, »und daher glaubte ich, daß er nicht mehr am Leben sei.«

»Ach so, deshalb!« rief Bill. »Nun, ich meinte, daß er nicht mehr in England sei. Er ist nach den Vereinigten Staaten ausgewandert.«

»So?« sagte Martin mit plötzlicher Teilnahme. »Wann?« »Vor fünf Jahren ungefähr. Er hatte in der Gegend hierherum eine Wirtschaft angefangen und konnte seinen Verbindlichkeiten nicht nachkommen. Deshalb brach er eines Tages, ohne ein Wörtchen davon verlauten zu lassen, nach Liverpool auf und schiffte sich nach den Vereinigten Staaten ein.«

»Nun, und?« fragte Martin.

»Nun, als er dort landete, ohne einen Penny für einen Schluck Bier, da war man natürlich gewaltig froh, ihn auf amerikanischem Grund und Boden begrüßen zu können.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Martin etwas verächtlich.

»Was ich damit sagen will? Nun, weiter nichts als das: in den Vereinigten Staaten sind alle Menschen gleich. Oder etwa nicht? Dort macht sich keiner den Teufel was daraus, ob einer tausend Pfund hat oder gar nichts. Besonders in New York soll’s so sein, wo Ned an Land ging.«

»In New York also«, brummte Martin gedankenvoll.

»Ja, in New York. Ich weiß das, weil er nach Hause schrieb, es habe ihn lebhaft an das alte York erinnert, weil es diesem in jeder Hinsicht – gänzlich unähnlich sei. Ich weiß nicht, auf was für besondere Geschäfte sich Ned verlegt hat, aber er schrieb nach Hause, daß er und seine Freunde immer Lieder von Columbia und dem Präsidenten, den sie demnächst aufzuhängen gedächten, sängen, und so glaube ich, es muß eine Staatswirtschaft oder sonst etwas Flottes gewesen sein. Aber sei es, wie’s will, jedenfalls hat er sein Glück gemacht.«

»Wirklich?«

»Jawohl, ich weiß es. Denn er verlor sein ganzes Vermögen wieder den Tag darauf in sechsundzwanzig Banken, die umgeschmissen haben. Sobald er sich darüber klar war, schickte er ein ganzes Pack Banknoten an seinen Vater und einen sehr kindlichen Brief dazu. Ich weiß das, weil man sie in unserm Hof drunten gegen ein kleines Eintrittsgeld zum Besten des alten Gentlemans zeigte, damit er sich im Armenhaus ein wenig Tabak kaufen könne.«

»Das war doch wirklich ein einfältiger Kerl, daß er nicht besser auf sein Geld achtgab, nachdem er sich einmal etwas erworben hatte«, sagte Martin unwillig.

»Da haben Sie ganz recht«, versetzte Bill, »besonders weil’s lauter Papier war und er sehr leicht darauf hätte achtgeben können, wenn er’s in ein kleines Päckchen zusammengebunden hätte.«

Martin sagte nichts, sondern schlief bald darauf ein und schlummerte ein paar Stunden. Als er erwachte, hatte der Regen aufgehört, weshalb er seinen Sitz neben Bill wieder einnahm und ihn ausfragte, wie lange der glückliche Kondukteur von den leichten Salisburywagen zur Überfahrt gebraucht, welche Jahreszeit er zur Reise gewählt, wie das Schiff, das er benützt, geheißen, wieviel Reisegeld er bezahlt und ob er viel unter der Seekrankheit gelitten habe und so weiter. Über alle diese Einzelheiten wußte jedoch Bill nur wenig oder gar keine Auskunft zu geben, denn er antwortete entweder augenscheinlich aufs Geratewohl, oder er gab zu, nie etwas davon gehört oder alles Nähere vergessen zu haben. Kurz, Martin konnte nichts Wesentliches erfahren, so angelegentlich er sich auch erkundigte.

Den ganzen Tag über holperten sie weiter und machten so oft halt – das eine Mal, um Erfrischungen einzunehmen, das andere Mal, um die Pferde oder das Geschirr zu wechseln, jetzt wegen dieser, dann wegen jener Geschäftsangelegenheit, die mit dem Postkutschenverkehr in Verbindung stand und so weiter –, daß es schließlich Mitternacht wurde, als sie Hounslow erreichten. In einiger Entfernung von den Ställen, die das Standquartier des Korbwagens waren, stieg Martin ab, zahlte seine Krone und drängte seinem wackern Freund das seidene Tuch auf, ungeachtet der vielen Beteuerungen desselben, daß er ihn nicht berauben wolle, wobei jedoch seine gierigen Blicke seine Worte Lügen straften. Als das abgetan war, trennten sie sich. Der Wagen fuhr in seinen Hof, und die Tore wurden zugemacht. Während Martin in der dunkeln Straße stehen blieb und sich vorkam wie einer, der ausgestoßen und verlassen ist von der ganzen Welt, ohne einen Schlüssel zu haben, das Tor zum Reiche des Glücks zu öffnen.

Aber auch in diesem Augenblicke der Zaghaftigkeit, und noch oft später, wirkte die Erinnerung an Mr. Pecksniff wie eine Labung auf ihn, und der in seiner Seele erwachende Unwille war gerade das beste Mittel, ihn zu hartnäckiger Ausdauer anzuspornen. Unter dem Einflüsse dieses feurigen Belebungsmittels brach er ohne weiteres nach London auf, und als er dort in tiefster Nacht anlangte und daher keine Herberge mehr offen fand, trieb er sich bis zum Morgen in den Straßen und auf den freien Plätzen umher.

Etwa eine Stunde vor Tagesgrauen gelangte er in die bescheideneren Regionen von Adelphi, redete dort einen Mann in einer Pelzmütze an, der eben die Läden einer armseligen Wirtsstube öffnete, und fragte ihn, da er fremd sei, ob er nicht ein Bett haben könne. Zum Glück antwortete der Mann bejahend. Martin fühlte sich überglücklich und dankte dem Himmel, als er in das freilich nichts weniger als prächtige, aber doch leidlich reine Lager kroch, um Wärme, Ruhe und Vergessenheit zu suchen.

Er erwachte erst gegen Abend, und als er sich gewaschen, angekleidet und etwas zu sich genommen hatte, war es bereits wieder dunkel geworden. Dies paßte ihm jedoch nur um so besser, als er sich jetzt in die unbedingte Notwendigkeit versetzt sah, seine Uhr zu irgendeinem Pfandleiher zu tragen, und zu einem solchen Zwecke sogar am längsten Tage des Jahres bis zum Einbruch der Nacht gewartet haben würde, und wenn er die Stunden auch ohne einen Bissen zu genießen hätte verbringen müssen. Er kam an mehr goldenen Bällen – den Aushängeschildern der Pfandleiher – vorüber, als wohl sämtliche Jongleure Europas seit dem Anbeginn ihrer technischen Tätigkeit zu ihren Gaukeleien verwendet hatten, ehe er sich zugunsten irgendeines besonderen Ladens, wo wiederum derartige Symbole ausgehängt waren, entschied. Dann kehrte er zu einem der ersten, die er gesehen, zurück, trat durch eine Nebentüre des Hofes ein, wo die drei Kugeln mit der Inschrift »Geld auszuleihen« in gespenstigem Transparent sich wiederholten, und traf auf eine Reihe kleinerer Verschläge oder Privatlogen, die zur Bedienung der verschämteren und weniger abgebrühten Kunden bestimmt waren. Nachdem er sich in einen derselben hineingeschlichen, zog er seine Uhr heraus und legte sie auf den Ladentisch.

»Auf Ehr und Seligkeit«, hörte er eine Stimme in der nächsten Abteilung offenbar zu dem Ladenbesitzer sagen, »Sie müssen mehr geben. Sie müssen eine Kleinigkeit mehr geben, wahrhaftig. Sie müssen eine halbe Viertelunze Zuwaage geben, wenn Sie mit Ihrem Pfund Fleisch herausrücken, bester Freund, und zwei Schillinge sechs Pence daraus machen.« Martin fuhr unwillkürlich zusammen, denn die Stimme kam ihm bekannt vor.

»Sie haben immer das Maul voll Unsinn«, schimpfte der Pfandleiher, rollte das Paket, es schien ein Hemd zu sein, auf und probierte seine Feder auf dem Rechentisch.

»Soll ich’s vielleicht voll Gold haben, wenn ich zu Ihnen komme«, lachte Mr. Tigg. »Ha, ha; auch eine Idee. Machen Sie’s rund; zwei und sechs, lieber Freund, nur dieses eine Mal noch. Eine halbe Krone ist ein recht hübsches Geldstück – zwei und sechs! Wer gibt mehr? Zwei und sechs. Zum ersten, zum zweiten und zum –«

»Bevor ich sage ›zum dritten‹«, brummte der Pfandleiher, »können Sie lange warten. Das Ding ist schon ganz grau vom Tragen.«

»Sein Herr ist grau geworden im Dienst eines undankbaren Vaterlandes! Also, Sie machen zwei und sechs daraus, denke ich.«

»Ich gebe nicht mehr darauf«, entgegnete der Ladeninhaber, »als ich immer gebe, nämlich zwei Schilling. – Derselbe Name wie gewöhnlich, nicht wahr?«

»Derselbe Name«, sagte Mr. Tigg. »Mein Anrecht auf den erloschenen Pairstitel ist vom Oberhaus noch immer nicht bestätigt.«

»Die alte Adresse?« »Nein, nein. Ich habe mein Hotel von der City von Nummer achtunddreißig, Mayfair, auf Nummer eintausendfünfhundertzweiundvierzig, Park Lane, verlegt.«

»Sie werden doch nicht verlangen, daß ich das aufschreiben soll, was?« sagte der Mann lachend.

»Schreiben Sie auf, was Sie wollen, mein Freund«, entgegnete Mr. Tigg. »Die Tatsache steht nun doch einmal fest. Die Gelasse für den Unterkellermeister und den fünften Lakaien waren in Nummer achtunddreißig in Mayfair von ganz verwünscht schlechter Beschaffenheit, und ich sah mich deshalb genötigt, mit Rücksicht auf meine verwöhnte Dienerschaft das elegante und bequeme Gebäude Nummer eintausendfünfhundertzweiundvierzig, Park Lane, zu mieten. Also geben Sie drei Schillinge und sechs Pence her und besuchen sie mich mal gelegentlich.«

Der Pfandleiher fühlte sich durch diese humorvollen Ergüsse so erbaut, daß sogar Mr. Tigg selbst einen Ausbruch schnurrigen Behagens nicht unterdrücken konnte. Seine fröhliche Stimmung erweckte in ihm schließlich sogar den Wunsch nachzusehen, ob der Kunde im nächsten Verschlag seinen Witz auch wirklich gehört habe, und um sich davon zu überzeugen, guckte er um die Scheidewand herum und erkannte im nächsten Augenblick bei der Beleuchtung der Gaslampe Martin.

»Hol mich der Teufel«, rief er aus und reckte den Kopf vor. »Das ist doch das erstaunlichste Zusammentreffen, das jemals in der alten oder neuen Geschichte passiert ist. Wie geht’s Ihnen? Was bringen Sie für Neuigkeiten aus den ackerbauenden Distrikten? Was machen unsere Freunde, die Pecksniffs? Ha, ha, ha. David, schenken Sie doch auf der Stelle diesem Gentleman, der ein guter Freund von mir ist, ihre ganz besondere Aufmerksamkeit.«

»Da! Wollen Sie vielleicht die Güte haben, mir auf dieses Pfand hier so viel wie möglich zu borgen?« sagte Martin und händigte dem Pfandverleiher seine Uhr aus. »Ich brauche dringend Geld.«

»Er braucht dringend Geld!« rief Mr. Tigg voll Mitgefühl. »Haben Sie die Güte, Ihr Alleräußerstes für meinen Freund zu tun. Sie hören, er braucht dringend Geld. Bedienen Sie meinen Freund, als ob ich’s selbst wäre. Eine goldene Uhr, David! Zylinderwerk, geht auf vier Rubinen, englische Aufhängung, horizontale Balanciere, und für richtigen Gang garantiere ich mit meinem Ehrenwort, da ich Gelegenheit hatte, das Werk jahrelang und unter den heikelsten Umständen zu beobachten.« Dabei blinzelte er Martin zu, um ihm bemerklich zu machen, daß diese Empfehlung einen bedeutenden Einfluß auf den Pfandleiher ausüben werde. »Nun, was haben Sie meinem Freunde zu sagen, David? Geben Sie sich alle erdenkliche Mühe, sich bei dieser neuen Kundschaft gut einzuführen.«

»Wenn’s Ihnen recht ist, so kann ich Ihnen auf die Uhr drei Pfund borgen«, wendete sich der Pfandleiher in familiärem Ton zu Martin. »Sie ist sehr altmodisch, und ich kann deshalb nicht mehr geben.«

»Nun, das lasse ich mir gefallen«, rief Mr. Tigg. »Zwei Pfund zwölf Schillinge sechs Pence für die Uhr, und sieben Schillinge sechs Pence aus persönlichen Rücksichten. – Wirklich, ich freue mich sehr darüber. Es mag eine Schwäche von mir sein, aber ich kann nicht anders – drei Pfund sind gut – wir nehmen sie. Der Name meines Freundes ist Smivey: Chicken Smivey in Holborn, Nummer sechsundzwanzigeinhalb B, Aftermieter.« Dabei blinzelte er Martin zu, um ihm zu bedeuten, daß jetzt alle vom Gesetz vorgeschriebenen Zeremonien beendigt seien und er weiter nichts zu tun habe, als das Geld einzustecken.

Es stellte sich heraus, daß er nicht falsch prophezeit hatte, denn Martin, dem keine andere Wahl blieb, als zu nehmen, was ihm geboten wurde, drückte seine Zustimmung durch ein Nicken mit dem Kopfe aus, worauf sofort das Geld auf den Tisch hingezählt wurde. An der Türe schloß sich ihm Mr. Tigg an, faßte ihn am Arme, begleitete ihn auf die Straße hinaus und gratulierte ihm zu dem erfolgreichen Ausgang des Geschäftes.

»Danken Sie mir nicht lange wegen meiner Verwendung«, sagte er, »Sie wissen, ich kann dergleichen nicht leiden.«

»Glauben Sie vielleicht, es wäre mir so etwas auch nur im entferntesten in den Sinn gekommen?« sagte Martin, blieb stehen und machte sich los.

»Sie sind sehr gütig«, lachte Mr. Tigg, »ich danke Ihnen.« »Ich dächte, Sir«, sagte Martin und biß sich auf die Lippen, »die Stadt ist ziemlich groß, und wir könnten ganz gut verschiedene Wege einschlagen. Wenn Sie mir angeben wollen, wohin sie der Ihrige führt, so kann ich ja den entgegengesetzten einschlagen.«

Mr. Tigg öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Martin kam ihm zuvor.

»Nach dem, was sie soeben gesehen haben, brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen, daß ich nicht in der Lage bin, etwas für Ihren Freund, Mr. Slyme, tun zu können. Auch halte ich es für ebenso unnötig, Ihnen zu versichern, daß ich die Ehre Ihrer Gesellschaft gerne entbehre.«

»Halt!« rief Mr. Tigg und streckte die Hand aus. »Halt! Es gibt ein sehr merkwürdiges, altersgraues, sehr wahres Sprichwort, das behauptet, es sei die Pflicht des Menschen, zuerst gerecht und dann erst großmütig zu sein. Seien Sie jetzt das erstere – zu dem anderen werden Sie gleich Gelegenheit haben. Bitte, bringen Sie mich nicht in Verbindung mit dem Subjekt Slyme, beehren Sie das Subjekt Slyme nicht mit der Auszeichnung, es wäre mein Freund; denn das ist durchaus nicht der Fall. Ich habe mich genötigt gesehen, Sir, den Menschen fallenzulassen, den Sie Slyme nennen. Ich weiß durchaus nichts von der Person, die Sie Slyme nennen. Ich bin, Sir«, setzte Mr. Tigg hinzu und schlug sich auf die Brust, »ich bin eine preisgekrönte Orchidee von einer ganz anderen Kultur und ganz verschiedener Abstammung und habe nichts gemein mit dem Kohlstrunk Slyme, Sir.«

»Das alles ist mir sehr gleichgültig«, versetzte Martin kalt. »Es ist mir auch völlig egal, ob Sie jetzt auf eigene Rechnung vagabundieren oder das Geschäft noch in Kompanie mit Mr. Slyme führen. Kurz und gut, ich wünsche keinen Verkehr mit Ihnen. – In Teufelsnamen, Mensch«, setzte er hinzu, konnte aber trotz seines Ärgers ein Lächeln nicht unterdrücken, als er Mr. Tigg mit dem Rücken gegen den Fensterladen lehnen und sich mit Seelenruhe seinen Scheitel frisieren sah. »Wollen Sie dorthin gehen oder diesen Weg hier einschlagen?«

»Erlauben Sie mir gefälligst, Sie daran zu erinnern, Sir«, sagte Mr. Tigg mit großer Würde, »daß Sie – nicht ich – daß Sie –, ich wiederhole es noch einmal: daß Sie – meine Vermittlung in Ihren Angelegenheiten zu einer kalten und entfremdenden Geschäftssache machen, während ich geneigt war, sie im Lichte einer freundschaftlichen Bemühung zu betrachten. Wie übrigens jetzt die Sachen stehen, Sir, erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich wegen der geringen Dienste, die ich Ihnen bei dem Geldgeschäft heute abend geleistet, eine Kleinigkeit erwarte, um sie einem wohltätigen Zwecke zuzuwenden. Nach der Art und Weise, wie Sie mit mir gesprochen haben«, schloß Mr. Tigg, »würde ich es nicht als Beleidigung betrachten, wenn Sie mir gefälligst eine Krone anbieten wollten.«

Martin zog ein solches Geldstück aus der Tasche und warf es dem Gentleman zu. Mr. Tigg fing es auf, betrachtete es genau, um sich von seiner Echtheit zu überzeugen, ließ es auf seiner Hand wie einen Kreisel tanzen und begrub es dann in seiner Tasche. Schließlich lüftete er mit militärischem Anstand seinen Hut um ein paar Zoll, sann gravitätisch nach, für welche Richtung er sich entscheiden und welchen Grafen oder Marquis von seinen Freunden er zunächst mit seinem Besuche beehren solle, steckte die Hände in seine Rocktaschen und stolzierte davon. Martin schlug die entgegengesetzte Richtung ein.

Der ganze stattgefundene Vorgang hatte etwas Demütigendes für ihn, und er verwünschte immer wieder und wieder das Mißgeschick, mit diesem Menschen in dem Laden des Pfandleihers zusammengetroffen zu sein. Immerhin gereichte es ihm zum Tröste, daß Mr. Tigg selbst zugestanden hatte, die Verbindung zwischen ihm und Slyme habe aufgehört. Dadurch wurde wenigstens, wie Martin folgerte, verhindert, daß seine drückende Lage irgendeinem Mitgliede seiner Familie bekannt wurde. Schon der Gedanke an diese Möglichkeit einer solchen Bloßstellung verletzte seinen Stolz und erfüllte ihn mit Scham. Allerdings war genügend Grund vorhanden, in was immer für Erklärungen Mr. Tiggs das größte Mißtrauen zu setzen und ihnen auch nicht den mindesten Glauben zu schenken. Wenn sich aber Martin daran erinnerte, auf welchem Fuße dieser Gentleman mit seinem Freunde gestanden hatte und wie wahrscheinlich es war, daß er ein von Mr. Slyme unabhängiges Geschäft eröffnet habe, kam ihm die Aussage des Ehrenmannes immerhin plausibel vor; wenigstens hoffte er, es möchte der Fall sein, und das war vorderhand genügend.

Sobald er sich mit dem nötigen Geld, wie bereits erzählt, für seine augenblicklichen Bedürfnisse versehen hatte, war sein erster Schritt, seine Schlafstelle in dem Wirtshaus bis auf weitere Kündigung zu mieten und ein förmliches Schreiben an Tom Pinch abzusenden – er wußte genau, daß es Mr. Pecksniff lesen würde –, worin er ihn ersuchte, ihm mit der nächsten Londoner Post seine Kleider zu schicken, zugleich aber der Adresse die Weisung beifügte, daß sie auf dem Postbureau liegen bleiben sollten, bis sie abgeholt würden. Nachdem er diese Maßregeln getroffen, verbrachte er die Zeit bis zur Ankunft seines Gepäckes – nämlich drei Tage – mit Nachfragen wegen der Überfahrtsbedingungen nach Amerika. Er hoffte, es könne sich ihm bei dieser Gelegenheit die Möglichkeit irgendeiner kleinen Stelle an Bord bieten. Als er jedoch fand, daß sich etwas dieser Art nicht von selbst präsentierte, und die Folgen weiteren Zeitverlustes fürchtete, so brachte er sein Anliegen in Form einer kurzen Annonce zu Papier, die er in ein paar der gelesensten Zeitungen einrücken ließ. Bis die zwanzig oder dreißig Anfragen, die, wie er meinte, nicht ausbleiben könnten, einlaufen würden, traf er unter seiner Garderobe eine engere Wahl und trug das übrige in den Laden des Pfandverleihers, um es in klingende Münze umzusetzen.

Dabei fiel ihm auf, wie rasch und doch fast unmerklich er Feingefühl und Selbstachtung verlor. Was ihn noch vor ein paar Tagen bis ins tiefste Innere mit Scham erfüllt hätte, betrieb er bald mit so wenig Bedenken, als wenn es sich ganz von selbst verstünde. Als er das erstemal den Pfandleiher besucht hatte, war es ihm auf seinem Wege vorgekommen, als sähen ihm alle Vorübergehenden forschend in die Augen, wohin er ginge. Auf dem Rückwege schien es, als mache der ganze Menschenstrom vor ihm halt und wiche ihm aus, genau wissend, woher er komme. Und jetzt? Das Urteil der Leute war ihm mit einem Male vollständig gleichgültig geworden! Bei seinen ersten Wanderungen durch die langweiligen Straßen hatte er sich gestellt, als verfolge er einen ganz bestimmten Zweck, jetzt aber verfiel er bald in den bummligen Gang eines gedankenlosen Pflastertreters, der, an einem Strohhalm kauend, um die Straßenecken schlendert und wohl fünfzigmal des Tages an demselben Ort hin und her geht, teilnahmslos und geistesabwesend immer in dieselben Fensterläden guckend. Anfangs verließ er seine Wohnung mit einem unruhigen Gefühl, weil er sich scheute, auch nur von den zufällig Vorübergehenden, die er nie zuvor gesehen hatte und auch wohl nie wieder zu sehen bekommen würde, bemerkt zu werden. – Es berührte ihn peinlich, am Morgen aus einem Wirtshaus zu kommen, aber jetzt machte er sich nichts mehr daraus, sogar vor der Türe herumzulungern oder sich nachlässig neben dem Gestell zu sonnen, das von oben bis unten mit hölzernen Nägeln besteckt war, an denen die Bierkannen wie Früchte eines Zinnbaumes hingen. Und doch hatte es kaum fünf Wochen gebraucht, bis er die unterste Sprosse dieser langen Leiter erreicht hatte.

Fünf Wochen! Von all den zwanzig oder dreißig Anfragen, die er erhofft, war auch nicht eine einzige eingelaufen. Sein Geld – und selbst der Zuschuß, den er sich durch Veräußerung seiner entbehrlichen Kleidungsstücke verschafft hatte, freilich war es nicht viel, denn Kleider sind bekanntlich teuer zu kaufen, aber fast wertlos im Leihamt – schwand rasch dahin. Was sollte er beginnen? Manchmal überkam ihn eine Art Verzweiflung, und dann stürzte er wieder fort, obgleich er eben erst nach Hause gekommen war, um nach demselben Platz, den er schon zwanzigmal besucht, zurückzukehren, um einen neuen Versuch zu machen; aber alles war vergebens. Er war um vieles zu alt für einen Kajütenjungen und viel zu unerfahren, um auch nur als gewöhnlicher Matrose angenommen zu werden. Auch sein Anzug und sein ganzes übriges Äußeres stand seinen Anerbietungen, sich den niedrigsten Diensten zu unterziehen, hinderlich im Wege. Und doch durfte er nichts unversucht lassen, langte doch alles, was er besaß, nicht hin, um auch nur im Zwischendeck Amerika erreichen zu können.

Es ist bezeichnend für den menschlichen Geist, daß Martin die ganze Zeit über keinen Augenblick zweifelte und sogar felsenfest davon überzeugt war, er würde in der neuen Welt die großartigsten Dinge zur Ausführung bringen können, wenn er nur einmal drüben wäre. In demselben Maße, in dem er von Tag zu Tag kleinmütiger in England wurde, und die Möglichkeiten, sich Mittel zu verschaffen, um nach Amerika zu kommen, immer mehr und mehr schwanden, desto tiefer lebte er sich in die Überzeugung hinein, drüben sei der einzige Ort, wo er sein hohes Ziel erreichen könne. Ununterbrochen quälte er sich mit dem Gedanken ab, es könnten in der Zwischenzeit Leute hinübergehen, die ihm in der Ausführung aller seiner Pläne, die seinem Herzen so teuer waren, zuvorkämen. Oft dachte er an John Westlock und sah sich nach ihm bei allen Gelegenheiten um, durchwanderte sogar London drei Tage lang ausdrücklich in der Absicht, ihm zu begegnen. Wenn ihm dies auch nicht glückte, so wäre er doch nicht im geringsten davor zurückgeschreckt, sich von ihm Geld auszuborgen, was ihm Westlock ohne Zweifel auch sofort geliehen haben würde. Aber andererseits konnte er es doch nicht über sich gewinnen, an Pinch zu schreiben und ihn zu fragen, wo sein Freund zu finden sei. Allerdings hatte er Tom ziemlich gern, aber das Bewußtsein seiner eigenen Überlegenheit erlaubte es ihm nicht, einen Menschen, dem er nichts weiter als ein Gönner sein wollte, zum Ausgangspunkt seines Glückes zu machen. Schon der Gedanke daran verletzte seinen Stolz aufs tiefste.

Wahrscheinlich würde er schließlich doch nachgegeben haben und hätte es ohne Zweifel auch bald müssen, wenn nicht ein sehr sonderbares und unvorhergesehenes Ereignis eingetreten wäre.

Nach Ablauf der genannten fünf Wochen befand er sich in einer wahrhaft verzweifelten Lage. Als er eines Abends nach seiner Wohnung zurückkehrte, sich betrübt nach seiner Schlafkammer hinaufschlich und eine Kerze an der Gasflamme im Schenkstübchen anzünden wollte, hörte er den Wirt seinen Namen nennen. Da er ihn stets verschwiegen hatte, so stutzte er daher nicht wenig, und seine Verwirrung war so augenfällig, daß der Wirt ihn mit der Bemerkung zu beruhigen für nötig hielt: es sei nur von einem Briefe die Rede.

»Von einem Briefe!« rief Martin.

»An Mr. Martin Chuzzlewit«, erklärte der Wirt und las die Adresse eines Schreibens, das er in der Hand hielt, ab. »Abgestempelt nachmittags, Hauptpostamt, franko.«

Martin nahm das Kuvert entgegen, bedankte sich und ging die Treppe hinauf. Der Umschlag war nur mit einer Oblate zugeklebt und die Handschrift ihm gänzlich unbekannt. Er öffnete das Schreiben und fand darin – ohne Namen, Adresse oder sonstigen Aufschluß – eine Note der englischen Bank im Betrag von zwanzig Pfund.

Vor Erstaunen und Entzücken fast versteinert, eilte er sogleich in die Wirtsstube hinunter, um sich zu überzeugen, ob die Note auch echt sei, und dann wieder mit größter Hast hinaufzustürmen, um sich wohl zum fünfzigsten Male zu überzeugen, ob nicht doch irgendwo eine kleine Notiz angebracht sei oder eine Zeile sich vorfinde. Vor lauter Mutmaßungen wurde er schließlich fast närrisch, konnte aber am Ende doch weiter nichts herausbringen, als daß die Note wirklich da und er plötzlich ein reicher Mann geworden war. Dann kam er zu dem Schlusse, es sich vorderhand wieder einmal bei einem guten, aber frugalen Mahle auf seinem Zimmer wohl sein zu lassen, befahl zu diesem Zwecke ein Kaminfeuer anzuzünden und begab sich auf den Weg, um etwas einzukaufen.

Er suchte sich ein paar Schnitten kaltes Ochsenfleisch, Schinken, französisches Brot und Butter aus und kehrte gleich darauf mit ziemlich schwer beladenen Taschen wieder heim. Wenig erfreulich für ihn war, daß er sein Zimmer voll Rauch fand, was davon herrührte, daß die Abzugsröhren fehlerhaft konstruiert waren und man überdies beim Einheizen vergessen hatte, ein paar Säcke und andere Kleinigkeiten wegzunehmen, die in der Röhre gelegen hatten. Doch war das Versehen bereits wiedergutgemacht und das Fenster durch ein vorgelegtes Holzscheit zum Offenbleiben gezwungen worden, so daß es in Bälde in der Stube ziemlich behaglich war, von ein bißchen Augenbeißen und Husten vielleicht abgesehen.

Martin war nicht in der Stimmung, sich über diese Mißhelligkeiten zu beklagen, selbst wenn sie noch unerträglicher gewesen wären, besonders da eine glänzende Flasche Porter auf dem Tische stand. Als sich das Dienstmädchen entfernen wollte, erteilte er ihr noch die besondere Weisung, etwas Heißes herzurichten, damit er es haben könne, sobald er klingle. Da der kalte Braten in einen Theaterzettel eingewickelt war, bediente er sich dieses Papiers als Tafeltuch, legte es mit der bedruckten Seite nach unten auf den kleinen runden Tisch und ordnete sein Mahl darauf. Der untere Teil der Bettstatt vertrat, da sie dicht an den Kamin stieß, die Stelle eines Serviertisches, und als diese Vorbereitungen beendigt waren, schob Martin einen alten Lehnsessel in die wärmste Kaminecke, um sodann behaglich darauf Platz zu nehmen.

Er hatte soeben mit großem Appetit zu essen angefangen und sah sich dabei mit der triumphierenden Vorahnung in dem Stübchen um, daß er es am nächsten Tage wohl für immer verlassen werde, als seine Aufmerksamkeit durch einen leisen Schritt auf der Treppe draußen erregt wurde. Gleich darauf ertönte ein Klopfen an der Türe, und zwar so leise, daß das Holzscheit im Fenster aufs lebhafteste darüber erschrak und auf die Straße hinunterfiel.

»Aha, Kohlen kommen«, murmelte Martin. »Herein!«

»Ich bin so frei, Sir«, versetzte eine Mannesstimme. »Ihr Diener, Sir!«

Martin starrte das Gesicht an, das sich jetzt auf der Schwelle verbeugte. Er erinnerte sich der Züge und des Ausdrucks vollkommen, hatte aber ganz und gar vergessen, wem sie angehörten.

»Ich heiße Tapley, Sir«, sagte der Besucher, »ich bin derselbe, der früher im Drachen bedienstet war und fort mußte, weil es ihm an Anlaß zur nötigen Fröhlichkeit fehlte.«

»Aha! Richtig!« rief Martin. »Ich bitte Sie, wie kommen Sie hierher?«

»Durch den Vorplatz und die Treppe herauf, Sir«, entgegnete Mark.

»Nein, ich meine, wie Sie mich aufgefunden haben?«

»Nun, Sir«, antwortete Mark, »es kam mir so vor, als ob ich Sie ein paarmal auf der Straße gesehen hätte. Und als ich vorhin mit so hungrigem Magen, daß man ganz gut heiter dabei sein kann, in die Bude des Garkochs drüben hineinschaute, bemerkte ich, daß Sie drin Einkäufe machten.«

Martin errötete, als Mr. Tapley auf den Tisch deutete, und fragte etwas hastig:

»Und was weiter?« »Nun, Sir, und da nahm ich mir die Freiheit, Ihnen nachzugehen. Und da ich drunten sagte, Sie erwarteten mich, so ließ man mich herauf.«

»Haben Sie mir etwas auszurichten, weil Sie angaben, daß Sie von mir erwartet würden?« fragte Martin.

»Nein, Sir, das gerade nicht, ich sagte es nur so. Es war ein frommer Betrug, weiter nichts.«

Martin warf Mark einen ärgerlichen Blick zu. Es lag jedoch eine solche Heiterkeit in dem ganzen Auftreten des jungen Mannes, die nicht die Spur von Aufdringlichkeit oder Familiarität an sich hatte, daß es ihn vollkommen entwaffnete. Außerdem hatte er viele Wochen lang ein sehr einsames Leben geführt, und die bekannte Stimme klang angenehm in seinem Ohr.

»Tapley«, sagte er, »ich will offen gegen Sie sein. Nach alledem, was ich sehe und von Pinch über Sie gehört habe, sind Sie offenbar kein Mensch, den bloße unverschämte Neugierde oder ein ähnlicher Beweggrund hierherführt. Setzen Sie sich, es freut mich, Sie zu sehen.«

»Danke, Sir«, versetzte Mark, »ich möchte aber doch lieber stehen.«

»Wenn Sie nicht Platz nehmen wollen, so spreche ich überhaupt nicht mit Ihnen«, entgegnete Martin.

»Also gut, Sir, Ihr Wunsch ist mir Befehl. Also hier bin ich.«

Mit diesen Worten setzte sich Mark auf die Bettstelle.

»Greifen Sie zu«, lud ihn Martin ein und reichte ihm sein einziges Messer hin.

»Danke, Sir«, lehnte Mr. Tapley ab, »bis Sie fertig sind.«

»Wenn Sie jetzt nicht wollen, so kriegen Sie gar nichts.«

»Also gut, Sir«, versetzte Mark, »wenn Sie’s denn durchaus haben wollen.«

Damit langte er herzhaft zu und ließ sich’s gut schmecken. Nachdem Martin während eines kurzen Schweigens das gleiche getan, fragte er plötzlich:

»Was treiben Sie in London?«

»Nichts, Sir.«

»Wieso nichts?«

»Ich bin stellenlos.« »Das tut mir Ihretwegen leid«, sagte Martin.

»Ich möchte gern eine Dienerstelle bei einem ledigen Herrn annehmen«, nahm Mark seine Rede wieder auf. »Geht er ins Ausland, um so besser, denn ich möchte mir gern die Welt ein bißchen ansehen. Auf Lohn lege ich kein besonderes Gewicht.«

Er sagte dies in so bedeutungsvollem Tone, daß Martin im Essen innehielt und sagte:

»Wenn Sie mich meinen –«

»Ja, Sie meine ich, Sir.«

»– so können Sie schon aus der Art und Weise, wie ich hier lebe, schließen, daß ich nicht die Mittel besitze, mir einen Bedienten zu halten. Außerdem reise ich demnächst nach Amerika.«

»Ei, Sir«, erwiderte Mark, ohne sich dadurch abschrecken zu lassen, »nach allem, was ich hörte, möchte ich wohl glauben, daß Amerika ganz der Ort danach wäre, wo ein Mensch wie ich fidel sein kann.«

Abermals blickte ihn Martin ärgerlich an, aber wieder machte sein Verdruß unwillkürlich einem Lächeln Platz.

»Gott behüte, Sir«, rief Mark, »was hilft’s da, Verstecken zu spielen und um die Sache herumzugehen wie die Katze um den heißen Brei, wenn man mit ein paar Worten ins reine kommen kann. Ich habe Sie seit vierzehn Tagen nicht aus dem Gesicht verloren und wohl gemerkt, daß in Ihren Angelegenheiten irgendeine Schraube los sein muß. Auch dachte ich mir schon, als ich Sie das erstemal im Drachen drunten sah, daß es früher oder später so kommen müsse. Nun, Sir, hier bin ich, und zwar ohne Stelle. Fürs nächste Jahr brauche ich auch keinen Lohn, denn ich habe mir im Drachen etwas erspart – ich wollte es zwar nicht, aber es ging eben nicht anders –, und wenn’s wo ein bißchen drunter und drüber geht, so freut mich das nur um so mehr. Sie gefallen mir, und ich möchte gern meinen Mann stellen unter Umständen, wo andere Leute niedergeschlagen sein würden. Wollen Sie mich also nehmen oder fortschicken?«

»Aber wie kann ich Sie denn nehmen?«

»Wenn ich sage ›nehmen‹«, versetzte Mark, »so verstehe ich darunter, mich gehen zu lassen, und unter ›gehen lassen‹ verstehe ich, Sie sollen mich mit Ihnen gehen lassen – denn gehen will ich, wohin es auch sei. Da Sie gerade von Amerika sprechen, so sehe ich mit einemmal klar, daß dies ganz der Ort ist, wo man wirklich fidel sein kann, und wenn ich meine Fahrt in dem Schiff, in dem Sie fahren, nicht zahlen darf, Sir, so zahle ich sie eben in einem andern. Denken Sie an meine Worte: wenn ich allein fahre, so wird es meinem Grundsatze getreu in dem morschesten, gebrechlichsten und elendesten Kasten geschehen, in dem man für Geld oder gute Worte einen Platz kriegen kann. Wenn ich dann auf meiner Reise zugrunde gehe, so haben Sie mich auf dem Gewissen; und verlassen Sie sich darauf, ich werde dann als Gespenst Nacht für Nacht mit Doppelschlägen an Ihre Türe klopfen.«

»Das ist doch Narrheit«, sagte Martin unwirsch.

»Also gut, Sir«, entgegnete Mark. »Freut mich, das zu hören, und wenn Sie mich nicht mitgehen lassen, so wird es vielleicht um so tröstlicher für Sie sein, daß Sie diese Meinung von der Sache gehabt haben. Ich widerspreche nicht gern einem Gentleman, aber das eine sag ich Ihnen, wenn ich dann nicht in der miserabelsten Nußschale, wie nur je eine aus dem Hafen schwamm, nach Amerika auswandere, so will ich – –«

»Das kann Ihnen aber doch unmöglich ernst sein«, versetzte Martin. – »Mein vollkommener Ernst«, versicherte Mark.

»Nein, nein, ich kenne Sie besser«, lachte Martin.

»Also gut, Sir«, sagte Mark wieder mit sehr entschiedener Miene. »Lassen wir’s, wie’s ist, und geben Sie acht, wie’s ausfallen wird. Meiner Seel, das einzige Bedenken, das ich dabei habe, besteht darin, ob’s nicht am Ende selbstsüchtig von mir ist, mich Ihnen aufzudrängen; denn einem Gentleman wie Ihnen muß es natürlich drüben so leichtfallen, seinen Weg zu machen, wie einem Bohrer, wenn er auf Tannenholz stößt.«

Damit berührte er Martins schwache Seite, der denn auch sofort nachgab und sich des Gefühls nicht erwehren konnte, was dieser Mark doch für ein munterer Bursche sei und wie wohl ihm in dieser schwermütigen Atmosphäre seine Fröhlichkeit bereits getan habe.

»Nun allerdings, Mark«, gab er zu, »ich würde die Reise nicht unternehmen, wenn ich nicht die Hoffnung hätte, daß es mir drüben gutgehen wird. Ich habe vielleicht Eigenschaften, die mir bei meinem Fortkommen gut zustatten kommen werden.«

»Natürlich haben Sie die«, entgegnete Mr. Tapley. »jeder Mensch weiß das.«

»Sie sehen«, fuhr Martin fort, stützte sein Kinn auf die Hand und blickte in die Kohlenglut, »gute Baumeister für Wohnungen müssen in jedem Lande sehr gesucht sein. Gar erst in Amerika, wo die Leute ohne Unterlaß ihren Aufenthalt ändern und sozusagen nomadisieren. Es ist klar, daß sie dann doch Häuser haben müssen, um darin zu wohnen.«

»Das glaube ich auch, Sir«, bemerkte Mark, »und gerade, wo die Sachen so stehen, muß sich einem Baumeister die allergünstigste Gelegenheit bieten, von der ich nur je habe reden hören.«

Martin blickte ihn forschend an und konnte sich des Argwohns nicht erwehren, daß diese Bemerkung einen Zweifel an dem glücklichen Erfolge seiner Pläne verbergen solle. Indessen beruhigte er sich wieder, als er sah, daß Mr. Tapley mit dem gutmütigsten Gesicht von der Welt an dem Fleisch und Brot fortarbeitete. Bald stieg ihm jedoch noch ein Bedenken auf. Er zog das Kuvert hervor, in dem die Geldnote eingeschlossen gewesen, hielt es Mark hin und faßte ihn dabei fest ins Auge.

»Sagen Sie mir die Wahrheit! Wissen Sie etwas davon?«

Mark drehte den Brief um und um, betrachtete ihn von allen Seiten, hielt die Aufschrift bald gerade, bald verkehrt und schüttelte schließlich mit einem so unbefangenen Ausdruck des Erstaunens über diese Frage den Kopf, daß Martin das Kuvert wieder zurücknahm und sagte:

»Gut, ich sehe schon, Sie wissen nichts davon. Übrigens, wie sollten Sie auch? Immerhin merkwürdig, wieso der Brief an mich kam. – – Nun gut, Tapley«, fügte er nach einem kurzen Besinnen hinzu, »ich will Ihnen meine Geschichte erzählen, und dann werden Sie klarer sehen, an was für ein Geschick Sie sich ketten, wenn Sie mit mir reisen.«

»Ich bitte einen Augenblick um Verzeihung, Sir«, unterbrach ihn Mark, »aber ehe Sie weiter sprechen, möchte ich Sie fragen: nehmen Sie mich also mit, oder wollen Sie mich abweisen – mich, den Mark Tapley, vormals im Blauen Drachen, der sich auf das gute Zeugnis Mr. Pinchs berufen kann und einen Gentleman von Ihren hohen Fähigkeiten sucht, um von ihm lernen zu können? Oder soll ich Ihnen in achtungsvoller Entfernung folgen, während Sie, was gar nicht fehlen kann, die höchste Stufe der Glücksleiter erklimmen? – – Nun, Sir«, setzte er hinzu, »für Sie kann’s von sehr geringer Bedeutung sein – und da liegt der Haken –, aber für mich ist’s von großer Wichtigkeit. Wollen Sie so gut sein und dies ins Auge fassen?«

Diese zweite Attacke auf Martins schwachen Punkt ließ erkennen, daß Mr. Tapley ein sehr gewandter und schlauer Beobachter war. Mochte jedoch der Schuß absichtlich oder zufällig sein, jedenfalls traf er ins Schwarze, denn Martin ließ sich immer mehr und mehr erweichen und sagte schließlich mit einer Herablassung, die ihm nach den vielen Wochen Demütigung unendlich wohl tat:

»Nun, wir wollen’s überlegen, Tapley. Sie können mir ja morgen sagen, ob Sie noch derselben Ansicht sind.«

»Dann, Sir«, versetzte Mark und rieb sich die Hände, »ist die Sache so gut wie abgemacht. Bitte, fahren Sie jetzt fort, Sir, wenn’s gefällig ist. Ich bin ganz Ohr.«

Martin sah ins Feuer und warf hin und wieder einen Blick auf Mark, der bei solchen Gelegenheiten stets mit dem Kopfe nickte, um sein großes Interesse und seine gespannteste Aufmerksamkeit zu bekunden. Dabei erzählte er die Hauptpunkte seiner Geschichte in ähnlicher Weise, wie er sie vor einiger Zeit Mr. Pinch mitgeteilt hatte. Allerdings paßte er sie, wie es ihm in diesem Falle richtiger vorkam, Mr. Tapleys Begriffsvermögen an und berührte deshalb seine Liebesangelegenheit nur ganz kurz und mit wenigen Worten. Doch machte er in diesem Falle die Rechnung ohne den Wirt, denn Mark interessierte sich ganz besonders und aufs lebhafteste für diesen Teil der Geschichte und stellte allerhand darauf bezügliche Fragen, wobei er sich damit entschuldigte, er glaube sich um so mehr berechtigt dazu, als er die junge Dame im Blauen Drachen gesehen habe.

»Eine junge Dame, in die verliebt zu sein sich jeder Gentleman zur Ehre anrechnen müßte«, bemerkte Mark mit Nachdruck. »Gewiß und wahrhaftig.« »Leider haben Sie sie gesehen, als sie sich nicht sehr glücklich fühlte«, entgegnete Martin, wieder wie vorher in die Kohlenglut blickend. »Ja, wenn Sie sie in ihren frühern Zeiten gesehen hätten!«

»Allerdings war sie ein bißchen niedergeschlagen, Sir, und etwas blasser im Gesicht, als man gerade hätte wünschen können«, gab Mark zu, »aber nichtsdestoweniger sah sie doch recht gut aus. – In London hat sie übrigens schon wieder besser ausgesehen.«

Martin wandte seinen Blick vom Feuer ab und starrte Mark an, als fürchte er, einen Wahnsinnigen vor sich zu haben. Dann fragte er ihn, was er damit sagen wolle.

»Nichts für ungut«, entschuldigte sich Mark, »ich habe nur gemeint, daß sie vielleicht glücklicher sei, trotzdem Sie ihr jetzt fehlten. Aber es kam mir wirklich so vor, als ob sie besser aussähe, Sir.«

»Wie? Wollen Sie damit sagen, sie sei in London gewesen?« fragte Martin, stand auf und stieß seinen Stuhl zurück.

»Natürlich«, sagte Mark und erhob sich gleichfalls voll Staunen von der Bettstelle.

»Und habe ich das so zu verstehen, als ob sie noch jetzt in London wäre?«

»Höchstwahrscheinlich, Sir, ist sie hier. Wenigstens war sie’s noch vor einer Woche.«

»Und wissen Sie, wo sie wohnt?«

»Sie vielleicht nicht?«

»Ach, mein lieber Freund!« rief Martin und faßte Mark bei beiden Armen. »Seit ich das Haus meines Großvaters verließ, habe ich sie doch nicht wiedergesehen!«

»Na, da höre einer!« rief Mark, schlug mit der geballten Faust dermaßen auf den kleinen Tisch, daß die Fleischschnitten darauf tanzten, und sein ganzes Gesicht bis hinauf zur Stirne leuchtete vor Entzücken. »Jetzt sagen Sie selbst, bin ich nicht Ihr natürlicher, geborener, vom Schicksal ausdrücklich für Sie bestimmter Diener? Und wenn’s nicht so ist, so gibt’s kein solches Ding mehr in der ganzen Welt wie den Blauen Drachen. Zum Kuckuck noch einmal! Als ich da neulich zufällig auf einem alten Kirchhof in der City auf und ab spazierte, um mich in eine fröhliche Stimmung zu versetzen, da sah ich Ihren Großvater wohl eine geschlagene Stunde lang hin und her wackeln. Ich bin ihm dann in Todgers‘ Logierhaus für Handelsbeflissene nachgegangen und habe gesehen, wie er wieder herauskam und sich in sein Hotel begab. Und dann suchte ich ihn auf und sagte ihm, ich möchte in seine Dienste treten; ich sei ihm auf eigene Kosten nachgereist, denn ich hätte schon damals im Sinne gehabt, mich ihm anzubieten, ehe ich den Drachen verließ. Und wer saß bei ihm in der Stube? Nun, die junge Dame. Sie lachte übers ganze Gesicht, und das war wirklich reizend anzusehen. Ihr Großvater sagte: ›Kommen Sie nächste Woche wieder‹, und als ich das tat, sagte er, er könne von seinem Grundsatz, niemandem mehr zu trauen, nicht abgehen. Deshalb wolle er mich nicht anstellen. Aber zu gleicher Zeit stand etwas zu trinken da, und das schmeckte wirklich prächtig. Nun«, rief Mr. Tapley mit einem drolligen Gemisch von Vergnügen und Ärger, »was hat man für Ehre davon, unter solchen Umständen fidel zu sein? Kann man da überhaupt anders, wenn die Sachen so stehen?«

Martin stand eine Weile da und blickte Mr. Tapley an, als ob er seinen Ohren nicht traue und nicht glauben könne, daß der Mann wahrhaftig vor ihm stehe. Endlich fragte er ihn, ob er meine, der jungen Dame insgeheim einen Brief zustellen zu können, wenn sie sich noch in London aufhalte.

»Ob ich meine?!« rief Mark. »Freilich meine ich! – Setzen Sie sich jetzt nieder, Sir, und schreiben Sie, Sir.«

Damit räumte er den Tisch mit ein paar energischen Griffen auf, das heißt, er streifte alles, was darauf lag, in den Ofen, holte das Schreibzeug vom Kaminsims herunter, setzte für Martin einen Stuhl hin, drückte ihn hinein, tauchte die Feder ins Tintenfaß und gab sie ihm in die Hand.

»Also frisch drauflos, Sir!« rief er. »Machen Sie’s ordentlich, Sir. – Ob ich glaube, ihr einen Brief zustellen zu können?! Natürlich glaube ich das. Aber jetzt ans Geschäft, Sir!«

Martin ließ sich nicht lange zureden, sondern ging mit großer Behendigkeit ans Werk, während sich Mr. Tapley ohne weitere Umstände die Funktionen eines Kammerdieners und Faktotums anmaßte, d. h. seinen Rock auszog, den Kamin abräumte, das Zimmer ordnete und dabei stets mit halblauter Stimme vor sich hin murmelte.

»Eine nette Art von Logis«, brummte er, rieb sich die Nase mit der Handhabe der Kohlenschaufel und sah sich in der ärmlichen Stube um, »das nenne ich mir Komfort. Sogar der Regen kommt durchs Dach herunter. Auch nicht übel. Und die belebte olle Bettstätte hier mit ner Armee von braunen Vampiren darin; – na, da kann man wenigstens fidel sein! Und diese zerlumpte Nachtmütze! – – – Heda! Jane!« rief er die Treppe hinunter. »Bringen Sie doch mal ’n Glas Heißes für meinen Herrn herauf, wie ich Sie vorhin habe eins mischen sehen! – So ist’s recht, Sir«, fügte er zu Martin gewendet hinzu, »tun Sie nur, als ob’s Ihnen höllisch schlimm zumute sei, und lassen Sie’s auch an Zärtlichkeit nicht fehlen. – Sie können nicht zu dick auftragen!«