15. Kapitel
Sei mir gegrüßt, Columbia!
Eine dunkle und traurige Nacht! Die Menschen schmiegten sich in ihre Betten oder sammelten sich um das späte Kaminfeuer. Die Not fröstelte an den Straßenecken, und die Kirchentürme summten noch unter den schwachen Vibrationen ihrer eigenen Zungen, die soeben erst mit gespenstischem Ruf die erste Stunde nach Mitternacht verkündet hatten. Die Erde lag unter einem schwarzen Leichentuch, als sei sie das Grab des gestrigen Tages. Gruppen dunkler Bäume nickten trauervoll mit ihren riesigen Leichenfederbüschen. Alles war still und lautlos oder lag in tiefem Schlummer, ausgenommen die unruhigen Wolken, die über den Mond dahinhuschten, und der unstete Wind, der bald auf dem Boden dahinkroch, wie um zu horchen, und dann rauschend weiterzog, bald wieder haltmachte, um gleich darauf seine Fährte wieder aufzunehmen wie der Wilde auf der Spur eines Feindes. Wie schuldbeladene Gespenster schienen Wind und Wolken nach einem gemeinsamen finsteren Versammlungsort zu ziehen; befreit aus der drückenden Fessel, die da Erde heißt, jagten sie über die endlose Fläche der Gewässer. Dort heulten sie, tobten und brüllten und wüteten die ganze Nacht hindurch. Tönende Stimmen hallten aus den Höhlen an der Küste jener sagenhaften Insel wider, die Tausende von Meilen inmitten zürnender Wellen schläft. Dort begegneten einander die brausenden Stürme, in unbekannten Einöden der Welt erzeugt, und rangen und stritten mit der ganzen Wut ungezügelter Freiheit miteinander, bis die See, bis zur Raserei aufgepeitscht, in ein noch weit gewaltigeres Toben ausbrach und der ganze Schauplatz sich in wirbelnden Wahnsinn verwandelte.
Weiter, weiter und immer weiter, bis ins Unabsehbare rollten die hoch sich aufbäumenden Wogen. Berge und Höhlen entstanden, doch schon im nächsten Augenblick wurde der Berg wieder zum Tal und das Tal zum Berg – und das Meer schien ein einziger kochender Strudel. Verfolgung, wilde Flucht, tolle Rückkehr, Welle auf Welle und ein wütender Kampf ringsum und dann aufsprudelnder Schaum, der als weißer Schein durch die schwarze Nacht leuchtete; ein unablässiger Wechsel von Ort, Gestalt und Farbe; in nichts Beständigkeit als im ewigen Kampfe. Fort, fort und fort rollten die Wogen dahin, dunkler wurde die Nacht und lauter heulten die Winde und ungestümer wurden die Millionen Stimmen des Meeres, wie der Sturm den wilden Ruf weitertrug: »Ein Schiff!«
Vorwärts arbeitet sich ein Schiff, mutvoll mit den Elementen ringend; die hohen Masten zittern, die Spieren knarren unter dem gewaltigen Druck. Dahin geht es, jetzt hoch auf den sich bäumenden Wogen, jetzt tief unten in den dunklen Wasserschluchten, wie um sich zu verbergen, und lauter und lauter scheinen die Stimmen der Stürme zu rufen: »Ein Schiff!«
Doch weiter kämpft sich das wackere Fahrzeug und, über seine Kühnheit und die vorauseilende Kunde seines Nahens erstaunt, erheben sich die zornigen Wellen, wie um sich einander über die weißen Häupter hinweg sehen zu können, drängen sich um seinen Bord und rauschen heran von ferne in schrecklicher Neugier. Hoch über ihm brechen sie sich, rund umher brausend in wildem Getümmel, um dann stöhnend zurückzuweichen, jede die Schwester in grimmigem Zorne zertrümmernd. Furchtlos bahnt sich das Schiff seinen Weg vorwärts, mit düsterbrennenden Lichtern und schlafenden Menschen an Bord. Trotz der unaufhörlich über Deck rauschenden Sturzwellen, deren Treiben auch der Tag noch kein Ende machen zu wollen scheint. Durch jede Spalte und Ritze späht das todbringende Element, voll Haß bemüht, die dünne Planke zu zerbersten, die den Seemann von seinem Grab in der bodenlosen Tiefe trennt.
Unter den schlafenden Reisenden an Bord befanden sich auch Martin und Mark Tapley, beide durch die ungewohnte schlingernde Bewegung des Schiffes in ohnmachtsähnlichen Schlummer versetzt und sich der dumpfigen Luft der Kojen so wenig bewußt wie des Aufruhrs draußen.
Das Tageslicht schien bereits hell durch die Luken, als Mark mit dem unbestimmten Gefühl erwachte, er habe sich in eine Bettstelle niedergelegt, in der im Laufe der Nacht das Unterste zuoberst gekehrt worden sei. Das erste, dessen er ansichtig wurde, und zwar senkrecht über seinem Kopf, waren seine eigenen Fersen.
»Ha«, sagte er, nachdem er es nach langem Kampfe mit dem Auf- und Niederrollen des Schiffes endlich zu einer sitzenden Stellung gebracht, »na, das ist, dächte ich, das erstemal in meinem Leben, daß ich die ganze Nacht über auf dem Kopf gestanden habe.«
»Dann müssen Sie sich eben nicht mit dem Kopf leewärts legen«, brummte ein Mann in einer der Schlafstellen.
»Wohin soll ich mich mit meinem Kopf nicht legen?« fragte Mark.
Der Mann wiederholte seinen guten Rat.
»Na, dann werd ich’s das nächstemal bleiben lassen«, sagte Mark, »wenn ich nur erst mal weiß, in welcher Gegend das Land, das Sie soeben genannt haben, liegt. – Übrigens kann ich Ihnen auch einen Rat geben: gehen Sie lieber auf festem Lande als auf einem Schiff schlafen.«
Der Mann knurrte mißvergnügt etwas durch die Zähne, drehte sich auf die andere Seite und zog sich das Bettuch über die Ohren.
»Denn«, sagte Mark Tapley und verfolgte den Gedanken im Selbstgespräch leise weiter, »die See ist das Unvernünftigste überhaupt. Nie weiß sie, was sie eigentlich will. Sie hat eben keine geistige Beschäftigung; daher ihre Zerfahrenheit. Wie die Polarbären in der Menagerie wackelt sie auch immer mit dem Kopf von einer Seite zur anderen. Nicht einen Augenblick kann sie ruhig sein. Das kommt natürlich von ihrer entsetzlichen Borniertheit.«
»Sind Sie’s, Mark?« fragte eine müde Stimme aus einer Koje nebenan. »Jawohl, Sir. Oder besser gesagt: der schäbige Rest, der noch von mir übrig ist nach dieser vierzehntägigen greulichen Mißhandlung«, versetzte Mark Tapley. »Wenn ich bedenke, was ich seit unserer Ankunft an Bord für ’ne Art Lauseleben geführt habe, kann nicht gut mehr viel von mir übrig sein; darauf möchte ich schwören, Sir. Ganz besonders, wenn ich mich erinnere, was ich an genossenen Leckerbissen wieder von mir gegeben habe. – Wie geht es Ihnen übrigens heut morgen, Sir?«
»Hundsmiserabel«, stöhnte Martin. »Das ist ja furchtbar!«
»Da kann man wenigstens noch Ehre einlegen«, murmelte Mark, drückte die Hand auf seine schmerzende Stirn und blickte mit kläglichem Grinsen umher. »Und das ist ein großer Trost. Man kann sich’s wahrhaftig hoch anrechnen, wenn man hier nicht den Mut verliert. Ja ja, das Gute belohnt sich selbst. Daher auch die Fröhlichkeit.«
Mark hatte insofern recht, als tatsächlich jeder, der als Zwischendeckpassagier des schönen und schnellsegelnden Paketschiffes »Die Schraube« sich seine gute Laune bewahren wollte, auf seine eigenen Hilfsquellen angewiesen war und sich seinen guten Humor ebensogut wie seinen Mundvorrat, da zu beiden der Herr des Schiffes nichts beisteuerte, selbst mitgebracht haben mußte.
Ein dunkler, niedriger, erstickender Kajütenraum, bis zum Platzen mit Männern, Weibern und Kindern in den verschiedensten Stadien der Seekrankheit und des Elends angefüllt, ist niemals ein besonders angenehmer Unterhaltungsort. Wenn er aber so vollgestopft ist wie in diesem Falle, wo Matratzen und Betten auf dem Boden aufgehäuft lagen und auch nicht das kleinste Fleckchen mehr rein und sauber war, – dann wird nicht nur jede heitere Stimmung im Keime erstickt, sondern es entsteht geradezu Mißmut in seiner schlimmsten Form. Mark bemerkte das, sooft er sich umsah, und demgemäß stieg auch seine gute Laune. An Bord befanden sich Engländer, Irländer, Welshmen und Schotten, sämtlich mit ihrem kleinen Vorrat an halbverdorbenen Speisen und in schäbigen Kleidern. Fast alle hatten ihre Familien bei sich; ihre Weiber und Sprößlinge. Kinder jeglichen Alters, vom Säugling angefangen bis zur schlampigen halbwüchsigen Dirne, waren in dem engen Raum zusammengepfercht und litten gemeinsam an all den Qualen, die in Armut, Krankheit, Heimatlosigkeit, Sorgen und langer Seereise bei rauhem Wetter ihren Grund haben, und doch gab es in dieser ungesunden Arche Noah vielleicht weniger Bemänglung oder Zank als anderswo unter sogenannten geordneten Verhältnissen oder Hauswesen.
Mit pfiffiger Miene blickte Mark umher, und seine Mienen heiterten sich auf. Hier beugte sich eine alte Großmutter über ein krankes Kind, wiegte es in ihren Armen, die fast ebenso schwach waren wie die jungen Gliedmaßen des Kleinen; dort flickte ein armes Weib, ein Kind im Schoße, die Kleider eines andern kleinen Geschöpfes und beschwichtigte ein drittes, das von der dürftigen Bettstelle zu ihr hinkroch. Alte Männer verrichteten unbehilflich ihre kleinen Hausarbeiten, und gebräunte Gesellen – Riesen an Gestalt – erwiesen ihrer Umgebung allerlei zarte kleine Liebesdienste, wie man sie nur von den weichherzigsten, sanftesten Zwergen hätte erwarten können. Selbst der Blödsinnige drüben in der Ecke, der sonst den ganzen Tag über brütend dasaß, fühlte sich davon angesteckt und schnappte mit den Fingern, um ein weinendes Kindchen zu trösten.
»Na«, sagte Mark, nickte einer Frau zu, die ihre drei Kinder dicht neben ihm ankleidete, und lachte dabei von einem Ohr bis zum andern, »geben Sie mir mal eins von den Kleinen herüber.«
»Ich dächte, es wäre besser, Sie besorgten das Frühstück, Mark, statt daß Sie sich mit Leuten abgeben, die Sie nichts angehen«, bemerkte Martin ärgerlich. »Ganz recht«, meinte Mark, »das könnte aber vielleicht sie besorgen. Das wäre dann eine famose Arbeitsteilung, Sir. Ich wasche ihr die Buben, und sie macht uns den Tee. – Ich habe mich nie aufs Teekochen verstanden, aber ein Kind kann jeder Mensch waschen.«
Die Frau, die sehr zart und krank war, empfand seine Freundlichkeit um so tiefer, als er ihr überdies Nacht für Nacht seinen Mantel lieh und sich selbst auf den nackten Brettern mit einem Teppich begnügte – nur Martin, der selten aufstand oder für sonst etwas Augen hatte, war bitterböse über Marks Torheit und gab sein Mißvergnügen durch ein unwilliges Gebrumm zu erkennen.
»Ja, ja, es ist wahrhaftig so«, sagte Mark und bürstete das Haar des Kindes so geschickt wie ein ausgelernter Friseurgehilfe.
»Wovon sprechen Sie jetzt schon wieder?« fragte Martin.
»Von dem, was Sie gesagt haben«, versetzte Mark, »oder vielmehr, was Sie sagen wollten, als Sie vorhin Ihren Gefühlen in so trübseliger Weise Luft machten. – Ich bin ganz Ihrer Ansicht; es ist gewiß sehr hart für sie.«
»Was ist hart?«
»Die Reise allein machen zu müssen mit diesen kleinen Bälgern da. Zu dieser Jahreszeit sich einer solchen Reise zu unterziehen, um zu ihrem Gatten zu gelangen. – – – Wenn Sie nicht wollen, daß Ihnen die Seife ins Auge kommt, junger Herr«, sagte er zu dem zweiten Knirps, den er sich eben am Waschbecken vornahm, »werden Sie guttun, Ihre Gucklöcher zuzumachen.«
»Wo hofft sie denn ihren Mann zu treffen?« fragte Martin gähnend.
»Ich fürchte sehr«, meinte Mr. Tapley mit leiser Stimme, »daß sie es selbst nicht recht weiß. Hoffentlich werden sie sich nicht verfehlen. Sie schickte ihm ihren letzten Brief durch irgendeinen Auswanderer; aber auch sonst scheint keine sonderlich klare Verständigung zwischen ihnen stattgefunden zu haben. Wenn er daher nicht am Ufer steht und sein Schnupftuch schwenkt, wie es auf den Bildern im Gesangbuch abgebildet ist, so bin ich der Meinung, daß die Sache verdammt faul ausgehen wird.« »Aber in Teufels Namen, wie kommt das Weib dazu, sich an Bord eines Schiffes zu begeben, wenn das Ganze nur so ein Wagnis aufs Geratewohl ist?« rief Martin.
Mark sah einen Augenblick auf und erwiderte dann sehr ruhig:
»Hm. Das läßt sich leicht fragen. Ich kann mir’s auch nicht recht zusammenreimen. Vor zwei Jahren ist er ausgewandert. Sie war sehr arm und nicht sonderlich angesehen in ihrer Heimat. Natürlich wollte sie da zu ihm. Sehr sonderbar, daß sie hier ist; höchst erstaunlich, und ein bißchen verrückt vielleicht. Anders läßt sich’s nicht erklären.«
Martin fühlte sich zu seekrank, um auf diese Worte irgendeine Antwort zu geben oder auch nur auf sie zu achten. Inzwischen war der Gegenstand ihrer Unterhaltung mit etwas heißem Tee zurückgekommen und unterbrach auf diese Weise wirksam eine Wiederaufnahme des Themas von seiten Mr. Tapleys, der, sobald er sein Frühstück eingenommen und Martins Bett zurechtgemacht hatte, sich aufs Oberdeck verfügte, um das Service, das aus zwei zinnernen Näpfen und einer Rasierbüchse aus demselben Metalle bestand, auszuspülen.
Auch ihn hatte die Seekrankheit bei dem Schlingern des Schiffes sehr mitgenommen. Da er sich jedoch fest vorgenommen, auch unter den widrigsten Verhältnissen »Ehre einzulegen«, wie er es nannte, so bildete er sozusagen die Seele des Zwischendecks. Er machte sich auch nicht viel daraus, sogar mitten in einem launigen Gespräch aus Übligkeit beiseite gehen zu müssen; und jedesmal kehrte er nachher in der allerbesten und heitersten Laune zurück, um es wieder fortzusetzen, als ob ein bißchen Erbrechen die allergewöhnlichste Sache von der Welt wäre.
Auch als bei Besserung seines Befindens sich seine natürliche gute Laune von selbst wieder hob, merkte man das kaum, so fröhlich hatte er schon vorher geschienen. Nur sein Pflichteifer steigerte sich womöglich, und unverdrossen ließ er sich’s gefallen, daß man zu allen Tagesstunden seine Dienste in Anspruch nahm.
Wenn sich ein Sonnenstrahl an dem dunkeln Himmel zeigte, eilte er sofort in die Kajüte hinunter und kam gleich darauf mit irgendeinem Frauenzimmer am Arm, einem halben Dutzend Kindern, einem kranken Mann, einem Bett, einer Pfanne, einem Korb oder sonst irgendeinem Objekt, gleichviel ob belebt oder unbelebt, wieder zum Vorschein. Wenn gegen Mittag für ein paar Stunden schönes Wetter einsetzte und die armen Teufel, die zu andern Zeiten selten oder nie auf Deck kamen, heraufkrochen, sich auf die Deckplanken niederlegten und zu essen versuchten, so konnte man wetten, daß Mr. Tapley mitten unter dem Häuflein stand, Pökelfleisch und Zwieback verteilend, Grog einschenkend, den Kindern mit seinem Taschenmesser Brot abschneidend oder zur allgemeinen Zerstreuung aus einer uralten Zeitung vorlesend. Zuweilen sang er auch irgendein Lied, schrieb für Leute, die es selbst nicht verstanden, Briefe an ihre Freunde in der Heimat, machte Witze mit den Matrosen, wurde auch gelegentlich in die Nässe geschleudert und tauchte dann triefend aus einem Schauer von Sprühe auf, oder ging da und dort hilfreich an die Hand. Kurz, immer zeigte er sich tätig und fleißig. Wenn abends auf dem Verdeck Feuer angezündet wurde und die unter dem Takel- oder Segelwerk umherfliegenden Funken das Schiff mit sicherer Vernichtung durch Brand zu bedrohen schienen, im Falle es den wäßrigen und luftigen Elementen nicht gelingen sollte, die Zerstörung zu bewerkstelligen, so war es wieder Mr. Tapley, der, den Rock abgelegt und die Hemdsärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, bei allen Küchenverrichtungen mithalf, den Koch machte und die seltsamsten Gerichte auf den Tisch trug oder bereiten half, bis ihn schließlich jeder als eine Art Autorität anerkannte; mit einem Wort, niemals gab es wohl eine beliebtere Person an Bord des edeln und schnell segelnden Paketschiffes »Die Schraube« als Mark Tapley; und schließlich erntete er eine so allgemeine Bewunderung, daß er innerlich schon wieder ernstlich zu zweifeln begann, ob es noch eine Kunst genannt werden könne, unter so günstigen Bedingungen fidel zu sein.
»Wenn das so weitergeht«, sagte er vor sich hin, »so sehe ich keinen großen Unterschied zwischen der Schraube und dem Drachen. Ich glaube, es ist mir wirklich beschieden, nie und nirgends Ehre einzulegen, und ich fange wahrhaftig an zu fürchten, daß das Schicksal sich verschworen hat, mir die Welt leicht zu machen.« »Was glauben Sie, Mark«, rief Martin aus seiner Koje, in deren Nähe Mr. Tapley diese Worte vor sich hingesprochen hatte; »wann wird das alles endlich einmal ein Ende nehmen?«
»Wie ich höre«, berichtete Mark, »werden wir in einer Woche oder so irgendeinen Hafen anlaufen. Das Schiff beeilt sich jetzt, wie sich ein Schiff überhaupt nur beeilen kann. Aber das ist weiter nichts Anerkennenswertes; es ist seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.«
»Dieser Meinung bin ich auch«, brummte Martin.
»Sie würden sich, glaube ich, wohler befinden, wenn Sie mal aus ihrer Koje rauskröchen«, bemerkte Mark.
»Ja, natürlich; damit die Damen und Herren vom Hinterdeck sehen«, grollte Martin verdrossen, »wie ich mich unter dem elenden Bettlervolk herumtreiben muß, mit dem dieses elende Loch vollgepfropft ist. Und da sollte ich mich dann besser fühlen!«
»Gott sei Dank, daß ich nicht aus eigener Erfahrung weiß, wie ein Gentleman innerlich fühlt«, sagte Mark. »Aber ich sollte meinen, daß es auch einem Gentleman hier unten viel unbehaglicher zumute sein müßte als oben in der frischen Luft; besonders, wo die Damen und Herren von der Hinterkajüte gerade so wenig von ihm wissen wie er von ihnen.«
»Davon verstehen Sie offenbar nichts«, brummte Martin verdrossen.
»Sehr leicht möglich, Sir; das kommt bei mir öfters vor«, versetzte Mark in seiner unerschütterlichen Heiterkeit.
»Glauben Sie vielleicht, daß es mir Vergnügen macht, hier zu liegen?« fragte Martin, richtete sich auf den Ellbogen auf und warf einen ärgerlichen Blick auf ihn.
»Sämtliche Narrenhäuser der Welt zusammengenommen haben nicht einen einzigen Verrückten aufzuweisen, der so etwas glauben würde.«
»Warum reden Sie mir also dann zu, daß ich aufstehen soll?« fragte Martin. »Ich bleibe hier liegen, um nicht später einmal, wenn ich in bessern Verhältnissen sein werde, von irgendeinem Geldprotzen als der Mensch erkannt zu werden, der zugleich mit ihm als Zwischendeckpassagier nach Amerika gefahren ist. Ich bleibe hier liegen, um mich versteckt zu halten und weil ich nicht in der Neuen Welt mit dem Stempel tiefster Armut gebrandmarkt ankommen will. Hätte ich einen Platz auf dem Hinterdeck bezahlen können, so würde ich mich öffentlich zeigen wie die andern. Da das leider nicht der Fall ist, muß ich mich eben verbergen.«
»Das tut mir sehr leid, Sir«, bedauerte Mark. »Ich habe nicht wissen können, daß Sie sich’s so zu Herzen nehmen.«
»Natürlich, wie können Sie’s denn auch wissen, wenn ich’s Ihnen nicht sage. – – Sie machen sich selbstverständlich nichts daraus, sich unter die Leute hier zu mischen. Sie sind’s wahrscheinlich gewöhnt. Bei mir ist aber das Gegenteil der Fall. Glauben Sie mir, es ist kein Mann an Bord, der so viel leidet wie ich. Wie?« Er richtete sich auf und sah Mark mit einer Mischung von Ernsthaftigkeit und Neugierde an.
Mark schnitt ein Gesicht und schien es offenbar für sehr schwer zu halten, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Schließlich erlöste ihn Martin selbst aus seiner Verlegenheit, indem er sich wieder zurücklehnte, nach seinem Buche griff, in dem er vorhin gelesen, und sagte:
»Aber was stelle ich Ihnen auch solche Fragen, wo Sie doch die wahre Bedeutung meiner Worte gar nicht verstehen können. Machen Sie mir, bitte, ein wenig Branntwein mit Wasser zurecht; kalt und sehr schwach; – und dann geben Sie mir einen Zwieback und sagen Sie Ihrer wertgeschätzten Freundin, sie solle darauf achten, daß ihre Kinder heute nacht sich ein wenig ruhiger verhalten. Vergessen Sie aber nicht, ihr es auszurichten; wir könnten sonst leicht aneinandergeraten.«
Mit großer Bereitwilligkeit kam Mr. Tapley diesem Befehl nach, und dabei schien seine gute Laune wieder aufzuleben; wenigstens brummte er vor sich hin, daß die »Schraube«, was die Möglichkeit beträfe, aus dem Fidelsein eine Kunst zu machen, doch so mancherlei vor dem »Drachen« voraus habe.
Kurze Zeit darauf entstand eine große Aufregung an Bord, und allerhand Prophezeiungen kursierten hinsichtlich des Tages, ja sogar der Stunde, in der man New York bestimmt erreichen werde. So viel Gedränge und Neugierige, die alle nach Land ausspähten, hatte es bis jetzt noch nicht auf dem Verdeck gegeben. Wie eine Krankheit überfiel alle die Sucht, morgens einzupacken, was abends wieder ausgepackt werden mußte, und wer Briefe zu besorgen, Freunde zu treffen oder irgendeinen bestimmten Lebensplan für Amerika hatte, besprach wohl hundertmal am Tag, was ihm am meisten am Herzen lag. Und da die Zahl solcher Passagiere sehr klein, die der andern aber sehr groß war, so gab es wenig Sprecher und sehr viel Zuhörer. Leute, die auf der ganzen Fahrt unwohl gewesen waren, wurden jetzt plötzlich gesund, und den stets Gesunden wurde noch wohler. Ein amerikanischer Gentleman vom Hinterdeck, der auf der ganzen Fahrt im Pelz und Wachsleinwandanzug eingemummt dagesessen, tauchte jetzt mit einem Male mit einem sehr glänzenden, sehr hohen und sehr schwarzen Hute auf und hantierte beständig mit einem kleinen Felleisen aus Naturleder herum, das seine sämtlichen Kleider nebst Wäsche, Bürsten, Rasierzeug, Büchern, Juwelen und andern unentbehrlichen Dingen enthielt. Die Hände tief in die Taschen vergraben, wanderte er auf dem Verdeck auf und ab mit aufgeblasenen Nüstern, als atme er schon die Luft der Freiheit ein, die bekanntlich allen Tyrannen den Tod bringt und niemals – vereinzelte Fälle vielleicht ausgenommen – von Sklavennaturen eingeatmet werden kann. Ein englischer Gentleman, der stark im Verdachte stand, ein flüchtiger Bankkassierer zu sein und mancherlei mitgenommen zu haben, was von Rechts wegen in die Kassen gehörte, wurde sehr beredt hinsichtlich des Themas »Menschenrechte« und summte ohne Unterlaß die Marseillaise. Kurz, überall herrschte die größte Aufregung an Bord. Immer mehr näherte sich das Schiff der Küste, und endlich, in einer sternenhellen Nacht, wurde ein Lotse an Bord genommen, ein paar Stunden später bis zum Morgen beigelegt und die Ankunft des Dampfers erwartet, in dem die Passagiere an Land gebracht werden sollten.
Die Barkasse langte bald nach Tagesgrauen an und blieb eine Stunde oder so Bord an Bord neben der »Schraube« liegen, ein Ereignis, das sogar die stummen Heizer sichtlich mit Interesse erfüllte. Dann wurde die gesamte lebende Fracht auf die Barkasse geschafft, darunter Mark, der noch immer seine arme Freundin und ihre drei Kinder bemutterte, und Martin, der wieder in seinen gewöhnlichen Anzug gekleidet war, darüber aber einen schmutzigen alten Mantel trug, um nicht aufzufallen.
Der Dampfer, der mit seiner Überdeckmaschine wie ein ungeheures Insekt oder antediluvianisches Ungeheuer aussah, schoß rasch eine schöne Bucht hinauf, und gleich darauf wurden einige Anhöhen, Inseln und eine große weitläufig angelegte Stadt sichtbar.
»Also dies«, sagte Mr. Tapley und ließ seinen Blick über das Panorama hinschweifen, »also das ist das Land der Freiheit. Gut. Freut mich. Mir ist jedes Land recht – nach so viel Wasser. Sei mir gegrüßt, Columbia!«