28. Kapitel


28. Kapitel

Mr. Montague in seinem Heim und Mr. Jonas Chuzzlewit in dem seinigen

Es gab viele gewichtige Gründe, die Mr. Jonas Chuzzlewit lebhaft zugunsten des Planes einnahmen, den ihm der kühne Schöpfer desselben so keck und offen dargelegt hatte. Vor allem waren da drei besonders einleuchtende Punkte: Erstens konnte man Geld dabei machen, zweitens hatte das Geld einen eigentümlichen Zauber, da es schlauerweise auf anderer Leute Kosten gewonnen wurde, und drittens war mit dem ganzen Plan Auszeichnung und Anspruch auf ein gewisses Ansehen verbunden. Ein Direktorium ist an sich schon eine ehrfurchtgebietende Institution und ein Präsident ein gewaltiger Mann.

»So einen famosen Schnitt zu machen, einem Haufen Leute befehlen zu können und dabei gleichzeitig Gelegenheit zu haben, in gute Gesellschaft zu kommen – das ist keine so schlechte Sache«, dachte Jonas. Die beiden letzten Erwägungen spielten wohl angesichts seiner Habsucht nur eine untergeordnete Rolle, dessenungeachtet aber war er – um so mehr, als er wußte, daß ihm seine Persönlichkeit, sein Benehmen, sein Ruf und seine Gaben keinerlei Achtung erwerben konnten – äußerst begierig nach Macht und in seinem Herzen mindestens ein ebenso großer Tyrann, wie nur irgendein belorbeerter Eroberer, von dem die Geschichte weiß, es sein konnte.

Trotzdem nahm er sich vor, mit aller Schlauheit und der nötigen Vorsicht zu Werke zu gehen, namentlich aber den Grad der Vornehmheit in Mr. Montagues Privateinrichrung scharf ins Auge zu fassen. Bei seiner ganzen Hohlköpfigkeit fiel es ihm ebensowenig ein, daß dies gerade ausdrücklich in Montagues Wunsch liegen mußte, da er ihn doch sonst in so einem kritischen Moment nicht zu sich gebeten haben würde. Ebensowenig dachte er in seiner hohen Meinung von sich selbst an die Möglichkeit, das erwähnte Kraftgenie könne ihn in irgendeiner Weise zu überbieten imstande sein, hatte Tigg doch gleich anfangs selbst gesagt, er (Jonas) sei zu scharfsinnig für ihn, und Jonas glaubte dies augenblicklich, trotzdem er in anderer Hinsicht selbst einem Eide mißtraut hätte.

Mit zögernder Hand und doch mit dem schwachen Versuch, selbstbewußt aufzutreten, klopfte er an die Haustüre seines neuen Freundes in Pall Mall, als die bestimmte Stunde gekommen war. Mr. Bailey erschien sogleich und öffnete. Er war durchaus nicht stolz, sondern augenscheinlich sehr geneigt, von Jonas Notiz zu nehmen. Doch Jonas hatte ihn offenbar vergessen.

»Ist Mr. Montague zu Hause?«

»Dös glaub‘ i! Und’s Essen wartet a schon«, sagte Mr. Bailey mit der ganzen Nonchalance eines alten Bekannten. »Wollen S‘ Ihnern Hut mit naufnehmen oder ihn hier lassen?«

Mr. Jonas wollte ihn lieber unten lassen.

»Der alte Name, was?« fragte Bailey grinsend.

Mr. Jonas starrte ihn in stummer Empörung an.

»Sie erinnere Ihna woll nimmer an die alte Todgers«, fuhr Mr. Bailey fort und machte die Bewegung des Stiefelputzens. »Erinnern S‘ Ihna leicht nimmer, wie i Ihna angmeldt hab bei die jungen Damen? Es war halt doch a mordsmäßig alte Baracken, was? Und wie die Zeit vergeht, was? Aber sakrisch rausgmacht haben S‘ Ihna seitdem, was?« Ohne auf eine Anerkennung dieses Kompliments zu warten, führte er den Gast hinauf, meldete ihn und zog sich mit vertraulichem Blinzeln zurück.

Das untere Stockwerk des Hauses hatte ein wohlhabender Kaufmann inne. Mr. Montague bewohnte den oberen. Es war eine wahrhaft glänzende Wohnung! Das Zimmer, in dem Mr. Tigg Jonas empfing, war geräumig, elegant und mit ausgesuchter Eleganz möbliert. Gemälde, Kopien antiker Statuen aus Alabaster und Marmor, Porzellanvasen, hohe Spiegel, karmesinrote Vorhänge von schwerster Seide, vergoldetes Schnitzwerk, üppige Sofas, Schreibtische, mit kostbarem Holz eingelegt, und kostbare Nippesgegenstände jeder Art vervollständigten in luxuriösester Weise die Inneneinrichtung. Die einzigen Gäste außer Jonas waren der Doktor, der Sekretär und noch zwei andere Herren, die Montague jetzt in aller Form vorstellte.

»Mein teuerster Freund, ich bin ganz entzückt, Sie bei mir zu sehen. Jobling kennen Sie schon, glaube ich?«

»Das will ich meinen«, rief der Doktor scherzhaft und trat aus dem Kreise heraus, um dem neuen Gast die Hand zu drücken. »Ich schmeichle mir, diese Ehre zu haben. Ich hoffe, daß Sie mich noch nicht vergessen haben. Wie ich sehe, mein wertgeschätzter Herr, befinden Sie sich wohl, und das ist gut.«

»Mr. Wolf«, stellte Montague weiter vor, als ihn der Doktor zu Wort kommen ließ – »Mr. Chuzzlewit, – – Mr. Pip – Mr. Chuzzlewit.« Beide Herren fühlten sich ebenfalls außerordentlich glücklich, die Ehre zu haben, Mr. Chuzzlewits Bekanntschaft zu machen.

Der Doktor zog Jonas ein wenig beiseite und flüsterte ihm hinter der Hand zu:

»Männer von Welt, mein wertgeschätzter Herr – Männer von Welt! Hm, Mr. Wolf ist Literat – tun Sie, als ob Sie’s nicht wüßten – gibt ein famoses Wochenblatt heraus – bemerkenswert geschickter Bursche. Mr. Pip – vom Theater, ein ganz kapitaler Mensch – höchst kapitaler Mensch.«

»Nun«, sagte Mr. Wolf laut, verschränkte die Arme und nahm ein Gespräch wieder auf, das durch Jonas‘ Ankunft unterbrochen worden war, »nun, und was sagte Lord Nobley darauf?« »Verdammt nochmal«, entgegnete Pip, »er war einfach sprachlos. Aber Sie wissen doch, was für ein famoser Bursche Nobley ist.«

»Der famoseste Bursche unter der Sonne«, rief Wolf. »Vorige Woche noch sagte er zu mir: ›Zum Teufel, Wolf, ich hatte eine Pfründe zu vergeben, und wenn Sie nur auf der Universität gewesen wären – hol mich dieser und jener –, ich hätte einen Pfaffen aus Ihnen gemacht.‹«

»Sieht ihm ganz ähnlich!« jubelte Pip. »Und er hätt’s getan. Meiner Seel!«

»Ja, ja, so sicher wie nur was«, bekräftigte Wolf. »Aber Sie wollten uns doch erzählen –«

»Ja, ja«, rief Pip, »freilich. Also anfangs blieb er ganz stumm wie ein Fisch – wie ein Toter –, aber nach einer Minute sagte er zu dem Herzog: ›Fragen Sie Pip! Da ist Pip. Pip, unser gemeinsamer Freund. Fragen Sie Pip, er weiß es sicher.‹ ›Verdamm mich‹, sagte der Herzog. ›Na, gut, dann will ich mich an Pip wenden. Also raus mit der Sprache, hat sie krumme Beine oder nicht? Nur raus mit der Sprache!‹ ›Sie hat krumme Beine, Euer Durchlaucht, oder ich bin ganz blödsinnig.‹ – ›Bravo, Pip, gut gesprochen. – Pip, hol mich dieser und jener, wenn Sie nicht ein ganz famoser Kerl sind. Setzen Sie mich auf Ihre Besuchsliste, wenn ich in London bin, Pip‹ – und das hab ich getan, wahrhaftig ja.«

Der Schluß dieser Geschichte befriedigte ungemein, und die Ankündigung, daß das Dinner bereitstehe, nicht minder. Jonas begab sich mit seinem distinguierten Wirt in den Speisesaal und setzte sich zwischen ihn und seinen Freund, den Doktor. Die übrigen nahmen ihre Plätze ein wie Leute, die sich ganz zu Hause fühlen, und ließen dem Mahle volle Gerechtigkeit widerfahren.

Es war übrigens auch so vorzüglich, wie es sich nur für Geld oder auf Pump verschaffen ließ. Die Gerichte, der Wein und die Früchte konnten geradezu auserlesen genannt werden, und alles wurde auf das eleganteste serviert. Das Silberzeug war prachtvoll.

Mr. Jonas war eben im Geiste mit einem Überschlag begriffen, was es wohl gekostet haben möge, als er von seinem Wirte in seinen Grübeleien unterbrochen wurde. »Ein Glas Wein gefällig?«

»Oh«, murmelte Jonas, der sich bereits mehrere Gläser zu Gemüt gezogen, »selbstverständlich. Mit Vergnügen und soviel Sie wollen. Der Wein ist zu gut, als daß man auf eine solche Frage ›nein‹ sagen könnte.«

»Wohl gesprochen, Mr. Chuzzlewit«, rief Wolf.

»Tom Gag, der Possenreißer, ist nichts dagegen«, bekräftigte Pip.

»Allerdings. Wissen Sie, es ist, ha, ha, ha«, bemerkte der Doktor, legte einen Augenblick Gabel und Messer aus der Hand, um gleich darauf wieder emsig einzubauen, »– ein geradezu epigrammatischer Ausspruch.«

»Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei mir?« fragte Mr. Tigg halblaut Jonas.

»Na, deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. – Famos!« – knurrte Jonas kauend.

»Ich hielt es für das beste, keine Gesellschaft einzuladen«, erklärte Tigg. »Hatte ich nicht recht?«

»Na, und wie nennen Sie denn das hier?« fragte Jonas. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie täglich so dinieren, wie?«

»Lieber Freund«, sagte Mr. Montague achselzuckend, »jeden Tag esse ich so und nie anders, wenn ich überhaupt zu Hause speise. Das ist so mein gewöhnlicher Stil. Ich dachte mir, wozu Ihretwegen große Umstände machen und was Ungewöhnliches herrichten. Sie hätten es ja doch gleich gemerkt. – – ›Haben Sie Gesellschaft?‹ fragte mich Crimple. Nein, ich wünsche es nicht«, sagte ich, »er soll uns nehmen, wie wir sind.«

»Verdammt fein leben Sie hier«, staunte Jonas. »Muß übrigens ein nettes Stück Geld kosten.«

»Um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, allerdings, das tut es«, gab Mr. Tigg zu, »aber ich liebe es so. Ich schmeiße ganz gern auf diese Art Geld raus.«

Jonas blies die Backen auf.

»Wenn Sie uns beitreten, glaube ich, werden Sie Ihren Nutzanteil wohl auf andere Weise anbringen, wie?«

»Ja. Allerdings«, gestand Jonas. »Und da werden Sie auch ganz recht haben«, sagte Mr. Tigg mit freundschaftlicher Offenherzigkeit. »Sie brauchen so was nicht. Es ist auch nicht nötig. Bei uns braucht es immer nur einer zu tun, um das Ansehen der Gesellschaft zu wahren. Und da ich ein Vergnügen daran finde, so habe ich mir’s eben zur Pflicht gemacht. Es ist lediglich mein Departement. – – Sie machen sich doch hoffentlich nichts daraus, auf anderer Leute Kosten fein zu speisen?«

»Nicht das geringste.«

»Nun, dann hoffe ich, werden Sie so freundlich sein und öfters mit mir dinieren.«

»Na, dagegen hätte ich gerade nichts. Im Gegenteil.«

»Ich werde mich hüten, beim Wein mit Ihnen von Geschäften zu sprechen, das schwöre ich Ihnen«, fuhr Mr. Tigg fort. »Sie zeigten sich heute morgen verflucht gerieben. Übrigens, das muß ich denen da mal erzählen. Es wird ihnen einen Mordsspaß machen. Hallo, hör mal, Pip, mein Junge, ich muß dir da einen famosen kleinen Spaß erzählen von meinem Freund, Mr. Chuzzlewit hier. Er ist der schlaueste Bursche, den ich kenne, ich gebe dir mein heiliges Ehrenwort darauf. Der schlaueste Bursche unter der Sonne.«

Mr. Pip beteuerte mit einem fürchterlichen Eide, er sei schon längst überzeugt davon gewesen, trotzdem wurde aber die Anekdote erzählt und als ein Beweis von Mr. Jonas‘ kaufmännischem Genie mit lautem Beifall aufgenommen. Sodann gab Mr. Chuzzlewit selbst einige Proben seiner Geriebenheit zum Besten, da er nicht zurückstehen wollte, und Mr. Wolf, der darin mit ihm wetteiferte, tischte einige Glanzpunkte aus einem oder zwei ungeheuer humoristischen Artikeln auf, an denen er soeben arbeitete. Seine Witze, die, wie er es nannte, heiß genossen werden mußten, ernteten großes Lob, und die ganze Gesellschaft erklärte sie einstimmig für außerordentlich geistreich.

»Lebemänner, mein werter Herr!« flüsterte Jobling Jonas zu. »Durch und durch Leute von Welt. Für einen mehr wissenschaftlichen Menschen wie mich ist es geradezu eine Wohltat – eine Erfrischung sozusagen –, einmal in solche Gesellschaft zu kommen. Nicht nur angenehm – und nichts kann angenehmer sein –, es ist auch philosophisch belehrend, es ist ein Charakterstudium, mein werter Herr, ein wirkliches Charakterstudium!«

Es ist so erfreulich, wahres Verdienst, wo immer es sich im Leben zeigen mag, nach Gebühr zu würdigen, daß die allgemein harmonische Stimmung der Gesellschaft ohne Zweifel nicht wenig erhöht wurde durch den Umstand, daß man wußte, in welch hohem Ansehen bei den oberen Klassen der Gesellschaft und bei den ritterlichen Verteidigern des Vaterlandes in der Armee sowohl wie in der Flotte – namentlich aber bei der ersteren – die beiden »Herren von Welt« standen. Die unbedeutendsten ihrer Anekdoten fingen mit einem Oberst an, die Lords waren darin so wohlfeil wie ihre Flüche, und selbst das königliche Blut floß durch den schlammigen Kanal ihrer persönlichen Erinnerungen.

»Ich fürchte, Mr. Chuzzlewit hat ihn nicht gekannt«, sagte Mr. Wolf mit Bezug auf eine Person von höchster Abkunft, die in seiner letzten Anekdote figuriert hatte.

»Nein«, erklärte Mr. Tigg, »aber wir müssen ihn mit derartigen Leuten in Berührung bringen.«

»Er hatte ein großes Faible für die Literatur«, bemerkte Mr. Wolf.

»So?« sagte Mr. Tigg.

»Ja, ja. Er hielt mein Blatt viele Jahre. Wissen Sie, daß er selbst zuweilen einen Witz einschickte, der gar nicht so übel war? So fragte er zum Beispiel einen Herzog, der ein Freund von mir ist (Pip kennt ihn): Wie heißt der Herausgeber? – Wolf? – Wolf, so? Verflucht scharfes Gebiß, dieser Wolf, wir dürfen ihn nicht nennen, sonst kommt er ›gerennt‹ wie’s im Sprichwort heißt. Das war doch famos, und da es obendrein ein Kompliment war, ließ ich’s natürlich drucken.«

»Teufelsbund – der Herzog ist ein famoser Bursche«, bestätigte Pip, der jeden neuen Satz mit einem ganz besonders erfundenen Fluche zu begleiten beliebte. »Der Herzog ist ein Mordskerl. Kam er da neulich in unsere Garderobe, um eine kleine Schauspielerin nach Hause zu begleiten – etwas angesäuselt, aber nicht viel –, und fragte: ›Wo ist Pip? Ich will zu Pip! Man schaffe den Pip her!‹ Machen Sie doch nicht so’n Radau, Mylord! sagte ich. ›Dieser Shakespeare ist doch ein ekliger Gehirnfatzke‹, meinte er. ›Was ist denn eigentlich Gutes an Shakespeare? Habe ihn übrigens nie gelesen. Was zum Teufel ist denn dran, Pip? ’ne Masse Füße haben seine Verse, na ja, aber in seinen Dramen kommen keine Beene vor, die der Rede wert wären. Was meinen Sie dazu, Pip? Julia, Desdemona, Lady Macbeth, und wie sie alle heißen, könnten geradesogut gar keine Beine haben; wenigstens kriegt das Publikum nichts davon zu sehen. Warum bringt er da nicht lieber gleich die Miss Biffins – die Dame ohne Unterleib – auf die Bühne? Ich will Ihnen sagen, was an dem ganzen Shakespeare dran ist. Was die Leute dramatische Poesie nennen, ist nichts als ne Sammlung von ekligen Predigten. – Geh ich vielleicht ins Theater, um mich erbauen zu lassen? Nö, Pip. Wenn ich das wollte, ginge ich in die Kirche. Was ist der eigentliche Zweck der Dramen, Pip? Menschennatur. Und was sind Beene? Ooch Menschennatur! Also jefälligst Beene her! Sie, Pip, Sie sin mein Mann!‹ – Und ich sag es mit Stolz«, fügte Mr. Pip hinzu, »daß er mir wirklich von jeher sehr gewogen war.«

Die Unterhaltung wurde bald allgemein, und Mr. Jonas, um seine Meinung über das Thema »Poesie« befragt, erklärte sich ganz und gar mit Mr. Pip einverstanden, der darüber höchlichst erfreut schien. Und wirklich hatten auch Mr. Pip sowohl wie Mr. Wolf so viel mit Mr. Jonas gemein, daß sie bald sehr vertraut miteinander wurden, was Jonas, zumal die Flasche immer schneller kreiste, nach und nach sehr redselig stimmte. Wie immer in solchen Fällen gewann er dadurch jedoch nicht an Liebenswürdigkeit. Da er kein anderes Mittel zu haben glaubte, um sich mit den andern auf gleich und gleich zu stellen, als jene Schlauheit und Verschlagenheit, derentwegen man ihm bereits so viele Komplimente gemacht, so ließ er diese Eigenschaften in ihrem blendendsten Lichte strahlen und tat so schlau und scharfsinnig, daß er sich selbst überlistete und sich mit seinen scharfen Werkzeugen selbst die Finger zerschnitt.

Es lag so ganz in seiner Art und Weise, sich auf Kosten seines Wirtes, der so viel verschwendete, ohne etwas davon zu haben – wie er glaubte –, darüber lustig zu machen, daß man ihm ein so kostbares Mahl vorgesetzt habe, daß sogar in einer so zweideutigen Gesellschaft dieses Experiment hätte Anstoß erregen können, aber Mr. Tigg und Mr. Crimple, die ihren Mann bis in seine tiefsten Tiefen zu erforschen vorhatten, schürten ihn ununterbrochen, denn je mehr er sich gehen ließ, desto schneller erreichten sie ihren Zweck. Während so der eitle Pinsel meinte, er habe sich nach Igelweise zusammengerollt und die schärfsten Stacheln nach außen gekehrt, verriet er ihrer unablässigen Wachsamkeit nur alle seine verwundbaren Stellen.

Ob nun die beiden Gentlemen, die soviel zur Bereicherung der philosophischen Erfahrungen des Doktors beitrugen (der Doktor, beiläufig gesagt, entfernte sich in aller Stille, nachdem er seine gewohnte Quantität Wein getrunken), die Anleitung zu dieser Taktik unmittelbar von ihrem Wirte hatten oder sich nach dem richteten, was sie hörten und sahen, jedenfalls spielten sie ihre Rollen ausgezeichnet. Sie ersuchten Jonas um die Ehre seiner nähern Bekanntschaft und hofften, sie würden das Vergnügen haben, ihn bald in jene höhern Kreise einzuführen, in denen zu glänzen er direkt geschaffen sei. Auf die liebenswürdigste Weise versicherten sie ihm, daß sie mit allem Einfluß, der ihnen zu Gebote stünde, ganz zu seiner Verfügung seien. Mit einem Wort, sie sagten: »Seien Sie doch einer von uns.« Und Jonas versicherte, er sei ihnen unendlich verbunden, wobei er natürlich innerlich hinzusetzte: »Solang ihr mich freihaltet, kann mir auf der Welt doch nichts angenehmer sein.«

Nach dem Kaffee, der im Salon genommen wurde, bekam die Unterhaltung, die zumeist von Mr. Wolf und Mr. Pip bestritten wurde, etwas sehr stark Gepfeffertes. Als sie endlich erlahmten, nahm Jonas den Faden auf und ließ das Licht seiner Gerissenheit leuchten, das heißt, er fragte, was das oder jenes Möbelstück gekostet habe, gab seine Meinung ab, wieviel es in Wirklichkeit wert sei, und so weiter. Bei alledem glaubte er Mr. Montague grausam herabzusetzen und die eigenen Vorzüge aufs glänzendste herauszustreichen. Ein paar Gläser Champagnerpunsch frischten dann abermals die Abendunterhaltung, wenn auch nur vorübergehend, wieder auf, und nachdem die Gespräche zu einigen etwas lärmenden und nicht ganz verständlichen Erörterungen geführt hatten, entfernten sich die beiden Lebemänner, und Mr. Jonas schlief auf einem der Sofas ein.

Da man ihm nicht mehr begreiflich machen konnte, wo er sich befand, so erhielt Mr. Bailey den Auftrag, einen Fiaker zu holen, um den Herrn nach Hause zu bringen. Es war beinah drei Uhr morgens.

»Hat er angebissen?« flüsterte Crimple seinem Associé zu, als Sie den Schlafenden aus einer Ecke des Zimmers heraus beobachteten.

»Fraglos«, versetzte Tigg ebenso leise, »und zwar, wie mir scheint, sehr gründlich. Ist Nadgett übrigens hier gewesen?«

»Ja. Ich ging zu ihm hinaus. Als er hörte, daß Sie Gesellschaft hätten, entfernte er sich wieder.«

»Warum denn?«

»Er sagte, er wolle gleich am Morgen, noch ehe Sie aufgestanden wären, wiederkommen.«

»Da muß ich Auftrag geben, daß er sogleich in der Frühe heraufgeschickt wird«, rief Mr. Tigg. »Heda! Da ist ja der Junge! Also Bailey, fahren Sie den Herrn nach Haus und sorgen Sie dafür, daß er gut zu Bett kommt. – Hallo! Mr. Chuzzlewit, wachen Sie doch auf!«

Mit Mühe brachten sie Jonas in eine aufrechte Stellung und halfen ihm die Treppe hinab, stülpten ihm dann den Hut auf den Kopf und hoben ihn in den Fiaker. Mr. Bailey schloß den Schlag, stieg auf den Bock neben den Kutscher und rauchte mit der Miene besondern Behagens eine Zigarre, denn die Aufgabe, die ihm zuteil geworden, hatte einen gewissen flotten und sportartigen Charakter, der seinem Geschmacke außerordentlich zusagte.

Als sie vor dem Haus in der City angekommen waren, sprang Mr. Bailey herunter und gab seinen lebhaften Empfindungen durch ein Klopfen Ausdruck, desgleichen in diesem Stadtviertel wahrscheinlich seit dem großen Brande in London nicht mehr gehört worden war. Dann trat er auf die Straße hinaus, um die Wirkung seiner Heldentat zu beobachten, und bemerkte, daß ein trübes Licht, das vorher am oberen Fenster sichtbar gewesen, bereits weggenommen war und offenbar die Treppe herunterwandelte. Um sich über die Person des Lichtträgers zum voraus Gewißheit zu verschaffen, eilte Mr. Bailey wieder zur Türe zurück und hielt sein Auge ans Schlüsselloch.

Sie selbst, die einst so Lustige, war es, die jetzt traurig und seltsam verändert herunterkam. So abgehärmt und niedergeschlagen, so unsicher und furchtsam, so gedemütigt und gebrochen sah sie aus, daß es wohl niemanden besonders überrascht hätte, sie ruhig im Sarge liegen zu sehen.

Sie stellte die Kerze im Vorhaus nieder und legte die Hand aufs Herz, dann drückte sie sie auf die Augen und an ihre fiebernde Stirn, sich dabei mit so unstetem hastigem Schritt der Türe nähernd, daß Mr. Bailey gänzlich seine Fassung verlor und immer noch in gebückter Stellung vor dem Schlüsselloch stand, als die Türe bereits aufging.

»Aha«, sagte er verlegen, »da sind Sie ja. Was gibt’s? Sie sind doch nicht krank?«

Trotz ihres Erstaunens über das Wiedersehen und über das veränderte Äußere des jungen Gentlemans schlich so viel von ihrem alten Lächeln wieder über ihr Gesicht, daß sich Baileys Miene aufheiterte. Aber schon im nächsten Augenblick war er wieder betrübt, denn er sah, daß Tränen in ihren Augen standen.

»Erschrecken Sie nicht«, sagte er, »es ist nix weiter passiert. Ich bring nur Mr. Chuzzlewit heim – er ist nicht krank – nur a bissel benebelt.«

Und dabei machte er eine taumelnde Bewegung, um Jonas‘ Zustand von Betrunkenheit mimisch auszudrücken.

»Kommt Ihr von Mrs. Todgers?« fragte Gratia zitternd.

»Von Mrs. Todgers?! Gott bewahr!« rief Mr. Bailey. »Mit der hab ich schon lang nix mehr zu schaffen. Die Bekanntschaft is jetzt aus. Er hat bei meinem Herrn im Westend diniert. Haben S‘ denn net gewußt, daß er bei uns is?«

»Nein«, versetzte Gratia mit matter Stimme.

»Na, bei uns geht’s hoch her, das kann ich Ihnen sagen. – Bleiben S‘ doch drin, damit S‘ Ihna net verkühlen, i wer ihn scho aufwecken.«

Mr. Bailey drückte in seinem ganzen Wesen eine so vollkommene Zuversicht aus, als sei er imstande, im Notfall den Schlafenden mit Leichtigkeit auf den Rücken zu nehmen, öffnete den Kutschenschlag, ließ den Tritt herunter, rüttelte Mr. Jonas auf und rief ihm ins Ohr:

»Wir sin jetzt z‘ Haus, wackeln S‘ gefälligst außer!«

Mr. Jonas Chuzzlewit war inzwischen so weit zu sich gekommen, um dieser Aufforderung entsprechen zu können, und plumpste zum Wagen heraus auf einen Kehrichthaufen, dabei die Persönlichkeit Mr. Baileys in nicht geringe Gefahr bringend. Als er sich auf das Pflaster gerettet, richtete ihn Mr. Bailey zuerst von vorn auf, schob dann gewandt von hinten nach und bugsierte ihn, nachdem er ihm auf solche Weise zu einer aufrechten Stellung verholfen, ins Haus.

»Gengan S‘ mit der Kerzen voraus«, bedeutete er Mrs. Jonas, »Sie brauchen net so zittern, er wird Ihna nix tun. I wenigstens, wann i a bissel z‘ vüll übern Durst trunken hab, bin die Gutmütigkeit selber.«

Gratia ging voran. Nach verschiedentlichem Hinundherstolpern und Herumtaumeln erreichten endlich ihr Gatte und Mr. Bailey das Wohnzimmer im ersten Stock, wo Jonas sich in einen Stuhl fallen ließ.

»So«, ächzte Mr. Bailey, »jetz is er scho wieder ganz beisamm. Lieber Gott, Sie brauchen doch net zu weinen. A Rausch is besser als a Fieber.«

Da saß jetzt der scheußliche Kerl mit zerknülltem Anzug, gedunsenem Gesicht und zerrauftem Haar, mit verglasten Augen um sich starrend, bis er allmählich zur Besinnung kam. Als er seine Gattin erkannte, schüttelte er die geballte Faust gegen sie.

»Oha!« rief Mr. Bailey in plötzlichem Grimm und legte sich zur Boxerstellung aus. »Was? Boshaft wollen S‘ a no sein? Da halten S‘ Ihna aber jetzt gfälligst zruck. Dös lassen S‘ lieber bleiben.«

»Ich bitte, gehen Sie fort«, flehte Gratia. »Bailey, mein lieber Junge, gehen Sie nach Hause! – Jonas«, flüsterte sie und beugte sich zu ihrem Gatten nieder, »Jonas!«

»Da schaue einer«, lallte Jonas und stieß sie mit ausgestrecktem Arm zurück, »da schaue einer! Seht sie nur an! Ein nette Bescherung, so was für einen Mann!«

»Lieber Jonas –« »Zum Teufel, ›lieber Jonas‹«, versetzte er mit heftiger Gebärde. »Eine hübsche Kette, um sie das ganze Leben mit sich zu schleppen! Du quieksende, weißgesichtige Katze, geh mir aus den Augen!«

»Ich weiß, du meinst es nicht im Ernst, Jonas! Du würdest nicht so sprechen, wenn du nüchtern wärst.«

Mit erkünstelter Heiterkeit reichte Gratia Bailey ein Trinkgeld und bat ihn abermals, sich zu entfernen. Ihre Aufforderung war so dringend, daß der junge Mann nicht den Mut hatte, länger zu bleiben. Im Flur unten machte er jedoch noch einmal halt und horchte.

»Ich würde nicht so reden, wenn ich nüchtern wäre?« rief Jonas. »Du mußt das natürlich besser wissen. Hab ich’s vielleicht im nüchternen Zustand nicht schon oft gesagt?«

»Leider sehr oft«, schluchzte Gratia unter Tränen.

»Hör mal«, gurgelte Jonas und stampfte mit dem Fuß auf den Boden, »ich habe lang genug im Brautstand deine Launen fühlen müssen, jetzt sollst du mal meine ertragen. Ich habe mir das schon damals vorgenommen. Deswegen hab ich dich geheiratet. Wegen nichts sonst. Ich will jetzt sehen, wer der Herr und wer der Sklave ist.«

»Der Himmel weiß, daß ich gehorsam bin«, jammerte die junge Frau. »Mehr als ich selbst glaubte, je sein zu können.«

Jonas lachte in trunkener Freude auf.

»Begreifst du’s endlich, was? Nur Geduld, du wirst’s schon lernen, mit der Zeit. Ja, ja, Kobolde haben auch Klauen, mein Schatz. Jede geringschätzige Behandlung, jeden Possen, den du mir gespielt, jede Unverschämtheit, die du dir gegen mich erlaubt hast, will ich dir hundertfach zurückzahlen. Wozu hätte ich dich denn sonst geheiratet? – – Jawohl dich!« schrie er mit roher Verachtung.

»Es besänftigt ihn vielleicht, wenn er mich das Bruchstück des kleinen Liedes singen hört«, dachte sie, »von dem er sonst zu sagen pflegte, daß es ihm gefiele.« Sie versuchte es mit gequältem Herzen, um ihn wieder für sich zu gewinnen.

»Oho!« fing er sogleich wieder an; »du bist also taub. Du hörst mich nicht, was? Um so besser für dich. – Ich hasse dich! – Ich hasse mich selbst, daß ich dumm genug war, mir eine solche Fessel ans Bein zu binden, nur um das Vergnügen zu haben, dich nach Belieben mit Füßen treten zu können. Ich habe jetzt von Möglichkeiten erfahren, die mich instand gesetzt hätten, überall nach Belieben anzukommen, aber ich würde dennoch ledig bleiben. Gerade jetzt täte es mir not, ledig zu sein wegen der Freunde, die ich seit heute kenne. Statt dessen bin ich hier an dich angeschmiedet wie an einen Block. – Pfui Teufel! Was zeigst du mir deine bleiche Fratze, wenn ich nach Hause komme? Natürlich bloß, damit ich immer wieder daran erinnert werden soll, was?«

»Wie spät es schon ist«, sagte Gratia mit krampfhafter Heiterkeit und öffnete nach einer Weile die Fensterladen. »Bereits heller Tag, Jonas.«

»Heller Tag oder dunkle Nacht, was geht das mich an«, lautete die zarte Antwort.

»Die Nacht ist mir ja schnell vergangen; ich bin gern aufgeblieben«, sagte Gratia demütig.

»Untersteh dich nur noch einmal, meinetwegen aufzubleiben«, murrte Jonas.

»Ich habe die ganze Nacht über gelesen«, entschuldigte sich Gratia, »ich fing an, als du ausgingst, und las noch, als du nach Hause kamst. Es war die seltsamste Geschichte, Jonas, die ich mir denken kann – und wahr ist sie, wie es in dem Buche heißt. Ich werde sie dir morgen erzählen.«

»So, so, eine wahre Geschichte!« höhnte Jonas.

»So steht’s wenigstens in dem Buch.«

»Steht vielleicht was drin von einem Mann, der fest entschlossen ist, sein Weib unterzukriegen? Ihren Dickschädel und ihre Launen zu brechen wie Nußschalen? Und sie, wenn’s darauf ankommt, auch unter die Erde zu bringen?«

»Nein, nicht ein Wort«, stammelte Gratia verwirrt.

»So? Nicht? Auch gut«, brummte Jonas, »und doch wird es in Bälde eine wahre Geschichte werden, wenn auch in keinem Buch etwas davon steht. Ich sehe schon wieder, es ist ein Lügenbuch – ein passendes Buch für eine lügnerische Person wie dich. Aber du bist ja taub, ich habe das ganz vergessen.« Abermals trat eine Pause ein, und Mr. Bailey wollte sich eben fortschleichen, machte aber noch einmal halt, als er Gratias Fußtritt auf dem Flur hörte. Sie ging, wie es schien, noch einmal zu ihrem Gatten hinauf und versprach ihm mit liebevollen Worten, sie wolle ihm nachgeben, seinen Wünschen Rechnung tragen und ihm gehorchen, sagte, daß sie bestimmt noch glücklich miteinander würden, wenn er nur nachsichtig gegen sie sein wolle. Er antwortete mit einem Fluch und –

Mit einem Schlag? Jawohl, mit einem Schlag.

Dennoch ertönte kein zorniger Ruf und kein Vorwurf; ihr Weinen und Schluchzen wurde dadurch erstickt, daß sie sich an ihn anklammerte. Sie sagte nur, es im Schmerze ihres Herzens immer und immer wiederholend: »Wie konntest – wie konntest – wie konntest du nur!«

Die übrigen Worte gingen in ihrem Schluchzen unter.

29. Kapitel


29. Kapitel

In dem sich manche Leute altklug benehmen, andere geschäftsmäßig, wieder andere geheimnisvoll, kurz, alle nach ihrer Weise

Vielleicht war es die unangenehme Erinnerung an alles, was er diese Nacht gehört und gesehen, vielleicht auch weiter nichts als die Entdeckung, daß er nichts zu tun hatte – genug, Mr. Bailey fühlte am folgenden Nachmittag ein sehnsüchtiges Verlangen nach angenehmer Gesellschaft und beschloß deshalb, seinem Freund Poll Sweedlepipe einen Besuch abzustatten.

Als die kleine Türglocke geräuschvoll die Ankunft eines Besuches meldete – denn Mr. Bailey kam mit einem ungestümen Ruck zur Türe herein, um ihr den lautesten Ton zu entlocken –, stand Mr. Poll Sweedlepipe sofort von der Betrachtung einer seiner Lieblingseulen ab und hieß seinen Freund herzlich willkommen.

»Nein, wie Sie bei Tag fein aussehen«, rief Poll, »viel feiner als beim Kerzenschein! Noch nie hab ich einen so gigerlhaften jungen Herrn gesehen.« »Na, macht sich, Polly. Wie geht’s übrigens unserer schönen Freundin?« – brummte Mr. Bailey.

»Oh, so ziemlich gut«, sagte Poll, »sie ist übrigens zu Hause.«

»Man sieht, daß sie mal ganz hübsch gwesen sein muß, die Sarah, Poll«, bemerkte Mr. Bailey mit vornehmer Gleichgültigkeit.

»Oh«, dachte Poll, »er ist alt. Er muß sehr alt sein.«

»Bissel ausm Leim gegangen, wissen S’«, fuhr Mr. Bailey fort, »bissel zu fett, Poll. Aber es gibt so manche, wo in ihrem Alter noch schlimmer ausschauen.«

»Sogar die Eule macht große Augen«, jubelte Poll. »Wundert mich übrigens nicht bei einem Vogel von solchem Verstand.«

Er hatte vorher gerade seine Rasiermesser abgezogen, und sie lagen jetzt offen in einer Reihe nebeneinander, während ein ungeheurer Streichriemen noch an der Wand hin und her baumelte. Als Bailey diese sachgemäßen Zurüstungen erblickte, strich er sich über das Kinn. Es schien ihm ein großer Gedanke gekommen zu sein. »Poll«, sagte er, »ich bin nicht so glatt ums Kinn rum, als ich gern wäre. Da ich grad hier bin, könnten S‘ mich eigentlich rasieren.«

Der Barbier machte große Augen, aber Mr. Bailey entledigte sich ohne weitere Umstände seiner Krawatte und setzte sich mit aller nur erdenklichen Würde und Zuversicht auf den Rasierstuhl. Sein Benehmen ließ keinen Widerspruch zu. Der Augenschein und das Zeugnis des Tastsinnes versagten, aber obgleich Mr. Baileys Kinn so glatt war wie ein frisch gelegtes Ei oder ein Edamerkäse, so würde Poll Sweedlepipe doch nicht gewagt haben, sogar vor Gericht in Abrede zu ziehen, daß Mr. Bailey einen Bart habe wie ein polnischer Rabbiner.

»Aber gefälligst nicht gegen den Strich, Poll«, ermahnte Mr. Bailey und legte sein Gesicht in würdevolle Falten. »Das bissel Backenbart können S‘ auch wegputzen, ich leg keinen großen Wert drauf.«

Der demütige kleine Haarkünstler starrte ihn an, blieb, Pinsel und Seifenbecken in der Hand, vor ihm stehen und rührte und rührte den Schaum um, in komischer Ungewißheit, als habe ihn ein satanisches Blendwerk behext. Endlich machte er mit dem Seifenpinsel einen Strich auf Mr. Baileys Wange, dann hielt er wieder inne, als ob die Fata Morgana des Bartes von seiner Berührung plötzlich wieder in nichts zerronnen sei. Da er jedoch von Mr. Bailey eine milde Ermutigung in Form eines beschwörenden: »Na, also was is denn?« zu hören bekam, seifte er endlich tüchtig darauf los. Selbstgefällig lächelte Mr. Bailey durch den Schaum.

»Nur nöt zu wild, Poll! Und über die Pickel müssen S‘ auf die Zehen weggehen.«

Poll Sweedlepipe nickte und schabte den Schaum mit auserlesener Sorgfalt wieder weg. Nach jedem Seifenklecks, der auf einer Serviette auf seiner linken Schulter deponiert wurde, schielte Mr. Bailey mit Späherblick, und wirklich schien er mit mikroskopisch vergrößerndem Auge darin einige Härchen zu entdecken; denn er murmelte mehr als einmal: »Verflucht fuchsig, Poll.«

Als die Operation glücklich vorüber war, trat Poll Sweedlepipe zurück und starrte Bailey wieder an, während dieser sich das Gesicht mit dem Handtuch abwischte und schwor, »daß es nach einer durchwachten Nacht für einen Mann keine größere Erfrischung gäbe, als sich rasieren zu lassen.«

Er war eben im Begriff, sich vor dem Spiegel in Hemdsärmeln seine Krawatte wieder umzubinden, und Poll hatte bereits sein Rasiermesser abgewischt, um es für den nächsten Kunden bereitzuhalten, als Mrs. Gamp die Treppe herunterkam und in den Raseurladen guckte, um Poll einen nachbarlichen schönen guten Morgen zu wünschen. Mr. Bailey hatte Mitleid mit ihr, annehmend, sie habe eine zärtliche Neigung zu ihm gefaßt, die er natürlich nicht erwidern konnte, und beeilte sich daher, ihr durch ein gütiges Wort ihr Schicksal zu erleichtern.

»Hallo«, sagte er, »Sarah! I brauch ja net fragen, wie’s Ihna die ganze Zeit über gangen is, denn i siech scho, Sie sin sakrisch aufm Damm. Ja ja, sie blüht und gedeiht, net wahr, Polly?«

»Da schau a mal aner die Keckheit von dem Buabn«, rief Mrs. Gamp, aber durchaus nicht mißvergnügt, »was dös für a klaner Spatz is. Net um fufzg Kronen möcht i die Mutter von ihm sein.«

Mr. Bailey erblickte darin ein zartes Zugeständnis ihrer Zuneigung und eine Andeutung, daß kein Geldgewinn sie für die Hoffnungslosigkeit ihrer Leidenschaft zu entschädigen vermöge. Er fühlte sich geschmeichelt; – eine – wenn auch unerwiderte – Zuneigung ist immer schmeichelhaft.

»O mein«, stöhnte Mrs. Gamp und ließ sich in den Rasierstuhl sinken, »der Patient im ›Ochsen‹, lieber Sweedlepipe, hat wirklich sein Bestes getan, mich aufzureiben. Von allen Quälgeistern in dem irdischen Jammertal kriegt der den ersten Preis.«

Es lag in der Taktik Mrs. Gamps und ihrer Kolleginnen, dergleichen von allen ihren Kunden zu behaupten, erstens einmal, weil es dazu diente, die Konkurrenz abzuschrecken, und zweitens, weil es bewies, daß die Krankenwärterinnen darauf angewiesen sind, sich gut verköstigen zu lassen.

»Und a Konstitution muß mer haben«, jammerte Mrs. Gamp, »wie a Ziegelstein, wenn mer’s aushalten soll. Die Harris hat erst neulich zu mir gsagt: ›Sarah Gamp‹, hat s‘ gsagt, ›wie is dös nur möglich?‹ Liebe Harris, hab i gsagt, mir verlassen uns halt net auf uns selbst, sondern auf die, was die Höchern sin. Un dös is jetzt unser religiöses G’fühl, und mir findn a jeds mal, daß mir net auf Sand baut ham. – ›Sarah‹, hat die Harris drauf gsagt, ›ja, ja, das ganze Lebn is a Heimsuchung und gleicherweis auch das End von alle Ding.‹«

Der Friseur murmelte leise etwas vor sich hin, was soviel bedeuten sollte, daß die Bemerkung der Mrs. Harris, wenn auch nicht ganz so verständlich, wie sich von einer derartigen Autorität erwarten lasse, so doch ihrem Kopf und ihrem Herzen gleiche Ehre mache.

»Und wie S‘ mich jetzt da sehn«, fuhr Mrs. Gamp fort, »so geh i jetzt zwanzg Meilen weit, so auf mir nix dir nix aufs ung’wisse naus, wie nur je eine a Reis gmacht hat. ›Sie mit Ihrem guten Herzen‹, hat noch die Harris zu mir gsagt, ›Sie wern natürli gehen, was? Sarah?‹ – Gott im Himmel, warum soll i denn net gehn, liebe Harris, hab i gsagt. Die Gill hat ihrer sechs Stück ghabt, und jedsmal hat s‘ den richtigen Zeitpunkt abpaßt. Is des jetzt wahrscheinli – i frag Ihna als a Mutter –, daß s‘ jetzt beim siebenten anfangt, schlampen zu werden? Mehr als einmal hab i ihm sagn hörn – hab i gsagt zu der Harris –, i mein nämlich ihren Gatten, mehr als einmal hab i ihm sagen hören, er will zwei Kronen wetten gegen an alten Kalender, daß er den Zeitpunkt bis auf den Tag und die Stund genau angeben kann. Is ’s da jetzt wahrscheinlich, liebe Harris, hab i gsagt, daß es grad dös ane Mal zu früh kommt? ›Na, dös is net anz’nehmen‹, hat s‘ gsagt ›aber‹, hat s‘ gsagt und die Tränen san ihr in die Augn g’stiegen, ›Sie wissen viel besser als i – bei Ihnerer Erfahrung, wie wenig nötig is, uns ausm Gleis und aus dem Lauf der Natur zu bringen. A Hanswurst‹, hat s‘ gsagt, ›a Schornsteinfeger, a großer Hund oder a B’soffener kommt zum Beispiel auf amal um die Ecken, und aus is. G’schehn is!‹ Und dös is wahr, Polly«, bekräftigte Mrs. Gamp, »da nutzt ka Leugnen net, und wenn mer a ganze Schachtel Weißzeug auch für die ganze Woch hält, so nehm i’s doch mit aner g’wissen Besorgnis mit, dös kann i Ihna versichern.«

»Weil Sie halt so eifrig in Ihrem Beruf sind«, sagte Poll, »Sie placken sich wirklich viel zu sehr ab.«

»Ja, jetzt dös is wahr«, rief Mrs. Gamp, erhob die Hände und schlug die Augen gen Himmel auf, »da sagn S‘ jetzt die Wahrheit – und wann S‘ es noch nie in Ihrem Lebn gsagt hätten. I fühl immer die Leiden von andre Leut mehr als meine eignen, wenn’s mir a kaner net glaubt. Die Familien, wo i scho ghabt hab, müßten a ganze Woch brauchen, wenn ma alles dös wüßt – und ehren tät, wem Ehre gebührt, um am St.-Pauls-Brunnen getauft zu werden.«

»Wohin wird Ihr Patient aus dem ›Ochsen‹ gehen?« fragte Mr. Sweedlepipe.

»Nach Har’forshire, wo er her is. Aber er mag hingehen, wohin er mag«, bemerkte Mrs. Gamp, »der kommt nimmer zu Kräften.«

»Steht es so schlimm?« fragte der Barbier neugierig. »Wirklich?«

Mrs. Gamp schüttelte geheimnisvoll den Kopf und warf die Lippen auf. »Wissen S‘, es gibt a geistigs und a körperliche Fieber«, erklärte sie. »Da kann eins Brausepulver nehmen, bis ’s in d‘ Luft geht, aber helfen tut dös nix mehr.«

»Oh!« rief der Barbier, riß die Augen auf und nahm eine Art Rabenphysiognomie an. »Lieber Himmel!«

»Ja, ja! So leicht kann mer sich machen wie a Luftballon«, beteuerte Mrs. Gamp, »aber, wenn’s oam net mehr recht im Kopf is und mer im Schlaf von gewisse Sachn spricht, so wird’s net mehr so leicht wieder besser.«

»Wovon spricht er denn?« fragte Poll und biß mit großem Interesse an seinen Nägeln. »Von Geistern?«

Mrs. Gamp, die sich durch des Raseurs anspornende Neugierde bereits weiter hatte verlocken lassen, als sie eigentlich anfangs wollte, schnüffelte bedeutsam und meinte, das gehöre nicht hierher.

»I fahr heunt nachmittag mit meim Patienten aufs Land«, fuhr sie fort, »zwoa oder drei Tag bleib i bei eam, bis er a Wärterin vom Land kriegt – hol der Teufel die Landwärterinnen; jede Gans versteht mehr vom G’schäft als wie a solchene –, und nacher komm i wieder. So, dös san jetzt meine Sorgen, Mr. Sweedlepipe. Aber i hoff, es wird alles recht und gut wern, solang i weg bin, und ang’nommen, wie die Harris sagt, die Gill trifft’s zur rechten Stund, so is mir jeder Tag oder jede Minutn in der Nacht ganz wurscht.«

Während aller dieser Bemerkungen, die Mrs. Gamp ausschließlich an den Barbier richtete, hatte Mr. Bailey seine Krawatte umgebunden, seinen Rock angezogen und schnitt nunmehr jetzt seinem Spiegelbild Fratzen. Da ihn Mrs. Gamp jetzt anredete, wandte er sich um und mischte sich in die Unterhaltung.

»Sie sin wohl net wieder in der innern Stadt gewesen«, fragte Mrs. Gamp, »seit mir uns zuletzt bei Mr. Chuzzlewit troffen habn?«

»O ja, Sarah, i bin erst heut nacht dort gewesen.«

»Heut nacht?« rief der Barbier.

»Jawohl, Poll. Sie könnten eigentlich grad so gut ›heut früh‹ sagen. Er hat nämlich bei uns dünürt.«

»Wen meint denn der Spatz mit seinem ›bei uns‹?« fragte Mrs. Gamp höchst ungeduldig.

»Mich und meinen Herrn, Sarah. Er hat in unserm Haus dünürt und war sehr lustig, Sarah – und zwar so, daß i ihn heut morgen in an Fiaker hab nach Haus bringen müssen.«

Mr. Bailey war eben im Begriff, noch mehr auszuplaudern, da erinnerte er sich plötzlich, wie leicht sein Herr Kunde von derartigen Indiskretionen erhalten könne und wie streng ihm Mr. Crimple eingeschärft, unter keinen Umständen über häusliche Angelegenheiten zu sprechen. Er hielt daher mit einem Ruck inne und fügte bloß hinzu: »Sie war noch auf und hat auf ihn gewartet.«

»Wenn mer die Sach bei Licht betracht’«, entgegnete Mrs. Gamp mit Schärfe, »so hätt s‘ scho was G’scheiters tun können. Sin die beiden freundlich mitanander g’west?«

»O ja«, antwortete Bailey, »so ziemlich.«

»Dös freut mi«, knurrte Mrs. Gamp mit einem zweiten bedeutsamen Schnüffeln.

»Sie sind noch nicht so lang miteinander verheiratet«, erklärte Poll, sich die Hände reibend, »um nicht noch eine Weile gut miteinander auszukommen.«

»Na ja«, brummte Mrs. Gamp mit einem dritten bedeutungsvollen Signal.

»Besonders«, fuhr der Barbier fort, »wenn der Herr einen so guten Charakter hat, wie Sie sagen.«

»I sag wie’s is, Mr. Sweedlepipe«, fiel Mrs. Gamp rasch ein. »Gott behüt, daß ’s anders wär, aber wissen können mir net, was in andere Leute ihnere Herzen vorgeht, und wenn wir Menschen Glasscheiben davor hätten, so müßt – dös kann i Ihna versichern – so manches von uns die Fensterladen vorlegen.«

»Aber Sie wollen damit doch nicht sagen – –?« begann Poll Sweedlepipe.

»Na, na«, erwiderte Mrs. Gamp schroff, »i sag gar nix. So was dürfen S‘ net von mir glaubn. Nöt amal am Scheiterhaufen möcht i so was tun. Alls, was i sag, is«, fügte die gute Frau hinzu, stand auf und warf sich ihren Schal um, »daß mer im ›Ochsen‹ auf mi wart und daß die Minuten lange Haxen ham.«

Bei seiner angeborenen Neugierde trug natürlich der kleine Barbier heftiges Verlangen, Mrs. Gamps Patienten zu sehen. Er machte daher Mr. Bailey den Vorschlag, die Dame mit ihm nach dem »Ochsen« zu begleiten, um die Abfahrt der Kutsche mit anzusehen. Der junge Herr war sofort einverstanden, und so gingen sie alle drei zusammen fort.

Als sie bei dem Gasthause angekommen waren, ließ Mrs. Gamp, die in vollem Reisestaat war – nämlich in ihrem letzten Traueranzug –, ihre Freunde im Hofe stehen und verfügte sich hinauf in das Krankenzimmer, wo ihre Kollegin, Mrs. Prig, den Patienten soeben ankleidete.

Der Kranke sah so abgezehrt aus, daß man seine Knochen klappern zu hören glaubte, wenn er sich bewegte. Seine Wangen waren tief eingefallen und seine Augen unnatürlich groß. Er lag im Armstuhl mehr wie ein Toter als wie ein Lebendiger und rollte seine tiefliegenden Augen, als Mrs. Gamp erschien, so qualvoll und schmerzlich nach der Türe, als sei selbst diese Anstrengung zu schwer für seine schwachen Kräfte.

»Na, und wie geht’s uns heut?« fragte Mrs. Gamp. »Wir sehn ja famos aus!«

»Da sehn mir famoser aus als mir sin«, entgegnete Mrs. Prig in etwas gereiztem Tone. »I glaub, mir sin mit dem linken Fuß ausm Bett aufg’standen. Nix is uns recht. I hab mei Lebtag noch kan solchen Kranken g’segn. Wär’s nach eahm gangn, so hätt er sich net amal waschen lassen.«

»Sie hat mir Seife in den Mund geschmiert«, klagte der unglückliche Patient mit schwacher Stimme.

»Warum habn S‘ ’s Maul net zug’halten?« schimpfte Mrs. Prig. »Für a halbe Krone im Tag soll mer leicht a no Obacht geben, was? Wann S‘ g’streichelt sein wolln wie a seidns Tuch, so müssen S‘ dafür zahlen.«

»O Gott, o Gott, o Gott«, stöhnte der Patient.

»Da hast du’s«, keifte Mrs. Prig. »So führt er sich auf, Sarah, seit i eahm ausm Bett außerzarrt hab. Ob dös a Mensch glauben soll?!«

»Anstatt dankbar zu sein«, stimmte Mrs. Gamp ein, »für alle unsre kleinen Mühen und Freundlichkeiten! Schämen S‘ Ihna!«

Sodann faßte Mrs. Prig den Patienten beim Kinn und begann seinen unglücklichen Kopf mit einer Haarbürste zu raspeln.

»I glaub, dös paßt Ihna a net, was?« fragte sie und pausierte, um ihn anzublicken.

Es war allerdings leicht möglich, daß die Sache dem Kranken nicht behagte, denn die Bürste war von der härtesten Art, die die moderne Kunst nur erzeugen kann, und seine Haut war schon ganz rot vom Reiben. Mrs. Prig, erfreut über die Richtigkeit ihrer Vermutung, sagte nur triumphierend, »sie kenne sich aus beim Wurstkessel«.

Als dem Patienten das Haar hübsch in die Augen heruntergekämmt war, banden ihm Mrs. Prig und Mrs. Gamp das Halstuch um und paßten ihm den Hemdkragen so geschickt an, daß ihm die gestärkten Enden beinahe die Augen ausstachen. Dann kamen Rock und Weste an die Reihe, deren Knöpfe regelmäßig in die falschen Knopflöcher gedrückt wurden; die Stiefel wurden gleichfalls verkehrt angezogen, kurz, der ganze Mann glich schließlich einer Vogelscheuche.

»Ich glaube nicht, daß es so recht ist«, stöhnte er verzweifelt, »mir ist, als stäke ich in den Kleidern eines andern. Alles hängt auf die eine Seite über, und Ihr habt mir das linke Hosenbein kürzer gemacht als das andere. Und da hab ich gar eine Flasche in der Tasche. Warum soll ich denn auf einer Flasche sitzen?«

»Da hol doch scho der Henker den Menschen!« rief Mrs. Gamp und zog ihm die Flasche aus dem Rock. »Ob er net mei Nachtflaschn da drin stecken hat! I hab sein Rock als Vorratsschrank benutzt, wie er hinter der Tür g’hängt hat. Wie aufn Tod hab i’s vergessen. Betsey, Sie werden a paar Zwiefeln, a Bröckerl Tee und Zucker in seiner andern Taschen finden, wann S‘ so gut sein wolln, meine Liebe, und neingreifen.«

Betsey Prig zog die genannten Gegenstände und noch andere Kramladenartikel aus der Tasche, und Mrs. Gamp schob sie in ihre eigene, die eine Art Nankinkorb darstellte. Dann wurden Erfrischungen in Gestalt von Koteletts und Doppelale für die Damen und ein Teller schwache Bouillon für den Patienten hereingebracht, und kaum waren alle drei mit ihrem Mahle zu Ende, als John Westlock auf der Bildfläche erschien.

»Bereits auf und angezogen?!« rief er und nahm neben dem Kranken Platz. »Das ist wacker! Nun, wie fühlen Sie sich?«

»Viel besser, aber nur noch sehr schwach.«

»Kein Wunder! Es hat sie auch ordentlich gepackt gehabt. Aber die Landluft und die Ortsveränderung werden einen neuen Menschen aus Ihnen machen«, sagte John. »Aber Mrs. Gamp«, setzte er lachend hinzu und suchte freundlich den Anzug des Kranken zu ordnen. »Sie haben kuriose Begriffe, wie ein Gentleman gekleidet geht.«

»Mr. Lewsome ist nicht so leicht in seine Kleider zu bringen«, entschuldigte sich Mrs. Gamp würdevoll, »dös können i und die Prig im Notfall vor dem Bürgermeister und dem ganzen Rat bezeugen.«

John stand ganz dicht vor dem Patienten und war eben im Begriff, ihn von der Qual der erwähnten Hemdkragenspitzen zu befreien, als dieser flüsternd sagte:

»Mr. Westlock, ich möchte nicht, daß man meine Worte hier hört, aber ich hätte Ihnen etwas höchst Seltsames mitzuteilen; etwas, das während dieser langen Krankheit mir schwer auf dem Herzen gelegen hat.«

Rasch wie immer, drehte sich John sogleich um und wollte den Weibern befehlen, das Zimmer zu verlassen, aber der Kranke hielt ihn am Ärmel zurück.

»Nicht jetzt! Ich habe nicht die Kraft dazu und auch nicht den Mut. Darf ich’s Ihnen sagen, wenn ich wieder dazu imstande bin? Darf ich’s niederschreiben, wenn ich wieder soweit kräftig bin?«

»Ob Sie dürfen, Lewsome!?« rief John. »Ja, was soll denn das heißen?«

»Fragen Sie mich jetzt nicht weiter. Es ist unnatürlich und schrecklich; es ist fürchterlich, daran zu denken, und furchtbar, es zu sagen, furchtbar, es zu wissen – furchtbar, dabei mitgeholfen zu haben. Lassen Sie mich Ihnen die Hand küssen für all das Gute, das Sie mir erwiesen haben. Seien Sie noch gütiger und fragen Sie mich jetzt nicht weiter.«

Anfangs starrte John den Kranken in großer Verwunderung an, dann jedoch dachte er daran, wie erschöpft der Mann sein müsse und daß sein Gehirn erst unlängst in Fieberflammen gestanden habe und daß er vielleicht an einem eingebildeten Schrecken oder einer verzweiflungserfüllten Phantasie leiden könne. Um sich näher über diesen Punkt zu unterrichten, nahm er Mrs. Gamp beiseite, während Betsey Prig den Patienten mit Mänteln und Schals einmummte, und fragte sie, ob Mr. Lewsome auch ganz bei Besinnung sei.

»Gott bewahr«, rief Mrs. Gamp, »er haßt seine Wärterinnen bis auf die jetzige Stund. So sin s‘ immer. Dös is a sichers Zeichen. Hätten S‘ nur g’hört, wie er mich und die Prig ausgescholten hat vor aner halben Stund noch! Sie möchten’s gar net glaubn, daß mir net scho längst im Grab liegen!«

Diese Worte bestätigten beinahe Johns Argwohn. Er nahm daher Lewsomes Ausspruch nicht weiter ernst, setzte sein gewohntes fröhliches Gesicht auf und führte mit Mrs. Gamps und Betsey Prigs Hilfe den Kranken die Treppe hinunter zum Wagen, der schon zur Abfahrt bereitstand.

Mr. Sweedlepipe lehnte an der Tür, die Arme verschränkt und die Augen weit aufgerissen, und sah mit ungeheurer Neugierde zu, wie der Kranke langsam in die Kutsche gehoben wurde. Die abgezehrten knochigen Hände und das hagere Gesicht machten auf ihn einen tiefen Eindruck, und flüsternd sagte er zu Mr. Bailey, er hätte den Anblick nicht für eine Guinee versäumen mögen. Mr. Bailey dachte anders und bemerkte, für fünf Schillinge wäre er mit Vergnügen weggeblieben.

Es war eine mühselige und schwierige Sache, Mrs. Gamps Gepäck zu ihrer Zufriedenheit im Wagen zu verstauen, denn jedes Stück mußte in eine besondere Abteilung des Kutschkastens kommen, damit nichts verwechselt werde, bei sonstiger Klage auf Schadenersatz gegen die Eigentümer des Fuhrwerks. Der Regenschirm mit dem kreisförmigen Flickstück war besonders schwer unterzubringen und streckte mehrmals zum Schrecken der übrigen Passagiere seine zerbeulte Metallspitze aus den ungehörigsten Spalten und Löchern hervor. In ihrer Angst, einen sichern Hafen für dieses unentbehrliche Möbelstück zu finden, hatte ihn Mrs. Gamp im Laufe von fünf Minuten so oft anders gelegt, daß man schließlich meinte, es mit mindestens fünfzig Stück zu tun zu haben. Endlich war er spurlos verschwunden, und nun folgte Mrs. Gamp fünf Minuten lang dem Kutscher auf Schritt und Tritt, sich hoch und teuer in fürchterlichen Schwüren ergehend, daß man ihr den Schaden ersetzen müsse, und wenn sie die Klage bis vor das Unterhaus bringen sollte. Endlich waren ihr Bündel, ihr Korb, ihre Überschuhe und alles andere glücklich verstaut. Freundlich nahm sie von Poll und Mr. Bailey Abschied, machte einen Knicks vor John Westlock und trennte sich von Mrs. Betsey Prig wie von einer teuern Schwester.

»I wünsch Ihna a Masse Krankheiten, liebe Freundin«, bemerkte sie, »und gute Plätz. Hoffentlich wird’s nimmer lang dauern, bis mir wieder amal gemeinschaftlich mitanander arbeiten, Betsey, und wann mir Glück ham, treffen mir uns in aner großen Familie, wo alls wia am Schnürl hergeht und a geschäftsmäßigs Aussehen hat.«

»I mach mir net viel draus, ob’s scho bald is oder ob’s noch a paar Wochen dauert«, sagte Mrs. Prig.

Mit einer ähnlich geistvollen Erwiderung näherte sich Mrs. Gamp sodann der Kutsche, stieß aber dabei mit einer Dame und einem Herrn zusammen, die gerade über den Fußsteig gingen.

»Achtung da! Vorgesehen!« rief der Gentleman. »Heda! Sie da! Aber herrje, das ist ja die Mrs. Gamp!«

»Jessas, der Herr Mould!« rief die Wärterin. »Und die Mrs. Mould! Na, wer hätt jetzt dös denkt, daß mir hier z’sammtreffen!«

»Sie wollen die Stadt verlassen, Mrs. Gamp?« rief Mr. Mould. »Das ist ja etwas höchst Ungewöhnliches!«

»Freilich is was Ungewöhnliches«, versetzte Mrs. Gamp, »aber nur auf ein paar Tag. Der Herr da«, flüsterte sie, »von dem i neulich gesprochen hab.«

»Wie? Der im Wagen?« fragte Mr. Mould. »Derselbe, den Sie uns zu rekommandieren gedachten? Sehr sonderbar! Meine Liebe, das wird dich interessieren. Der Gentleman, von dem Mrs. Gamp sagte, er werde uns wahrscheinlich einen zusagenden Bescheid geben, befindet sich hier im Wagen, meine Liebe.«

Mrs. Mould interessierte sich sehr dafür.

»Komm hierher, mein Schatz, da kannst du auf die Türschwelle treten und ihn ansehen. Dort, das ist er! Wo ist mein Augenglas? Ja, ja, ganz recht, das ist er. Siehst du ihn, meine Liebe?«

»Sehr gut!« entgegnete Mrs. Mould.

»Meiner Seel, das ist ein höchst auffallender Umstand«, wiederholte Mould höchlichst entzückt. »Das ist etwas, meine Liebe, das ich um keinen Preis hätte versäumen mögen. Interessant! Es kommt mir fast vor wie ein kleines Schauspiel. Ja, da sitzt er; – wahrhaftig! Er sieht sehr elend aus, liebe Frau – meinst du nicht?«

Mrs. Mould war ganz dieser Ansicht.

»Vielleicht kommt es doch noch zu einem Geschäft«, sagte Mould, »wer weiß! Ich glaube wahrhaftig, ich sollte ihm irgendeine kleine Aufmerksamkeit erweisen. Er kommt mir gar nicht wie ein Fremder vor. Ich möchte fast den Hut vor ihm lüften, meine Liebe!«

»Er sieht soeben zu uns herüber«, berichtete Mrs. Mould.

»Dann will ich’s riskieren«, rief Mould. »Wie steht das werte Befinden, mein Herr? Guten Tag, mein Herr! – Aha, er verbeugt sich – sehr feiner Herr das – Mrs. Gamp hat die Geschäftskarte in ihrer Tasche – wirklich sehr seltsames Zusammentreffen, meine Liebe – wirklich sehr angenehm. Ich bin nicht abergläubisch, aber es hat wahrhaftig den Anschein, als ob wir bestimmt seien, ihm die gewissen kleinen melancholischen Dienste zu erweisen, die zu unserm Geschäftszweige gehören. Ich sehe nicht ein, was dich übrigens hindern könnte, ihm eine Kußhand zuzuwerfen, meine Liebste!«

Mrs. Mould tat es.

»Ha, ha«, rief Mould, »er hat sich sichtlich darüber gefreut. Der arme Bursche, ich freue mich wirklich, daß du’s getan hast. – Adieu, adieu, Mrs. Gamp«, rief er der Wärterin, mit der Hand winkend, zu. »Da fährt er!«

Und so war es. Die Kutsche rollte bei diesen Worten davon. Mr. und Mrs. Mould nahmen in rosigster Laune ihren Weg wieder auf. Mr. Bailey zerrte an Poll Sweedlepipes Ärmel, allein es dauerte eine geraume Weile, ehe er seinen Freund vom Fleck zu bringen vermochte, solchen Eindruck hatte Mrs. Prigs auf den Barbier gemacht. Ihren Backenbart anstaunend, erklärte er sie für ein außerordentlich reizvolles Weib.

Als das bißchen Lärm vorüber war, das sich um den Wagen gesammelt hatte, sah man Nadgett mit gespannter Miene in der dunkelsten Ecke des Kaffeezimmers des »Ochsen« sitzen; wahrscheinlich hatte sich sein Freund, der bekanntlich niemals kam, schon wieder verspätet.

3. Kapitel


3. Kapitel

Es treten noch andere Personen auf

Mehr als einmal wurde bereits des »Drachen« gedacht, der gar so kläglich vor der Türe des Dorfwirtshauses hin und her pendelte und knarrte. Es war ein verblichener alter Drache, und so mancher Wintersturm voll Schnee, Regen, Graupeln und Hagel hatte seine hellblaue Farbe in ein mattes glanzloses Grau umgewandelt. Da hing er, in einem Zustande ungeheurer Schwäche sich auf den Hinterbeinen aufrichtend und mit jedem Monate undeutlicher und formloser werdend, so daß man glauben mußte, wenn man ihn auf der einen Seite des Aushängeschildes ansah, er müsse allmählich durchschmelzen und auf der Rückseite zum Vorschein kommen.

Trotz alledem war er ein höflicher und rücksichtsvoller Drache und war es auch in den Tagen seiner größeren Deutlichkeit gewesen, denn, seiner Hinfälligkeit nicht achtend, hielt er auch jetzt noch eine seiner Vordertatzen an die Nase, als wollte er sagen: »Fürchte dich nicht vor mir – ich mache doch nur Spaß«, während er die andere zu herzlichem Willkommen dem Wanderer entgegenstreckte.

Es läßt sich nicht leugnen, daß das ganze Drachengezücht unserer Tage bedeutende Fortschritte in Bildung und Zivilisation gemacht hat. Es verlangt nicht länger mehr alle Morgen mit derselben Regelmäßigkeit, wie etwa ein zahmer lediger Herr seinen frischen Milchwecken erwartet, eine schöne Jungfrau zum Frühstück, sondern gibt sich mit dem Zuspruch müßiger Junggesellen und Strohwitwer zufrieden. Im Gegenteil zeichnen sich die Drachen unserer Tage eher dadurch aus, daß sie – namentlich an Samstagabenden – das schöne Geschlecht von einem Besuche fernzuhalten trachten, statt, wie in alten Zeiten, roh auf Damengesellschaft zu bestehen.

Schon viele Jahre hatte der erwähnte liebenswürdige Drache vor den Fenstern des besten Schlafzimmers in dem Gasthause, das seinen Namen trug, hin und her gependelt, geknarrt und geklappert, aber bei allem seinem Pendeln und Knarren wohl noch nie eine solche Aufregung im Hause gesehen wie an dem Abend nach dem Tage, an dem sich die im letzten Kapitel erzählten Begebnisse zugetragen. Da eilten so viele hurtige Füße treppauf, treppab, so viele Lichter flimmerten, so viele Stimmen flüsterten, ein solches Rauchen und Spritzen von feuchtem Holz im Kamin gab’s, so viel Bettzeug wurde gelüftet und so viel heißer Dampf entströmte den geheizten Wärmflaschen, kurz, solche bienenhafte Emsigkeit herrschte im Haus, daß wohl noch nie ein Drache, ein Greif, ein Einhorn oder ein anderes derartiges Geschöpf ähnliches mit angesehen, seit diese Tiergattungen sich zum ersten Male für Haushaltungsangelegenheiten zu interessieren begannen.

Ein alter Herr und eine junge Dame, die ohne Gefolge in einem rostigen alten Wagen mit Postpferden weiß Gott wohin reisten und weiß Gott woher kamen, waren von der Landstraße abgebogen und ganz unerwartet vor dem Blauen Drachen vorgefahren. Und da war nun der alte Herr, der sich zu diesem Schritt, veranlaßt durch einen plötzlichen Krankheitsanfall, entschlossen hatte, und litt an den schrecklichsten Krämpfen. Dabei schwur er mitten in seinen Schmerzen, unter keinen Umständen einen Doktor haben oder andere Arzneimittel nehmen zu wollen als die, die ihm die junge Dame aus einer kleinen Reiseapotheke reichte. Mit einem Wort, er wollte nichts als die Wirtin aus ihren fünf Sinnen hinausschrecken und hartnäckig alles zurückweisen, was man ihm anriet.

Von all den fünfhundert wohlgemeinten Vorschlägen, die die gute Frau ihm in weniger als einer halben Stunde machte, befolgte er nur einen einzigen – nämlich den, zu Bett zu gehen. Und das Herrichten der Betten sowie auch die Vorbereitungen der Zimmer waren eben der Anlaß des wilden Getümmels in den Räumen des Blauen Drachen.

Der fremde Herr war ohne Frage sehr krank und litt erstaunlich – vielleicht um so mehr, als er anscheinend ein starker und kräftiger alter Mann mit einem eisernen Willen und einer ehernen Stimme war. Aber weder die Besorgnis um sein Leben, die er von Zeit zu Zeit laut werden ließ, noch die Schmerzen, unter denen er litt, vermochten auf seinen einmal geäußerten Entschluß auch nur den mindesten umstimmenden Einfluß zu üben, und man durfte unter keinen Umständen nach einem Arzt schicken. Je schlimmer es ihm ging, desto starrer und unbeugsamer wurde auch seine Entschlossenheit. Wenn man jemanden zur Pflege holen würde, sei es Mann, Weib oder Kind, so wollte er, wie er sagte, auf der Stelle das Haus verlassen, und sollte es zu Fuß geschehen und er auf der Türschwelle sterben müssen.

Da es im Dorfe zwar keinen eigentlichen Arzt, wohl aber einen armen Apotheker gab, der zugleich einen Gewürz- und Kramladen hielt, schickte die Wirtin in der ersten Aufregung, und um die eigne Verantwortung los zu sein, zu diesem. Eine natürliche Folge des Umstandes, daß man ihn einmal wirklich brauchte, war der, daß er sich nicht zu Hause befand. Er war einige Meilen über Land gegangen und wurde erst spät zurückerwartet. Die Wirtin, die sich inzwischen ein wenig gesammelt, sandte daher denselben Boten in aller Eile zu Mr. Pecksniff, als einem gelehrten Mann, der einen Teil der Verantwortlichkeit auf sich nehmen konnte, und einem moralischen Mann, der wohl imstande war, ein beunruhigtes Gemüt zu trösten. Daß der Gast namentlich in letzterer Hinsicht wirksame Dienste benötigte, erhellte zur Genüge aus seinen unruhigen Reden, die mehr noch eine geistige als eine physische Angst verrieten.

Auch hier kam der Bote mit keiner bessern Kunde zurück. Auch Mr. Pecksniff war nicht zu Hause. Man brachte indessen auch ohne ihn den Patienten zu Bett, und im Lauf zweier Stunden erholte sich dieser allmählich so weit, daß in den Krämpfen längere Pausen eintraten, als es anfangs der Fall gewesen. Nach und nach hörten sie sogar ganz und gar auf, obgleich die darauffolgende Erschöpfung so groß war, daß sie kaum weniger Besorgnis erregte als der vorausgegangene Anfall selbst.

In einer der Ruhepausen seiner Anfälle geschah es, daß der Fremde, vorsichtig umherschauend, sich unruhig in seinen Kissen aufrichtete und, während gerade die junge Dame und die Wirtin des Blauen Drachen nebeneinander vor dem Kamine saßen, mit einer sonderbaren Miene von Geheimniskrämerei und Mißtrauen von den Schreibmaterialien Gebrauch zu machen suchte, die er neben sich auf den Tisch hatte legen lassen.

Die Wirtin des Blauen Drachen war ihrem Äußern nach ganz die Gastwirtin, wie sie sein soll – wohlbeleibt, gut gebaut, behäbig und mit einem hübschen Gesicht wie Milch und Blut, das an sich schon Zeugnis ablegte, wie gut und kräftig alle die feinen Sachen in Küche und Keller sein müßten. Sie war Witwe, hatte aber seit Jahren schon die Trauergewänder abgelegt und sich wieder mit Blumen herausgeputzt, und so blühend, wie sie von jeher gewesen. Rosen prunkten auf dem weiten Saum ihres Kleides, Rosen auf ihrem Leibchen, Rosen in ihrer Haube, Rosen auf ihren Wangen – ja, und auch Rosen, besonders des Pflückens wert, auf ihren Lippen. Noch immer hatte sie funkelnde dunkle Augen und rabenschwarzes Haar, war hübsch, mit Grübchen in den Wangen, wohlgenährt und drall wie eine Stachelbeere, trotzdem man sie im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht mehr gerade jung nennen konnte.

Während nun diese hübsche Matrone beim Kamin saß, blickte sie hin und wieder mit dem ganzen Stolze der wohlhabenden Wirtin im Zimmer umher. Es war ein großes Gemach, wie man es in Landgasthäusern öfters trifft, mit einer niedrigen Decke und einem etwas eingesunkenen Fußboden, der nach der Tür zu ein wenig bergab ging und dort zu zwei so ausgesucht unerwarteten Treppenstufen führte, daß ein Fremder, trotz der größten Vorsicht, gewöhnlich mit dem Kopf voran hereinstürzte, wie jemand, der in ein Bad springt. Es war keines von jenen frivolen, einfältig hellen Schlafzimmern, wo niemand mit nur einigermaßen Verständnis oder Empfänglichkeit für Ideen-Assoziation ein Auge schließen kann, sondern ein braver, einlullender, bleischwerer, träumerischer Raum, wo jedes Möbel daran erinnerte, daß man hier sei, um zu schlafen. Hier gab es keinen lebhaften Widerschein von Kaminfeuer wie in den gewissen modernen Zimmern, wo man sich selbst in den dunkelsten Nächten der französischen Politur bewußt bleibt, und nur hin und wieder blinzelte der alte spanische Mahagoni nach der Glut hin wie ein schlummernder Hund oder eine träumende Katze. Sogar der Umfang, die Form und die hoffnungslose Unverrückbarkeit der Bettstatt, des Kleiderschrankes und in geringerem Grade sogar der Stühle und Tische forderten zum Schlaf auf. Auch sie waren augenscheinlich apoplektisch und zum Schnarchen geneigt. Da gab es keine glotzenden Porträts, die einem seine Trägheit vorwarfen, keine wach- und rundäugigen Vögel auf den Vorhängen, die unausstehlich umherspionierten. Die dicken neutralen Vorhänge, die dunkeln Jalousien und die schweren Decken waren samt und sonders darauf berechnet, einen im Schlaf zu erhalten und als Nichtleiter für Tag und Aufstehenwollen zu dienen. Selbst der alte ausgestopfte Fuchs auf dem Kleiderschranke hatte keinen Funken von Wachsamkeit in sich, denn sein Glasauge war ausgefallen, und er schlummerte im Stehen.

Die aufmerksamen Blicke der Wirtin zum Blauen Drachen wanderten wohl zwei- oder dreimal über diese Gegenstände hin, aber stets nur für einen Augenblick; dann streiften sie eine Sekunde lang das Bett mit seiner seltsamen Last und wandten sich immer wieder dem jungen Wesen unmittelbar vor ihr zu, das, die Augen auf das Feuer geheftet, in stummem Nachdenken dasaß.

Die Fremde war sehr jung, augenscheinlich nicht über siebzehn, und sehr scheu und schüchtern in ihrem Benehmen; dabei zeigte sie aber doch eine weit größere Fassung und Selbstbeherrschung, als man sonst bei Frauen selbst von vorgerückterem Alter zu finden gewöhnt ist. Die Pflege des kranken Herrn gab ihr hinlänglich Anlaß, diese Eigenschaften zu entfalten. Sie war klein von Statur und zart gebaut, ganz ihrem Alter angemessen, dabei aber mit allen Reizen der Jugend und Jungfräulichkeit geschmückt, die sich namentlich um ihre feine Stirn herum ausdrückten. Ihr Gesicht sah sehr blaß aus – ohne Zweifel zum Teil eine Folge der kürzlich überstandenen Aufregung. Ihr aus demselben Grunde etwas verwirrtes, dunkelbraunes Haar war nachlässig aus seinen Schleifen gefallen und hing über den Nacken herunter, aber sicherlich hätte es kein männlicher Beobachter wegen dieses Eigensinns getadelt.

Ihre Kleidung verriet eine Dame von Stand, war aber äußerst einfach, und in ihrem Benehmen, wie sie so dasaß, lag ein gewisses unbeschreibliches Etwas, das mit ihrer ausgesucht anspruchslosen Toilette im Einklang zu stehen schien. Anfangs hatte sie ängstlich nach dem Bett hingesehen, dann aber, als sie bemerkte, daß der Patient ruhiger wurde und sich mit Schreiben beschäftigte, ihren Stuhl leise an den Kamin gerückt, zum Teil, wie es schien, weil ihr Feingefühl ihr sagte, daß er nicht beobachtet zu werden wünsche, teils, um von ihm unbemerkt sich ihren Empfindungen, die sie bisher unterdrückt hatte, freier überlassen zu können.

All dies und noch weit mehr beobachtete die rosige Wirtin zum Blauen Drachen so genau und scharf, wie es eben nur eine Frau der andern gegenüber imstande ist. Endlich begann sie mit so leiser Stimme, daß ihre Worte, wie sie wußte, unmöglich das Bett erreichen konnten:

»Haben Sie den Herrn schon früher so gesehen, Miss? Hat er öfters solche Anfälle?«

»Ich habe ihn schon sehr krank gesehen, aber noch nie so wie diesen Abend.«

»Welches Glück«, bemerkte die Wirtin zum Blauen Drachen, »daß Sie die Arzneien bei sich hatten, Miss.«

»Wir sind für solche Fälle immer damit versehen und reisen nie ohne unsre Apotheke.«

»Oh!« dachte die Wirtin. »Dann pflegen wir also viel und gemeinschaftlich zu reisen.« Sie fühlte, daß sich etwas von diesen Gedanken in ihrem Gesicht verraten mußte, und da sie eine sehr ehrliche Wirtin war, geriet sie ein wenig in Verwirrung, als unmittelbar darauf die Augen der jungen Dame den ihrigen begegneten.

»Da der Herr – Ihr Herr Großvater«, fing sie nach einer kurzen Pause wieder an, »so gar nichts von ärztlichem Beistand wissen will, müssen derartige Anfälle doch etwas Schreckliches für Sie sein, Miss?«

»Ich bin allerdings diesen Abend sehr erschrocken. Doch – der Herr ist nicht mein Großvater.«

»Ich habe eigentlich Vater sagen wollen«, verbesserte sich die Wirtin in ihrer Besorgnis, einen Verstoß begangen zu haben.

»Er ist auch nicht mein Vater«, erwiderte die junge Dame. »Nein«, fuhr sie mit einem leichten Lächeln fort, als sie bemerkte, was die Wirtin beifügen wollte, »auch nicht mein Onkel. Wir sind nicht verwandt.«

»Ach, du mein Himmel!« entgegnete die Wirtin noch verlegener als zuvor; »wie konnte ich auch so gar im Irrtum sein, während ich doch, wie jeder vernünftige Mensch, hätte wissen sollen, daß ein Gentleman, wenn er krank ist, viel älter aussieht als er wirklich ist! Daß ich Sie noch obendrein ›Miss‹ nennen mußte, Madam!«

Als sie jedoch so weit gekommen war, blickte sie unwillkürlich nach dem Goldfinger an der linken Hand der jungen Dame und stockte wieder, denn sie bemerkte keinen Ring daran.

»Als ich Ihnen sagte, daß wir nicht verwandt seien«, versetzte die junge Fremde freundlich, aber ebenfalls nicht ohne Verwirrung, »so verstand ich darunter: in keiner Beziehung verwandt. Auch nicht durch Heirat. – Hast du mich gerufen, Martin?«

»Gerufen?« wiederholte der alte Mann, sah hastig auf und versteckte das Papier, auf das er soeben geschrieben, unter der Decke. »Nein.«

Die junge Dame hatte ein paar Schritte zum Bette gemacht, hielt aber jetzt inne und ging nicht weiter.

»Nein«, wiederholte der Herr mit ärgerlichem Nachdruck. »Warum fragst du mich? Wenn ich gerufen hätte, wozu dann die Frage?« »Ich denke, das Schild draußen hat geknarrt, Sir«, bemerkte die Wirtin – eine Erklärung, die, wie sie unmittelbar darauf fühlte, nicht allzu schmeichelhaft für die Stimme des alten Herrn war.

»Gleichviel, was es gewesen sein mag, Madam«, versetzte der Kranke; »ich war es nicht. Aber, was bleibst du da stehen, Mary, als ob ich die Pest hätte. Aber, natürlich, alles fürchtet sich vor mir«, fügte er hinzu und ließ sich kraftlos wieder in die Kissen zurückfallen, »sogar du! Es liegt ein Fluch auf mir. Ich habe ja nichts anderes zu erwarten!«

»O Gott, nein. Oh, gewiß nicht«, rief die gutmütige Wirtin, stand auf und ging zu ihm. »Fassen Sie nur wieder Mut, Sir. Es sind nur krankhafte Grillen.«

»Was sind nur krankhafte Grillen?« fuhr der alte Mann auf. »Was wissen Sie von Grillen? Wer hat Ihnen etwas von Grillen gesagt? Die alte Geschichte! – Grillen!«

»Da sehe einer, wie er’s gleich aufnimmt!« versetzte die Wirtin zum ›Blauen Drachen‹ mit unverminderter guter Laune. »Du mein Himmel, ein Wort macht ja nichts, Sir, wenn es auch dumm klingt. Sogar ganz gesunde Leute haben jeden Tag ihre Grillen, und oft recht sonderbare.«

So harmlos augenscheinlich auch diese Worte waren, so wirkten sie doch auf das Mißtrauen des Fremden wie Öl auf das Feuer. Er richtete den Kopf im Bett auf und blickte die Wirtin mit seinen schwarzen Augen forschend an, deren Glanz durch die Blässe seiner hohlen Wangen und seine spärlichen langen grauen Locken unter dem schwarzen, knapp am Kopf anliegenden Käppchen nur noch erhöht wurde.

»Nun, die fängt ja bald an«, sagte er in so leisem Tone, daß es mehr ein Selbstgespräch als eine Anrede zu sein schien. »Aber sie will natürlich keine Zeit verlieren. Sie richtet ihren Auftrag aus und brennt schon auf ihre Belohnung. Wer mag sich wohl hinter sie gesteckt haben?«

Die Wirtin schaute erstaunt die junge Dame, die er »Mary« genannt hatte, an, und da sie in deren gesenkten Augen keine Erklärung lesen konnte, blickte sie wieder nach ihm zurück. Anfangs war sie unwillkürlich zurückgewichen, da sie ihn für einen Geisteskranken hielt; aber die Gelassenheit seines Wesens und die Entschiedenheit, die sich in seinem scharfgeschnittenen Gesicht, namentlich aber um seine zusammengepreßten Lippen herum aussprach, beruhigten sie wieder.

»Nun?« sagte er. »Heraus damit! Wer ist’s? Da ich hier bin, ist’s ja nicht schwer zu erraten.«

»Martin«, fiel ihm die junge Dame ins Wort und legte ihre Hand auf seinen Arm; »bedenke doch, wie kurze Zeit wir erst in diesem Hause sind, und daß dich hier niemand kennt.«

»Außer –«, entgegnete er, »daß du –«

Er fühlte sich offenbar versucht, den Verdacht auszusprechen, als sei sie der Wirtin gegenüber indiskret gewesen, hielt aber wieder inne, sei es, daß er ihrer zärtlichen Pflege gedachte, oder weil ihn der Ausdruck ihres Gesichtes rührte, und änderte seine Lage und schwieg.

»So!« sagte Mrs. Lupin, die Wirtin des ›Blauen Drachen‹. »Jetzt wird Ihnen bald besser sein, Sir. Sie haben für einen Augenblick vergessen, daß Sie hier nur Freunde um sich haben.«

»Ach Gott!« stöhnte der alte Mann ungeduldig und schlug mit seinem ruhelosen Arm heftig auf die Bettdecke. »Was reden Sie da von Freunden! Könnten Sie – oder kann sonst jemand mich lehren, wie ich meine Freunde von meinen Feinden zu unterscheiden habe?«

»Wenigstens«, meinte Mrs. Lupin sanft, »bin ich überzeugt, daß diese junge Dame Ihnen freundlich gesinnt ist.«

»Sie hat eben keinen Grund zum Gegenteil«, rief der alte Mann in dem Tone eines Menschen, der weder Hoffnung noch Vertrauen mehr zur Welt hat. »Von ihr glaube ich’s noch. Der Himmel weiß es. Aber jetzt will ich versuchen, ob ich nicht einschlafen kann. Laßt nur die Kerzen stehen.«

Kaum waren die beiden Frauen vom Bett zurückgetreten, zog er sein Schriftstück wieder hervor, hielt es an die Flamme der Kerze und verbrannte es zu Asche. Dann löschte er das Licht aus, wandte mit einem schweren Seufzer das Gesicht auf die Seite, zog die Bettdecke über den Kopf und blieb ruhig liegen.

Diese Vernichtung des Papiers, die so seltsam gegen die Mühe, die er darauf verwendet, abstach und den ›Drachen‹ in große Gefahr brachte, ein Raub der Flammen zu werden, versetzte Mrs. Lupin in nicht geringe Bestürzung. Die junge Dame jedoch, die weder Überraschung noch Neugierde oder Unruhe deswegen zeigte, flüsterte ihr unter vielem Dank für ihre Mühewaltung und die geleistete Gesellschaft zu, sie wolle noch ein wenig dableiben, könne aber recht gut allein wachen, da sie an dergleichen gewöhnt sei und sich außerdem die Zeit mit Lesen vertreiben wolle.

Mrs. Lupin erfreute sich ihres vollen Anteils samt Zinsen an dem in ihrem Geschlecht erblichen Kapital – der Neugierde –, und zu jeder andern Zeit würde es schwer gewesen sein, ihr so schnell begreiflich zu machen, sie möge gehen. Aber jetzt entfernte sie sich unverzüglich in hellem Staunen über diese Geheimnisse und begab sich geradenwegs in ihre eigene kleine Wohnstube im unteren Stock, wo sie sich mit übernatürlicher Fassung in ihren Lehnstuhl setzte. In diesem kritischen Augenblick hörte sie Tritte auf dem Flur, und gleich darauf schaute Mr. Pecksniff mit süßlicher Miene über den Kredenzverschlag hinweg in das trauliche Stübchen hinein und begrüßte sie mit einem »guten Abend, Mrs. Lupin«.

»Ach, du mein Gott, Sie sind’s!« rief sie. »Wie froh bin ich, daß Sie gekommen sind.«

»Und ich freue mich stets«, entgegnete Mr. Pecksniff, »wenn ich Ihnen irgendeinen Dienst leisten kann. Es freut mich in der Tat recht, recht sehr, gekommen zu sein. Was gibt es, Mrs. Lupin?«

»Ein Herr ist unterwegs krank geworden und hat droben so gar schlimme Zustände gehabt, Sir« erklärte die Wirtin unter Tränen.

»Ein Herr also ist unterwegs krank geworden und hat droben so gar schlimme Zustände gehabt?« wiederholte Mr. Pecksniff. »Nun, nun!« In dieser Bemerkung lag wohl nichts, was entschieden originell zu nennen gewesen wäre; auch läßt sich nicht gerade sagen, daß sie irgendeine der Menschheit bisher noch unbekannte Lehre enthalten oder allenfalls eine verborgene Quelle des Trostes geöffnet hätte, aber Mr. Pecksniffs Benehmen war so mild, und er nickte so beruhigend mit dem Kopfe, auch zeigte er in allem eine so beredte Überzeugung von seiner eigenen Vortrefflichkeit, daß nicht nur Mrs. Lupin, sondern jedermann schon durch die bloße Stimme und Anwesenheit eines so trefflichen Mannes beruhigt worden wäre. Ja, hätte er auch nur gesagt: ein Zeitwort muß mit seinem Subjekt in Zahl und Person übereinstimmen, mein guter Freund; oder: acht mal acht ist vierundsechzig, mein Würdigster – so hätte man sich ihm tief verpflichtet fühlen müssen für seine Menschenfreundlichkeit und allumfassende Weisheit.

»Und wie«, fragte Mr. Pecksniff, zog seine Handschuhe aus und wärmte seine Hände so wohlwollend über dem Feuer, als gehörten sie gar nicht ihm, sondern jemand anderem: »Und wie geht es ihm jetzt?«

»Er befindet sich besser und ist ganz ruhig.«

»Er befindet sich besser und ist ganz ruhig«, wiederholte Mr. Pecksniff. »Sehr gut! Se-ehr gut!«

Diese Worte rührten nun gleichfalls von Mrs. Lupin und nicht von Mr. Pecksniff her; dessenungeachtet aber machte sie Mr. Pecksniff wieder zu den seinigen und tröstete die Witwe damit. In Mrs. Lupins Munde fehlte ihnen die tiefere Bedeutung; aber sie bildeten ein ganzes Buch, wie sie so von Mr. Pecksniffs Lippen strömten. Er schien zu sagen: »Ich bemerke, und zwar kraft meines inneren Anschauungsvermögens, das sich in allen seinen Äußerungen die strengste Moral zum Grundsatz macht, daß er sich besser befindet und ganz ruhig ist.«

»Immerhin müssen ihm gewichtige Dinge auf dem Herzen liegen«, fuhr die Wirtin kopfschüttelnd fort, »denn er redet das sonderbarste Zeug, das man nur hören kann. Innerlich ist er höchst unruhig und bedarf offenbar des Rates und Zuspruchs von Leuten, denen ihre Herzensgüte ein solches Geschäft zum Beruf macht.«

»Dann«, versetzte Mr. Pecksniff, »ist er der richtige Mann für mich.«

Aber obgleich er das auf das allerdeutlichste aussprach, so vernahm man doch kein Wort von seinen Lippen: er schüttelte im Gegenteil bloß seinen Kopf, als setze er durchaus kein Vertrauen in seine eigene Befähigung.

»Ich fürchte, Sir«, fuhr die Wirtin fort, nachdem sie sich zuerst umgesehen, ob auch niemand in Hörweite sei, »ich fürchte gar sehr, daß ihn sein Gewissen drückt, weil er nicht verwandt – oder – nicht einmal verheiratet ist mit – einer gewissen jungen Dame –«

»Mrs. Lupin!« rief Mr. Pecksniff und hob dabei seine Hand in einer Weise auf, die fast an Strenge grenzte, wenn man sich bei einem so milden Herrn eines derartigen Ausdrucks überhaupt bedienen kann. »Person! einer jungen Person!«

»Mit einer sehr jungen Person«, verbesserte sich Mrs. Lupin und knickste errötend, »ich bitte um Verzeihung, Sir, aber ich bin diesen Abend so verwirrt, daß ich nicht mehr weiß, was ich sage – die jetzt bei ihm – ist.«

»Die jetzt bei ihm ist«, wiederkäute Mr. Pecksniff, wie zuvor seine Hände, so jetzt seinen Rücken fürsorglich wärmend, als wäre es der Rücken einer Witwe, einer Waise, eines Feindes, oder was immer für eines Menschen, den ein weniger trefflicher Mann natürlich ohne Erbarmen der Kälte preisgegeben haben würde. »O du mein Himmel, o du mein Himmel!«

»Gleichwohl muß ich sagen, und zwar von ganzem Herzen«, bemerkte die ehrliche Wirtin angelegentlich, »daß ihr Aussehen und ihr Benehmen jeden Verdacht beinah entwaffnet.«

»Ihr Verdacht, Mrs. Lupin«, entgegnete Mr. Pecksniff feierlich, »ist sehr natürlich. Ihr Argwohn, Mrs. Lupin«, wiederholte er, »ist sehr natürlich und, wie ich nicht zweifle, auch begründet. Ich will diesem Reisenden einen Besuch machen.«

Damit nahm er seinen Überrock ab, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, steckte die eine Hand zierlich in den Brustschlitz seiner Weste und bedeutete der Wirtin in aller Demut, sie möge vorangehen.

»Soll ich anklopfen?« fragte Mrs. Lupin, als sie die Türe des Krankenzimmers erreicht hatten.

»Nein«, riet Mr. Pecksniff; »gehen Sie nur direkt hinein.«

So traten sie denn auf den Zehen ein – oder vielmehr, die Wirtin allein beobachtete diese Vorsicht, denn Mr. Pecksniff trat sowieso immer sehr leise auf. Der alte Herr schlief noch, und seine junge Begleiterin saß lesend beim Feuer.

»Ich fürchte«, flüsterte Mr. Pecksniff, an der Türe halt machend und den Kopf melancholisch wiegend, »ich fürchte, die Situation hat etwas Berechnetes. Verstehen Sie mich wohl, Mrs. Lupin: ich fürchte, die Situation hat etwas Berechnetes!«

Sodann ging er der Wirtin voran. Zu gleicher Zeit hatte sich die junge Dame, die die Schritte gehört, erhoben. Mr. Pecksniff warf einen schnellen Blick auf das Buch, das sie in der Hand hielt, und flüsterte Mrs. Lupin abermals, und zwar womöglich mit noch größerer Gewissenspein, zu:

»Ja, Madam, es ist ein gutes Buch. Ich fürchtete das schon vorhin. Wahrhaftig, die Komödie scheint tief angelegt zu sein!«

»Wer ist dieser Herr?« fragte der Gegenstand der geäußerten tugendhaften Zweifel.

»Pst! Bemühen Sie sich nicht, Madam!« fiel Mr. Pecksniff der Wirtin ins Wort, als sie eben antworten wollte. »Diese junge« – unwillkürlich stockte er, als ihm das Wort ›Person‹ auf die Lippen trat, faßte sich aber und sagte: »Fremde – diese junge Fremde, Mrs. Lupin, wird mich entschuldigen, wenn ich ihr kurz erwidere, daß ich hier im Dorfe wohne und einigen, wenn auch unverdienten Einfluß besitze; ferner, daß Sie mich rufen ließen. Ich bin jetzt hier, wie immer geleitet von meiner Teilnahme für die Kranken und Bekümmerten.«

Mit diesen eindrucksvollen Worten ging Mr. Pecksniff auf das Lager zu, klopfte ein paarmal höchst feierlich auf die Bettdecke, als wolle er sich dadurch eine klare Einsicht in die Krankheit des Patienten verschaffen, nahm dann in einem großen Armstuhl Platz und wartete in gemächlicher, gedankenvoller Haltung auf dessen Erwachen.

Was auch die junge Dame Mrs. Lupin gegenüber für Einwendungen erhob, sie blieben fruchtlos, denn Mr. Pecksniff schien nichts hören zu wollen.

Eine volle halbe Stunde verging, ehe sich der alte Mann rührte; aber schließlich änderte er seine Lage, und wenn er auch noch nicht wach war, so verrieten doch gewisse Anzeichen, daß es mit seinem Schlaf nicht mehr lange währen könnte. Allmählich schob er die Decke von seinem Kopf weg und wandte sich immer mehr der Seite zu, wo Mr. Pecksniff saß. Schließlich schlug er die Augen auf, lag, wie es öfter der Fall ist, wenn man gerade aufwacht, eine kleine Weile teilnahmslos und ohne deutliches Bewußtsein der Gegenwart da und starrte seinen Besuch geistesabwesend an.

Es lag nichts Merkwürdiges in diesem Verhalten, die Wirkung ausgenommen, die es auf Mr. Pecksniff übte und die kaum durch das Wunderbarste aller Naturereignisse hätte übertroffen werden können. Mr. Pecksniffs Hände umklammerten nämlich allmählich immer fester die Armlehnen des Stuhles, seine weit aufgerissenen Augen verrieten die größte Überraschung, sein Mund öffnete sich, und sein Haar sträubte sich noch borstiger auf, als es sowieso schon war. Als sich der alte Mann in seinem Bette aufrichtete und auch seinerseits beim Anblick seines Gastes das höchste Erstaunen an den Tag legte, sah Mr. Pecksniff seinen letzten Zweifel schwinden und rief laut aus:

»Sie sind Martin Chuzzlewit!«

Seine Überraschung über diese Entdeckung war so echt und ungekünstelt, daß sogar der alte Mann bei seinem ausgeprägten Mißtrauen sofort sah, daß das Zusammentreffen zufällig und durchaus nicht vorbereitet war.

»Ja, ich bin Martin Chuzzlewit«, sagte er bitter; »und Martin Chuzzlewit wünscht, man hätte Sie gehenkt, bevor Sie hierher gekommen sind, um ihn in seinem Schlaf zu stören. Wahrhaftig, ich habe von diesem Kerl geträumt«, murmelte er, legte sich wieder nieder und wandte das Gesicht ab, »und jetzt sitzt er wirklich da.«

»Mein guter Vetter –« begann Mr. Pecksniff.

»Da haben wir’s! Das sind seine ersten Worte!« rief der alte Mann, wälzte seinen grauen Kopf in den Kissen unruhig hin und her und erhob abwehrend die Hände. »Das erste, was er tut, ist, daß er sich auf seine Verwandtschaft beruft! Ich wußte es doch – alle machen es so! Nah oder weitläufig verwandt, Blut oder Wasser, alles eins. Uff, welches Register von Betrug, Lügen und falschem Zeugnis öffnet nicht jede Andeutung auf Verwandtschaft vor meiner Seele!«

»Bitte, urteilen Sie nicht vorschnell, Mr. Chuzzlewit«, versetzte Mr. Pecksniff in einem Tone, der mit einem Male im höchsten Grade mitleidig und unbefangen war, denn er hatte sich inzwischen von seinem Staunen erholt und war wieder im Vollbesitz seines tugendhaften Selbsts. »Es würde Ihnen später nur leid tun. Ich weiß es.«

»Er weiß es«, brummte Martin Chuzzlewit verächtlich.

»Ja«, erwiderte Mr. Pecksniff. »Zuverlässig, Mr. Chuzzlewit. Und glauben Sie ja nicht, ich hätte im Sinne, um Ihre Gunst zu buhlen oder Ihnen zu schmeicheln. Nichts liegt mir ferner. Auch brauchen Sie nicht im mindesten zu befürchten, Sir, ich würde das Wort wiederholen, das Ihnen so viel Ärger zu bereiten scheint. Warum sollte ich auch? Was könnte ich von Ihnen wollen oder erwarten? Meines Wissens besitzen Sie nichts, was Ihnen so viel Seligkeit bringt, Mr. Chuzzlewit, daß man Sie deswegen beneiden könnte.«

»Das ist leider nur zu wahr«, murmelte der alte Mann.

»Und abgesehen davon« – fuhr Pecksniff, dem der Eindruck seiner Worte nicht entgangen war, fort – »muß es Ihnen doch jetzt vollkommen klar sein, daß, wenn ich mich bei Ihnen hätte einschmeicheln wollen, ich mich vor allem sorgfältig gehütet haben würde, Sie als Verwandten anzureden. Wo ich Ihre Abneigung kenne, mußte ich doch schon vorher vollkommen überzeugt sein, daß dies der allerschlechteste Empfehlungsbrief für mich wäre.«

Martin gab zwar keine Antwort, aber die Art, wie er seine Beine unter der Bettdecke bewegte, verriet deutlicher als die ausdrucksvollsten Worte, daß für ihn in dem Gesagten viel Vernünftiges liege.

»Nein«, beteuerte Mr. Pecksniff, die Hand im Westenschlitz, als sei er bereit, jeden Augenblick sein Herz herauszuziehen und es Mr. Martin Chuzzlewit zur genauen Prüfung hinzuhalten, »nein, ich kam lediglich her, um meine Dienste einem kranken Fremden anzubieten. Bei Ihnen unterlasse ich das freilich, weil ich weiß, daß Sie mir doch nicht trauen würden. Wie Sie aber so auf ihrem Bette daliegen, Sir, sind Sie für mich ein Fremder, und ich empfinde ebensoviel Teilnahme für Sie, wie – wie ich zuversichtlich hoffe und glaube – ich gegenüber jedem Fremden in Ihrer Lage fühlen würde. Abgesehen davon sind Sie mir ebenso gleichgültig, wie ich es Ihnen bin.«

Nach diesen Worten warf sich Mr. Pecksniff in den Lehnstuhl zurück, so strahlend vor Edelmut, daß sich Mrs. Lupin fast wunderte, nicht einen farbigen Glasglorienschein, wie ihn die Heiligen in den Kirchen tragen, über seinem Haupte erscheinen zu sehen. Es folgte eine lange Pause, während der der alte Mann mit steigender Unruhe mehrmals seine Lage änderte. Mrs. Lupin und die junge Dame blickten stumm auf die Bettdecke. – Mr. Pecksniff spielte gedankenvoll mit seiner Lorgnette und hatte die Augen zugedrückt, um besser überlegen zu können.

»Wie?« fragte er endlich, indem er sie plötzlich wieder öffnete und nach dem Kranken hinüberblickte. »Ich bitte um Verzeihung, aber ich glaubte, Sie hätten etwas gesagt. – Mrs. Lupin«, fuhr er fort und stand langsam auf, »ich glaube nicht, daß ich Ihnen hier irgendwie von Nutzen sein kann. Der Herr befindet sich bereits wieder besser, und Sie sind eine so gute Pflegerin, wie er es sich nur wünschen kann. – Wie, bitte?« Diese letzte Frage wurde durch eine Veränderung, die der Alte in seiner Lage vornahm und wodurch er sein Gesicht wieder Mr. Pecksniff zuwandte, veranlaßt.

»Wenn Sie noch etwas mit mir zu sprechen wünschen, ehe ich gehe, Sir, so können Sie unbesorgt über meine Zeit verfügen. Nur muß ich, um gegen mich selbst gerecht zu sein, ausdrücklich zur Bedingung machen, daß Sie mich lediglich als Fremden – und nur als solchen betrachten.«

Wenn Mr. Pecksniff wirklich erraten hatte, Martin Chuzzlewit wolle mit ihm reden, so konnte dies nur eine Folge der gewissen geheimnisvollen Gedankenübertragung sein, wie sie in den Melodramen so ausgeprägt vorkommt, in denen der ältliche Pächter und sein komischer Sohn immer sofort wissen, was das stumme Mädchen sagen will, wenn es sich in seinen Garten flüchtet und ihre komplizierten Memoiren in unverständlicher Pantomime enthüllt. Ohne sich jedoch weiter auf solche metaphysischen Spekulationen einzulassen, gab Martin Chuzzlewit seiner jungen Begleiterin durch ein Zeichen kurz zu verstehen, sie möge sich entfernen, was sie auch sofort gemeinschaftlich mit der Wirtin tat.

Eine Weile sahen die beiden Vettern einander schweigend an, oder vielmehr der alte Mann sah Mr. Pecksniff an, während dieser seine Augen abermals für die Dinge der Außenwelt schloß und eine geistliche Beschau seines Innern vornahm. Daß ihm diese Mühe reichlich Lohn trug durch ein offenbar bezauberndes Panorama, ging aus dem Ausdruck seines Antlitzes klar hervor.

»Sie wünschen also, daß ich mit Ihnen wie mit einem ganz Wildfremden spreche?« begann der alte Mann.

Mr. Pecksniff antwortete durch ein Achselzucken und ein merkbares Rollen seiner Augen unter den geschlossenen Lidern, daß er sich noch immer genötigt sehe, diesen Wunsch hegen zu müssen.

»So will ich Ihnen den Gefallen tun,« fuhr Martin Chuzzlewit fort. »Ich bin ein reicher Mann, Sir. – Nicht so reich zwar, wie vielleicht mancher glaubt, aber doch bemittelt. Ich bin kein Geizhals, Sir, – obgleich mir, wie ich hörte, dieser Vorwurf schon gemacht und auch häufig geglaubt wurde. Ich habe keine Freude daran, Geld zusammenzuscharren. Ich finde auch kein Vergnügen am Besitze des Goldes. Der Teufel, den wir Mammon nennen, kann mir doch nichts als Unglück geben.«

»Mr. Pecksniff zerschmolz bei diesen Worten« wäre keine passende Bezeichnung für sein mildes Wesen gewesen. Nichts wäre leichter gewesen, als eine beliebige Quantität Butter aus ihm zu gewinnen. Man hätte bloß die Milch seiner frommen Denkungsart zu diesem Zweck aufzufangen und zu quirlen brauchen.

»Aus demselben Grunde, aus dem ich nicht habsüchtig bin«, fuhr der alte Mann fort, »bin ich auch kein Verschwender. Manche finden eine Lust darin, Geld in ihren Kasten zu sperren, andre, es auszugeben; aber ich habe an nichts eine Freude, was damit zusammenhängt. Kummer und Bitterkeit sind die einzigen Güter, die Geld mir je verschaffen konnte. Ich hasse es. Es ist ein Gespenst, das vor mir her durch die Welt zieht und mir jedes Vergnügen in Greuel verwandelt.«

In Mr. Pecksniffs Seele stieg ein Gedanke auf, der sich wohl sehr deutlich in Mienen verraten mußte, sonst würde Martin Chuzzlewit kaum so rasch und strenge fortgefahren haben:

»Sie raten mir natürlich um meines Seelenfriedens willen, die Ursache dieses Elends loszuwerden, indem ich sie auf jemand abwälze, der die Bürde besser zu tragen imstande ist. Sie selbst wären gewiß gerne bereit, mir sie abzunehmen. Aber, wohlwollender Fremdling«, sagte der alte Mann höhnisch und mit immer düsterer werdender Miene, »guter, christlicher Fremdling, das ist eben mein Hauptkummer. Ich habe gesehen, wie das Geld im Besitze andrer zu einer gefährlichen Macht wurde, ich war Zeuge, wie es in andern Händen triumphierte und sich mit Recht rühmen konnte, ein Hauptschlüssel zu sein für die ehernen Tore, die die Pfade zu Glück und Freude verschließen. Welchem Manne oder Weibe – welchem wirklich würdigen, ehrlichen und unverrückbar innerlich und äußerlich guten Wesen soll ich jetzt oder nach meinem Tode einen solchen Talisman anvertrauen? Kennen Sie eine solche Person? Ihre eigenen Tugenden sind freilich unschätzbar, aber können Sie mir irgendein anderes lebendes Geschöpf nennen, das die Feuerprobe einer Berührung mit mir aushalten würde?«

»Einer Berührung mit Ihnen, Sir?« echote Mr. Pecksniff.

»Ja. Die Feuerprobe einer Berührung mit mir – mit mir. Sie haben von jenem König gehört, dessen Unglück darin bestand, daß alles, was er anrührte, zu Gold wurde. Der Fluch meines Daseins und die Folge meines früheren verkehrten wahnsinnigen Strebens ist, daß ich jetzt durch den goldenen Probierstein, den ich bei mir trage, dazu verurteilt bin, das Metall aller andern Menschen zu prüfen und es falsch und hohl klingend zu finden.«

Mr. Pecksniff schüttelte den Kopf und seufzte:

»Das ist eben so Ihre Meinung.«

»Ja, ja«, rief der alte Mann, »das ist so meine Meinung, und während Sie das sagen, erkenne ich den wahrhaft unweltlichen Klang Ihres Metalls. Ich sage Ihnen«, fügte er mit steigender Bitterkeit bei, »daß ich als reicher Mann unter Menschen jeder Gattung und Art gelebt habe – unter Verwandten, Freunden und Fremden – unter Leuten, zu denen ich, als ich arm war, Vertrauen, und zwar mit Recht Vertrauen hatte, denn damals betrogen sie mich nie oder fügten einander um meinetwillen Unrecht zu. Aber ich habe nie ein Wesen – nein, nicht ein einziges – gefunden, in dem ich nicht, sobald ich reich und allein war, eine geheime Verderbtheit hätte entdecken müssen, die nur darauf wartete, an Leuten wie mir offenbar zu werden. Verrat, Betrug und niedrige Hinterlist, Haß unter den wirklichen und eingebildeten Bewerbern um meine Gunst, Niedrigkeit, Feigheit, Schlechtigkeit und Kriecherei, oder« – und hier faßte Martin Chuzzlewit seinen Vetter scharf ins Auge – »oder erkünstelte Biederkeit – wohl das Schlimmste von allem. – Das war die innere Schönheit, die mein Reichtum ans Licht förderte. Bruder gegen Bruder, Kind gegen Eltern, Freunde gegen Freunde – so stellte sich die menschliche Gesellschaft zueinander, wenn sie mir in den Weg kam. Man hat sich wahre oder erlogene Geschichten von reichen Leuten erzählt, die im Gewande der Armut Tugend aufgefunden und sie belohnt haben. Dummköpfe und Narren, die sie waren; sie hätten suchen sollen, ohne sich zu maskieren. Sie hätten sich als Menschen zeigen sollen, die es sich lohnt, zu berauben, auszubeuten und zu umgarnen; als solche, die Schurken umschmeicheln, die ihnen am liebsten auf den Sarg spucken möchten. Dann hätte das mühevolle Suchen bald ein Ende gehabt, wie das meinige, und Sie wären geworden, was ich bin.

Unterbrechen Sie mich nicht! – Lassen Sie mich zu Ende reden; beurteilen Sie daraus, welchen Nutzen Sie möglicherweise aus einer Wiederholung Ihres Besuches ziehen können, und dann verlassen Sie mich. Ich habe den Charakter aller derjenigen, die je mit mir in Berührung kamen, durch unabsichtliche Verlockung zu habsüchtigen Komplotten und durch Erweckung von Hoffnungen dermaßen verderbt und umgewandelt – ich habe, während ich bei Angehörigen meiner eigenen Familie weilte, so viel häusliche Zwietracht und Uneinigkeit erzeugt, ich bin an friedlichen Herden zur Brandfackel geworden und habe all die bösen Dünste ihrer Atmosphäre, die ohne mich bis zu Ende harmlos geblieben wären, dermaßen entzündet, daß ich zuletzt vor allen floh, die mich kannten, und mich versteckte wie ein gehetztes Wild. Das junge Mädchen, das Sie soeben gesehen haben – – was! Ihr Auge blitzt, wenn ich nur von ihr spreche? Sie hassen sie also jetzt schon?«

»Auf mein Wort, Sir! – –« beteuerte Mr. Pecksniff, legte die Hand auf die Brust und schlug die Augen nieder.

»Aber ich vergaß«, rief der alte Mann und blickte seinen Vetter so scharf an, daß dieser es zu fühlen schien, trotzdem er die Lider geschlossen hielt. »Ich bitte um Verzeihung. Ich vergaß, daß Sie ja ein Fremder sind. Sie erinnerten mich nur für einen Augenblick an einen gewissen Pecksniff, einen Vetter von mir. – Also, ich wollte sagen: – das junge Mädchen, das Sie eben gesehen haben, ist eine Waise, die ich in einer gewissen Absicht erzog, oder, wenn Sie lieber wollen, adoptierte. Seit einem Jahr oder länger ist sie meine beständige und einzige Begleiterin gewesen. Sie weiß, daß ich einen feierlichen Eid geschworen habe, ihr nach meinem Tode keinen Penny zu hinterlassen; solange ich jedoch lebe, bezieht sie von mir ein Jahresgehalt, das zwar nicht übermäßig, aber auch nicht kärglich ist. Es besteht eine Abmachung zwischen uns, daß kein zärtliches Wort je zwischen uns fallen darf, aber jedes hat das andere nur bei seinem Taufnamen zu nennen. Solange ich lebe, ist sie durch die Bande ihres Vorteils an mich geknüpft, und da sie im voraus weiß, daß sie bei meinem Tode nichts zu hoffen hat, so wird sie vielleicht echt trauern, wenn ich sterbe, obgleich mich das wenig kümmert. Dies ist die einzige Art von Freundschaft, die ich habe oder haben will. Schließen Sie aus alldem selbst, wie unprofitabel die Stunde für Sie war, die Sie bei mir verbracht haben, und verlassen Sie mich jetzt gefälligst für immer.«

Nach diesen Worten sank der alte Mann langsam in seine Kissen zurück. Mr. Pecksniff erhob sich und begann nach einem einleitenden Räuspern:

»Mr. Chuzzlewit!«

»Na. So gehen Sie doch!« unterbrach ihn der Kranke ungeduldig. »Genug davon. Ich bin Ihrer Gesellschaft überdrüssig.«

»Das tut mir leid, Sir«, versetzte Mr. Pecksniff, »aber ich habe mich noch einer Pflicht zu entledigen, von der ich mich, verlassen Sie sich darauf, nicht zurückschrecken lassen werde. Nein, Sir, ich werde mich nicht zurückschrecken lassen.«

Es ist eine höchst beklagenswerte Tatsache, daß der alte Herr, als Mr. Pecksniff aufrecht und in der ganzen Würde eines durch und durch rechtschaffenen Mannes neben seinem Bette stand und ihn so anredete, einen zornigen Blick nach dem Leuchter warf, als hätte er große Lust, ihn seinem Vetter an den Kopf zu werfen. Er zügelte sich wohl rechtzeitig, wies aber mit dem Finger nach der Türe.

»Ich danke Ihnen«, sagte Mr. Pecksniff; »ich verstehe und werde gehen. Aber bevor ich mich entferne, verlange ich, daß Sie auch mich reden lassen, und noch mehr als das, Mr. Chuzzlewit, Sie müssen und werden – ja wahrhaftig, ich wiederhole es – Sie müssen und werden mich anhören. Was Sie mir soeben mitgeteilt haben, Sir, setzt mich durchaus nicht in Erstaunen. Es ist natürlich, sehr natürlich, und war mir größtenteils schon vorher bekannt. Ich will nicht sagen«, fuhr Mr. Pecksniff fort, holte sein Taschentuch hervor und kämpfte sichtlich mit den Tränen, »ich will nicht sagen, daß Sie sich in mir getäuscht haben. Solange Sie in Ihrer gegenwärtigen Stimmung sind, möchte ich nicht um die Welt etwas derartiges von mir behaupten. Fast wünschte ich, meine Natur wäre anders – wenn auch nur, um die Fähigkeit zu besitzen, kleine Merkmale meiner Schwäche, die ich vor Ihnen nicht zu verbergen vermag, unterdrücken zu können. Gut, soll es demütigend für mich sein, aber Sie werden die Güte haben, es zu übersehen. Wir wollen meinetwegen sagen«, fügte Mr. Pecksniff mit großer Feinfühligkeit hinzu, »daß es von einem Schnupfen herrühre oder daß mir ein Stäubchen Tabak, der Geruch von Salmiakgeist, Zwiebeln oder sonst irgend etwas in die Nase gekommen ist.«

Hier hielt Mr. Pecksniff einen Augenblick inne und verbarg das Gesicht hinter seinem Taschentuch. Dann fuhr er mit einem matten Lächeln fort, während er die Bettgardine mit seiner Hand faßte:

»Aber, Mr. Chuzzlewit, wenn ich auch keine Rücksicht auf mich selbst nehme, so bin ich es doch mir und meinem Charakter schuldig – ja, Sir, meinem Charakter, der mir sehr teuer und das beste Erbteil meiner beiden Töchter ist –, Ihnen zu sagen, daß Ihre Handlungsweise ungerecht, unnatürlich, unverantwortlich und abscheulich ist. Auch kann ich Ihnen nicht verhehlen, Sir«, rief Mr. Pecksniff und stellte sich zwischen den Bettgardinen auf die Zehen, als erhebe er sich im buchstäblichen Sinne des Wortes über alle weltlichen Rücksichten und müsse sich an irgend etwas festhalten, um nicht wie Elias gen Himmel zu fahren, »ich kann Ihnen nicht verhehlen – gleichviel ob es Ihnen gefällt oder nicht –, daß es ein schweres Unrecht von Ihnen ist, Ihres Enkels, des jungen Martin, der die ersten und natürlichsten Ansprüche an Sie hat, zu vergessen. Das darf nicht sein, Sir«, wiederholte Mr. Pecksniff, den Kopf schüttelnd. »Sie können es sich vielleicht einreden, aber trotzdem darf es nicht sein. Es ist Ihre Pflicht, für diesen jungen Mann zu sorgen; Sie müssen für ihn sorgen und werden für ihn sorgen. Übrigens glaube ich«, fügte Mr. Pecksniff mit einem Blick auf die Schreibutensilien hinzu, »daß Sie es insgeheim bereits getan haben. Gott segne Sie dafür. Er segne Sie für diese edle Tat. Er segne Sie auch für den Haß, den Sie gegen mich hegen. – Und nun gute Nacht!«

Dabei schwenkte Mr. Pecksniff mit großer Feierlichkeit seine rechte Hand, steckte sie wieder in seinen Westenschlitz und entfernte sich. Wohl sprach sich in seinem ganzen Wesen große Aufregung aus, aber sein Schritt war fest. Mr. Pecksniff war zwar menschlichen Schwächen unterworfen, aber sein fleckenreines Gewissen hielt ihn aufrecht.

Martin Chuzzlewit lag eine Weile mit einem Ausdruck stummer Verwunderung, die mit Zorn gemischt war, da und sann nach. Dann flüsterte er vor sich hin:

»Was soll das heißen? Sollte der falschherzige junge Mensch sich diesen Kerl zum Werkzeug gewählt haben? Warum nicht? Er hat gegen mich konspiriert wie die übrigen; sie sind alle Vögel von demselben Gefieder. Ein neues Komplott; ein neues Komplott! O Selbstsucht, Selbstsucht, Selbstsucht! Bei jedem Schritte nichts als Selbstsucht!«

Dann fing er an, mit der Asche des verbrannten Papiers auf der Leuchtertasse zu spielen. Anfangs völlig geistesabwesend, aber sehr bald wurde der Zunder Gegenstand seines Grübelns.

»Wieder ein Testament gemacht und verbrannt«, murmelte er; »nichts beschlossen und nichts getan! Und doch hätte ich heute nacht sterben können! – Ich sehe es deutlich vor mir, was für schlimmen Zwecken all dies Geld zuletzt noch dienen wird«, rief er und krümmte sich vor Qual in seinem Bette. »Nachdem es mir mein ganzes Leben Sorgen und Elend gebracht, wird es nach meinem Tode noch fortfahren, Uneinigkeit und böse Leidenschaften zu verbreiten. So geht es immer. Welche Prozesse sprossen nicht täglich aus den Gräbern der Reichen auf – Saaten von Meineid, Haß und Lüge unter Blutsverwandten, wo nichts als Liebe herrschen sollte! Gott steh uns bei, wir haben viel zu verantworten! O Selbstsucht, Selbstsucht, Selbstsucht! Jeder denkt an sich und niemand an mich!«

20. Kapitel


20. Kapitel

Die Liebe

»Pecksniff«, sagte Jonas, nahm seinen Hut ab, um nachzusehen, ob sein Trauerflor in Ordnung sei, und setzte ihn, nachdem er sich davon überzeugt, wieder befriedigt auf: »Wieviel gedenken Sie Ihren Töchtern mitzugeben, wenn sie heiraten?«

»Mein lieber Mr. Jonas«, rief der treffliche Vater mit sinnigem Lächeln, »welch sonderbare Frage!«

»Ob jetzt sonderbar oder nicht«, brummte Jonas und warf Mr. Pecksniff einen nicht besonders gnädigen Blick zu, »entweder antworten Sie mir, oder Sie antworten mir nicht; ganz wie Sie wollen.«

»Hm, so was läßt sich nicht so leicht abtun, mein lieber Freund«, entgegnete Pecksniff und legte seine Hand zärtlich auf das Knie seines Verwandten, »das kommt doch ganz auf die Umstände an. Was sollte ich ihnen geben, wie?«

»Was Sie ihnen geben sollten?« fragte Jonas.

»Es hängt das«, erklärte Mr. Pecksniff, »natürlich zum größten Teil von der Art der Männer ab, die sie sich wählen, mein lieber junger Freund.«

Mr. Jonas war augenscheinlich sehr verblüfft und wußte nicht recht, wie fortfahren. Es war eine gute Antwort gewesen und auch eine schlaue, wie es schien, aber Schlichtheit ist eben Weisheit.

»Ich mache punkto Schwiegersohn große Ansprüche«, begann Mr. Pecksniff wieder nach kurzer Pause. »Verzeihen Sie, mein lieber Mr. Jonas«, fügte er bewegt hinzu, »wenn ich sage, daß Sie mich verwöhnt, nein, geradezu wählerisch gemacht haben, und daß daher das Bild, das ich mir von einem Schwiegersohn entworfen habe, ein kapriziöses, phantastisches, ein, wenn ich es so nennen darf, prismatisch gefärbtes sein muß.« »Was soll das heißen?« brummte Jonas mit einem mißtrauischen Blick.

»Sie haben gewiß ein Recht, mein lieber Freund«, flötete Mr. Pecksniff, »mich danach zu fragen. Das Herz ist nicht immer ein königliches Münzamt mit Patentprägemaschinen, daß es sein Metall gleich in Kurant umsetzen könnte. Zuweilen wirft es seine Schätze in gar seltsamen Formen aus, die vielleicht nicht so leicht als Münze erkannt werden, aber echtes Gold sind sie doch. Sie, nämlich meine Töchter, sie haben unzweifelhaft dieses Verdienst und sind echtes, gediegenes Gold.«

»Wirklich?« murmelte Jonas mit bedenklichem Kopfschütteln.

»Ja«, bestätigte Mr. Pecksniff und wurde sichtlich wärmer, »es ist so. Und um offen gegen Sie zu sein, Mr. Jonas, wenn ich zwei solche Schwiegersöhne finden könnte, wie Sie einen abgeben würden, und zwar einem verdienstvollen Schwiegervater gegenüber, der imstande ist, einen Charakter wie den Ihrigen zu würdigen, so würde ich, ohne die geringste Rücksicht auf mich selbst zu nehmen, meinen Töchtern eine Mitgift auswerfen, so weit – es meine Mittel nur irgend erlauben.«

Das war gewiß herzhaft gesprochen, aber bei einem Manne wie Mr. Pecksniff, der Jonas von Grund aus kannte, nicht weiter wunderbar. Um so weniger, als seine Lippen auch im gewöhnlichen Leben von Beredsamkeit überflössen.

Mr. Jonas blieb stumm und betrachtete gedankenvoll die Aussicht, die sich von der Kutsche aus, in der sie saßen, seinem Auge entrollte. Er begleitete nämlich Mr. Pecksniff nach dessen Heimat, um sich von seinen Kümmernissen für ein paar Tage durch Ortswechsel und Luftveränderung zu erholen.

»Na«, sagte er endlich mit liebenswürdiger Derbheit, »angenommen, Sie bekämen einen Schwiegersohn wie mich, was dann?«

Mr. Pecksniff betrachtete ihn anfangs eine Zeitlang mit ununterdrückbarer Überraschung, dann brach er allmählich in eine Art demütiger Lebhaftigkeit aus und rief: »Dann wüßte ich wohl, wessen Gatte er sein würde.«

»Na also wessen?«

»Meiner Ältesten, Mr. Jonas«, versetzte Pecksniff mit einer Träne im Auge. »Meiner teuern Cherry, meines Stabes und meiner Stütze. Meines Schatzes, Mr. Jonas! Es wäre ein harter Kampf für mich, aber es läge in der Natur der Dinge. Einmal muß ich sie ja doch einem Fremden abtreten. Ich weiß es, mein teurer Freund, und bin darauf vorbereitet.«

»Sapperment, hübsch lange müssen Sie da schon darauf vorbereitet sein, sollte ich meinen«, brummte Jonas.

»Viele haben um sie angehalten«, klagte Mr. Pecksniff, »aber allen hat sie einen Korb gegeben. – ›Ich will lieber ledig bleiben›, das waren ihre Worte, ›als eine Vernunftehe schließen.‹ Sie ist übrigens in der letzten Zeit nicht ganz so fröhlich gewesen wie sonst; ich kann mir nicht erklären, warum.«

Abermals blickte Mr. Jonas auf die Gegend, dann auf den Kutscher, nach dem Gepäck auf dem Dach und schließlich auf Mr. Pecksniff.

»Ich denke, Sie werden sich wohl bald von der ›anderen‹ trennen müssen«, bemerkte er mit einem lauernden Blick.

»Oh, wahrscheinlich«, rief Mr. Pecksniff. »Die Zeit wird die Wildheit meines lustigen Vögleins schon zähmen. Und dann wird es in einen Käfig müssen. – Aber Cherry, Mr. Jonas, Cherry –«

»Na, die Zeit«, unterbrach ihn Jonas, »die Zeit hat sie nachgerade schon genug gebändigt, daran ist wohl kein Zweifel. Aber Sie antworten nicht auf meine Frage. Übrigens, wenn Sie nicht wollen, so lassen Sie’s bleiben. Sie müssen am besten wissen, was Sie zu tun haben.«

Die Verdrossenheit, die in diesen Worten lag, erinnerte Mr. Pecksniff daran, daß mit seinem »lieben Freunde« nicht zu spaßen war und er ihm entweder offen antworten oder geradeheraus zu verstehen geben müsse, er wolle ihn über das fragliche Thema nicht näher unterrichten. Gleichzeitig erinnerte er sich in diesem Dilemma an die Warnung, die ihm der alte Anthony sozusagen mit seinem letzten Atemzuge gegeben, und er entschloß sich daher zu sprechen. Er erklärte also Mr. Jonas, indem er zugleich diese Mitteilung als einen Beweis seiner großen Anhänglichkeit und seines Vertrauens hinstellte, daß in dem Falle, daß ein Mann wie Mr. Chuzzlewit junior um die Hand einer seiner Töchter anhielte, er dieser eine Mitgift von viertausend Pfund auswerfen wolle. »Ich würde mir damit ungemein ins Fleisch schneiden und mich sehr einschränken müssen, um soviel aufzubringen«, bemerkte er offenherzig, »aber ich hielte es für meine Pflicht, und mein innerer Lohn wäre das Bewußtsein, richtig gehandelt zu haben. Mein Gewissen ist meine Bank. Ich habe eine Kleinigkeit darin angelegt – eine bloße Kleinigkeit, Mr. Jonas –, aber für mich ist es ein Schatz, das kann ich Ihnen versichern.«

Die Feinde des wackern Mannes hätten hier wahrscheinlich zweierlei Meinungen geäußert. Die einen würden ohne Bedenken behauptet haben, wenn Mr. Pecksniffs Gewissen seine Bank sei, so müsse das Debet in seinem Konto das Haben unermeßlich übersteigen. Die anderen hätten vermutlich gesagt, seine Behauptung sei eine bloße poetische Phrase, unter der man ein vollkommen leeres Buch zu verstehen habe, in dem die Eintragungen mit sympathetischer, also erst unter gewissen Umständen und in unbestimmter Zeit lesbarer Tinte gemacht würden.

»Es käme mir höchst sauer an, mein lieber Freund«, wiederholte Mr. Pecksniff, »aber die Vorsehung – ich darf vielleicht sagen, eine ganz besondere Vorsehung – hat mein Streben gesegnet, und ich könnte es vielleicht sogar vor mir selbst verantworten, ein derartiges Opfer zu bringen.«

Auch hier hätten die Widersacher des trefflichen Mannes gewiß wieder so mancherlei bemängelt und seltsame Ansichten aufgestellt, aber Mr. Jonas, der nicht gewohnt war, seinen Geist mit Theorien zu belasten, behielt seine Meinung für sich. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper dazu und verharrte mindestens eine Viertelstunde in seiner Schweigsamkeit, wie es schien, emsig beschäftigt, im Geiste allerhand Zahlen zu addieren, miteinander zu multiplizieren und anderen mathematischen Operationen zu unterwerfen. Das Ergebnis mußte schließlich ganz günstig ausgefallen sein, für ihn wenigstens, denn als er das Schweigen brach, geschah es mit der Miene eines Mannes, der zu einem festen Resultat gelangt ist und sich aus einem Zustand bedrückender Ungewißheit herausgearbeitet hat.

»Na, alter Pecksniff«, fragte er aufgeräumt am Ende der Station und klopfte dem würdigen Architekten burschikos auf den Rücken, »wollen wir jetzt was zu uns nehmen?« »Von Herzen gern«, rief Mr. Pecksniff.

»Auch der Kutscher sollte sich was geben lassen.«

»Wenn Sie überzeugt sind, es schadet dem Manne nichts oder könne ihn unzufrieden mit seiner Stellung machen – gewiß«, stotterte Mr. Pecksniff.

Jonas lachte nur, stieg von dem Kutschendach herunter und vollführte auf der Straße eine Art grotesken Bocksprung. Sodann verfügte er sich in das Wirtshaus und bestellte so viele geistige Getränke, daß Mr. Pecksniff schon ein Bedenken anwandelte, ob er auch wirklich bei Sinnen sei. Erst als der Kutscher wieder zum Aufbruch mahnte, ging ihm ein Licht auf, denn Jonas sagte:

»Ich habe Sie eine ganze Woche und noch länger regulieren müssen, und Sie haben mit den feinsten Leckerbissen, die die Jahreszeit bietet, gerade nicht gespart. Ich dächte, diesmal könnten Sie zahlen, Pecksniff.«

Und das war auch durchaus kein Scherz, wie Mr. Pecksniff einen Augenblick lang gewähnt hatte, denn Jonas stieg ohne weitere Umstände wieder aufs Dach der Kutsche und überließ es seinem Schwiegervater in spe, die Zeche zu bezahlen.

Doch Mr. Pecksniff war ein sanfter Dulder und Jonas doch sein Freund. Überdies stützte sich seine Zuneigung zu ihm auf die felsenfeste Überzeugung von der Vortrefflichkeit seines Charakters. Mit lächelndem Gesicht kam er daher aus dem Wirtshause nach und ging sogar so weit, eine gleiche Freigebigkeit in allerdings weniger kostspieligem Maßstab bei dem nächsten Bierhause in Aussicht zu stellen. Es lag jetzt eine gewisse, ihm sonst ganz und gar nicht eigentümliche Wildheit in Mr. Jonas‘ Betragen, und er benahm sich während der Weiterreise so übermütig, so ausgelassen, man kann fast sagen, so unbändig, daß der würdige Architekt große Mühe hatte, ihm gegenüber sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren.

Am Ziel ihrer Reise wurden sie nicht erwartet, wie man vielleicht hätte glauben dürfen. Mr. Pecksniff hatte nämlich in London den Vorschlag gemacht, den Mädchen eine Überraschung zu bereiten, und daher kein Wort nach Hause geschrieben. Er und Mr. Jonas konnten sie also unversehens überraschen und Zeugen ihres herzigen Treibens sein, wenn sie plötzlich ins Zimmer träten. Infolge dieses findigen Kunstgriffes kam ihnen natürlich niemand an den Wegweiser entgegen, aber das hatte hinsichtlich Bequemlichkeit auch weiter nichts zu sagen, denn Mr. Pecksniff hatte nur einen Mantelsack bei sich, während das Gepäck Mr. Jonas‘ lediglich aus einem kleinen Lederkoffer bestand. Sie trugen die geringe Last zu zweit und gingen ohne Zögern den Feldweg hinauf – Mr. Pecksniff bereits auf den Zehen, als ob ohne diese Vorsichtsmaßregel seine beiden lieben Töchterlein ein kindliches Vorgefühl von seiner Annäherung anwandeln könnte.

Es war ein lieblicher Frühjahrsabend, und die sanfte Stille des Zwielichts verbreitete eine tiefe Ruhe über die ganze Natur. Der Tag hatte schön und warm eingesetzt, aber mit dem Eintreten der Nacht wurde die Luft kühl. In der Ferne erhoben sich leichte Rauchwolken aus den Schornsteinen der Häuser, der Duft jungen Laubes und frischer Knospen erfüllte die Luft, der Kuckuck, der den ganzen Tag über gerufen, war bereits verstummt, und der Geruch frisch geackerter Erdschollen fächelte erfrischend das Land im Abendwind. Es war die Stunde, wo die meisten Menschen gute Entschlüsse fassen und sich um eine vergeudete Vergangenheit grämen – wo sie, die wachsenden Schatten betrachtend, an den Abend denken, der kommen muß, und an jenes Morgenrot, das das letzte sein wird.

»Verflucht langweilige Gegend«, knurrte Jonas und sah sich um. »Tiefsinnig könnte einer dabei werden.«

»Wir werden bald Licht und ein warmes Kaminfeuer haben«, tröstete Mr. Pecksniff.

»Werden’s auch sehr nötig haben, wenn wir ankommen. Warum, zum Teufel, sprechen Sie denn kein Wort? Woran denken Sie eigentlich?«

»Die Wahrheit zu gestehen, Mr. Jonas«, sagte Pecksniff feierlich, »mein Geist weilte in diesem Augenblick bei unserm lieben, unvergeßlichen Verwandten, Ihrem hingeschiedenen Vater.«

Erschreckt ließ Jonas seinen Koffer fallen und rief, die Hand drohend erhoben:

»Lassen Sie das, Pecksniff!« Mr. Pecksniff, der nicht verstand, ob die Worte sich auf den Mantelsack oder etwas anderes bezogen, starrte seinen Begleiter mit ungeheucheltem Erstaunen an.

»Lassen Sie das, sag ich«, rief Jonas wild. »Hören Sie! Lassen Sie das jetzt! Jetzt und für immer! Es ist besser, ich sage Ihnen gleich jetzt, daß ich es nicht haben will.«

»Es geschah aus Unüberlegtheit«, entschuldigte sich Pecksniff betroffen, »ich gebe zu, es war töricht, ich hätte wissen müssen, daß ich damit eine zarte Saite in Ihnen berühre.«

»Faseln Sie nicht von zarten Saiten«, schrie Jonas und wischte sich die Stirne mit dem Rockärmel ab. »Ich bin nicht der Mann dazu, sich von Ihnen verhöhnen zu lassen, bloß weil mir die Gesellschaft des Toten nicht paßt.«

Mr. Pecksniff hatte kaum betroffen die Worte nachgestammelt: »Verhöhnen, Mr. Jonas!«, als ihm der junge Mann mit finsterer Miene wieder ins Wort fiel:

»Merken Sie sich das! Ich verbitte es mir. Ich rate Ihnen, das Thema nicht wieder zur Sprache zu bringen. Weder mir gegenüber noch sonstwo. Merken Sie sich das gefälligst! Aber jetzt genug davon. Kommen Sie!«

Mit diesen Worten faßte er wieder den Koffergriff und eilte so schnell vorwärts, daß Mr. Pecksniff am anderen Ende des Gepäcks in höchst unziemlicher Weise nachgeschleppt wurde, zum größten Schaden seiner Schienbeine, die ununterbrochen und unbarmherzig mit dem harten Leder und den eisernen Schnallen in Berührung kamen. Nach einigen Minuten mäßigte Jonas glücklicherweise seine Eile und ließ ihn gleichen Schritt halten.

Es lag auf der Hand, daß er seine Heftigkeit bereute und auch hinsichtlich deren Wirkung auf Mr. Pecksniff sich nicht ganz sicher fühlte, denn sooft dieser nach ihm hinblickte, kam er sichtlich in Verlegenheit. Gleich darauf jedoch begann er zu pfeifen. Mr. Pecksniff stimmte summend in die fröhliche Melodie ein.

»Haben wir noch weit?« fragte Jonas, nachdem sie sich eine Weile in dieser Weise erbaut hatten.

»Wir sind ganz in der Nähe, mein teurer Freund«, antwortete Mr. Pecksniff.

»Was machen Ihrer Meinung nach die Mädels wohl jetzt?« »Das kann ich unmöglich sagen«, versetzte Mr. Pecksniff. »Sie sind doch immer auf den Beinen. Sind vielleicht gar nicht zu Haus. Ich wollte, hi, hi, hi, ich wollte eben den Vorschlag machen, durch die Hintertüre ins Haus zu gehen, um sie zu überraschen, Jonas.«

Der Vorschlag fand Beifall, und so stahlen sie sich in den Hühnerhof und gingen sachte auf das Küchenfenster zu, durch das der Schein von Kaminfeuer und Kerzenlicht in die dunkle Nacht hinausleuchtete.

Wiederum zeigte sich, wie gesegnet Mr. Pecksniff an seinen Kindern war, jedenfalls an einem derselben. Die kluge Cherry, der Stab, die Stütze und der Schatz ihres sie anbetenden Vaters, saß nämlich an einem kleinen Tisch so weiß wie neugefallener Schnee vor dem Küchenfeuer und schrieb Rechnungen aus. Es war ein entzückender Anblick, wie die liebliche Jungfrau, die Feder in der Hand, den berechnenden Blick zur Decke emporgeschlagen und einen Schlüsselbund in einem kleinen Körbchen neben sich, mit dem Haushaltungsbuch zu Rate ging. Von dem blitzenden Bügeleisen, den Schüsseldeckeln und der Wärmflasche, vom Kochtopf, dem Dreifuß und dem metallenen Kessel glitzerte und glühte der Widerschein des Lichtes beifällige Blicke auf sie herab, und sogar die Zwiebeln, von dem Deckenbalken herniederhängend, glänzten wie Cherubswangen. Irgend etwas von dem Einfluß dieser Vegetabilien schien sich in Mr. Pecksniffs Wesen zu senken, denn: er weinte!

Aber nur für einen Augenblick. Dann verbarg er sorgfältig sein Gefühl vor der Beobachtung seines Freundes in seinem Innern und machte einen etwas gezierten Gebrauch von seinem Taschentuche.

»Das Herz geht einem auf bei diesem Anblick«, murmelte er. »Oh, mein geliebtes Mädchen! Sollen wir ihr verraten, Mr. Jonas, daß wir hier sind?«

»Es wird wohl nichts anderes übrigbleiben«, entgegnete dieser, »außer Sie wollen den Abend im Stall oder in der Kutschenremise zubringen.«

»Nein, nein, für eine solche Art Gastfreundschaft sind Sie mir denn doch zu kostbar, mein Freund«, rief Mr. Pecksniff. Dann holte er tief Atem, klopfte an das Fenster und rief mit Stentorstimme:

»Buh!«

Cherry ließ die Feder fallen und schrie laut auf. Aber ein unschuldiges Herz ist immer kühn oder sollte es wenigstens sein. Mutig öffnete sie die Tür und rief mit fester Stimme und der Geistesgegenwart, die sie sogar in kritischen Augenblicken nie verließ: »Wer da! Wer da! Was wollen Sie! Sprechen Sie, oder ich rufe meinen Pa –«

Mr. Pecksniff breitete die Arme aus; im Augenblick erkannte ihn Cherry und warf sich an seine Brust.

»Es war unüberlegt von uns, Mr. Jonas! Sogar sehr unüberlegt«, sagte Mr. Pecksniff und streichelte seiner Tochter liebevoll das Haar. »Mein Liebling, du siehst, daß ich nicht allein bin.«

Nein, sie hatte es bis jetzt noch nicht gesehen – hatte nur ihren Vater gesehen. Doch jetzt erblickte sie auch Mr. Jonas. Errötend senkte sie das Köpfchen und hieß ihn willkommen.

»Aber wo ist Gratia?«

Mr. Pecksniff fragte nicht im Tone des Vorwurfs nach ihr, sondern nur mit Milde und einem leichten Anflug von Kummer. Sie lag droben auf dem Kanapee des Wohnzimmers und las. Ach! Für sie hatten häusliche Angelegenheiten keinen Reiz.

»Rufe sie herunter«, sagte Mr. Pecksniff sanft und ergeben. »Rufe sie herunter, mein Kind.«

Gratia wurde gerufen und kam verwirrt und mit zerknitterten Kleidern, da sie auf dem Sofa gelegen, sah aber deshalb nicht weniger vorteilhaft aus. Durchaus nicht, vielleicht sogar noch berückender.

»Ach, du lieber Gott!« rief das schalkhafte Kind, küßte ihren Vater auf beide Wangen und wendete sich dann zu ihrem Vetter. »Sie auch hier, Sie Ekel? Gott sei Dank, daß Sie wenigstens nicht meinetwegen gekommen sind!«

»Aha, immer noch so lebhaft wie sonst«, krächzte Jonas. »Ach, Sie Bosnickel!«

»Nichts da! Fort!« rief Gratia und drängte ihn zurück. »Zum Glück werde ich Sie nicht viel zu sehen kriegen. Aber jetzt marsch, um Himmels willen!« Da Mr. Pecksniff mit der Bitte dazwischen trat, Mr. Jonas möge gleich mit hinaufkommen, gehorchte der junge Mann dem Wunsch des Mädchens so weit, daß er ging. Trotzdem er dabei die schöne Cherry am Arme führte, konnte er doch nicht umhin, nach ihrer Schwester zu schielen und mit ihr, während sie die Treppe hinaufgingen, seine Schäkereien fortzusetzen. Im Zimmer oben angekommen, setzten sich alle vier nieder, und da die Mädchen sich glücklicherweise gerade heute etwas verspätet hatten, wurde in diesem Augenblick »zufällig« der Tee aufgetragen.

Mr. Pinch war nicht zu Hause, und so konnten sie ungestört beisammen sein und traulich miteinander plaudern. Jonas saß zwischen den beiden Schwestern und entwickelte seine Galanterie in der ihm eigentümlichen bestrickenden Weise. Es sei eine schwere Zumutung, sagte Mr. Pecksniff, als der Tee abgetragen wurde, eine so angenehme kleine Gesellschaft zu verlassen, da er aber auf seinem Zimmer einige wichtige Dokumente durchzusehen habe, so müsse er sich für eine halbe Stunde entschuldigen. Damit entfernte er sich und trällerte im Gehen ein Liedchen vor sich hin. Er war noch keine fünf Minuten fort, als Gratia, die abseits von ihrer Schwester am Fenster gesessen hatte, in ein halb unterdrücktes Lachen ausbrach und zur Türe eilte.

»Hallo!« rief Jonas. »Sie dürfen nicht weggehen!«

»Warum denn nicht?« fragte Gratia, stehenbleibend. »Liegt Ihnen denn so viel daran, Sie Ekel, daß ich hier bleibe?«

»Allerdings«, sagte Jonas, »ich gebe Ihnen sogar mein Wort darauf. – Ich muß mit Ihnen sprechen.«

Da sie trotzdem das Zimmer verließ, eilte er ihr nach und brachte sie nach einem kurzen Kampf, worüber sich Miss Cherry gewaltig ärgerte, wieder zurück.

»Wahrhaftig, Gratia«, verwies Charitas streng, »ich kann mich nicht genug über dich wundern. Auch die Abgeschmacktheit hat ihre Grenzen, meine Liebe.«

»Ich danke dir, mein Herzchen«, flötete Gratia süß und warf ihre Rosenlippen auf, »ich bin dir ungemein verbunden für deinen liebenswürdigen Rat. – Aber lassen Sie mich jetzt gehen, Sie Scheusal.« Diese neuerliche sanfte Bitte wurde ihr durch ein abermaliges zärtliches Manöver von Mr. Jonas abgerungen, der sie, atemlos, wie sie war, neben sich auf das Sofa zwang, so daß er jetzt zwischen die beiden Schwestern zu sitzen kam.

»Nun«, sagte er und faßte jede der beiden um die Taille, »jetzt habe ich beide Arme voll, was?«

»Einer davon wird morgen braun und blau sein, wenn Sie mich nicht loslassen«, warnte Gratia.

»Oho! Aus Ihrem Zwicken mache ich mir gar nichts«, spöttelte Jonas.

»Zwick ihn für mich, bitte!« rief Gratia. »Ich habe noch nie jemanden so gehaßt wie dieses Scheusal hier. Wirklich nicht.«

»Nein, nein, sagen Sie das nicht«, bat Jonas, »und lassen Sie jetzt beide das Zwicken. Ich habe im Ernst mit euch zu sprechen. Ich sage – Cousine Cherry –«

»Nun, was denn?« fragte Charitas spitzig.

»Ich muß ernsthaft mit Euch reden«, erklärte Jonas. »Es darf hier kein Mißverständnis herrschen. Ich wünsche, daß alles in Ordnung vor sich geht. Das ist doch wünschenswert für alle Teile, was?«

Die beiden jungen Damen hielten den Atem an. Mr. Jonas schwieg eine Weile und räusperte sich dann beklommen.

»Sie wird nicht glauben wollen, was ich sage; was, Cousine?« begann er wieder und drückte Cherry schüchtern an sich.

»Aber Mr. Jonas, wie kann ich denn das wissen, bevor ich gehört habe, um was es sich handelt. Das ist doch ganz unmöglich«, sagte Miss Charitas.

»Nun, sehen Sie«, sagte Jonas stockend. »Ihre Art ist, sich immer über die Leute lustig zu machen. Ich weiß, sie wird auch jetzt gleich wieder loslachen oder wenigstens so tun. Ich weiß das im voraus. Aber Sie können ihr doch sagen, daß ich’s im Ernst meine, Cousine. Was? Sie müssen zugeben, daß es so ist. Nicht? – Wenn Sie ehrlich sind«, setzte er überredend hinzu.

Keine Antwort!

Seine Kehle schien immer trockener zu werden und seine Zunge ihren Dienst zu versagen.

»Sehen Sie, Cousine Charitas«, fing er wieder an, »niemand als Sie kann bezeugen, was ich mir für Mühe gegeben habe, mit ihr beisammen zu sein, damals, als Sie beide in der Pension in London waren. Bei Todgers‘. Sie müssen mir bestätigen, wie angelegen ich es mir sein ließ, mit Ihnen näher bekannt zu werden, um auch sie kennenzulernen, ohne daß es den Anschein gewann, als sei dies meine Absicht. Ich habe Sie immer nach ihr gefragt und wohin sie gegangen sei, wann sie komme, warum sie so lebhaft sei, und alles das. Ist’s nicht so, Cousine? Ich weiß, Sie werden’s ihr sagen – wenn Sie es nicht schon getan haben – und – und – ich wette, Sie haben’s schon getan; denn ich weiß, wie ehrlich Sie sind, was?«

Immer noch kein Wort.

Der rechte Arm von Mr. Jonas – die ältere Schwester saß zu seiner Rechten – hätte ein gewisses ungestümes Pochen empfinden können, das von ihrem Pulse herrührte, aber sonst verriet Charitas nicht, daß seine Rede auch nur die mindeste Wirkung auf sie ausgeübt hätte.

»Aber wenn Sie’s auch für sich behalten und ihr nichts davon gesagt haben«, nahm Jonas seine Rede wieder auf, »so liegt nichts daran, weil Sie mir’s ja jetzt ehrlich bestätigen können. Was? – Wir sind von Anfang an die besten Freunde gewesen, oder nicht? Und wir werden’s natürlich auch in Zukunft bleiben, und deshalb spreche ich auch ganz frei von der Leber weg. – Cousine Gratia, Sie haben gehört, was ich sagte. Sie wird es bestätigen, jedes Wort – also: Wollen Sie mich zum Mann oder nicht?«

Als Jonas bei diesen Worten Charitas losließ, um seine Frage mit besserm Nachdruck anbringen zu können, sprang diese auf und eilte nach ihrem Zimmer, dabei so leidenschaftliche und unzusammenhängende Töne hervorstoßend, wie sie nur einem verschmähten Weibe im Zorne möglich sind.

»Lassen Sie mich los – ich muß ihr nach –« rief Gratia, stieß Jonas zurück und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

»Nicht, bis Sie ›ja‹ sagen – Sie haben mir noch nicht geantwortet. Wollen Sie mich zum Manne haben?«

»Nein. Ich will nicht. Nicht sehen kann ich Sie, das habe ich Ihnen schon hundertmal gesagt. Sie sind eine abscheuliche Vogelscheuche, und außerdem habe ich immer gedacht, Sie hätten’s auf meine Schwester abgesehen. Wir alle waren dieser Meinung.« »Das ist doch nicht meine Schuld«, stotterte Jonas.

»Freilich ist’s Ihre Schuld, wessen denn?«

»In der Liebe sind alle Kunstgriffe erlaubt«, versetzte Jonas. »Es ist ja möglich, daß sie geglaubt hat, ich hätte es auf sie abgesehen, aber Sie wußten doch, daß es nicht so ist.«

»Nein!«

»Ja, Sie haben es gewußt! Sie können doch nicht geglaubt haben, daß sie mir gefiele!«

»Über Geschmack läßt sich nicht streiten«, wich Gratia geschickt aus. »jedenfalls will ich nichts darüber sagen. Übrigens weiß ich nicht, was ich weiter hier sollte. Lassen Sie mich, ich muß zu ihr!«

»Sagen Sie ›ja‹, und ich lasse Sie sofort los!«

»Wenn ich das je über mich gewinnen könnte, so geschähe es bloß, um Sie mein ganzes Leben über hassen und plagen zu können.«

»Das ist so gut wie ein Jawort! Also die Sache ist abgemacht, Cousine! Wenn’s je ein Paar gegeben hat, das zusammenpaßt, so sind wir’s.« Auf diese galante Rede folgte wieder ein wirres Getöse von Küssen und Ohrfeigengeklatsch, und dann riß sich die schöne, aber jetzt ziemlich zerzauste Gratia los und eilte ihrer Schwester nach.

Daß ein Ehrenmann wie Mr. Pecksniff an der Türe gehorcht haben könnte, ist ausgeschlossen, und so läßt sich daher vermuten, daß er, von einem Scharfsinn wie eben nur dem seinigen geleitet, durch eine Art seelischer Inspiration erriet, wie die Sache stand, möglich aber auch, daß ihn der pure Zufall gerade zur richtigen Zeit an den Ort hinführte – was bei der besondern Obhut der Vorsehung, unter der er stand, recht gut denkbar war –, jedenfalls erschien er in demselben Augenblick an der Türe, als die beiden Schwestern zusammentrafen.

Es war ein wunderbarer Gegensatz. Die Mädchen so erhitzt, lärmend und ungestüm, und er so ruhig, so kühl, so besonnen, so voller Friede, daß sich nicht ein Härchen auf seinem Kopfe rührte.

»Kinder«, sagte er, schloß vorsichtig die Türe, stellte sich mit dem Rücken dagegen und schlug dann verwundert die Hände zusammen. »Mädchen, liebe Kinder, was soll das?« »Der Elende! Der Treulose! Der falsche gemeine abscheuliche Schuft! Vor meinen Augen hat er Gratia um ihre Hand gebeten!« lautete die Antwort der ältern Tochter.

»Wer hat Gratia um ihre Hand gebeten?« fragte Mr. Pecksniff außer sich vor Erstaunen.

»Er! Dieses Scheusal! Dieser Jonas unten!«

»Jonas hat Gratia einen Antrag gemacht?« fragte Mr. Pecksniff. »Ja, was hör ich!«

»Sonst hast du nichts zu sagen?« schrie Charitas. »Soll ich vielleicht verrückt werden, Papa? Gratia, nicht mir hat er einen Antrag gemacht!«

»O pfui, pfui, schäme dich!« rief Mr. Pecksniff würdevoll. »Pfui, schäme dich! Kann der Triumph deiner Schwester dich zu so einem schrecklichen Ausbruch reizen, mein Kind? Oh, traurig! traurig! Es betrübt mich, es befremdet und verletzt mich, dich in solcher Stimmung zu sehen! – Gratia, mein Kind, Gottes Segen auf dein Haupt! Sieh nach ihr! Oh, oh, welch böse, böse Herzenseigenschaft!«

Und tief aufseufzend verließ er die Stube, abermals sorgsam die Türe hinter sich zumachend, und eilte schnell ins Wohnzimmer. Dort fand er seinen zukünftigen Schwiegersohn und streckte ihm beide Hände entgegen.

»Jonas!« rief er. »Jonas, der teuerste Wunsch meines Herzens ist erfüllt!«

»Na ja, schon gut. Freut mich zu hören«, versetzte Jonas. »Schon recht. – Aber wie wär’s, wo Sie schon die ›andere‹ nicht so besonders mögen, daß Sie da noch mit einem fünften Tausender herausrückten? Sie müssen ungrad grad sein lassen. Bedenken Sie, Sie können ja Ihren Augapfel jetzt zu Hause behalten! Sie kommen billig dabei weg und brauchen kein Opfer zu bringen.«

Das Grinsen, mit dem der liebenswürdige junge Mann diese Worte begleitete, ließ ihn zusammen mit seinen übrigen Reizen und Eigentümlichkeiten in so vorteilhaftem Licht erscheinen, daß sogar Mr. Pecksniff für den Augenblick ganz seine Geistesgegenwart verlor und ihn wie versteinert vor Erstaunen anstarrte. Bald jedoch gewann er seine Fassung wieder und war eben im Begriff, eine ausweichende Antwort zu geben, als sich draußen laute Fußtritte vernehmen ließen und Tom Pinch in großer Aufregung ins Zimmer stürzte, dann, als er bemerkte, daß Mr. Pecksniff mit einem Fremden in einem Privatgespräch begriffen sei, plötzlich sehr verwirrt dreinsah, aber immer noch mit einem Gesicht, als habe er etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.

»Mr. Pinch!« rief Pecksniff erregt. »Ihr Benehmen ist schwerlich anständig zu nennen. Sie müssen entschuldigen, daß ich Ihnen das so geradeheraus sage, aber ich denke wirklich, ein solches Benehmen ist kaum anständig zu nennen.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, daß ich nicht angeklopft habe«, stotterte Tom.

»Bitten Sie lieber diesen Herrn um Verzeihung, Mr. Pinch«, rief Pecksniff. »Ich kenne Sie ja, aber bei ihm ist das nicht der Fall. – Erlauben Sie, Mr. Jonas, daß ich Ihnen meinen jungen Famulus, Mr. Pinch, vorstelle!«

Der Schwiegersohn in spe nickte leicht mit dem Kopf, wenn auch nicht gerade geringschätzig oder verächtlich, wie sonst in solchen Fällen, denn er war in ziemlich guter Stimmung.

»Erlauben Sie, könnte ich nicht ein Wort mit Ihnen sprechen, Sir?« fragte Tom atemlos. »Es handelt sich um etwas sehr Dringendes.«

»Nur etwas sehr Dringendes kann auch Ihr sonderbares Vorgehen rechtfertigen, Mr. Pinch«, sagte Mr. Pecksniff. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, mein teurer Freund. – Nun, Sir, was ist der Grund dieses ungeschlachten Benehmens?«

»Wirklich, es tut mir sehr leid«, stammelte Tom, als er, die Mütze in der Hand, im Hausflur seinem Herrn und Gebieter gegenüberstand, »und ich weiß, es muß sehr ungeschlacht ausgesehen haben.«

»Allerdings hat es das, Mr. Pinch.«

»Ja, ja, ich fühle das, Sir. Aber, offen gestanden, war ich so überrascht, Sie zu sehen – und ich wußte, daß Sie es auch sein würden, Mr. Pecksniff –, daß ich, so schnell ich konnte, nach Hause eilte. Ich wußte kaum mehr, wo mir der Kopf stand und was ich tat. Ich war eben in der Kirche, Sir, und spielte zu meinem Vergnügen die Orgel, als ich mich zufällig umsah und bemerkte, daß ein Herr und eine Dame im Mittelgang standen und zuhorchten. Soviel ich in der Dunkelheit unterscheiden konnte, schienen es Fremde zu sein, und ich dachte schon, ich kennte sie nicht. Ich hörte daher auf und fragte sie, ob sie nicht nach der Orgelgalerie hinaufspazieren oder einen Sitz einnehmen möchten. Sie lehnten das ab, dankten mir aber für die Musik, die sie gehört hatten. Sie – sie –« bemerkte Tom errötend – »sie nannten es sogar eine köstliche Musik, wenigstens sie tat es. Und wirklich, das war eine größere Ehre und Freude für mich als alle Komplimente, die man mir hätte machen können. Ich – ich – ich bitte um Verzeihung, Sir –« er bebte dabei am ganzen Körper und ließ schon zum zweitenmal seinen Hut fallen. »Aber ich – bin etwas verwirrt und fürchte, daß ich vom Thema abgekommen bin.«

»Wenn Sie darauf zurückkommen wollen«, entgegnete Mr. Pecksniff eisig, »so werden Sie mich damit sehr verbinden.«

»Ja, Sir, gewiß, Sir«, stotterte Tom. »Sie hatten einen Wagen am Portal stehen, Sir, und hatten nur haltgemacht, um das Orgelspiel zu hören, wie sie sagten. Und dann sagten sie – ich meine sie sagte: ›Ich glaube, Sie wohnen bei Mr. Pecksniff?‹ Ich erwiderte, ich hätte diese Ehre, und nahm mir dann die Freiheit, Sir«, fügte er hinzu und erhob die Augen schüchtern zu dem Antlitz seines Wohltäters, »hervorzuheben, daß ich – was ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis immer hervorheben werde und muß – daß ich große Verpflichtungen gegen Sie habe und meinen Dank dafür nie genügend werde ausdrücken können.«

»Das«, versetzte Pecksniff streng, »war sehr sehr unrecht. Sie hätten sich dazu einen bessern Zeitpunkt wählen müssen, Mr. Pinch.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, hauchte Tom, »und dann fragten Sie mich – nämlich sie fragte mich –, ob es nicht einen Seitenweg zu Mr. Pecksniffs Hause gebe.«

Mr. Pecksniff horchte plötzlich auf.

»Einen Nebenweg, so daß man nicht an dem Drachen vorbei müßte. Ich bejahte und sagte, ich würde mich glücklich schätzen, ihnen denselben zeigen zu können. Sie schickten nun den Wagen auf der Straße weiter und kamen mit mir über die Wiesen her. Hierher. Ich verließ sie beim Wegweiser, um vorauszueilen und Ihnen mitzuteilen, daß sie kämen und gleich hier sein würden. – – In weniger als einer Minute«, fügte Tom tief aufatmend hinzu.

»Hm«, brummte Mr. Pecksniff nachsinnend. »Wer können wohl die Leute sein?«

»Gott steh uns bei, Sir!« rief Tom. »Ich dachte, ich hätte Ihnen dies gleich anfangs gesagt. Ich habe sie erkannt – ich meine die Dame –, und zwar sofort. Der Gentleman, Sir, ist derselbe, der im letzten Winter im Drachen krank lag, und die junge Dame ist seine Begleiterin.«

Tom klapperten die Zähne; vor Entsetzen wäre er beinah in die Erde gesunken, als er die außerordentliche Wirkung bemerkte, die diese Worte plötzlich auf Mr. Pecksniff ausübten.

Die Furcht, die Gunst des alten Mr. Chuzzlewit fast ebenso schnell, als er sie gewonnen, bloß durch den Umstand zu verlieren, daß er Jonas im Hause hatte – dann die Unmöglichkeit, seinen Schwiegersohn in spe fortschicken, ihn einsperren oder an Händen und Füßen gebunden in einen Kohlenkeller stecken zu können, ohne ihn für alle Zeit unheilbar zu verletzen und zu kränken – ferner die schreckliche Uneinigkeit, die im Hause herrschte, und die Unmöglichkeit, zwischen der in Krämpfen liegenden Charitas, der aufs äußerste verwirrten Gratia und dem im Besuchszimmer sitzenden Jonas ein halbwegs anständiges Einvernehmen herstellen zu können – die völlige Hoffnungslosigkeit, diesen Zustand häuslicher Verwirrung bemänteln oder plausibel erklären zu können, kurz, das plötzliche Zusammentreffen aller dieser nur erdenklichen unangenehmen Verwicklungen, deren Entwirrung nur mit der Zeit möglich war, wie er glaubte, alles dies erfüllte den fassungslosen Architekten mit einem solchen Entsetzen, daß er und Tom sich gegenseitig nicht hätten mit wildern Blicken ansehen können, als wenn auf seinen Schultern ein Gorgonenhaupt gesessen hätte.

»Ach Gott! Ach Gott!« jammerte Tom. »Was habe ich getan! Ich hoffte, es würde eine angenehme Überraschung für Sie sein, Sir, und meinte, Sie würden sich über diese Nachricht freuen.«

In diesem Augenblick ertönte ein lautes Klopfen an der Hallentüre.

21. Kapitel


21. Kapitel

Einige weitere Erfahrungen in Amerika. Martin nimmt sich einen Associé und entschließt sich zu einem Landkauf. Eden, wie es auf dem Papier aussieht. Auch etwas vom britischen Löwen

Das Klopfen an Mr. Pecksniffs Türe war zwar laut genug gewesen, hielt aber doch keinen Vergleich mit dem Geräusch eines amerikanischen Eisenbahnzuges in voller Eile aus. Es wird angebracht sein, das gegenwärtige Kapitel mit diesem freimütigen Zugeständnis zu eröffnen, damit sich der Leser nicht etwa denke, die Töne, die jetzt unsere Geschichte übertäuben werden, hingen auch nur entfernt mit dem Klopfen an Mr. Pecksniffs Türe zusammen oder mit der großen Erregung, in die sein kräftiger Schall sowohl diesen Ehrenmann wie auch Mr. Pinch versetzt hatte.

Mr. Pecksniffs Haus liegt jetzt mehr als tausend Meilen weit von uns entfernt, und unsere Erzählung atmet wieder die heilige Luft der amerikanischen Unabhängigkeit.

Die Räder rasseln und dröhnen und die Schienen schüttern, wie der Zug über sie hinwegbraust. Aufschreit die Maschine, als würde sie gepeitscht und gequält wie ein lebender Arbeiter und winde sich in Todesqualen. Leere Einbildung! Stahl und Eisen gelten unendlich viel mehr in dieser Republik als Fleisch und Blut. Wenn man dem sinnreichen Werk der Menschenhand mehr zumutet, als es ertragen kann, so trägt es die Nemesis in sich, während das unselige Geschöpf Gottes nicht so leicht gefährlich wird und sich mißbrauchen, biegen und brechen läßt, ganz nach seiner Unterdrücker Belieben. Wie hoch steht die Maschine dagegen! Es würde jemand mehr Dollars Strafe kosten, wenn er aus Übermut diese gefühllose Metallmasse ruinierte, als wenn er zwanzig Menschenleben aufs Spiel setzte oder ausbeutete. Gleichgültig blinzeln in solchen Fällen die Sterne aus dem Banner Amerikas hernieder, und die Freiheit zieht ihre Mütze über die Augen und begrüßt die Unterdrückung in ihrer scheußlichsten Gestalt als ihre leibliche Schwester.

Der Maschinist, der den Eisenbahnzug führte, quälte sich vermutlich nicht mit derartigen Betrachtungen ab, wie es überhaupt nicht wahrscheinlich war, daß er seinen Geist mit Betrachtungen irgendwelcher Art zermarterte, wenigstens lehnte er mit verschränkten Armen, überschlagenen Beinen und eine Pfeife im Munde an der Seitenwand des Waggons und sah so steinern, ruhig und gleichgültig vor sich hin, als sei seine Lokomotive weiter nichts als ein Spanferkel. Nur hin und wieder drückte er durch ein Grunzen, so kurz wie seine Pfeife, seinen Beifall über irgendein besonders geschickt getroffenes Ziel von seiten seines Kollegen, des Maschinenheizers, aus, der sich damit die Zeit vertrieb, Holzklötze aus dem Vorratswagen zu nehmen und sie nach dem neben dem Bahnkörper weidenden Vieh zu schleudern. Aber trotz der großen seelischen Ruhe und des innern Friedens dieses Beamten ging der Zug doch mit leidlicher Schnelligkeit vorwärts. Holpernd und polternd zwar, aber das mußte sein, denn die Schienen waren nur lose und schlampig gelegt. Die Lokomotive zog drei große Wagen: einen für die Damen, den zweiten für die Herren, den dritten für die Neger. Der letztere war schwarz angestrichen. Wahrscheinlich aus Hochachtung für seine Passagiere. Martin und Mark Tapley saßen in dem vordersten, weil er der bequemste war und keine Damen mitreisten. Sie saßen beide Seite an Seite und waren eifrig in ein Gespräch vertieft.

»Sie sind also froh, Mark«, sagte Martin und sah seinen Begleiter ängstlich und forschend an, »daß wir New York im Rücken haben?«

»Ja, Sir, das bin ich. Und zwar sehr froh.«

»Es hat Ihnen also dort nicht gefallen?«

»Ganz im Gegenteil, Sir; die vergnügteste Woche, die ich je in meinem Leben verbrachte, war die in Pawkins‘ Speisehaus.«

»Und was halten Sie von unserer Zukunft?« fragte Martin mit einer Miene, die deutlich verriet, daß er dieser Frage eine Zeitlang ausgewichen war.

»Ich denke sie mir ungemein glänzend, Sir«, entgegnete Mark. »Einen bessern Namen als Eden kann ein Ort auf Erden doch nicht mehr haben. Kann es etwas Gescheiteres geben, als sich in Eden anzusiedeln? Und dann hab ich mir sagen lassen«, setzte er nach einer Pause hinzu, »daß es dort massenhaft Schlangen gibt. Da kann man wenigstens Ehre einlegen.« Er war weit entfernt davon, bei der Erinnerung an diese Information auch nur das mindeste Grauen zu äußern, seine Mienen heiterten sich vielmehr auf, und zwar in einem Grade, daß der Laie hätte glauben können, er habe sich ein ganzes Leben über nach der Gesellschaft von Schlangen gesehnt und begrüße nun entzückt die nahe bevorstehende Erfüllung seiner heißesten Wünsche.

»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte Martin finster.

»Ein Offizier.«

»Gott, was sind Sie doch für ein alberner Mensch«, rief Martin und brach unwillkürlich in ein herzliches Lachen aus. »Ein Offizier? Die wachsen doch hier wie Pilze aus dem Boden.«

»Ja, ja, so wie die Vogelscheuchen in England, Sir«, fiel ihm Mark ins Wort. – »Die übrigens selbst eine Art von Militär sind. Ganz Rock und Weste und nur ein Stecken inwendig. Ja, ja. – Verzeihen Sie, Sir, ich kann manchmal nicht anders, ich muß fidel sein. – Also, es war einer von den Helden bei Pawkins‘, der mir das gesagt hat. Hab ich recht gehört, sagte er – nicht gerade durch die Nase, aber doch so, als hätte er einen Stöpsel darin – so wollen Sie nach Eden gehen? – Ja, ja, ich hab so was läuten hören, antwortete ich ihm. – Oh, sagte er, wenn Sie dort je zu Bett gehen sollten – Sie wissen, sagte er, man kann’s im Lauf der Zeit mit der fortschreitenden Zivilisation so weit bringen – so vergessen Sie nicht, ein Beil mitzunehmen. – Ich sah ihn ziemlich scharf an. Flöhe? fragte ich.«

»Ja, ja, und auch sonst noch was.«

»Vampire?« fragte ich.

»Ja, ja, und auch sonst noch was«, sagte er. »Moskitos vielleicht?«

»Ja, ja, und auch sonst noch was.«

»Und das wäre?« fragte ich.

»Schlangen«, sagte er, »Klapperschlangen. Und dann ist noch eine gewisse kleinere Sorte da, die verdammt auf Menschenfleisch geht. Aber das macht weiter nichts, sie gehören zur guten Gesellschaft. Nur die Schlangen«, sagte er, »werden Ihnen auf die Nerven gehen, und wenn Sie mal aufwachen und sehen eine auf Ihrem Bett«, sagte er, »aufrecht wie die Spirale von einem Pfropfenzieher, wenn er auf dem Handgriff aufsitzt, so schlagen Sie sie tot, denn dann geht’s um die Wurst.«

»Warum haben Sie mir denn das nicht früher gesagt?« rief Martin mit einer Miene, die von Marks Fröhlichkeit sehr bedeutend abstach.

»Habe nicht daran gedacht, Sir«, entschuldigte sich Mark. »So was geht einem zu einem Ohr hinein und zum andern wieder hinaus. Und dann, ach Gott, vielleicht war’s einer von einer andern Landaktien-Gesellschaft, der die Geschichte bloß aufgebracht hat, damit wir nach seinem Eden statt nach dem andern gehen möchten.«

»Allerdings immerhin ziemlich wahrscheinlich«, bemerkte Martin, »aufrichtig gesagt, ich hoffe es von ganzem Herzen.«

»Daran zweifle ich nicht, Sir«, entgegnete Mark, der, voll von dem beseligenden Eindruck der Anekdote auf sich selbst, einen Augenblick lang die wahrscheinliche Wirkung seiner Worte auf seinen Herrn nicht bedacht hatte. »Sei’s jetzt wie’s will, leben müssen wir.«

»Leben?« rief Martin. »Ja, ja, das ist leicht gesagt. Wenn wir nun aber einmal nicht aufwachen sollten, während die Klapperschlange auf unserm Bett Pfropfenzieher spielt, dann ist’s nicht so leicht getan.«

»Die Geschichte is’n Faktum«, sagte eine Stimme ihm so dicht ins Ohr, daß ihn der Hauch kitzelte; »ganz scheußlich wahr.«

Martin blickte zurück und bemerkte, daß ein Gentleman auf dem rückwärtigen Sitz seinen Kopf zwischen ihn und Mark gesteckt hatte und sein Kinn auf die Hinterlehne ihrer kleinen Bank aufstützte, um ihrem Gespräche zuzuhören. Seine Gesichtszüge waren so schlaff und leblos wie die der meisten Amerikaner, die sie bis jetzt gesehen, und seine Wangen so hohl, als ob er sie fortwährend einsaugte. Die Sonne hatte ihn – nicht gesund rot oder braun – sondern schmutzig gelb gebrannt. Seine kohlschwarzen Augen blinzelten halbgeschlossen unter den Lidern hervor, und selbst das mit einem Blick, der zu sagen schien: na, ihr werdet mich nicht überlisten, dazu müßtet ihr früher aufstehen. In der Linken hielt der Gentleman ein Stück Kautabak, das aussah wie ein Knochen oder wie ein Stück Käse, wie ihn die englischen Bauern lieben, und in der Rechten ein Federmesser. So ungeniert mischte er sich in den Dialog, als hätte man ihn eigens dazu aufgefordert, und so wenig schien er an die Möglichkeit zu denken, die Ehre seiner Bekanntschaft oder Einmengung in Privatgespräche könne unerwünscht kommen, wie ein Bär oder ein Büffel, wenn er ein paar Menschen überfällt.

»Ja, ja«, sagte er und nickte Martin als einem Barbaren aus der Fremde herablassend zu,»das ist scheußlich wahr. Ganz verdammtes Gezücht dort oben.«

Martin warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und schien nicht übel Lust zu haben, ihm eine schroffe Antwort zu geben, aber rasch genug erinnerte er sich, daß es klüger sei, mit den Wölfen zu heulen, wenn man schon einmal unter sie geraten ist, und lächelte mit der freundlichsten Miene, die er in der Eile aufsetzen konnte.

Der Gentleman sagte vorläufig kein Wort weiter, da er gerade damit beschäftigt war, sich ein Priemchen von seinem Tabakkuchen abzuschneiden, wobei er sich leise eins pfiff. Als er das Priemchen gehörig zugeschnitten, nahm er das alte aus dem Mund, legte es auf den Sitz zwischen Mark und Martin nieder und steckte sich dann das neue in die hohle Backe, wo es sich wie eine große welsche Nuß oder ein kleiner Borsdorfer Apfel ausnahm. Als er es zu seiner Zufriedenheit fand, steckte er die Spitze seines Messers in das alte Priemchen, hielt es den beiden unter die Augen und bemerkte, wie jemand, der sagen will, er kenne sich im Leben aus, es sei »verdammt ausgelutscht«. Dann schnellte er es fort, steckte sein Messer wieder in die Tasche und den Tabak in die andere, legte sich wie früher mit dem Kinn auf die Lehne, lobte das Muster von Martins Westenstoff und steckte die Pfote aus, um das Gewebe genauer zu befühlen.

»Wie heißt das?« fragte er.

»Wahrhaftig, ich habe keine Ahnung«, sagte Martin, »wie es heißt.«

»Wird wohl ’n Dollar die Elle kosten, was?«

»Wahrhaftig, ich weiß auch das nicht.«

»Wir hierzulande«, sagte der Gentleman verächtlich, »wissen ganz genau, was unsere Produkte kosten.« Da Martin auf diese Frage nicht näher eingehen zu wollen schien, trat eine Pause ein.

»Nun«, fing der Gentleman wieder an, nachdem er die beiden jungen Männer eine Weile lang impertinent angeglotzt hatte, »was macht die alte Schachtel?«

Tapley, der sofort erriet, daß das eine impertinente Anspielung auf die Königin Viktoria sein sollte, hatte schon eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber Martin verhinderte ihn noch rechtzeitig daran, sie auszusprechen, indem er schnell einfiel:

»Sie meinen das Mutterland?«

»Natürlich«, war die Antwort. »Wie geht’s ihr? Macht sie wie gewöhnlich Fortschritte nach rückwärts, was? Na – also wie geht’s der Königin Viktoria?«

»Sehr gut, wie ich glaube«, sagte Martin.

»Sie schwankt also nicht in ihren königlichen Schuhen, wenn sie an morgen denkt«, bemerkte der Fremde, »was?«

»Ich wüßte nicht, warum.«

»Es wird ihr also nicht kalt über den Rücken laufen, wenn sie erfährt, was in diesem Erdteil vorgeht?«

»Nein«, sagte Martin. »Ich könnte einen Eid drauf leisten, glaube ich.«

Der Gentleman sah ihn an, als bemitleide er ihn wegen seiner Unwissenheit und seiner Vorurteile, und sagte:

»Na, Sir, ich kann Ihnen nur versichern, es gibt keine Dampfmaschine in den ganzen Vereinigten Staaten, die nach einer Kesselexplosion so hergenommen aussehen würde wie dieses jugendliche Geschöpf in ihrem Federdaunen-Boudoir im Tower von London, wenn sie die nächste Nummer von der Watertoast-Gazette zu Gesicht bekommt.«

Inzwischen hatten mehrere andere Gentlemen ihre Sitze verlassen und waren näher gerückt. Sie schienen höchlichst entzückt über diese Rede zu sein. Ein besonders hagerer Herr mit loser, zerdrückter Halsbinde, einer langen weißen Weste und einem schwarzen Überrock, der in der Gesellschaft eine Art Autorität zu sein schien, fühlte sich jetzt berufen, eine Erwiderung darauf zu geben:

»Mr. Lafayette Kettle!« sagte er und nahm seinen Hut ab. Es entstand ein Gemurmel.

»Mr. Lafayette Kettle, Sir!«

Mr. Kettle verbeugte sich.

»Im Namen dieser Gesellschaft, Sir, und im Namen unseres gemeinsamen Vaterlandes, im Namen der Sympathie für die gerechte Sache, die wir alle mitfühlen, danke ich Ihnen. Ich danke Ihnen, Sir, im Namen der Watertoast-Sympathizers, – ich danke Ihnen, Sir, im Namen der Watertoast-Gazette, und ich danke Ihnen, Sir, im Namen des gesternten Banners der großen Vereinigten Staaten für Ihre beredte, kategorische Auseinandersetzung. Und wenn ich, Sir«, fuhr er fort und stieß Martin mit dem Handgriff seines Regenschirmes an, um ihn zur Aufmerksamkeit zu ermahnen, da er gerade auf etwas horchte, was ihm Mark ins Ohr flüsterte; »wenn ich, Sir, an einem solchen Orte und zu solcher Gelegenheit mich unterfangen darf, mit meiner eigenen Ansicht das vorliegende Thema zu beleuchten, so möchte ich sagen, Sir, dem britischen Löwen müßten durch den edeln Schnabel des amerikanischen Adlers die Krallen ausgerissen werden. Er müßte auf der irischen Harfe und der schottischen Fiedel das Liedchen spielen lernen, das jede leere Muschel singt, die an den Gestaden des grünen Columbia liegt.«

Dann setzte sich der hagere Gentleman unter großem Beifall wieder nieder und schnitt ein höchst feierliches Gesicht.

»General Choke«, rief Mr. Lafayette Kettle, »Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen! Wahrhaftig ja. Aber der britische Löwe hat ein paar Repräsentanten hier, und ich möchte ganz gern eine Antwort von ihnen auf diese Bemerkung hören.«

»Sehr liebenswürdig«, spöttelte Martin, »daß Sie mir die Ehre erweisen, mich als einen Repräsentanten Englands anzusehen, aber ich kann Ihnen nur erwidern, ich habe nie gehört, daß die Königin Viktoria Ihre Watertoast-Gazette läse, und halte es auch nicht für sehr wahrscheinlich, daß es je der Fall sein wird.«

General Choke lächelte den übrigen zu und erklärte wohlwollend:

»Sie erhält die Gazette zugeschickt, Sir. – Sie wird ihr gratis zugeschickt.« »Aber wenn die Adresse auf den Tower von London lautet, wie ich Sie vorhin bemerken hörte, so dürfte die Königin die Zeitung schwerlich in die Hand bekommen«, entgegnete Martin, »denn sie residiert nicht im Tower.«

»Die Königin von England, Gentlemen«, bemerkte Mr. Tapley mit ausgesuchter Höflichkeit und zuckte dabei nicht mit einer Wimper, »wohnt für gewöhnlich im Münzamt, um auf das Geld achtzugeben. Sie hat ein Quartier von Amts wegen bei dem Lord-Mayor im Mansion House, aber sie logiert selten dort, weil im Wohnzimmer der Kamin raucht.«

»Mark«, verwies Martin, »ich muß Sie wirklich bitten, keine so verkehrten Angaben zu machen, wenn sie Ihnen auch noch so spaßhaft vorkommen mögen. Ich wollte bloß bemerken – wenn auch die Sache von sehr geringer Wichtigkeit ist –, daß die Königin von England zufällig nicht im Tower von London residiert.«

»General!« rief Mr. Lafayette Kettle. »Hören Sie?«

»General!« schrien mehrere andere. »General!«

»Ich bitte einen Augenblick um Ruhe!« rief General Choke und erhob mit faszinierender Liebenswürdigkeit die Hand. »Ich habe stets bemerkt, und es ist ein sehr seltsamer Umstand, den ich der Natur der britischen Staatseinrichtungen und ihrer Tendenz zuschreibe, allüberall die Aufklärung zu unterdrücken, und eine Tatsache, von der man selbst in den pfadlosen Wäldern dieses ungeheuern westlichen Festlandes genau weiß – nämlich, daß die Briten selbst über derlei Sachen unvergleichlich schlechter unterrichtet sind als unsere intelligenten und fortschrittsgewaltigen Bürger. Der vorliegende Fall ist äußerst interessant und bestätigt meine Beobachtung. Wenn Sie sagen, Sir«, fuhr er zu Martin gewendet fort, »daß ihre Königin nicht im Tower von London residiert, so teilen Sie einen Irrtum, der unter Ihren Landsleuten nicht ungewöhnlich ist; selbst unter solchen, deren geistige und moralische Fähigkeiten das Durchschnittsmaß übersteigen. Aber, Sir, Sie sind im Unrecht. In Wirklichkeit wohnt sie dort –«

»Wenn sie sich nämlich am Hofe von St. James aufhält«, unterbrach ihn Kettle.

»Natürlich. Wenn sie sich am Hofe von St. James aufhält«, bekräftigte der General in seiner wohlwollenden Weise, »denn, wenn sie im Windsor-Pavillon ihre ›Location‹ hat, kann sie nicht zu gleicher Zeit in London sein. – – Aber der Tower von London, Sir«, fuhr der General, durchdrungen von seiner hohen geistigen Überlegenheit fort, »ist naturgemäß ihre königliche Residenz. Da er in unmittelbarer Nähe der Parks, der Triumphbogen, des Opernhauses und der königlichen Almacks gelegen ist, so ergibt sich’s von selbst, daß er der geeignetste Ort für eine schwelgerische und gedankenlose Hofhaltung ist. Folglich«, schloß der General, »folglich wird dort Hof gehalten.«

»Sind Sie jemals in England gewesen?« fragte Martin.

»Ich kenne es nur aus Zeitschriften, Sir. Wir sind hier ein sehr belesenes Volk, Sir. Sie werden uns so unterrichtet finden, daß es Sie in Erstaunen versetzen wird.«

»Ich zweifle nicht im mindesten daran«, gab Martin doppelsinnig zu.

Er wollte noch irgend etwas hinzusetzen, aber Mr. Lafayette Kettle unterbrach ihn flüsternd:

»Sie kennen doch General Choke?«

»Nein«, versetzte Martin ebenso leise.

»Aber Sie wissen, wofür er allgemein gilt?«

»Für einen der ersten Köpfe des Landes«, sagte Martin aufs Geratewohl.

»Richtig! Das ist ein ›Fakt‹«, nickte Mr. Kettle. »Ich war von vornherein überzeugt, daß Sie von ihm gehört haben müßten.«

»Ich glaube übrigens«, wendete sich Martin wieder an den General, »in der angenehmen Lage zu sein, ein Empfehlungsschreiben an Sie zu besitzen – von Mr. Bevan aus Massachusetts«, setzte er hinzu und zog einen Brief hervor.

Der General nahm ihn entgegen, las ihn aufmerksam durch und hielt nur zuweilen inne, um sich die beiden Fremden genauer zu betrachten. Als er zu Ende gekommen war, rückte er zu Martin hinüber, setzte sich neben ihn und reichte ihm die Hand.

»So«, sagte er, »Sie gedenken also, sich in Eden niederzulassen?«

»Das hängt von Ihrer Meinung und dem Rate des Agenten ab«, versetzte Martin. »Man sagte mir, in den alten Städten sei nichts zu machen.« »Ich kann Sie bei dem Agenten einführen, Sir«, sagte der General. »Ich kenne ihn persönlich. Überdies bin ich selbst Mitglied der Landkorporation von Eden.«

Dies war für Martin eine betrübende Neuigkeit, denn Mr. Bevan hatte einen großen Nachdruck darauf gelegt, daß der General seines Wissens in keiner Beziehung zu irgendeiner Landkompagnie stehe und ihm daher wahrscheinlich einen sehr uneigennützigen Rat würde erteilen können. Wie sich jetzt herausstellte, war der General aber der Gesellschaft erst vor einigen Wochen beigetreten, und Mr. Bevan hatte inzwischen weder persönlich noch schriftlich mit ihm verkehrt.

»Wir haben nur sehr wenig zu riskieren«, beeilte sich Martin zu erklären. – »Nur einige wenige Pfunde. – Aber es ist unser ganzes Vermögen. Glauben Sie also, daß ein Mann von meinem Fach dort einigermaßen Hoffnung oder Aussicht hat?«

»Ha«, entgegnete der General ernst, »wenn keine Hoffnung oder Aussicht in der Spekulation läge, so würde ich, sollte man annehmen, meine Dollars nicht dabei angelegt haben.«

»Ich meine nicht für die Verkäufer«, betonte Martin, »ich meine für die Käufer.«

»Für die Käufer, Sir!« versetzte der General mit großem Nachdruck. »Nun ja, Sie kommen aus einem alten Lande – aus einem Lande, Sir, das die goldnen Kälber zur Höhe des Turms zu Babel aufgehäuft hat und sie seit Jahrtausenden anbetet. Wir sind ein neues Land, Sir. Der Mensch lebt hier mehr in seinem primitiven Zustande, Sir. Wir haben hier nicht die Entschuldigung, daß wir im Laufe der Zeit in Entartung versunken sind. Wir haben auch keine falschen Götter. Der Mensch, Sir, ist hier Mensch in seiner ganzen Würde. Dafür, und für sonst nichts, haben wir gefochten. Hier stehe ich, Sir«, rief der General und spannte seinen Regenschirm auf, um besser zu repräsentieren, »hier stehe ich mit grauen Haaren, Sir, von Moralgefühl durchdrungen vom Scheitel bis zur Sohle. Würde ich bei meinen Grundsätzen mein Kapital in dies Unternehmen gesteckt haben, wenn ich es nicht für hoffnungsvoll und segensreich für meinen Nächsten und Bruder hielte?« – Martin konnte nur mit großer Mühe ein überzeugtes Gesicht machen, denn er mußte fortwährend an New York denken. »Wozu wären die großen Vereinigten Staaten da, Sir«, fuhr der General fort, »wenn nicht für die Wiedergeburt des Menschen? Doch es ist ganz natürlich, daß Sie eine solche Frage stellen, denn Sie kommen aus England und kennen unser Vaterland nicht.«

»Sie glauben also«, fragte Martin weiter, »daß sich, abgesehen von den Mühseligkeiten, auf die wir natürlich gefaßt sind, ein leidlicher Platz – weiß Gott, wir machen keine großen Ansprüche – für uns dort finden läßt?«

»Ein leidlicher Platz in Eden, Sir!? Aber ich sehe schon, Sie müssen mit dem Agenten sprechen. Sehen Sie sich die Landkarten an – die Pläne, Sir, und dann mögen Sie selbst urteilen und aus der Art und Weise der Ansiedlung schließen, ob Sie gehen oder bleiben wollen. – Eden hat noch nicht nötig, Sir, betteln zu gehen«, bemerkte der General stolz.

»Es ist ein ungeheuer anmutiger Ort, gewiß, und schrecklich gesund obendrein«, mischte sich Mr. Kettle ins Gespräch.

Martin fühlte, daß es höchst ungentlemanlike und unschicklich wäre, die Wahrheit eines solchen Zeugnisses zu bestreiten, bloß weil er sich eines gewissen Argwohns nicht enthalten konnte. Er dankte daher dem General für sein Versprechen, ihn mit dem Agenten persönlich bekannt zu machen, und beschloß, diesen Beamten schon am nächsten Morgen aufzusuchen. Dann fragte er, wer die Watertoast-Sympathizers wären, von denen er vorhin gehört, und in welcher Beziehung diese Gesellschaft eigentlich ihre »Sympathie« an den Tag lege. Darauf machte der General ein sehr ernstes Gesicht und entgegnete, Martin könne sich hinsichtlich dieses Punktes vollkommen Aufklärung verschaffen, wenn er morgen einem großen Meeting der Korporation beiwohnen wolle, das in der Stadt, nach der sie führen, stattfinden werde, »und bei dem ich, Sir«, sagte er, »zu präsidieren von meinen Mitbürgern berufen worden bin.«

Spät abends langten sie an dem Ziel ihrer Reise an. Dicht am Bahnkörper stand ein ungeheures weißes Gebäude, wie ein häßliches Lazarett aussehend, mit der Aufschrift: National Hotel. An der Fassade lief eine hölzerne Galerie oder Veranda entlang, auf der man merkwürdigerweise, als der Zug anhielt, eine Menge von Stiefeln und Schuhen und den Rauch von sehr viel Zigarren, aber sonst keine Spur und kein Zeichen von der Gegenwart von Menschen gewahrte. Allmählich jedoch tauchten einige Köpfe und Schultern empor, die mit den Stiefeln und Schuhen in Verbindung standen und entdecken ließen, daß einige Hotelbewohner den Einfall gehabt hatten, ihre Fersen dorthin zu legen, wo die Gentlemen anderer Länder gewöhnlich ihre Köpfe hintun, um auf diese Weise die Abendkühle zu genießen.

Das Hotel hatte eine große Schenkstube und ein großes Gastzimmer, in dem soeben der Tisch für sämtliche Gäste zum Souper gedeckt wurde. Da gab es endlose geweißte Treppen, lange geweißte Galerien, zu ebener Erde eine Masse kleiner geweißter Schlafzimmer und eine Veranda zu jedem Stock im Hause, das im ganzen aus einem großen Ziegelbau bestand, und ferner einen unwirtlichen Hofraum in der Mitte, wo gerade Wäsche zum Trocknen aufgehängt war. Hie und da lungerten einige Gentlemen, gähnend und die Hände in den Taschen, herum. Aber wo immer, in oder außer dem Hause, ein halbes Dutzend Menschen beisammen stand, wiederholten sich hinsichtlich Aussehen, Tracht, Sitten, Manieren, Gewohnheiten und Reden die Jefferson Bricks, die Oberst Divers, die Major Pawkins‘, die General Chokes und die Herren Lafayette Kettle bis zum Überdruß. Sie benahmen sich ganz so wie diese, sprachen dasselbe, beurteilten alles nach demselben Maßstab und reduzierten alles auf denselben Wert. Da Martin jetzt vollauf Gelegenheit hatte zu beobachten, wie sie lebten und wie entzückt sie stets voneinander waren, begann schließlich sogar auch er zu begreifen, daß sie wirklich die geselligen, gemütlichen und gewinnenden Leute sein müßten, als die man sie zu schildern pflegte.

Bei dem wüsten Klange eines mißtönenden Gongs strömte die liebenswürdige Gesellschaft aus allen Teilen des Hauses nach dem Speisesaal, und auch aus den benachbarten Magazinen kamen Gäste in Haufen hervor, denn die halbe Stadt, sowohl die verheiratete wie auch die unverheiratete, wohnte im National Hotel. Tee, Kaffee, getrocknetes Fleisch, Zunge, Schinken, Mixed Pickles, Kuchen, geröstete Brotscheiben, Eingemachtes und Brot mit Butter wurden mit rasender Hast verschlungen, und dann gingen die Gäste, wie gewöhnlich, paarweise ab oder schlenderten zum Schreibpult im Kontor oder nach der Schenkstube. Die Damen hatten eine eigene kleinere Table d’hôte, zu der ihre Gatten und Brüder, wenn sie gerade wollten, zugelassen wurden; sonst aber unterhielten sie sich genau wie bei Pawkins‘.

»Nun, Mark, mein guter Junge«, sagte Martin, als er die Türe seines kleinen Zimmers zumachte, »wir müssen uns jetzt ernstlich beraten. Morgen früh soll sich unser Schicksal entscheiden. Sind Sie also entschlossen, Ihre Ersparnisse bei dem gemeinsamen Ankaufe anzulegen?«

»Wenn ich nicht willens wäre, ein solches Wagnis zu unternehmen, Sir«, antwortete Mr. Tapley, »so wäre ich nicht mitgekommen.«

»Wieviel sagten Sie, daß Sie besäßen?« fragte Martin und wog einen kleinen Beutel in der Hand.

»Siebenunddreißig Pfund, zehn Schillinge und sechs Pence. Wenigstens sagte man mir das auf der Sparbank – ich habe es natürlich nie nachgezählt. Die dort müssen’s doch am besten wissen« sagte Mark kopfschüttelnd und legte damit seine unbegrenzte Zuversicht zu der Weisheit und Rechenkunst derartiger Einrichtungen an den Tag.

»Das Geld, das wir mitgebracht haben«, erklärte Martin, »ist auf einige Schillinge weniger als acht Pfund zusammengeschmolzen.«

Mr. Tapley lächelte und blickte nach allen möglichen Richtungen, damit Martin nicht glauben möge, er lege diesem Umstand irgendwelchen Wert bei.

»Auf den Ring – ihren Ring –«, fuhr Mr. Chuzzlewit fort und warf einen kläglichen Blick auf seine eigenen ungeschmückten Finger.

»Ach«, seufzte Mr. Tapley. – »Sie entschuldigen schon, Sir, daß ich seufze.« »– borgten wir uns in englischem Gelde vierzehn Pfund aus. Sie ersehen daraus, daß Ihr Anteil noch bei weitem der größere ist. Nun, Mark«, setzte Martin in seiner alten leichtfertigen Weise hinzu, etwa so wie er mit Tom Pinch gesprochen haben würde, »ich habe über Mittel nachgedacht, wie wir dies ausgleichen – hoffentlich sogar mehr als ausgleichen – und Ihre Aussichten im Leben wesentlich heben könnten.«

»Ich bitte, sprechen Sie nicht davon«, rief Mark, »Sie wissen doch, es ist mir um eine solche Hebung nicht zu tun. Ich bin mit allem zufrieden.«

»Nein, nein, hören Sie mich bis zu Ende«, sagte Martin, »denn es ist für Sie sehr wichtig und für mich eine große Beruhigung. Also, Mark, Sie sollen mein Associé im Geschäft sein, und zwar mit mir zu gleichen Teilen. Als weiteres Kapital werfe ich meine Fähigkeiten und technischen Kenntnisse in die Waagschale. Solange es dann geht, soll die Hälfte des ehrlichen Gewinns Ihnen gehören.« Der arme Martin, der wie immer Luftschlösser baute und sogar in seiner Selbstsucht alles vergaß, bloß seine Hoffnungen und sanguinischen Pläne nicht, schwelgte einen Augenblick in dem hohen Bewußtsein, durch seinen Schutz Mark aufs großartigste belohnt zu haben.

»Ich weiß nicht, Sir«, versetzte Mark mit trüberer Miene, als sonst seine Gewohnheit war – wenn auch nicht aus dem Grunde, wie Martin vermutete – »was ich darauf sagen soll, um Ihnen meinen Dank auszudrücken. Ich kann Ihnen eben nur nach besten Kräften dienen, Sir. Das ist alles.«

»Wir verstehen uns vollkommen, guter Freund«, sagte Martin mit immer wachsender Selbstzufriedenheit und Herablassung. »Wir sind jetzt nicht mehr länger Herr und Diener, sondern Freunde und Associés, und das muß uns beiden nur zustatten kommen. Entscheiden wir uns für Eden, so soll das Geschäft sofort gegründet werden, sobald wir dort ankommen. Und zwar unter der Firma: Chuzzlewit & Tapley.«

»Nein, nein«, rief Mark, »ich verstehe mich nicht auf solche Sachen, Sir, und deshalb muß ich ›Co‹ bleiben. Ich habe mir oft gewünscht«, setzte er mit leiser Stimme hinzu, »gern einmal einen Kompagnon kennenzulernen, habe mir aber nie träumen lassen, daß ich es erleben sollte, jemals selbst einer zu sein.«

»Ganz, wie Sie wollen, Mark.«

»Ich danke Ihnen, Sir. Ja, wenn dortherum irgendein Herr vom Lande oder vom Wirtshausfach oder so etwas Ähnlichem eine Kegelbahn würde errichten wollen, diesen Teil des Geschäftes könnte ich allenfalls übernehmen.«

»Und darin jeden Architekten in den Vereinigten Staaten ausstechen«, lachte Martin. »Holen Sie ein paar Gläser Sherry-Cobbler, damit wir auf das Gedeihen der Firma trinken können.«

Offenbar hatte er, wie es auch später noch oft geschah, bereits vergessen, daß nicht länger das Verhältnis zwischen Herr und Diener bestand, oder er betrachtete diese Art von Obliegenheiten als eine dem Kompagnon zukommende Funktion. Mark gehorchte jedoch mit seiner gewohnten Bereitwilligkeit, und noch ehe sie zu Bette gingen, wurde zwischen ihnen beschlossen, daß sie am nächsten Morgen zusammen zum Agenten gehen wollten. Natürlich sollte es dabei dem Urteile Martins überlassen bleiben, über die Frage hinsichtlich des Ankaufs von Land in Eden zu entscheiden, und Mark rechnete sich dieses Zugeständnis nicht einmal in seiner Heiterkeit als Verdienst an, da er wohl wußte, es müsse am Ende doch so oder so darauf hinauslaufen.

Am nächsten Morgen erschien der General gleichfalls unter der Gesellschaft im Speisesaal und machte gleich nach dem Frühstück den Vorschlag, unverzüglich den Agenten aufzusuchen. Da dies auch der sehnlichste Wunsch der beiden jungen Leute war, machten sie sich alle drei sofort auf den Weg zu dem Bureau, das nur einen Büchsenschuß vom National-Hotel entfernt lag.

Es war eine kleine Wohnung und sah ungefähr wie ein Zollwächterhäuschen aus. Aber schließlich: wieviel geht nicht oft in einen Würfelbecher. Warum sollte man nicht auch über ein ganzes Gebiet in einem Schuppen handelseinig werden können?! Überdies war es ja auch nur ein Interimsbureau, da das Unternehmen für seinen Geschäftsbetrieb ein prächtiges Etablissement plante, für das bereits der Grund abgesteckt war; was in Amerika bekanntlich schon viel heißen will. Die Türe des Kontors stand weit offen, und der Agent saß in einem Schaukelstuhl auf der Schwelle. Er mußte ein ungeheuer tüchtiger Geschäftsmann sein und mit Rapidität zu arbeiten verstehen, denn ersichtlich hatte er momentan nichts weiter zu tun, als sich behaglich hin und her zu schaukeln, das eine Bein an den Türpfosten gestemmt und auf dem andern sitzend, als ob er seine eigene Fußsohle ausbrüten wolle. Er war ein hagerer Mann mit einem ungeheuern Strohhut auf dem Kopf und in einen Rock aus grünem Stoff gekleidet. Wegen des heißen Wetters war er mit keiner Halsbinde geschmückt, und sein Hemd stand am Kragen weit offen, so daß man, wenn er sprach, immerwährend auf seiner Brust die Pulse zucken sah, wie die kleinen Hämmer in einem Piano, wenn die Noten angeschlagen werden. Vielleicht war es eine schwache Bemühung der Wahrheit, sich ihren Weg zu seinen Lippen zu bahnen. In diesem Falle erreichte sie leider freilich nie ihren Zweck.

Zwei graue Augen lauerten tief in dem Kopfe des Agenten, aber eines davon hatte die Sehkraft verloren und verhielt sich völlig teilnahmslos. Das verstärkte noch den Eindruck, als ob die eine Hälfte seines Gesichts auf das horchte, was die andere tat, und wenn die bewegliche Seite seines Gesichts in höchster Tätigkeit war, so blieb die starre im kältesten Zustand der Wachsamkeit. Es war, als hätte man das Inwendige des Menschen nach außen gekehrt, wenn man von diesem Standpunkte aus seine Physiognomie in ihrer lebhaftesten Erregung betrachtete.

Seine langen schwarzen Haare hingen in Strähnen gerade und straff herunter wie Peitschenschnüre, seine Brauen waren borstig und gesträubt, und die tiefen Krähenfüße um seine Augenwinkel gaben ihm ein gewisses raubvogelartiges Aussehen.

Das war der Mann, dem sie sich jetzt näherten und den der General mit dem Namen Mr. Scadder anredete.

»Schon recht, General«, brummte der Agent, »wie geht’s Ihnen?«

»Immer tätig und munter, Sir, im Dienste meines Vaterlandes und der guten Sache. – Zwei Gentlemen in Geschäften, Mr. Scadder.«

Der Agent schüttelte Martin und Mark die Hand, denn ohne das geht es bekanntlich nicht in Amerika, und fuhr dann fort, sich zu schaukeln.

»Nicht schwer zu erraten, in was für Geschäften Sie mir die Fremden herbringen, General.« »Ja, ja, Sir, das kann ich mir denken.«

»Sie sind ein Schwätzer, General. Sie reden zu viel, das ist ein ›Fakt‹,« sagte Scadder. »Sie sprechen erschrecklich gut in der Öffentlichkeit, aber in Privatsachen sollten Sie nicht immer gleich ein Renntempo vorlegen. – Nun?«

»Es handelt sich um –« fing der General an.

»Sie wissen doch, wir geben unsere Grundstücke nicht jedem Landstreicher, der darauf ein Angebot macht«, unterbrach Mr. Scadder abermals, »sondern geben sie nur an feine Leute ab. – Was?«

»Da wären die Herren hier die richtigen«, rief der General mit Wärme.

»Wenn’s so steht«, entgegnete der Agent in vorwurfsvollem Ton, »wozu da weiter reden, schade um die vielen Worte, General.«

General Choke flüsterte Martin zu, Mr. Scadder sei der biederste Mensch von der Welt. Nicht um zehntausend Dollars würde er ihn mit Absicht beleidigen wollen.

»Ich tue meine Pflicht und achte die Fürsprache meiner Mitmenschen, weil ich ihnen gerne eine Gefälligkeit tue«, fing Scadder wieder mit gedämpfter Stimme an, sah die Straße hinunter und schaukelte sich in seinem Lehnstuhl. »Aber man wirtschaftet übel, wenn man gegen meine Vorschläge, nicht so wohlfeil loszuschlagen, Einsprache erhebt. Doch das ist nun einmal Menschennatur. Sei es drum.«

»Mr. Scadder!« rief der General und warf sich in die Brust. »Sir, hier meine Hand und damit mein Herz. Ich achte Sie, Sir. Ich bitte um Entschuldigung, diese Gentlemen sind nun aber Freunde von mir, sonst würde ich sie nicht hergebracht haben. Ich weiß wohl, Sir, daß die Liegenschaften augenblicklich viel zu billig losgeschlagen werden, aber es sind Freunde, Sir – und zwar sehr gute Freunde von mir.«

Mr. Scadder war mit dieser Erklärung so zufrieden, daß er dem General mit Wärme die Hand drückte und sich zu diesem Zweck ein wenig aus seinem Schaukelstuhl erhob. Dann lud er den General samt dessen »besonders guten Freunden« ein, ihn in das Innere seines Bureaus zu begleiten. Der General bemerkte jedoch in seiner gewohnten wohlwollenden Weise, daß er als Teilhaber der Gesellschaft sich um keinen Preis in die Unterhandlung mischen dürfe, bemächtigte sich daher des Schaukelstuhls und sah hinaus auf die Straße wie ein wohltätiger Samariter, der auf einen Wanderer wartet, um ihn zu »ölen«.

»Hallo!« rief Martin erstaunt, als sein Blick auf einen großen Plan fiel, der die ganze Längswand des Zimmers bedeckte. – Sonst war nicht viel in dem Bureau zu sehen, höchstens noch einige geognostische und botanische Proben, ein oder zwei abgegriffene Kontorbücher, ein großes Schreibpult und ein Sessel. – »Hallo! Was ist denn das?«

»Das ist Eden«, erklärte Scadder und stocherte sich die Zähne mit einem kleinen Bajonett, das bei der Berührung einer Feder seines Messers hervorsprang.

»Ich hatte ja gar keine Ahnung davon, daß es eine Stadt sei.«

»Natürlich ist es eine Stadt.«

Ja, sogar eine blühende Stadt schien es zu sein, eine Stadt mit reichster Architektur. Da gab es Banken, Kirchen, Dome, Marktplätze, Fabriken, Hotels, Magazine, Rathäuser, Kais, eine Börse, ein Theater, kurz öffentliche Gebäude jeder Art bis auf die Expedition einer Tageszeitung herab. Alles getreulich abgebildet.

»Himmel, das ist ja ein höchst bedeutender Ort!« rief Martin und drehte sich erstaunt um.

»Ja, ja, höchst bedeutend«, bemerkte der Agent.

»Aber ich fürchte«, meinte Martin und warf wieder einen Blick auf die öffentlichen Gebäude, »daß mir hier nicht mehr viel zu tun übrig bleibt.«

»Na, es ist ja schließlich noch nicht alles ausgebaut«, brummte der Agent.

Das war ein großer Trost.

»Zum Beispiel der Marktplatz?« fragte Martin, »ist der schon ausgebaut?«

»Der?« wiederholte der Agent und steckte seinen Zahnstocher in ein anderes Spielzeug, das einen Wetterhahn auf einem Dachgiebel darstellte. »Lassen Sie mal sehen. – Nein, der ist nicht ausgebaut.«

»Das wäre ein gutes Geschäft für den Anfang, was, Mark?« flüsterte Martin seinem Begleiter ins Ohr und stieß ihn mit dem Ellbogen an.

Mark, der mit sehr dummem Gesicht abwechselnd den Plan und den Agenten betrachtet hatte, antwortete bloß: »Ungemein.«

Eine Totenstille folgte.

Mr. Scadder pfiff während der kurzen Ruhepausen seines Zahnstochers ein paar Strophen des Yankee Doodle und blies den Staub von dem »Dache des Theaters« ab.

»Ich nehme an«, sagte Martin und tat so, als denke er tief nach, verriet jedoch durch das Beben seiner Stimme, wieviel für ihn von der Antwort abhing, »ich nehme an, es sind wahrscheinlich viele Baumeister dort?«

»Nicht ein einziger«, versicherte Scadder.

»Mark«, flüsterte Martin und zupfte seinen Associé am Ärmel, »hören Sie? – Aber wessen Werk ist denn das alles, was wir hier vor uns sehen?« fragte er laut.

»Da der Boden so fruchtbar ist, so schießen die öffentlichen Gebäude vielleicht von selbst auf«, sagte Mark.

Er stand auf der »dunklen« Seite des Agenten, als er die Worte sprach, aber Mr. Scadder wechselte augenblicklich seinen Platz und wandte ihm seine belebte Profilseite zu.

»Befühlen Sie meine Hände, junger Mann«, sagte er.

»Wozu?« fragte Mark ablehnend.

»Sind sie schmutzig oder sind sie rein?« fragte Scadder und streckte die Finger aus.

Vom physischen Gesichtspunkte aus waren sie entschieden schmutzig, es fiel jedoch in die Augen, daß Mr. Scadder seine Worte in figürlichem Sinne meinte, quasi als Sinnbild seines moralischen Charakters, und Martin beeilte sich natürlich zu erklären, daß sie rein seien wie frisch gefallener Schnee.

»Mark«, sagte er dann etwas gereizt, »ich muß Sie bitten, Bemerkungen dieser Art, wenn sie auch an sich noch so harmlos und wohlgemeint sind, ein für allemal zu lassen. Sie sind hier nicht am Platz und können einem Fremden nicht angenehm sein. Ich muß sagen, mich überrascht Ihr Benehmen.«

»Aha, die Kompagnie wird schon lästig«, dachte Mark. »Aha, drum sagt man: Stiller Kompagnon!« Mr. Scadder schwieg, wandte dem Plan den Rücken und stieß seinen Zahnstocher einige dutzendmal wütend in sein Schreibpult, dabei Mark immer ansehend, als erstäche er ihn in effigie.

»Sie haben mir noch immer nicht geantwortet, wer diese Häuser eigentlich gebaut hat«, wagte Martin endlich mit sanftem versöhnlichem Tone zu fragen.

»Na, es kann Ihnen ja gleich sein, wessen Arbeit es ist. Oder nicht?« sagte der Agent mürrisch. »Möchte wissen, was Sie das kümmern sollte. Vielleicht hat sich der frühere Architekt auf und davon gemacht mit einem hübschen Häufchen Dollars in der Tasche. Vielleicht war’s auch ein Vagabund, ein Galgenstrick, vielleicht auch ein Tausendsappermentskerl – was weiß ich!«

»Daran sind Sie schuld, Mark«, flüsterte Martin vorwurfsvoll.

»Vielleicht«, fuhr der Agent fort, »sind das da keine Pflanzen, die in Eden gewachsen sind. Und vielleicht sind das Schreibpult und der Stuhl hier auch nicht aus Edener Bauholz. Vielleicht ist überhaupt gar keine Ansiedlung dort. Vielleicht ist es überhaupt gar kein Regierungsland oder es gibt gar keinen solchen Ort auf dem Gebiet der großen Vereinigten Staaten!«

»Na, hoffentlich sind Sie jetzt zufrieden mit den Wirkungen Ihrer Späße, Mark!« zürnte Martin

Zum Glück legte sich jetzt der General im richtigen Augenblick ins Mittel und rief von der Türe aus Scadder zu, er möge doch seinen Freunden etwas Näheres mitteilen über die Einzelheiten des gewissen kleinen, samt Haus nur fünfzig Acres betragenden Gutes, das vordem der Kompagnie gehört habe und ihr erst seit kurzem wieder zugefallen sei.

»Sie sind ein bißchen zu freigebig, General«, war die Antwort, »das Grundstück müßte jetzt viel teurer verkauft werden. – Jawohl!«

Trotzdem öffnete Mr. Scadder, wenn auch brummend, ein Buch, wandte aber diesmal stets seine belebte Gesichtsseite Mark zu, so unbequem es auch für ihn war, und legte dann Martin ein Blatt vor, worauf dieser, nachdem er es gierig betrachtet, schnell fragte:

»Wo auf dem Plane mag dieser Platz liegen?« »Auf dem Plane?«

»Ja.«

Der Agent trat vor die Landkarte an der Wand, dachte eine Weile lang nach, als ob er immer noch ärgerlich sei und entschlossen, bis aufs i-Tüpfelchen korrekt zu verfahren. Endlich, nachdem er seinen Zahnstocher mehreremal langsam in der Luft im Kreise herumgeschwenkt hatte, schoß er plötzlich damit wie eine eben losgelassene Brieftaube auf die Zeichnung los und stieß in den Mittelpunkt des großen Kais.

»Da«, sagte er und ließ das zitternde Messer in der Wand stecken, »da ist’s.«

Martin sah mit funkelnden Augen seinen Kompagnon an, und dieser begriff sofort, daß die Sache so gut wie abgemacht sei.

Trotzdem war der Handel nicht so leicht geschlossen, wie man hätte denken sollen, denn Mr. Scadder war kaustisch und übelgelaunt und machte alle möglichen Schwierigkeiten. Einmal ersuchte er die Herren, sich die Sache genau zu überlegen und nach einer Woche oder vierzehn Tagen wieder vorzusprechen; ein anderes Mal sagte er Martin voraus, es werde ihnen nicht gefallen – dann wieder wollte er überhaupt sein Anerbieten zurücknehmen und sich nicht mehr weiter in Verhandlungen einlassen; dabei verwünschte er murmelnd den törichten General mit den kräftigsten Ausdrücken. Schließlich wurde aber doch die erstaunlich kleine Kaufsumme – sie betrug nur hundertfünfzig Dollars oder etwas über dreißig Pfund von dem Kapitale, das die »Kompanie« in das Geschäft eingezahlt hatte – auf den Tisch gelegt, und Martin trug im Bewußtsein, ein Gutsbesitzer in der blühenden Stadt Eden geworden zu sein, sofort seinen Kopf so hoch, daß er fast damit an die Stubendecke des kleinen hölzernen Bureaus stieß.

»Wenn es Ihnen vielleicht nicht gefallen sollte«, sagte Mr. Scadder, als er Martin die Quittung für das erhaltene Geld einhändigte, »so dürfen Sie mir natürlich keinen Vorwurf machen.«

»Nein, nein, gewiß nicht«, versicherte Martin fröhlich. »Wir werden Ihnen gewiß keinen Vorwurf machen! – General, wollen wir jetzt gehen?«

Ich stehe zu Diensten, Sir. Ich wünsche Ihnen«, sagte der General und reichte Martin ernst und voller Herzlichkeit die Hand, »viel Freude an Ihrer Besitzung. Sie sind jetzt ein Bürger, Sir, des mächtigsten, zivilisiertesten Landes, das jemals die Sonne beschienen hat. Eines Staates, Sir, in dem das Band der Liebe und Treue den Menschen mit dem Menschen verknüpft. Mögen Sie sich Ihres Adoptiv-Vaterlandes würdig erweisen.«

Martin dankte ihm und verabschiedete sich von Mr. Scadder, der unmittelbar nach dem Aufstehen des Generals seinen Posten im Schaukelstuhl wieder eingenommen hatte und sich hin und her schaukelte, als ob er nie in seiner Ruhe gestört worden wäre. Mark blickte auf dem Wege nach dem National Hotel einige Male zurück, aber jetzt war ihm die Nachtseite des Agenten zugekehrt, auf der nichts als Aufmerksamkeit und Gedankenfülle zu lesen war. Wie sonderbar sich dieses Profil doch von dem andern unterschied! Mr. Scadder war kein Mann, der oft oder viel zu lachen pflegte, aber jetzt verzog sich jeder Zug in der Schrift der Krähenfüße um seine Augen und jede dünne kleine Ader, die sich über diese Hälfte seines Gesichtes schlängelte, zu einem seltsamen Grinsen. Das Bild »des Todes und der Dame« in der alten Ballade hatte keine so scharfen und so gräßlichen Gegensätze wie die beiden Gesichtshälften Mr. Zephania Scadders.

Der General eilte in Sturmschritt vorwärts, denn die Glocke schlug gerade zwölf, und genau um diese Stunde sollte das Meeting der Watertoast-Sympathizers in dem Speisesaal des National Hotels abgehalten werden. Da Martin ebenfalls dabei zu sein wünschte, um zu erfahren, was es damit für eine Bewandtnis habe, hielt er gleichen Schritt mit ihm und schloß sich – besonders beim Eintritt in die Halle – eng an ihn an. Dadurch gelangte er auf eine kleine Estrade von Tischen am obern Ende, wo ein Lehnstuhl für den General bereitstand und Mr. Lafayette Kettle als Sekretär mit wichtiger Miene einige Dokumente, offenbar Anträge oder Bittschreiben, entfaltete.

»Nun, Sir«, sagte Mr. Kettle und drückte Martin die Hand, »sie werden jetzt ein Schauspiel zu sehen bekommen, daß der britische Löwe den Schwanz zwischen die Beine nehmen und vor Angst laut aufheulen wird, denke ich.«

Martin hielt es allerdings für möglich, daß der britische Leu in dieser Arche Noah nicht recht in seinem Element wäre, aber er behielt seine Gedanken für sich. Sodann wurde der General auf Antrag eines bleichen Jünglings à la Jefferson Brick zum Präsidenten ernannt, und eine stark akzentuierte Rede, in der viel von Herz, von Heimat und Brechen von Tyrannenketten die Rede war, eröffnete die Sitzung.

Zweifellos hätte jetzt der britische Löwe seinen Schweif zwischen die Beine geklemmt, denn die Entrüstung des fanatischen jungen Columbiers kannte keine Grenzen. Wäre er nur einer seiner Vorfahren gewesen, sagte er, wie hätte er diesen Löwen gefesselt und ihm wie ein Tierbändiger mit der Drahtpeitsche Lehren eingebleut, die er nicht so leicht wieder vergessen haben würde. »Der Löwe!« schrie der junge Columbier, »wo ist er? Wer ist er? Was ist er? Man zeige mir ihn! Er soll herkommen! Hierher!« – der junge Columbier nahm eine Boxerstellung an – »hierher, auf diesen heiligen Altar«, fuhr er fort, den Speisetisch anredend, »der über der Asche unserer Vorfahren zusammengekittet ist mit dem glorreichen Blut, das wie Wasser vergossen worden auf den heiligen Ebenen von Chickabiddy Lik. Man bringe ihn hierher, den Löwen«, rief er, »ich trotze ihm – ich, ein einzelner Mann –, ich verhöhne diesen Löwen. Ich sage diesem Löwen, wenn sich einmal die Hand der Freiheit in seine Mähne klammert, so rollt er auf den Boden und liegt da wie eine Leiche, und der Adler der großen Republik lacht: ha, ha, ha!«

Wie zu erwarten, kam der Löwe nicht, sondern blieb hübsch weg. Der junge Columbier stand daher, die Arme verschränkt, einsam in seiner Glorie da, und mutmaßlicherweise lachten auch die Adler wild auf ihren Bergesspitzen. Aber dann brach ein solcher Jubelruf los, daß es hätte die Zeiger auf der Uhr der Horse-Guard-Kaserne erschüttern und den Hauptzeitmesser von Englands Metropole zu irrigen Angaben verleiten können.

»Wer ist das?« fragte Martin Mr. Lafayette Kettle durch Zeichen und Gebärden.

Der Sekretär nahm ein Stück Papier, schrieb mit ernstem Gesicht etwas darauf, wickelte es zusammen und ließ es ihm von Hand zu Hand zugehen. Es war wieder eine Variation des alten Themas: »Einer der hervorragendsten Köpfe unseres Landes.« Dem jungen Columbier folgte ein anderer Herr, der ebenso beredt war und durch seinen Schwung ganze Stürme von Beifall entfesselte. Da echte Poesie bekanntlich nie bei Details verweilen kann, vergaßen auch die beiden merkwürdigen Jünglinge in ihrer großen Erregung zu sagen, mit wem oder für was die Watertoasters sympathisierten, und Martin blieb daher geraume Zeit so völlig im dunkeln wie bisher, bis ihm endlich ein Licht aufging, als der Schriftführer des Klubs sein Buch aufschlug und die Einzelheiten der letzten Sitzungen verlas. Er erfuhr jetzt, daß die Watertoastassociation mit einem gewissen Volksführer Irlands sympathisierte, der hinsichtlich gewisser politischer Rechte mit England im Kampfe lag. Doch geschah das keineswegs deshalb, weil man Irland besonders geliebt hätte, sondern bloß aus Haß gegen England. Überhaupt waren die Leute schrecklich eifersüchtig und mißtrauisch gegen die Engländer und duldeten sie nur deshalb, weil sie schwer arbeiteten und sich dadurch nützlich erwiesen. Das machte Martin natürlich sehr neugierig zu erfahren, welche Gründe die Watertoastassociation für ihre Sympathien vorzubringen habe. Er blieb nicht lange in Ungewißheit, denn gleich darauf erhob sich der General, um einen Brief an den Volksführer vorzulesen, den er eigenhändig geschrieben hatte.

»Meine Freunde und Mitbürger!« hub er an, »der Brief lautet folgendermaßen:

Sir, Ich wende mich an Sie im Namen der Watertoastassociation und der vereinigten Sympathizers. Der Klub, Sir, wurde in der großen Republik Amerika gegründet und hält jetzt den Atem an, daß ihm fast die Adern an der Stirne springen, denn wir verfolgen mit fieberhafter Spannung und begeisterter Sympathie Ihre edeln Bemühungen für die Sache der Freiheit.«

Bei dem Worte »Freiheit« und bei jeder Wiederholung desselben brachen sämtliche »Sympathizers« in ein lautes Gebrüll aus und brachten neunmal neun und noch einmal neun Jubelrufe aus.

»Im Namen der Freiheit, Sir – im Namen der heiligen Freiheit – ergeht diese Adresse an Sie. Im Namen der Freiheit übersende ich Ihnen hiermit einen Beitrag zu Ihren Parteifonds. Im Namen der Freiheit, Sir, blicke ich mit Unwillen und Abscheu auf das verfluchte Tier mit der blutbefleckten Schnauze, dessen Bestialität und unersättliche Gier von jeher für die Welt eine Geißel und Folter bedeutete. Die nackten Wilden auf Robinson Crusoes Insel, Sir, die verfolgten Weiber des Peter Wilkins, die beerenbeschmierten Kinder des wilden Busches, ja sogar der hochgewachsene Menschenschlag, der von alters her die Minendistrikte von Cornwallis bewohnt, sie alle können gleiches Zeugnis ablegen von seiner Barbarennatur. Wo, Sir, sind die Cormorans, die Blunderbores, die großen Feesofums – die Häuptlinge Irlands und Schottlands–, deren Name die Geschichte mit Begeisterung nennt? Alle, alle sind sie ausgetilgt durch seine alles verheerenden Krallen. – Ich meine damit den britischen Löwen. –

Ergeben, Sir, mit Leib und Seele, Herz und Geist der Freiheit – der Freiheit, dem höchsten Gut selbst der Schnecke an der Kellertüre, der Auster in ihrem Perlenbett, der stillen Milbe in ihrem heimatlichen Käse, ja selbst der Miesmuschel Ihres Vaterlandes in ihrer Schale – im fleckenlosen Namen der Freiheit entbieten wir Ihnen unsere Sympathien. Jawohl, Sir, in unserm geliebten glücklichen Vaterlande brennt ihr Feuer rein und klar und ohne Rauch. Ist es einmal in dem Ihrigen entbrannt, so wird man den Löwen braten mit Haut und Haar.

Ich verbleibe, Sir, im Namen der Freiheit Ihr Ihnen herzlich ergebener Freund und getreuer Sympathizer

Cyrus Choke General U. S. A.«

Gerade, als der General diesen Brief zu lesen begonnen, war der Eisenbahnzug angekommen und mit ihm die neueste englische Post, die dem Sekretär in Form eines Paketes sogleich überreicht wurde. Der Inhalt mußte höchst betrübender Natur sein, denn kaum hatte sich der Redner wieder niedergesetzt, als der Sekretär zu ihm eilte und ihm einen Brief nebst mehreren gedruckten Auszügen aus Zeitungen einhändigte, wobei er ihn auf deren Inhalt mit außerordentlicher Erregung aufmerksam machte. Der General, an und für sich schon ziemlich apoplektisch, war in diesem Augenblick infolge seiner Rede außerordentlich erhitzt und aufgeregt, aber kaum hatte er die Papiere überflogen, als seine Mienen den Ausdruck von so unerhörter Wut und Leidenschaft annahmen, daß das Gelärme um ihn herum im Nu verstummte und alle ihn erwartungsvoll ansahen.

»Meine Freunde«, rief der General und stand auf. »Meine Freunde und Mitbürger! Wir haben uns in diesem Manne entsetzlich geirrt.«

»In welchem Manne?« rief alles wild durcheinander.

»In diesem«, schnaubte der General und hielt den Brief in die Höhe, den er soeben gelesen hatte. »Wie ich jetzt erfahre, war er – und ist es noch immer – ein beharrlicher Verfechter der Negeremanzipation!«

Wenn irgend etwas unter der Sonne außer Zweifel steht, so ist es das, daß die versammelten Söhne der Freiheit den so denunzierten Mann rücksichtslos und mit feigen Händen erschossen, erdolcht oder in irgendeiner Weise aus dem Weg geräumt hätten, wenn er damals zugegen gewesen wäre. Auch der verwegenste Amerikaner würde keinen Düngerhaufen für sein Leben gegeben oder darauf gewettet haben. Man zerriß den Brief, warf die Fetzen in die Luft, trat sie mit Füßen und bellte, grunzte und zischte, bis man fast heiser war.

»Ich stelle den Antrag«, rief der General, als er sich endlich Gehör verschaffen konnte, »daß die Watertoastassociation der vereinigten Sympathizers auf der Stelle aufgelöst werde!«

»Fort mit ihr! Weg mit ihr! Wir wollen nichts mehr davon hören. Man verbrenne die Papiere! Reißet das Zimmer nieder! Tilgt es aus dem Gedächtnis der Menschheit aus!« gellte es wild durcheinander.

»Aber meine Freunde und Mitbürger«, rief der General.

»Die Beiträge! Wir haben doch Gelder! Was soll mit den Fonds geschehen?«

In aller Eile wurde beschlossen, einem gewissen allgemein geschätzten Richter, der noch vor kurzem öffentlich den edlen Grundsatz aufgestellt hatte, es sei einem weißen Pöbelhaufen erlaubt, einen schwarzen Mann zu ermorden, einen silbernen Becher als Ehrengeschenk zu stiften. Ein ähnliches von gleichem Wert sollte ein anderer Patriot erhalten, der – ebenfalls öffentlich – erklärt hatte, er und seine Freunde würden ausnahmslos und ohne Urteil jeden Abolitionisten hängen, der sich auf ihrem Grund und Boden blicken lasse, und der Rest der Gelder sollte dazu dienen, die Freiheit und Gleichheit aller derjenigen Gesetze bekräftigen zu helfen, die ein unendlich größeres und gefährlicheres Verbrechen darin fänden, einen Neger lesen und schreiben zu lehren, als ihn auf öffentlichem Marktplatze lebendig zu verbrennen. Als man sich hinsichtlich dieser Beschlüsse einig war, brach das Meeting in großer Unordnung auf; die »Watertoastsympathie« hatte ihr Ende erreicht.

Als Martin nach seiner Schlafkammer hinaufging, fiel sein Auge auf das republikanische Banner, das zu Ehren des feierlichen Anlasses auf dem Dache gehißt worden war und jetzt vor einem Fenster, an dem er vorbeiging, lustig im Winde flatterte.

»Wahrhaftig«, sagte er sich, »von weitem gesehen bist du eine ganz hübsche Fahne, kommt man dir aber zu nahe und sieht auch deine andere Seite und lernt dich ganz kennen, so bist du nur ein ganz elender Zwillichfetzen.«

22. Kapitel


22. Kapitel

Wieso und warum Martin selbst ein Löwe wurde

Kaum war die Tatsache, Mr. Chuzzlewit, der junge Engländer, habe sich im Tale Eden angekauft und sei willens, sich mit dem nächsten Dampfboot in dieses irdische Paradies zu begeben, im National Hotel allgemein ruchbar geworden, da war er auch schon mit einem Mal sozusagen ein populärer Charakter. Warum dies geschah oder wie es zuging, wußte er ebensowenig, wie sich Mrs. Gamp von Kingsgate Street, High Holborn, ihren Ruf zu erklären vermochte. Tatsache aber blieb, daß er plötzlich durch Volkswahl der Löwe der Watertoastgemeinde war und daß man seine Gesellschaft in einer für ihn wenig angenehmen Weise suchte. Die erste Mitteilung, die er von diesem Wechsel in seiner Stellung erhielt, bestand in folgender Epistel, die, mit dünner geläufiger Hand geschrieben und hie und da mit fetten Buchstaben durchsetzt, um den Allgemeineindruck zu heben, fast einen ganzen blau linierten Briefbogen ausfüllte:

»National Hotel, Montagmorgen.

Sehr geehrter Herr!

Als ich vorgestern das Glück hatte, Ihr Reisegefährte auf der Eisenbahn zu sein, ließen Sie einige Bemerkungen über den Tower von London fallen, die ich gerne vor einer öffentlichen Versammlung wiederholt hören möchte.

Als Schriftführer der Jüngling-Watertoast-Association in dieser Stadt bin ich aufgefordert, Ihnen mitzuteilen, daß die Gesellschaft es sich zur Ehre anrechnen würde, eine Vorlesung von Ihnen über den Londoner Tower in dem Saale der Gesellschaft morgen abend um sieben Uhr anhören zu dürfen.

Da sich ein großer Absatz von Vierteldollarbilletts erwarten läßt, so werden Sie durch Ihre freundliche Zusage an den Überbringer verbinden, sehr geehrter Herr, Ihren aufrichtig ergebenen Lafayette Kettle.

An seine Hochwohlgeboren Mr. Chuzzlewit.

P.S. Die Gesellschaft möchte durchaus nicht, daß Sie sich auf eine Schilderung des Londoner Towers beschränken. Gestatten Sie mir daher die Andeutung, daß auch einige Bemerkungen über die Elemente der Geologie, oder, wenn es Ihnen gelegener wäre, über die Schriften Ihres talentvollen und witzigen Landsmannes, des allgemein verehrten Mr. Miller, sehr willkommen sein würden.«

Höchlichst erschrocken über diese Einladung schrieb Martin sogleich eine höfliche Absage, allein kaum war er damit fertig, da erhielt er einen zweiten Brief.

Nr. 47, Bunker Hill Street, Montag früh. (Privat)

Sir,

Ich bin in den endlosen Steppen, durch die unser mächtiger Mississippi, ›der Vater der Gewässer‹, seine stürmischen Fluten dahinwälzt, geboren.

Ich bin noch jung und begeisterungsfähig und voll der Poesie, die die Wildnis gebiert, wo jeder Alligator, der im Schlamme liegend sich sonnt, sich selbst ein Epos ist. Ich strebe nach Ruhm. Das ist mein Durst und mein Schmachten.

Kennen Sie vielleicht, Sir, irgendein Mitglied des Kongresses in England, der es auf sich nehmen würde, für sechs Monate die Kosten eines dortigen Aufenthaltes für mich zu bestreiten?

Ein inneres Gefühl sagt mir, daß eine so hochherzige Gönnerschaft mir gegenüber die besten Früchte tragen würde. In Literatur oder Kunst, vor den Gerichtsschranken, auf der Kanzel oder auf der Bühne – in einem oder dem andern, wo nicht in allem –, weiß ich, müßte mir zuverlässig ein großer Wurf gelingen.

Wenn Sie selbst zu sehr beschäftigt sein sollten, um sich an einen derartigen Mäzen zu wenden, so bitte ich Sie, mir die Adressen von drei oder vier geeigneten Leuten mitzuteilen, die am wahrscheinlichsten darauf eingehen würden, damit ich mich brieflich an sie wenden kann. Auch wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich mit ein paar Zeilen wissen ließen, wie Sie über das Werk ›Kain‹, ein Mysterium, von seiner Hochgeboren Lord Byron, denken.

Ich verbleibe, Sir, Ihr (verzeihen Sie, wenn ich hinzusetze: hochstrebender)

Putnam Smif.

P.S. Adressieren Sie, bitte, Ihre Antwort an Chiffre: Amerika junior, Messrs. Hancock and Floby. Schnittwarengeschäft, wie oben.«

Diese beiden Briefe, zugleich mit Martins Antwort darauf, wurden später einem löblichen Brauche der Stadt gemäß, der sehr danach angetan war, das Gefühl des Anstandes und gegenseitigen gesellschaftlichen Vertrauens zu fördern, in einer Nummer der Watertoast-Gazette veröffentlicht.

Martin hatte übrigens kaum seine Korrespondenz beendigt, als Kapitän Kedgick, der Wirt, mit äußerst liebenswürdiger Miene heraufkam, um nachzusehen, wie Martin sich befinde. Ohne lange Umstände setzte er sich auf die Bettleiste, und da er diese etwas hart fand, schließlich auf das Kopfkissen.

»Nun, Sir«, begann er, nachdem er sich’s genügend bequem gemacht und seinen Hut ein wenig mehr aufs Ohr gerückt hatte, offenbar, weil er ihm zu eng war, »Sie sind, schätze ich, bereits ein Mann der Öffentlichkeit.«

»So scheint es«, versetzte Martin ermüdet und abgespannt. »Unsere Mitbürger, Sir«, fuhr der Kapitän fort, »haben im Sinne, Ihnen ihre Hochachtung zu bezeugen. Sie werden eine Art von ›Leweh‹ zu halten haben, Sir, solange Sie noch hier sind.«

»Gott im Himmel!« rief Martin. »Aber das ist mir doch ganz unmöglich, lieber Herr.«

»Sie werden müssen, es wird nicht anders gehen«, meinte der Kapitän.

»›Müssen‹ ist kein angenehmes Wort, Kapitän«, entgegnete Martin.

»Nun, ich habe unsere Muttersprache nicht erfunden und kann sie daher nicht ändern«, sagte der Kapitän ruhig, »sonst würde ich sie wohl etwas angenehmer gestaltet haben. Sie müssen die Besuche empfangen, weiter kann ich nichts sagen.«

»Aber warum soll ich Leute empfangen, denen ich ebenso gleichgültig bin wie sie mir?« fragte Martin.

»Nun, weil ich in der Bar unten ein Muniment angeheftet habe«, entgegnete der Kapitän.

»Was haben Sie angeheftet?« fragte Martin.

»Ein Muniment.«

Martin warf einen verzweifelten Blick auf Mark, der ihm daraufhin mitteilte, der Kapitän meine ein geschriebenes Plakat, worauf angekündigt sei, daß Mr. Chuzzlewit heute um zwei Uhr vor den Herren der Watertoast-Association Cercle halten werde. Es hinge in der Schenkstube unten, wie er kraft eigener Inaugenscheinnahme bezeugen könne.

»Ich weiß, Sie werden sich nicht gerne unpopulär machen«, fing der Kapitän wieder an und schnitt sich kaltblütig die Nägel. »Unsre Bürger lassen nicht mit sich spaßen, das kann ich Ihnen versichern, und unsre Gazette wäre imstande, Ihnen die Haut abzuziehen wie einer wilden Katze.«

Martin wollte eben zornig losbrechen, besann sich jedoch eines Besseren und entgegnete:

»Also lassen Sie sie in Gottes Namen kommen.«

»Oh, sie werden schon von selbst kommen«, erwiderte der Kapitän. »Ich habe zu diesem Behufe bereits das große Zimmer unten reserviert.«

»Aber möchten Sie nicht vielleicht die Güte haben«, bat Martin, als er bemerkte, daß der Kapitän sich entfernen wollte, »mir wenigstens zu sagen, warum man mich eigentlich sehen will? Was habe ich denn getan, und wie kommt es, daß man ein so plötzliches Interesse an mir nimmt?«

Kapitän Kedgick lüftete ein wenig seinen Hut, setzte ihn dann sorgfältig wieder auf, fuhr sich mit der einen Hand von der Stirne bis zum Kinn über das ganze Gesicht herunter, sah Martin und dann Mark und dann wieder Martin an, blinzelte und ging hinaus.

»Meiner Seel«, rief Martin und ließ die Faust schwer auf den Tisch niederfallen, »so ein vollkommen unerklärlicher Kerl wie dieser ist mir noch nicht vorgekommen.«

»Nun, Sir«, versetzte sein Associé, »meine Meinung ist, daß Sie ganz einfach ›einer der hervorragendsten Köpfe des Landes‹ geworden sind.«

Pünktlich um zwei Uhr mit dem Glockenschlag kehrte Kapitän Kedgick zurück, um Martin nach dem Staatszimmer zu geleiten, und als er ihn dort wohlbehalten abgegeben, rief er seinen Mitbürgern die Treppe hinunter zu, Mr. Chuzzlewit sei nunmehr »zum Empfang bereit«.

Daraufhin füllte sich die Stube bis zum letzten Platz, und durch die offene Türe eröffnete sich eine geradezu schauerliche Perspektive auf eine Menge Menschen auf der Treppe, die alle noch hereinwollten. Einer nach dem andern, zu Dutzenden und Dutzenden, ja schockweise und mehr und mehr drängten sie sich heran, um Martin die Hand zu drücken. Alle möglichen Abarten von Händen gab es da; dicke, dünne, kurze, lange, fette, magere, grobe, zarte, heiße, kalte, trockene, feuchte und schlaffe; und jede drückte anders: die eine fest, die andere locker, und immer kamen noch mehr und mehr und mehr Leute herauf; und immer hörte man die Stimme des Kapitäns aus dem Gedränge: »Es sind noch mehr unten, es sind noch mehr unten. – Nun meine Herren, Sie sind jetzt bei Mr. Chuzzlewit gewesen; bitte, wollen Sie den Neuankommenden gefälligst Platz machen.«

Doch ohne im geringsten auf den Ruf des Kapitäns zu achten, räumten die Leute das Zimmer nicht nur nicht, sondern blieben stehen, bolzgerade und die Augen weit aufgerissen.

Zwei bei der Watertoast Gazette angestellte Gentlemen waren ausdrücklich gekommen, um Material zu einem Artikel über Martin zu sammeln, und hatten sich verabredet, sich in die Arbeit zu teilen, und so war dem einen der obere Teil, dem andern der Teil des Redners von der Weste abwärts zugefallen. Beide standen ganz vorn, den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt und aufmerksam auf alles achtend, was in ihr Departement fiel. Wenn Martin den einen Stiefel vor den andern setzte, so notierte es der Gentleman für die untere Abteilung, rieb Martin sich die Nase, so wurde es von dem Gentleman für die obere Abteilung gebucht. Öffnete er den Mund, so ließ sich derselbe Gentleman auf ein Knie vor ihm nieder und studierte mit dem prüfenden Blicke eines Zahnarztes sein Gebiß. Dilettanten der physiognomischen und phrenologischen Wissenschaften umschwärmten ihn mit achtsamen Augen und gierigen Fingern und hin und wieder wagte einer oder der andere der Keckeren einen Griff nach Martins Hinterkopf und verschwand wieder im Gedränge. Alle möglichen Ansichten über ihn, über sein En-Face, sein Profil, sein Dreiviertelprofil und seine Schädelbildung wurden laut. Die weniger wissenschaftlich Gebildeten sprachen hörbar ihre Meinungen über sein Äußeres aus. Seine Nase, hieß es, böte ganz verschiedene neue Gesichtspunkte; über sein Haar kamen die widersprechendsten Gerüchte in Umlauf, und noch immer hörte man die Stimme des Kapitäns erstickt aus dem Gewühl wie unter einem Federbett hervor: »Meine Herrn, Sie sind jetzt Mr. Chuzzlewit vorgestellt, bitte, wollen Sie doch gefälligst Platz machen.«

Aber selbst als die Phrenologen Platz zu machen anfingen, wurde es nicht besser, denn nun wogte ein Strom von Herren herein, jeder mit einer Dame am Arm, genau so, wie der Chor im National Hochgesang, wenn die Majestät im Prachteinband die Bühne betritt. Jede Gruppe frischer an Kraft als die vorhergehende und fest entschlossen, bis zum letzten Augenblick zu bleiben. Wurde Martin angeredet, was nicht oft geschah, so waren es stets dieselben Fragen und alle in demselben Ton und mit nicht mehr Rücksicht oder Zartgefühl vorgebracht, als wäre er eine Steinfigur gewesen, gekauft, bezahlt und zur allgemeinen Belustigung hier aufgestellt. Und als dann die Pärchen schließlich entschwebten, war es so schlimm wie vorher, wo nicht schlimmer; denn jetzt wurden die halbwüchsigen Jungen frech, kamen in Trupps herein und benahmen sich genau so, wie sie es vorher von den Erwachsenen gesehen hatten. Auch höchst seltsame Nachzügler tauchten auf, Gentlemen, die wie auferstandene Tote aussahen und, wenn sie einmal da waren, nicht wußten, wie sie wieder fort kommen sollten; vor allem ein stummer Herr mit verglasten Fischaugen und nur einem einzigen, aber sehr großen und gewaltig glänzenden Metallknopf an seiner Weste war besonders hartnäckig und blieb unbeweglich an der Wand stehen wie eine Standuhr, als die anderen längst fort waren.

Vor Ermüdung, Abspannung und Ärger im höchsten Grade mitgenommen, glaubte Martin sich auf den Boden werfen und liegen bleiben zu müssen, aber auch dazu ließ man ihm keine Zeit. Briefe und Botschaften mit der Drohung, ihn öffentlich an den Pranger zu stellen, wenn man die Absender nicht vorließe, strömten wie ein Hagelsturm herein, und da auch, während er einsam Kaffee trank, noch immer Besuche kamen und Mark trotz aller Wachsamkeit nicht imstande war, sie an der Türe abzuhalten, so entschloß sich Martin, zu Bett zu gehen. Nicht, daß er dort hinreichenden Schutz zu finden glaubte, sondern nur, um auch dies letzte verzweifelte Mittel nicht unversucht zu lassen. Er hatte seinen Plan Mark mitgeteilt und wollte gerade entwischen, als die Türe abermals mit großem Ungestüm aufgerissen wurde und ein ältlicher Gentleman eintrat, eine lange hagere Dame am Arm, die nichts weniger als jung oder gar hübsch genannt werden konnte. Letzeres war allerdings Geschmackssache. Sie trug sich sehr gerade und war sowohl hinsichtlich Antlitz wie Gestalt ungefähr das Gegenteil von Beweglichkeit. Auf dem Kopfe trug sie einen großen Strohhut mit dito Blumen, in dem sie aussah, als habe ein ungeschickter Arbeiter einem Turm ein Dach aufgesetzt, und in der Hand hielt sie einen Fächer von beispiellosen Dimensionen.

»Mr. Chuzzlewit, wie ich vermute?« begann der Gentleman.

»Ja, das ist mein Name.«

»Ich muß bemerken, Sir«, sagte der Gentleman, »daß meine Zeit sehr gemessen ist.«

»Gott sei Dank«, dachte Martin.

»Ich reise in meine Heimat zurück«, fuhr der Gentleman fort, »und zwar per Bahn. Der Zug kann jeden Augenblick abgehen. ›Abgehen‹ ist kein Wort, das bei Ihnen zu Hause üblich wäre, nicht wahr, Sir?«

»O doch«, versicherte Martin.

»Sie befinden sich im Irrtum, Sir«, entgegnete der Gentleman mit großer Entschiedenheit. »Aber lassen wir das Thema fallen. Ich liebe es nicht, Widerspruch zu erwecken. – Gestatten Sie, Sir: Mrs. Hominy.«

Martin verbeugte sich.

»Mrs. Hominy, Sir, ist die Gattin des Majors Hominy, eines unserer ersten Köpfe, und gehört einer der aristokratischsten Familien an. – Sie kennen vielleicht Mrs. Hominys Schrift.«

Martin mußte leider verneinen.

»Nun, da haben Sie noch viel zu lernen, und es stehen Ihnen noch große Genüsse bevor, Sir«, sagte der Gentleman. »Mrs. Hominy wird bis Ende des Jahres bei ihrer verheirateten Tochter in der Ansiedelung Neu-Thermopylae – drei Tagereisen vor Eden – wohnen bleiben. Jede Aufmerksamkeit, Sir, die Sie Mrs. Hominy auf der Reise erweisen, wird Ihnen den Major und unsere Mitbürger zu größtem Dank verpflichten. – Mrs. Hominy, ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht und viel Vergnügen für die Reise, Madame.«

Martin wollte es anfangs kaum glauben, aber Tatsache: da saß Mrs. Hominy und trank die Milch von seinem Kaffee.

»Ich bin wahrhaftig ganz und gar kaputt«, bemerkte sie. »Die Wagen stoßen, als ob der Schienenweg voller Knorren und Höcker läge.«

»Voller Knorren und Höcker?« stotterte Martin geistesabwesend.

»Nun ja, verstehen Sie denn nicht?« fuhr Mrs. Hominy auf. »Oder setzen Sie vielleicht Zweifel in meine Worte?«

Dann band sie sich kaltblütig ihre Hutbänder auf und sagte, sie wolle draußen in der Garderobe ablegen, werde aber gleich wiederkommen.

»Mark«, flüsterte Martin, »bitte, zwicke mich mal in den Arm. Sei so gut. Bin ich überhaupt wach?«

»Ja, ja, die Hominy ist schon echt«, entgegnete Mark, »’s is eins von den Weibsbildern, die, ob man sie nun bei Tag oder bei Nacht überrascht, immer die Augen offen haben und im Geiste für das Wohl ihres Vaterlandes arbeiten.«

Weiter kam er nicht, denn Mrs. Hominy stelzte wieder herein, sehr aufrecht – zum Beweise ihrer aristokratischen Abstammung –, und hielt in ihren gefalteten Händen ein rotes baumwollenes Taschentuch, wahrscheinlich ein Abschiedsgeschenk des Geistesheroen – des Majors. Sie hatte ihren Hut draußen gelassen und erschien jetzt in einer hocharistokratischen und klassischen Haube, die, unter dem Kinne zusammengebunden, eine Art Kopfputz bildete, der bewunderungswürdig zu ihrem Gesichte paßte. Martin bot ihr einen Stuhl an. Ehe er jedoch zu seinem eigenen Sitze zurückkehren konnte, hielt sie ihn mit den Worten zurück:

»Bitte, Sir, wo sind Sie gebucht?«

»Ich fürchte, meine Auffassungskraft ist nicht mehr die beste«, stotterte Martin; »ich bin wirklich außerordentlich müde. Auf mein Wort, ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

Mrs. Hominy schüttelte mit einem melancholischen Lächeln den Kopf, als wollte sie damit sagen: »Sogar die Sprache verleiden sie einem im alten Lande drüben.« Dann aber ließ sie sich zu der gnädigen Erklärung herab:

»Wo sind Sie her?«

»Ach so«, sagte Martin. »Ich stamme aus Kent.«

»Und wie gefällt Ihnen unser Land, Sir?«

»Wahrhaftig – hm – wirklich sehr gut«, stammelte Martin halb im Schlaf, »wenigstens – das heißt ziemlich, Madame.«

»Die meisten Fremden – namentlich die Engländer – sind sehr überrascht über das, was sie in den Vereinigten Staaten zu sehen bekommen.«

»Sie haben auch wahrhaftig allen Grund dazu, Madame«, versetzte Martin. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so überrascht.«

»Unsere Institutionen gehen ins Aschgraue, nicht wahr, Sir?«

»Der kurzsichtigste Mensch kann das auf den ersten Blick mit bloßem Auge sehen«, versicherte Martin.

Mrs. Hominy war Philosophin und Schriftstellerin und daher gewiß sehr abgehärtet, aber diese undezente und unziemliche Redensart war denn doch zu viel für sie. Ein Gentleman – allein mit einer Dame – und die Türe offen – und spricht von einem bloßen Auge!

Eine ziemliche Weile verging, ehe sie – obgleich sie eine Dame von männlichem, hochstrebendem Geiste war – so viel Mut aufbringen konnte, um das Gespräch wieder anzuknüpfen. Aber es gelang ihr, denn sie war eine vielgereiste Frau und schrieb Revuen und analytische Untersuchungen. Ihre Briefe aus dem Ausland, die sämtlich mit »Mein heiß geliebter Anonymus« begannen und mit »die Mutter der modernen Gracchen« unterzeichnet waren – unter den Gracchen verstand sie ihre verheiratete Tochter nebst Gatten –, erschienen regelmäßig in öffentlichen Journalen, die Ausbrüche ihrer Entrüstung mit fetter und die Sarkasmen mit gesperrter Schrift gedruckt. Mrs. Hominy hatte fremde Länder mit dem Auge einer vollkommenen Republikanerin – noch frisch aus dem Backofen – betrachtet und konnte folglich stundenlang von ihren Erlebnissen sprechen – oder schreiben. Sie setzte daher Martin tüchtig zu. Da er fest eingeschlafen war, hatte sie um so freieres Spiel und zermalmte ihn denn auch nach Herzenslust mit Gründen und Räsonnements.

Es ist ziemlich gleichgültig, was Mrs. Hominy sagte, genug, was sie sagte, hatte sie aus dem Geschwätz einer großen Klasse ihrer Mitbürger gelernt, die mit jedem Worte bekennen, daß sie für die hohen Prinzipien, aus denen Amerika als Nation ins Leben sprang, fühllos und unempfindlich sind. Allmählich wurde Martin soweit wach, daß er sich des Gefühls eines schrecklichen Alpdrucks bewußt wurde – eines halbfertigen Traumes, daß er einen lieben Freund ermordet habe und seine Leiche nicht los werden könne. Als er die Augen öffnete, stierte ihm das Phantom ins Gesicht und wandelte sich langsam in die schreckliche Mrs. Hominy, die immer noch tiefsinnige Wahrheiten in einem melodischen Schnüffelton heruntersprach und in ihrer Größe schwelgte, so daß des Majors bitterster Feind, wenn er sie gehört hätte, ihm aus dem Grunde seines Herzens vergeben haben würde. Martin wollte eben irgendeinen verzweifelten Schritt tun, aber in diesem Augenblick ertönte die Glocke zum Abendessen und erlöste ihn aus seiner Qual. Als er Mrs. Hominy am obern Ende der Tafel glücklich verstaut hatte, nahm er selbst seine Zuflucht zum untersten und stahl sich nach einem hastigen Mahl aus dem Speisesaal, während die Dame noch mit geräuchertem Ochsenfleisch und einem ganzen Teller von eingesalzenen Fixings beschäftigt war.

Es würde schwerhalten, sich einen richtigen Begriff von Mrs. Hominys Frische am nächsten Morgen oder von der Gier, mit der sie sich beim Frühstück kopfüber in »moralische« Themen stürzte, zu machen. Eine gewisse essigsaure Schärfe war wohl an ihr zu bemerken, aber das kam wahrscheinlich von den Mixed Pickles und den Fixings am Abend vorher. Den ganzen Tag über klammerte sie sich an Martin an; sie saß an seiner Seite, während er Leute empfing – denn immer noch nahmen die Besuche kein Ende –, entwickelte allerlei Theorien und beantwortete imaginäre Einwürfe mit einer Beharrlichkeit, daß Martin schließlich zu glauben begann, er träume und spreche für zwei. Sie zitierte endlose Stellen aus gewissen von ihr selbst geschriebenen Aufsätzen über Staatskunst – gebrauchte das Taschentuch des Majors, als ob das Schneuzen eine temporäre Krankheit sei, die sie um jeden Preis loswerden müsse –, kurz, sie war eine in jeder Hinsicht so merkwürdige Reisegefährtin, daß Martin innerlich zu dem Schlusse kam, das beste sei, solche Personen in jeder neuen Ansiedlung um des allgemeinen Friedens willen auf der Stelle mit einer Hacke totzuschlagen.

Unterdessen war Mark von morgens früh bis abends spät in die Nacht hinein beschäftigt, Vorräte jeder Art, Werkzeuge und andere Utensilien an Bord des Dampfbootes zu schaffen, die man ihnen, als in der Kolonie unentbehrlich, mitzunehmen angeraten hatte. Der Ankauf aller dieser Sachen und die Bezahlung ihres Logis im National-Hotel führte eine solche Ebbe in ihrer gemeinsamen Kasse herbei, daß, wenn der Kapitän mit der Abfahrt noch länger gezögert hätte, sie wahrscheinlich in derselben Klemme gewesen wären wie die mittellosen Auswanderer, die, durch die aufdringliche schreiende Annonce an Bord angelockt, wochenlang im Zwischendeck zugebracht und ihren armseligen Mundvorrat aufgezehrt hatten, ehe die Fahrt noch begonnen. Und solcher Auswanderer gab es viele auf dem Schiff. In Gruppen lagerten sie um die Maschine oder das Heizfeuer herum – Bauern, die noch nie einen Pflug geführt, Holzfäller, die noch nie eine Axt in der Hand gehabt, Baumeister, die keinen Koffer zusammenzimmern konnten, und alle ausgestoßen aus ihrer Heimat, ohne eine mitfühlende Seele zurückzulassen – Neulinge in einer neuen Welt, Kinder an Hilflosigkeit, Männer an Bedürfnis, mit kleinen Kindern auf den Armen –, um zu leben oder unterzugehen, wie es der Zufall eben fügen mochte.

Der Morgen kam, und gegen Mittag sollte die Reise losgehen. Aber der Mittag kam, und die Abreise wurde auf den Abend verschoben. Doch nichts dauert ewig in dieser Welt, nicht einmal die Saumseligkeit eines amerikanischen Bootskapitäns; und so war in der Nacht alles zur Abfahrt bereit.

Im höchsten Grade ermattet und entmutigt, aber mehr »Löwe« als je (er hatte den ganzen Nachmittag nichts anderes getan, als Briefe von Fremden zu beantworten, die sämtlich entweder leeres Stroh droschen oder Geld borgen wollten, aber sämtlich auf augenblickliche Antwort drängten), quetschte sich Martin durch ein Gedränge von Menschen, Mrs. Hominy am Arm, zum Kai durch und begab sich an Bord. Mark hingegen hatte sich in den Kopf gesetzt, das Rätsel der »Löwenschaft«, koste es, was es wolle, zu lösen, und lief daher, auf die Gefahr hin, das Schiff zu versäumen, noch einmal nach dem Hotel zurück.

Kapitän Kedgick saß in der Kolonnade, ein Eisgetränk auf den Knien und eine Zigarre im Mund, und rief, als er Marks ansichtig wurde:

»Was, um Gottes willen, führt Sie wieder hierher?«

»Aufrichtig gesagt, Kapitän«, keuchte Mark, »ich möchte Ihnen eine Frage stellen.«

»Fragen kann niemand verwehren«, entgegnete Kedgick, damit andeutend, daß man andererseits nicht verpflichtet sei, gestellte Fragen auch zu beantworten.

»Weshalb haben Sie so viel Wesens mit ihm gemacht?« fragte Mark schlau. »Na, sagen Sie’s mal ganz offen!«

»Unsere Bevölkerung liebt die Aufregung«, antwortete Kedgick, an seiner Zigarre saugend.

»Aber warum war sie denn aufgeregt?« forschte Mark.

Der Kapitän sah ihn mit einem Gesicht an, als habe er einen Riesenspaß auf der Zunge, wolle aber nicht recht mit der Sprache heraus.

»Sie wollten doch abreisen?«

»Wollten?« rief Mark. »Jede Sekunde ist kostbar für mich.«

»Na, dann hören Sie. Also, Mr. Chuzzlewit ist nicht wie die Emigranten im allgemeinen und hat die Leute seit seinem Hiersein ununterbrochen in Spannung erhalten –« der Kapitän blinzelte und brach in ein ersticktes Lachen aus »– jawohl, seit seinem Hiersein. – Scadder ist ein famoser Bursche und – und – niemand, der nach Eden geht, kommt lebendig wieder zurück.«

Der Dampferhalteplatz war ganz in der Nähe, und in diesem Augenblick hörte Mark seinen Associé rufen, er solle sich beeilen oder der Dampfer fahre ab. Es war daher zu spät, ein böses Gesicht zu machen oder die Sache noch zu ändern zu versuchen. Er gab daher dem Kapitän seinen Segen zum Abschied und raste davon wie ein Besessener. »Mark, Mark!« rief Martin.

»Da bin ich, Sir«, schrie Mark vom Rande des Kais herab und sprang mit einem Satz an Bord. »In meinem Leben war ich noch nicht halb so vergnügt wie gerade vorhin. Alles in Ordnung. Los!«

Dann sprühten die Funken aus den zwei Rauchfängen, als wäre das Fahrzeug ein eben erst angezündetes Feuerwerk, und dahin brausten sie auf dem dunkeln Gewässer.

23. Kapitel


23. Kapitel

Martin und sein Kompagnon treten ihren Besitz an. Dieser erfreuliche Anlaß gibt Gelegenheit zu einem weiteren Bericht über Eden

Martin bemerkte an Bord des Dampfschiffs einige Passagiere ganz desselben Schlages wie sein New Yorker Freund, Mr. Bevan, und das machte ihn bald wieder heiter und zuversichtlich. Die Herren befreiten ihn, so gut es eben gehen wollte, aus den intellektuellen Schlingen Mrs. Hominys und bewiesen in ihrem ganzen Reden und Tun so viel gesunden Menschenverstand und Hochherzigkeit, daß er sie gar nicht genug schätzen zu können glaubte.

»Wäre Amerika wirklich eine Republik der Intelligenz und des wahren Menschenwertes«, sagte er, »während sie nur blauen Dunst und Prellerei hervorbringt, so würde es hier nicht an Hebeln fehlen, die Staatsmaschine in Bewegung zu erhalten.«

»Aber gute Werkzeuge haben und schlechte gebrauchen«, entgegnete Mr. Tapley, »heißt das nicht ein erbärmlicher Zimmermann sein?«

Martin nickte: »Es scheint, als ob die Last der Arbeit ihre Zwecke und Kräfte unendlich übersteigt, und deshalb pfuschen sie.«

»Das schönste bei der Sache ist«, meinte Mark, »daß, wenn sie wirklich einmal etwas Anständiges ausführen, so wie bessere Arbeiter, die weniger vom Glück begünstigt sind, es täglich tun, ohne es für etwas Besonderes anzusehen, sie immer ein riesiges Aufhebens davon machen. Denken Sie an meine Worte, Sir! Wenn jemals der bankerotte Teil dieses Landes seine Schulden zahlen sollte – wenn er schließlich merkt, daß das Nichtbezahlen nicht angeht und unangenehme Folgen hat –, so werden sie so das Maul vollnehmen, als ob seit Erschaffung der Welt noch nie ein geborgter Dollar zurückgezahlt worden wäre. So belügen sie einander, Sir. Ich durchschaue die Burschen. Denken Sie an meine Worte, Sir.«

»Wahrhaftig, Sie sind ja schrecklich scharfsinnig auf einmal«, lachte Martin.

»Vielleicht kommt es daher«, brummte Mark, »daß ich eine Tagesreise näher an Eden bin und die Erleuchtung über mich kommt, ehe ich sterbe. Wer weiß, vielleicht werde ich gar ein Prophet, ehe wir noch in Eden sind.«

Er sprach diese Gedanken zwar nicht aus, aber die außerordentliche Fröhlichkeit, die sie in ihm hervorriefen, sagte genug. Obwohl Martin zuweilen tat, als habe er kein Verständnis für den unerschöpflich heitern Sinn seines Kompagnons, und manchmal – wie in dem Falle bei Mr. Zephania Scadder – seine Kommentare zu allem und jedem etwas gar zu spaßhaft fand, so war er doch immer empfänglich für die belebende und aufmunternde Wirkung des Beispiels, das ihm Mark Tapley gab.

Anfangs wurden ziemlich viel Reisende ein- oder zweimal des Tages an Land gesetzt und andere kamen dafür an Bord, aber je weiter sie stromauf fuhren, desto dünner schienen die Städte gesät zu sein, und oft dauerte es viele Stunden, ohne daß sie andere Ansiedlungen zu Gesicht bekamen als die Hütten der Holzfäller, an denen der Dampfer Brennmaterial einnahm. – Himmel, Wald und Wasser den ganzen lieben Tag lang und eine Hitze, die Blasen zog, wohin die Strahlen der Sonne fielen.

So ging es fort durch große Einöden, wo Buschwerk dicht und eng das Ufer bedeckte, Bäume in der Strömung trieben, aus der Tiefe ihre verdorrten Arme in die Höhe reckend oder vom Lande aus in das Wasserbett niedertauchten, halb noch wachsend, halb im schlammigen Wasser modernd. Fort und fort in ewiger Eintönigkeit, den ganzen Tag und die traurige Nacht, in der sengenden Sonnenglut und im Dunst und Nebel des Abends – immer weiter und weiter, bis ein Umkehren unmöglich war und ein Wiedersehen der Heimat nur noch wie ein Traum erschien.

Es waren schließlich nur noch wenige Passagiere mehr an Bord und diese so stumpfsinnig und träge wie die Vegetation der Ufer mit ihrem qualvoll ermüdenden Anblick. Keine Äußerung des Frohsinns oder der Hoffnung wurde laut, und kein angenehmes Geplauder verkürzte den trägen Lauf der Stunden. Und nirgends bildeten sich die kleinen Gruppen, wie es sonst auf Reisen der Fall zu sein pflegt, um durch Gespräche gegen die Öde der Landschaft anzukämpfen. Hätte man nicht zu gewissen Stunden aus einem gemeinschaftlichen Troge seine Nahrung verschlungen, so hätte man denken müssen, das Dampfschiff sei die Fähre des alten Charon, der melancholische Schatten zum jüngsten Gerichte führt.

Endlich kamen sie in die Nähe von Neu-Thermopylae, wo noch am selben Abend Mrs. Hominy an Land gehen wollte. Ein Strahl des Trostes senkte sich in Martins Herz, als sie ihm dies eröffnete. Mark war weniger trostbedürftig, aber auch ihm mißfiel diese Veränderung nicht.

Es war fast Nacht, als sie an dem Landungsplatz anlegten – steiles Gestade und darauf ein »Hotel«, das wie eine Scheune aussah, ein oder zwei hölzerne Magazine und einige zerstreut umherstehende Schuppen.

»Sie wollen wohl hier übernachten und dann morgen weiterreisen, Madame?« fragte Martin.

»Wohin sollte ich denn weiterfahren?« rief die Mutter der modernen Gracchen.

»Ich denke, doch nach Neu-Thermopylae?«

»Aber, das ist doch hier!«

Martin sah sich neugierig um, konnte jedoch nichts entdecken, was den Namen Neu-Thermopylae auch nur halbwegs verdient hätte.

»Aber da liegt es doch!« rief Mrs. Hominy und deutete auf den eben erwähnten Schuppen.

»Da?«

»Jawohl. Und man kann sagen, was man will, Eden läßt sich nicht damit vergleichen«, sagte Mrs. Hominy und nickte ausdrucksvoll mit dem Kopfe. Inzwischen war die verheiratete Tochter Mrs. Hominys an Bord gekommen, und ihr Gatte bestätigte stolz die Behauptungen seiner Schwiegermutter. Dankend lehnte Martin die Einladung der Herrschaften ab, für die halbe Stunde, während der das Boot anhielt, an Land zu gehen und dort etwas zu genießen; und nachdem er Mrs. Hominy und das rote Taschentuch, das immer noch in Tätigkeit war, glücklich über die Fallreepstreppe begleitet hatte, kehrte er in höchst nachdenklicher Stimmung zurück, um den Auswandrern zuzusehen, wie sie ihre Habe ausschifften.

Mark stand neben ihm und trachtete zuweilen verstohlen in seinen Zügen zu lesen, welchen Eindruck wohl die Worte Mrs. Hominys auf ihn gemacht haben mochten. Es wäre ihm lieb gewesen, Martins Hoffnungen herabgestimmt zu sehen, bevor sie ihren Bestimmungsort erreichten, damit der Schlag, den er befürchtete, nicht zu vernichtend ausfiele, aber Martin blickte nur dann und wann nach den ärmlichen Bauten auf dem Hügel und verriet mit keiner Miene, was in seinem Innern vorging, bis sie wieder weiterfuhren.

»Mark«, sagte er dann, »ist wirklich niemand außer uns an Bord, der mit nach Eden fährt?« »Keine Seele, Sir. Sie wissen doch, daß die meisten zurückgeblieben sind; die wenigen, die noch da sind, gehen weiter als nach Eden. Was liegt übrigens daran. Um so mehr Platz werden wir dort haben.«

»Freilich«, sagte Martin, »aber ich dachte – –« dann verstummte er plötzlich.

»Nun, Sir?« fragte Mark.

»Ist es nicht merkwürdig, daß die Leute ihr Glück in einem so elenden Nest wie diesem hier zum Beispiel versuchen wollen, während doch ein so viel besserer und ganz anderer Ort wie Eden von hier aus so leicht zu erreichen ist?«

Der Ton, in dem er dies sagte, war so verschieden von seiner gewöhnlichen Zuversicht und verriet so auffallend seine Furcht vor Marks Antwort, daß dieser in seiner Gutmütigkeit das tiefste Mitleid mit ihm empfand.

»Nun, wissen Sie, Sir«, sagte Mark so sanft und schonungsvoll wie möglich; »wir müssen uns hüten, nicht allzu sanguinisch zu sein; weshalb sollten wir es denn auch, da wir doch entschlossen sind, zum bösesten Spiele die beste Miene zu machen. Nicht wahr, Sir?«

Martin blickte ihn an, ohne eine Silbe zu erwidern.

»Auch Eden, wie Sie wissen, ist ja noch nicht vollständig aufgebaut.«

»Um Himmels willen, Mensch«, rief Martin zornig, »so nennen Sie doch nicht immer Eden in ein und demselben Atem mit diesem Dorfe hier. Sind Sie toll?! Übrigens seien Sie mir nicht böse, daß ich so aufbrause, ich bin ein wenig nervös.«

Damit wandte er sich ab und ging volle zwei Stunden unruhig auf dem Deck auf und ab. Auch sprach er, ein einziges »Gute Nacht« ausgenommen, kein Wort weiter bis zum nächsten Morgen, vermied auch dann noch das Thema geflissentlich und redete von andern, gleichgültigen Dingen.

Als sie weiterkamen und sich mehr und mehr dem Ziele ihrer Reise näherten, steigerte sich die einförmige Öde der Landschaft, die jetzt geradezu trostlos wurde, in so hohem Grade, daß man hätte meinen können, man sähe leibhaftig die grausen Domänen des Riesen Verzweiflung vor sich. Ein flacher Morast, mit gefällten Bäumen bedeckt, ein Moorboden, auf dem gesundes Wachstum einem abscheulichen Moder Platz gemacht hatte und sogar die Bäume das Aussehen riesiger Kräuter zu haben schienen, durch die herniedersengende Sonne aus dem Schlamme hervorgelockt. Wo todbringende Krankheiten auf der Lauer lagen, die Lebewesen zu vergiften, nächtlicherweise in Nebelgestalten hervorkommend, auf dem Wasser weiterkriechend und gespenstisch ihr Opfer verfolgend bis zum Tagesanbruch – wo sogar der helle Sonnenstrahl zum Schrecken wurde, wie er auf die modernden Elemente der Verderbnis und des Siechtums niederbrannte: das war das Land der Hoffnung, durch das sie jetzt vordrangen.

Endlich machten sie halt, und zwar in Eden. Wahrscheinlich waren die Wasser der Sintflut eben erst vor einer Woche abgelaufen, so erstickt von Schlamm und Dschungel war der abscheuliche Sumpf, der diesen Namen trug.

Da das Ufer in eine Sandbank auslief, mußten sie vermittelst eines Bootes ihre Habe an Land bringen. Einige Blockhäuser wurden zwischen den dunklen Bäumen sichtbar. Die besten sahen aus wie ein schlechter Kuh- oder Pferdestall. Von öffentlichen Kais, Marktplätzen, Gebäuden und so weiter – keine Spur.

»Da kommt jemand aus Eden«, rief Mark, »er kann uns unsere Sachen fortschaffen helfen. – Kopf hoch, Sir! – Hallo, Sie da!«

Sofort wankte der Mann, auf einem Stock gestützt, durch die Dunkelheit auf sie zu. Als sie näher kamen, bemerkten sie, daß er blaß und abgezehrt aussah und daß seine kummervollen Augen tief in ihren Höhlen lagen. Sein Anzug aus blauer Hausleinwand hing in Fetzen, und sein Kopf und seine Füße waren nackt. Auf dem halben Wege setzte er sich auf einen Baumstumpf, winkte ihnen heranzukommen, die Hand an die Seite gelegt, wie vor Schmerzen, holte tief Atem und starrte sie verwundert an.

»Fremde?« rief er, sobald er wieder sprechen konnte.

»Ja«, antwortete Mark. »Sind Sie krank, Sir?«

»Ich habe am Fieber darniedergelegen«, antwortete der Mann mit schwacher Stimme. »Ich habe viele Wochen lang nicht auf den Beinen stehen können. – Das sind wohl Ihre Sachen hier?«

Dabei deutete er auf das Gepäck.

»Ja, Sir, so ist’s«, versetzte Mark; »könnten sie uns nicht vielleicht jemanden empfehlen, der uns ein bißchen hülfe, es nach der Stadt hinaufzuschaffen? Wie?«

»Mein ältester Sohn würde es gerne tun, wenn er könnte«, entgegnete der Mann; »aber er hat heute wieder seinen Fieberanfall und liegt in Decken eingehüllt in seinem Bett. – Mein Jüngster starb vor einer Woche.«

»Ich bedaure Sie von ganzem Herzen, Sie Ärmster«, sagte Mark und drückte ihm die Hand; »kümmern Sie sich nicht um uns. Kommen Sie mit mir und reichen Sie mir den Arm. Ich werde Sie zurückführen. Unser Gepäck liegt sicher genug«, fügte er zu Martin gewendet hinzu; »es gibt hier nicht viele Menschen, die sich damit aus dem Staube machen könnten; das ist wenigstens ein Trost.«

»Nein«, rief der Mann, »die Menschen müßt ihr hier« – dabei stieß er mit dem Stock auf den Boden – »und dort im Gebüsch weiter nördlich suchen. Wir haben die meisten von ihnen begraben; die übrigen sind fortgezogen, und die noch hier sind, kommen bei Nacht nicht aus ihren Hütten.«

»Die Nachtluft ist wohl nicht sehr gesund?« fragte Mark.

»Sie ist ein tödliches Gift«, lautete die Antwort des Ansiedlers.

Mark verriet nicht mehr Unruhe, wie wenn sie ihm als Ambrosia geschildert worden wäre, reichte dem Manne seinen Arm, teilte ihm unterwegs die Geschichte ihres Kaufes mit und befragte ihn, wo ihr Besitztum liege.

»Dicht neben meinem eigenen Blockhaus«, sagte der Mann, »so dicht, daß wir Ihre Wohnung bisher als Vorratshaus für Welschkorn benützt haben.« Dann bat er Mark, sich noch diese Nacht zu gedulden. Morgen werde er es sich angelegen sein lassen, die Vorräte herauszuschaffen. Als etwas ganz Nebensächliches bemerkte er dabei, daß er den letzten Eigentümer eigenhändig begraben habe; eine Kunde, die Mark ebenfalls ohne die mindeste Erschütterung seines Gleichmutes hinnahm.

Sodann führte er Mark und Martin nach einem erbärmlichen, aus rohen Holzstämmen zusammengefügten Hause oder vielmehr einer Hütte, deren Türe ausgehoben war – vermutlich, um die Aussicht auf die wilde Landschaft und in die dunkle Nacht hinein zu erweitern. Mit Ausnahme des erwähnten kleinen Maisvorrates befand sich nichts darin. Sie holten daher eine ihrer Kisten vom Landungsplatz, und der Ansiedler lieh ihnen dazu eine Holzfackel. Mark befestigte sie auf dem Herde, erklärte, das Haus sehe jetzt ungemein gemütlich aus, und eilte dann mit Martin fort, um das Gepäck herbeischaffen zu helfen. Auf dem ganzen Hin- und Herwege plauderte er unablässig, um zu verhindern, daß sein Kompagnon ganz und gar in seiner Verzweiflung den Kopf verliere.

Aber wohl auch ein Kräftigerer als Martin wäre bei der so grausamen Zerstörung seines Luftschlosses niedergebrochen, und als sie die Blockhütte zum zweitenmal erreichten, warf er sich auf die Erde nieder und weinte laut.

»Kopf hoch, Sir, um Gottes willen, Kopf hoch!« rief Mr. Tapley in großem Schrecken. »Sie dürfen nicht so entmutigt sein. Nur nicht gleich die Flinte ins Korn werfen! Damit hat sich noch nie ein Mann, ein Weib oder ein Kind auch nur über den niedrigsten Zaun geholfen, Sir, und wird es auch niemals imstande sein. Und abgesehen davon, daß Ihr Weinen Ihnen nichts hilft, so macht es die Sache nur schlimmer, denn ich kann so etwas nicht mitansehen. Es wirft mich zu Boden. Alles, alles, nur das nicht!«

Zweifellos sprach er die Wahrheit, und der außerordentliche Schrecken, mit dem er Martin ansah, dabei auf den Knien vor der Kiste liegend, um sie aufzubrechen, bewies es hinlänglich.

»Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, lieber Freund«, jammerte Martin, »aber ich kann nicht anders. Und wenn man mir den Kopf herunterschlüge.«

»Mich um Verzeihung bitten?« rief Mark mit seiner gewohnten Heiterkeit und fuhr dabei fort, die Kiste auszupacken; »der Hauptassocié der Firma bittet die Kompagnie um Vergebung! Wie? Da muß etwas faul sein in der Firma. Ich muß auf der Stelle die Bücher nachsehen und die Rechnungen prüfen lassen. – So, da wären wir«, damit packte er die mitgebrachten Vorräte aus, »und jetzt alles an seinen richtigen Platz: hier das eingesalzene Schweinefleisch, hier der Zwieback, hier der Whisky – wie fein der riecht! – Und hier die Zinnkanne. Die Zinnkanne allein ist schon ein kleines Vermögen wert. Und hier die Decken und hier die Axt! Da soll einer noch sagen, daß wir nicht fein ausgestattet sind. Mir kommt’s fast so vor, als sei ich als Seekadett nach Indien gereist und mein edler Vater Präsident des Direktoren-Kollegiums. Nun, wenn ich noch etwas Wasser aus dem Fluß vor der Türe geholt und den Grog gemischt habe«, rief er und eilte hinaus, »so haben wir ein Abendessen fertig, das alle Delikatessen der Jahreszeit umfaßt. – So, Sir, und jetzt wird aufgedeckt. Ein Zigeunerlager ist ein Quark dagegen.«

Es wäre unmöglich gewesen, in der Gesellschaft eines solchen Menschen nicht Mut zu fassen. Martin setzte sich neben den Koffer auf den Boden, zog sein Messer heraus und aß und trank, was das Zeug hielt.

»Nun, sehen Sie«, sagte Mark, nachdem Sie ihrem Mundvorrat kräftig zugesprochen hatten, »mit unsern beiden Messern stecke ich diese Decke hier vor der Türe fest oder vielmehr dort, wo zivilisierte Zimmerleute das Loch zu lassen pflegen. Wie nett das jetzt aussieht! Dann verstopfe ich die Öffnung unten, indem ich die Kiste davorstelle. Auch das macht sich nicht übel. – So. – Und hier ist Ihre Schlafdecke und hier die meinige. Was kann uns jetzt hindern, eine famose Nacht zu verbringen?«

Trotz aller dieser leichtherzigen Reden dauerte es doch ziemlich lange, bevor er einschlief. Er wickelte seine Decke um sich, legte sich die Axt zur Hand und suchte sein Lager quer vor der Schwelle der Türe, war aber zu ängstlich und zu wachsam, um ein Auge schließen zu können. Das Ungewohnte ihrer traurigen Lage, die Furcht vor Raubtieren oder menschlichen Feinden, die schreckliche Ungewißheit, wie sie weiterhin an einem solchen Orte ihre Leben würden fristen können – der Gedanke an die immense Entfernung bis zu zivilisierten Orten und die ungeheueren Hindernisse, die sich vor ihnen auftürmen mußten, wenn sie daran dachten, England je wieder zu erreichen, mußten ihn notwendigerweise aufs höchste beunruhigen. Zwar stellte sich Martin schlafend, aber Mark fühlte ganz genau, daß er gleichfalls wachte und eine Beute derselben quälenden Befürchtungen war. Und das war fast schlimmer für ihn als alles andere, denn wenn er selbst anfing, sich dem Brüten über das gemeinsame Elend zu überlassen, statt den Versuch zu machen, dagegen anzukämpfen, so unterlag es wohl kaum einem Zweifel, daß eine derartige Gemütsstimmung den Einfluß der verpestenden Miasmen mächtig unterstützen mußte. Nie war daher der Tagesanbruch einem menschlichen Auge auch nur halb so willkommen wie ihm beim Erwachen nach qualvollem Schlummer. Er merkte den Sonnenaufgang daran, daß die Ritzen im Dach und die Lücken, die die Decke an der Türe freiließ, zu schimmern begannen.

Leise – da Martin noch schlief – schlich er hinaus, erquickte sich durch ein Bad in dem Fluß, der an der Türe vorbeiströmte, und warf einen Blick auf die Ansiedlung, die im Ganzen aus nicht mehr als zwanzig Hütten bestand, die Hälfte davon augenscheinlich unbewohnt, alle aber morsch und dem Verfalle nahe. Die schlechteste und elendeste darunter hieß das »Bankbureau des National-Kredit-Vereins«; und nur noch einige schwache Stützen hinderten das Gebäude, gänzlich im Schlamm zu versinken. Hie und da war augenscheinlich der Versuch gemacht worden, das Land zu lichten; – auch hatte man eine Art Feld abgesteckt, auf dem unter den Stümpfen und der Asche verbrannter Bäume eine spärliche Ernte von Welschkorn wuchs. An anderen Stellen war eine schlangenförmige oder zickzackartige Verzäunung angefangen worden, nirgends aber bis zur völligen Ausführung gediehen; und die umgefallenen Holzpflöcke verfaulten jetzt halb im Boden steckend. Drei oder vier abgezehrte Hunde, einige langbeinige Schweine, in den Lichtungen nach Nahrung suchend, und ein paar fast nackte Kinder, die aus den Hütten blickten – das waren so ungefähr die einzigen lebenden Wesen, deren er ansichtig wurde. Ein häßlicher Dunst, heiß und erstickend wie die Luft eines Backofens, stieg aus der Erde empor und lagerte sich über die ganze Umgegend; und wo der Fuß im Moorboden einsank, da drang eine schwarze Jauche empor, um die Spur wieder auszutilgen.

Ihr gemeinsamer Besitz bestand nur aus Urwald. Die Bäume waren so dick und standen so nahe beieinander, daß sie sich gegenseitig fast von ihren Plätzen verdrängten und die schwächsten, in seltsam verdrehte Formen gezwängt, wie Krüppel dahinsiechten. Aber auch die besten unter ihnen waren durch den Druck und den Mangel an Raum krank und verkümmert. Hoch um die Stämme herum wuchsen langes, wucherndes Gras, Unkraut und muffiges vermodertes Unterholz wie eine einzige verfilzte Masse, weder in der Erde noch im Wasser wurzelnd, sondern in einer fauligen Masse, die sich aus dem breiigen Abfall dieser beiden Elemente und ihrem eigenen Moder gebildet hatte.

Mark eilte zum Landungsplatz hinunter, wo sie gestern abend ihre Habe hatten stehen lassen, und fand dort ein halbes Dutzend Leute versammelt; alle bleich und elend, aber doch gerne zur Hilfe bereit und erbötig, ihm das Gepäck nach dem Blockhause tragen zu helfen. Sie schüttelten die Köpfe, als er von einer »Ansiedlung« sprach, und konnten ihm auch nicht einen Schimmer von Hoffnung oder Trost geben. Wenn einer noch die Mittel besessen, um wegzufahren, so hatte er alles im Stiche gelassen. Den armen Zurückgebliebenen waren ihre Weiber, Kinder, Freunde oder Brüder gestorben, und sie selbst hatten viel gelitten. Die Mehrzahl von ihnen lag ununterbrochen krank, trotzdem sie früher kerngesund gewesen.

Freiwillig boten sie Mark ihren Rat und Beistand an und entfernten sich dann, um an ihre eigenen Geschäfte zu gehen.

Inzwischen war Martin aufgestanden. Schon eine einzige Nacht hatte eine große Veränderung in ihm hervorgebracht: er sah blaß und erschöpft aus, klagte über Schmerzen und Schwäche in den Gliedern und sagte, daß ihn schon das Sprechen angreife. Um so mehr nahm Mark seine ganze Munterkeit und Tatkraft zusammen, schleppte eine Türe von einer der verlassenen Hütten herbei und nagelte sie an ihr eigenes Blockhaus. Dann ging er fort, um eine grobgeschnitzte Bank zu holen, die ihm ins Auge gefallen war, und kehrte im Triumph mit ihr zurück. Und nachdem er dieses herrliche Möbel draußen neben den Eingang gestellt hatte, pflanzte er die unschätzbare Zinnkanne und anderes Gerät darauf, so daß sie eine Art Anrichtetisch repräsentierte. Höchst zufrieden mit dieser getroffenen Einrichtung, rollte er das mitgebrachte Mehlfaß ins Haus und stellte es in einem Winkel als Ecktisch auf. Als Speisetisch mußte eine Kiste dienen. Die Decken, die Kleider usw. hängte er an Pflöcke und Nägel, und schließlich brachte er ein großes Plakat zum Vorschein, das Martin im Jubel seines Herzens eigenhändig im National-Hotel angefertigt hatte und das die Inschrift trug: Chuzzlewit & Comp., Architekt und Landvermesser, und klebte es höchst ernsthaft an die Fassade des Blockhauses, als ob die blühende Stadt Eden bereits existiere und die Firma mit Geschäften überlaufen sei.

»Diese Instrumente«, sagte er, entnahm Martins Reißzeug einen Zirkel und steckte ihn mit den beiden Spitzen in die Türe, »sollen hier vor aller Augen prangen, damit die Leute sehen, wie wir ausgerüstet sind. So. – Und wenn jetzt ein Gentleman ein Haus zu bauen gedenkt, so möge er sich beeilen, bevor wir anderweitig vergeben sind.«

In Anbetracht der herrschenden intensiven Hitze war dies keine schlechte Morgenarbeit gewesen, aber, ohne sich auch nur einen Augenblick Ruhe zu gönnen, trotzdem ihm der Schweiß aus jeder Pore rann, verschwand Mark wieder im Hause und kam gleich darauf mit einem Beil heraus. »Da steht ein häßlicher alter Baum im Wege, Sir«, bemerkte er, »wie wär’s, wenn wir ihn beseitigten und dann nachmittags an das Ofenbauen gingen? Was den Lehm in Eden anbelangt, glaube ich, könnt es keinen bessern in der ganzen Welt geben. – Jedenfalls ein Vorteil.«

Martin gab keine Antwort. Die ganze Zeit über saß er, den Kopf auf die Hand gestützt, da und starrte auf den rasch vorüberströmenden Fluß, und selbst der Schall der kräftigen Streiche, die Mark gegen den Baum führte, vermochte ihn nicht aus seinem kummervollen Brüten zu wecken.

Als Mark sah, daß alle seine Bemühungen, seinen Freund aufzumuntern, nutzlos blieben, hielt er in seiner Arbeit inne und trat auf ihn zu.

»Verlieren Sie den Mut nicht, Sir!« ermahnte er.

»Ach, Mark«, jammerte Martin, »was habe ich nur verbrochen, daß dieses schwere Los mir jetzt zuteil wird?«

»Ach, Sir, was das betrifft«, bemerkte Mark, »so könnten ja alle, die hier sind, dasselbe sagen. Viele vielleicht noch mit größerem Recht als Sie oder ich. – Kopf hoch, Sir. Am besten, Sie legen mit Hand an. Was meinen Sie, würde es Ihnen nicht vielleicht eine gewisse Erleichterung verschaffen, wenn Sie an Scadder einen groben Brief schrieben? – Wie?«

»Nein, nein«, sagte Martin und schüttelte kläglich den Kopf, »über das bin ich hinaus.«

»Nun, wenn Sie über das bereits hinaus sind«, entgegnete Mark, »müssen Sie krank sein und bedürfen der Pflege.«

»Kümmern Sie sich nicht um mich«, ächzte Martin. »Sorgen Sie nur für sich; Sie werden sowieso sehr bald nur noch an sich selbst zu denken haben. – Und dann helfe Ihnen Gott nach Hause und verzeihe mir, daß ich Sie hierher gelockt habe. Mein Los wird sein, hier zu sterben. Ich habe es in dem Augenblick gefühlt, als ich meinen Fuß an dieses Ufer setzte. Im Schlafen und im Wachen, Mark, habe ich die ganze Nacht davon geträumt.«

»Ich vermutete gleich, Sie müßten krank sein«, versetzte Mark mit Wärme, »aber jetzt bin ich davon überzeugt. Wahrscheinlich ein kleiner Fieberanfall, wie ihn die Wasserausdünstungen hier zur Folge haben. Aber, Gott, was will das weiter heißen. Es ist so eine Art Akklimatationsprozeß. Wir alle müssen uns daran einmal gewöhnen; das hat weiter nichts zu sagen.«

Martin seufzte nur und schüttelte den Kopf.

»Warten Sie noch eine halbe Minute«, tröstete Mark, »bis ich zu einem unserer Nachbarn gelaufen bin und gefragt habe, was man am besten dagegen einnehmen kann. Ich lasse mir dann ein bißchen von der Arznei geben, und Sie nehmen sie ein, und morgen werden Sie wieder so kräftig sein wie je. Ich bleibe keine Minute aus. Nur den Mut nicht verloren, während ich weg bin! Es wird alles wieder gut werden.«

Damit warf er sein Beil hin und eilte davon. In einiger Entfernung blieb er wieder stehen und blickte zurück. Dann nahm er seinen Lauf wieder auf.

»Nun, Mr. Tapley«, sagte er und gab sich einen fürchterlichen Schlag auf die Brust, um seinen Mut wieder zu beleben; »jetzt höre, was ich dir zu sagen habe. Die Dinge stehen so schlimm wie nur möglich, junger Mann; und so bald wirst du in deinem Leben wohl keine so günstige Gelegenheit wieder finden, deinen Humor zu beweisen, mein Junge. Darum Mark Tapley, jetzt oder nie!«

24. Kapitel


24. Kapitel

Wie sich gewisse Liebesangelegenheiten weiter entwickelten. – Haß, Eifersucht und Rache

»Hallo! Mr. Pecksniff«, rief Mr. Jonas aus dem Wohnzimmer, »wann wird denn endlich jemand hinausgehen und die Haustüre aufmachen?«

»Sogleich, Mr. Jonas, sogleich.«

»Mordselement«, brummte der verwaiste junge Mann. »Ich dächte, es wäre schon höchste Zeit. Jetzt ist schon dreimal geklopft worden, und jedesmal laut genug, um die –« er hatte eine solche Scheu vor dem Gedanken an die Auferweckung der Toten, daß ihm die Worte in der Kehle stecken blieben und er den Satz beendete; »– um die elftausend schlafenden Jungfrauen zu erwecken.« »Sogleich, Mr. Jonas, sogleich«, wiederholte Pecksniff. »Thomas« – er wußte nicht, sollte er Tom seinen lieben Freund oder einen Spitzbuben nennen, und schüttelte daher bloß die geballte Faust gegen ihn – »gehen Sie hinauf zu meinen Töchtern und sagen Sie ihnen, wer da ist. Sagen Sie ihnen, sie sollen sofort still sein. Hören Sie, Sir?«

»Sogleich, Sir«, rief Tom und eilte bestürzt fort, um seine Botschaft auszurichten.

»Sie müssen mich – ha ha ha! – entschuldigen, Mr. Jonas, wenn ich die Türe hier ein wenig schließe, wie?« sagte Pecksniff. »Ich glaube, es kommt jemand in Geschäftsangelegenheiten; das heißt, ich weiß sogar gewiß, daß es so ist. Ich danke Ihnen.« Dann trillerte er fröhlich ein ländliches Lied, setzte seinen Gartenhut auf, nahm einen Spaten in die Hand und öffnete die Haustüre, unbefangen auf die Schwelle tretend, als habe er das dunkle Gefühl, von seinen »Weinbergen« aus jemanden sachte klopfen gehört zu haben. Als er einen Gentleman und eine Dame vor sich sah, fuhr er verwirrt zurück, wie ein rechtschaffener Mann mit einem kristallklaren Gewissen beim Anblick einer ganz unerwarteten Erscheinung. Im nächsten Augenblick faßte er sich jedoch und rief:

»Mr. Chuzzlewit! Was sehe ich! Mein höchst wertgeschätzter Herr, o mein lieber Herr, das ist ja eine frohe Stunde. Eine glückliche Stunde. In der Tat! Bitte, treten Sie doch ein. Sie finden mich in meinem Gartenrock, aber Sie werden mich entschuldigen, ich weiß. Eine edle Beschäftigung von alters her, der Gartenbau. Wenn ich nicht irre, mein wertgeschätzter Herr, war Adam der erste Gärtner. Meine Eva, ich sage es mit Schmerz, ist nicht mehr, Sir. Aber« – er zeigte auf den Spaten und schüttelte den Kopf, als halte er nur mühsam seine Tränen zurück – »ich spiele immer noch ein klein wenig den Adam.«

Mittlerweile hatte er seine Gäste in das beste Wohnzimmer geleitet, wo seine Büste von Spoker und sein Porträt von Spiller hing.

»Meine Töchter«, säuselte er, »werden außer sich sein vor Freude. – Wenn ich ein solches Thema je satt bekommen könnte, so wäre es schon längst der Fall gewesen, mein werter Herr, so ununterbrochen haben die Mädchen von dem Glück, das jetzt eingetroffen ist, seit unserem Zusammentreffen bei Mrs. Todgers gesprochen. Und Ihre schöne junge Freundin«, fragte er, mit einem Blick auf Mr. Chuzzlewits Begleiterin, »die sie so lebhaft kennenzulernen wünschen – freilich, sie kennenlernen und lieben ist eins –, befindet sich doch hoffentlich wohl? – Und wenn ich sage: Willkommen unter meinem geringen Dache, so hoffe ich, finde ich ein Echo in ihrer Seele. Doch, wenn ihre Gesichtszüge ein Spiegel des Herzens sind, so habe ich keine Sorge darum. Ein außerordentlich anziehendes Antlitz, Mr. Chuzzlewit, werter Herr – ungemein anziehend.«

»Mary«, wandte sich der alte Mann an seine Begleiterin, »Mr. Pecksniff schmeichelt Ihnen. – Eine Schmeichelei von ihm ist nichts Alltägliches. Aber sie kommt ihm von Herzen. Wir dachten, Mr. – –«

»Pinch«, ergänzte Mary.

»Mr. Pinch sei vor uns angekommen, Sir?«

»Allerdings kam er vor Ihnen an, mein werter Herr«, entgegnete Mr. Pecksniff, seine Stimme erhebend, damit ihn Tom oben auf der Treppe hören könne. »Und er beabsichtigte wahrscheinlich, mir Ihre Ankunft zu melden, als ich ihn bat, zuerst in das Zimmer meiner Töchter zu gehen und nach Charitas zu fragen, weil das liebe Kind nicht so ganz wohl ist, als ich wünschen möchte. Nein – beunruhigen Sie sich nicht«, rief er als Antwort auf die besorgten Blicke seiner Gäste, »es tut mir gewiß leid, sagen zu müssen, daß sie nicht wohl ist – aber es ist nur ein nervöser Anfall, nichts weiter. Ich bin nicht in Unruhe deshalb. – – – Mr. Pinch! Thomas! Ach, bitte, kommen Sie doch herunter. Sie wissen, Sie sind kein Fremder hier. – – Thomas ist seit langer Zeit mein Freund« – erklärte er – »müssen Sie wissen.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, versetzte Tom, »es ist so gütig von Ihnen, daß Sie mich in dieser Weise vorstellen. Es ergreift mich tief.«

»Immer der alte Thomas«, rief der Architekt wohlwollend, »Gott segne Sie.«

Sodann berichtete Thomas, daß die jungen Damen sogleich erscheinen würden und die besten Erfrischungen, die das Haus bieten könne, soeben gemeinsam zubereiteten. Aufmerksam blickte ihn der alte Mr. Chuzzlewit an, und zwar mit weit weniger Härte, als er es sonst gewohnt war. Auch schien die beiderseitige Verlegenheit Toms und der jungen Dame – er konnte sich’s nicht erklären, woher sie rühren mochte – seiner Beobachtung nicht zu entgehen.

»Pecksniff«, sagte er nach einer Weile, stand auf und zog seinen Wirt in eine Fensternische, »ich war sehr erschüttert, als ich von dem Tode meines Bruders vernahm. Wir sind uns viele Jahre vollständig fremd gewesen. Mein einziger Trost ist, daß er glücklicher und als besserer Mensch gelebt haben muß, da er nur auf sich selbst baute und nicht, wie die andern, auf mich und mein Geld rechnete. Friede seiner Asche! Wir waren einstens gute Spielkameraden, und vielleicht wäre es für uns beide das beste gewesen, der Tod hätte uns schon damals ereilt.«

Da Mr. Pecksniff den alten Herrn in so versöhnlicher Stimmung sah, fing er an, einen Ausweg aus seinen Verlegenheiten zu sehen, bei dem er Jonas nicht über Bord zu werfen brauchte.

»Mein wertgeschätzter Herr, daß irgend jemand auf der Welt möglicherweise glücklicher sein kann, weil er mit Ihnen nicht in näherer Verbindung steht«, entgegnete er, »müssen Sie mir zu bezweifeln erlauben. Aber daß Mr. Anthony an seinem Lebensabend glücklich war, kann ich Ihnen versichern. Um so mehr, als er sich von seinem vortrefflichen Sohne – einem Musterbild, mein werter Herr, einem Musterbild für alle Söhne – heiß geliebt wußte. Außerdem stand er, sozusagen, unter der Obhut eines weitläufigen Verwandten, dessen guter Wille keine Grenzen kannte, wie unbedeutend auch seine Mittel sein mochten, ihm nützlich zu sein.«

»Was ist das!« rief Mr. Chuzzlewit mißtrauisch. »Sind Sie vielleicht mit einem Legat bedacht worden, Sir?«

»Ich sehe«, seufzte Mr. Pecksniff, »daß Sie mich immer noch nicht recht verstehen. – Nein, Sir, ich bin nicht mit einem Legat bedacht worden und bin stolz darauf, sagen zu können, daß es nicht so ist. Desgleichen rechne ich mir’s zur Ehre an, daß auch keines von meinen Kindern unter die Legatare gehört. Aber trotzdem, Sir, war ich Anthonys ausdrücklichem Wunsche gemäß in seinen letzten Stunden um ihn. Er verstand mich besser, Sir. Er schrieb mir in seinem letzten Brief: Ich fühle mich krank; ich fühle, daß es mit mir zu Ende geht. Bitte, kommen Sie zu mir. Und ich ging zu ihm. Ich saß neben seinem Bette, Sir, und stand neben seinem Grabe. – Allerdings geschah es auf die Gefahr hin, Sie zu verletzen, mein Herr. Aber ich tat es doch. Und wenn dieses Zugeständnis zu unserer Trennung führen und jene zarten Bande zerreißen sollte, die kürzlich zwischen uns geknüpft wurden, so kann ich es dennoch nicht in Abrede stellen. Aber ein Legatar bin ich nicht«, fügte er mit seligem Lächeln hinzu, »und rechnete auch niemals darauf. Ich wußte es von Anfang an.«

»Sein Sohn soll ein Musterbild sein?« rief der alte Mr. Chuzzlewit. »Wie können Sie mir das ins Gesicht sagen? – Auch auf meinem Bruder lastete der alte Fluch des Reichtums, dieser Wurzel allen Elends. Er schleppte diesen verderblichen Einfluß mit sich herum, wohin er ging, und steckte alles damit an, selbst seinen eigenen Herd. Sein eigenes Kind wurde dadurch zu einem gierigen Erbschaftsjäger, der jeden Tag und jede Stunde zählte, die das Leben seines Vaters vom Grabe trennten, und der dem langsamen Vorrücken der Zeit auf ihrem unheimlichen Wege fluchte.«

»Nein«, rief Mr. Pecksniff kühn, »durchaus nicht, Sir – Sie irren.«

»Aber ich habe doch gesehen, als ich das letztemal mit ihm beisammen war, welche Schatten in seinem Hause spukten«, widersprach Martin Chuzzlewit, »und habe ihn davor gewarnt. Soll ich vielleicht meinen eigenen Augen nicht glauben – ich, der ich so viele Jahre von dem gleichen Gespenste verfolgt wurde?«

»Ich stelle es in Abrede«, antwortete Mr. Pecksniff mit Wärme, »ich stelle es entschieden in Abrede. Der verwaiste junge Mann weilt jetzt in diesem Hause und sucht in einem Ortswechsel den Seelenfrieden, der so furchtbar gestört wurde. Und soll ich ihm vielleicht nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen, wo selbst der Leichenbestatter und der Sarglieferant von seinem Benehmen tief gerührt worden sind? Wo selbst die Officiers des Pompes-funèbres seines Lobes voll waren und der Arzt, der seinen Vater behandelte, nicht wußte, was er vor Gemütserregung und Rührung beginnen sollte? Da ist zum Beispiel eine Frauensperson namens Gamp, Sir – Mrs. Gamp –, die Sie selbst fragen können. Sie hat Mr. Jonas in der Zeit seiner schweren Prüfung selbst gesehen. Erkundigen Sie sich bei ihr, Sir! Sie ist eine höchst ehrenwerte Person und durchaus nicht sentimental, aber sie wird die Tatsache bestätigen. Ein paar Zeilen an Mrs. Gamp im Vogelladen, Kingsgate Street, High Holborn, London, werden gewiß umgehend und ganz in meinem Sinne beantwortet werden. Ich zweifle keinen Augenblick daran. Nehmen Sie sie in ein Kreuzverhör, mein werter Herr. Hören und sehen Sie selbst, Mr. Chuzzlewit, und dann können Sie beurteilen, ob ich recht habe oder nicht. Verzeihen Sie mir, mein wertgeschätzter Herr«, rief Mr. Pecksniff und erfaßte Martins beide Hände, »wenn ich warm werde, aber ich bin ein ehrlicher Mann und kann mit der Wahrheit nicht hinter dem Berge halten.«

Als Zeugnis dafür ließ er ein paar Tränen der Ergriffenheit aus seinem Auge niederträufeln.

Eine Sekunde lang sah ihn der alte Herr höchst erstaunt an und wiederholte dann für sich selbst: »Hier in diesem Hause?«

»Ich will ihn sehen«, rief er nach einer Pause.

»Aber doch hoffentlich nicht in Groll«, fragte Mr. Pecksniff besorgt. »Verzeihen Sie, Sir, wenn ich so spreche, aber er steht unter dem Schutz meiner armseligen Gastfreundschaft.«

»Ich habe gesagt, ich will ihn sehen«, wiederholte der alte Herr. »Wenn ich noch Groll gegen ihn hegte, würde ich gesagt haben: halten Sie ihn mir drei Schritte vom Leibe.«

»Gewiß, mein lieber Herr, gewiß, das hätten Sie gesagt. Ich weiß doch, Sie sind die Offenherzigkeit selbst. – Wenn Sie mich eine Minute entschuldigen wollen«, flötete Mr. Pecksniff und wandte sich zur Tür, »so will ich ihm dieses große Glück – nach und nach – und schonend mitteilen.«

Und tatsächlich leitete er diese Enthüllung so allmählich ein, daß eine ganze Viertelstunde verstrich, bevor er mit Mr. Jonas zurückkehrte. Mittlerweile erschienen auch die beiden jungen Damen, denn der Tisch stand zu einem Imbiß für die Reisenden bereit. Wie sehr nun auch Mr. Pecksniff in seinem Moralitätsgefühl Jonas ein pflichtgemäßes Benehmen gegenüber seinem Onkel eingeschärft und wie vollkommen Jonas bei seiner angebotenen Schlauheit ihre Wichtigkeit begriffen und aufgefaßt hatte, so war doch die Haltung des jungen Mannes, als er dem Bruder seines Vaters vorgestellt wurde, nichts weniger als männlich oder gewinnend. Es drückte sich vielmehr eine so auffallende Mischung von Trotz und Unterwürfigkeit, von Furcht und Keckheit, Hinterhältigkeit und Kriecherei in seinem ganzen Wesen aus, daß eine höchst peinliche Verlegenheitspause eintrat. Kaum hatte er seine Augen zu Mr. Martins Gesicht erhoben, so sah er auch schon wieder weg, öffnete seine Hände und schloß sie wieder verlegen zur Faust, trat von einem Fuß auf den andern, kurz, wußte nicht, was er sagen solle.

»Lieber Neffe«, begann der alte Herr, »wie ich höre, sind Sie ein höchst pflichtgetreuer Sohn gewesen.«

»Ich glaube, nicht pflichtgetreuer, als Söhne im allgemeinen sind«, brummte Jonas, blickte einen Moment auf und schlug dann die Augen wieder nieder. »Ich rühme mich nicht, besser zu sein als andere Söhne, kann aber auch andererseits sagen, daß ich nicht schlechter bin.«

»Sie seien ein vorbildliches Muster gewesen, hat man mir versichert«, fuhr der alte Herr fort und faßte Mr. Pecksniff scharf ins Auge.

»Mordselement«, rief Jonas, sah einen Moment auf und schlug dann abermals die Augen nieder. »Ein so guter Sohn, wie Sie ein Bruder waren, bin ich immer noch gewesen. Es ist die alte Geschichte vom Topf und vom Deckel, wenn Sie wollen.«

»Das Übermaß des Schmerzes hat Sie verbittert«, sagte Martin nach einer Pause, »geben Sie mir die Hand.«

Jonas tat es und schien aufzuatmen.

»Pecksniff«, flüsterte er, als sie ihre Stühle an den Tisch rückten, »ich hab ihm gut die Meinung gesagt, was? Der täte auch besser, vor seiner eigenen Türe zu kehren.«

Mr. Pecksniff antwortete bloß durch einen Stoß mit dem Ellbogen, was ebensogut ein unwilliger Verweis wie eine herzliche Zustimmung sein konnte; jedenfalls war es aber eine nachdrückliche Ermahnung an seinen künftigen Schwiegersohn, den Mund zu halten. Im nächsten Augenblick widmete er sich mit seiner gewohnten Leichtigkeit und Liebenswürdigkeit ganz seiner Pflicht als Herr vom Hause, seinen Gästen die Honneurs zu machen.

Aber nicht einmal seine arglose Heiterkeit brachte es zustande, eine solche Gesellschaft harmonisch zu stimmen, oder so gänzlich verschiedene Elemente, wie sie hier beisammen saßen, miteinander zu versöhnen. Die bodenlose Eifersucht und der Haß, den die Brautwerbung an diesem Abend entfacht, waren nicht so leicht auszurotten und brachen mehr als einmal mit solchem Nachdruck hervor, daß sekundenlang eine vollständige Enthüllung aller Umstände fast unvermeidlich schien, zumal die schöne Gratia, in dem Wonnegefühl, Siegerin geblieben zu sein, das Gefühl bitterer Enttäuschung in ihrer Schwester durch spöttisches Gesichterschneiden immer wieder aufstachelte und tausend kleine Versuche machte, Mr. Jonas‘ Treue auf die Probe zu stellen, so daß Charitas fast wahnsinnig wurde und schließlich in einem Ausbruch von Leidenschaft – kaum weniger heftig als im ersten Sturm ihres Zornes – den Tisch verlassen mußte. Der Zwang, der der Familie durch Mary Grahams Gegenwart – unter diesem Namen hatte der alte Mr. Martin Chuzzlewit seine Begleiterin eingeführt – auferlegt wurde, besserte die Sachlage keineswegs, wie sanft und ruhig auch das Benehmen des jungen Mädchens war. Mr. Pecksniff balancierte sozusagen auf der Messerschneide: einmal mußte er beständig den Frieden unter seinen Töchtern aufrecht erhalten und die althergebrachte Ehre in seinem Hauswesen retten und dann wieder die immer mehr steigende Heiterkeit und Sorglosigkeit Mr. Jonas‘ zügeln, der sich verschiedentliche Unverschämtheiten gegen Mr. Pinch und unbeschreibliche Taktlosigkeiten gegen Mary erlaubte, weil beide in seinen Augen ja nur ein paar abhängige Personen waren, – des Umstandes gar nicht zu gedenken, daß es eine wichtige Aufgabe für ihn sein mußte, seinen reichen alten Verwandten fortwährend in guter Stimmung zu erhalten und die Hunderte böser Omina, die an diesem Abend ihr loses Spiel trieben, zu paralysieren. Da ihm überdies niemand auch nur im geringsten in seinen Bemühungen beistand, kann man sich leicht denken, daß seine Gefühle recht gemischter Natur sein mußten. Vermutlich hatte er sich in seinem Leben noch nie so erleichtert gefühlt, als schließlich der alte Herr auf seine Uhr sah und ankündigte, daß es Zeit sei, aufzubrechen.

»Wir haben uns vorderhand«, sagte Martin, »im ›Drachen‹ einige Zimmer genommen; ich gehe zwar mit Vorliebe abends immer noch ein wenig spazieren, aber es wird jetzt schon so zeitig dunkel, daß ich Mr. Pinch bitten möchte, uns nach Hause zu leuchten. Geht das?«

»Aber, mein wertgeschätzter Herr«, rief Pecksniff, »ich selbst mache mir das Vergnügen daraus. Gratia, mein Kind, bitte die Laterne!«

»Nein, nein, meine Liebe«, wehrte der alte Herr ab. »Ich kann nicht zugeben, daß Ihr Vater heute abend so spät noch ausgeht. – Kurz und gut, ich will es nicht.«

Mr. Pecksniff hatte bereits seinen Hut in der Hand, aber Mr. Chuzzlewit sprach mit solcher Bestimmtheit, daß er innehielt.

»Ich kann nur Mr. Pinchs Begleitung annehmen, sonst müßte ich vorziehen, allein zu gehen«, sagte Martin. »Was von beiden soll also gehen?«

»Dann begleitet Sie natürlich Tom Pinch, Sir«, rief Mr. Pecksniff, »wenn Sie es schon durchaus nicht anders haben wollen. – Thomas, mein lieber Freund, haben Sie die Güte, ja recht achtzugeben.«

Tom bedurfte einigermaßen dieser Ermahnung, denn er fühlte sich so im Innersten aufgewühlt und zitterte dermaßen, daß es ihm schwer wurde, die Laterne zu halten, – um wieviel schwerer erst, als sie, auf des alten Herrn Geheiß, ihren Arm in den seinen legte.

»Sie haben also, Mr. Pinch«, fing Martin Chuzzlewit an, als sie auf dem Heimweg waren, »Sie haben also eine recht behagliche Stellung hier – nicht wahr?«

Tom versicherte womöglich mit noch mehr Enthusiasmus als gewöhnlich, daß er gegen Mr. Pecksniff Dankesverpflichtungen habe, die er, und wenn er ihm sein ganzes Leben hindurch umsonst dienen würde, nur ungenügend abstatten könne. »Wie lange haben Sie meinen Neffen gekannt?«

»Ihren Neffen, Sir?« stotterte Tom. – »Ja, Mr. Jonas Chuzzlewit.«

»Ach ja so«, rief Tom sehr erleichtert, denn er hatte an Martin gedacht, »natürlich ja. – Ich habe ihn heute abend das erstemal gesprochen, Sir.«

»Bei ihm, dächte ich, würde es Gratisdienste einer halben Lebenszeit bedürfen, um seine Freundlichkeiten in genügendem Maße heimzuzahlen. – Nicht?« bemerkte der alte Herr.

Tom begriff, daß das ein Hieb war, und fühlte auch, daß die Bemerkung in zweiter Linie seinem Herrn gelten sollte. Er schwieg daher. Mary sah, daß es mit Mr. Pinchs Geistesgegenwart nicht weit her war und sie, so wie die Sachen standen, nicht wenig genug sagen könne, sie schwieg deshalb gleichfalls. Der alte Mann seinerseits sah in seinem gewohnten Mißtrauen in dem Lobe Mr. Pecksniffs eine ebenso schamlose wie ekelhafte Liebedienerei und faßte daher sofort das Vorurteil, den armen Mr. Pinch für einen hinterlistigen, kriecherischen und erbärmlichen Speichellecker zu halten. Deshalb schwieg auch er. Die allgemeine Stimmung war infolgedessen ziemlich unbehaglich. Am wenigsten wohl befand sich dabei der alte Herr, da er anfangs eine große Zuneigung zu Tom empfunden und dessen offenkundige Schlichtheit ihn sehr angesprochen hatte.

»Du bist eben auch wie die andern«, brummte er und sah dem ahnungslosen Tom scharf ins Gesicht. »Du hättest mich beinah hinters Licht geführt, aber so leicht geht das Gott sei Dank nicht. Deine Kriecherei ist zu dick aufgetragen und verrät sich von selbst.«

Während des ganzen übrigen Spazierganges wurde kein Wort weiter gewechselt. Die erste Begegnung mit Mary, der Tom so lange mit klopfendem Herzen entgegengesehen hatte, zeichnete sich durch nichts als durch Verlegenheit und Verwirrung aus. So schieden sie voneinander an der Türe des Drachen.

Seufzend löschte Mr. Pinch die Laterne aus und kehrte im Dunkeln wieder über die Felder zurück.

Als er sich der ersten Wegschranke näherte – einer einsamen Stelle, die durch eine Anpflanzung junger Föhren in tiefem Schatten lag –, glitt ein Mann an ihm vorbei, machte, an der Schranke angelangt, halt und setzte sich auf den Schlagbaum. Tom blieb verblüfft einen Augenblick stehen; aber gleich darauf schritt er auf den Unbekannten zu. Es war, wie sich herausstellte, Jonas, der jetzt seine Beine hin und her baumeln ließ, an dem Knopf seines Stockes saugte und ihn höhnisch anblickte.

»Gott bewahre«, rief Tom, »wer hätte gedacht, daß Sie es wären! – Sie sind uns also nachgegangen?«

»Ach, Sie sind’s?« sagte Jonas. »Scheren Sie sich zum Teufel!«

»Das ist nicht besonders höflich, dächte ich«, bemerkte Tom.

»Für Sie höflich genug«, entgegnete Jonas. »Wer sind Sie eigentlich?«

»Ein Mensch, der so gut ein Recht hat auf Höflichkeit wie irgendein anderer« versetzte Tom gelassen.

»Das ist dummes Zeug. Sie lügen. Sie haben kein Recht auf irgendwelche Höflichkeit. Sie haben überhaupt auf nichts ein Recht. Nette Frechheit, von Rechten zu sprechen! Ha, ha, Rechte!«

»Wenn Sie in dieser Weise fortzufahren gedenken«, erwiderte Tom, und das Blut stieg ihm ins Gesicht, »so würden Sie mich verbinden, wenn Sie mich vorbeiließen. Ich hoffe jedoch, Sie werden jetzt aufhören, den Spaß noch weiter zu treiben.«

»Ja, ja, das ist so eure Manier, ihr Hunde«, knurrte Mr. Jonas; »wenn ihr seht, daß einer im vollen Ernst spricht, so tut ihr, als hieltet ihr’s für Spaß, um nicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Aber bei mir zieht so was nicht; das ist ein alter, abgedroschener Trick. – Na, hören Sie doch gefälligst zu, Mr. Pitch oder Titch oder wie Sie sonst heißen.«

»Mein Name ist Pinch«, bemerkte Tom, »wenn Ihnen daran liegt, mich bei meinem ehrlichen Namen zu nennen.«

»Was! Man darf Sie nicht einmal beim unrechten Namen nennen? Was!« rief Jonas. »Lehrlinge aus dem Armenhaus wollen am Ende gar noch die Nase hoch tragen. Donnerwetter noch einmal, in der Stadt wissen wir besser, mit solcher Sorte umzuspringen.«

»Es kümmert mich nicht, wie man in der Stadt verfährt. Also was haben Sie mir zu sagen?«

»Folgendes, Mr. Pinch«, zischte Jonas und schnellte sein Gesicht vor, daß Tom erschreckt einen Schritt zurückprallte. »Ich rate Ihnen, halten Sie Ihren Mund und mischen Sie sich nicht in Sachen, die Sie nichts angehen. Ich habe Ihre kriecherische Art durchschaut, mein Lieber, und rate Ihnen, dergleichen zu lassen, bis ich mich mit einer von Pecksniffs Jungfern verheiratet habe. Das könnte mir gerade fehlen, daß Sie sich bei meinen Verwandten einschmeicheln. Sie wissen ganz gut, wenn ein knurrender Hund lästig fällt, so wird er durchgepeitscht. So, das ist mein freundlicher Rat. Haben Sie verstanden. Was? – Hol mich der Teufel, wer sind Sie eigentlich«, rief Jonas verächtlich, »daß Sie mit denen da nach Hause gehen dürfen, außer hinterdrein, wie jeder andere Bediente ohne Livree?«

»Schon gut«, rief Tom, »ich sehe, es ist besser, Sie lassen mich vorbei, damit ich nach Hause gehen kann. Bitte, machen Sie Platz, wenn’s gefällig ist.«

»Fällt mir nicht im Traume ein«, höhnte Jonas und spreizte seine Beine nur noch mehr; »vielleicht später, wenn’s mir paßt, aber momentan paßt’s mir zufällig nicht. – – Wie?! Sie fürchten wahrscheinlich, daß ich Ihnen jetzt eins auf die Schnauze haue, Sie Schleicher.«

»Ich fürchte mich im allgemeinen überhaupt nicht viel und ganz bestimmt nicht vor Ihnen. – Ich bin übrigens kein Achselträger, wie Sie zu glauben scheinen, und verachte alle Gemeinheit. Sie irren sich vollständig in mir. – – Heißt das wirklich gentlemanlike von jemandem gehandelt«, rief Tom unwillig, »der sich, wie Sie, in einer angenehmeren Stellung befindet. Aber ich bitte Sie jetzt allen Ernstes, lassen Sie mich vorbei. Je weniger Worte ich mache, desto besser ist es.«

»Ja, das stimmt«, entgegnete Jonas und blieb frech sitzen. »Sie scheinen überhaupt gern wenig Worte zu machen; was? Donnerwetter, ich sollte nur herausbekommen, was zwischen Ihnen und einem gewissen vagabundierenden Mitglied meiner Familie vorgeht! Ich wette, daß da natürlich auch wieder ›gar nichts‹ dahinter steckt.«

»Ich kenne kein vagabundierendes Mitglied Ihrer Familie«, rief Tom empört.

»Doch. Sie kennen eins.«

»Nein. Der Namensvetter Ihres Onkels, wenn Sie diesen meinen, ist kein Vagabund. Jeder Vergleich zwischen Ihnen und ihm« – Tom schnappte, allmählich in Zorn geratend, mit den Fingern – »fällt unendlich zu Ihrem Nachteile aus.«

»So, so, tut er das«, spöttelte Jonas; »und was halten Sie von seiner Geliebten – seiner bettelhaften geliebten Hinterlassenschaft? Was, Mr. Pinch?!«

»Es ist das beste, ich rede kein Wort mehr. Ich bleibe auch keinen Augenblick länger mehr hier.«

»Wie gesagt, Sie sind ein Lügner!« schrie Jonas. »Halt! Sie haben hier zu bleiben. Verstanden! Warum gehorchen Sie nicht?« Und er schlug mit seinem Stock nach Toms Kopf, aber im nächsten Augenblick flog dieser wirbelnd durch die Luft, und er selbst lag zappelnd im Gras.

Während des kurzen Ringens hatte Mr. Pinch seinen Gegner, ohne es zu wollen, mit der Stockzwinge an der Stirne verletzt, so daß das Blut reichlich aus einer ziemlich tüchtigen Wunde an der Schläfe hervorquoll. Thomas merkte es erst, als er sah, daß Jonas sein Taschentuch auf die verletzte Stelle drückte und beim Aufstehen taumelte.

»Haben Sie sich verletzt?« fragte er. »Oh, das täte mir wirklich sehr leid. Stützen Sie sich auf mich, Sir. Sie brauchen mir deswegen nicht zu verzeihen, wenn Sie noch Groll gegen mich hegen. Ich wüßte freilich nicht, warum Sie mir zürnen sollten, denn ich habe Sie doch nicht beleidigt, ehe wir uns hier trafen.«

Jonas gab keine Antwort und schien anfangs weder ein Wort zu verstehen, noch zu merken, daß er verwundet war, trotzdem er mehrmals das Taschentuch von der Wunde nahm und das Blut ansah. Endlich schien er zu sich zu kommen, wenigstens blickte er Tom wild an, und der Ausdruck seines Gesichtes verriet, daß er langsam begriff, was vorgefallen war, und daß er die Angelegenheit nicht so bald zu vergessen gedenke. Dann wandten sie sich beide stumm zum Heimweg. Jonas ging einige Schritte voraus und Tom Pinch folgte ihm, traurig und bekümmert bei dem Gedanken, welch tiefe Betrübnis die Kunde von diesem Streit seinem trefflichen Wohltäter bereiten werde.

Das Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf, als Jonas schließlich an der Tür klopfte, Miss Gratia herausleuchtete und beim Anblick ihres verwundeten Bräutigams laut aufschrie. Stumm folgte er den beiden in die Wohnstube, und als Jonas zu reden begann, glaubte er, es drehe sich alles um ihn wie ein Wirbelwind.

»Macht kein weiteres Aufhebens davon«, brummte Jonas ärgerlich, »es ist nicht der Rede wert. Ich habe den Weg verfehlt, und die Nacht ist sehr dunkel, und gerade, als ich Mr. Pinch begegnete, rannte ich an einen Baum. Es ist nur eine Schramme.«

»Kaltes Wasser, Gratia, mein Kind«, rief Mr. Pecksniff. »Einen Umschlag, eine Schere, ein Stück alte Leinwand. Liebe Cherry, bitte, richte eine Bandage her. – Gott im Himmel, Mr. Jonas!«

»Hol Sie der Kuckuck mit Ihrem dummen Gewäsch«, murrte liebreich der Schwiegersohn in spe. »Helfen Sie lieber mit, wenn Sie können, und wenn nicht, dann lassen Sie mich gütigst in Frieden.«

Trotz der Aufforderung ihres Vaters, Hilfe zu leisten, blieb Miss Charitas lächelnd und kerzengerade in ihrem Sessel sitzen und rührte keinen Finger. Gratia wusch die Wunde aus, und Mr. Pecksniff hielt den Kopf des Patienten mit beiden Händen, als ob er sonst rettungslos entzwei gehen müßte. Tom Pinch schüttelte in der Qual seines Schuldbewußtseins ununterbrochen eine Flasche mit kölnischem Wasser, bis es nur noch ganz ordinärer englischer Schaum war, und hielt in der andern Hand ein riesiges Tranchiermesser, das gegen die Geschwulst gedrückt werden sollte, machte aber dabei ein Gesicht, daß ein Unbefangener geglaubt haben würde, er warte nur darauf, bis sein Gegner verbunden worden sei, um ihm dann sofort den Todesstoß zu versetzen.

Bis zum Schluß leistete Charitas nicht den mindesten Beistand und ließ auch nicht ein Wort des Trostes laut werden.

Als schließlich Mr. Jonas‘ Kopf verbunden, der Patient zu Bett gebracht und alles im Hause ruhig geworden war, saß Mr. Pinch sinnend auf seiner Bettstatt und machte sich allerlei Gedanken über den Vorfall, da hörte er plötzlich ein leises Klopfen an seiner Türe, und als er öffnete, sah er zu seinem großen Erstaunen Miss Cherry, die Finger an die Lippen gelegt, vor sich stehen.

»Mr. Pinch«, flüsterte sie, »lieber Mr. Pinch, sagen Sie mir die Wahrheit. Nicht wahr, Sie haben das getan? Sie haben Streit mit ihm gehabt und ihn geschlagen! Es muß so gewesen sein, ich lasse mir’s nicht nehmen.« Es war das vielleicht das erstemal im Laufe vieler Jahre, daß sie so freundlich zu Tom sprach. Kein Wunder daher, daß er anfangs nicht ein Wort hervorbringen konnte.

»War es so oder nicht?« drängte Charitas.

»Er hat mich gereizt«, stotterte Tom.

»Dann habe ich also recht«, rief Charitas mit leuchtenden Augen.

»Ja, allerdings. Ich geriet mit ihm in Streit, weil er mich nicht vorbeilassen wollte«, berichtete Tom. »Aber wahrhaftig, es lag nicht in meiner Absicht, ihn so stark zu verletzen.«

»So stark!« rief Charitas, ballte zu Toms großer Verwunderung die Hand und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Reden Sie nicht so. Es war wacker von Ihnen; ich schätze Sie deshalb. Wenn Sie wieder in Streit mit ihm geraten, so schonen Sie ihn nicht! Schlagen Sie ihn nieder und setzen Sie ihm den Fuß auf die Brust, aber sagen Sie keinem Menschen ein Sterbenswort davon. – Lieber Mr. Pinch, von heute an bin ich Ihre Freundin und werde es immer bleiben.«

Damit wandte sie ihr glühendes Gesicht Tom zu, und der wutverzerrte Ausdruck ihrer Mienen verriet, was in ihr vorging. Sie ergriff seine Hand, drückte sie an ihre Brust und küßte sie. Es lag durchaus nichts Verfängliches in dieser Handlungsweise, und sogar Tom Pinch, der sich doch gewiß keiner besonderen Beobachtungsgabe rühmen konnte, erkannte aus der Erregung, mit der sie es tat, daß sie jede Hand, die Jonas Chuzzlewit den Schädel eingeschlagen hätte, würde liebkost haben, gleichgültig, wie schmutzig und schmierig sie auch gewesen wäre.

Von einer Flut von Gedanken überwältigt, legte sich Tom zu Bett. Daß ein so schreckliches Zerwürfnis in der Familie hatte stattfinden müssen, denn nur dies konnte den ganzen Vorgang erklären und die Ursache sein, weshalb Charitas Pecksniff so plötzlich seine Freundin geworden war, daß Jonas, dem er so arg mitgespielt, sich so hochherzig gezeigt, das Geheimnis ihres Streites zu bewahren, und daß er selbst sich so hatte gehenlassen, das waren zu ernste und peinliche Betrachtungen, als daß er so bald die Augen hätte schließen können. Die Reue über seine Heftigkeit bedrückte ihn schließlich so sehr, daß er zu glauben begann, er sei von geheimen Mächten dazu verdammt, der böse Engel seines Gönners zu sein. Endlich aber fiel er doch in Schlaf und träumte – eine neue Quelle zur Unruhe nach seinem Erwachen –, daß er das ihm geschenkte Vertrauen verraten und Mary Graham entführt habe.

Aber nicht nur im Schlaf, sondern auch im Wachen war sein Verhältnis zu dieser jungen Dame peinlich und beunruhigend genug für ihn. Je öfter er sie zu Gesicht bekam, desto mehr mußte er ihre Schönheit, ihren Verstand und ihre liebenswürdigen Eigenschaften bewundern, die selbst auf den Familienzwist in Mr. Pecksniffs Hause einen wohltätigen Einfluß übten und binnen kurzem wenigstens einen Schein von Harmonie und gutem Einvernehmen zwischen den beiden feindlichen Schwestern wieder herstellten. Wenn sie sprach, hielt er den Atem an, und wenn sie sang, lauschte er wie ein Verzückter. Sie spielte auf seiner Orgel, und von diesem beseligenden Zeitpunkt an begann dieses Instrument – der alte Gefährte seiner seligsten Stunden –, obschon er es zuvor bereits über alles geliebt, für ihn eine Art geweihter Gegenstand zu sein.

Nicht weniger schwierig wurde seine Lage durch den Umstand, daß zwischen ihm und der jungen Dame niemals auch nur ein Wort über Martin gesprochen wurde. Voll Ehrenhaftigkeit seines Versprechens eingedenk, gab er ihr zwar alle möglichen Gelegenheiten zu einer Aussprache und war früh und spät in der Kirche oder auf ihren Lieblingsspaziergängen im Dorf, im Garten, auf den Wiesen, kurz an allen Orten, wo sie es hätte ungeniert tun können; aber immer vermied sie in solchen Fällen sorgsam seine Gesellschaft und kam ihm nie ohne Begleitung in den Weg. Der Grund dafür konnte nicht gut darin liegen, daß sie ihn nicht leiden mochte oder ihm mißtraut hätte, denn sie zeichnete ihn vielmehr, wenn andere zugegen waren, durch tausend zarte, nur für ihn berechnete kleine Aufmerksamkeiten aus und war gegen ihn die Freundlichkeit selbst. Konnte sie etwa mit Martin gebrochen oder vielleicht gar seine Liebe niemals erwidert haben, trotzdem dieser davon fest überzeugt gewesen? Toms Wangen erglühten vor Selbstvorwurf bei diesem Gedanken.

Während dieser ganzen Zeit kam und ging der alte Martin in seiner gewohnten, eigenwilligen Weise oder sonderte sich, in Gedanken vertieft, ab, ohne jemanden mit seinem Verkehr in Anspruch zu nehmen. Trotzdem er sich durchaus nicht umgänglich zeigte, war er jetzt doch niemals mehr eigensinnig, streitsüchtig oder mürrisch. Auch schien er nie vergnügter zu sein, als wenn man ihn ganz unbeachtet bei dem Buche, das er gerade las, sitzen ließ und sich ohne weitere Rücksicht auf ihn in seiner Gegenwart miteinander unterhielt. Es war vollkommen unmöglich herauszubekommen, für wen oder wofür er sich interessierte, und wenn man ihn nicht direkt anredete, schien er weder Augen noch Ohren zu haben für das, was um ihn herum vorging.

Eines Tages saß die sonst so lebhafte Gratia mit niedergeschlagenen Augen unter einem schattigen Baume des Kirchhofs, wohin sie sich zurückgezogen, nachdem sie sich in allerlei Heimsuchungen von Mr. Jonas‘ Geduld erschöpft hatte, da bemerkte sie mit einem Male, daß ein Schatten zwischen sie und die Sonne trat, und als sie die Augen aufschlug in der Erwartung, ihren geliebten Bräutigam zu erblicken, war sie nicht wenig überrascht, statt dessen den alten Martin vor sich stehen zu sehen. Ihr Erstaunen steigerte sich noch, als er sich neben sie auf den Rasen setzte und mit folgenden Worten ein Gespräch eröffnete:

»Wann werden Sie heiraten?«

»Ach du lieber Gott, Mr. Chuzzlewit, ich weiß es selber nicht; hoffentlich nicht so bald.«

»Hoffentlich?« versetzte der alte Mann.

Er sagte dies mit sehr ernstem Tone, aber Gratia nahm es für Scherz und kicherte ausgelassen.

»Na«, fuhr Mr. Chuzzlewit mit ungewöhnlicher Milde fort, »Sie sind eben noch jung, hübsch und, wie ich glaube, auch gutmütig – allerdings auch etwas leichtsinnig. Sie scheinen sich wenigstens darin zu gefallen. Aber Sie müssen doch einigermaßen Herz und Gefühl besitzen.« »Ich habe mein Herz noch nicht so ganz verschenkt, wie Sie vielleicht glauben, kann ich Ihnen versichern«, versetzte Gratia schlau lächelnd und zupfte ein paar Grashalme aus.

»Aber doch teilweise?«

Die junge Dame warf die Grashalme in die Luft, wendete ihr Gesicht ab und schwieg.

Martin wiederholte seine Frage.

»Ach Gott, lieber Mr. Chuzzlewit, warum fragen Sie? Was Sie doch für ein seltsamer Mensch sind.«

»Sie finden es seltsam, daß ich zu wissen wünsche, ob Sie den jungen Mann lieben, den Sie dem Vernehmen nach heiraten sollen?« rief Martin. »Ist es da so wunderbar, daß ich frage?«

»Sie wissen doch, er ist ein ekelhafter Mensch«, schmollte Gratia.

»Dann lieben Sie ihn also nicht? Habe ich das so zu verstehen?«

»Aber, lieber Mr. Chuzzlewit, ich habe ihm mindestens hundertmal des Tages gesagt, daß ich ihn nicht leiden kann. – Sie müssen es doch gewiß selbst schon gehört haben.«

»Allerdings schon oft«, gab Martin zu.

»Und es ist mir ernst damit«, rief Gratia; »es ist mein vollkommenster Ernst.«

»Und trotzdem wollen Sie ihn heiraten?«

»Nun ja. Aber ich habe ihm von Anfang an versichert, wenn ich je heirate – nämlich ihn –, so täte ich es nur, um ihn mein ganzes Leben lang zu hassen und zu quälen.«

Sie fühlte sehr richtig, daß Jonas bei dem alten Mann nicht besonders beliebt war, und glaubte daher mit dieser Äußerung ihm einen Gefallen zu tun. Befremdlicherweise hatte es aber jetzt durchaus nicht den Anschein, als ob Martin Chuzzlewit damit einverstanden sei, denn als er ihr antwortete, geschah es im Tone größter Strenge.

»Sehen Sie um sich!« sagte er und deutete auf die Gräber. »Und bedenken Sie, daß von der Stunde ihrer Trauung an bis zu dem Tage, wo Sie sich in ein solches Bett legen, keine Umkehr mehr möglich ist. Sprechen und handeln Sie einmal wie ein vernünftiges Geschöpf. Sagen Sie mir ganz offen, tut man Ihren Neigungen irgendwelchen Zwang an? Drängt man Sie zu dieser Verbindung? Versucht man Sie vielleicht hinterlistig dazu zu verlocken? Ich will nicht fragen, wer es tut – aber habe ich recht?«

»Nein«, hauchte Gratia und zuckte die Achseln. »Nicht, daß ich wüßte.«

»Wirklich nicht?«

»Nein«, wiederholte Gratia »niemand hat mir auch nur mit einem Worte zugeredet, und wenn man es versucht hätte, würde ich nicht einen Augenblick zugehört haben.«

»Man sagte mir, er habe anfangs als der Verehrer Ihrer Schwester gegolten«, forschte Martin.

»Ach, du lieber Gott, Mr. Chuzzlewit, wenn er auch ein Ekel ist, so wäre es doch unrecht, ihn für anderer Leute Eitelkeit verantwortlich zu machen«, rief Gratia, »und die liebe gute Cherry ist das eitelste Ding von der Welt.«

»Also sie hat sich geirrt?«

»Jedenfalls. Aber seitdem ist sie so schrecklich eifersüchtig und widerwärtig gewesen, daß es rein unmöglich war, mit ihr auszukommen. – Ich habe mich daher von ihr ferngehalten.«

»Also nicht gezwungen oder überredet«, murmelte Martin gedankenvoll. »Ja, ja, kein Zweifel, es ist so. – Doch ich sehe noch eine dritte Wahrscheinlichkeit. Sie haben sich durch Ihre Unüberlegtheit zu dieser Verbindung verleiten lassen. Es war also vielleicht eine vorschnelle oder leichtsinnige Handlung. Habe ich recht?«

»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, rief Gratia geziert, »was den Leichtsinn betrifft, so bin ich freilich so leicht wie eine Feder – mein Leichtsinn zieht mich förmlich in die Höhe wie ein Luftballon. – Ich weiß, daß das bei Ihnen zum Beispiel nie der Fall gewesen ist.«

Der alte Herr hatte sie ruhig und geduldig ausreden lassen und sagte dann mit sanfter, jedoch fester Stimme und bemüht, ihr Vertrauen zu gewinnen:

»Wünschen Sie vielleicht – oder lebt vielleicht etwas wie Hoffnung in Ihrem Innern, die sich in Stunden der Überlegung zu einem solchen Wunsche umgestalten könnte – dieses Verlöbnis wieder aufzuheben?« Schmollend blickte Miss Gratia auf den Boden, rupfte wieder ein paar Grashalme ab und zuckte die Achseln. – – Nein, sie sei sich keines derartigen Wunsches bewußt – glaube fest, diese Frage verneinen zu können, – ja, könne es sogar mit Bestimmtheit tun. – Die Sache sei ihr vollständig – gleichgültig.

»Und haben Sie nie daran gedacht«, rief Martin, »daß Ihre Ehe elend, unglücklich und voll Bitternis werden könnte?«

Wieder blickte Gratia zu Boden und riß jetzt die Grashalme heftig mit der Wurzel aus.

»Aber, lieber Mr. Chuzzlewit, wie abscheulich ernst Sie reden! Natürlich werde ich mich mit ihm zanken; aber ich würde mich mit jedem andern Manne auch zanken. Verheiratete Leute, glaube ich, streiten doch immer miteinander. Und was Sie da reden von Elendsein, Bitternis und all den schrecklichen Geschichten, so könnte uns ein derartiges Schicksal nicht gut treffen, ohne daß er den Löwenanteil davon abbekäme. – – Er ist schon jetzt mein vollkommener Sklave«, kicherte sie.

»Nun denn«, seufzte Martin und stand auf, »mag die Sache ihren Lauf nehmen. Ich wollte nur wissen, wie es mit Ihrem Herzen steht, mein Kind, und Sie haben es offen vor mir enthüllt. Ich wünsche Ihnen alles Glück« – er sah sie fest an und deutete auf das Kirchhofpförtchen, durch das Jonas soeben eintrat, und dann entfernte er sich, ohne seinen Neffen abzuwarten, und ging auf einem andern Wege hinaus.

»Ach, der schreckliche alte Griesgram«, schmollte Gratia und schüttelte fröhlich ihre Locken, »was für ein abscheuliches Ungeheuer, bei hellichtem Tag auf den Kirchhöfen herumzuwandern und einen zu erschrecken, daß man fast den Verstand verliert. – – Bleiben Sie nur dort, wo Sie sind, Sie Unhold, oder ich laufe davon!«

Der »Unhold« galt Mr. Jonas, der sich jedoch dadurch nicht abschrecken ließ und sich neben Gratia auf den Rasen niederließ.

»Wovon hat mein Onkel gesprochen?« fragte er verdrießlich.

»Von Ihnen«, antwortete Gratia; »er sagte, Sie verdienten mich gar nicht.« »Na ja, natürlich, das wissen wir alle. Hoffentlich macht er uns ein Brautgeschenk, das wenigstens dafür steht«, brummte Jonas. »Hat er vielleicht etwas derartiges fallenlassen?«

»Gar keine Spur«, rief Gratia sehr entschieden.

»Alter Geizkragen«, murmelte Jonas. »Nun, Schätzchen?«

»Ja, Sie Unhold«, fuhr Miss Gratia mit geheucheltem Erstaunen auf, »ja, was erlauben Sie sich denn, Sie Unhold?«

»Ich wollte Sie nur ein bißchen knutschen«, sagte Jonas enttäuscht, »es ist doch hoffentlich nichts Unrechtes dabei.«

»Sogar sehr viel, wenn es mir nicht paßt«, antwortete Gratia. »Rücken Sie weg, – Sie machen mir heiß.«

Mr. Jonas zog seinen Arm zurück und sah sie einen Augenblick lang eher wie ein Mörder als wie ein Liebhaber an. Doch gleich darauf wurde er wieder freundlicher und begann:

»Ich wollte nur fragen, Schatz –«

»Was sagen Sie da, Sie gemeiner Kerl?« rief die zärtliche Braut.

»– wann wir endlich miteinander ins reine kommen werden. Ich kann doch nicht hier mein halbes Leben vertrödeln, und auch Pecksniff meint, daß mein Alter erst vor kurzem gestorben sei, hindere weiter nicht. Wir könnten uns hier unten in aller Stille trauen lassen, und mein Verwaistsein wäre bei den Nachbarn der beste Grund und die beste Entschuldigung, daß ich so bald eine Frau heimführe. Besonders eine, die mein Vater bei Lebzeiten gekannt hat. Und was den Mr. Totenknochen, meinen Onkel, anbelangt, so wirft er uns gewiß auch keinen Knüppel in den Weg; wenigstens sagte er diesen Morgen noch zu Pecksniff, wenn Sie einverstanden seien, Cousine, so habe er gar nichts dreinzureden. Also was ist, Schatz? Wann soll’s losgehen?«

»Da hört sich denn doch –« begann Gratia.

»Was meinen Sie zu nächster Woche?« fiel ihr Jonas ins Wort.

»Zu nächster Woche? – Wenn Sie von dem nächsten Vierteljahr gesprochen hätten, würde ich mich schon über Ihre Unverschämtheit gewundert haben.«

»Aber ich habe nicht von dem nächsten Vierteljahr gesprochen, nur von der nächsten Woche.« »Und dann, Sie Unhold«, rief Gratia, stand hastig auf und stieß ihn von sich, »dann sage ich nein; nicht die nächste Woche. Nicht eher, als bis es mir gut dünkt, und das wird noch mehrere Monate dauern. So!«

Jonas blickte vom Boden auf und sah sie an, fast so finster, als hätte Tom Pinch vor ihm gestanden.

»So ein garstiger Kobold mit einem Pflaster über dem Auge möchte hier noch herumkommandieren oder gar etwas dreinzureden haben«, gellte Gratia. »Das fehlte gerade noch.«

– Mr. Jonas schwieg noch immer. –

»Wenn’s nächsten Monat geschieht, ist’s Zeit genug; aber ich werde mir auch das noch bis morgen überlegen. – – Und wenn es Ihnen nicht paßt, kann die Sache ja überhaupt ganz und gar unterbleiben«, setzte sie hinzu. »Und wenn Sie mir jetzt nachgehen und mich nicht in Ruhe lassen, so unterbleibt’s gleichfalls. – So! Und wenn Sie nicht alles tun, was ich Ihnen befehle, so wird überhaupt nichts draus. Also ruhig hiergeblieben. – So! Sie Kobold!« – – Und mit diesen Worten hüpfte Gratia fröhlich davon.

»Na, warte nur, mein Kätzchen«, murmelte Jonas ihr nachblickend und zerbiß wütend einen Strohhalm; »das werde ich dir heimzahlen, wenn wir nur erst mal verheiratet sind. Vorderhand muß ich mir’s ja leider gefallen lassen; aber schuldig bleiben werde ich dir nichts, darauf kannst du dich verlassen. – – Übrigens ein scheußlich widerwärtiger Ort hier, um allein dazusitzen. Von jeher habe ich die moderigen alten Kirchhöfe nicht leiden können.«

Als er in die Allee hinaustrat, blickte Miss Gratia, die inzwischen weit vorausgeeilt war, zufälligerweise zurück.

»Ja, ja«, brummte Jonas mit einem finstern Lächeln, »treib’s nur so fort, solang’s noch geht. Jetzt bist du noch frei und kannst tun und lassen, was du willst.«

25. Kapitel


25. Kapitel

Handelt zum Teil von Berufsangelegenheiten und gibt dem Publikum manchen wertvollen Wink, wie man Kranke pflegt

Umringt von seinen Penaten, genoß Mr. Mould in stiller Wonne das beseeligende Glück häuslicher Ruhe. Da der Tag schwül und das Fenster offen war, hatte Mr. Mould seine Beine auf das Fensterbrett gelegt und lehnte sich mit dem Rücken an den offenen Laden; über seine schimmernde Glatze hatte er der Fliegen wegen ein Schnupftuch gebreitet. Im Zimmer duftete es würzig nach Punsch, und ein großes, mit diesem lieblichen Getränk gefülltes Gefäß stand im Handbereich auf einem runden Tischchen. So trefflich war der Trank gemischt, daß, wenn Mr. Moulds Auge in das kühle, durchscheinende Naß blickte, ein zweites Auge hinter der Zitronenschale hervor ihm hell wie ein Stern entgegenfunkelte.

Mr. Moulds Etablissement lag weit drin in der City im Cheapviertel. Sein Harem, oder besser gesagt, das Wohnzimmer von Mrs. Mould und Familie lag nach rückwärts hinaus über dem kleinen Comptoir hinter dem Laden mit der Aussicht auf einen kleinen schattigen Friedhof. In diesem traulichen Stäbchen nun saß Mr. Mould und blickte als zufriedener und friedlicher Mann auf seinen Punsch und sein häusliches Besitztum. Wenn sein Auge für eine Sekunde nach weiterer Aussicht umherspähte, um dann mit erneutem Eifer zu den Ergötzlichkeiten des Gemaches zurückzukehren, wanderte sein feuchter Blick wie ein Sonnenstrahl durch ländlich schlichtes Gitterwerk von Feuerkresse, die an gespannten Bindfäden vor dem Fenster in die Höhe rankte, hinaus, und mit der Miene eines Künstlers schaute er auf die Gräber nieder.

In seiner Gesellschaft befanden sich sein Ehegespons und seine beiden Zwillingstöchter. Jede der Misses Mould war fett wie ein Rebhuhn, und Mrs. Mould fetter als beide zusammengenommen. Ihre stattlichen Proportionen waren so voll und rund wie die Leiber zu den Engelsgesichtern unten im Laden. Nur ausgewachsener. Selbst ihre Pfirsichwangen waren aufgeblasen, als seien sie von Rechts wegen bestimmt, in himmlische Posaunen zu stoßen.

Zärtlich blickte jetzt Mr. Mould auf seine dicht neben ihm sitzende Gattin, die ihm bei seinem Punsch wie in allen andern irdischen Dingen treu zur Seite stand. Die seraphinischen Töchter erfreuten sich gleichfalls ihres Anteils seiner Zuneigung und lächelten ihm von Zeit zu Zeit freundlich zu. So gesegnet war Mr. Moulds Besitzstand, so groß die Menge der zu seinem Beruf gehörigen Handelsartikel, daß selbst hier, mitten im Allerheiligsten seiner Häuslichkeit, ein Wandschrank aus Mahagoni stand, der mit Leichentüchern, Totenhemden und anderer Grabwäsche bis zum Rande angefüllt war. Trotzdem die Misses Mould gleichsam unter den Augen dieses bedeutungsvollen Möbels aufgewachsen waren, so hatte es doch keinen Schatten auf ihre Kinderjahre oder die fröhliche Zeit ihrer blühenden Mädchenschaft zu werfen vermocht. Von der Wiege auf gewöhnt, Einsegnungs- und Begräbnisszenen zu spielen, waren die Misses Mould gegen dergleichen abgehärtet. Trauerflore bedeuteten für sie nur soundso viele Ellen Seide oder Krepp und die Totenhemden nur ein Stück Leinwand. Von dem Schauspielerrock, dem Kleide einer Hofdame oder einer Parlamentarierrobe konnten sich die Misses Mould allenfalls noch romantische Ideen machen, aber Bahrtücher waren für sie etwas ganz Banales; fertigten sie sie doch zuweilen selber. Mr. Moulds Wohnung war gegen das Getöse in den Hauptstraßen fast ganz und gar abgeschlossen. Sie lag in einem stillen Winkel, wo der Lärm der City zu einem schläfrigen Summen herabsank, das dann und wann anstieg, dann wieder leise wurde und manchmal ganz verstummte, so daß man glauben konnte, in dem geräuschvollen Verkehr von Cheapside sei plötzlich eine Stockung eingetreten. Funkelnd und blinzelnd fiel das Tageslicht durch das Spalier von Feuerkresse herein, als ob der Friedhof draußen Mr. Mould vertraulich zuwinkte und sagte: »Wir verstehen einander, was?« Und aus einem entfernt liegenden Gewölbe tönte das liebliche Klopfen des Sargtischlergehilfen mit seinen melodischen Hammerschlägen, rat, tat, tat, tat, und wirkte ebenso förderlich auf den Schlummer wie auf die Verdauung.

»Ganz wie das Gesumme sommerlicher Insekten«, murmelte Mr. Mould und schloß wollüstig die Augen. »Es gemahnt einen an die Laute der belebten Natur draußen in den ackerbautreibenden Distrikten; es ist wie das Klopfen des Baumspechts.«

»Am Ulmenbaum klopfet der Specht«, trällerte Mrs. Mould, den Text des Volksliedes durch das Wort Ulme bereichernd, aus welchem Holz bekanntlich die Särge angefertigt werden.

»Ha ha ha«, lachte Mr. Mould, »famoser Witz, meine Liebe. Wirklich sehr gut, ich habe schon viel schlechtere in den Sonntagsblättern gelesen.«

Höchst aufgeräumt ob dieses Lobspruchs nahm Mrs. Mould einen herzhaften Schluck Punsch und reichte dann das Glas ihren Töchtern hin, die ehrerbietig ihrem Beispiel folgten.

»Ulmenbaum«, wiederholte Mr. Mould und zappelte aus Freude über den hübschen Spaß ein wenig mit den Beinen. »Im Liede ist’s, glaube ich, eine Buche, was? Ja ja, natürlich, ha ha ha, wirklich einer der besten Witze, die ich je gehört habe.«

Die Variante mit der Ulme schien ihm so ungemein zu gefallen, daß er sie gar nicht vergessen konnte und vielleicht zwanzigmal hintereinander vor sich hin murmelte: »Ulme, ha ha, natürlich, haha! Meiner Seel, das sollte man einem Witzblatt einschicken! Der beste Scherz, den ich je gehört habe. Ulme! Ja ja, natürlich, ha ha ha!«

Da klopfte es plötzlich an die Stubentüre.

»Das ist Tacker«, rief Mrs. Mould, »ich erkenne ihn an seinem Schnaufen. Wenn man ihn so hört, sollte man glauben, daß er immer genug Wind hat, um allein die Trauerfederbüsche zum Wehen zu bringen – kommen Sie nur herein, Tacker!«

»Bitt um Entschuldigung«, murmelte Tacker und spähte zur Tür herein. »Ich hab gemeint, der Herr wäre hier.«

»Na ja, ich bin ja auch hier«, meldete sich Mr. Mould.

»Meiner Seel, ich hab Sie gar nicht gesehen«, sagte Tacker und steckte den Kopf ein wenig weiter zur Türe herein. »Ich denk, es wird Ihnen wahrscheinlich nicht passen, einen Auftrag für ein ordinäres Begräbnis anzunehmen. Gemeines Fichtenholz und eine Blechplatte.«

»Nein, nein«, entgegnete Mr. Mould, »viel zu ordinär. Ausgeschlossen.« »Ich hab auch gleich gesagt, es sei zu schofel«, bemerkte Mr. Tacker.

»Sagen Sie nur den Leuten, sie sollten sich zu jemand anderem bemühen. Ich nehme keine solchen Aufträge an«, grollte Mr. Mould, »eine Unverschämtheit, mir mit so was zu kommen. Wer ist’s denn übrigens?«

»Hm«, meinte Tacker stockend, »sehen Sie, das ist’s ja eben; es ist der Schwiegersohn vom Kirchspieldiener.«

»Ach so, der Schwiegersohn vom Kirchspieldiener«, sagte Mould, »na gut, dann will ich’s ausnahmsweise übernehmen, vorausgesetzt, daß der Kirchspieldiener selbst in seinem dreieckigen Hut mitgeht, sonst aber nicht. Dann hat’s wenigstens einen dienstlichen Anstrich, und man kann die Sache vor sich selber rechtfertigen; aber wohlverstanden: der dreieckige Hut muß mit.«

»Ich werd’s ausrichten, Sir«, erwiderte Tacker. »Ja, und dann ist auch noch Mrs. Gamp unten und wünscht mit Ihnen zu sprechen.«

»Sie soll heraufkommen«, sagte Mould. »Ah, da sind Sie ja, Mrs. Gamp! Nun, Mrs. Gamp, was bringen Sie uns Neues?«

Die würdige Dame war inzwischen eingetreten und machte Mrs. Mould ihren Knicks. Im Augenblick erfüllte ein eigentümlich würziger Duft das Zimmer, als sei eine Fee, die lang in einem Weinkeller eingesperrt gewesen, vorbeigeflogen und habe das Aufstoßen gekriegt.

Mrs. Gamp antwortete nicht auf Mr. Moulds Frage, sondern machte abermals einen Knicks, hob die Hände in die Höhe und blickte gen Himmel, wie in einem Dankgebet, daß sie Mrs. Mould so wohl aussehend finde. Sie war sauber, wenn auch nicht festtäglich gekleidet und trug den Trauerrock, in dem schon Mr. Pecksniff das Vergnügen gehabt hatte, sie kennenzulernen.

»Es gibt halt scho so glückliche Leut«, bemerkte Mrs. Gamp, »wo mit der Zeit immer jünger werden, und da ghörn Sie auch dazu, Mrs. Mould. So jemandem kann halt die Zeit nix anhaben. Solche Leut bleiben halt immer jung. Noch vor kurzem hab i zu der Harris gsagt«, fuhr Mrs. Gamp fort, »grad am letzten Montagabend vor vierzehn Täg hab i zu der Harris gsagt, grad als sie zu mir gsagt hat, die Jahre und unsre Leiden, Frau Gamp, hat s‘ gsagt, gehen niemals nicht spurlos an uns vorüber. Reden S‘ net so, liebe Harris, hab i gsagt, wann mir gute Freund bleiben solln, denn dös kann net a jeds von sich behaupten. Schauen S‘, die Frau von Mould, hab i gsagt, und i bin so frei, den Namen zu wiederholen« – wieder machte sie einen Knicks – »is eine von denen, wo schnurstracks ein Beweis für das Gegenteil sin, und niemals, liebe Harris, hab i gsagt, so lang i noch an Atemzug machen kann, kann i Ihna deswegen recht geben. – ›Na ja, dös is was anders‹, hat die Harris gesagt, ›da geb i Oma gern nach, und übrigens, wenn je a Frauensperson glebt hat, wo sich für ihre Mitmenschen die Füß ablaufen möcht, so heißt diese Frauensperson Sarah Gamp.‹«

Hier mußte die würdige Dame einen Augenblick innehalten, um Atem zu holen, und wir wollen diese Pause benützen, um zu bemerken, daß ein undurchdringliches Geheimnis die sagenhafte Mrs. Harris umgab. Niemand aus den Kreisen von Mrs. Gamps Bekanntschaft hatte sie jemals gesehen, noch wußte ein menschliches Wesen, wo sie wohnte, obgleich Mrs. Gamp beständig mit ihr in Verbindung zu stehen schien. Die widerstreitendsten Gerüchte waren diesbezüglich im Umlauf, doch herrschte die Ansicht vor, Mrs. Harris sei ein Phantom und Mrs. Gamps Gehirn entsprungen, ähnlich wie das Daimonion des Sokrates, und ausdrücklich zu dem Zwecke geschaffen, mit Mrs. Gamp visionäre Zwiegespräche zu halten und jedesmal mit einem Kompliment auf ihre Vortrefflichkeit zu schließen.

»Und jetzt gar die Freud«, fing Mrs. Gamp wieder an und wandte ihren tränenumflorten Blick den beiden Misses Mould zu, »die zwei jungen Damen zu sehen, wo i scho kennt hab, wo s‘ noch kan Zahn net im Mund ghabt ham. I weiß noch wie heut, wie s‘ in der Werkstatt drunten Begrabn gspielt haben und das lange Bestellbuch in der eisernen Kisten zur ewigen Ruh bestattet ham. O mein, wo sin die Zeiten, Mr. Mould! Net wahr, Mr. Mould?«

»Veränderung ist der Lauf der Zeit, Mrs. Gamp«, versetzte der Leichenbestatter.

»Es werden noch viel mehr Veränderungen kommen, eh’s mit der Veränderung a End hat«, scherzte Mrs. Gamp mit schalkhaftem Nicken. »So junge Damen mit so hübsche Gesichter denken auch an was anders als ans Begrabn, meinen S‘ net auch, Mr. Mould?«

»Da kann ich Ihnen wirklich keine Auskunft geben, Mrs. Gamp«, kicherte Mould, »nicht schlecht von Mrs. Gamp, was meine Liebe?«

»Ach ja, Sie wissen’s ja ganz gut«, sagte Mrs. Gamp, »und Mrs. Mould, Ihre hübsche Ehehälfte, weiß es auch, und i selbst weiß es ebenfalls, wann mir auch der Segen, a Töchterl zu haben, versagt geblieben is. Na ja, i bitt Ihna, und wann mir auch a Töchterl kriegt hätten, der Gamp hätt ihm gewiß die klanen Schuh von die Füß weg versoffen, wie er’s nachher mit unserm lieben Buam tan hat. I denk’s noch wie heut. Da hat er den Buam fortgeschickt, er soll eam seinen Stelzfuß verkaufen und Schnaps dafür holen. Und der Bub hat’s tan, und merkwürdig gscheit für seine Jahre hat er’s gmacht, aber nachher hat er’s beim Anmäuerln verlurn und is nach Haus kemman und hat gflennt und hat gsagt, er wollt ins Wasser gehen, wann wir nur wieder gut wären – o mein; Sie wissen ja, Mr. Mould.«

Mrs. Gamp wischte sich mit ihrem Schal eine Träne aus dem Auge. »Es steht noch so manchs andre in die Zeitungen, wie Geburten und Begräbnisse. Net wahr, Mr. Mould?«

Mr. Mould blinzelte seiner Gattin, die sich ihm inzwischen auf den Schoß gesetzt, zu und sagte: »Ohne Zweifel. Noch viele andere Dinge, Mrs. Gamp. – Wie spaßhaft Mrs. Gamp heute aufgelegt ist, was, meine Liebe?«

»Heiraten, zum Beispiel«, scherzte Mrs. Gamp und zwinkerte den beiden Töchtern zu. »Gott gebe ihnen Glück und Segen. Sie wissen’s ganz gut – Sie haben auch verstanden, was dös heißt, und Mrs. Mould auch, wie Sie beide noch in dem Alter waren. Aber o mein, Sie sin halt beide noch jung, und was Sie und Mrs. Mould betrifft – wenn Sie amal a paar Enkerln –«

»Aber, aber, Mrs. Gamp, Unsinn!« wehrte der Leichenbestatter ab. »Wie spaßhaft sie heute ist!« rief er leise – »meine Liebe –« setzte er laut hinzu, »Mrs. Gamp möchte vielleicht ein Gläschen Rum! Nehmen Sie doch Platz, Mrs. Gamp.«

Mrs. Gamp setzte sich auf den Stuhl dicht neben der Türe, blickte zur Decke empor und tat äußerst zerstreut, bis ihr eine der jungen Damen ein Gläschen Rum überreichte. Dann schien sie aufs äußerste überrascht.

»Na, wirklich«, sagte sie zu Mrs. Mould, »so was kommt selten bei mir vor. Außer, wann i net wol bin und mi meine Quart Bier im Magen druckt. Die Harris sagt immer – ›Gamp‹, hat’s neulich gsagt, ›na wirklich, i verstehe Ihna nöt.‹ Liebe Harris, sag i nacher immer, wieso denn nöt? Nur raus mit der Sprach. ›Offen gestanden, liebe Gamp‹, sagt nacher die Harris, ›auf Ehr und Seligkeit, i kann net verstehn, wie a Frau, wie Sie, als Kranken- und Kindbettwärterin mit so wenig Trinken auskommen kann.‹ Ja mein, liebe Harris, sag ich nacher, keins von uns weiß, was es aushalten kann, bevor’s es net ausprobiert hat. Wie mein Mann selig noch glebt hat, hab i a immer so daher gredt, aber jetzt komm i mit am Quart Bier ganz gut aus. Nur frisch vom Faß muß kemman. Aber ob i jetzt Kranke pfleg oder Wöchnerinnen, liebe Harris, i tu immer mei Pflicht. I bin a arms Weib und muß mei Brot schwer verdiena und drum muß i drauf bestehn, daß mein Quart Bier immer regelmäßig vom Faß kemmt. Dös gesteh i zu.«

Der logische Zusammenhang zwischen diesen Bemerkungen und dem Glase Rum war nicht sehr einleuchtend. Mrs. Gamp ließ sich auch nicht weiter darüber aus, sondern beschränkte sich nur auf die Worte: »Auf Ihner Wol, meine Herrschaften«, und stürzte dann den Tropfen kunstgerecht hinunter.

»Und was bringen Sie uns für Neuigkeiten?« fragte Mr. Mould, während Mrs. Gamp sich die Lippen mit dem Halstuch abwischte und ein Stückchen Zwieback benagte, das sie als Gegengift gegen aufgedrungene Schnäpse in der Tasche zu führen schien, »wie geht’s zum Beispiel Mr. Chuffey?«

»Dem Chuffey«, erklärte Mrs. Gamp, »geht’s wie immer; net schlechter und net besser. Aber schön is doch von dem jungen Herrn, daß er Ihna gschrieben hat: ›Lassen S‘ ’n pflegn von der Gamp, bis i wieder komm.‹ Er is halt immer gut und hat a weichs Herz, ’s gibt net viel solchene. Na ja, sonst wären ja auch die Kirchen überflüssig.«

»Und worüber wollten Sie eigentlich mit mir sprechen, Mrs. Gamp?« fragte Mr. Mould, zur Sache kommend. »Von nix anders als von dem«, entgegnete Mrs. Gamp. »I dank der Nachfrag. Es is a Herr im Ochsen zu Holborn krank wordn und liegt jetzt fest im Bett. Ma hat a Tagwärterin holen lassen vom Bartholomäspital. I bin mit ihr bekannt, Mr. Mould, und sie heißt Prig und is a kreuzbrave Haut. Aber für die Nacht ist sie anderswo vergeben jetzt, und drum brauchen s‘ jetzt drüben jemand anders zum Nachtwachen. Mir sin jetzt scho zwanzg Jahr gute Freundinnen, und deshalb hat s‘ gsagt: die nüchternste Person weit und breit, gradezu a Segen für a Krankenzimmer, is die Gamp. Schicken S‘ an Laufbubn nach Kingsgate, hat s‘ gsagt, und schaun S‘ zu, daß Sie die Gamp um jeden Preis kriegen. Die is net mit Gold aufzuwiegn. Na, und der Wirt hat mir’s gsagt und hat gmeint, es wär a angenehmer Platz, und da ziemlich was dabei rausschaugt, sollet i’s annehmen. Net um alles in der Welt, hab i gsagt, net ohne daß der Mr. Mould was davon weiß. Früher is net dran zu denken. Aber i will zu eahm gehn, hab i gsagt, und eahm fragen, was er meint« – dabei warf sie einen Blick nach dem Leichenbestatter und hielt lauschend inne.

»Nachtwachen, so?« brummte Mould und rieb sich das Kinn.

»Von acht Uhr abends bis acht Uhr früh, net damit Sie glauben, i sag Ihna die Unwahrheit«, erklärte Mrs. Gamp.

»Und dann wären Sie frei?« fragte Mould.

»Ganz frei, und i kann dann ruhig wieder zu Mr. Chuffey gehn. Er is a ganz ruhiger Mensch – geht zeitig zu Bett und schlaft fast die ganze Nacht durch. I will’s net leugnen«, setzte Mrs. Gamp mit weicher Stimme hinzu, »ich bin nur a arms Weib, und das bisserl Geld fallt bei mir ins Gewicht, aber darauf dürfen S‘ ka Rücksicht net nehmen, Mr. Mould. Die Reichen reiten gern auf Kamelen, aber so leicht is net, durch a Nadelöhr durchschlupfen, sag i immer, und dös is mei Trost.«

»Nun, Mrs. Gamp«, meinte Mould, »ich sehe nicht ein, warum Sie nicht unter solchen Umständen auf ehrliche Weise ein paar Groschen verdienen sollten. Mich gehts ja schließlich weiter nichts an, Mrs. Gamp; ich würde es vor Mr. Chuzzlewit auch nicht weiter erwähnen, außer er würde mich direkt danach fragen.«

»Sehen S‘, dös mein i a«, versetzte Mrs. Gamp, »und nehmen mir amal an, der Herr möcht sterben, so hoff i, darf i mir doch die Freiheit nehmen zu sagen, es sei mir ein gwisser Leichenbestatter bekannt – net wahr, Sie nehmen dös doch net für übel, Mr. Mould?«

»Durchaus nicht, Mrs. Gamp«, versicherte Mr. Mould herablassend, »Sie können in solchen Fällen immer bemerken, daß wir dergleichen in jedem beliebigen Stile ausführen, und zwar auf eine für die Überlebenden so tröstliche Weise wie nur möglich. Aber ja nicht zu aufdringlich, verstehen Sie? Ja nicht zu aufdringlich. Nur so nebenhin. – Meine Liebe, du bist vielleicht so gut, Mrs. Gamp ein paar von unsern Geschäftskarten mitzugeben.«

Mrs. Gamp nahm die Karten und stand auf, um sich zu verabschieden, da die Rumflasche bereits eingeschlossen war und demnach nichts mehr für sie herausschaute.

»Also nochmals, Glück und Segen der ganzen Familie!« sagte sie. »Schönen guten Nachmittag, Mrs. Mould. Sehen S‘, wann i der Herr Mould wär, i wär eifersüchtig auf Ihna, und wann i an Ihrer Stell war, würd i wiederum auf den Herrn Gemahl eifersüchtig sein.«

»Aber Mrs. Gamp, reden Sie nicht so!« rief der Leichenbestatter vergnügt.

»Und was die jungen Damen betrifft«, fuhr Mrs. Gamp mit einem Knicks fort, »Gott bewahre ihna ihre Schönheit. – Wann i nur wüßt, wie sie’s mit ihrem Gewissen verantworten können, bei so jungen Eltern schon so erwachsen zu sein. – Na, mi geht’s a nix weiter an.«

»Dummes Zeug! Unsinn! So hören Sie doch auf, Mrs. Gamp!« rief Mr. Mould, konnte es sich aber nicht versagen, vor Freude seine Gattin heimlich in den Arm zu kneifen.

»Ich will dir was sagen, meine Liebe«, bemerkte er, nachdem Mrs. Gamp sich entfernt und die Türe hinter sich zugemacht hatte; »diese Frau ist eine durch und durch gescheite Person und hat einen Verstand, der weit über ihren Beruf hinausgeht. Sie hat eine ganz ungewöhnliche Beobachtungsgabe und einen so gesunden Menschenverstand. – Wahrhaftig, es ist eine Person«, fügte er hinzu, zog sich sein seidenes Schnupftuch wieder über die Glatze und schickte sich zu einem Schläfchen an, »bei der man fast geneigt wäre, sie umsonst zu begraben und noch obendrein erster Klasse.«

Mrs. Mould nebst Töchtern schien damit vollständig einverstanden zu sein.

Mrs. Gamp hatte inzwischen die Straße erreicht, aber die frische Luft schien sie so anzugreifen, daß sie noch eine Weile unter dem Torbogen stehenbleiben mußte, um sich zu erholen. Aber selbst nach dieser Vorsichtsmaßregel war ihr Gang noch so schwankend, daß sie die mitleidigen Blicke einiger gutmütiger Straßenjungen auf sich zog, die für ihren Zustand das lebhafteste Interesse an den Tag legten und ihr in ihrer ungekünstelten Ausdrucksweise zuriefen, sie solle sich nichts draus machen, das ginge vorüber; sie habe nur ein bißchen viel »geladen«.

Wie dem übrigens auch sei oder welchen Namen das medizinische Wörterbuch Mrs. Gamps bresthaftem Zustande beigelegt haben würde, so fand sie sich doch bald und ohne weitere Fährlichkeiten nach ihrem Bestimmungsorte zurecht, langte glücklich in dem Hause »Anthony Chuzzlewits Sohn« an, begab sich zur Ruhe und schlief bis sieben Uhr abends. Dann überredete sie den armen alten Chuffey, zu Bett zu gehen, und machte sich auf, ihren neuen Dienst anzutreten. Zuerst verfügte sie sich in ihre eigene Wohnung in Kingsgate Street, um sich ein Bündel Kleider und Umschlagtüchter für die Nacht zu holen, und dann nach dem »Ochsen« in Holborn. Als sie dort ankam, schlug es gerade acht.

Im Hofe blieb Mrs. Gamp neugierig stehen, denn der Wirt, die Wirtin und das erste Stubenmädchen unterhielten sich auf der Zimmerschwelle angelegentlich mit einem jungen Herrn, der soeben erst angekommen zu sein schien und augenscheinlich die Absicht hatte, sich wieder zu entfernen. Die ersten Worte, die ihr Ohr trafen, bezogen sich fraglos auf den Patienten, und da es für sie als Wärterin nur förderlich sein konnte, soviel wie möglich von dem Falle zu wissen, dessentwegen man sie hatte holen lassen, so hielt sie es geradezu für ihre Pflicht, zu lauschen.

»Nicht besser also?« bemerkte der junge Mann.

»Schlimmer«, versetzte der Wirt.

»Viel schlimmer«, fügte die Wirtin hinzu. »Oh, viel, viel schlimmer!« rief das Stubenmädchen aus dem Hintergrunde, riß die Augen auf und schüttelte das Haupt.

»Der arme Mensch!« seufzte der junge Mann. »Es tut mir sehr leid, das zu hören; und das Schlimmste dabei ist, daß ich mir durchaus nicht denken kann, wer wohl seine Freunde und Verwandten sein mögen oder wo sie wohnen. Sicher ist nur eins, daß man sie nicht in London zu suchen hat.«

Der Wirt sah die Wirtin an, die Wirtin den Wirt, und das Stubenmädchen bemerkte, von allen vagen Vermutungen, und deren gäbe es in einem Gasthaus nicht wenige, sei dies die allervageste.

»Wie ich Ihnen gestern schon sagte«, fuhr der junge Mann fort, »als Sie zu mir schickten, weiß ich so viel wie gar nichts von ihm. Wir waren früher Schulkameraden, aber seitdem habe ich ihn nur zweimal wiedergesehen. Beide Male kam ich auf Ferien nach London aus Wiltshire – auf eine Woche ungefähr –, und dann verlor ich ihn wieder aus den Augen. Der Brief mit meinem Namen und meiner Adresse, den Sie auf seinem Tische fanden und der Sie veranlaßte, zu mir zu schicken, ist eine Antwort – wie Sie bemerken werden – auf einen Brief, den er mir an demselben Tage, wo er krank wurde, von hier aus schrieb und worin er mir ein Rendezvous vorschlug. – Hier ist sein Brief, wenn Sie ihn einsehen wollen.«

Der Wirt las das Schreiben, und die Wirtin guckte ihm über die Schulter. Das Stubenmädchen im Hintergrunde fing gleichfalls so viel davon ab, als ihr irgend möglich war, ergänzte den Rest für sich und betrachtete das Ganze fortan als ein positives Beweisstück.

»Er hat sehr wenig Gepäck, sagen Sie«, bemerkte der junge Mann, der niemand anders war als John Westlock.

»Nichts als ein Felleisen«, versetzte der Wirt, »und wenig genug ist drin.«

»Aber Sie sprachen doch von einigen Guineen in seiner Börse?«

»Ja; ich habe das Geld eingesiegelt und in meine Kasse gelegt. Die Summe hab ich aufgeschrieben, wenn Sie’s sehen wollen.« »Gut«, sagte John. »Der Arzt ist der Ansicht, bevor das Fieber nicht nachließe, könne man nichts anderes tun, als ihm regelmäßig seine Medizin zu reichen und ihm die sorgfältigste Pflege angedeihen zu lassen. Auch ich kann weiter nichts hinzufügen, bis er in der Lage ist, selbe Auskunft erteilen zu können. – Hätten Sie sonst noch etwas zu sagen?«

»N-nein«, versetzte der Wirt, »ausgenommen –«

»Wer für ihn bezahlen soll, nicht wahr?« fragte John.

»Freilich«, meinte der Wirt stockend, »möchte ich das gerne wissen.«

»Ja, ja, natürlich«, sagte die Wirtin.

»Auch wegen des Trinkgelds wär’s gut«, brummte das Stubenmädchen.

»Das ist nur recht und billig«, entgegnete John Westlock, »aber jedenfalls haben Sie für den Augenblick sein Geld als Sicherheit, und was den Doktor und die Krankenpflege betrifft, erkläre ich mich gern bereit, dafür aufzukommen.«

»Oh«, rief Mrs. Gamp, »das nenne ich mir an feinen Herrn!«

Sie hatte diesen Stoßseufzer so hörbar vorgebracht, daß sich alle nach ihr umdrehten. Sie fühlte daher die Notwendigkeit, mit ihrem Bündel in der Hand näher zu treten, um sich vorzustellen.

»I bin die Wärterin aus Kingsgate«, sagte sie, »und die Mrs. Prig, die Wärterin für den Tag, is meine beste Freundin. Sie is wirklich a kreuzbrave Haut. Na, und wie geht’s denn dem armen lieben Herrn heut abend? Wenn’s noch net besser is, muß mer halt abwarten. Es is net das erstemal, Madame« – dabei machte sie der Wirtin einen Knicks – »daß die Prig und i zusamm als Krankenwärterinnen die Tag- und Nachtwach versehn habn. Mir kennen uns und helfen oft noch, wo nix mehr zu helfen is. Mir machen’s billig« – sie wandte sich zu John – »wenn ma die Natur unsrer schmerzlichen Pflichten ins Aug faßt. O mein, wenn’s nur nach uns ging, möchten wir am liebsten gar nix verlangen.«

Als sie sich dieser Einführungsrede glücklich entledigt, knickste sie noch einmal in die Runde und gab den Wunsch zu erkennen, jetzt nach dem Schauplatz ihrer amtlichen Tätigkeit geführt zu werden. Das Stubenmädchen geleitete sie daraufhin durch ein Labyrinth von Gängen nach dem Obergeschoß des Hauses und zeigte dort auf eine einsame Türe am Ende einer Galerie, bedeutete ihr, daß dahinter der Patient liege, und eilte mit größter Geschwindigkeit wieder von dannen.

Mrs. Gamp ging, von der Last ihres umfangreichen Bündels erhitzt, bis zu der Türe und klopfte an. Sofort öffnete Mrs. Prig, die bereits Hut und Schal umgenommen hatte und sichtlich darauf brannte, fortzukommen. Mrs. Prig war so ziemlich von Mrs. Gamps Statur, nur nicht so fett; ihre Stimme klang tiefer und fast männlich. Auch zierte sie ein stattlicher Bart.

»Hab scho gmeint, Sie kommen gar nimmer«, bemerkte sie etwas mißvergnügt. »Morgen abend hol mer’s scho wieder nach«, tröstete Mrs. Gamp, »i hab zuvor noch nach Haus müssen und meine Sachen holen.« Sie ging sodann zur Zeichensprache über, um sich über den Zustand des Patienten zu unterrichten und zu fragen, ob er sie vielleicht hören könne – es stand nämlich eine spanische Wand vor der Tür –, aber Mrs. Prig zerstreute rasch ihr Bedenken.

»Er is ganz ruhig«, sagte sie laut, »aber net bei Besinnung, Sie brauche Ihna net schenieren.« »Sonst hätten S‘ mir nix zu sagen, bevor S‘ gehen, liebe Prig?« fragte Mrs. Gamp, zerrte ihr Bündel in die Stube und sah ihre Kollegin zärtlich an.

»Der marinierte Lachs«, erwiderte Mrs. Prig, »is ausgezeichnet, i kann ihn Ihna bsonders empfehlen. Des kalte Fleisch schmeckt nach Stall, aber die Getränke sin alle gut.«

Mrs. Gamp erklärte sich höchlichst zufriedengestellt.

»Was die Medizinen und die andern Gschichten sin, so stehen s‘ aufm Kamin und aufm Kasten«, warf Mrs. Prig hin, »das letztemal hat er um sieben Uhr eingnommen. Der Lehnstuhl is damisch hart, i rat Ihna, nehmen S‘ sein Kopfpolster.« Mrs. Gamp dankte ihr für diese Winke, wünschte ihr freundlich gute Nacht und hielt die Türe offen, bis sie am anderen Ende der Galerie verschwunden war. Nachdem sie so die Pflicht der Gastfreundschaft erfüllt und ihre Kollegin glücklich verabschiedet hatte, riegelte sie von innen zu, nahm ihr Bündel und ging um die spanische Wand herum, um ihr Geschäft als Wärterin zu beginnen.

»Sakrisch fad, aber es könnt ja a noch schlimmer sein«, brummte sie vor sich hin. »Wann a Feuer auskimmt, so bin i froh, daß a Glander da is und viele Dächer mit Rauchfäng, da kann ma wenigstens gut aussakrallen.«

Aus diesen Bemerkungen ist leicht zu ersehen, daß Mrs. Gamp zum Fenster hinausschaute. Nachdem sie die Aussicht genügend genossen, versuchte sie den Lehnstuhl und erklärte unwillig, er sei härter als ein Ziegelstein. Dann dehnte sie ihre Untersuchung auf die Arzneiflaschen, Gläser, Töpfe und Teetassen aus. Nachdem sie auch hier ihre Neugierde vollständig befriedigt, knöpfte sie ihre Haubenbänder los und trat ans Bett, um sich den Patienten zu betrachten.

Er war ein junger Mann von dunkler Gesichtsfarbe und recht angenehmen Zügen. Seine langen schwarzen Haare nahmen sich auf der weißen Leinwand noch viel dunkler aus, als sie vielleicht in Wirklichkeit waren. Seine Augen hatte er halb geschlossen, und trotzdem sein Körper still dalag, wälzte er ohne Unterlaß den Kopf von einer Seite des Kissens zur andern. Er sprach nicht, ließ aber zuweilen einen Ausruf der Ungeduld oder Überraschung laut werden, dabei beständig den Kopf, wie schon seit Stunden, hin und her bewegend.

Mrs. Gamp labte sich mit einer Prise Schnupftabak und sah ihn eine Weile mit seitwärts geneigtem Haupte an, wie etwa ein Kenner ein etwas zweifelhaftes Kunstwerk betrachten würde. Allmählich bemächtigte sich ihrer eine schreckliche Erinnerung an einen andern Zweig ihres Berufs. Sie beugte sich nieder und drückte ihm die unsteten Arme an die Seite, um zu sehen, wie er sich – als Leiche ausnehmen würde. So gräßlich es auch klingen mag, tatsächlich juckten ihr die Finger vor Verlangen, ihn in die letzte Stellung der Todesstarre zurechtzulegen.

»Herrschaft«, knurrte sie dabei und trat ein paar Schritte zurück, »dös wär a wunderschöne Leich!«

Dann fuhr sie fort, ihr Bündel auszupacken, zündete mit Hilfe eines auf der Kommode stehenden Feuerzeugs ein Licht an, füllte einen kleinen Kessel als Vorbereitung für ein Täßchen Tee für die Nacht, machte zu demselben philanthropischen Zweck »a bisserl a Feuer« an, wie sie es nannte, und zog einen Teetisch herbei, um den traulichen Eindruck zu erhöhen. Diese Vorbereitungen nahmen so lange Zeit in Anspruch, daß es nach ihrer Beendigung höchste Zeit war, ans Abendbrot zu denken. Mrs. Gamp klingelte daher, um es zu bestellen.

»I glaub, Jungfer«, sagte sie in einem Tone, der ihre Angegriffenheit entsprechend illustrieren sollte, zu dem zweiten Stubenmädchen, »a bisserl a geräucherten Lachs mit etwas Fenchel und aner Prisen weißen Pfeffer dabei möcht mir gut tun, ebenso a krachets Weißbrot mit frischer Butter und a Stückerl Käs. Wann S‘ so was wie a Gurken im Haus hätten, so sin S‘ leicht so gut und bringen S‘ mir’s auffi. Es is mei Leibspeis und tut in aner Krankenstubn oft Wunder. Und wann S‘ grad a Doppelbier anzapfen, bringen S‘ mir leicht a a Maß. Die Doktoren sagen immer, es halt wach. Und nachher, Jungfer, vergessen S‘ net für an Schilling Wacholderschnaps und warms Wasser, damit i’s hab, wann i nochamal läut. Des is mei Ration, und i trink kein Tropfen drüber.«

Nachdem sie diese außerordentlich maßvollen Anforderungen gestellt hatte, bemerkte sie, sie wolle an der Türe stehen bleiben und warten, damit der Patient nicht durch wiederholtes Öffnen gestört würde. Sie werde sich aus demselben Grunde dem Stubenmädchen sehr zu Dank verpflichtet fühlen, wenn es sich beeile.

Das Teebrett kam, und alles, sogar die Gurke, befand sich darauf. Mrs. Gamp setzte sich sogleich hin und aß und trank nach Herzenslust. Der Hochgenuß und die Unersättlichkeit, mit der sie dem Gurkenessig zusprach und dann sogar noch die Klinge des Messers ableckte, läßt sich kaum beschreiben.

»O mein«, seufzte sie, als sie bei ihrer Schillingsdosis warmen Grogs hielt, »was für a Glück is es doch, wann der Mensch in dem irdischen Jammertal hienieden sich seine Zufriedenheit bewahrt. Was für a Segen, kranke Leut in ihre Betten glücklich zu machen und sich selbst dabei zu vergessen, solang ma noch Dienste leisten kann. I glaub, in mein ganzen Leben hab i noch kei schönere Gurken gsehn.« In der gleichen seligen Stimmung fortmoralisierend, bis ihr Glas leer war, erinnerte sie sich schließlich, daß sie dem Patienten seine Arzenei zu reichen habe. Sie drückte ihm die Kehle zusammen, um ihn zu veranlassen, den Mund zu öffnen, und schüttete ihm dann den Trank in die Gurgel.

»Meiner Seel, jetzt hätt i fast des Kopfkissen vergessen«, murmelte sie und holte sofort das Versäumte nach. »Jetzt hat er’s so bequem, wie’s der Mensch nur haben kann; jetzt muß i schaun, daß i mir’s auch bequem mach.«

In dieser Absicht zog sie sich einen zweiten Lehnstuhl für die Füße herbei und improvisierte sich eine Lagerstätte. Sodann entnahm sie ihrem Bündel eine gigantische, hinsichtlich Aussehen von einem Kohlkopf nur schwer zu unterscheidende gelbe Schlafmütze und band sie sich auf, nachdem sie vorher eine Reihe alter Locken abgelegt hatte, die den Ausdruck »falsch« eigentlich nicht verdienten, denn von einer Vortäuschung körperlicher Reize konnte hier nicht die Rede sein. Dann zog sie sich eine Nachtjacke an und endlich eine Art Nachtwächterrock, dessen Ärmel sie sich um den Hals band, so daß sie von rückwärts aussah wie eine Vogelscheuche, die von einem Flurwächter umarmt wird.

Nachdem sie alle diese Anstalten sorgfältig erledigt, zündete sie ein Nachtlicht an, krümmte sich auf ihrem Lager zusammen und schickte sich zu einem Schlummer an.

Die Stube war jetzt schaurig dunkel und voll düsterer lauernder Schatten. Nach und nach verstummten die fernen Töne in den Straßen, und das Haus wurde so ruhig wie ein Grab.

Oh, die öden, öden Stunden! Durch das Dunkel der Vergangenheit unfähig, sich vom Elend der Gegenwart loszumachen, schleppte die arme Seele des Kranken ihre schwere Sorgenkette durch eingebildete Festesfreuden, durch Träume voll schauerlicher Pracht, irrte suchend dahin über die längst vergessenen Spielplätze der Kindheit und fand in den Zufluchtsorten von gestern und heute nur Angst und Grausen. Ach, die öden, bleiernen Stunden! Was waren die Irrfahrten Kains gegen diese Wanderungen!

Immer noch wälzte der Kranke, ohne einen Augenblick Ruhe zu finden, sein brennendes Haupt hin und her. Von Zeit zu Zeit wurden seine Mattigkeit, seine Ungeduld und Pein auf diesem Folterbette durch laute Ausrufe kund, wenn seine Lippen auch keine Worte bilden konnten. Endlich gegen Mitternacht fing er an zu reden, wartete zuweilen angstvoll auf Antwort, als ob unsichtbare Gestalten sein Bett umgäben und er ihnen Rede und Antwort stünde.

Mrs. Gamp erwachte und setzte sich in ihrem Bett auf. Ihr Schatten an der Wand sah aus wie die Silhouette eines gespenstischen Nachtwächters, gegen den sich ein Gefangener wehren will.

»Na, werdn S‘ net endlich ’s Maul halten«, rief sie in verweisendem Tone. »Hier wird ka Lärm gemacht, verstanden?«

Nicht die geringste Veränderung im Gesichte des Patienten verriet, daß er sie verstand. Irr phantasierte er weiter.

»Na ja, natürlich«, schimpfte Mrs. Camp und stand räuspernd und unwillig auf, »i hab halt zu gut geschlafen, als daß einem so was lang vergunnt wär. Mir scheint, der Teufel is los, daß ’s heut nacht so kalt is.«

»Trink nicht so viel«, phantasierte der Kranke. »Du wirst uns noch alle zugrunde richten. Siehst du denn nicht, wie die Quelle versiegt und wie es jetzt dunkel wird, wo eben noch das Wasser funkelte?«

»Jawohl, Wasser funkeln«, knurrte Mrs. Garnp, »i will lieber a funkelnde Tassn Tee zu mir nehmen. Wann er nur scho endlich mit dem blöden Gred aufhörn möcht.«

Der Patient brach jetzt in ein Gelächter aus, das gar nicht enden zu wollen schien und schließlich in ein unheimliches Gewinsel überging. Dann hielt er inne und begann rasch hintereinander zu zählen:

»Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs.«

»Eins, zwei, koch mir den Brei«, murmelte Mrs. Gamp, auf den Knien liegend und bemüht, das Ofenfeuer anzuzünden. »Drei, vier, halt zu die Tür – gscheiter wär’s, du hieltest den Mund – fünf, sechs, bucklete Hex! – Ja, wann i hexen könnt, nacher sollt mir der Kessel scho bälder sieden.«

Damit setzte sie sich so dicht an die Kaminstange, daß ihre Nase darauf zu ruhen kam, und unterhielt sich eine Weile damit, diesen Vorsprung ihres Gesichts an dem Metall hin und her zu reiben, soweit dies ohne wesentliche Änderung ihrer Stellung anging. Dabei kommentierte sie fortwährend die irren Reden des Mannes im Bett.

»Zusammen fünfhundertundeinundzwanzig Leute, alle gleich gekleidet und alle gleich das Gesicht verzerrt, so sind sie zum Fenster herein- und zur Tür herausgegangen«, rief er angstvoll. »Schau da, fünfhundertzweiundzwanzig – dreiundzwanzig – vierundzwanzig, siehst du sie?«

»Na ja, natürlich seh ich sie«, brummte Mrs. Gamp. »Die ganze Bande numeriert wie die Droschken. – Oder leicht net?«

»Rühr mich nicht an, ich muß mich überzeugen.«

»I werd dir scho die Arznei einschütten, wann der Kessel siedet«, entgegnete Mrs. Gamp ruhevoll. »Und nacher wirst scho angrührt werden. Und fest a no.«

»Fünfhundertachtundzwanzig – fünfhundertneunundzwanzig – fünfhundertdreißig – schau da!«

»Was gibt’s denn scho wieder?« fragte Mrs. Gamp.

»Jetzt kommen sie zu viert nebeneinander, jeder hat seinen Arm in den des andern eingehängt und die Hand auf dessen Schulter. Was haben sie auf ihren Armen und auf dem Banner?«

»Wahrscheinlich Spinnaweben«, brummte Mrs. Gamp.

»Flor, schwarzer Flor! Gott im Himmel, warum tragen sie ihn außen?«

»Na ja, innawendig könnens ’n doch net tragen», höhnte Mrs. Gamp. »Aber still jetzt, dös Maul ghalten.«

Mittlerweile hatte das Feuer angefangen, eine angenehme Wärme zu verbreiten, und Mrs. Gamp wurde stumm. Langsamer und immer langsamer rieb sie ihre Nase an der Kaminstange, und endlich verfiel sie in einen schweren Schlaf. Sie erwachte plötzlich, denn durch das Zimmer, deuchte ihr, hallte ein Name, den sie gut kannte.

»Chuzzlewit!«

Der Ton war so bestimmt, so wirklich und glich so ganz einem flehentlichen Ruf, daß Mrs. Gamp erschrocken aufsprang und zur Türe eilte. Sie erwartete halb und halb, den Gang mit Leuten angefüllt zu finden, die gekommen wären, ihr zu sagen, das Haus in der City stünde in Flammen. Aber die Galerie war leer. Keine Seele da! Sie öffnete das Fenster und blickte hinaus. Nichts als dunkle, rauchige, öde Dachgiebel. Als sie in die Stube zurückkehrte, warf sie einen Blick auf den Kranken. Ganz wie früher lag er auf seinem Bett, nur seine Lippen schwiegen jetzt. Mrs. Gamp war es so warm geworden, daß sie ihren Nachtwächtermantel abwarf und sich Kühlung zufächelte.

»So laut war’s, daß fast die Flaschen gscheppert habn«, brummte sie. »Von was i nur träumt hab? Wahrscheinlich von dem zwidern Chuffey.«

Diese Vermutung hatte viel für sich. Für alle Fälle kräftigte sich Mrs. Gamp mit einer Prise Schnupftabak, und das Singen des dampfenden Teekessels beruhigte gar bald ihre ohnehin nicht besonders schwachen Nerven. Dann schenkte sie sich ihren Tee ein, röstete sich eine Butterschnitte und nahm, das Gesicht dem Feuer zugekehrt, vor dem Tischchen Platz.

Da klangen mit einem Mal in noch gräßlicherem Tone als vorher die Worte in ihr Ohr:

»Chuzzlewit! Jonas! Nein!«

Erschreckt setzte sie die Tasse, die sie eben an ihre Lippen hatte führen wollen, nieder und wandte sich so rasch um, daß das kleine Tischchen beinah umgefallen wäre. Der Schrei war offenbar von dem Bette hergekommen.

Als sie das nächste Mal wieder zum Fenster hinausschaute, war es bereits heller Morgen, und die Sonne ging heiter auf. Der Himmel wurde Lichter und Lichter, der Lärm auf den Straßen wuchs immer mehr an, und hoch in die Sommerluft empor stieg der Rauch frisch angezündeter Feuer, bis es völlig Tag war.

Pünktlich, wie es sich gehört, kam Mrs. Prig, die bei ihrem Patienten ebenfalls eine gute Nacht verbracht hatte, zur Ablösung. Mr. Westlock fand sich um die gleiche Zeit ein, wurde aber nicht vorgelassen, da die Krankheit möglicherweise ansteckend sein könnte. Auch der Doktor erschien und schüttelte den Kopf – alles, was ein Arzt in solchen Umständen tun kann –, und zwar recht gründlich. »Was hat er für eine Nacht gehabt, Wärterin?«

»A schlechte«, antwortete Mrs. Gamp.

»Viel phantasiert?«

»Na, macht sich«, sagte Mrs. Gamp. »Konnte man nichts aus seinen Reden entnehmen?«

»I Gott bewahr, lauter ungereimtes Zeug war’s.«

»Nun«, meinte der Doktor, »da müssen wir ihn vorläufig noch in Ruhe lassen. Halten Sie das Zimmer kühl, reichen Sie ihm regelmäßig seine Arznei und geben Sie überhaupt sorgfältig auf ihn acht. Weiter läßt sich nichts tun.«

»Habens ka Sorg net; solang die Prig und i bei eahm san, is ka Gfahr net«, versicherte Mrs. Gamp.

»Was? Gibt’s wirklich nix Neues, Mrs. Gamp?« fragte Mrs. Prig, als sie beide den Arzt hinauskomplimentiert hatten.

»Na, wirkli nix«, sagte Mrs. Gamp. »Er red lauter dumms Zeug daher und nennt a Masse Namen. Mer braucht si net dran kehren.«

»Na ja, des a no! Fallet mir grad ein«, entgegnete Mrs. Prig, »i hab an gscheitere Sachen zu denken.«

»Heut abend bring i meine Schuld von gestern wieder ein und komm etwas zeitlicher, liebe Prig«, versprach Mrs. Gamp, »aber eins möcht i Ihna noch raten«, fügte sie enthusiastisch hinzu, »probiern S‘ amal die Gurken. – Bhüat Ihna Gott.«

16. Kapitel


16. Kapitel

Martin besucht New York, macht einige Bekanntschaften und speist in einem Kosthause. – Was dabei alles vorfiel

Schon am äußersten Saume des Landes der Freiheit herrschte keine geringe Aufregung, war doch tags vorher ein Alderman gewählt worden. Und da bei solchen Anlässen der Parteisinn sich besonders lebhaft zu äußern pflegt, so hatten die Anhänger des durchgefallenen Kandidaten es für nötig erachtet, die grandiosen Grundsätze der Meinungs- und Wahlfreiheit dadurch besonders zu betonen, daß sie ihren Mitmenschen, wo es irgend anging, Arme und Beine brachen und besonders mißbeliebte Gentlemen mit der menschenfreundlichen Absicht, ihnen die Nase abzuschneiden, durch alle Straßen verfolgten. Diese kleinen Ausbrüche der Volkslaune waren an und für sich weiter nicht merkwürdig und hätten – würden sie nur eine Nacht gedauert haben – kein besonderes Aufsehen erregt, aber sie erhielten immer frisches Leben und neue Bedeutung durch die Lungenbetätigung der Zeitungsjungen, die die neuesten Nachrichten nicht nur in allen Haupt- und Seitenstraßen der Stadt, sondern auch auf den Werften und Kais, besonders aber auf dem Verdeck und in den Kajüten des Dampfbootes mit schrillem Ruf verkündeten. Noch hatte die Barkasse das Ufer nicht erreicht, als sie bereits von einer ganzen Legion solcher kleiner Bürger der Republik geentert und überfüllt war.

»Hier die heutige New Yorker Kloake!« rief der eine. »Hier ist der heutige New Yorker Gurgelabschneider!«

»Hier der New Yorker Familienspion!«

»Hier haben Sie den New Yorker Horcher an der Wand!«

»Der New Yorker Spitzel – der Beutelschneider – der Schlüssellochgucker!«

»Hier der New Yorker Grobian!« Kurz, alle New Yorker Blätter wurden ausgerufen! Ausführliche Berichte über die gestrige Locofocobewegung, in der die Whigs eine Schlappe davontrugen, und die letzte Alabama-Boxertournee und das interessante Arkansasduell mit Bowiemessern sowie alle politischen, kommerziellen und Modeneuigkeiten füllten die Seiten! »Nur das Allerneueste! Extrablatt, Extrablatt!«

»Neueste Nummer der ›Kloake‹! Kaufen Sie die New Yorker Kloake!« schrie ein anderer. »Bereits das zwölfte Tausend heute gedruckt. Beste Marktnachrichten, alle Schiffsneuigkeiten, ausführliche Beschreibung des Balls bei Mrs. White, wo die ganze vornehme Welt von New York versammelt war. Besondere Nachrichten über das geheime Privatleben der dort anwesenden Damen. Kaufen Sie die Kloake! Bereits zwölftes Tausend der New Yorker Kloake. Enthüllungen über die ›schwarze Bande‹; in Wallstreet und die Washingtonclique! Ausführlicher Bericht der ›Kloake‹ über eine himmelschreiende Lumperei, begangen von dem Staatssekretär, als er bereits acht Jahre alt war: mit den größten Unkosten von seiner eigenen Amme eingeholt! Kaufen Sie die Kloake! Bereits zwölftes Tausend. Eine ganze Liste von New Yorker Namen der Gesellschaft, die demnächst an die Reihe kommen. – Alles schwarz auf weiß! Kaufen Sie die Kloake! Das erste Blatt der Vereinigten Staaten! Bereits das zwölfte Tausend aus dem Druck, und immer noch sind die Pressen in Gang. Kaufen Sie die New Yorker Kloake, Gentlemen!«

»Durch solche lichtvolle Mittel«, rief eine Stimme fast in Martins Ohr, »machen sich die übersprudelnden Leidenschaften meines Vaterlandes Luft.« Unwillkürlich wandte sich Martin nach dem Sprecher um und erblickte dicht an seiner Seite einen bleichen Gentleman mit eingefallenen Wangen, schwarzem Haar, unruhigem Blick und einem eigentümlichen Ausdruck um die tiefliegenden Augen, der weder als Scheelblick noch als Hohn gedeutet werden konnte und doch im ersten Moment ganz offenkundig eines von beiden zu sein schien. Auch bei einer näheren Bekanntschaft würde es schwer gewesen sein, den Zug anders denn als eine Mischung von Dünkel und niederträchtiger Schlauheit zu deuten. Um sich das Ansehen eines Weisen zu geben, trug der Gentleman einen breitkrempigen Hut und hatte, um seiner Haltung etwas Imponierendes zu geben, die Arme verschränkt. Er war ein wenig schäbig in einen blauen Mantel gekleidet, der ihm fast bis an die Knöchel reichte, seine kurzen weiten Hosen waren von derselben Farbe, und durch eine verschossene, gelbe Weste kämpfte sich ein verschossener Busenstreif, als wolle er mit den andern Anzugsbestandteilen gewissermaßen eine Art Gleichheit hinsichtlich bürgerlicher Rechte behaupten und auf eigene Faust eine besondere Art Unabhängigkeit proklamieren. Die ungewöhnlich großen Füße des Gentlemans waren nachlässig gekreuzt, während er selbst halb auf dem Seitengeländer des Dampfbootes saß, halb daran lehnte. Ein dicker Spazierstock, an dem einen Ende mit einer gewaltigen Zwinge und am andern mit einem großen Metallknopf verziert, von dem ein paar Quasten herunterbaumelten, vervollständigte seine Garderobe. Als der Gentleman bemerkte, daß es ihm gelungen, Martins Aufmerksamkeit zu erregen, zog er den rechten Mund- und Augenwinkel gleichzeitig in die Höhe und wiederholte:

»Durch solche lichtvolle Mittel machen sich die übersprudelnden Leidenschaften meines Vaterlandes Luft.«

Da er dabei Martin ansah und niemand anders in der Nähe war, der darunter gemeint sein konnte, neigte dieser den Kopf und erwiderte:

»Wie meinen Sie das?«

»Ich denke dabei an das Palladium rationeller Freiheit bei uns, Sir, und an die Scheußlichkeiten fremden Unterdrückertums im Ausland«, erklärte der Gentleman und deutete mit seinem Stock auf einen einäugigen und ganz besonders schmutzigen Zeitungsjungen, »an den Neid der großen Welt, Sir, und die Bahnbrecher der Zivilisation der Menschheit. Aber gestatten Sie die Frage, Sir«, setzte er mit der Miene eines Mannes hinzu, der sich nicht so leicht mit Phrasen abspeisen läßt, und stieß dabei seine Stockzwinge heftig auf das Verdeck; »wie gefällt Ihnen Amerika?«

»Ich bin außerstande, diese Frage jetzt schon beantworten zu können, da ich das Land ja noch gar nicht betreten habe«, sagte Martin.

»Ja ja, ich verstehe, Sie waren nicht darauf gefaßt, solche überwältigenden Anzeichen eines unerschöpflichen Nationalwohlstandes zu erblicken.«

Dabei deutete der Gentleman auf die vielen Schiffe, die an den Quais lagen, und schwenkte seinen Stock in der Runde, als wolle er Luft und Wasser mit in den erwähnten Reichtum einbezogen wissen.

»Nun, wie man’s nimmt«, sagte Martin. »Offen gestanden, glaube ich, war ich es.«

Der Gentleman sah ihn mit einem listigen Blicke an und meinte, diese Art Politik gefalle ihm nicht. Aber es mache weiter nichts; er als Philosoph finde ein gewisses Vergnügen darin, die Vorurteile der menschlichen Natur zu beobachten.

»Wie ich sehe, Sir«, fuhr er zu Martin gewendet fort und stützte sich mit dem Kinn auf den Knopf seines Stockes, »haben Sie hier wieder mal das übliche Quantum von Elend und Armut, Unwissenheit und Verbrechen mitgebracht, um es in den Schoß der großen Republik auszuschütten. Macht nichts, Sir! Lassen Sie sie nur in vollen Schiffsladungen vom alten Lande herüberkommen, die da. Ein sinkendes Schiff verlassen die Ratten, sagt man. Es liegt sehr viel Wahres in dieser Bemerkung. Meinen Sie nicht?«

»Nun, ich denke, unser altes Regierungsschiff in England wird sich schon noch ein paar Jahre über Wasser halten«, versetzte Martin und mußte sowohl über den Inhalt der Rede des Gentlemans wie auch über seine sonderbare Art zu sprechen – er legte nämlich einen starken Nachdruck auf die kleinen Flickworte und Silben, während er die größeren achtlos herunterschluckte – unwillkürlich lächeln. »Die Hoffnung, Sir, sagt schon der Dichter«, fing der Amerikaner wieder an, »ist des Wunsches Amme.«

Martin gab zu, gehört zu haben, daß diese Kardinaltugend gelegentlich solche häuslichen Dienste übernehme.

»Im gegenwärtigen Falle jedoch wird sie ihr Kind nicht großziehen. Sie werden sehen.«

»Na, die Zeit wird’s ja lehren«, meinte Martin.

Der Gentleman nickte ernst mit dem Kopf und fragte dann:

»Wie heißen Sie, Sir?«

Martin sagte es ihm.

»Wie alt sind Sie, Sir?«

Martin sagte ihm auch dies.

»Welchen Beruf haben Sie, Sir?«

»Architekt.«

»Und Ihre Pläne, Sir?«

»Wahrhaftig«, meinte Martin lachend, »über diesen Punkt kann ich Ihnen wirklich keine Auskunft geben. Ich weiß es nämlich selbst nicht.«

»So?« rief der Gentleman.

»Ja, so ist es.«

Der Gentleman nahm daraufhin seinen Stock unter den linken Arm und betrachtete Martin genauer und mit größerer Sorgfalt, als er es bisher getan. Nachdem er mit seiner Untersuchung fertig war, streckte er den rechten Arm aus, schüttelte Martin die Hand und sagte:

»Mein Name, Sir, ist Oberst Diver. Ich bin Herausgeber des New Yorker ›Grobian‹.«

Selbstverständlich nahm Martin diese Eröffnung mit der gebührenden Ehrfurcht entgegen.

»Das New Yorker Journal ›Grobian‹, Sir«, fing der Oberst wieder an, »ist, wie Sie wohl wissen werden, das Organ der Aristokratie in der Stadt.«

»So? Gibt es denn hier eine solche?« fragte Martin. »Aus was für Elementen setzt sie sich zusammen?«

»Aus den Elementen der Intelligenz, Sir! Aus Intelligenz und Moral und ihrer notwendigen Folgeerscheinung, nämlich aus den Dollars.« Martin war außerordentlich erfreut, das zu hören. Wenn Intelligenz und Moral in Amerika notwendigerweise zur Erwerbung von Dollars führen, sagte er sich, so könne es nicht fehlen, daß er sehr bald ein großer Kapitalist sein würde. Er wollte eben seine Freude über diese Mitteilung aussprechen, als er durch den Schiffskapitän unterbrochen wurde, der soeben heraufkam, um dem Oberst die Hand zu drücken, und bei dem Anblick eines fein gekleideten Fremden – Martin hatte nämlich seinen Mantel abgelegt – sich beeilte, auch diesen herzlich zu begrüßen. Martin empfand es als etwas sehr Angenehmes, denn trotz der unumschränkten Herrschaft von Moral und Intelligenz in Amerika hätte es ihn doch tief verletzt, sich vor Oberst Diver als armer Zwischendeckpassagier behandelt zu sehen.

»Nun, Kapitän?« fragte der Oberst.

»Nun, Oberst?« rief der Kapitän. »Übrigens, Sie sehen ja verdammt fein aus, Sir. Hätte Sie kaum erkannt, Sir. Tatsache.«

»Gute Fahrt gehabt, Kap’tän?« fragte der Oberst.

»Ja ja, lief ganz gut ab, Sir,« sagte oder vielmehr sang der Kapitän, der ein echter Neuengländer war. »Punkto Wetter nämlich.«

»So? Wirklich?«

»Ja ja, Tatsache. Habe übrigens eben die Passagierliste durch einen Jungen in Ihr Bureau geschickt.«

»Haben Sie vielleicht sonst noch einen Jungen übrig, Kap’tän?« fragte der Oberst in einem Ton, der fast an Strenge grenzte.

»Ich glaube, es sind noch ’n paar Dutzend hier, wenn Sie welche brauchen, Oberst.«

»Nur einen. Er braucht nicht sehr groß zu sein; nur muß er ein paar Dutzend Flaschen Champagner in mein Bureau tragen können«, bemerkte der Oberst bedeutsam. »Haben also ’ne gute Fahrt gehabt, was?«

»Ja, macht sich«, war die Antwort.

»Mein Bureau ist ganz in der Nähe, Sir«, fing der Oberst wieder an. »Freut mich, daß Sie ’ne gute Fahrt gehabt haben, Kap’tän. Hm – Macht übrigens nichts, wenn Sie keine ganzen Flaschen haben; der Junge kann ebensogut zweimal gehen und vierundzwanzig halbe Flaschen bringen. Also eine besonders hübsche Fahrt war’s, Kap’tän, was?«

»Ja, eine ganz vor-zügliche Fahrt«, sagte der Seemann.

»Sie haben eben immer Glück, Kap’tän. – Hm. – Sie könnten mir übrigens auch ’n Korkzieher und ’n paar Dutzend Gläser borgen. – Wie sehr sich auch die Elemente gegen meines Vaterlands edles Paketschiff, die ›Schraube‹, verschwören mögen«, wendete sich der Oberst jetzt wieder gegen Martin und machte mit seinem Spazierstock seine Lieblingsschwenkung, »so kann man doch immer darauf wetten, daß es eine feine Fahrt macht.«

Der Kapitän, in dessen Kajüte in diesem Augenblick die Redaktion der New Yorker »Kloake« ein ungeheures Gabelfrühstück verschlang, während in einer andern ein paar Journalisten eines zweiten vornehmen Blattes sich toll und voll soffen, benützte die günstige Gelegenheit, sich zu verabschieden, drückte seinem Freunde und Gönner, dem Obersten, herzlich die Hand und eilte fort, um den Champagner zu besorgen. Er wußte – wie sich später herausstellte – ganz genau, daß, wenn er den Redakteur des »Grobian« nicht für sich gewann, dieser Druckerschwärzepotentat ihn samt seinem Schiffe binnen vierundzwanzig Stunden mit großen Plakatbuchstaben an den Pranger stellen und vielleicht sogar das Andenken seiner Mutter, die erst zwanzig Jahre tot war, mit Kot bewerfen würde.

Der Oberst war nunmehr wieder mit Martin allein, hielt ihn, als er sich ebenfalls empfehlen wollte, am Arme zurück und machte sich erbötig, ihm als Engländer und Fremdem die Stadt und nachher, wenn er es wünsche, ein anständiges Kosthaus zu zeigen. Doch bevor sie aufbrächen, sagte er, bitte er um die Ehre seines Besuches auf dem Bureau des »Grobian«, um mit ihm eine Flasche Champagner auszustechen.

Das klang alles so außerordentlich freundlich und gastlich, daß Martin, obgleich es noch sehr früh am Morgen war, die Einladung dankend annahm. Er befahl daher Mark, der noch immer angelegentlich mit seiner Freundin und ihren drei Kindern beschäftigt war, wenn er damit fertig sei und das Gepäck an Land gebracht habe, im Bureau des »Grobian« weitere Weisungen einzuholen, und begab sich sodann mit seinem neuen Bekannten an Land.

Mühsam bahnten sie sich ihren Weg durch das traurige Gedränge der Auswanderer auf dem Kai – die Armen verstanden und wußten so wenig von dem Lande, unter dessen blauem Himmel und auf dessen kahlem Boden jetzt ihre Betten und Koffer lagen, als wären sie eben aus irgendeinem Planeten heruntergeschneit – und gingen dann eine kurze Strecke zusammen durch eine belebte Straße, auf deren einer Seite Kais und Schiffszimmerplätze lagen, während auf der andern eine lange Reihe aus roten Ziegeln gebauter Magazine und Bureaus sich hinzog, die mit mehr schwarzen Schildern mit weißen Buchstaben und weißen Schildern mit schwarzen Buchstaben behängt waren, als Martin je zuvor auf einem fünfzigmal größeren Räume gesehen hatte. Sodann bogen sie in eine schmale Straße und von da aus in andere enge Gassen ab, bis sie endlich vor einem Hause haltmachten, an dem mit großen Buchstaben die Inschrift: Redaktion des »Grobian« prangte.

Der Oberst, der den ganzen Weg über, eine Hand in der Westenbrust und den Hut schief auf dem Ohre, einhergeschritten war wie ein Mann, dem das Gefühl der eigenen Größe eine Qual bedeutet, ging über eine dunkle, schmutzige Treppe voraus in ein Zimmer von ähnlichem Aussehen, das mit Haufen von Papierschnitzeln und Fetzen von Manuskripten und Korrekturen bestreut war. Hinter einem alten, morschen und unappetitlichen Schreibtisch saß, einen Federstumpf im Mund und eine große Schere in der Hand, ein junger Mensch und schnitt an einem Stoß Journalen herum. Er sah so lächerlich aus, daß Martin sich die größte Mühe gab, seinen Ernst zu bewahren, zumal Oberst Diver ihn scharf beobachtete.

Der Herr, der wie erwähnt die Grobianzeitung mit der Schere redigierte, war ein kleiner Gentleman von sehr jugendlichem Aussehen und einer ungesunden Gesichtsfarbe, die wahrscheinlich zum Teil von seinen tiefen Gedanken, vielleicht aber auch von der Wirkung übermäßigen Tabakgenusses herrührte. Wenigstens hatte er im Augenblick den ganzen Mund voll Priemchen. Den Hemdkragen trug er zurückgeschlagen über ein schwarzes breites Band, und sein dünnes, langes und straffes Haar war nicht nur glatt gekämmt und aus der Stirne zurückgestrichen, damit nur ja kein Strahl der Poesie seines Gesichts verlorenginge, sondern auch stellenweise mit der Wurzel ausgerissen, wodurch sich einigermaßen die große Anzahl von Pickeln und entzündeten Flecken auf der Kopfhaut erklären ließ. Seine Nase gehörte zu jener Kategorie, die die Scheelsucht des Menschengeschlechtes mit dem Ausdruck: »Mopsnase« getauft hat. An der Spitze war sie aus Überfluß an Weltverachtung ein wenig umgestülpt. Auf der Oberlippe des Gentlemans prangten einige Anzeichen eines gelben Flaums, aber so weich und spärlich, wenn auch nach Kräften gepflegt, daß sie wie die Brösel eines Lebkuchens aussahen und durchaus nicht wie ein Schnurrbart. Doch das zarte Alter des Herrn entschuldigte diesen Mangel zur Genüge.

Der junge Mann war in seine Arbeit außerordentlich vertieft, und sooft er die große Schere zusammenschnappen ließ, machte er eine entsprechende Bewegung mit den Kinnladen, was ihm ein märchenhaft grimmiges Aussehen verlieh.

Martin schwante so etwas, als ob dies Oberst Divers Sohn sein müsse – sozusagen die Hoffnung seiner Familie und der künftige Haupthebel des »Grobians«. Schon hatte er einen Anlauf genommen, um zu sagen, es sei ungemein komisch, wie Mr. Divers Sprößling in aller Unschuld der Kindheit den Redakteur spiele, da unterbrach ihn der Oberst stolz mit den Worten:

»Mein Kriegskorrespondent, Sir, Mr. Jefferson Brick.«

Der Schrecken fuhr Martin in die Glieder bei dem Gedanken, welch fürchterlichen Mißgriff er beinahe begangen hätte. Mr. Brick bezog den Eindruck, der sich plötzlich auf Martins Gesicht spiegelte, auf sich, schien sich sehr darüber zu freuen und drückte ihm mit einer Gönnermiene, die Martin bedeuten sollte, er brauche sich durchaus nicht zu fürchten, die Hand.

»Wie ich merke, haben Sie schon von Mr. Jefferson Brick gehört, Sir«, sagte der Oberst lächelnd. »Ich will’s meinen, daß England den Namen Jefferson Brick zur Genüge kennt. Ganz Europa hat von Jefferson Brick gehört. Warten Sie mal – wann haben Sie England verlassen, Sir?« »Vor fünf Wochen.«

»Vor fünf Wochen«, wiederholte der Oberst gedankenvoll, setzte sich auf den Tisch und baumelte mit den Beinen. »Gestatten Sie mir die Frage, Sir, welcher von Mr. Bricks Artikeln hat damals bei dem britischen Parlament und dem Hofe in St. James am meisten Anstoß erregt?«

»Auf mein Wort«, stotterte Martin, »ich –«

»Ich weiß natürlich, Sir«, unterbrach ihn der Oberst, »daß die aristokratischen Kreise Ihrer Nation vor dem Namen Jefferson Brick zittern, aber ich möchte gern von Ihren eigenen Lippen hören, Sir, welcher von seinen Artikeln den tödlichen Streich geführt hat.«

»– die tausendköpfige Hydra der Verderbnis, die sich jetzt im Staub windet aus Furcht vor der Lanze der Vernunft und ihr schwarzes Herzblut gen Himmel spritzt«, deklamierte Mr. Brick, offenbar damit seinen letzten Artikel zitierend, und setzte des Eindrucks wegen eine kleine, blaue Tuchkappe mit einem Schild aus Glanzleder auf.

»Die Libation der Freiheit, Brick«, soufflierte der Oberst.

»– muß zuweilen aus Blut bestehen, Oberst«, ergänzte Brick.

Als er das Wort Blut aussprach, schnappte er dabei mit seiner großen Schere, als ob auch sie »Blut« sage und ganz seiner Ansicht sei.

Sodann sahen beide Herren Martin an, gespannt auf seine Antwort wartend.

»Wahrhaftig«, versicherte Martin, der inzwischen seine Fassung wiedergewonnen, »ich kann Ihnen keine genügende Auskunft darüber geben, denn tatsächlich habe ich –«

»Halt!« rief der Oberst, seinen Kriegskorrespondenten finster anblickend und bei jedem Wort nachdrücklich mit dem Kopf nickend, »wollen Sie vielleicht sagen, daß Sie niemals etwas von Jefferson Brick gehört haben oder von ihm lasen oder nie den ›Grobian‹ zu Gesicht bekamen – ja nicht einmal etwas von seinem kolossalen Einfluß auf die Kabinette Europas wußten – wie?«

»Allerdings wollte ich etwas derartiges bemerken«, gab Martin zu. »Bleiben Sie ruhig, Jefferson«, sagte der Oberst würdevoll, »regen Sie sich nicht auf. – Oh, ihr Europäer! – Na; – trinken wir lieber ein Glas Wein.«

Mit diesen Worten sprang er vom Tisch herab und holte aus einem Korb vor der Türe eine Flasche Champagner und drei Gläser.

»Mr. Jefferson Brick, Sir«, sagte er, füllte Martins Glas und reichte dann die Flasche dem Herrn mit der Schere hin, »wird einen Toast ausbringen.«

»Mit Vergnügen, Sir«, rief der Kriegskorrespondent, »wenn Sie es wünschen. – Also, der ›Grobian‹ soll leben und alle Blätter derselben Tendenz. Der Born der Wahrheit, dessen Wasser schwarz sind, da sie aus Druckerschwärze bestehen, ist dennoch klar genug, um der Spiegel zu sein, in dem mein Vaterland den Glanz seiner Bestimmung voraussehen kann.«

»Hört, hört!« rief der Oberst wohlgefällig. »Sagen Sie selbst, ist die blumenreiche Sprache meines Freundes nicht bewundernswert?«

»Allerdings«, gab Martin zu.

»Und hier ist der heutige ›Grobian‹, Sir«, bemerkte der Oberst und reichte ihm eine Nummer der Zeitung hin; »Sie werden daraus ersehen, daß Mr. Jefferson Brick auf seinem gewohnten Posten steht als Flügelmann des Fortschritts in der Avantgarde der menschlichen Zivilisation und sittlichen Ordnung.«

Er hatte sich inzwischen wieder auf den Tisch gesetzt, Mr. Brick nahm neben ihm Platz, und dann fingen beide an, tüchtig zu zechen. Dabei warfen sie des öfteren Martin, der gehorsam die bezeichneten Artikel las, und einander Blicke zu. Als dieser endlich die Zeitung niederlegte – die beiden Herren köpften inzwischen bereits die zweite Flasche –, fragte ihn der Oberst, was er davon halte.

»Aber das alles ist ja entsetzlich persönlich«, meinte Martin.

Der Oberst schien durch diese Bemerkung sehr geschmeichelt zu sein und sagte, er wolle das hoffen.

»Wir sind hierzulande nämlich freie unabhängige Männer, Sir«, erklärt Mr. Jefferson Brick, »und tun und lassen, was uns beliebt.« »Demnach müßte es logischerweise hierzulande auch viele tausend Leute geben, die gerade das Gegenteil von frei und unabhängig sind und die tun müssen, was ihnen nicht gefällt?« fragte Martin.

»In diesem Fall unterliegen sie eben dem gewaltigen Geist der volksbelehrenden Presse, Sir«, erklärte der Oberst; »allerdings lehnen sie sich von Zeit zu Zeit auf, aber im allgemeinen behaupten wir eine feste Herrschaft über unsere Bürger, sowohl im öffentlichen wie im Privatleben, und das ist ebensogut eine der veredelndsten Einrichtungen unseres Landes wie –«

»Wie die Negersklaverei eine ist«, ergänzte Mr. Brick.

»Sehr richtig«, bemerkte der Oberst.

»Darf ich«, sagte Martin stockend, »darf ich mir in betreff eines Falles, den ich hier gerade in Ihrem Blatte lese, eine Frage erlauben? – Geht nicht doch zuweilen die volksbelehrende Presse – ich bin wirklich in Verlegenheit, wie ich mich ausdrücken soll, ohne Sie zu beleidigen – auf Grund unrichtiger Informationen – auf Grund anonymer Briefe zum Beispiel«, setzte er hinzu, denn der Oberst blieb vollkommen ruhig und ließ sich nicht im mindesten aus der Fassung bringen, »oder auf Grund solcher Mitteilungen, die möglicherweise von Fälschern herrühren könnten, vor?«

»Gewiß, Sir«, gab der Oberst freimütig zu. »Hie und da kommt das gewiß vor.«

»Und das Volk – was sagt es dazu?«

»Es kauft die Zeitung«, antwortete der Oberst.

Mr. Jefferson Brick spuckte aus und lachte nur; ersteres reichlich, letzteres beifällig.

»Es kauft die Zeitung zu Hunderten und Tausenden Exemplaren. Ja, ja, wir sind eben ein famoses Volk hier und wissen Gerissenheit wohl zu schätzen.«

»Ist ›Gerissenheit‹ der amerikanische Ausdruck für Fälschung?« fragte Martin.

»Ach Gott«, meinte der Oberst, »es ist so der amerikanische Ausdruck für – so mancherlei, was ihr drüben mit andern Namen bezeichnet. Aber ihr in Europa seid ja überhaupt schwerfällig und unbeholfen. Aber was für einen Namen wir auch dafür wählen wollen« – der Oberst beugte sich nieder, um die dritte leere Flasche zu den beiden übrigen in eine Ecke zu rollen – »so vermute ich, daß die Kunst der Fälschung hierzulande gerade nicht erfunden wurde, Sir.«

»Das habe ich auch nicht behauptet«, versetzte Martin.

»Und ich denke, auch ebensowenig wie irgendeine andere Art von Gerissenheit.«

»Erfunden? Nein, das glaube ich nicht.«

»Nun«, sagte der Oberst lächelnd, »dann geben Sie ja selbst zu, daß wir alles von dem alten Lande drüben haben. Das alte Land trifft in diesem Falle der Vorwurf, nicht das neue. Übrigens damit basta. Also, wenn Sie jetzt gefälligst austrinken wollen, meine Herren, und vorausgehen, so werde ich das Bureau abschließen und Ihnen dann sofort nachkommen.«

Auf diesen nicht mißzuverstehenden Wink folgte Martin dem Kriegskorrespondenten, der mit majestätischen Schritten die Treppe voraus hinunterging. Der Oberst kam ihnen nach, und einen Augenblick später befanden sie sich wieder auf der Straße. Martin hätte am liebsten dem Obersten ein paar Fußtritte wegen seiner offenkundigen Unverschämtheit und Zudringlichkeit versetzt, und in seinen Mienen war auch etwas derartiges zu lesen, aber Mr. Diver kümmerte sich offenbar in seinem Selbstbewußtsein und seiner Machtstellung sehr wenig darum, was Martin oder sonst irgend jemand von ihm dachte. Seine gepfefferten Artikel waren lediglich auf Absatz berechnet und fanden auch die entsprechende Anzahl Abnehmer. Die Leser durften ihm daher bei ihrer ausgesprochenen Vorliebe für Klatsch und Unflat ebensowenig einen Vorwurf machen, wie ein Schlemmer für seine Ausschweifungen seinen Koch hätte verantwortlich machen dürfen, und nichts hätte überdies dem Oberst mehr Freude bereiten können, als wenn ihm jemand ins Gesicht gesagt hätte, daß ein Mann wie er sich in keinem andern Lande am hellichten Mittag auf der Straße blicken lassen dürfte. Er würde darin nur den Beweis gesehen haben, daß er seine Zeitung vortrefflich dem herrschenden Geschmack anzupassen wisse und er selbst eine echt nationale, amerikanische Erscheinung sei. So gingen sie eine Meile oder etwas darüber durch eine hübsche Straße, die, wie der Oberst sagte, Broadway hieß und, nach Mr. Jeffersons Erklärung, für das ganze übrige Universum einen Schlag ins Gesicht bedeutete. Schließlich bogen sie in eine der zahlreichen Gassen ein, die in diese Hauptstraße mündeten, und blieben zuletzt bei einem unscheinbaren Hause mit Jalousien vor den Fenstern stehen. Vor der grün angestrichenen Haustüre befand sich eine Treppe mit einem weißen Ornament an jeder Geländerseite, das wie ein versteinerter und polierter Tannenzapfen aussah. Über dem Klopfer war eine längliche Platte mit dem Namen »Pawkins« eingelassen, und vier Schweine blickten in der Gegend umher.

Mit der Miene eines Mannes, der zu Hause ist, klopfte der Oberst an die Türe, und gleich darauf steckte ein irisches Mädchen den Kopf aus einem der Dachfenster, um nachzusehen, wer unten sei. Während sie noch die Treppe herunterkam, hatten die Schweine mit zwei oder drei Kollegen aus der nächsten Straße Freundschaft geschlossen und wälzten sich friedlich zusammen in der Gosse.

»Ist der Major zu Hause?« fragte der Oberst eintretend.

»Meinen Sie den Master, Sir?« fragte das Mädchen schüchtern, da im Hause offenbar kein Mangel an Majoren war.

»Der Master!« rief Oberst Diver, blieb stehen und sah sich nach seinem Kriegskorrespondenten um.

»Da haben wir wieder die heillosen Mißbräuche aus dem alten England«, rief Mr. Jefferson Brick. »Master!«

»Warum ficht Sie dieses Wort so an?« fragte Martin.

»Der Ausdruck ist hierzulande verpönt«, erklärte Mr. Brick. »Man hört ihn höchstens noch aus dem Munde eines entarteten Dienstboten, dem die Segnungen unserer Regierung noch fremd und neu sind, wie dieser Magd hier. Bei uns gibt es keine ›Master‹.«

»Da gibt es also in Amerika nur ›Eigentümer‹?« fragte Martin.

Mr. Jefferson Brick folgte dem Herausgeber des »Grobian« und erwiderte kein Wort. Der Oberst ging voran in eine Stube im rückwärtigen Teil des Hauses zu ebener Erde, die hell und hübsch groß war, aber einen überaus ungemütlichen und ungastlichen Eindruck machte, da darin nichts zu sehen war als vier nackte, weiße Wände, die Zimmerdecke, ein ordinärer Teppich und ein entsetzlich langer Speisetisch, von einem Ende des Saales bis zum andern reichend, und eine ungeheure Menge von Rohrsesseln. Im Hintergrunde dieser Speisehalle stand ein Kamin – auf jeder Seite mit einem großen messingenen Spucknapf flankiert –, oder besser gesagt ein aus drei aufrecht stehenden eisernen Fäßchen zusammengestellter Ofen, die – hinter einer Art Umzäunung – sämtlich nach Art der siamesischen Zwillinge miteinander verbunden waren. Vor dem Feuer saß in einem Schaukelstuhl ein großer Gentleman, den Hut auf dem Kopf und eifrig damit beschäftigt, einmal links und einmal rechts in die Spucknäpfe zu spucken.

Ein Negerjunge, in eine schmutzige Jacke gekleidet, belegte gerade den Tisch mit zwei langen Reihen von Messern und Gabeln und stellte hie und da Krüge mit Wasser dazwischen. Als er die unterste Reihe der Tafel erreicht hatte, zog er mit seinen schmutzigen Pfoten das noch schmutzigere schiefgelegte Tischtuch zurecht, das seit dem Frühstück offenbar nicht entfernt worden war. Infolge der erstickenden Ofenhitze herrschte eine ungemein schwüle Atmosphäre im Zimmer, die überdies durch den penetranten Suppengeruch aus der Küche und den vorherrschenden Tabakgestank für die Sinne eines nicht daran Gewöhnten fast unerträglich war.

Der Gentleman in dem Schaukelstuhl kehrte den Eintretenden den Rücken und schien so sehr von seiner sinnigen Beschäftigung in Anspruch genommen, daß er ihrer gar nicht ansichtig wurde, bis der Oberst zu dem Ofen hinging und auch sein Scherflein in dem Spucknapf links deponierte. Major Pawkins blickte daraufhin mit der Miene stiller Mattigkeit auf, wie ein Mann, der die ganze Nacht über aufgewesen ist – ein Gesichtsausdruck, den übrigens Martin bereits am Obersten und an Mr. Jefferson Brick bemerkt hatte.

»Nun, Oberst?« fragte er faul.

»Ich habe Ihnen hier einen Gentleman aus England mitgebracht, Major«, versetzte der Oberst, »der sich bei Ihnen einmieten möchte, falls ihm der Preis zusagt.« »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir«, brummte der Major und streckte Martin, ohne einen Muskel seines Gesichtes zu verziehen, die Hand hin. »Wie geht es Ihnen?«

»Gut, ich danke«, antwortete Martin.

»In Amerika auch nicht gut anders möglich«, versetzte der Major, »hier bei uns scheint eben die Sonne.«

»Ich glaube mich erinnern zu können, daß ich sie bisweilen auch in meiner Heimat scheinen sah«, bemerkte Martin lächelnd.

»Das glaube ich nicht.«

Der Major sagte dies mit so stoischer Gleichgültigkeit, aber doch mit so entschiedenem Tone, daß die Sache damit abgetan zu sein schien; dann schob er seinen Hut ein wenig aufs Ohr, um sich bequemer den Kopf kratzen zu können, und begrüßte Mr. Jefferson Brick mit einem trägen Nicken.

Major Pawkins, der sich pennsylvanischer Abkunft rühmen konnte, zeichnete sich durch einen auffallend großen Schädel und eine breite gelbe Stirn aus, weswegen man ihn in Schenkstuben und andern öffentlichen Orten für einen Mann von ungeheurem Scharfsinn hielt. Höchst merkwürdig an ihm war auch sein schläfriger Blick und sein träges, schwerfälliges Wesen. Kurz, er war ein Mann, der, wie man sagt, viel Platz und Zeit braucht, um sich umzudrehen. Mit seinem Weisheitsschatze verfuhr er nach dem Grundsatze jener Krämer, die stets alle Waren, die sie besitzen, und noch mehr ins Schaufenster stellen, und das verfehlte bei seinem Anhang von Bewunderern nicht, einen großen Eindruck zu machen.

Wie Mr. Jefferson Brick Martin ins Ohr flüsterte, war Major Pawkins einer der hervorragendsten Köpfe des Landes. Und das beruhte auch auf Richtigkeit, denn er war ein großer Politiker, und sein einziger Glaubensartikel in bezug auf alle öffentlichen Verpflichtungen, bei denen Treu und Glauben und der gute Ruf seines Vaterlandes ins Spiel kamen, war: alle alten Geschichten mit einem Federstrich rasch abzumachen und dann wieder von neuem anzufangen. Das stempelte ihn zum Patrioten. Hinsichtlich Handel und Wandel war er ein kühner Spekulant, oder besser gesagt: ein Schwindelgenie. Er verstand es, aus dem Effeff Banken zu gründen, ein Anlehen zu placieren oder eine Landaktienkompagnie zusammenzutrommeln, die dann Verderben, Pest und Tod über Hunderte von Familien brachte. Das stempelte ihn zu einem bewunderungswürdigen Geschäftsmann. Überdies brachte er es zuwege, ganze Tage in Schenken zu verlungern und über Politik zu schwätzen und dabei mehr Zeit totzuschlagen, mehr Tabak zu kauen und zu rauchen, mehr Rumtoddy, Pfefferminzlikör und Cocktail zu konsumieren als irgendein Privatmann weit und breit. Das stempelte ihn zum Redner und Volksmann. Kurz, der Major war ein aufgehender Stern, ein populärer Charakter und auf dem schönsten Wege von der Volkspartei nach New York, wo nicht gar nach Washington selbst entsandt zu werden. Da jedoch der Wohlstand eines Mannes nicht immer gleichen Schritt hält mit seiner patriotischen Hingabe und betrügerische Unternehmungen ebensogut glücken wie nicht glücken können, so befand sich der Major zuweilen nicht gerade in den glänzendsten Verhältnissen. Das war auch der Grund, weshalb er augenblicklich, das heißt besser gesagt, seine Gattin, ein Kosthaus hielt, und er selbst seine Zeit mehr mit Herumlungern und Flanieren zubrachte als mit andern Dingen.

»Sie finden unser Land zur Zeit in einem Zustande kommerzieller Flauheit«, sagte der Major.

»Einer bedrohlichen Krisis«, setzte der Oberst hinzu.

»In einer Periode beispiellosen Stillstandes«, betonte Mr. Jefferson Brick.

»Sehr bedauerlich«, versetzte Martin, »hoffentlich wird es nicht lange dauern.«

Martin kannte Amerika noch nicht, sonst hätte er wissen müssen – wenn man den allgemeinen Versicherungen glauben darf –, daß es sich immerwährend in einer bedrohlichen Krisis befindet und auch nie anders befand, trotzdem öffentlich immer das Gegenteil behauptet und beschworen wird und es stets heißt, Amerika sei das glücklichste und gesegnetste Land auf Erden.

»Es wird hoffentlich nicht lange dauern«, wiederholte Martin.

»Nun, ich glaube«, meinte der Major, »auf irgendeine Weise werden wir schon wieder zurechtkommen.«

»Es ist ein elastisches Land«, rief der Herausgeber des »Grobian«. »Ein junger Löwe!« ergänzte Mr. Jefferson Brick.

»Was meinen Sie zu einem Bittern vor dem Essen, Oberst?« wechselte der Major das Thema. Da Mr. Diver mit großer Bereitwilligkeit auf diesen Vorschlag einging, beantragte Major Pawkins einen allgemeinen Aufbruch nach einer benachbarten Schenke, die, wie er bemerkte, sich gleich nebenan befände, und verwies Martin hinsichtlich Kost und Quartier an Mrs. Pawkins, die er beim Dinner, das sehr bald stattfinde, da man um zwei Uhr speise, also in einer Viertelstunde, kennenzulernen das Vergnügen haben werde. Dies erinnerte den Major daran, daß es höchste Zeit sei, noch schnell einen Bittern zu nehmen, und entschlossen erhob er sich daher, entfernte sich und überließ es seinen Gästen, ihm, wenn sie wollten, nachzukommen.

Als er von seinem Schaukelstuhle vor dem Kamin aufstand, wurde der Geruch nach kaltem Tabakrauch so lebhaft, daß kein Zweifel mehr herrschen konnte, er gehe hauptsächlich von seinen Kleidern aus; und als Martin hinter ihm her in die Schenke schritt, konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie sehr der große vierschrötige Major in seiner Trägheit einer großen Tabakpflanze glich oder einem Unkraut, das man am besten zum Wohle der übrigen Gewächse aus dem allgemeinen Mistbeet ausrotten müsse.

In der Schenkstube befanden sich noch andere Unkräuter dieser Art, alle so ziemlich von derselben Kategorie. Nachdem sie sodann den Bittern zu sich genommen, kehrten sie – Martin Arm in Arm mit Mr. Jefferson Brick und der Major und der Oberst Seite an Seite vorausgehend – nach Haus zurück. Als sie sich der Wohnung des Majors näherten, hörten sie plötzlich ungestüm eine Glocke läuten, und sofort stürzten der Oberst und der Major wie wahnsinnig fort, die Treppe hinauf und zu der offenstehenden Haustüre hinein, während Mr. Jefferson Brick sich von Martins Arm losmachte, nach derselben Richtung hineilte und verschwand.

»Gott im Himmel«, dachte Martin, »das Haus steht wahrscheinlich in Flammen. Es war eine Alarmglocke.«

Da aber weder Flammen noch Rauch oder sonstige Brandanzeichen zu bemerken waren, blieb er zögernd auf dem Pflaster stehen, während weitere drei Gentlemen mit allen Merkmalen des Schreckens und der Aufregung in den Gesichtern wild um die Straßenecke gestürmt kamen, die Treppe hinaufeilten, einen Augenblick um den Vortritt miteinander rangen und dann – ein wirrer Haufen von Armen und Beinen – in das Haus stürzten. Jetzt zögerte Martin nicht länger und folgte ihnen, aber trotz seiner Eile wurde er von zwei nachdrängenden Herren, die vor Aufregung fast wahnsinnig zu sein schienen, fast umgerannt und beiseite gestoßen.

»Wo ist es?« rief Martin atemlos einem Neger zu, dem er im Flur begegnete.

»Im Speisezimmer, Sar, Oberst sagen er Sitz reserviert neben ihm, Sar.«

»Einen Sitz?!« rief Martin.

»Beim Essen, Sar.«

Martin riß erstaunt die Augen auf und brach dann in ein lautes Gelächter aus, in das der Neger, wahrscheinlich aus Gutmütigkeit, oder um ihm als Fremdem einen Gefallen zu tun, so herzlich mit einstimmte, daß seine Zähne wie ein Lichtstreifen glänzten.

»Du bist der prächtigste Bursche, den ich noch hier gesehen habe, ha, ha, ha«, lachte Martin und klopfte dem Schwarzen auf den Rücken, »und machst mir mehr Appetit als alle Bittern der Welt zusammengenommen.«

Damit ging er in den Speisesaal und ließ sich auf einem Stuhl neben dem Obersten nieder, den dieser für ihn reserviert, das heißt an den Tisch gelehnt hatte. Es war eine zahlreiche Gesellschaft zugegen, achtzehn oder zwanzig Personen vielleicht, darunter fünf oder sechs Damen, die, zu einer kleinen Phalanx zusammengekeilt, gesondert saßen. Sämtliche Messer und Gabeln arbeiteten mit einer wahrhaft beunruhigenden Schnelligkeit. Man sprach nur wenig, und jeder tat hinsichtlich Essen sein Bestes; rein, als ob noch vor dem morgigen Frühstück eine Hungersnot zu erwarten sei. Das Geflügel, das offenbar den Glanzpunkt der Mahlzeit bildete – denn obenan standen ein Truthahn, unten ein paar Enten und in der Mitte ein paar Hühner – verschwand so schnell, als ob jeder der Vögel noch seine Schwingen besäße und wie im Schlaraffenland den Gästen in den Mund flöge. Die Austern, gedämpfte wie marinierte, hüpften schockweise von ihren Platten hinweg und zu Dutzenden in die Münder der Gesellschaft. Die schärfsten Mixed Pickles verschwanden im Handumdrehen und ganze saure Gurken auf einmal wie eingemachte Pflaumen; und keiner blinzelte auch nur mit den Wimpern. Berge unverdaulicher Stoffe schmolzen dahin wie Eis an der Sonne. Es war ein feierlicher und zugleich schauerlicher Anblick. Dyspepsiebehaftete Personen verschlangen große Teile ungekaut und fütterten damit nicht sich, sondern das Alpdrücken, das beständig in ihrem Nervensystem lauerte. Magere Burschen mit eingefallenen blassen Wangen zogen, trotzdem sie die schwersten Gerichte heruntergeschlungen, offenbar immer noch hungrig ab und warfen noch im Gehen sehnsüchtige Blicke auf das Backwerk. Was Mrs. Pawkins Tag für Tag zur Essensstunde leiden mußte, entzieht sich menschlichem Wissen, nur ein Trost blieb ihr: es ging rasch vorüber.

Als der Oberst mit dem Dinner fertig war, was ungefähr mit dem Zeitpunkte zusammentraf, wo Martin, der sich etwas von dem Truthahn hatte vorlegen lassen, zu essen begann, fragte er Martin, was er von den Kostgängern halte, die aus allen Teilen der Vereinigten Staaten zusammengeströmt seien, und ob er vielleicht Näheres über jeden einzelnen zu erfahren wünsche.

»Ja, sehr gern«, sagte Martin. »Bitte, wer ist zum Beispiel die krank aussehende Kleine vis-à-vis mit den kugelrunden, weit aufgerissenen Augen? Ich sehe hier niemanden, der ihre Mutter sein könnte oder die Aufsicht über sie zu haben schiene.«

»Meinen Sie die Matrone in Blau, Sir?« fragte der Oberst mit Nachdruck. »Das ist Mrs. Jefferson Brick, Sir.«

»Nein, nein. Ich meine das kleine Mädchen, das wie eine Puppe aussieht – gerade uns gegenüber –«

»Nun ja, Sir«, rief der Oberst, »das ist doch Mrs. Jefferson Brick!«

Martin sah dem Oberst ins Gesicht, ob er nicht vielleicht scherze.

»Was Sie sagen! Nun, da wird vermutlich nächstens ein junger Brick ankommen«, forschte er unsicher. »Es sind bereits zwei junge Bricks da«, versetzte der Oberst.

Die Dame sah nun aber so auffallend kindlich aus, daß Martin sich nicht enthalten konnte, es gegen den Oberst zu bemerken.

»Gewiß, Sir«, entgegnete dieser, »aber in manchen Ländern entwickelt sich eben die menschliche Natur sehr schnell und in andern bleibt sie zurück.«

»Jefferson Brick«, setzte er nach einer kurzen Pause zum Lobe seines Kriegskorrespondenten hinzu, »ist – einer der hervorragendsten Köpfe unseres Landes, Sir.«

Er sagte dies im Flüsterton, denn der vortreffliche Gentleman, auf den sich seine Worte bezogen, saß ganz in der Nähe.

»Bitte, Mr. Brick«, wendete sich Martin, mehr aus Höflichkeit als weil es ihn wirklich interessiert hätte, an diesen mit einer Frage: »Wer ist dieser – –« er wollte schon sagen »Junge«, hielt es aber für angebracht, schnell ein anderes Wort zu wählen – »jener auffallend kleine Gentleman dort mit der roten Nase?«

»Das ist Pro–fessor Mullit, Sir«, erwiderte Jefferson.

»Darf ich fragen, in welchem Fach er Professor ist?«

»Pädagogik, Sir.«

»Also wohl eine Art Lehrer?« wagte Martin zu bemerken.

»Er ist ein Mann von hoher moralischer Gesinnung, Sir, und ungewöhnlich begabt«, antwortete der Kriegskorrespondent. »Bei der letzten Präsidentenwahl sah er sich genötigt, seinen Vater an den Pranger zu stellen, weil dieser für eine der seinigen entgegengesetzte Partei stimmte. Er hat seitdem einige unerhört wirkungsvolle Flugschriften herausgegeben, und zwar unter dem Namen ›Suturb‹, umgekehrt: ›Brutus‹. Er ist einer – – der hervorragendsten Köpfe unseres Landes, Sir.«

Deren scheint es ja hier außerordentlich viele zu geben, dachte Martin.

Nach und nach erfuhr er, daß nicht weniger als vier Majore, zwei Oberste, ein General und ein Kapitän anwesend seien, so daß er sich schließlich des Gedankens nicht erwehren konnte, es müsse in der amerikanischen Armee nur Offiziere und gar keine Gemeinen geben. Jeder der Anwesenden schien einen Titel zu haben, und diejenigen, die keinen militärischen Rang bekleideten, waren entweder Doktoren, Professoren oder geistliche Würdenträger. Drei höchst unfreundlich aussehende Gentlemen mit ordinären Gesichtszügen befanden sich als Emissäre benachbarter Staaten hier, der eine zwecks Ordnung finanzieller Angelegenheiten, der andere in politischen Aufträgen und der dritte als Missionar irgendeiner Sekte. Der Kreis der Damen setzte sich aus Mrs. Pawkins, einer hagern, knochigen und schweigsamen Person, dann einer Greisin mit scharfen Gesichtszügen, die sich höchst lebhaft über Frauenrechte aussprach und bereits darüber allerlei Vorlesungen gehalten hatte, und noch einigen andern Damen zusammen, deren Seelen man ganz gut miteinander hätte vertauschen können, ohne daß es ihnen selbst oder jemand anderm aufgefallen wäre. Übrigens waren diese letztern die einzigen unter den Anwesenden, die nicht zu den »hervorragenden Köpfen des Landes« gehörten.

Als die Mahlzeit vorüber war, entfernten sich die Herren einer nach dem andern, sämtlich kauend, und machten in der Regel noch eine Sekunde am Kamine halt, um sich der Spucknäpfe zu bedienen. Nur einige gesetztere blieben noch eine volle Viertelstunde bei Tisch und erhoben sich erst, als die Damen aufstanden.

»Wohin gehen die Herrschaften?« fragte Martin Mr. Jefferson Brick.

»In ihre Zimmer, Sir.«

»Findet denn hier kein Dessert oder ein anderer Anlaß zu einer Unterhaltung statt?« fragte Martin, der sich gerne nach seiner langen Reise ein wenig ausgeruht hätte.

»Wir sind ein geschäftiges Volk, Sir, und haben keine Zeit dazu«, lautete die Antwort.

Und so defilierten denn die Damen, eine nach der andern, vorüber und hinaus, und Mr. Jefferson Brick und die übrigen verheirateten Herren verabschiedeten sich von ihren Ehehälften mit einem kurzen gleichgültigen Nicken. Martin kam dieser Brauch etwas seltsam vor, jedoch behielt er seine Meinung für sich, da er lieber zuhören und aus dem Gespräche der Herren etwas lernen wollte, die sich jetzt aufatmend um den Kamin versammelten, als sei ihnen durch den Abgang des schönen Geschlechts ein Stein vom Herzen gefallen, und von den Spucknäpfen und ihren Zahnstochern reichlich Gebrauch machten. Die Konversation bot eigentlich nur wenig Interessantes und drehte sich im allgemeinen lediglich um Geld. Alle Sorgen, Hoffnungen, Freuden, Neigungen, Tugenden und Verhältnisse schienen unzertrennlich vom Dollar zu sein. Was immer für Stoffe in den träge brodelnden Kessel des Gesprächs geworfen wurden, immer mußte der Brei mit Dollars dick und fett gemacht werden. Die Menschen wurden nach Dollars abgewogen, die Maße nach Dollars geeicht, und als Kunst galt nur die Fähigkeit, die Dollars zu vermehren. Je mehr einer von dem wertlosen Ballast »Ehrenhaftigkeit und Ehrlichkeit« aus dem guten Schiff seines Namens und Gewissens über Bord warf, desto mehr Packraum blieb ihm für Dollars. Das Wort Handel war nur eine Umschreibung für eine große Lüge und einen großartigen Diebstahl; die Nationalflagge, ein alberner Fetzen, befleckt Stern um Stern, und Streifen um Streifen riß man herab wie einem degradierten Soldaten die Ehrenzeichen; alles des Dollars wegen.

Derjenige war der größte Patriot, der am lautesten schrie und sich am wenigsten um Recht und Billigkeit kümmerte.

Ein eingefleischter Freund von Fuchsjagden wird bei fast allen Jagdritten Hals und Glieder an das Gelingen wagen, und ähnlich war es auch bei diesen Gentlemen. In ihren Augen galt derjenige als der größte Patriot, der am lautesten prahlte und vor keinem Mittel zurückscheute, und so erfuhr Martin in den ersten fünf Minuten des Gesprächs am Kamin, daß es als eine glänzende Tat galt, Pistolen, Stockdegen und andere friedliche Werkzeuge mit in öffentliche Versammlungen zu nehmen und seinem Gegner an die Gurgel zu fahren wie eine Ratte oder ein Hund. Und alles das galt nicht als Verletzung der Freiheit, sondern war Weihrauch auf ihren Altären, der den patriotischen Nasenlöchern lieblich duftete und sich in die Höhe kräuselte bis zum siebenten Himmel des Ruhmes.

Als Martin ahnungslos und unbefangen gewisse Fragen, wie sie ihm eben einfielen, über Nationaldichter, Theater, Literatur und schöne Künste stellte, da bedeutete ihm ein Kapitän, der aus den westlichen Distrikten stammte: »Wir sind ein geschäftstreibendes Volk, Sir, und haben keine Zeit, uns mit dem Lesen von Phantastereien abzugeben. Was geht das alles uns an, wo wir so gewaltigen Stoff anderer Art in den Zeitungen lesen können! Hol der Teufel eure Bücher!«

Ganz besonders dem General schien der bloße Gedanke, man könne etwas lesen, was nicht mit Handel oder Politik zu tun habe und nicht in einer Zeitung stehe, solche Übelkeit zu bereiten, daß er fragte, ob denn keiner von den Herren eines hinter die Binde gießen wolle. Der Vorschlag fand solchen Beifall, daß die Gesellschaft fast unverzüglich aufbrach und sich in die nächste Schenke begab und von da wahrscheinlich in ihre Kontors oder wieder in andere Schenkstuben, um aufs neue vom Dollar zu sprechen und ihren Geist durch Zeitungstratsch oder leeres Strohdreschen zu bilden, bis die Zeit des Gähnens im Familienkreis herannahte.

Vergebens mühte sich Martin ab, die Frage zu lösen, ob die Leute in Amerika wirklich so viel zu tun hätten, wie sie vorgaben, oder ob sie nur häusliche und gesellige Vergnügungen nicht recht zu würdigen verstanden. Grübelnd und sehr deprimiert setzte er sich an dem leeren Tisch nieder. Der Gedanke an alle die Schwierigkeiten, die ihm noch bevorstehen mochten, und die Ungewißheit seiner Lage machte ihn immer verzweifelter und erpreßte ihm manchen schweren Seufzer.

Nun hatte ein Mann in mittleren Jahren mit dunklen Augen und sonnenverbrannter Stirne, der schon vorher durch den ehrlichen Ausdruck seines Gesichtes Martins Aufmerksamkeit auf sich gezogen, an dem Dinner teilgenommen. Von den andern Herrn nicht weiter beachtet und auch nicht ins Gespräch gezogen, war er zurückgeblieben, und als er jetzt Martin so laut seufzen hörte, ließ er eine gleichgültige Bemerkung fallen, als wünsche er, ohne jedoch aufdringlich zu erscheinen, mit ihm bekannt zu werden. Diese Absicht war so ins Auge springend und dabei doch so taktvoll ausgedrückt, daß Martin es tief empfand und auch im Ton seiner Antwort zu verstehen gab.

»Ich will Sie nicht fragen«, sagte der Gentleman lächelnd, erhob sich und rückte etwas näher, »wie es Ihnen in meinem Vaterland gefällt, denn ich kann mir Ihre Meinung darüber schon selber vorstellen. Da ich jedoch Amerikaner bin und daher notgedrungen mit einer Frage beginnen muß, so bitte, sagen Sie mir doch, was halten Sie von dem Oberst?« »Sie kommen mir so herzlich entgegen«, erwiderte Martin, »daß auch ich mir kein Blatt vor den Mund nehmen will und Ihnen ruhig eingestehen kann: er gefällt mir ganz und gar nicht. Wenn ich auch hinzusetzen muß, daß ich ihm für seine Liebenswürdigkeit verbunden bin, denn er war es, der mich hierhergebracht hat und es mir durch seine Fürsprache ermöglichte, unter anständigen Bedingungen hier unterzukommen.«

»Nun, deswegen brauchen Sie ihm nicht zu Dank verpflichtet zu sein«, versetzte der Fremde trocken. »Ich weiß, hie und da entert der Oberst einmal ein Paketschiff, um die neuesten Nachrichten für seine Zeitung einzuholen, und dann bringt er bei solchen Gelegenheiten zuweilen auch Fremde hierher. Er bezieht dafür gewisse kleine Prozente, die ihm dann von seiner Wirtin von seiner Wochenrechnung in Abzug gebracht werden. Ich habe Sie doch nicht verletzt?« setzte er hinzu, als er bemerkte, daß Martin das Blut in die Wangen stieg.

»Aber, mein werter Herr«, versetzte Martin und schüttelte die ihm dargebotene Hand des Fremden, »ist so etwas denn wirklich möglich? Um die Wahrheit zu gestehen, ich – ich – bin –«

»Nun?« fragte der Gentleman und nahm neben ihm Platz.

»Also, um ganz offen zu sein«, sagte Martin, langsam seine Scheu überwindend, »ich begreife gar nicht, wie kann nur so jemand frei herumlaufen, ohne sich nicht jeden Tag eine Tracht Prügel zuzuziehen.«

»Nun, ein- oder zweimal ist es ihm auch schon passiert«, bemerkte der Gentleman ruhig. »Er gehört eben zu jener Klasse von Menschen, deren Gefährlichkeit für unser Land Benjamin Franklin schon am Schlusse des vorigen Jahrhunderts voraussagte. Sie wissen, in wie strengen Ausdrücken Franklin sich dahin äußerte, daß, wer von einem Schuft wie diesem Obersten zum Beispiel verleumdet würde und in der Handhabung der Gesetze oder in dem Rechtlichkeitsgefühl der öffentlichen Meinung kein genügendes Schutzmittel fände, unbedingt das Recht haben müsse, zum Stock zu greifen und sich selbst Recht zu verschaffen.«

»Ich wußte das nicht«, rief Martin, »aber es freut mich sehr, es zu erfahren, und ich glaube, es ist Franklins Andenken und seines Ruhmes würdig; besonders –« er zögerte abermals. »Fahren Sie nur fort«, munterte ihn der Gentleman lächelnd auf, als wüßte er genau, was Martin auf der Zunge habe.

»Besonders«, fuhr Martin fort, »da ich mir wohl denken kann, daß selbst zu seiner Zeit großer Mut dazu gehört haben muß, so offen seine Meinung zu äußern, ohne daß einem eine Partei den Rücken deckte.«

»Ohne Zweifel ein gewisser Mut«, gab der Amerikaner zu. »Sie glauben also auch, daß sogar jetzt noch Mut dazu gehören würde?«

»O gewiß, und noch dazu nicht wenig!«

»Sie haben recht – und zwar so recht, daß, wenn ein zweiter Juvenal oder Swift heute unter uns aufstände, man ihn in Stücke reißen würde. Wenn Sie in unserer Literatur bewandert sind und mir einen gebürtigen bei uns aufgewachsenen Amerikaner zu nennen imstande sind, der unsere Torheiten – und zwar die des Volkes, nicht die der einen oder andern Partei – aufgedeckt und gegeißelt hat, ohne nicht von der brutalsten und niederträchtigsten Verleumdung, dem verstocktesten Haß und der wütendsten Unduldsamkeit verfolgt worden zu sein, so müßte ich zugeben, daß mir der Name eines solchen Mannes ganz neu und fremd klingen würde; das können Sie mir glauben. Ich könnte Ihnen gewisse Fälle namhaft machen, in denen es einheimische Schriftsteller ganz harmloser- und gutmütigerweise versucht haben, unsere Mängel und Fehler aufzudecken; und was war die Folge? Sie sahen sich genötigt zu veröffentlichen, daß in einer zweiten Ausgabe die betreffende Stelle ausgelassen, abgeändert, umgedeutet oder in Lob verwandelt worden sei.«

»Und wieso ist es denn überhaupt soweit gekommen?« fragte Martin voller Ekel.

»Denken Sie über das nach, was Sie heute gesehen und gehört haben. Fangen Sie mit dem Obersten an und fragen Sie sich selbst«, erwiderte der Fremde. »Wo solche Elemente existieren, muß es schließlich soweit kommen. Wie die so weit gekommen sind, ist allerdings eine andere Frage. Gott verhüte, daß sie noch die Repräsentanten der maßgebenden Kreise in Amerika werden. Jedenfalls spielen sie heute bereits eine große Rolle, sind äußerst zahlreich und kommen leider nur zu oft in die Lage, das Volk zu vertreten. Wollen Sie übrigens nicht einen Spaziergang mit mir machen?«

Im ganzen Wesen des Mannes lag soviel herzliche Offenheit und zugleich das Vertrauen, daß man sie nicht mißbrauchen werde –, ein gewisses männliches Auftreten und ein schlichtes Überzeugtsein von der Ehrenhaftigkeit des Nächsten, daß Martin mit Vergnügen einwilligte.

Es sind jetzt ungefähr vierzig Jahre her, seit ein Reisender mit einem Namen vom besten Klang diese Küsten betrat und wie mancher andere seitdem erkannte, welche Schmach und Schande Amerikas Banner beflecken, wie er es sich vorher wohl nicht im entferntesten hatte träumen lassen.

Männer wie Martins neuen Bekannten mußte er wohl mit den Worten gemeint haben:

Für die erstirbt gar bald Columbias Glorienschein,
der, wie ein Wassertrieb in Kellerluft ersprossen,
faul bis ins tiefste inn’re Sein, erstirbt,
noch eh des Frühlings Tage sind verflossen.