12. Kapitel

Geht, wenn auch nicht gleich, so doch später Mr. Pinch und andere sehr nahe an. Mr. Pecksniff spielt die Rolle des gekränkten Tugendboldes, und der junge Martin Chuzzlewit faßt einen verzweifelten Entschluß

Mr. Pinch und Martin hatten es sich inzwischen, den Sturm nicht im entferntesten ahnend, der ihnen bevorstand, in Mr. Pecksniffs Hallen so bequem wie möglich gemacht und wurden mit jedem Tage innigere Freunde. Martins Erfindungsgabe und die Leichtigkeit, mit der er eine Aufgabe zu bewältigen wußte, waren so bemerkenswert, daß die Elementarschule rasche Fortschritte machte und Tom wiederholt erklärte, wenn es überhaupt in irdischen Dingen eine Gewißheit oder bei menschlichen Beurteilern Unparteilichkeit gäbe, so könne einem so neuen und wertvollen Entwurf der erste Preis, falls es zu einem Wettbewerb käme, unmöglich entgehen. Martin seinerseits dachte zwar nicht ganz so sanguinisch, trug sich aber doch auch mit genügend hoffnungsvollen Erwartungen, um in seinem Eifer nicht zu erlahmen.

»Wenn einmal ein berühmter Architekt aus mir werden sollte, Tom«, sagte er eines Tages und hielt dabei mit Wohlgefallen seine Zeichnung auf Armeslänge vor sich hin, »so will ich Ihnen sagen, woran ich zuerst bauen würde.«

»Nun, und das wäre?« fragte Tom.

»An nichts anderm als an Ihrem Glück.«

»Was, Sie wollten das wirklich?« rief Tom Pinch so entzückt, als ob alles schon fix und fertig vor ihm stünde. »Wie unendlich freundlich von Ihnen.«

»Ja, Tom, das wollte ich«, bekräftigte Martin. »Und es müßte mir auf einem so starken Unterbau ruhen, daß es Ihr ganzes Leben überdauern sollte – und sogar Ihre Kinder und Kindeskinder sich noch daran erfreuen müßten. Ich würde Ihr Protektor sein, Tom, und den Mann möchte ich sehen, der meinem Schützling ein Haar zu krümmen wagen würde, wenn ich einmal Oberwasser hätte, Tom!«

»Auf mein Wort«, rief Mr. Pinch, »ich glaube nicht, daß ich mich jemals im Leben über etwas so gefreut habe wie über das, was Sie da sagen.«

»Und wenn ich etwas sage, so ist es mir auch ernst«, versicherte Martin mit einer so gönnerhaften, nachlässigen, ja fast an Mitleid grenzenden Herablassung, als ob er bereits erster Hofbaumeister in England wäre. »Ich würde es tun – ich würde Sie versorgen.«

»Ich fürchte«, meinte Tom kopfschüttelnd, »daß ich Ihnen bei meiner Ungeschicklichkeit keine große Ehre machen dürfte.«

»Pah, lächerlich!« erwiderte Martin. »Seien Sie deswegen außer Sorge. Wenn ich mir’s einmal in den Kopf setze zu behaupten: ›Pinch ist ein gescheiter Kerl, ich stehe für ihn ein‹, so möchte ich gern den sehen, der es wagen wollte, mir zu widersprechen. Außerdem, Tom – hol’s der Teufel –, Sie könnten mir wirklich auf hunderterlei Weise nützlich werden.«

»Wenn ich mich nicht in einem oder dem andern Punkte nützlich erwiese, so geschähe es gewiß nicht aus Mangel an gutem Willen«, versicherte Tom.

»Sie wären zum Beispiel so ganz der Mann danach«, fuhr Martin fort, »darüber zu wachen, daß meine Ideen auch gehörig durchgeführt würden – die Arbeiten zu beaufsichtigen, bis sie weit genug fortgeschritten wären, um auch für mich interessant zu sein – kurz, die Vorbereitungen zu leiten. Und dann wären Sie auch ausgezeichnet dafür, die Leute, während ich in meinen Studien begriffen bin, herumzuführen und mit ihnen von der Kunst zu sprechen und so weiter, was mich alles fürchterlich langweilen würde. Es müßte ganz verteufelt mein Renommee heben, Tom – ich gebe Ihnen mein Wort, daß es mein voller Ernst ist –, einen Mann von ihrer Bildung und nicht einen gewöhnlichen Hohlkopf um mich zu haben. Oh, ich wollte Sie schon auf den richtigen Posten stellen. Verlassen Sie sich darauf, Sie würden mir schon von Nutzen sein.«

Natürlich fiel es Tom bei seiner Bescheidenheit nicht im entferntesten ein, jemals eine erste Violine spielen zu wollen, und um so mehr entzückten ihn daher die Luftschlösser seines Freundes.

»Natürlich wäre ich dann mit ihr verheiratet, Tom«, fuhr Martin fort.

Was war es, das jetzt auf einmal Tom Pinchs Freude so plötzlich dämpfte und ihm das Blut in seine ehrlichen Wangen trieb, als durchzuckte etwas wie das Gefühl, er sei solcher freundlichen Gesinnungen unwürdig, sein Herz?

»Ich würde dann mit ihr verheiratet sein«, wiederholte Martin und lächelte, »und hoffentlich auch Kinder haben. – Und sie hätten Sie alle lieb, Tom.«

Mr. Pinch brachte keine Silbe heraus. Die Worte erstarben ihm auf den Lippen und erkämpften sich in seinem Innern ein geistigeres Leben zu reinen selbstlosen Gedanken.

»Alle Kinder hier herum haben Sie gern, Tom, und die meinigen würden Sie natürlich erst recht lieben. Vielleicht würde ich eines davon nach Ihnen nennen. Tom, was meinen Sie? Tom ist kein übler Name. Thomas Pinch Chuzzlewit. T.P.C. auf seinem Lätzchen würde sich ganz nett machen, sollt ich meinen.«

Tom räusperte sich und lächelte.

»Ich weiß, auch ihr würden Sie gut gefallen, Tom«, fuhr Martin fort. »Ach!« rief Tom mit erstickter Stimme.

»Ich weiß aufs Haar genau, was sie von Ihnen denken wird.« – Martin stützte das Kinn auf die Hand und blickte unverwandt auf die Fensterscheibe, als lese er dort seine Worte ab. »Denn ich kenne sie von Grund aus. Sie würde anfangs lächeln, wenn Sie mit ihr sprächen oder sie Sie ansähe – und noch obendrein recht lustig lächeln. Sie würden es doch nicht übelnehmen? Sie haben noch nie ein sonnigeres Lächeln als das ihrige gesehen; ich versichere Ihnen.«

»Nein, nein«, beteuerte Tom, »ich würde es gewiß nicht übelnehmen.«

»Und sie würde Sie so zart behandeln, Tom, wie ein Kind. – Das sind Sie übrigens beinahe in manchen Dingen – oder nicht, Tom?«

Mr. Pinch nickte verständnisinnig.

»Sie würde immer heiter und gut gelaunt sein, wenn Sie kämen«, fuhr Martin fort; »sie fände sehr bald heraus, was Sie für ein Mensch sind, und würde dann tun, als hätte sie Ihnen kleine Aufträge zu geben, oder Sie um kleine Dienste bitten, deren Erfüllung Sie, wie sie wüßte, mit Freuden übernehmen würden. Kurz, sie hätte Sie wirklich von Herzen gern, Tom, und verstünde Sie auch weit besser, als dies je bei mir der Fall sein könnte. Wie oft würde sie nicht sagen, was für ein harmloser, sanfter, gefälliger, guter Mensch Sie sind.«

Stumm hörte Pinch zu.

»Und um alter Zeiten willen und weil sie dann wüßte, daß Sie es waren, der in der kleinen, dumpfen Kirche drunten einst die Orgel spielte – noch obendrein umsonst –, so würden wir eine solche in unser Haus schaffen. Ich werde nach eigenen Plänen einen Musiksaal bauen, und das Instrument wird sich in einer Nische in dem einen Ende famos ausnehmen. Da können Sie dann drauflosspielen, Tom, bis Sie es satt haben, und da Sie dabei Dunkelheit so gern haben, können wir auch dunkel machen. Mary und ich, wir werden so manchen Sommerabend dort sitzen und Ihnen zuhören, Tom; verlassen Sie sich darauf!«

Es kostete vielleicht Tom Pinch eine größere Anstrengung, mit heiterer und dankbarer Miene von seinem Sitze aufzustehen und seinem Freunde beide Hände zu schütteln – forderte vielleicht eine weit größere Selbstverleugnung als so manche Großtat, die schon Famas zweideutige Trompete gewaltig ausposaunt hat. Ich sage »zweideutig«, denn da sie gar so gern über Gewaltakte weint, haben der Rauch und die Ausdünstung des Todes das brave Instrument arg verstimmt, und seine Töne sind nicht immer rein und echt.

»Es ist doch ein Beweis, wieviel gute Menschen es auf der Welt gibt«, sagte Tom und ließ charakteristischerweise seine eigenen Gefühle wieder ganz außer acht, »daß jeder, der hierherkommt, wie zum Beispiel Sie, weit rücksichtsvoller und freundlicher gegen mich ist, als ich zu hoffen ein Recht hätte, selbst wenn ich das sanguinischste Geschöpf unter der Sonne wäre, oder als ich mit der größten Beredsamkeit auszudrücken vermochte. – Wahrhaftig, es überwältigt mich förmlich. Aber seien Sie dessen versichert«, setzte er hinzu, »daß ich nicht undankbar bin – daß ich es nie vergessen werde und Ihnen die Aufrichtigkeit meiner Worte zu beweisen gedenke, sobald ich nur irgend dazu in der Lage bin.«

»Schon recht«, bemerkte Martin, lehnte sich, die Hände in den Taschen, in seinem Stuhl zurück und gähnte laut hinaus. »Wir halten da wunderschöne Reden, Tom, aber vorläufig bin ich noch bei Pecksniff und daher momentan noch eine gute Meile oder so von der Hochstraße zum Glücke entfernt. – Sie sagten übrigens, Sie hätten diesen Morgen wieder von – na, wie heißt er doch – gehört?«

»Wen meinen Sie?« fragte Tom, besorgt, sein Freund werde über einen Abwesenden etwas Nachteiliges sagen wollen.

»Aber, Sie wissen doch – wie war doch nur der Name – Nordhaar?«

»Westlock«, verbesserte Tom etwas lauter als gewöhnlich.

»Richtig – Westlock. Ich wußte ja, es war etwas mit Haar und einer Himmelsrichtung. – Nun, und was hören Sie von Westlock?«

»Oh, er ist jetzt glücklich im Besitz seines Vermögens«, rief Tom und nickte lächelnd.

»Was das für ein glücklicher Bursche ist!« seufzte Martin. »Ich wollte, ich wäre an seiner Stelle. Aber ist das das ganze Geheimnis, das Sie mir mitteilen wollten?«

»Nein«, entgegnete Tom; »nicht das ganze.«

»Also was sonst noch?« fragte Martin.

»Nun, ein Geheimnis ist’s gerade nicht. Und für Sie hat es auch kein besonderes Interesse, obgleich ich selbst sehr erfreut darüber bin. Als John noch hier war, pflegte er immer zu sagen: ›Denk an mich, Pinch, wenn einmal meines Vaters Testamentsexekutoren mit dem Schotter herausrücken‹ – er bediente sich hin und wieder recht sonderbarer Ausdrücke, aber das war so seine Art.«

»Mit dem Schotter herausrücken ist ein sehr gutes Wort«, meinte Martin, »besonders wenn’s von Seiten anderer Leute geschieht und die eigene Person betrifft. – Und was weiter? – Sie sind ein gewaltig langsamer Erzähler, Pinch!«

»Ich weiß es. – Leider«, gab Tom zu; »aber Sie haben mich ganz aus dem Konzept gebracht. – Was wollte ich doch nur sagen!?«

»Wenn die Testamentsexekutoren von Johns Vater mit dem Schotter herausrücken –« rief Martin ungeduldig.

»Ach, ja richtig. ›Also, dann – sagte John – werde ich dir ein Dinner geben, Finch, und extra deshalb nach Salisbury herunterkommen.‹ Als nun John neulich schrieb – Sie wissen, es war am Morgen vor Pecksniffs Abfahrt –, teilte er mir mit, seine Angelegenheiten seien jetzt so weit geordnet, und da er sein Geld in Bälde erhalten werde, frage er bei mir an, wann ich mit ihm in Salisbury zusammentreffen könne. Ich antwortete ihm, daß mir jeder Tag in dieser Woche gut passe, und teilte ihm auch außerdem mit, daß ein neuer Schüler hier sei – namentlich auch, was Sie für ein hübscher Mensch seien und daß ein herzliches Einvernehmen zwischen uns bestehe. Darauf schrieb mir John diesen Brief« – Tom zog ein Kuvert hervor – »und bestimmte den morgigen Tag für die Zusammenkunft. – Er läßt Sie übrigens grüßen und sähe es gern, wenn wir drei mitsammen speisten, nicht in dem Hause, wo wir sonst abzusteigen pflegen, sondern im allerersten Gasthof der Stadt. – Lesen Sie selbst, was er sagt.«

»Sehr gut«, versetzte Martin, den Brief mit seiner gewohnten Kälte überfliegend. »Sehr verbunden. Freut mich.«

Tom hätte gewünscht, seinen Freund ob des großen Ereignisses ein bißchen mehr erstaunt oder erfreut oder überhaupt ein wenig interessierter dafür zu sehen, aber Martin blieb vollkommen gelassen und verfiel wieder in seine Lieblingsunterhaltung, das Pfeifen. Dann machte er sich an seine Elementarschule, als ob nicht das mindeste Bemerkenswerte vorgefallen wäre.

Da Mr. Pecksniffs Pferd gewissermaßen als geheiligtes Tier angesehen wurde, das nur von dem Hohenpriester dieser heiligen Hallen selbst oder von irgend jemand benützt werden durfte, der ausdrücklich zum Stellvertreter von Fall zu Fall geweiht worden, so kamen die beiden jungen Leute überein, zu Fuß nach Salisbury zu gehen. Als daher die Zeit herankam, machten sie sich auf die Beine, und das war im Grunde auch eine bessere Reisemethode, als wenn sie das Gig benützt hätten, da kaltes, aber trockenes Wetter herrschte.

Besser? Ein tüchtiger, gesunder Spaziergang – vier gute Meilen in der Stunde – ist natürlich besser als das Humpeln und Rumpeln, Schütteln und Rütteln, Stoßen und Knarren in einem schäbigen alten Gig! Zwischen diesen beiden Methoden ist doch kaum ein Vergleich möglich! Es wäre rein eine Herabsetzung einer Fußwanderung, wollte man beide auch nur in einem Atem nennen. Wann hat je eine Fahrt in einem solchen Gig das Blut eines Menschen anders in Wallung gebracht als dadurch, daß sie ihn fürchten machte, den Hals zu brechen, und ihm eine fieberige Hitze in den Adern, in den Ohren und längs des ganzen Rückenmarks erzeugte, die zwar eigentümlich, aber keineswegs angenehm zu nennen ist? Wann hat je ein Gig geistige Fähigkeiten geschärft, außer wenn vielleicht der Gaul durchging und wie toll einen steilen Hügel hinunter gegen eine Steinmauer raste und dadurch die Insassen des Wagens nötigte, auf völlig neue und unerhörte Weise das Gefährt rückwärts zu verlassen? Nein, nein, viel besser ein Marsch als das Gig!

Die Luft war kalt, das ließ sich nicht in Abrede stellen, aber wäre es in dem Gig wohl behaglicher gewesen? Die Esse des Hufschmieds loderte hell auf und sprühte nur so, als sehnte sie sich danach, Menschenleiber zu wärmen; aber wäre der Anblick von den klebrigen Polstern eines Gig aus anheimelnder gewesen? Der Wind blies scharf – er schnitt dem wackern Wanderer, der sich seinen Weg weiterkämpfte, ins Gesicht, blendete ihn mit den eigenen Haarlocken – vorausgesetzt, daß diese nicht zu spärlich gesät waren –, und andernfalls mit dem winterlichen Staub, verschlug ihm den Atem wie ein Eisbad, riß ihm die Rockschöße zurück und drang ihm bis ins Mark der Knochen, – aber wäre dies nicht hundertmal schlimmer in einem Gig gewesen? – Also hole der Henker die Gigs!

Besser ein Marsch als ein Gig? Hat man je zwei Reisende – zu Wagen oder zu Pferd – mit so heißroten Wangen, mit so heitern, fröhlichen Gesichtern gesehen? Schallte jemals ein Lachen so fröhlich wie das der beiden jungen Männer, die sich jetzt unter den stärker heranfegenden Windstößen umdrehten, wieder in die scharfe Luft hineinsteuerten, lustig vorwärtstrabend mit der Röte der Gesundheit auf den Wangen, als könnte nichts gleichen Schritt mit ihnen halten, der Frohsinn ausgenommen, der sie anspornte? Ja, besser ein Marsch als ein Gig! Kommt da nicht soeben ein Mann des Wegs, der in einem solchen Vehikel sitzt? Man sehe ihn nur an, wie er vorbeifährt, die Peitsche in der linken Hand, die tauben Finger der rechten auf seinem erstarrten Beine reibend und mit den zu Stein gewordenen Zehen gegen das Fußbrett trommelnd. Ha, ha, ha! Wer möchte das rasche Pulsieren des Blutes gegen jenes erfrorene Elend vertauschen, wenn es auch zwanzig Meilen in der Stunde zurücklegt? Besser ein Marsch als ein Gig! Niemand in einem Gig hätte ein solches Interesse an den Meilensteinen nehmen können. Kein Mann in einem Gig wäre imstande gewesen, zu sehen, zu fühlen oder zu denken wie unsere lustigen Wanderer. Wie der Wind über diese duftigen Niederungen dahinstrich, konnte man seinen Weg verfolgen in dem dunkleren Gekreisel des Grases und in den tiefern Schatten an den Berglehnen! Ringsum auf der kahlen eisigen Ebene lag die Winternatur in ihrer ganzen frostigen Schönheit. Auch die lieblichsten Dinge im Leben sind nichts als Schatten, sie kommen und gehen, wechseln und schwinden dahin, so schnell wie diese!

Wieder eine Meile, und dann begann es zu schneien, und alles lag so weiß da, daß sich die Krähe, die dicht über den Boden dahinstrich, um den Windstößen auszuweichen, wie ein Tintenklecks in der Landschaft ausnahm. Und wie sehr es auch gegen die beiden jungen Leute anwehte und blies, ihre Rockschöße aufblähte und ihnen die Flocken in die Lider jagte, so hätten sie doch keinen Augenblick gewünscht, das Schneetreiben möge nachlassen, selbst wenn noch zwanzig Meilen Weges vor ihnen gelegen wären. Und siehe da! Die Türme der alten Kathedrale tauchen vor ihnen auf! Allmählich kommen sie in die umzäunten Straßen, die so feierlich stumm daliegen mit ihrem weißen Teppich. Endlich erscheint der Gasthof, in den sie bestellt sind, und sie zeigen dem erfrorenen Kellner so brennrot glühende Gesichter und sind so voll Lebendigkeit, daß der Mann ihre Anwesenheit fast wie eine Beleidigung auffaßt – ist er doch selbst von dem ewigen Hocken im überhitzten Kaffeezimmer blaß und blutleer – und ganz bestürzt dreinsieht.

Ein Prachtgasthof das! Die Halle ist eine wahre Waldlichtung voll totem Wildbret und an Schnüren herabhängenden Hammelkeulen. In der Ecke steht ein prächtiger Speiseschrank mit Glastüren und birgt kaltes Geflügel, edle Schinken und Torten, in denen sich der Himbeerschaum hinter gebackenem Gitterwerk so scheu zurückzieht, wie es sich für ein so köstliches Wesen geziemt. Aber im ersten Stock, am Hofende des Hauses in einem Zimmer, wo alle Vorhänge herabgelassen sind, da füllt loderndes Holzfeuer den halben Kamin an und strahlt seine Wärme auf die angelehnten Teller. Wachskerzen brennen allenthalben, eine Tafel ist für drei Personen mit Silber gedeckt, und Gläser blitzen darauf, mindestens für dreißig. Vor allem aber war da John Westlock – nicht der alte John, der er bei Pecksniff gewesen, sondern ein vornehmer Gentleman, sich wohl bewußt, daß er jetzt sein eigener Herr ist und Geld auf der Bank liegen hat; aber dann doch wieder in gewisser Hinsicht der alte John, denn kaum trat Tom Pinch ein, da streckte er ihm sogleich beide Hände entgegen und hieß ihn mit einer warmen Umarmung herzlich willkommen.

»Und dies«, sagte John, »ist also Mr. Chuzzlewit? Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«

John hatte von jeher ein eigentümlich freimütiges Wesen an sich; sie schüttelten einander die Hände, und die Freundschaft war im Nu geschlossen.

»Warte mal, Tom«, wendete sich John wieder an Tom und faßte ihn mit beiden Händen an der Schulter und drängte ihn auf Armeslänge zurück. »Laß dich mal ansehen. Wahrhaftig ganz und gar der alte, und nicht ein bißchen verändert.«

»Nun ja, kein Wunder. Es ist ja auch noch nicht so lange her«, meinte Tom Pinch.

»Mir kommt’s wie ein Menschenalter vor«, rief John, »und so sollte es von Rechts wegen dir auch gehen, du Schlingel.« Damit drückte er Tom in den bequemsten Stuhl, klopfte ihm herzlich auf den Rücken und war ganz wieder der alte fröhliche Bursche wie früher in Mr. Pecksniffs Schlafkammer, so daß Tom Pinch nicht wußte, ob er lachen oder weinen solle. Schließlich lachte er jedoch, und die beiden andern stimmten herzlich mit ein.

»Ich habe alle die Speisen und Getränke zum Dinner bestellt, von denen wir uns damals immer ausgemalt haben, daß sie ganz besonders fein sein müßten«, bemerkte Westlock.

»Wirklich?« rief Tom Pinch.

»Alles! Aber ich bitte dich, lache nicht vor dem Kellner, wenn du’s vermeiden kannst; mir scheint, ich habe auch gegrinst, als ich sie bestellte. – Es ist rein wie ein Traum.«

In diesem Punkte hatte John nun doch unrecht, denn wem wäre auch nur im Traum eine solche Suppe eingefallen, wie sie unmittelbar nachher auf den Tisch gesetzt wurde. Und dann erst die Fische, die Zwischengerichte, die Masse Geflügel und Süßigkeiten – kurz, alles was ein Kuvert zu zehn Schillingen sechs Pence, den Wein nicht miteingerechnet, nur zu bieten vermochte. Und der famose Champagner mit Eis, der Claret, der Portwein, der Sherry! – Wer solche Herrlichkeiten zu träumen imstande ist, der sollte lieber gleich zu Bett gehen und nicht mehr aufstehen.

Das Allerschönste beim Bankett war aber doch, daß niemand sich auch nur halb so über alles freute wie John selbst, der in der Überfülle seines Entzückens alle Augenblicke in ein schallendes Gelächter ausbrach und sich dann Mühe gab, eine übernatürlich feierliche Miene aufzusetzen, um die Kellner nicht glauben zu machen, er sei an derartige Gelage nicht gewöhnt. Einige von den Gerichten jedoch, die man ihm zum Tranchieren auftrug, kamen ihm so ungeheuer spaßhaft vor, daß er nicht mehr an sich halten konnte, und als Tom Pinch schließlich trotz des schüchternen Abratens eines Kellners nicht nur darauf bestand, die Außenwand einer hohen Pastete mit dem Löffel einzureißen, sondern sie sogar zu essen versuchte, da verlor er gänzlich seine Fassung und schüttelte sich hinter dem prächtigen Aufsatz am oberen Ende der Tafel vor Lachen, daß man ihn wahrscheinlich bis hinaus in die Küche hörte. Auch schämte er sich gar nicht, über sich selbst zu lachen, und bewies das, als sie sich nachher um das Kaminfeuer setzten, das Dessert aufgetragen wurde und der Oberkellner fragen kam, ob der etwas leichte und helle Portwein seinem Geschmack auch zusage oder ob er lieber einen kräftigeren und schwereren zu trinken wünsche. Ernsthaft erwiderte er, er sei vollkommen zufrieden mit dem Wein und halte ihn für ein ganz schneidiges Gewächs, und der Kellner verbeugte sich und ging. Aber dann gestand John seinen Freunden leise ein, daß er sich nicht im entferntesten auf Wein verstehe, und brach in ein unbändiges Gelächter aus.

So waren sie alle drei die ganze Zeit über fröhlich und guter Dinge, aber die angenehmsten Augenblicke waren doch die, wo sie um das Feuer herumsaßen, Nüsse knackend, Wein trinkend und gemütlich miteinander plaudernd.

Da Tom Pinch mit seinem Freunde, dem Gehilfen des Organisten, gerne ein paar Worte gesprochen hätte, verließ er auf einige Minuten sein warmes Eckplätzchen, um ihn nicht zu verpassen, und die beiden andern jungen Herren unterhielten sich unterdessen miteinander. Natürlich stießen sie in seiner Abwesenheit auf seine Gesundheit an, und John Westlock benützte die Gelegenheit, Martin zu versichern, daß es während seines ganzen Aufenthalts in Mr. Pecksniffs Hause auch nicht ein einziges Mal zu einem unfreundlichen Worte zwischen ihm und Tom gekommen sei. Dies führte zu einer eingehenderen Beleuchtung von Mr. Pinchs Charakter, und es fielen die Worte, daß Mr. Pecksniff ihn recht geschickt auszunutzen verstehe. Es blieb jedoch bei dieser oberflächlichen Andeutung, denn John wußte, wie Tom über diesen Punkt dachte, und hielt es auch für zweckmäßig, den neuen Schüler seine eigenen Erfahrungen machen zu lassen.

»Ja, ja, so ist es«, sagte Martin, »niemand kann Pinch mehr lieben als ich oder seinen guten Eigenschaften mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen; er ist wahrhaftig der gutmütigste Bursche, den ich jemals im Leben getroffen habe.«

»Leider nur etwas zu gutmütig«, versetzte John, der sofort begriff, wieviel die Uhr geschlagen hatte. »Das ist eben der Fehler an ihm.«

»Natürlich«, sagte Martin. »Sehr richtig. Da war zum Beispiel erst vor ungefähr einer Woche ein Kerl bei uns – ich glaube, er heißt Tigg –, der ihm all sein Geld mit dem Versprechen abborgte, es in einigen Tagen wieder zurückzuzahlen. Es war zwar nur eine halbe Guinee, aber es ist gut, daß es nicht mehr war, denn Pinch wird es nie mehr im Leben wiedersehen.«

»Armer Teufel«, sagte John, der dieser Erzählung aufmerksam zugehorcht hatte. – – »Vermutlich haben Sie noch gar nicht Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, wie stolz Tom in Geldangelegenheiten ist.«

»Was Sie nicht sagen! Nein, ich habe allerdings in dieser Hinsicht noch nichts bemerkt. Was meinen Sie damit? Borgt er sich nie etwas aus?«

John Westlock schüttelte den Kopf.

»Höchst merkwürdig«, meinte Martin und setzte sein Glas nieder. »Er ist aus den seltsamsten Charaktereigenschaften zusammengesetzt.«

»Ich glaube, er würde lieber sterben als ein Geldgeschenk annehmen«, fuhr Westlock fort.

»Unglaubliche Einfalt!« brummte Martin. – – »Noch ein Glas gefällig?«

»Sie natürlich«, sagte John, füllte sein Glas und sah Martin gespannt an, »wo Sie soviel älter sind als die meisten von Mr. Pecksniffs Schülern und daher auch weit mehr Erfahrung haben müssen, verstehen ihn ohne Zweifel – und sehen, wie leicht er sich betrügen läßt.«

»Allerdings«, gab Martin zu, streckte die Beine aus und hielt sein Weinglas zwischen Auge und Licht. »Und Mr. Pecksniff scheint das auch zu wissen und seine Töchter desgleichen – wie?«

John Westlock lächelte, gab aber keine Antwort.

»Übrigens, das bringt mich auf etwas anderes. – Wie hat Pecksniff Sie behandelt, und wie beurteilen Sie ihn jetzt? Jetzt, wo alles vorüber ist und Sie ganz unbeeinflußt sind.«

»Fragen Sie Pinch«, erwiderte Westlock; »er weiß genau, was diesbezüglich früher meine Ansichten waren. Ich kann Ihnen versichern, daß sie inzwischen nicht anders geworden sind.«

»Nein, nein«, fiel ihm Martin ins Wort, »ich möchte es doch lieber von Ihnen selbst hören.«

»Aber Pinch meint, ich sei ungerecht«, sagte John lächelnd.

»So, so. – Nun, dann kann ich mir ja ungefähr denken, wie die Sachen stehen«, versetzte Martin. »Bitte, sagen Sie mir ganz unverhohlen Ihre Meinung. Meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu genieren, denn ich sage Ihnen frei heraus, daß ich ihn meinerseits nicht leiden kann. Ich bin nur bei ihm, weil mich besondere Umstände dazu veranlassen. Wie ich glaube, besitze ich einiges Talent für das Baufach, und wenn hinsichtlich meiner Stellung zu ihm überhaupt von Verbindlichkeiten die Rede sein kann, so liegen sie auf seiner und nicht auf meiner Seite. Höchstens stehen die beiden Waagschalen gleich. – Reden Sie daher frei von der Leber weg.«

»Nun, wenn Sie’s denn durchaus haben wollen, daß ich Ihnen meine Meinung sage –« begann John Westlock.

»Ja, darum möchte ich Sie bitten«, erwiderte Martin. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür.«

»So muß ich rundheraus erklären, daß Pecksniff der heilloseste Schurke ist, den die Erde trägt.«

»Oho«, meinte Martin kaltblütig, »das ist etwas stark.«

»Nicht stärker, als er es verdient«, versetzte John. »Und wenn er mich auffordern würde, ihm meine Meinung ins Gesicht zu sagen, so würde ich es ohne Bedenken in den gleichen Ausdrücken tun. Schon die Art und Weise, wie er Pinch behandelt, würde hinreichen, meine Behauptung zu rechtfertigen. Aber wenn ich auf die Jahre zurückblicke, die ich in seinem Hause zugebracht habe, und mir dabei die Heuchelei, Schuftigkeit, Gemeinheit, Falschheit, die Speichelleckerei und das scheinheilige Wesen dieses Ehrenmannes vergegenwärtige, wenn ich daran denke, wie oft ich Zeuge davon war, wie oft ich eine Rolle dabei spielte, bloß weil ich sein Schüler war, so möchte ich mich, bei Gott, fast selbst verachten.«

Martin trank die Neige seines Glases aus und blickte ins Feuer.

»Ich will damit nicht sagen, daß ich wirklich Grund dazu hätte«, fuhr John Westlock fort, »denn die Schuld lag ja nicht an mir, und ich kann recht wohl begreifen, wie zum Beispiel Sie, wenn Sie ihn auch vollständig durchschauen, doch durch Umstände genötigt sein können, bei ihm zu bleiben. Ich teile Ihnen daher einfach mit, wie es mir zumute ist, und zwar noch jetzt, trotzdem, wie Sie sehr richtig sagen, alles vorüber ist und ich noch obendrein die Beruhigung habe zu wissen, daß er mich immer gehaßt hat und wir uns miteinander nie vertrugen und ich meinerseits keinen Augenblick Anstand nahm, ihm meine Meinung rundheraus zu sagen. Ja, sogar jetzt noch tut es mir leid, daß ich nicht schon als kleiner Junge dem Antrieb, der sich so oft in mir regte, Folge geleistet habe und davongelaufen bin, um im Ausland mein Glück zu versuchen.«

»Sie wollten ins Ausland gehen?« fragte Martin sehr interessiert. »Jawohl, um mir meinen Lebensunterhalt zu erwerben«, antwortete John, die Achseln zuckend, »natürlich erst, nachdem ich mich in der Heimat deswegen vergeblich bemüht; und dann hätte etwas Mutiges darin gelegen. – Doch jetzt genug davon, sprechen wir nicht mehr von dem Kerl und füllen wir lieber unsere Gläser.«

»Ganz wie’s beliebt«, sagte Martin. »Was mich selbst und meine Stellung zu ihm betrifft, so kann ich nur meine Erklärung von vorhin wiederholen. Ich bin bisher meine eigenen Wege mit ihm gegangen und werde es in Zukunft auch immer so halten. Und, aufrichtig gesprochen, ich glaube, er erwartet von mir, daß ich so eine Art Lückenbüßer für ihn werden soll. Er scheint mich jetzt deshalb schwer entbehren zu können. Ich habe es gleich gemerkt, als ich hinkam – Prosit!«

»Prosit! Ihr Wohl!« entgegnete Westlock. »Und möge es auch dem neuen Zögling so gut ergehen, wie er sich nur wünschen kann.«

»Was für einem neuen Zögling?«

»Dem glücklichen jungen Mann, der unter so günstigen Sternen geboren ist«, erwiderte John Westlock, »daß seine Eltern und Vormünder vom Schicksal bestimmt sind, sich durch Pecksniffs Annonce ködern zu lassen. Sie wissen doch, daß er schon wieder eine Annonce losgelassen hat.«

»Nein.«

»Ja, ja. Ich las sie kurz vor dem Essen in der gestrigen Zeitung. Ich kann mich gar nicht irren, daß sie von ihm herrührt, denn ich kenne seinen Stil zur Genüge. Übrigens still, da kommt Tom Pinch. – – Ist es nicht seltsam, daß man nur um so mehr Grund hat, ihn gern zu haben, je mehr er Pecksniff liebt, wenn bei ihm überhaupt noch eine Steigerung möglich ist? Aber jetzt kein Wort mehr, oder wir verderben ihm den ganzen Abend.«

John hatte kaum ausgesprochen, als Tom freudestrahlend wieder eintrat. Er rieb sich die Hände – mehr aus Fröhlichkeit als weil es kalt war, denn er hatte sich durch einen raschen Lauf warm gemacht –, setzte sich wieder in seine behagliche Ecke und fühlte sich so glücklich wie – nun, wie sich eben nur ein Tom Pinch glücklich fühlen konnte.

»Und so« – begann er, nachdem er seinen Freund eine Weile lang in stummer Wonne angesehen – »so bist du also wirklich ein Gentleman geworden, John. Nun, das laß ich mir gefallen.«

»Es ist nur ein Versuch, Tom, es ist nur ein Versuch«, versetzte Westlock gutmütig, »jetzt läßt sich noch nicht bestimmt sagen, was mit der Zeit aus mir wird.«

»Nun, deinen Koffer würdest du jetzt wohl keinesfalls mehr selbst zur Postkutsche tragen«, meinte Tom Pinch lächelnd, »sogar auf die Gefahr hin, daß er dir abhanden käme.«

»So, glaubst du«, versetzte John. »Nun, du mußt es ja wissen, Tom. Aber ich sage dir, es müßte ein sehr schwerer Koffer sein, den ich nicht selbst auf den Rücken nehmen würde, wenn es gälte, von Pecksniff wegzukommen, Tom.«

»Da haben wir’s«, rief Tom zu Martin gewendet. »Der einzige Fehler an ihm ist seine Ungerechtigkeit gegenüber Mr. Pecksniff. Kehren Sie sich übrigens nicht an das, was er in dieser Hinsicht behauptet, denn es spricht nichts als ein leidiges Vorurteil aus ihm.«

»Sie müssen nämlich wissen«, fiel John Westlock herzlich lachend ein und legte seine Hand auf Tom Pinchs Schulter, »bei Tom ist die Freiheit von Vorurteilen wahrhaft wunderbar. Wenn je ein Mensch einen anderen vom Grunde aus kannte und ihn im wahren Lichte sah, so läßt sich dies von Tom in erster Linie behaupten.«

»Ja, ja, das will ich meinen«, rief Tom. »Ich selbst habe es dir schon hundertmal gesagt. Wenn du ihn nur so genau kennen würdest wie ich – – und ich ließe es mich all mein Geld kosten, John, wenn ich dich so weit bringen könnte –, so müßtest du ihn bewundern, achten und verehren. Aber du kannst eben nicht anders. Oh, wie du seine Gefühle verwundet hast, als du weggingst!«

»Wenn ich überhaupt gewußt hätte, wie seinen Gefühlen beizukommen wäre«, erwiderte der junge Westlock, »so – verlaß dich drauf, Tom – würde ich mein Bestes getan haben, sie ein wenig empfindlicher anzugreifen. Da es jedoch unmöglich ist, jemanden an einer Stelle zu verwunden, die er gar nicht hat und von der man gar nicht weiß, ob sie überhaupt existiert, so fürchte ich, daß ich deine Lobsprüche nicht auf mich beziehen kann.«

Um nicht eine Unterhaltung fortzusetzen, die möglicherweise auf Martin einen verderblichen Einfluß üben konnte, behielt Mr. Pinch seine Antwort für sich. Aber John Westlock, den nicht einmal ein eiserner Knebel hätte zum Schweigen bringen können, wenn sich’s um Mr. Pecksniffs Verdienste handelte, fuhr fort:

»Seine Gefühle! O Gott, was er für ein zartfühlender Mensch ist. Seine Gefühle! Er ist ein wohlüberlegter, bewußter, moralischer Halunke. Seine Gefühle! Ach Gott! Ach Gott! – – Was hast du denn eigentlich, Tom?«

Mr. Pinch war nämlich inzwischen auf den Teppich vor den Herd getreten und knöpfte mit großer Hast seinen Rock zu.

»Ich kann das nicht länger mehr aushalten«, sagte Tom und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, wahrhaftig nicht, du mußt mich entschuldigen, John. Ich achte dich hoch, und wir sind miteinander befreundet; ich habe dich wirklich sehr gern und war heute außerordentlich erfreut, in dir den alten John wiederzufinden, aber solche Worte kann ich nicht mit anhören.«

»Nun, nun, ich bin eben einmal nicht anders, Tom, und du sagtest es ja selbst, du freuest dich, daß ich mich nicht geändert habe.«

»In dieser Hinsicht nicht«, entgegnete Tom Pinch. »Du mußt mich entschuldigen, John. Wahrhaftig, ich kann und will so etwas nicht länger mehr mit anhören. Es ist ungerecht von dir, und du solltest bedächtiger in deinen Äußerungen sein. Es hat mir immer schon wehe getan, wenn wir allein beisammen waren, aber unter Umständen wie den gegenwärtigen kann ich’s wahrhaftig nicht aushalten. Nein, es ist rein unmöglich.«

»Ja, ja, ich sehe ein, du hast recht«, rief John und wechselte mit Martin einen Blick, »und ich bin im Unrecht, Tom. Aber zum Kuckuck, wie sind wir schon wieder auf dieses unglückselige Thema gekommen. Also, ich bitte dich aus dem Grunde meines Herzens um Verzeihung.« »Wo du doch sonst einen so freien und männlichen Charakter hast«, sagte Finch, »kränkt mich dein Benehmen in diesem einzigen Punkte nur um so mehr. Mich brauchst du übrigens nicht um Verzeihung zu bitten, John, denn gegen mich bist du immer freundlich gewesen.«

»Nun, dann soll meine Abbitte Pecksniff gelten«, erwiderte der junge Westlock. »Ich tue ja alles, was du willst, Tom. Bist du jetzt zufrieden? Komm, wir wollen auf Mr. Pecksniffs Gesundheit trinken.«

»Ich danke dir«, rief Tom, drückte ihm freudig die Hand und füllte sein Glas. »Ich danke dir, John. Da mache ich von ganzem Herzen mit. Also Mr. Pecksniffs Gesundheit! Und möge das Glück ihm hold sein.« John Westlock trank auf diesen Toast, jedoch nur teilweise, denn er wünschte Pecksniff dabei etwas – was, klang nicht recht verständlich. Da die Eintracht jetzt völlig wiederhergestellt war, rückten die drei jungen Leute ihre Stühle dichter um das Kaminfeuer und plauderten vergnügt miteinander bis zur Schlafenszeit.

Kein Umstand hätte übrigens die Charakterverschiedenheit zwischen John Westlock und Martin Chuzzlewit besser beleuchten können als die Art, wie sie Tom Pinch nach dem eben geschilderten kleinen Zwiste betrachteten. Ihre Blicke zeigten allerdings eine gewisse Heiterkeit, aber damit hörte alle Ähnlichkeit zwischen ihnen auf. Der alte Schüler wußte gar nicht, was er alles tun solle, um Tom zu beweisen, wie herzlich er ihm zugetan sei, und seine Achtung vor ihm schien sogar an Ernst und Nachdruck noch gewonnen zu haben. Der neue dagegen wußte nichts anderes, als über Toms außerordentliche Abgeschmacktheit zu lachen, und in seine Heiterkeit mischten sich eine gewisse Geringschätzung und Verachtung, die anzudeuten schienen, daß Mr. Pinch doch gar zu einfältig sei, um unter Verhältnissen wie den gegebenen von einem vernünftigen Menschen als Freund behandelt werden zu können.

John Westlock, der niemals etwas halb tat, hatte für seine zwei Gäste Betten im Gasthof bestellt, und nachdem sie den Abend so glücklich verbracht, begaben sie sich zur Ruhe.

Mr. Pinch saß noch mit abgelegter Halsbinde und ausgezogenen Schuhen auf seinem Bettrand, um über die vielen guten Eigenschaften seines alten Freundes nachzudenken, als er durch ein Klopfen an die Türe seines Zimmers und durch Johns Stimme in seinen Grübeleien unterbrochen wurde.

»Du schläfst noch nicht, Tom?«

»Gott behüte, nein! Ich habe eben an dich gedacht«, versetzte Tom und öffnete die Türe, »komm nur herein!«

»Ich will dich nicht lange stören«, entschuldigte sich John. »Ich habe nur vergessen, diesen Abend einen kleinen Auftrag an dich zu bestellen, und ich fürchte, ich könnte ihn ganz vergessen, wenn ich mich jetzt seiner nicht entledige. – – Du bist, glaube ich, mit einem gewissen Mr. Tigg bekannt.«

»Tigg?« rief Tom. »Ja, ja, der Gentleman, der sich von mir Geld ausgeborgt hat.«

»Ja, ja, derselbe. Er hat mich also gebeten, dich zu grüßen und dir das Darlehen mit Dank zurückzuerstatten. Hier ist es. Ich denke, das Goldstück ist zwar echt, er selbst gehört aber leider zu einer sehr zweideutigen Art von Menschen, Tom.« Mr. Pinch nahm die halbe Guinee mit einem Gesicht in Empfang, dessen Glanz sogar den des Metalls hätte beschämen können, und sagte, er habe dessentwegen keine Sorge gehabt; es freue ihn übrigens, fügte er hinzu, daß Mr. Tigg so prompt und ehrenhaft in seinen Verbindlichkeiten sei.

»Nur eins muß ich dir noch sagen, Tom«, warf John hin, »daß der das nicht immer ist. Wenn ich dir einen Rat geben darf, so weiche ihm aus, so gut du irgend kannst, falls du ihm wieder begegnen solltest; namentlich aber merke dir – es ist mein voller Ernst –, leihe ihm unter keinen Umständen je wieder Geld.«

»Wieso?« fragte Tom und sperrte die Augen weit auf.

»Er gehört durchaus nicht zu den Bekanntschaften, auf die man stolz sein könnte«, fuhr der junge Westlock fort, »und es ist nur um so besser für dich, wenn du ihm zu verstehen gibst, daß du diese Meinung von ihm hast.«

»O weh, John«, sagte Mr. Pinch mit langem Gesicht und schüttelte kleinmütig den Kopf, »ich will doch nicht hoffen, daß du in schlechte Gesellschaft geraten bist?« »Nein«, versicherte John lachend, »hinsichtlich dieses Punktes brauchst du keine Sorge zu haben.«

»Aber es beunruhigt mich doch«, meinte Tom Pinch. »Ich kann mich eines unangenehmen Gefühles nicht erwehren, wenn ich dich so sprechen höre. Wenn Mr. Tigg so ist, wie du ihn schilderst, so solltest du ihn überhaupt nicht kennen. Lache, soviel du willst, aber ich versichere dir, mir kommt die Sache keineswegs lächerlich vor.«

»Nein, nein«, versetzte John und legte sein Gesicht in ernste Falten, »du hast ganz recht; die Sache ist nicht zum Lachen.«

»Weißt du, John«, fuhr Mr. Pinch eindringlich fort, »dein guter Charakter und deine Herzensgüte machen dich oft gedankenlos, und in einer solchen Hinsicht kann man nicht vorsichtig genug sein. Wirklich, es würde mich höchst unglücklich machen, wenn ich denken müßte, daß du in schlechte Gesellschaft geraten seist, denn ich weiß, wie schwer es dir werden würde, sie wieder abzuschütteln. Es würde mir weit lieber sein, ich hätte das Geld verloren, John, als es unter solchen Bedingungen wieder zurückzuerhalten.«

»Und ich versichere dir, mein lieber, guter, alter Freund«, rief John und faßte Toms beide Hände und lächelte ihm mit einem so heiteren und offenen Gesichte zu, daß sogar ein argwöhnischeres Herz als das seines Freundes hätte überzeugt werden müssen, »ich versichere dir, es ist nicht die geringste Gefahr vorhanden.«

»Gut«, rief Tom, »das freut mich – freut mich über die Maßen. Ich weiß, daß es zuverlässig wahr ist, was du mir da sagst. Du nimmst es mir doch nicht übel, John, daß ich so offenherzig zu dir war?«

»Ich es übelnehmen!« rief John mit einem herzlichen Händedruck. »Aus welchem Holze, glaubst du eigentlich, bin ich geschnitzt? Mr. Tigg und ich stehen überhaupt auf keinem so vertrauten Fuße miteinander, als daß du überhaupt nötig hättest, dich zu beunruhigen – darauf gebe ich dir mein feierliches Ehrenwort. Bist du jetzt ganz zufrieden?«

»Vollkommen«, antwortete Tom.

»Dann noch einmal: Gute Nacht!«

»Gute Nacht«, rief Tom. »Und angenehme Träume.« Und dann trennten sie sich für die Nacht – John leichtherzig und guter Laune und auch der arme Tom Pinch ganz zufriedengestellt, obgleich er noch, als er sich in seinem Bett zur Wand drehte, vor sich hin murmelte:

»Trotz alledem wäre es mir doch lieber, wenn er nicht mit Mr. Tigg bekannt wäre.«

Am andern Morgen frühstückten sie sehr zeitig miteinander, denn die beiden jungen Architekten wünschten, beizeiten wieder zu Hause zu sein, und auch John Westlock gedachte noch am selben Tage mit der Landkutsche nach London zurückzukehren. Da der Wagen erst einige Stunden später fuhr, leistete er seinen Freunden drei oder vier Meilen auf ihrem Heimwege Gesellschaft und trennte sich erst von ihnen, als es unbedingt nötig wurde. Der Abschied war ungewöhnlich herzlich, nicht nur zwischen ihm und Tom Pinch, sondern auch von Seiten Martins, der in ihm jemand ganz andern gefunden, als er den Schilderungen seines arglosen Begleiters zufolge zu treffen erwartet hatte.

Der junge Mr. Westlock war noch nicht weit gekommen, als er auf einer kleinen Anhöhe haltmachte und zurückblickte. Die beiden andern schritten rasch vorwärts, und Tom schien in eifrigem Gespräche begriffen zu sein. Martin hatte seinen Überrock ausgezogen, da sie jetzt den Wind im Rücken hatten, und trug ihn auf dem Arme. Plötzlich bemerkte John, daß ihm Tom nach kurzem Widerstreben seinen Mantel abnahm und jetzt doppelt zu schleppen hatte. Dieser unbedeutende Umstand machte einen tiefen Eindruck auf ihn, und er blieb stehen und sah den beiden nach, bis sie seinen Blicken entschwunden waren. Dann schüttelte er den Kopf, wie von unruhigen Gedanken gequält, und schritt gedankenvoll auf dem Wege nach Salisbury weiter.

Inzwischen trabten Martin und Tom wacker fort, bis sie wohlbehalten in Mr. Pecksniffs Behausung anlangten und dort einen kurzen Brief an Mr. Pinch vorfanden, der die Rückkehr der Familie mit derselben Abendpost meldete. Da der Wagen morgens gegen sechs Uhr an der Straßenecke anlangen mußte, so wünschte Mr. Pecksniff, daß das Gig sowie ein Karren für das Gepäck ihn um die genannte Zeit bei dem Wegweiser erwarten sollten. Um daher den Herrn des Hauses mit entsprechenden Ehren empfangen zu können, sahen sich die beiden jungen Leute genötigt, sehr früh aufzustehen und sich selbst an Ort und Stelle zu bemühen.

Es war der letzte heitere Tag, den sie miteinander verbringen sollten. Martin war mißlaunig und ersah jede Gelegenheit, seine eigenen Verhältnisse und Aussichten mit denen des jungen Mr. Westlock zu vergleichen, wobei er stets zu demselben verdrießlichen Schlusse kam. Diese Stimmung wirkte auch auf Tom niederdrückend, und weder der Gedanke an den Abschied am Morgen noch an das gestrige Bankett vermochten die Sache wesentlich zu bessern. Träge genug schwanden die Stunden dahin, und die beiden jungen Leute waren schließlich froh, sich zu Bett begeben zu können.

Weniger behaglich fanden sie es, als sie am nächsten Morgen um halb drei Uhr in der ganzen Kälte eines dunkeln Wintertages aufstehen mußten. Sie machten sich jedoch pünktlich auf die Beine und trafen eine volle halbe Stunde vor der festgesetzten Zeit am Wegweiser ein. Der Morgen war nichts weniger als lieblich, denn am Himmel hingen schwarze Wolken, und der Regen goß nur so hernieder, dennoch meinte Martin, es läge wenigstens ein gewisser Trost darin, denn das Biest von einem Gaul – damit meinte er Mr. Pecksniffs arabische Stute – werde auch bis auf die Knochen naß und es freue ihn daher in gewissem Sinne, daß es so unerhört schütte. Aus dieser Bemerkung zu schließen, hatte sich Martins Stimmung durchaus nicht gebessert, und wie er so neben Mr. Pinch wartend unter einer Hecke stand und auf den Regen, das Gig, den Karren und das dampfende Pferd hinblickte, brummte er unablässig. Vielleicht würde es sogar zu einem Streit mit Pinch gekommen sein, wären eben nicht zu einem Zwiste mindestens zwei Parteien unerläßlich notwendig.

Endlich ließ sich aus der Ferne das dumpfe Gerassel von Rädern vernehmen, und bald nachher fuhr der Postwagen, durch Schmutz und Schlamm platschend, heran. Nur ein einziger Außenpassagier kauerte sich unter einem triefenden Regenschirm in das Stroh, und der Kutscher, der Schaffner und die Pferde waren sämtlich elend durchnäßt. Sobald der Wagen haltmachte, ließ Mr. Pecksniff das Fenster herunter und rief Tom Pinch an. »Was sehe ich, Mr. Pinch! – Ist es denn möglich, daß Sie an einem solch unfreundlichen Morgen selbst herausgekommen sind?«

»Gewiß, Sir«, rief Tom und trat eilig an den Kutschenschlag heran, »Mr. Chuzzlewit und ich, Sir –«

»Oh«, sagte Mr. Pecksniff und sah über Martin hinweg in die Luft. »Oh, wahrhaftig! – – Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, nach den Koffern zu sehen, Mr. Pinch?«

Dann stieg er aus und half auch seinen Töchtern aus dem Wagen. Doch weder er noch die jungen Damen nahmen dabei die geringste Notiz von Martin, der herangetreten war, um seinen Beistand anzubieten. Mr. Pecksniff kehrte ihm sogar brüsk den Rücken. In gleicher Weise und unter tiefem Schweigen hob er seine Töchter in das Gig, folgte ihnen nach, ergriff die Zügel und fuhr nach Hause. Sprachlos vor Staunen starrte Martin erst die Kutsche und, als diese abgefahren war, Mr. Pinch und das Gepäck an. Als der Lastkarren sich gleichfalls entfernt hatte, wendete er sich zu Tom und fragte:

»Würden Sie vielleicht so freundlich sein, mir zu sagen, was das alles zu bedeuten hat?«

»Was?« fragte Tom.

»Das Benehmen dieses Kerls – des Monsieur Pecksniff. – Sie haben es doch gesehen.«

»Wahrhaftig, nein!« versicherte Tom. »Ich war mit den Koffern beschäftigt.«

»Macht weiter nichts«, brummte Martin. »Kommen Sie! Eilen wir uns, daß wir nach Hause kommen.«

Und ohne weiter ein Wort zu sprechen, brach er so hastig auf, daß Tom seine liebe Not hatte, gleichen Schritt mit ihm zu halten.

Achtlos ging er dabei mitten durch die Pfützen, die sich auf der Straße angesammelt hatten, stets geradeaus blickend und bisweilen höchst seltsam auflachend. Tom fühlte, daß alles, was er hätte sagen können, Martin nur noch störrischer machen mußte, und hoffte daher, wenn sie zu Hause angelangt sein würden, daß Mr. Pecksniff das Mißverständnis bald aufklären und den neuen Zögling, der doch im Hause so beliebt war, freundlich begrüßen werde. Wie erstaunt war er aber, als sie das Zimmer betraten und Pecksniff allein vor dem Feuer sitzen und heißen Tee trinken sahen, ohne daß er sich um seinen Verwandten im geringsten gekümmert oder Notiz von ihm genommen hätte.

»Schenken Sie sich eine Tasse Tee ein, Mr. Pinch – schenken Sie sich eine Tasse Tee ein«, sagte Mr. Pecksniff vielmehr, sich auffallenderweise nur an Tom wendend. »Sie müssen sehr durchfroren und naß geworden sein. Bitte, nehmen Sie etwas Tee und wärmen Sie sich hier am Kamin, Mr. Pinch.«

Tom sah bestürzt Martin an und bemerkte, daß dieser Mr. Pecksniff mit Blicken musterte, die etwas Drohendes an sich hatten.

»Nehmen Sie Platz, Mr. Pinch«, fuhr Mr. Pecksniff krampfhaft fort; »nehmen Sie Platz, wenn ich bitten darf. – – Also, was hat sich in unserer Abwesenheit alles ereignet, Mr. Pinch?«

»Sie – Sie werden sich sehr über die Pläne der Elementarschule freuen, Sir«, antwortete Tom; »sie sind beinahe fertig.«

»Würden Sie vielleicht die Güte haben, Mr. Pinch«, unterbrach ihn Pecksniff lächelnd und winkte mit der Hand ab, »alles, was auf diese Frage Bezug hat, vorderhand auf sich beruhen zu lassen. – Also, wie ist es Ihnen ergangen, Thomas – hum?«

Mr. Pinch blickte von seinem Herrn und Gebieter auf den neuen Zögling und von diesem wieder auf Mr. Pecksniff, war aber dabei so verwirrt und verlegen, daß er die nötige Geistesgegenwart nicht aufbringen konnte, um die Frage zu beantworten. Während dieser peinlichen Pause rührte Mr. Pecksniff beständig, sich wohl bewußt, daß ihn Martin immer noch mit drohenden Augen betrachte – trotzdem er nicht ein einziges Mal aufgesehen hatte –, eifrig in den Kohlen herum. Als das schließlich nicht mehr recht anging, beschäftigte er sich emsig mit Teetrinken.

»Nun, Mr. Pecksniff?« sagte Martin endlich mit schneidender Stimme. »Wenn Sie sich genügend erfrischt und erholt haben, so würde es mir lieb sein, wenn sie mir endlich sagen wollten, wie ich mir Ihr Benehmen zu deuten habe.«

»Und was –« nahm Mr. Pecksniff seine alte Frage wieder auf, »– und was, lieber Tom Pinch, haben Sie die ganze Zeit über getrieben? Nun?« Nachdem er diese Frage noch ein paarmal wiederholt hatte, schaute er sich im Zimmer um, um seine Verlegenheit zu verbergen.

Tom stand der Verstand beinah still, denn er wußte nicht, was er zu alledem sagen solle, und er wollte gerade durch eine bittende Gebärde Mr. Pecksniffs Aufmerksamkeit auf dessen Verwandten zu lenken versuchen, als Martin ihm jede weitere Mühe ersparte und selbst aufs neue das Wort ergriff.

»Mr. Pecksniff«, sagte Martin, trommelte leicht mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte und trat dann ein paar Schritte näher, so daß er den Herrn des Hauses beinahe mit der Hand hätte berühren können, »Sie haben gehört, was ich Sie soeben fragte. Würden Sie also die Gefälligkeit haben, mir zu antworten. Ich wiederhole meine Frage« – er erhob jetzt seine Stimme ein wenig – »was habe ich mir bei all dem zu denken?«

»Ich werde demnächst mit Ihnen darüber sprechen, Sir«, versetzte Mr. Pecksniff in strengem Tone und erhob jetzt zum erstenmal seine Blicke.

»Höchst liebenswürdig von Ihnen«, höhnte Martin, »aber mit einem ›Demnächst‹ gebe ich mich nicht zufrieden. Sie werden sich schon bemühen müssen, mit der Wahrheit herauszurücken.«

Mr. Pecksniff tat, als beschäftige er sich eifrig mit seinem Taschentuch, aber man konnte deutlich sehen, wie seine Hand zitterte.

»Und zwar gleich!« fuhr Martin fort und trommelte wieder auf dem Tische. »Und zwar jetzt! Ich lasse mich mit keinem ›Demnächst‹ abspeisen.«

»Wie? – Sie drohen mir, Sir?!« rief Mr. Pecksniff.

Martin sah ihn fest an, gab aber keine Antwort, obwohl ein aufmerksamer Beobachter ein ominöses Zucken um seine Mundwinkel und vielleicht eine unwillkürliche Bewegung seiner rechten Hand in der Richtung nach Mr. Pecksniffs Halsbinde hätte entdecken können.

»Es tut mir sehr leid, sagen zu müssen, Sir«, begann Mr. Pecksniff nach einer Pause, »daß es Ihnen sehr ähnlich sieht, wenn Sie mir drohen wollen. Sie haben mich hintergangen. Sie haben mich getäuscht, trotzdem Sie mich als vertrauensvoll und arglos kannten. Ja«, setzte er hinzu und erhob sich von seinem Stuhl, »und zwar durch falsche Angaben und trügerische Vorspiegelungen haben Sie sich in dieses Haus eingeschlichen, Sir.«

»Nur weiter, Sir«, sagte Martin mit geringschätzigem Lächeln; »ich verstehe. Was weiter?«

»Was weiter, Sir!« rief Pecksniff, am ganzen Leibe zitternd, und rieb sich krampfhaft die Hände. »Was weiter? Sie zwingen mich, Ihre Schande vor einer fremden Person zu veröffentlichen, was ich eigentlich nicht im Sinne gehabt habe. Ich kann nicht länger zugeben, daß mein Haus durch die Gegenwart eines Menschen geschändet wird, der zu einem Betrüger – zu einem schändlichen Betrüger geworden ist an einem ehrenhaften, allgemein geliebten, verehrten und verehrungswürdigen Gentleman – durch einen Menschen, der sich mir mit Arglist im Herzen näherte, wohl wissend, daß ich, so unbedeutend ich auch sein mag, doch ein ehrlicher Mensch bin, der in dieser irdischen Welt seine Pflicht zu tun sucht und ein Feind ist von aller Bosheit und Hinterlist. Ich beklage aufs tiefste Ihre Verderbtheit, Sir, und sehe mit Leid, daß Sie von dem Blumenpfade der Reinheit und des Friedens abgewichen sind« – dabei schlug der Treffliche an seine Brust oder vielmehr an seinen moralischen Garten – »aber ich kann nicht länger einem Aussätzigen – einer Schlange – Obdach geben. Weichen Sie von hinnen!« rief Mr. Pecksniff und streckte seine Hand aus. – »Weichen Sie von hinnen, junger Mann. Gleich allen, die Sie durchschaut haben, sage ich mich los von Ihnen!«

In welcher Absicht Martin bei diesen Worten einen Schritt vorwärts tat, läßt sich unmöglich sagen. Genug, daß Tom Pinch seine Arme um ihn schlang und ihn zurückhielt und daß im selben Augenblick Mr. Pecksniff hastig zurücktrat, ausglitt, über einen Sessel stolperte und in sitzender Stellung auf den Fußboden fiel, wo er, ohne einen Versuch zu machen aufzustehen, mit dem Kopf in die Ecke gelehnt, sitzen blieb. – Wahrscheinlich, weil er dies für die sicherste Stellung hielt.

»Lassen Sie mich, Pinch«, rief Martin und schüttelte Tom von sich ab. »Wofür halten Sie mich? Glauben Sie, daß ein Fußtritt ihn zu einer noch gemeineren Kreatur machen könnte? Glauben Sie, wenn ich ihm ins Gesicht spiee, daß ich ihn noch mehr erniedrigen könnte, als er sich selbst schon erniedrigt hat?! Sehen Sie ihn doch nur an! Ich bitte, sehen Sie ihn doch nur an, Pinch!«

Mr. Pinch sah unwillkürlich Mr. Pecksniff an, wie er, auf dem Teppich sitzend, den Kopf in einen Winkel der Wand gedrückt und mit allen Spuren einer unbequemen, langen Reise an Leib und Kleidern, nichts weniger als den Eindruck eines einnehmenden und würdevollen Menschen bot. Aber doch blieb er der treffliche Mr. Pecksniff, und es war unmöglich, ihn dieser einzigen Empfehlung bei Tom zu berauben. Sein Blick schien zu sagen: »Ach, Mr. Pinch, sehen Sie nur, hier sitze ich; Sie wissen, was der Dichter von einem Ehrenmanne singt. Und ein Ehrenmann ist eine von den wenigen großen Naturmerkwürdigkeiten, die man umsonst zu sehen kriegt. Bitte, sehen Sie mich nur an.«

»Und ich sage Ihnen«, rief Martin, »wie er da liegt, schmachvoll, ein erkauftes Werkzeug, ein Fußabkratzer für schmutzige Stiefel, ein lügnerischer, kriecherischer, gemeiner Hund, ist er das letzte und schlechteste von allem Gewürm auf Erden. Denken Sie an mich, Pinch, der Tag wird kommen – ich weiß es, denn während ich spreche, können Sie es in seinem Gesichte lesen –, an dem auch Sie erfahren werden, was für eine Sorte Mensch er ist. Sie werden ihn kennenlernen, wie ich ihn kenne, und er weiß ganz gut, in welchem Lichte er mir erscheint. Er sich von mir lossagen! Schauen Sie ihn nur an, diesen Tugendbold, Pinch, und lassen Sie sich seinen Anblick zur Warnung dienen.«

Dabei deutete er mit unaussprechlicher Verachtung auf Mr. Pecksniff, drückte sich dann schnell den Hut auf den Kopf und verließ das Haus. Er ging so rasch, daß er bereits das Dorf im Rücken hatte, als er Tom Pinch in einiger Entfernung hinter sich atemlos seinen Namen rufen hörte:

»Nun, was gibt’s?« fragte er, als Tom ihn eingeholt hatte.

»Ach, du lieber Gott«, rief Tom, »Sie wollen fort?«

»Fort?« wiederholte Martin. »Natürlich fort.«

»Aber doch nicht jetzt – in diesem Unwetter – zu Fuß – ohne Kleider – ohne Geld!«

»Ja«, antwortete Martin finster.

»Und wohin?« fragte Tom. »Wohin wollen Sie Ihre Schritte lenken?« »Ich weiß es nicht. – Doch ja! Ich will nach Amerika.«

»Ach, tun Sie das nicht«, rief Tom schmerzlich betrübt. »Sie dürfen das nicht! Besinnen Sie sich eines Bessern! Seien Sie doch nicht so furchtbar rücksichtslos gegen sich selbst. Bitte, gehen Sie nicht nach Amerika!«

»Mein Entschluß steht fest«, erwiderte Martin. »Ihr Freund hatte recht. Ich gehe nach Amerika. Gott behüte Sie, Pinch!«

»So nehmen Sie wenigstens dies!« rief Tom und drückte Martin in großer Erregung ein Buch in die Hand. »Ich muß jetzt zurück und kann nicht alles sagen, was ich möchte. Gottes Segen sei mit Ihnen. Sehen Sie sich das Blatt an, das ich im Buch eingebogen habe. Und jetzt Gott befohlen! Gott befohlen!«

Dann drückte er ihm die Hand, und Tränen liefen ihm über die Wangen.

In der nächsten Sekunde eilte jeder der beiden jungen Leute in einer andern Richtung fort.