XIV.

Der Buchstabe tödtet den Stein! Dieser Gedanke hat zwei Seiten. Er deutet den Schrecken des Priesterthums vor der Buchdruckerkunst an, den Abscheu des finstern Priesters vor Gutenbergs leuchtender Presse. Die Kanzel und das Manuscript, das gesprochene und das geschriebene Wort, kommen in Aufruhr gegen das gedruckte Wort. Das ist die Bestürzung und der Neid eines Sperlings, der den Engel Legion seine sechs Millionen Flügel entfalten sieht. Es ist der Schrei eines Propheten, der bereits die entfesselte Menschheit rührig und stürmisch erblickt, der voraussieht, wie der Verstand den Glauben untergraben, die Welt das römische Joch abschütteln wird. Prognostikon eines Philosophen, der den durch die Presse beflügelten menschlichen Gedanken dem dumpfen Kerker der Theokratie entfliehen sieht! Eine Macht muß der andern weichen: Die Presse tödtet die Kirche.

Dies war der erste und in die Augen fallendste Gedanke: es gibt aber noch einen zweiten, der nicht bloß dem Priester, sondern dem Philosophen und dem Künstler angehört. Es war die Voraussicht, daß der menschliche Gedanke, indem er die Form wechselte, auch die Art des Ausdrucks wechseln würde, daß die Hauptidee jeder Generation nicht mehr mit dem nämlichen Stoff und in der nämlichen Form sich aufzeichnen, daß das steinerne Buch, das so fest und dauerhaft ist, dem papierenen Buche, das noch fester und dauerhafter ist, weichen werde. In dieser Beziehung hatten die prophetischen Worte des Archidiakonus den zweiten Sinn: daß eine Kunst eine andere Kunst stürzen, daß die Buchdruckerkunst die Baukunst tödten werde.

Seit dem Anfang aller Dinge bis zum fünfzehnten Jahrhundert des christlichen Zeitraums einschließlich, ist die Baukunst das große Buch der Menschheit, der Hauptausdruck des Menschen in den verschiedenen Zuständen seiner Entwicklung, sei es als Kraft, sei es als Einsicht.

Nachdem das Gedächtniß der ersten Geschlechter sich überladen fühlte, nachdem von Geschlecht zu Geschlecht die Tradition so schwerfällig und verwirrt wurde, daß das nackte und flüchtige Wort sie nicht mehr getreu überliefern konnte, schrieb man die Geschichte in den mütterlichen Boden der Erde auf die sichtbarste, dauerhafteste und natürlichste Weise: man besiegelte jede Tradition durch ein Monument.

Die ersten Monumente waren einzelne Felsstücke, welche, wie Moses sagt, das Eisen nicht berührt hatte. Die Architektur begann wie jede Schrift. Sie war zuerst Alphabet. Man pflanzte einen Stein aufrecht in die Erde, das war ein Buchstabe, und jeder Buchstabe war eine Hieroglyphe, und auf jeder Hieroglyphe ruhte eine Gruppe Ideen, wie das Kapitäl auf einer Colonne. So machten es die ersten Geschlechter, überall, zu gleicher Zeit, auf dem ganzen Umkreis der Erde. Man findet den aufgerichteten Stein der Celten im asiatischen Sibirien und in den Pampas von Südamerika.

Später machte man Worte. Man baute Stein auf Stein, man verband diese Silben von Granit unter einander, das Wort versuchte einige Combinationen. Der Dolmen und der Cromlech der Celten, der etruscische Tumulus, der hebräische Galgal sind Worte. Einige, besonders der Tumulus, sind Eigennamen. Manchmal sogar, wenn man viele Steine und einen weiten Umkreis hatte, schrieb man eine Phrase. Der ungeheure Steinhaufe von Carnac ist schon eine ganze Formel.

Endlich schrieb man Bücher. Die Traditionen hatten Symbole erzeugt, unter denen sie verschwanden, wie der Stamm des Baumes unter seinen Blättern. Alle diese Symbole, welchen die Menschheit Glauben schenkte, häuften sich an, vermehrten, verwickelten sich je mehr und mehr. Die ersten Monumente hatten nicht mehr Raum genug, sie zu fassen. Kaum drückten diese Denkmäler noch die ursprüngliche Tradition aus, gleich ihnen einfach, nackt und erst der Erde entwachsen. Das Symbol fühlte das Bedürfniß, sich auf dem Gebäude bemerklich zu machen. Jetzt entwickelte sich die Architektur mit dem menschlichen Gedanken: sie wurde ein tausendköpfiger und tausendarmiger Riese und befestigte diese schwankende Symbolik unter einer ewigen, sichtbaren, fühlbaren Form. Wahrend Dädalus, der die Kraft ist, maß, während Orpheus, der die Einsicht ist, sang, sah man den Pfeiler, der ein Buchstabe, die Arkade, die eine Silbe, die Pyramide, die ein Wort ist, durch das doppelte Gesetz der Poesie und der Geometrie in Bewegung gesetzt, sich ordnen, zusammenfügen, tief in der Erde wurzeln, hoch in die Wolken steigen, bis unter der Eingebung der Hauptidee einer Epoche jene wunderbaren Bücher geschrieben waren, die zugleich wunderbare Gebäude sind: die Pagode von Eklinga, der Rhamseion von Aegypten, Salomo’s Tempel.

Die Uridee, das Wort, war nicht bloß im Innern aller dieser Gebäude, sondern auch in der Form. Salomo’s Tempel war nicht bloß der Einband des heiligen Buches, sondern das heilige Buch selbst. Auf jedem seiner concentrischen Umkreise konnten die Priester das vor Augen gelegte Wort lesen, und so folgten sie seinen Umwandlungen von Heiligthum zu Heiligthum bis in das Allerheiligste. Das Wort war im Innern des Gebäudes eingeschlossen, aber sein Bild war aus der Außenseite, wie das menschliche Gesicht auf dem Sarge einer Mumie.

Aber nicht allein die Form der Gebäude, sondern auch ihre Lage gab den Gedanken kund, den sie darstellten. Je nachdem das darzustellende Symbol heiter oder ernst war, krönte Griechenland seine Berge mit einem harmonisch in’s Auge fallenden Tempel, grub Indien die seinigen tief in die Erde ein und meißelte unter dem Boden jene ungestalten, von gigantischen steinernen Elephanten getragenen Pagoden.

So war, in den ersten sechstausend Jahren der Welt, seit der entferntesten Pagode Hindostans bis zur Kathedralkirche von Köln, die Architektur die große Schrift des menschlichen Geschlechts. Dies ist so wahr, daß nicht bloß jedes religiöse Symbol, sondern auch jeder menschliche Gedanke in diesem unermeßlichen Buche sein Blatt und sein Denkmal hat.

Jede Civilisation beginnt mit der Theokratie und endigt mit der Demokratie. Dieses Gesetz der Freiheit, das auf die Einheit folgt, ist in der Architektur verzeichnet. Die Baukunst vermag mehr, als bloß Tempel zu bauen, die priesterliche Mythe und Symbolik auszudrücken, die geheimnißvollen Gesetzestafeln ihren steinernen Blättern in Hieroglyphen einzuverleiben. In jeder menschlichen Gesellschaft tritt ein Augenblick ein, wo das geheiligte Symbol sich abnützt und durch den freien Gedanken verwischt wird, wo der Mensch sich der Macht des Priesters entzieht, wo die wuchernde Philosophie an der Religion nagt; in diesem Augenblicke könnte sich dann die Architektur nicht mehr dem neuen Zustande des menschlichen Geistes weihen, ihre Blätter blieben leer, ihr Werk wäre mangelhaft, ihr Buch unvollständig. Dem ist aber nicht so.

Das Mittelalter, in welchem wir klarer sehen, weil es uns näher liegt, mag uns zum Beispiel dienen. Während seiner ersten Periode, als die Theokratie ein neues Europa schuf, als der Vatikan über den Trümmern des heidnischen Roms die Elemente eines christlichen Roms um sich her sammelte, als das Christenthum aus den Trümmern der untergegangenen Civilisation eine neue hierarchische Welt aufbaute, deren Schlußstein das Priesterthum war, erstand auf den Ruinen der griechischen und römischen Baukunst jene geheimnißvolle römische Architektur, Schwester der theokatischen Gebäude Aegyptens und Indiens, unvertilgbares Emblem des reinen Katholicismus, unverwischbare Hieroglyphe der päbstlichen Einheit. Der Hauptgedanke jener Zeit ist in dem düstern römischen Styl verzeichnet. Man fühlt darin überall die unbegrenzte Gewalt, die Einheit, das Unergründliche, das Unbedingte, Gregor VII. Ueberall der Priester, nirgends der Mensch, überall die Kaste, nirgends das Volk!

Jetzt kommt die Zeit der Kreuzzüge. Sie ist eine große vollsthümliche Bewegung, und jede Bewegung, die sich über ganze Völker erstreckt, was auch ihre Ursache und ihr Zweck sein mag, entwickelt am letzten Ende den Geist der Freiheit. Ein neuer Zeitpunkt der Geschichte entwickelt sich. Wir treten in die stürmische Periode der Jacquerien und der Liguen ein. Die Macht wird erschüttert, die Einheit zersplittert. Die Feudalität will mit der Theokratie theilen; dann kommt das Volk und eignet sich den Löwenantheil zu. Quia nominor leo. Dem Priesterthum entsprießt das Adelthum, dem Adelthum das Bürgerthum. Europa’s Anblick hat sich geändert, mit ihm der Anblick der Architektur. Zugleich mit der Civilisation hat sie das Blatt gewendet, und der neue Geist der Zeit findet sie bereit, unter seiner Eingebung zu schreiben. Sie hat aus den Kreuzzügen das Bogengewölbe mitgebracht, die Völker, die Freiheit. Während Rom allmählig in sich zerfällt, geht die römische Architektur unter. Die Hieroglyphe verläßt die Kathedralen, um die Burgen des Adels mit prangenden Wappen auszumalen. Die Liebfrauenkirche selbst, dieses ehemals so dogmatische Gebäude, jetzt von der Bürgerschaft, von der Gemeinde, von der Freiheit eingenommen, entgeht der Gewalt des Priesters und fällt dem Künstler anheim. Der Künstler baut sie nach seiner Weise. Um das Mysterium, um die Mythe, um den Glauben ist es jetzt geschehen. Laune und Phantasie richten ihr Reich auf. Dem Priester gehört der Raum der Kirche und der Altar, dem Künstler die vier Mauern. Das Buch der Baukunst gehört nicht mehr dem Priesterthum, der Religion, dem römischen Stuhle an, sondern der Einbildungskraft, der Dichtkunst, dem Volke. Daher die reißenden und unzählbaren Umwandlungen jener nur 300 Jahre alten Architektur, die um so ausfallender sind nach der einer Stockung ähnlichen Unbeweglichkeit der römischen Baukunst, die sechs bis sieben Jahrhunderte zählt. Die Kunst schreitet mit Riesenschritten einher. Volkstümliches Genie und Originalität besorgen den Dienst, den sonst die Bischöfe thaten. Jedes vorübergehende Geschlecht beschreibt ein Blatt des neuen Buches, wischt auf den Giebeln der Kathedralen die alten römischen Hieroglyphen aus, und kaum erblickt man noch unter dem neuen Symbol hie und da die alte Glaubenslehre. Das volksthümliche Gewand läßt kaum errathen, daß hier die Gebeine der Religion begraben liegen. Kaum kann man sich einen Begriff von den Freiheiten machen, welche jetzt die Architekten gegen die Kirche selbst sich erlauben. Hier zügellose Haufen von Mönchen und Nonnen, schmählich zusammengekuppelt. Dort des Allvaters Noah erster Rausch und seine Folgen, weiter ein bacchischer Mönch mit Eselsohren und das Glas in der Hand, seiner christlichen Gemeinde unter die Nase lachend! In dieser Epoche bestand für den in Stein geschriebenen Buchstaben eine Freiheit, die der jetzigen Freiheit der Presse ganz vergleichbar ist. Es war die Freiheit der Architektur.

Diese Freiheit ging sehr weit. Bisweilen stellte ein Portal, eine Façade, eine ganze Kirche, einen symbolischen Sinn dar, der dem bestehenden Kultus ganz fremd, sogar feind war. Schon im dreizehnten Jahrhundert schrieb Wilhelm von Paris, im fünfzehnten Nicolaus Flamel solche aufrührerische Blätter in Stein. Sanct Jakob am Schlachthause war eine vollständige Oppositionskirche.

Der menschliche Gedanke hatte damals keine andere Freiheit als diese, und sprach sich sonst nirgends aus, als in jenen Büchern, die man Gebäude nannte. Wäre er auf Papier geschrieben gewesen, so würde ihn die Hand des Henkers auf öffentlichem Platze verbrannt haben. Da ihm nur der einzige Weg offen war, sich Luft zu machen, so betrat er ihn von allen Seiten. Daher jene unermeßliche Anzahl von Kathedralen in Europa, so groß, daß man es kaum glauben kann, selbst wenn man sie gezählt hat. Alle materiellen, alle intellektuellen Kräfte der Staatsgesellschaft kehrten sich dem nämlichen Punkte zu: der Architektur. Unter dem Vorwande, Gott Kirchen zu bauen, entwickelte sich die Kunst in erstaunlicher Weise.

Wer damals mit einem poetischen Geiste geboren war, wurde Architekt; das in den Massen zerstreute, auf allen Seiten von der Feudalität, wie von einer Testudo eherner Schilde, unterdrückte Genie entwickelte sich, da es keinen anderen Ausgang fand, in der Baukunst, und seine Iliaden nahmen die Form von Kathedralen an. Alle anderen Künste gehorchten und dienten der Baukunst. Die Architekten waren die Meister des großen Werkes. Der Architekt, der Dichter, der Meister, vereinte in seiner Person die Bildhauerei, die ihm seine Facaden meißelte, die Malerei, die ihm seine Gläser färbte, die Musik, die seine Glocken läutete und seinen Orgeln den Wind einhauchte. Selbst die arme, eigentlich sogenannte Poesie, die beharrlich in den Manuscripten vegetirte, mußte sich, um doch etwas zu bedeuten, unter die Architektur in poetischer oder prosaischer Form einreihen und ihre Denksprüche in Stein aushauen lassen. Die nämliche Rolle hatten des Aeschylus Tragödien in den priesterlichen Festen Griechenlands, die Genesis in Salomo’s Tempel gespielt.

Bis auf Gutenberg also war die Architektur die Hauptschrift, die allgemeine Schrift. Dieses steinerne Buch beginnt im fernen Morgenlande, zieht sich durch die griechische Welt hin, und das Mittelalter hat sein letztes Blatt geschrieben. Dieses Phänomen einer volksthümlichen Baukunst, welche auf die Architektur einer Kaste folgt, wie wir im Mittelalter sehen, ist übrigens nicht neu, und zeigt sich in den anderen großen Epochen der Geschichte mit einer den menschlichen Einsichten entsprechenden Bewegung. So in dem Orient, dieser Wiege der Urzeit, nach der hinduischen Architektur die phönizische Baukunst, diese reiche Mutter der arabischen Architektur; im Alterthum nach der ägyptischen Baukunst die griechische Architektur; in den neueren Zeiten nach der römischen Architektur die gothische Baukunst. In den drei älteren Schwestern, der hinduischen, ägyptischen und römischen Architektur, findet man das nämliche Symbol wieder: die Theokratie, die Einheit, die Kaste, das Dogma, die Mythe, Gott; in den drei jüngeren Schwestern, der phönizischen, griechischen und gothischen Baukunst: die Freiheit, das Volk, den Menschen.

Mag er sich Bramine, Magus oder Pabst nennen, so fühlt man in den hinduischen, ägyptischen und römischen Gebäuden immer den Priester, nichts als den Priester. Anders die volksthümlichen Architekturen: sie sind reicher und weniger heilig. In der phönizischen Baukunst fühlt man den Kaufmann, in der griechischen den Republikaner, in der gothischen den Bürger.

Die allgemeinen Kennzeichen jeder theokratischen Architektur sind der Stillstand, der Abscheu vor jedem Fortschritt, die Erhaltung der Traditionen, das fortwährende Biegen aller Form des Menschen und der Natur nach den unverständlichen Launen des Symbols. Es sind räthselhafte Bücher, welche bloß die Eingeweihten zu entziffern vermögen. Jede Form, selbst jede Unförmlichkeit, hat einen Sinn, der sie heilig und unverletzlich macht. Der Stillstand ist ihr Leben, jede Vervollkommnung eine Gottlosigkeit. Die theokratischen Gebäude sind von der Unbiegsamkeit des Dogma, wie von einer zweiten Versteinerung, überzogen.

Die allgemeinen Kennzeichen der volksthümlichen Architektur dagegen sind Mannigfaltigkeit, Fortschritt, Originalität, Reichthum, unaufhörliche Bewegung. Sie haben sich schon so weit von der Religion losgemacht, um auf ihre Schönheit bedacht zu sein, um ohne Unterlaß ihr Gewand von Statuen und Arabesken zu Pflegen und zu verbessern. Sie gehören dem Jahrhundert an, sie haben etwas Menschliches, das sie dem göttlichen Symbol beifügen, unter dessen Einfassung sie noch erscheinen. Daher jeder Seele, jeder Einsicht, jeder Einbildungskraft zugängliche Gebäude, noch symbolisch zwar, aber leicht faßlich wie die Natur. Zwischen der theokratischen und volksthümlichen Architektur ist ein Unterschied, wie zwischen einer heiligen und einer gewöhnlichen Sprache, wie zwischen einer Hieroglyphe und der Kunst, wie zwischen Salomo und Phidias.

Aus allem Diesem ergibt sich, daß bis zum fünfzehnten Jahrhundert die Architektur das Hauptbuch der Menschheit war, daß in diesem Zeitraum kein irgend etwas verwickelter Gedanke erschien, der sich nicht zum Gebäude erhob, daß jede volksthümliche Idee, wie jedes religiöse Gesetz, ihre Monumente hatte; daß endlich das menschliche Geschlecht nichts Wichtiges dachte, was es nicht in Stein geschrieben hätte. Und warum? – Weil jeder Gedanke, sei er religiös oder philosophisch, sich verewigen will, weil die Idee, welche eine Generation in Bewegung gesetzt hat, noch auf ferne Geschlechter wirken und ihre Spur in der Geschichte zurücklassen will. Welche gebrechliche Unsterblichkeit ist aber ein Blatt Papier, ein Manuscript! Ein weit festeres und dauerhafteres Buch ist ein Gebäude. Das geschriebene Wort zu vernichten, bedarf es bloß einer Fackel und eines fanatischen Muselmanns. Um das in Stein gebaute Wort niederzureißen, bedarf es einer Umwälzung des Staats oder der Natur. Die Barbaren sind über das Colyseum weggeschritten, die Sündfluth hat vielleicht die Pyramiden überspült.

Im fünfzehnten Jahrhundert ändert sich Alles. Der menschliche Geist entdeckt ein Mittel, sich nicht nur dauerhafter, als die Architektur, sondern auch einfacher und leichter zu verewigen. Die Architektur wird von ihrem Throne geworfen. Auf Orpheus steinerne Buchstaben folgen Gutenbergs bleierne.

Der Buchstabe tödtet den Stein!

Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist das größte Ereigniß in der Geschichte. Sie ist die Mutter der Revolution. Sie ist ein neuer Mund der Menschheit, ein neues Kleid des menschlichen Gedankens, das letzte Hautabstreifen jener symbolischen Schlange, welche seit Adam die Einsicht repräsentirt.

Unter der gedruckten Form ist der menschliche Gedanke unvergänglicher als je; er hat Flügel, keine Macht vermag ihn zu greifen und zu vernichten. Er fliegt mit der Luft des Himmels dahin. Zur Zeit der Architektur machte er sich zum Berge und setzte sich mächtig fest an Einem Orte und in Einem Jahrhundert. Jetzt ist er ein Vogel mit tausendfältigem Gefieder, nach allen Winden fliegend, alle Theile der Luft und des Raums zumal einnehmend.

Der menschliche Gedanke stand fest auf festem Grunde und in dauerhaften Massen, die Buchdruckerkunst aber hat ihn erst unsterblich gemacht. Ein Gebäude, wie fest es sei, kann man niederreißen, wie will man aber die Ubiquität vernichten? Ein Berg ist längst verschwunden unter den Wellen einer Sündfluth, aber die Vögel fliegen noch, und wenn sie auf der Oberfläche der allgemeinen Wasserfluth nur eine einzige Arche erblicken, so lassen sie sich darauf nieder, überleben mit ihr, wohnen dem Falle der Wasser bei, und das neue Geschlecht, das aus diesem Chaos ersteht, erhält, lebend und geflügelt, den Gedanken der untergegangenen Welt. Wenn man erwägt, daß diese Art des Ausdrucks nicht nur die dauerhafteste, sondern auch die einfachste, die bequemste, die praktikabelste ist, daß sie keinen großen Troß mit sich führt und keines schwerfälligen Rüstzeuges bedarf, wenn man bedenkt, daß der Gedanke, der sich in Stein ausspricht, fünf bis sechs andere Künste, Tonnen Goldes, einen Berg von Steinen, einen Wald von Zimmerholz, eine Legion Arbeiter, in Bewegung setzen muß, wogegen der Gedanke, der sich zum Buche macht, nur etwas Tinte und Druckerschwärze bedarf, so wird man sich nicht mehr wundern, daß die menschliche Einsicht von der Architektur zur Buchdruckerkunst übergegangen ist.

Im sechzehnten Jahrhundert geht das Reich der Baukunst zu Ende. Von dem Augenblicke an, wo sie nur noch eine Kunst, wie jede andere, wo sie nicht mehr die Hauptkunst, die souveräne Kunst, die tyrannisirende Kunst ist, hat sie nicht mehr die Kraft, die anderen Künste in ihrem Dienste zurückzuhalten. Sie emancipiren sich, brechen das Joch der Architektur, gehen ihren eigenen Weg. Jede von ihnen gewinnt bei dieser Trennung. Vereinzelung macht groß. Die Meißelei wird Bildhauerkunst, das Bilderwesen Malerei, der Canon Musik. Man könnte es ein Weltreich nennen, das beim Tode seines Alexanders zerfällt und dessen Provinzen sich zu Königreichen erheben! Daher Raphael, Michel Angelo, Jean Goujon, Palestrina, diese glänzenden Gestirne am leuchtenden Himmel des sechzehnten Jahrhunderts!

Zugleich mit den Künsten macht sich allerwärts der Gedanke frei. Die Urheber der Ketzereien im Mittelalter hatten bereits dem Katholicismus tiefe Wunden geschlagen. Das sechzehnte Jahrhundert vernichtet die religiöse Einheit. Ohne die Buchdruckerkunst wäre die Reformation ein Schisma geblieben, die Presse hat sie zur Revolution gemacht. Nehmt die Presse weg, so entzieht ihr der Ketzerei ihren Hebel. Mag man es ein Unglück, mag man es eine Fügung der Vorsehung nennen, Gutenberg ist Luthers Vorläufer.

Nachdem die Sonne des Mittelalters untergegangen, das gothische Genie am Horizont der Kunst für immer erloschen ist, verschwindet allmählig die Architektur mit ihr. Das gedruckte Buch zernagt, unterfrißt, stürzt das Gebäude. Die Architektur wird immer hinfälliger und farbloser. Sie ist kleinlich, ärmlich, nichtig. Sie drückt nichts mehr aus, nicht einmal das Andenken der Kunst einer anderen Zeit. Auf sich selbst beschränkt, von den anderen Künsten verlassen, weil der menschliche Gedanke sie aufgegeben hat, sammelt sie die Handwerker um sich, weil sie keine Künstler mehr hat. Aller Schwung, alle Originalität, alles Leben, alle Einsicht ist verschwunden. Wie eine jämmerliche Bettlerin, von Werkstätte zu Werkstätte, von Copie zu Copie, schleppt die Baukunst ihr elendes Leben dahin.

Alles Leben ist von der Architektur zur Presse übergegangen. Während die Baukunst sinkt, erhebt sich die Buchdruckerkunst. Das Kapital an Kräften, das sonst der menschliche Gedanke an Gebäude verwendete, gibt er jetzt für Bücher aus. Vom sechzehnten Jahrhundert an überragt die Presse die Architektur, bekämpft und tödtet sie. Im siebzehnten Jahrhundert ist sie schon siegreich, souverän, kräftig genug, um der Welt das Fest eines großen literarischen Jahrhunderts zu geben. Im achtzehnten Jahrhundert ergreift sie, in Gestalt der leichten Waffe Voltaire’s, Luthers altes Schlachtschwert wieder zum Kampfe mit dem alterthümlichen Europa. Als die letzte Stunde des vergangenen Jahrhunderts schlug, lag das alte Europa in Trümmern. Das neunzehnte Jahrhundert wird ein neues Europa aufbauen.

XV.

Am 7. Januar 1482 wurde im Chatelet, wie üblich, offene Sitzung gehalten. Der Saal war klein, nieder und gewölbt. Eine Tafel, mit ausgeschnitzten Lilien verziert, stand am äußersten Ende, dem Eingange gegenüber; ein großer hölzerner Lehnstuhl, für den Prevot bestimmt, war unbesetzt; links von demselben auf einer Bank saß der Auditor, Meister Florian; unter ihm der Gerichtsschreiber, die Feder in der Hand. Gegenüber, vor den hölzernen Schranken, standen die Zuschauer. Im Saale selbst, vor der Thüre, vor den Schranken sah man eine Menge Sergenten sich bewegen und ihren Dienst verrichten.

Meister Florian Barbedienne, Auditor am Chatelet, war taub. Dieser Fehler hat bei einem Richter nicht viel zu bedeuten, Meister Florian richtete darum nicht minder gut, und zwar ohne Appellation. Es ist hinreichend, wenn ein Richter sich nur das Ansehen gibt zuzuhören, und Meister Florian erfüllte diese Bedingung, die einzig wesentliche einer guten Rechtspflege, um so besser, als seine Aufmerksamkeit durch kein Geräusch gestört werden konnte.

Im Uebrigen hatte er unter den Zuhörern einen unerbittlichen Kritiker seiner Handlungen und Geberden an unserem guten Freunde Johannes Frollo de Molendino, der überall zu finden war, nur in den Hörsälen der Lehrer nicht.

»Siehe da,« sagte er zu Robin Poussepain, die Scene, die vor ihren Augen aufgeführt wurde, commentirend, »siehe da, Jehanneton du Buisson! Bei meiner armen Seele, der alte Esel verurtheilt sie! Er ist eben so blind als taub! Fünfzehn Sous soll das schöne Kind bezahlen, weil sie zwei Paternoster getragen hat.«

»Ei! Zwei Edelleute unter diesem Gesindel! Corpus Christi! Sie haben gewürfelt! Wann werde ich doch einmal unsern Rektor hier erblicken! Hundert Pfund Strafe für den König unseren Herrn! Ich will mein Bruder, der Archidiakonus, werden, wenn mich das abhält zu spielen, zu spielen bei Tage, zu spielen bei Nacht, zu leben im Spiel, zu sterben im Spiel, und am letzten Ende meine arme Seele zu verspielen!«

»Heilige Jungfrau, wie viele Mädchen! Ein ganzer Schafstall voll! Ich kenne sie alle, so wahr Gott lebt! Zehn Sous Strafe, ihr Koketten! Das wird Euch lehren, goldene Leibgürtel zu tragen!«

»Aufgepaßt, Robin Poussepain! Wen bringen sie denn jetzt, daß so viele Sergenten auf den Beinen sind? Beim Jupiter! die ganze Meute ist in Bewegung! Das muß das Hauptstück der Jagd sein! Ein Keuler! Hercle! Es ist unser Fürst von gestern, unser Narrenpabst, unser Glöckner, unser Einäugiger, unser Buckliger, unser Fratzengesicht, unser Quasimodo!«

Es war Quasimodo, gebunden und unter starker Bedeckung. Es lag übrigens, seine Mißgestalt ausgenommen, in Quasimodo nichts, was diesen ungewöhnlichen Aufwand von Spießen, Büchsen und Schwertern rechtfertigte; er war düster, schweigsam und ruhig. Kaum warf von Zeit zu Zeit sein einziges Auge einen zornerfüllten Blick auf die Bande, die ihn fesselten. Inzwischen blätterte Meister Florian in der gegen Quasimodo vorliegenden Klage, die ihm der Gerichtsschreiber darreichte. Diese Vorsicht brauchte er bei jedem Verhör; er lernte dadurch die Namen, Qualitäten und Vergehungen des Beschuldigten kennen, machte voraussichtliche Antworten auf vorausgesehene Fragen, und arbeitete sich so durch alle Schwierigkeiten des Verhörs durch, ohne daß man seine Taubheit allzusehr gewahr wurde. Das Protocoll war für ihn der Hund des Blinden. Wenn zufällig durch irgend eine unpassende Anrede oder eine unverständliche Frage seine Taubheit sich kundgab, so hielten die Einen dies für tiefe Gelehrsamkeit, die Anderen für Dummheit. Meister Florian gab sich so viele Mühe, seine Taubheit zu verhehlen, daß es ihm meistens gelang. Dieser Erfolg machte ihm selbst Illusion, was übrigens leichter ist, als man glaubt, denn alle Buckligen gehen mit erhobenem Haupte, alle Stammelnden schreien und alle Tauben sprechen leise. Daher hatte sich Meister Florian endlich überredet, daß sein Ohr bloß ein wenig rebellisch sei.

Nachdem er nun Quasimodo’s Sache wohl ausgefaßt und sich einverleibt hatte, bog er das Haupt rückwärts und schloß die Augen zur Hälfte, um sich ein majestätisches und unpartheiisches Ansehen zu geben, so daß er jetzt sowohl blind als taub war, ohne welche doppelte Bedingung es keinen vollkommenen Richter gibt. In dieser richterlichen Haltung begann er das Verhör!

»Euer Name?«

Hier trat ein durch das Gesetz nicht vorausgesehener Fall ein, nämlich, daß ein Tauber einen Tauben zu verhören hatte.

Quasimodo, der nichts von der an ihn gerichteten Frage hörte, starrte vor sich hin und antwortete nicht.

Der Richter, gleichfalls taub und von der Taubheit des Delinquenten nicht unterrichtet, glaubte, daß er geantwortet habe, wie gewöhnlich alle Befragten thun, und fuhr in seiner mechanischen und stupiden Weise fort:

»Gut! Euer Alter?«

Quasimodo antwortete eben so wenig auf diese Frage. Der Richter glaubte sie beantwortet und fuhr fort:

»Jetzt, Euer Stand?«

Immer das nämliche Stillschweigen.

Die Zuschauer sahen sich unter einander an und kicherten.

»Gut,« fuhr der taube Richter ungestört fort, indem er voraussetzte, daß der Angeklagte seine dritte Frage beantwortet habe: »Ihr seid vor uns angeklagt: primo, nächtlicher Ruhestörung; secundo, unehrbaren Angriffs auf die Person eines närrischen Weibsbilds; tertio, des Widerstands und Aufruhrs gegen die Bogenschützen der königlichen Leibwache. Erklärt Euch über alle diese Punkte. Gerichtschreiber, habt Ihr die Antworten aufgeschrieben, welche der Angeklagte bis jetzt gegeben hat?«

Auf diese unpassende Frage erhob sich ein allgemeines Gelächter im ganzen Saale, so heftig, so toll, daß es selbst den beiden Tauben nicht entgehen konnte. Quasimodo zuckte die Achseln und blickte verachtungsvoll um sich. Meister Florian, gleich ihm verwundert, bildete sich ein, daß irgend eine unehrerbietige Antwort des Angeklagten das Gelächter der Zuhörer erregt habe, und fuhr ihn mit den Worten an:

»Du Schuft, Du hast hier eine Antwort gegeben, die den Strick verdiente!«

Dieser Ausfall war nicht geeignet, der allgemeinen Lustigkeit Einhalt zu thun, sondern erregte ein convulsivisches Gelächter, das durch den ganzen Saal lief und alle Anwesenden ohne Ausnahme ansteckte. Die beiden Tauben allein stimmten nicht mit ein. Der Richter, immer erbitterter, glaubte im nämlichen Tone fortfahren zu müssen, in der Hoffnung, dadurch dem Angeklagten einen heilsamen Schrecken, und den Zuhörern den nöthigen Respekt einzuflößen.

»Du heilloser und verkehrter Bursche!« redete er den Delinquenten an, »Du erlaubst Dir ein solches Benehmen gegen den Auditor des Chatelet! Weißt Du, daß ich Florian Barbedienne heiße und Stellvertreter des Herrn Prevot bin?«

In diesem Augenblicke trat der Prevot, Robert d’Estouteville, in eigener Person in den Saal, wodurch die Rede seines Auditors unterbrochen wurde. Meister Florian stürmte ihm sogleich entgegen und redete ihn mit den Worten an: »Gnädiger Herr, ich bitte um exemplarische Bestrafung des hier gegenwärtigen Angeklagten, wegen groben Mangels an Achtung vor der Justiz.«

Der Prevot runzelte die Stirne und warf einen so gebietenden und bezeichnenden Blick auf den Stummen, daß dessen Aufmerksamkeit erregt wurde.

Hierauf richtete der Prevot, mit Strenge in Blick und Ton, bie Frage an ihn: »Was hast Du denn begangen, Du Schuft, daß Du hier bist?«

Der arme Teufel, in der Meinung, daß der Prevot seinen Namen wissen wolle, brach sein gewöhnliches Stillschweigen und antwortete mit seinem rauhen Kehllaute: »Quasimodo.«

Die Antwort paßte so wenig auf die Frage, daß das tolle Gelächter von neuem begann. Der Prevot wurde roth und blau vor Zorn und schrie: »Willst Du auch mit mir Deinen Spaß treiben, Du Hund?«

»Glöckner an der Liebfrauenkirche,« antwortete Quasimodo, in der Meinung, daß der Richter wissen wolle, wer er sei.

»Glöckner!« wiederholte der Prevot zornig. »Ich werde auf Deinem Buckel durch alle Straßen von Paris läuten lassen! Hörst Du, Schuft?«

»Wenn Ihr mein Alter wissen»wollt,« sagte Quasimodo, »ich werde, glaube ich, auf den Sanct Martinstag zwanzig Jahre alt.«

Das war allzuviel für die Geduld des Prevot: »Sergenten,« rief er vor Zorn außer sich, »führt mir diese Bestie nach dem Driller auf dem Grèveplatz, dreht ihn eine Stunde lang und haut ihm die Haut voll!«

Der Gerichtschreiber brachte dieses Urtheil alsogleich zu Papier.

»Beim Bauche des Pabsts!« rief der Mühlenhans aus seiner Ecke, »der ist wohl gerichtet.«

Der Gerichtschreiber reichte dem Prevot das Urtheil dar; dieser setzte seinen Namen bei und entfernte sich dann, um seine Runde durch die Gerichtssäle der Hauptstadt fortzusetzen. Johannes Frollo und Robin Poussepain lachten in’s Fäustchen. Quasimodo, der von dem ganzen Vorgang nichts verstand, schien verwundert, aber ziemlich gleichgültig. Inzwischen, als Meister Florian das Urtheil durchlas, um es auch zu unterzeichnen, näherte sich der Gerichtschreiber, der Mitleid mit dem armen Teufel hatte, seinem Ohre und sagte: »Dieser Mensch ist taub.«

Der Gerichtschreiber hoffte, daß die Beiden gemeinschaftliche Gebrechlichkeit Meister Florian zu Gunsten des Verurtheilten stimmen würde. Aber einmal wollte Meister Florian nicht taub scheinen, und dann war sein Gehör so hart, daß er nicht ein Wort von dem hörte, was der Gerichtschreiber zu ihm gesagt hatte. Er stellte sich jedoch, als ob er ihn vollkommen verstanden hätte, und rief: »Ah! Ah! Das ist ein Anderes; das wußte ich nicht. Eine Stunde Pranger mehr in diesem Falle.«

Er unterzeichnete das also verschärfte Urtheil.

XVI.

Wir führen den Leser auf den Grèveplatz zurück, den wir gestern mit Peter Gringoire verlassen haben, um der Esmeralda zu folgen.

Es ist zehn Uhr Morgens, Alles umher deutet auf das gestern gefeierte Fest. Das Pflaster ist mit Bändern, Federn, Lumpen und abgeträufeltem Wachs bedeckt. Haufen müßiger Leute lümmeln da und dort herum. In den verschiedenen Gruppen wird das gestrige Fest besprochen. Die flandrischen Gesandten, Jakob Coppenole, der Kardinal von Bourbon und der Narrenpabst sind in Aller Munde.

Jetzt erscheinen vier Stadtsergenten zu Pferd und stellen sich auf den vier Seiten des Drillers auf. Ein Haufe Neugieriger sammelt sich, in der Hoffnung einer kleinen Exekution, alsbald um sie.

Dem Driller gegenüber steht der Rolandsthurm. In dem untersten Stocke desselben befindet sich eine kleine Zelle, die durch eine enge, mit zwei Eisenstäben vergitterte Oeffnung mit dem Platze communicirt. Diese Zelle hatte vor 300 Jahren Madame Rolande vom Rolandsthurm in ihrem eigenen Hause bauen lassen, um darin ihren Vater, der im heiligen Lande geblieben war, lebenslänglich zu betrauern. Sie schloß sich in der engen, düstern Zelle ein, ließ die Thüre hinter sich vermauern, behielt von ihrem Palaste nichts, als diese finstere Wohnung, und verschenkte ihre ganze Habe Gott und den Armen. In dieser Zelle brachte die trauernde Dame zwanzig Jahre zu, betete Tag und Nacht für die Seele ihres Vaters, schlief in einem schwarzen Sacke auf dem bloßen Boden, ohne auch nur einen Stein zum Kopfkissen zu haben, und lebte bloß von dem Brod und Wasser, die das Mitleid der Vorübergehenden durch die Oeffnung in die Zelle schob. Bei ihrem Tode, ehe sie von einem Grabe in das andere ging, vermachte sie auf ewige Zeiten ihre Zelle an betrübte Frauen, die viel für sich oder Andere zu beten hatten, und sich aus großem Schmerz oder großer Buße lebendig begraben wollten. Seit dem Tode der ersten Klausnerin war die Zelle selten ein oder zwei Jahre leer geblieben. Viele Frauen beweinten darin lebenslänglich ihre Verwandten, ihre Liebhaber, ihre Vergehungen. Die Bosheit der Pariser, die sich in Alles mischt, behauptete, daß man wenige Wittwen darin gesehen habe. Ueber der Oeffnung, die als Fenster diente,stand in lateinischer Schrift mit großen Buchstaben:

Tu, Ora!

Das Volk, diese Überschrift auf seine Weise deutend, nannte die Zelle: Trou-aux-Rats, oder das Rattenloch.

XVII.

Zu der Zeit, wo diese Geschichte, vorging, war die Zelle im Rolandsthurm besetzt. Wenn der geneigte Leser wissen will von wem, so darf er nur die Unterhaltung der drei Gevatterinnen anhören, die zu dieser Stunde längs des Flusses, vom Chatelet gegen den Grèveplatz heraufkamen. Zwei dieser Frauen waren, nach ihrem Anzuge zu urtheilen, gute Pariser Bürgersweiber; die Dritte schien, ihrer Kleidung nach, vom Lande zu sein. Die Letztere führte einen derben Jungen von etwa sechs Jahren an ihrer Hand, der einen großen Fladen in der seinigen hatte. Er betrachtete ihn von Zeit zu Zeit mit zärtlichen Blicken; ein sehr wichtiger Beweggrund schien ihn abzuhalten, das Stück Kuchen anzubeißen.

»Sputen wir uns, Frau Mahiette,« sagte die Jüngste zu der Frau, die ihrem Anzug nach aus der Provinz war »Ich fürchte, wir werden zu spät kommen, denn man sagte mir im Chatelet, daß man ihn sogleich auf den Driller führen werde.«

»Bah, Frau Oudarde Musnier,« erwiederte die andere Pariserin, »er bleibt ja zwei Stunden auf dem Driller. Wir haben alle Zeit. Habt Ihr auch schon drillen sehen, meine liebe Mahiette?«

»Ja,« antwortete die Frau aus der Provinz, »zu Rheims.«

»Bah! Was will das heißen, Euer Driller zu Rheims! Ein ärmlicher Käfig, wo man nur Bauern herumdreht! Das ist etwas Rechtes!«

»Nur Bauern! Auf dem Tuchmarkte zu Rheims!« erwiederte Mahiette etwas gekränkt. »Wir haben schon recht ordentliche Verbrecher gehabt, die Vater und Mutter getödtet hatten. Bauern! Wofür haltet Ihr uns, Gervaise?«

Die Frau aus der Provinz war im Begriff, für die Ehrenrettung ihres Drillers in Eifer zu gerathen, als die gutmüthige, dicke Frau Oudarde Musnier zu rechter Zeit der Unterhaltung eine andere Wendung gab.

»Ei, Frau Mahiette, was sagt Ihr denn auch von unseren flandrischen Gesandten? Habt Ihr auch so schöne Gesandte zu Rheims?«

»Ich muß selbst gestehen,« versetzte Mahiette, »daß man nur zu Paris solche Flamänder sehen kann.«

»Habt Ihr auch den großen flandrischen Gesandten gesehen, der ein Strumpfweber ist?« fragte Oudarde.

»Ja,« sagte Mahiette, »er sieht aus wie ein Saturn.«

»Und was sie für schöne Pferde haben!« sprach Oudarde.

»Oh,« entgegnete Mahiette, »das ist nichts gegen die Pferde des Königs und der Prinzen, die ich vor achtzehn Jahren bei der Krönung zu Rheims gesehen habe.«

»Das mag sein,« antwortete Oudarde, »aber darum bleiben die Pferde der flämischen Gesandten doch schön; und gestern haben sie bei dem Herrn Prevot auf dem Rathhause ein prächtiges Nachtessen gehalten, und man hat ihnen süßen Wein, Gewürz und andere Seltenheiten vorgesetzt.«

»Was sagt Ihr da, Frau Nachbarin!« schrie Gervaise.

»Bei dem Herrn Kardinal Bourbon haben die Flamänder gespeist!«

»Nein, bei dem Herrn Prevot!«

»Ja, bei dem Herrn Kardinal Bourbon!«

»So gewiß auf dem Rathhause,« erwiederte Oudarde mit Bitterkeit, »als der Doktor Scourable eine lateinische Anrede an sie gehalten hat, die ihnen viel Vergnügen machte, und mein Mann, der geschworener Buchhändler der Universität ist, hat es mir selbst gesagt.«

»So gewiß im Palaste Bourbon,« entgegnete Gervaise nicht minder lebhaft, »als ich Alles weiß und aufzählen könnte, was sie gegessen und getrunken haben; und mein Mann hat es mir selbst gesagt, und hat die flämischen Gesandten mit denen des Kaisers von Trapezunt verglichen, die unter dem letzten König aus Mesopotamien nach Paris gekommen sind und goldene Ohrenringe getragen haben.«

Der wichtige Streit, ob die flandrischen Gesandten bei dem Prevot der Stadt Paris oder dem Kardinal Bourbon gespeist hätten, dauerte noch eine Zeitlang zwischen den beiden Frauen fort und wurde zuletzt so hitzig, daß er vielleicht in Thätlichkeiten übergegangen wäre,wenn ihn nicht Frau Mahiette durch den plötzlichen Ausruf unterbrochen hätte: »Was gibt es denn dort unten auf der Brücke? Es stehen viele Leute herum und sehen Etwas zu.«

»Wahrhaftig,« sagte Gervaise, »ich höre ein Tambourin; es wird wohl die kleine Smeralda sein, die mit ihrer Ziege Mummereien macht. Geschwind, Mahiette! In Paris gibt es immer Etwas zu sehen, gestern die flandrischen Gesandten, heute die Zigeunerin.«

»Die Zigeunerin!« rief Mahiette aus, indem sie zurückfuhr und ihren Knaben fester am Arme faßte, »Da soll mich Gott behüten! Sie würde mir mein Kind stehlen. Komm, Eustach!«

Mit diesen Worten lief sie davon, bis sie die Brücke weit hinter sich hatte. Ihre Gefährtinnen würden sie nicht eingeholt haben, wenn nicht der Knabe, den sie nach sich schleifte, gefallen wäre.

»Diese Zigeunerin Euch Euer Kind stehlen?« sagte Gervaise, »das ist sonderbar von Euch.«

Mahiette schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Es ist doch sonderbar,« bemerkte Oudarde, »daß die Büßerin im Rolandsthurm die nämliche Meinung von den Zigeunerinnen hat.«

»Wer ist denn diese Büßerin?« fragte Mahiette.

»Nun, die Schwester Gudula.«

»Wer ist die Schwester Gudula?«

»Man sieht wohl, daß Ihr aus Rheims seid. Es ist die Klausnerin im Rattenloch.«

»Wie,« fragte Mahiette, »das arme Weib, der wir diesen Fladen bringen?«

»Die Nämliche. Wenn wir auf den Grèveplatz kommen, könnt Ihr sie unter der Oeffnung des Rolandsthurmes sehen. Sie hat die nämliche Meinung von diesen ägyptischen Landstreichern, wie Ihr, und verabscheut sie. Aber warum rennt denn Ihr so davon bei ihrem bloßen Anblick?«

»Oh!« sagte Mahiette, und faßte den dicken Kopf ihres Knaben in beide Hände, »ich möchte nicht erleben, was der armen Paquette Chantefleurie begegnet ist.«

»Ei!« fiel Gervaise neugierig ein, »erzählt uns doch diese Geschichte.«

»Recht gerne, und es wundert mich nur, daß man in Paris nichts davon weiß. Ihr müßt also wissen, daß Paquette Chantefleurie ein schönes Mädchen von achtzehn Jahren war, als ich auch achtzehn Jahre alt war, und das sind jetzt achtzehn Jahre, denn ich bin sechsunddreißig alt, und wenn die Paquette jetzt keinen Mann und keinen Knaben hat, so ist sie selbst schuld daran. Aber daß ich weiter spreche: diese Paquette Chantefleurie war also die Tochter Guybertaut’s, Minstrels der Schifferzunft zu Rheims, und dieser Guybertaut war der Nämliche, der vor König Karl VII. bei seiner Krönung, als er die Vesle herabfuhr, von Sillery bis Maison gespielt hat, und die Jungfrau von Orleans war auch in dem Schiff. Der alte Vater starb, als Paquette noch ein kleines Kind war. Die Mutter war ein gutes Weib, von der Paquette nichts lernte, als ein wenig Goldsticken, wobei sie groß wurde und arm blieb. Im Jahre 1461, als man unsern König Ludwig XI., den Gott erhalten wolle, zu Rheims krönte, war Paquette so schön und munter, daß Jedermann sie Chantefleurie nannte. Sie hatte schöne Zähne und lachte gerne, um sie sehen zu lassen. Ein Mädchen, das gerne lacht, ist auf dem Wege zum Weinen, und schöne Zähne haben oft schöne Augen verderbt. Paquette und ihre Mutter mußten ihr Leben sauer verdienen, denn der Ertrag ihrer Goldstickerei gewährte ihnen nur dürftigen Unterhalt. In dem kalten Winter von 1461 hatten die beiden armen Geschöpfe kein Scheitchen Holz und es war sehr kalt; aber die Chantefleurie blühte wie eine Rose. An einem Sonntag kam sie mit einem goldenen Kreuz am Halse in die Kirche, und da merkte gleich Jedermann, daß es mit ihr nicht richtig war; sie zählte erst vierzehn Jahre! Da kann man sehen! Zuerst war es der junge Viscomte Cormontreuil; dann Henri de Priancourt, Stallmeister des Königs; dann immer weiter herab, Chiard de Beaulion, Wappenherold; dann Guery Aubergeon, Vorschneider des Königs; dann Macé de Frepus, Barbier des Dauphin, und so fort immer weiter herab, bis sie endlich Jedermanns wurde, und, was will man sagen, es verging kein Jahr, so machte sie das Bett des Königs der Hurenjäger. Ehe ein Jahr verging! Arme Paquette Chantefleurie!« Die gute Mahiette seufzte und trocknete sich die Augen.

»Das ist keine besondere Geschichte, und so hat man schon viele erlebt,« sagte Gervaise, »und es kommt ja nichts von Zigeunerinnen und Kindern darin vor.«

»Nur Geduld!« fuhr Mahiette fort, »es wird schon Alles kommen, und was das Kind betrifft, so wurde im Jahre 1466, an St. Paul wird es sechzehn Jahre, Paquette Chantefleurie von einem Mädchen entbunden. Die Unglückliche! Sie war vor Freuden außer sich, denn sie wünschte sich schon lange ein Kind. Ihre Mutter war todt, und Paquette hatte Niemand mehr auf der Welt, den sie liebte, Niemand, von dem sie geliebt wurde. Sie war ein armes Geschöpf, einsam und verlassen in diesem Leben; man zeigte mit Fingern auf sie, schrie ihr in den Straßen nach, die Gassenjungen zischten sie aus, und die Büttel schlugen sie. Sie hatte gealtert, und das ausgelassene Leben trug ihr jetzt nicht weiter mehr ein, als ehedem die Goldstickerei; der Winter wurde ihr wieder hart, das Holz in ihrem Holzstalle war so klein beisammen, als das Brod in ihrer Tischlade. Sie konnte nicht mehr arbeiten, denn als sie wollüstig wurde, war sie faul geworden, und sie hatte viel mehr zu leiden, denn, indem sie faul geworden, war sie wollüstig geworden. So erklärt es wenigstens unser Herr Pfarrer von Saint-Remy, warum diese Weiber mehr Hunger haben und empfindlicher für die Kälte sind, als andere arme Weiber, wenn sie alt werden.«

»Wohl,« sagte Gervaise, »aber die Zigeuner?«

»Geduld doch, Gervaise!« mahnte die wohlbeleibte geduldige Oudarde. »Man muß auch Etwas für das Ende aufheben und nicht gleich Alles im Anfang sagen. Fahrt nur fort, Mahiette! Die arme Chantefleurie dauert mich!«

Mahiette fuhr fort: »Paquette war also sehr unglücklich und sehr betrübt, und ihre Wangen waren von Thränen gefurcht. In ihrer Schmach und Verlassenheit schien es ihr, daß sie weniger schmachvoll und weniger verlassen sein würde, wenn es irgend ein Wesen auf der Welt gäbe, das sie liebte und von dem sie geliebt würde. Dieses Wesen konnte nur ein Kind sein, denn nur ein Kind war unschuldig genug, sie zu lieben. Sie hatte den letzten Versuch mit einem Diebe gemacht, aber sie mußte bald zu ihrer Kränkung erfahren, daß auch dieser Dieb sie verachte. Weiber solchen Schlages müssen einen Liebhaber oder ein Kind haben, ihr Herz auszufüllen, sonst sind sie sehr unglücklich. Da nun Paquette keinen Liebhaber mehr haben konnte, so wendete sie ihre ganze Sehnsucht einem Kinde zu, und betete zu Gott Tag und Nacht darum; denn sie war trotz ihres lasterhaften Wandels eine gute Christin geblieben. Deßhalb erbarmte sich der Herr ihrer und schenkte ihr ein kleines Kind. Ihre Freude war unbegrenzt; sie übergoß das kleine Geschöpf mit einem Strom von Thränen, Liebkosungen und Küssen. Sie säugte ihr Kind selbst, machte ihm aus ihrer Bettdecke, der einzigen, welche sie besaß, Wickelbänder, und fühlte weder Kälte noch Hunger mehr. Sie wurde wieder schön, denn aus einem alten Mädchen wird eine junge Mutter. Das alte Unwesen fing wieder an, man besuchte Chantefleurie, und von dem Sündengeld, das sie verdiente, schaffte sie nichts Anderes an, als Spielsachen, Zuckerwerk und Putz für ihr Kind; an sich dachte sie nicht, und kaufte sich nicht einmal eine Bettdecke. Die kleine Agnes war aber auch ein schönes Kind und herausgeputzt wie eine Prinzessin. Unter Anderem hatte sie niedliche Schühchen, wie der König selbst sie nicht schöner haben kann. Ihre Mutter hatte sie selbst gestickt und allen Fleiß darauf verwendet. Es waren die niedlichsten rosenfarb’nen Schuhe, die man nur sehen kann, nicht größer als mein Daumen. Die junge Agnes hatte aber nicht nur einen niedlichen Fuß, sondern war auch das niedlichste Geschöpf von der Welt. Ihre Mutter wurde täglich toller in sie vernarrt, und konnte nicht aufhören, mit ihr zu spielen, zu kosen, sie aus- und anzukleiden, sie zu bewundern und zu loben.«

»Die Geschichte ist recht artig,« sagte Gervaise, »aber wo bleiben die Zigeuner?« »Jetzt kommt es,« erwiederte Mahiette. »Eines Tages kamen Reiter von ganz besonderer Art zu Rheims an. Es waren Landstreicher und Diebe, die unter der Anführung ihres Herzogs und ihrer Grafen das Land durchzogen. Sie waren schwarzbraun, hatten krause Haare und trugen silberne Ringe in den Ohren. Die Weiber waren noch häßlicher als die Männer. Ihr Gesicht war noch schwärzer, und ihre gezöpften Haare hingen wie Roßschweife über den Rücken hinab. Ihre Kinder, wenn sie ihnen zwischen den Beinen herumkrochen, glichen wahren Affen. Und kurz, es war ein Heidenvolk. Sie kamen schnurgerade aus Aegypten und waren über Polen nach Rheims gekommen. Der Pabst hatte sie Beichte gehört und ihnen zur Buße auferlegt, sieben Jahre lang hinter einander durch die Welt zu ziehen, ohne je in ein Bett zu liegen. Sie nannten sich auch büßende Brüder und stanken. Es scheint, daß sie ehedem Sarazenen waren und an Jupiter glaubten. Sie kamen nach Rheims und sagten: Gut Glück im Namen des Königs von Algier und des Kaisers von Deutschland! Da man sie nicht in die Stadt ließ, lagerten sie sich vor dem Thor, und ganz Rheims strömte hinaus, sie zu sehen. Sie blickten einem in die Hand und wahrsagten wunderbare Dinge. Sie waren im Stande gewesen, dem Erzverräther Judas zu prophezeien, daß er Pabst werden würde.

Es gingen auch allerlei Gerüchte über diese Leute, daß sie Kinder gestohlen und Menschenfleisch gegessen hätten. Ueberhaupt war es ein Diebsgesindel; aber das ist wahr, daß sie Einem Sachen sagten, die einen Kardinal in Verwunderung setzen könnten. Die Mütter brüsteten sich mit ihren Kindern, seit die Zigeunerinnen aus ihrer Hand alle Arten von Wundern entziffert hatten, die auf heidnisch und griechisch hineingeschrieben waren. Die Eine bekam einen Kaiser, die Zweite einen Pabst, die Dritte einen Kapitän zum Mann. Die arme Chantefleurie war auch neugierig; sie hätte gerne gewußt, ob ihre schöne, kleine Agnes nicht eines Tages Kaiserin von Armenien oder etwas dieser Art werden würde. Sie trug daher das Kind zu den Zigeunern; diese bewunderten, liebkosten, küßten es mit ihren schwarzen Lippen und hatten besonders eine große Freude an seinen kleinen Händchen und Füßchen. Das Kind fürchtete sich vor den schwarzen Gesichtern und weinte. Um so vergnügter war die Mutter über das Glück, das die Zigeunerinnen ihrer Agnes prophezeit hatten: sie sollte eine der schönsten und tugendhaftesten Königinnen werden. Sie kehrte ganz stolz mit der kleinen Königin in ihre Hütte zurück. Am anderen Morgen schlich sie sich, als das Kind noch schlief, zu einer Nachbarin, um ihr zu erzählen, daß eines Tages ihre Agnes von dem König von England und dem Erzherzog von Aethiopien bei Tafel bedient werden solle. Als sie zurückkam, fand sie die Thüre offen und das Kind war verschwunden; einer seiner kleinen niedlichen Schuhe lag auf dem Boden. Sie stürzte aus dem Hause, rannte mit dem Kopf gegen die Mauer und jammerte laut: Mein Kind! Mein Kind! Wer hat mir mein Kind geraubt? Die Straße war einsam, ihre Hütte stand vereinzelt; Niemand konnte ihr etwas sagen. Sie durchrannte alle Straßen der Stadt, außer sich, rasend, schrecklich, wie ein Raubthier, das seine Jungen verloren hat. Keuchend, athemlos, ein irres Feuer in den Augen, das ihre Thränen trocknete, furchtbar anzuschauen, klopfte sie an Thüren und Fenster und forderte ihr Kind. Sie hielt die Vorübergehenden an und schrie: Mein Kind! Mein Kind! Mein schönes kleines Kind! Wer mir mein Kind wiedergibt, dessen Magd will ich sein, die Magd seines Hundes, er soll mir das Herz aus dem Leibe reißen! Sie begegnete dem Pfarrer von Saint-Remy und rief ihm zu: Bist Du ein Mann Gottes, so gib mir mein Kind wieder und ich will Dein Feld mit meinen Nägeln pflügen! Es war ein herzzerreißender Anblick, und ich habe einen sehr hartherzigen Mann gesehen, Meister Pouce la Cabre, den Prokurator, der weinte. Ach! die arme Mutter! Am Abend kehrte sie in ihre verlassene Hütte zurück. Während ihrer Abwesenheit hatte eine Nachbarin zwei Zigeunerweiber hineinschleichen sehen, die einen Pack unter dem Arme trugen; sie kamen bald wieder heraus, schlossen die Thüre und flohen eilends davon. Später hatte man in dem Haufe eine Art Kindergeschrei gehört. Freudigen Muthes eilte die Mutter die Treppe hinauf, stürzte in das Zimmer und fand, statt ihres niedlichen Kindes, ein kleines, häßliches, hinkendes, buckliges und einäugiges Ungeheuer, das auf dem Boden kroch. Sie wendete ihre Augen mit Abscheu weg und rief: Oh, die garstigen Zauberer haben mein armes Kind in diese scheußliche Mißgeburt verwandelt! Man mußte den kleinen Zwerg schnell aus ihren Augen entfernen, um sie nicht wahnwitzig zu machen. Das Kind war ein junges Ungeheuer, das der Teufel mit einer Zigeunerin erzeugt hatte; es war etwa vier Jahre alt und stammelte eine Sprache, die keine menschliche war. Die Chantefleurie hatte sich auf den kleinen Schuh geworfen, das Einzige, was ihr von ihrem Kinde übrig geblieben war. Sie blieb lange unbeweglich, stumm, ohne einen Lebenshauch, so daß man sie für todt hielt. Plötzlich zitterte sie am ganzen Körper, bedeckte ihre Reliquie mit wüthenden Küssen und brach in einen Strom von Thränen aus. Oh, mein Kind! Mein schönes kleines Kind! Wo bist du? rief sie jammervoll aus und rang die Hände. Wir weinten Alle mit, und ich muß noch weinen, wenn ich nur daran denke. Plötzlich erhob sie sich und lief durch die Gassen der Stadt unter dem gräßlichen Geschrei: In das Lager der Aegypter! In das Lager der Aegypter! Laßt uns die Zauberer verbrennen! Die Zigeuner waren über alle Berge, es war stockfinstere Nacht und man konnte sie nicht verfolgen. Am andern Tage fand man, zwei Stunden von Rheims, in einem Gehölze die Reste eines großen Feuers, einige Bänder, die der kleinen Agnes gehört hatten, Blutstropfen und Bollen von einem Bock. Es war gerade eine Samstagnacht gewesen, und man zweifelte nicht, daß die Zigeuner hier ihren Sabbath gehalten und in Gesellschaft des Teufels das Kind verzehrt hätten. Als die Chantefleurie diese furchtbaren Dinge erfuhr, weinte sie nicht; sie bewegte ihre Lippen zum Sprechen, vermochte es aber nicht. Am anderen Morgen waren ihre Haare grau, den Tag darauf war sie verschwunden.«

»Das ist in der That eine schreckliche Geschichte,« sagte Oudarde, »die einen Burgunder zum Weinen bringen könnte.«

»Ich wundere mich nicht mehr,« fügte Gervaise hinzu, »daß Euch vor den Zigeunern so bange ist!«

»Und Ihr habt wohl gethan,« fügte Oudarde hinzu, »mit Eurem Eustach davonzulaufen, denn diese Zigeuner da kommen auch aus Polen.«

»Nicht doch,« verbesserte Gervaise, »aus Spanien und Catalonien kommen sie.«

»Catalonien! Das ist auch möglich, und so viel ist gewiß, daß sie Zigeuner sind.«

»Und ihre Zähne sind scharf genug, um kleine Kinder zu fressen; und ich würde mich nicht wundern, wenn auch die kleine Smeralda ein wenig davon äße, denn sie ist doch auch nur eine Zigeunerin, und ihre weiße Ziege macht Kunststücke, die mir nicht recht gefallen wollen.«

Inzwischen war Mahiette stillschweigend vorwärts geschritten, gleichsam noch vertieft in die unglückliche Geschichte, welche sie so eben erzählt hatte.

»Und,« fragte Gervaise, »hat man nicht erfahren, was aus der Chantefleurie geworden ist?«

»Man hat sie niemals wieder gesehen. Die Einen sagten, sie sei zu diesem, die Andern, sie sei zu jenem Thore hinausgegangen; Andere wollten sie barfuß auf der Straße nach Paris erblickt haben; ein Bauer hatte auf seinem Acker ihr goldenes Kreuz gefunden, und man glaubte allgemein, daß sie sich in’s Wasser gestürzt habe.«

»Arme Chantefleurie!« seufzte Oudarde.

»Und was ist aus dem kleinen Schuh geworden?« fragte Gervaise.

»Er ist mit der Mutter verschwunden,« antwortete Mahiette.

»Armer kleiner Schuh!« seufzte Oudarde.

»Und die Mißgeburt?« fragte die neugierige Gervaise.

»Welche Mißgeburt?«

»Das kleine ägyptische Ungeheuer, das die Zauberinnen gegen die Tochter der Chantefleurie ausgewechselt hatten. Was ist damit geschehen? Ich hoffe doch, daß man es in’s Wasser getragen hat.«

»Nein,« erwiederte Mahiette.

»Wie! also verbrannt? Das ist besser, denn so gehört es einem Zauberkinde.«

»Weder das Eine noch das Andere. Der Erzbischof hat sich des Kindes angenommen, hat es mit Weihwasser besprengt und ihm den Teufel aus dem Leibe getrieben. Hierauf hat man es nach Paris geschickt und in der Liebfrauenkirche als Findelkind ausgesetzt.«

Inzwischen waren die drei Gevatterinnen, in ihr Gespräch vertieft, auf dem Grèveplatz angekommen. Sie waren an dem Rattenloch am Rolandsthurm vorübergegangen, ohne darauf Acht zu haben, und hatten sich mechanisch dem Driller zugewendet, um den sich eine immer größere Menschenmenge sammelte. Wahrscheinlich würden sie in ihrer Schaulust das Rattenloch und dessen Bewohnerin vergessen haben, wenn nicht der Knabe, als ob sein Instinkt ihm sagte, daß jetzt das Rattenloch hinter ihnen sei, gefragt hätte: »Mutter, darf ich den Fladen jetzt essen?«

Diese Frage weckte die Aufmerksamkeit der Mutter und sie rief: »Zeigt mir doch Euer Rattenloch, daß ich der Büßerin ihren Fladen bringe!«

»Sogleich, denn das ist ein Liebeswerk,« sagte die gutmüthige Oudarde.

Als die drei Frauen am Rolandsthurm ankamen, sagte Oudarde zu den beiden andern: »Wir dürfen nicht alle drei zumal durch die Oeffnung sehen, um die Klausnerin nicht zu erschrecken. Ich will meinen Kopf allein hineinstecken, sie kennt mich ein wenig.«

Sie ging allein an die Lucke. In dem Augenblicke, da sie hineinsah, drückte sich ein tiefes Gefühl des Mitleids auf ihrem Gesichte aus, ihr Auge wurde feucht und ihr Mund verzog sich zum Weinen. Gleich darauf legte sie den Finger auf den Mund und gab Mahiette ein Zeichen, sich zu nähern. Mahiette näherte sich bedrückt, schweigend und auf den Zehenspitzen, wie man an das Bett eines Sterbenden tritt.

Es war ein jämmerlicher Anblick, der sich den beiden Weibern darbot, als sie durch die vergitterte Oeffnung in das Rattenloch blickten. Die Zelle war klein und eng. Auf dem steinernen Boden saß ein Weib, den Kopf bis auf die Kniee herabhängend, die Arme über die Brust gekreuzt. Sie war in einen braunen, faltenreichen Sack gewickelt, ihre langen, grauen Haare hingen bis aus die Füße herab, und beim ersten Anblick stellte sie eine seltsame Form dar, auf dem dunkeln Hintergrunde der Zelle in zwei Hälften getheilt, eine Art schwärzlichen Dreiangels, den der Strahl des Tages, der durch die Lücke fiel, in zwei Schattirungen theilte, die eine nächtlich, die andere beleuchtet. Es war eines jener Gespenster, halb Schatten, halb Licht, wie sie Einem im Traume erscheinen, bleich, unbeweglich, düster, auf einem Grabe sitzend oder durch das Gitterfenster eines Kerkers schauend. Es war kein Weib, es war kein Mann, es war kein lebendes Wesen, keine bestimmte Form: es war eine Figur, ein Traumgesicht, das in der Wirklichkeit und Phantasie zusammenfließt, wie Licht und Schatten. Kaum ließ sich unter seinen bis aus die Erde herabhängenden Haaren ein abgemagertes und ernstes Profil erkennen; kaum erblickte man auf dem kalten Stein die Spitze eines nackten Fußes, der unter dem Sacke hervorsah. Man schauderte bei dem Anblicke eines Wesens, dessen menschliche Form von seinem Trauergewande ganz bedeckt und unkenntlich war.

Diese Figur schien ein Marmorbild, ohne Bewegung, ohne Gedanken, ohne Athem. Im strengsten Wintermonat unter diesem leichten Leinwandsack, halbnackt auf dem steinernen Boden, im Schatten eines Kerkers, durch dessen schiefe Oeffnung nie ein Strahl der Sonne gelangte und nur der Wind einzog, schien sie nicht zu leiden, nicht einmal zu fühlen. Man konnte glauben, sie sei mit dem Kerker Stein, mit dem Winter Eis geworden. Ihre Hände waren gefaltet, ihre Augen fest auf einen Punkt gerichtet. Beim ersten Blicke hielt man sie für ein Gespenst, beim zweiten für eine Bildsäule.

Von Zeit zu Zeit öffneten sich ihre blauen Lippen zu einem Hauche und zitterten, aber so todtenähnlich und mechanisch, wie Blätter, die der Wind bewegt.

Aus ihren stieren Augen leuchtete ein Blick, unaussprechlich, tiefsinnig, düster, unverrückt auf einen Winkel der Zelle gerichtet, den man von Außen nicht sehen konnte, ein Blick, der alle finstern Gedanken dieser verlassenen Seele an irgend einen geheimnißvollen Gegenstand zu knüpfen schien.

Dies war das Geschöpf, das von seiner Wohnung den Namen Klausnerin, und von seiner Kleidung den Namen büßende Sackträgerin erhalten hatte.

Die drei Weiber blickten durch die Oeffnung. Ihre Köpfe nahmen dem Kerker seine schwache Beleuchtung vollends, ohne daß die Unglückliche darauf zu achten schien.

»Wir wollen sie nicht stören,« sagte Oudarde leise, »sie ist in ihrer Verzückung, sie betet.«

Inzwischen hatte Mahiette mit stets wachsender Angst das eingefallene Gesicht der Büßerin betrachtet; ihre Augen füllten sich mit Thränen und sie sagte halblaut für sich: »Das wäre doch sehr sonderbar!«

Sie steckte den Kopf zwischen dem äußeren Gitter der Oeffnung durch und konnte so bis in den Winkel sehen, auf den die Blicke der Unglücklichen unverändert gerichtet waren.

Als sie den Kopf aus der Oeffnung zurückzog, schwamm ihr Gesicht in Thränen. »Wie nennt Ihr diese Frau?« fragte sie.

Oudarde antwortete: »Wir nennen sie Schwester Gudula.«

»Und ich,« sagte Mahiette, »ich nenne sie Paquette Chantefleurie.“

Sie legte den Finger auf den Mund und gab der verwunderten Oudarde ein Zeichen, ihren Kopf durch das Gitter zu stecken und hineinzublicken.

Oudarde sah in dem Winkel, auf welchen der düstere Blick der Klausnerin unausgesetzt gerichtet war, einen kleinen Schuh von rosenfarbenem Sammt mit Gold und Silber gestickt.

Nach ihr blickte Gervaise hinein, und nachdem alle drei die unglückliche Mutter betrachtet hatten, fingen sie bitterlich an zu weinen.

Die Klausnerin ließ sich weder durch ihre Blicke, noch durch ihre Thränen stören, sondern blieb unbeweglich. Mit gefalteten Händen, mit stummen Lippen heftete sie ihre stieren Blicke auf den kleinen Schuh, und wer die Geschichte dieses Schuhes wußte, dem mußte bei ihrem Anblicke das Herz brechen.

Die drei Frauen hatten noch kein Wort gesprochen; sie wagten nicht einmal halblaut zu reden. Dieser große, stumme Schmerz, der die ganze Welt um sich her vergaß und den innern Blick nur auf einen einzigen Gegenstand richtete, erschien ihnen als etwas Heiliges. Sie waren im Begriffe niederzuknieen und zu beten.

Endlich versuchte Gervaise, welche die Neugierigste und mithin am wenigsten Gefühlvolle war, die Klausnerin zum Reden zu bringen: »Schwester! Schwester Gudula!«

Sie wiederholte diesen Ruf dreimal, jedesmal mit verstärkter Stimme. Die Klausnerin rührte sich nicht, nicht ein Wort, nicht ein Blick, nicht ein Seufzer, kein Zeichen des Lebens!

Jetzt rief Oudarde mit sanfter und einschmeichelnder Stimme: »Schwester! Schwester Sanct-Gudula!«

Gleiches Schweigen, gleiche Unbeweglichkeit.

»Ein sonderbares Weib!« sagte Gervaise. »Ich glaube, man könnte einen Mörser losbrennen, ohne daß sie es hörte.«

»Sie ist vielleicht taub,« seufzte Oudarde.

»Vielleicht blind,« sagte Gervaise.

»Vielleicht todt,« fügte Mahiette hinzu.

Wenn auch die Seele diesen unthätigen, halberstorbenen, gelähmten Körper noch nicht verlassen hatte, so hatte sie sich doch in solche Tiefen zurückgezogen, wohin die Wahrnehmungen der äußeren Organe nicht mehr gelangten.

»Wenn wir den Fladen unter der Oeffnung zurücklassen,« sagte Oudarde, »so wird ihn irgend ein Junge wegnehmen. Wie machen wir es, um sie aufzuwecken?«

Der kleine Eustach, dessen Aufmerksamkeit bis jetzt ein Hund, der an einen kleinen Wagen gespannt war, auf sich gezogen hatte, wurde jetzt plötzlich gewahr, daß die drei Frauen durch die Oeffnung im Thurme Etwas betrachteten; die Neugierde trieb ihn, er stieg auf einen Stein, richtete sich auf seinen Zehen in die Höhe, brachte sein dickes, rothes Gesicht unter die Lücke und schrie: »Mutter, laß mich auch sehen!«

Bei dieser Kinderstimme, klar, frisch, wohltönend, schauderte die Klausnerin zusammen. Sie wendete das Haupt, ihre langen, abgemagerten Hände strichen ihre Haare von der Stirne zurück, und sie heftete auf das Kind einen Blick, erstaunt, bitter, verzweifelnd. Dieser Blick war nur ein einziger Blitz.

»O mein Heiland!« schrie sie plötzlich auf und verbarg ihr Gesicht zwischen den Knieen, »zeige mir wenigstens nicht die Kinder Anderer!«

»Guten Morgen, Madame!« sagte der Knabe ernsthaft.

Diese Erschütterung hatte die Klausnerin aufgeweckt und zu sich gebracht. Ein langer Schauder durchlief ihren Körper vom Kopf bis zu den Füßen. Sie klapperte mit den Zähnen, hob sich halb in die Höhe, drückte die Ellenbogen gegen die Hüften, nahm ihre nackten Füße in die Hand, um sie zu wärmen, und sagte: »Oh, wie kalt!«

»Armes Weib,« sagte Oudarde gerührt, »wollt Ihr ein wenig Feuer?«

Sie schüttelte das Haupt zum Zeichen der Verneinung.

»Oder,« fuhr Oudarde fort, indem sie ihr eine Flasche darreichte, »etwas süßen Wein? der wird Euch wärmen. Trinkt!«

Die Klausnerin schüttelte abermals das Haupt, blickte sie starr an und antwortete: »Wasser.«

»Nicht doch, Schwester, das ist kein Getränk in dieser Jahreszeit. Trinkt ein wenig Wein und eßt diesen Maiskuchen, den wir für Euch gebacken haben.«

Die Klausnerin schob den Fladen zurück, den ihr Mahiette darreichte, und sagte: »Schwarzes Brod.«

»Hier,« fiel Gervaise ein, indem sie ihren wollenen Mantel abnahm, »hier habt Ihr einen wärmeren Rock, als der Eurige ist.«

Sie wies ihn von sich und sagte: »Einen Sack.«

»Aber,« fuhr die gutmüthige Oudarde fort, »Ihr müßt doch auch ein wenig gewahr werden, daß gestern ein Fest war.«

»Ich habe es wahrgenommen,« sagte die Klausnerin, »denn seit zwei Tagen fehlt mir das Wasser in meinem Kruge.«

Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Es ist Festtag, man vergißt mich. Man thut wohl daran. Warum sollte auch die Welt an mich denken, die nicht an sie denkt? Ich bin ein erloschenes Feuer, eine kalte Asche.«

Wie ermattet von so vielen Worten, ließ die Klausnerin ihr Haupt wieder auf den Schooß sinken. Die einfache und gutmüthige Oudarde, die aus ihren letzten Worten schloß, daß sie sich abermals über die Kälte beklage, antwortete: »So wollt Ihr doch ein wenig Feuer?«

»Feuer!« sagte die Büßerin mit seltsamem Ausdruck, »und wollt Ihr auch meiner armen Kleinen, die seit fünfzehn Jahren unter der Erde liegt, ein wenig Feuer machen?«

Alle ihre Glieder zitterten, ihre Augen strahlten, sie hatte sich auf die Kniee emporgehoben, streckte plötzlich ihren abgemagerten Arm gegen den Knaben aus, der sie verwundert betrachtete, und schrie: »Tragt dieses Kind fort! Die Zigeunerin kommt!«

Sie sank wie leblos auf das Pflaster zurück und ihr Kopf schlug mit großem Geräusch auf dem Stein an. Die drei Frauen glaubten sie todt. Bald aber erhob sie sich wieder und kroch auf Händen und Füßen dem Winkel der Zelle zu, wo der kleine Schuh war. Voll Entsetzen zogen die Weiber ihre Köpfe zurück, sie wagten nicht hinzublicken. Jetzt hörten sie tausend Küsse und tausend Seufzer, vermischt mit herzzerreißendem Geschrei und dumpfen Stößen, wie wenn man mit dem Kopfe gegen eine Mauer rennt. Ein furchtbarer Stoß erfolgte, auf ihn tiefe Stille.

»Sie hat sich wohl getödtet,« sagte Gervaise und blickte durch die Oeffnung. »Schwester Gudula!«

»Schwester Gudula!« wiederholte Oudarde.

»O mein Gott, sie rührt sich nicht mehr!« rief Gervaise; »sie ist todt. Gudula! Gudula!«

Mahiette, der bisher das Mitleid die Stimme erstickt hatte, neigte sich plötzlich gegen die Oeffnung und rief: »Paquette! Paquette Chantefleurie!«

Dieser Ruf erschütterte den ganzen Körper der Klausnerin, sie sprang auf ihren nackten Füßen in die Höhe, war mit einem Satz an der Oeffnung und blickte mit so flammenden Augen heraus, daß die drei Weiber erschrocken zurückbebten. »Oh! Oh!« schrie sie mit wahnwitzigem Gelächter, »die Aegypterin ruft mich!«

In diesem Augenblicke ging am Driller eine Scene vor, welche den düsteren Blick der Klausnerin fesselte. Entsetzen und Abscheu auf ihrem fahlen, finsteren Gesichte, streckte sie ihre beiden abgemagerten Arme durch das Gitter heraus und rief mit einer Stimme, die dem Geschrei einer unheilverkündenden Nachteule glich: »Bist du wieder da, Tochter aus Aegyptenland! Rufst du mich wieder, du Kinderdiebin! Verflucht, verflucht, verflucht seist du in Ewigkeit!«

XII.

Nur ein einziges menschliches Wesen gab es, das Quasimodo von seinem Menschenhasse ausnahm, und das er ebenso sehr, vielleicht noch mehr, liebte als seine Kirche: es war Claude Frollo.

Das war ganz einfach. Claude Frollo hatte ihn an Kindesstatt angenommen, ernährt, erzogen. Als er noch ein kleiner Knabe war, suchte er Schutz zwischen den Beinen des Priesters, wenn ihn bellende Hunde und böse Jungen verfolgten. Claude Frollo hatte ihn Reden, Lesen und Schreiben gelehrt. Claude Frollo hatte ihn zum Glöckner der Liebfrauenkirche gemacht.

In der That war auch die Dankbarkeit des Zwergs gegen seinen Wohlthäter leidenschaftlich und grenzenlos, und obgleich sein Adoptivvater fast immer ein ernstes und strenges Gesicht zeigte, obgleich die Worte, die er sprach, gewöhnlich kurz, hart und gebietend waren, so hatte sich doch die Dankbarkeit des Zwergs noch nie einen einzigen Augenblick verläugnet. Der Archidiakonus besaß in Quasimodo den unterwürfigsten Sklaven, den gelehrigsten Diener, den wachsamsten Bullenbeißer. Bald nachdem der arme Glöckner taub geworden war, hatte sich zwischen ihm und Claude Frollo eine geheimnißvolle, nur ihnen verständliche Zeichensprache gebildet, auf solche Weise war der Archidiakonus das einzige menschliche Wesen, mit dem Quasimodo in Verbindung geblieben war.

Nichts glich der Herrschaft des Archidiakonus über den Glöckner, nichts der Ergebenheit des Glöckners gegen den Archidiakonus. Nur eines Zeichens seiner Hand hätte es bedurft, so würde sich der Zwerg von der Höhe des höchsten Thurmes der Liebfrauenkirche herabgestürzt haben. Die physische Kraft, die sich bei Quasimodo so außerordentlich entwickelt hatte, diente mit blindem Gehorsam dem überlegenen Geiste des Priesters.

Im Jahre 1482 war Quastmodo etwa 20, Claude Frollo ungefähr 36 Jahre alt.

Claude Frollo war nicht mehr der einfache Schüler im Collegium Torchi, der zärtliche Beschützer eines Säuglings, der junge, träumerische Philosoph, der Vieles wußte und dem das Meiste verborgen war. Er war jetzt ein ernster, strenger, finsterer Priester, Archidiakonus und zweiter Amtsgehülfe des Bischofs. Die Chorknaben zitterten vor ihm, wenn er unter dem Bogengewölbe der Liebfrauenkirche einherschritt, langsam, majestätisch, gedankenvoll, mit gekreuzten Armen, das Haupt so tief auf die Brust herabbeugend, daß man nichts vom Gesichte, und nur seinen kahlen Kopf sah.

Claude Frollo hatte übrigens immer noch den Wissenschaften und der Erziehung seines jungen Bruders, diesen beiden Aufgaben seines Lebens, obgelegen. Die Zeit aber hatte einige Bitterkeit in diesen süßen Kelch gegossen. Der kleine Johannes Frollo, von der Mühle, auf der er als Kind lebte, der Mühlenhans genannt, hatte die Richtung nicht angenommen, die ihm sein älterer Bruder geben wollte. Claude Frollo wünschte einen frommen, gesetzten, lernbegierigen Zögling. Der widerspenstige Geist des Knaben aber wendete sich der Faulheit, Unwissenheit und Liederlichkeit zu. Es war ein wahrhaftiger kleiner Teufel, höchst ungezogen, worüber der Archidiakonus die Stirne runzelte, aber äußerst spaßhaft und possirlich, worüber selbst der ernste Priester öfters lachen mußte. Claude Frollo hatte seinen Bruder in das nämliche Collegium von Torchi geschickt, in welchem er selbst seine Jugendjahre im Studium und in der Furcht Gottes zugebracht hatte, und es schmerzte ihn, daß dieses Heiligthum der Wissenschaften, sonst so geehrt durch den Namen Frollo, nun Schande an ihm erleben sollte. Er hielt von Zeit zu Zeit dem kleinen Johannes sehr lange und ernste Strafpredigten, die dieser anhörte und vergaß. Aus Verdruß darüber warf sich der Archidiakonus mit um so größerem Eifer in die Arme der Wissenschaften, wurde immer gelehrter und mithin immer strenger als Priester und immer düsterer als Mensch. Nachdem er den gewöhnlichen Kreis der Gelehrsamkeit erschöpft hatte, warf sich sein unersättlicher Heißhunger auf die geheimen Wissenschaften, auf Astrologie und Alchymie. Der Aberglaube der Menge stempelte ihn zum Hexenmeister, obgleich die Nekromantie und selbst die weiseste und unschuldigste Magie keinen heftigeren Gegner, keinen unerbittlicheren Richter hatte. Gleichwohl beharrte das Publikum, wie es immer pflegt, auf seinem einmal gefaßten Vorurtheil. Quasimodo war ein Teufel aus der Hölle, Claude Frollo ein Hexenmeister. Augenscheinlich war der mißgestaltete Glöckner nichts anderes, als der höllische Diener des Archidiakonus, der ihm eine festgesetzte Zeit lang zu Willen war, hernach aber seine arme Seele an Zahlungsstatt hinnahm und zur Hölle führte.

Der Archidiakonus und sein Glöckner waren wenig beliebt beim Volke. Wenn sie zusammen ausgingen, was öfters geschah, mußten sie manches höhnische Wort anhören und manchen Schabernack erdulden. Bald setzte ein Gassenjunge Haut und Knochen an das unaussprechliche Vergnügen, dem buckligen Zwerg eine Nadel in seinen Höcker zu stoßen; bald streifte ein freches Weibsbild an der schwarzen Kutte des Priesters an und lachte ihm unter die Nase; bald rief ihnen ein Trupp alter Weiber zu: »Da gehen ihrer Zwei, der Eine ist an der Seele verwahrlost, wie der Andere am Körper!« Bald schrie sie ein Haufen Studenten an: »Eia! Eia! Claudius cum claudo!«

Einleitung

Victor Hugo ist in der ganzen Welt, von Freund und Feind, als einer der ausgezeichnetsten Dichter anerkannt, die je auf Erden gewandelt. Er wurde 1802 in Besançon geboren und gehört einer alten, schon vor Jahrhunderten auf den Schlachtfeldern geadelten Grafenfamilie an. Sein Vater, der als General in den Diensten des Königs Joseph Bonaparte zuerst in Neapel focht, wo er dem gefährlichen Räuber oder vielmehr Parteigänger Fra Diavolo das Handwerk legte, und dann den spanischen Krieg mitmachte, nahm, wie andere Napoleon’sche Feldherren, seine Familie mit, und so kam es, daß Victor Hugo schon in seiner zartesten Kindheit in Italien und Spanien reiste. Die Sonne des Südens wärmte mit ihren glühendsten Strahlen dieses enthusiastische junge Haupt; aber die ersten Eindrücke, welche der Dichterknabe in dem Farbenglanze einer herrlichen großen Natur empfing, trugen das Gepräge des Abenteuerlichen, Romantischen, Wilden.

War der Vater, ein tapferer Krieger, der unter dem Cäsar der neuen Welt Europa durchzog und in allen Ländern Lorbeeren erntete, gleichsam das Prinzip der Bewegung und Ruhmbegierde für den Sohn: – so knüpften ihn dagegen die Mutter, eine Vendéerin, und seine Lehrer ein Royalist und Geistlicher, Anhänger des alten Regimes, noch stärker an das Poetische und Gefühlige der Mittelalterlichkeit. Der Zauber keuscher Minne, die Innigkeit der Religiosität, mit all‘ den wundervollen und phantastischen Erscheinungen, die sie erzeugen, drückten sich tief in das Gemüth des jungen Hugo; dabei nahm derselbe den tragischen Ernst, man möchte sagen, die Melancholie des untergehenden Griechen- und Römerthums aus den klassischen Schriften des Polybius und Tacitus in sich auf. Allerdings wird ein Dichter geboren: aber wer wird läugnen, daß solche Anschauungen, eine solche Zeit, solche gleichsam schon in die Wiege gelegten Elemente die Produktivität schnell befruchten, zeitigen und stärken, wenn man in Goethe’s »Dichtung und Wahrheit« liest, wie mächtig auf ihn die vergleichungsweise ärmlichen Umgebungen und Verhältnisse seiner Jugendjahre wirkten?

Es darf daher nicht verwundern, daß er schon in seinem dreizehnten Jahre seine Begeisterung für das Ritterthum in Versen zur Ehre Roland’s auszudrücken versuchte.

Hugo’s Bildungsgang erlitt eine Veränderung, als sich sein Vater von seiner Mutter, wegen ihrer geheimen Verbindungen mit der Emigration, trennte. Er wurde in eine zum Gymnasium Ludwigs des Großen gehörige Anstalt versetzt, und schrieb hier, den Grundsätzen seiner Mutter getreu, eine legitimistische Tragödie, Irtamène. Schon beginnt seine schriftstellerische Laufbahn. Als Concurrent um den von der Académie française ausgesetzten Preis für das beste Gedicht »über die Vorzüge des Studiums,« um welchen sich Männer wie Lebrun, Delavigne u. A. bewarben, wurde er zwar nicht gekrönt, aber belobt. Der Dichter war damals erst fünfzehn Jahre alt, und schloß daher sein Preisgedicht mit den Versen:

»Ich, der ich stets gefloh’n von Hof und Städten bin,
Sah kaum drei Lustra zieh’n ob meinem Haupte hin.«

Die erstaunten Akademiker hätten, als sie sich von dieser kaum glaublichen Thatsache überzeugten, dem jungen Talente gern den Preis verliehen, aber er war schon vergeben. Ein Preis, den sein Bruder von der Toulouser Akademie erhielt, feuerte ihn noch mehr an, und er gewann auch bei derselben Akademie im Jahre 1819 deren zwei durch Oden: über die Statue Heinrichs IV. und die Jungfrauen von Verdun (welche im Jahre 1792 das Opfer ihrer Anhänglichkeit an die Emigranten geworden waren). Hier ist die Gelegenheit, auf die ausnehmende Schnelligkeit aufmerksam zu machen, womit Hugo producirt. Seinen ersten Roman »Bug Jargal« schrieb er, 16 Jahre alt, aus Veranlassung einer Wette, in vierzehn Tagen. Die Ode über die Statue Heinrichs IV. verfaßte er in Einer am Krankenbette seiner Mutter durchwachten Nacht. Auch diesmal wollte die Akademie nicht glauben, daß er erst siebzehn Jahre zähle. Im folgenden Jahre erhielt er nochmals den Preis für das Gedicht: »Moses am Nil.«

Von nun an betritt er seine eigentliche Laufbahn als Schriftsteller. Er hatte das Rechtsstudium, dem er sich widmen sollte, vernachlässigt; mit seinem Vater war er, als politischer Meinungsgenosse der Mutter, zerfallen; dadurch gerieth er in Sorgen für sein Auskommen. Aber ein noch weit mächtigerer Sporn war die Liebe. Hugo ist der Sänger der reinsten, tiefsten, innigsten, hingebendsten, ihren Gegenstand vergötternden Liebe. Er konnte dies nur durch Erfahrungen in seinem eigenen Herzen werden. Er hatte eine Jugendgeliebte, der er mit schwärmerischer Neigung zugethan war; man verbot ihm, sie zu besuchen. Dies war, sagt man, die Veranlassung zu seinem schauerlichen Roman »Han d’Islande,« worin er, neben einem das Böse an sich liebenden Ungeheuer (welches jedoch die Grenzen menschlicher Bosheit überschreitet), die Treue und Aufopferung der allen Gefahren und Verhältnissen trotzenden Liebe schildert. Grund und Boden dieses Romans ist zum Theil historisch.

Die Vielseitigkeit von V. Hugo’s Talent, woraus wir durch diese neue Dichtgattung, in der er sich auszeichnete, geführt werden, ist nicht minder bewunderungswerth, als seine Fruchtbarkeit und Leichtigkeit. Als Lyriker, als Romantiker, als Dramatiker, als Uebersetzer,1 als Kritiker und Polemiker hat er fast gleiches Aufsehen gemacht. Seine Oden, Balladen, Hymnen gelten in Frankreich als das Vorzüglichste. Als Kritiker hat er in der Zeitschrift »Conservateur litéraire« vortreffliche Artikel über Walter Scott, Byron, Moore geliefert, auch politische und kritische Ansichten ausgesprochen, welche unter den Rubriken: Literatur und Philosophie in unserer Sammlung ihren Platz finden. Er war es auch, der das poetische Genie Lamartine’s, mit welchem er hernach ein freundschaftliches Verhältniß anknüpfte, zuerst in einer begeisterten, den Zustand der damaligen französischen Lyrik satyrisirenden Kritik begrüßt hat.

Der berühmte Chateaubriand nannte ihn ein »erhabenes Kind« (enfant sublime), und auch dieser große Schriftsteller würdigte ihn eines näheren Umganges.

Victor Hugo, einmal ganz in die schriftstellerische Carrière eingetreten, zu Paris in sparsamer Zurückgezogenheit von dem Lohne seines Fleißes lebend, arbeitete angestrengtest, um bald seiner Geliebten eine sorgenfreie Existenz an seiner Hand anbieten zu können. Sein Stolz verhinderte ihn, die Unterstützung seines Vaters anzunehmen. Dagegen wollte sein gutes Glück, daß Ludwig XVIII. einen schönen Charakterzug des Dichters großmüthig belohnte, statt die Ungesetzlichkeit desselben zu bestrafen. Einer seiner Jugendfreunde war in die Militär-Conspiration von Saumur verwickelt. Delon, so hieß er, wurde gerichtlich verfolgt, und Hugo bot dem Flüchtigen, in einem Briefe an dessen Mutter, sein Zimmer an. Der König bekam durch die Polizei diesen Brief in die Hände, und ertheilte ihm die erste aufgehende Pension. Nun stand dem Glücke des Liebenden nichts mehr im Wege; er vermählte sich im Jahre 1822.

Aus allem bisher Gesagten ergibt sich, daß Hugo aus poetischem Interesse den Ideen der Restauration angehörte, weßhalb seine Muse mit dem oppositionellen Streben der öffentlichen Meinung in direktem Widerspruch stand. Auch das Genie zieht im Kampfe mit dem Zeitgeist, sobald dieser eine gesunde Richtung verfolgt, den Kürzern. Deshalb hatte Hugo bisher zwar mit seinen Produktionen Aufsehen gemacht, aber es zu keinem entschiedenen Beifall bringen können, da er sich zwei mächtige Gegner zumal zuzog: die politische Meinung der großen Mehrzahl in Frankreich, und die Verfechter der alten sogenannten klassischen Schule in der schönen Literatur. Sei es nun, daß Hugo einsah, er müsse, um den Schutz des Publikums gegen seine belletristischen Gegner zu gewinnen, in der Politik sich einigermaßen mit demselben conformiren, oder daß er, wie auch sein Freund Chateaubriand, den großen Unfug der veralteten Aristokratie und des verderbten Pfaffenthums, die dem Absolutismus zustrebten, mit richtigem Urtheil erkannte: – genug, er ließ die politische Fehde ruhen, veröffentlichte ein Gedicht auf Napoleon und eine Ode: »à la Colonne« (auf die Vendôme-Säule), welche mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde. So gerüstet trat er auch als Dramatiker in die Schranken mit dem größtentheils verfehlten und veralteten Klassicismus, – ein Wettstreit, der großes Aussehen erregte und lange die Aufmerksamkeit des Publikums zwischen sich und der Politik getheilt hielt. Sein Drama: Cromwell, obwohl es an ergreifenden Situationen, originellen Charakteren und vortrefflichen Stellen keineswegs Mangel leidet, ist schon wegen seiner Ausdehnung und Ueberfüllung mit Personen für die Bühne nicht geeignet: dagegen ist Marion Delorme, deren Aufführung die ministerielle Theater-Censur von 1829 untersagte, von so hochtragischer Erfindung, und, bei der Gewagtheit des Sujets, so geistreich durchgeführt, daß wir ihr den Preis unter den Tragödien des Dichters zuerkennen möchten.

Die Aufführung des Hernani veranlaßte einen wahren Parteienkampf im Théatre français (1830); und doch ist Hernani mit der hervorstechenden Person Kaiser Carls V., trotz der sinnreichen Aufführung des psychologischen Streits zwischen Ehre, Haß, Liebe und Rache kühler, als die meisten andern Dramen Hugo’s.

Die Erhebung der französischen Nation in den Julitagen begeisterte auch unsern Dichter; er sang eine Ode zur Verherrlichung derselben. Aber auch ihn degoutirte das daraus hervorgehende juste-milieu, besonders als man wegen angeblich anstößiger Stellen gegen den König Louis Philipp die Aufführung seines neuen Drama’s: Le roi s’amuse verbot. In dem Prozeß darüber sprach er sich drohend gegen das Ministerium aus. Dessen ungeachtet gestalteten sich die Verhältnisse des Dichters, dessen Ruhm und Popularität mit jedem neuen Band Gedichte, mit jedem neuen Schauspiel (Marie Tudor, Marion Delorme, die Burggrafen, Hernani u.s.w.), mit jedem neuen Band Prosa stiegen und durch den Roman Notre-Dame ihren Gipfelpunkt erreichten, zur Julimonarchie auf’s Freundlichste, und als Frucht dieses guten Einvernehmens verdient folgendes, in’s Jahr 1839 fallende Factum besonders hervorgehoben zu werden, das dem Dichter und dem Könige gleich sehr zur Ehre gereicht.

Als der trotzige Rebell Barbès zum Schaffot verurtheilt war, kam seine Schwester zu dem Dichter und flehte, er möchte den König zur Begnadigung ihres Bruders veranlassen. Ein erster Schritt war ohne Erfolg geblieben. Der Hof trauerte damals um die sanftherzige Marie von Württemberg, und der Graf von Paris war kaum erst auf die Welt gekommen. V. Hugo ging am 12. Juli um Mitternacht noch einmal zum Könige. Se. Majestät war nicht mehr sichtbar. Da schrieb er folgende Strophe, die er auf einem Tische liegen ließ:

Bei jenem taubengleich von Dir entflog’nen Engel,
Bei diesem Königskind, dem zarten Blumenstengel,
Beim Grab und bei der Wieg‘ steh ich noch einmal heut:
Gib Gnade, Herr, und üb‘, Gott gleich, Barmherzigkeit.

Bei seinem Erwachen las Ludwig Philipp die vier Zeilen, und Barbès war gerettet.

Im Juni 1841 kam V. Hugo in die Akademie, und zwei Jahre später wurde er zur Pairswürde erhoben.

Als L. Philipp im Februar 1848 relicta non bene parmula davonlief, schloß V. Hugo sich der Republik an und vertheidigte sie als Abgeordneter mit großer Entschiedenheit in Reden, welche die glänzendste oratorische Befähigung beurkundeten. Gegen den Staatsstreich focht er sogar nebst seinen Söhnen auf den Barrikaden und schrieb hernach das von der maßlosesten Parteileidenschaft eingegebene Pamphlet: Napoléon le petit. Seitdem lebte er als Flüchtling theils in Belgien, theils in London, und bewohnt nun schon mehrere Jahre die Insel Jersey, von wo er 1856 einen neuen Band Gedichte herausgab, der in Frankreich verschlungen wurde. Gegenwärtig soll er mit Vollendung eines sechsbändigen Romans beschäftigt sein, welcher den Titel führt: Das Elend. Wir werden nicht ermangeln, ihn gleich nach seinem Erscheinen unserer neuen Sammlung einzuverleiben.

Was die äußeren Verhältnisse des Dichters betrifft, so ist er, abgesehen von dem untröstlichen Schmerz um das verlorene Vaterland, keineswegs zu beklagen. Er erfreut sich des angenehmsten Familienlebens und dabei eines ansehnlichen Wohlstandes, wie ihn Frankreich seinen ausgezeichneten Schriftststellern selten vorenthält.

Stuttgart, im August 1858.

  1. Unter dem Namen d’Auverney gab er Uebersetzungen von Virgil und Lucian heraus.

IX.

Der geängstigte Dichter durchrannte mit langen Beinen manche Straße und manchen Winkel; ein panischer Schrecken trieb ihn fort, bis ihm der Athem ausging. Jetzt gewann die Philosophie des Dichters über die blinde Furcht wieder die Oberhand, und er stellte sich folgendes Dilemma: Meister Peter Gringoire, sprach er zu sich selbst, indem er mit dem Finger an seinen Hirnkasten klopfte, es scheint mir, daß Ihr davon gelaufen seid, wie ein Narr. Die Teufelsjungen hatten sicherlich vor Euch eben so viel Angst, als Ihr vor ihnen. Habt Ihr denn nicht das Klappern ihrer Holzschuhe gehört, als sie gegen Süd davon liefen, während Ihr nach Nord entflohet? Eines von beiden: entweder haben sie die Flucht ergriffen, und dann ist der Strohsack, den sie in ihrem Schrecken auf dem Platze ließen, gerade das gastliche Bett, nach dem Ihr Euch schon so lange sehnt, und das Euch jetzt die heilige Jungfrau so wunderbar zuschickt, um Euch für das moralische Stück zu belohnen, welches Ihr zu ihren Ehren gedichtet habt; oder aber die Jungen haben nicht die Flucht ergriffen, und in diesem Falle haben sie Feuer an den Strohsack gelegt, und das ist gerade das Feuer, dessen Ihr benöthigt seid, um Euch zu wärmen und zu trocknen. In beiden Fällen also, gutes Feuer oder gutes Bett, bleibt immer der Strohsack ein Geschenk, das Euch der Himmel verliehen hat. Vielleicht hat die gebenedeite Jungfrau Maria an der Straßenecke Mauconseil den Hufschmied Eustach Moubon bloß darum sterben lassen, um Euch für diese Nacht eine Lagerstätte zu verschaffen, und es wäre sehr undankbar von Euch, wenn Ihr diese himmlische Gabe verschmähen wolltet. Reißt also nicht ferner aus, wie ein Burgunder vor einem Franzosen, und sucht nicht vor Euch, was Ihr hinter Euch laßt! Und kurz und gut, Meister Peter Gringoire, Ihr seid ein Esel!

Nachdem unser Dichter dieses Selbstgespräch gehalten hatte, und zu besagtem Schlußsatze gekommen war, kehrte er um, den ersehnten Strohsack zu suchen. Er irrte jedoch vergebens in dem verworrenen Knäuel dieser Gassen und Winkel herum, und konnte keinen Ausgang aus ihnen finden. Verflucht seien die Sackgäßchen und Straßenwinkel! rief er unmuthig aus. Der Teufel hat sie nach dem Bilde seiner höllischen Ofengabel gemacht!

In diesem Augenblicke blendete seine Augen ein röthlicher Schein, der aus dem Ende einer langen und engen Straße kam. Gelobt sei Gott! sprach Peter Gringoire freudig, dort unten brennt mein Strohsack. Salve, Salve, maris stella!

Mit diesen Worten schritt er rasch vorwärts in der engen ungepflasterten Straße, die immer kothiger und abschüssiger wurde. Sie war nicht einsam und verlassen; da und dort bewegten sich, in ihrer ganzen Länge, undeutliche und unförmliche Gestalten, die alle ihre Richtung nach dem röthlichen Scheine nahmen, der vom äußersten Ende der Straße leuchtete, jenen schwerfälligen Insekten gleich, die bei Nacht, von einem Grashalm zum andern, dem Feuer eines Hirten zufliegen.

Peter Gringoire schritt rasch vorwärts und hatte bald eine dieser Larven erreicht, welche sich mühsam hinter den andern herschleppte; es war ein elendes krüppelhaftes Wesen, dem die Beine fehlten und das auf den Händen fortrutschte. Als er verwundert stehen blieb, rief ihm eine klägliche Menschenstimme zu: »La buona mancia, Signor! La buona mancia, Signor!«

»Hol‘ mich der Teufel,« sagte unser Dichter, und ging weiter, »wenn ich verstehe, was Du willst!«

Bald stieß er auf eine andere dieser wandelnden Massen. Es war ein Lahmer, hinkend und einarmig, und zwar so einarmig und so hinkend, daß das verwickelte System der Krücken und hölzernen Füße, auf denen er wandelte, ihm das Ansehen eines vorwärts schreitenden Mauergerüstes gab. Unser Dichter, welcher klassische Vergleichungen liebte, nannte ihn in Gedanken den lebenden Dreifuß des Neptun.

Dieser lebende Dreifuß erhob seinen Hut bis zur Höhe des Kinns unseres Poeten und schrie ihm in die Ohren: »Sennor caballero, para comprar un pedaso de pan!«

Es scheint, sprach Peter Gringoire für sich, daß diese Mißgeburt auch eine Sprache hat, aber der Teufel verstehe sie!

Er verdoppelte den Schritt. Ein Blinder ging vor ihm her, mit einem langen Bart, mit einem Knotenstock vor sich hintappend und von einem großen Hunde geführt, »Facitote caritatem!« rief ihm der Blinde in näselndem Tone zu.

»Endlich,« sagte der Poet, »treffe ich doch Einen, der eine christliche Sprache spricht. Ich muß ein sehr mildthätiges Aussehen haben, daß man bei der gänzlichen Schwindsucht meiner Börse doch Almosen von mir bettelt. Mein Freund, ich habe vergangene Woche mein letztes Hemd verkauft, oder, weil Du doch nur Ciceros Sprache verstehst. Vendidi hebdomade nuper transita meam ultimam chemisam.«

Mit diesen Worten kehrte er dem Blinden den Rücken und setzte seinen Weg fort. Der Blinde aber holte auf einmal weit aus und schritt so rasch vorwärts, wie Einer, der zwei gute Augen hat. Zu gleicher Zeit erhoben sich die Lahmen und Hinkenden und rannten mit großer Geschwindigkeit und unter furchtbarem Geräusch ihrer Krücken und hölzernen Beine hinter ihm her.

Caritatem! La buona mancia! Un pedaso de pan!« gellte es in die Ohren des geängstigten Poeten.

»O babylonische Sprachverwirrung!« rief er aus und rannte davon; der Blinde und die Lahmen rasch hinter ihm her; und rund um ihn, so lang und breit die Straße war, wimmelte es von Blinden, Lahmen, Einarmigen, Einäugigen und Aussätzigen, die sich alle vorwärts nach der röthlichen Flamme bewegten. Der arme Peter Gringoire, immer noch von den drei Mißgeburten verfolgt, und in der Mitte dieser sonderbaren, fremdartigen Wesen wandelnd, wußte nicht, was aus ihm werden sollte.

Der Gedanke kam ihm, einen Versuch zu machen, ob er nicht umkehren könne, aber es war zu spät, die ganze Legion der Mißgeburten hatte sich hinter ihm geschlossen. Er schritt demnach vorwärts, getrieben von der unwiderstehlichen Fluth seiner Verfolger und von seiner eigenen Angst, wie auch von einem Schwindel ergriffen, der ihm die ganze Scene als ein furchtbares Traumgesicht erscheinen ließ.

Endlich erreichte er das äußerste Ende der Straße, die an einen ungeheuern freien Platz grenzte, auf welchem, da und dort, in dem düstern Nebel der Nacht, viele tausend zerstreute Lichter und Feuer ihren flackernden Schein von sich warfen. Peter Gringoire hoffte durch die Schnelligkeit seiner Beine den drei Mißgeburten zu entgehen, die ihn wie sein Schatten verfolgten.

»Onde vas, hombre!« schrie ihm der Lahme zu, indem er seine Krücken wegwarf und ihm mit den besten zwei Beinen nachlief, die je das Pflaster von Paris betreten hatten.

Die Mißgeburt ohne Beine stand jetzt aufrecht auf ihren Füßen und hing dem Dichter ihre schwere Krücke um den Hals, während ihn der Blinde mit weit geöffneten, flammenden Augen betrachtete.

»Wo bin ich denn?« rief der arme Poet schreckensvoll aus.

»Im Hofe der Wunder,« antwortete ein viertes Gespenst, das sich zu ihnen gesellt hatte.

»Bei meiner armen Seele, die Blinden sehen, und die Lahmen gehen, aber wo ist der Heiland, der diese Wunder wirkt?«

Hierüber lachten die magischen Gestalten aus vollem Halse.

Der arme Poet blickte verwundert umher. Er befand sich wirklich in jenem furchtbaren Hofe der Wunder, in den noch niemals ein ehrbarer Mann um diese Stunde gekommen war, in dessen magischem Zirkel die Polizeibeamten, welche sich dahin wagten, spurlos verschwanden, in dieser Stadt der Räuber und Diebe, aus der jeden Morgen ein Strom von Lastern, Bettelei und Landstreicherei sich über die Straßen von Paris ergoß und jeden Abend zu seiner Quelle zurückkehrte; in diesem ungeheuren Bienenstock, in den jede Nacht alle Raubbienen des Staates mit ihrer Beute zurückkehrten, wo der ausgetretene Mönch und der liederliche Student, die Taugenichtse aller Nationen und aller Religionen, Spanier, Italiener, Deutsche, Juden und Christen, Muhamedaner und Götzendiener, bei Tag Bettler und Beutelschneider, sich zur Nachtzeit in Straßenräuber verwandelten; in diesem unermeßlichen Ankleidezimmer, wo sich damals sämmtliche Schauspieler jener ewigen Komödie aus- und anzogen, welche Raub und Mord, Diebstahl und Betrug, kurz jede Art von Laster, unausgesetzt auf dem Pflaster von Paris ausüben.

Es war ein ungeheuer weiter Platz, unregelmäßig und schlecht gepflastert, wie alle Plätze des damaligen Paris. Einzelne Feuer, um welche es von seltsamen Gruppen wimmelte, brannten da und dort. Geräusch, Geschrei, Gelächter, Stimmen von Männern, Weibern und Kindern, Gehen und Kommen, Sitzen und Stehen, Alles floß vor den Augen und Ohren bunt durcheinander. In dem flackernden, röthlichen Feuer, das einen ungewissen Schein in die Schatten der Nacht warf, sah man unbestimmte, seltsame Gestalten hin und her wandeln. Die Grenzen der Geschlechter und Gattungen schienen sich in diesem seltsamen Pandämonium zu verwischen. Man konnte einen Hund sehen, der fast ein Menschengesicht hatte, und einen Menschen, der beinahe einem Hunde glich.

Männer, Weiber, Thiere, Alter, Geschlecht, Gesundheit und Krankheit, Alles schien unter diesem Volke gemeinsames Erbtheil, Alles floß in bunter Mischung durcheinander.

Das schwache und schwankende Licht, das die Feuer von sich warfen, zeigte dem verblüfften Dichter, rings um den unermeßlichen Platz, ein häßliches Gemisch alter, halb verfallener Häuser. Das Ganze erschien ihm wie eine neue Welt, unbekannt, unerhört, mißgestaltet, phantastisch, kriechend und wimmelnd.

Der unglückselige Poet, den die drei Gauner fest hielten, den hundert andere bizarre Gesichter, gleich Masken, anstarrten, um den hundert Stimmen heulten und bellten, suchte vergebens seinen Geist zu sammeln. Der Faden seines Gedächtnisses war wie abgeschnitten; er zweifelte an der Wirklichkeit, zweifelte an seinem eigenen Dasein und sagte bei sich: wenn ich bin, ist dieses? wenn dieses ist, bin ich?

Jetzt erhob sich unter der ihn umgehenden Menge der allgemeine Ruf: »Führt ihn vor den König! führt ihn vor den König!«

Heilige Jungfrau! murmelte der Dichter, der König dieses Reichs muß ein Bock sein.

»Zum König! zum König!« wiederholten hundert Stimmen. Man riß ihn fort.

Während er über den furchtbaren Platz hinschritt, kehrte sein Bewußtsein zurück. Die Wirklichkeit, auf die er mit jedem Schritte stieß, zerstörte den furchtbaren Traum, den seine kranke Einbildungskraft geschaffen hatte. Er nahm endlich wahr, daß er noch lebe, daß er nicht an den Ufern des Styx, sondern im Straßenkoth wandle, daß nicht Dämonen, sondern Räuber und Diebe ihn geleiten, daß es nicht auf seine arme Seele, sondern auf sein Leben abgesehen sei, denn ihm fehlte das Einzige, was einen Banditen mit einem ehrlichen Manne versöhnen kann: ein voller Beutel.

Man brachte ihn in ein altes, wurmstichiges, durchlöchertes Haus. In einem großen Zimmer oder Saale standen in bunter Unordnung einige morsche Tafeln, unreinlich, von verschüttetem Wein und Bier triefend, um welche her viele bacchische Gesichter saßen, die vom Feuer der Trunkenheit glänzten. Rund umher schallendes Gelächter und unzüchtiger Gesang, Anstoßen der Kannen und Gläser, Streit und Zank. Dazwischen saßen Hunde umher und Kinder spielten auf dem Boden. In dem Kamin brannte ein großes Feuer und daneben stand ein umgestürztes Faß. Auf dem Faße sah ein Bettler. Dieser Bettler war der König, und dieses Faß sein Thron.

Man brachte den Gefangenen vor den Thron des furchtbaren Hauptes dieses gefürchteten Staats. Peter Gringoire wagte weder zu athmen, noch die Augen zum Throne des Königs der Gauner zu erheben.

Der König richtete von der Höhe seiner Tonne herab folgende Worte an den armen Patienten: »Was ist das für ein Schuft?«

Dem zitternden Dieter schien diese Stimme bekannt, er schlug schüchtern die Augen auf: es war Clopin Trouillefou, der auf dem Throne saß.

Clopin Trouillefou, mit den Zeichen seiner königlichen Würde bekleidet, hatte weder einen Lumpen mehr noch weniger am Leibe, als diesen Morgen, wo er im Saale des Justizpalastes als Bettler figurirte. Seine offene Wunde am Arme war bereits verschwunden. Er führte eine Peitsche in der Hand und trug auf dem Kopfe eine runde, oben geschlossene Mütze, die man eben so gut für einen Kinderbausch, als für eine Königskrone halten konnte, so sehr glichen beide einander. Peter Gringoire faßte, ohne zu wissen warum, einige Hoffnung, als er in dem König der Diebe den vermaledeiten Bettler im großen Saale des Justizpalastes wieder erkannte,

»Meister, gnädigster Herr, Sire, Euer Majestät … ich weiß in der That nicht, welchen Titel ich Euch beizulegen habe,« stotterte der verlegene Poet.

»Gnädigster Herr, Euer Majestät, oder Kamerad, nenne mich, wie Du willst; aber spute Dich,« erwiederte der Bettelkönig barsch. »Was hast Du zu Deiner Vertheidigung zu sagen?«

»Zu Deiner Vertheidigung! das gefällt mir nicht,« murmelte Peter Gringoire zwischen den Zähnen und fuhr stammelnd fort: »ich bin der Nämliche, der diesen Morgen…«

»Bei den Klauen des Teufels!« unterbrach ihn der König der Diebe, »Deinen Namen will ich wissen, Du Schuft, und weiter nichts. Hör‘ einmal! Du stehst vor drei mächtigen Herrschern: vor mir, Clopin Trouillefou, souveränem König des Königreichs Kauderwelsch; vor Matthias Hungadi Spicali, Herzog von Aegyptenland, und Wilhelm Rousseau, Kaiser von Galiläa. Du bist in das Königreich Kauderwelsch eingedrungen, ohne ein Unterthan des Reiches zu sein; Du hast die geheiligten Vorrechte unserer Stadt verletzt. Dafür verdienst Du Strafe, es wäre denn, daß Du in dem Reiche der sogenannten ehrlichen Leute ein Dieb, Bettler oder Landstreicher wärest. Bist Du etwas dieser Art? Rechtfertige Dich und nenne Deine Eigenschaften.«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung,« erwiederte der geängstigte Dichter, »aber ich habe nicht die Ehre, das eine oder andere der benannten drei Gewerbe zu treiben. Ich bin vielmehr der Verfasser…«

»Gut,« unterbrach ihn der Bettelkönig trocken, »so wirst Du also gehängt werden. Das ist ganz einfach, Ihr ehrbaren Herren Bürger! wie Ihr die Unsrigen bei Euch behandelt, so behandeln wir die Eurigen bei uns. Das Gesetz, das Ihr gegen die Landstreicher anwendet, wenden die Landstreicher gegen Euch an. Ist es ungerecht, so sind wir nicht Schuld daran, Es ist erquicklich, von Zeit zu Zeit ein ehrbares Bürgergesicht auf der Galgenleiter Fratzen schneiden zu sehen. Das gibt der Sache selbst einen ehrenvollen Anstrich. Mache Dich gefaßt zur letzten Reise, guter Freund, und vertheile Dein Geld und Deine Kleider nach Gefallen unter die ehrlichen Leute des Königreichs Kauderwelsch. Bedarfst Du vor Deinem seligen Hintritt noch einiger geistlichen Mummerei, so findest Du dort unten einen steinernen Herrgott, den wir zu diesem Gebrauche zu St. Peter am Schlachthause gestohlen haben. Du hast vier Minuten Zeit, ihm Deine arme Seele an den Kopf zu werfen.«

Das war ein sehr tröstlicher Zuspruch, der dem Kaiser von Galiläa wohl gefiel; denn er rief über die Tafel herüber: »Beim heiligen Peter und seinem Fischerring! unser König Clopin Trouillefou predigt wie der heilige Vater selbst.«

Als sich die Dinge so drohend gestalteten, kehrten Bewußtsein und Festigkeit in die Seele des armen Dichters zurück: »Meine Herren Kaiser und Könige,« sprach er kaltblütig, »Ihr denkt vermuthlich nicht daran, daß ich der nämliche Peter Gringoire bin, dessen moralisches Stück man diesen Morgen im großen Saale des Justizpalastes aufgeführt hat.«

»Beim Teufel, ja, Du bist es, Meister!« rief der Bettelkönig aus. »Ich war dabei, so wahr mich Gott geschaffen hat! aber, lieber Freund, weil Du uns diesen Morgen Langeweile gemacht hast, sollen wir Dich diesen Abend nicht hängen lassen? Dazu ist kein Grund vorhanden.«

Ich werde Mühe haben dem Strick zu entrinnen, dachte der Poet bei sich. Gleichwohl wollte er noch einen letzten Versuch machen, sich diesem schmählichen Tode zu entziehen.

»Ich sehe nicht ein,« sagte er, »warum man die Poeten nicht unter die Landstreicher rechnet. Aesop war ein Vagabund, Homer ein Bettler und Merkur ein Dieb.«

»Willst Du uns dumm machen mit Deinem Gesalbader?« unterbrach ihn der König der Gauner. »Mache nicht so viele Umstände, sondern laß Dich hängen!«

»Verzeiht, gnädigster Herr König der Landstreicher,« erwiederte Peter Gringoire, »es ist hier von keiner Kleinigkeit die Rede; Ihr werdet mich doch nicht verurtheilen, ohne mich zuvor gehört zu haben.«

Der gerechte König des Königreichs Kauderwelsch ließ sich diese Einwendung zu Herzen gehen. Se. Majestät beriefen den Herzog von Aegypten, den Kaiser von Galiläa und den gesammten Staatsrath ihres Reiches vor sich. Diese hochansehnliche Versammlung bildete einen Halbkreis um das Faß, von welchem herab Clopin Trouillefou das Königreich der Beutelschneider regierte. In der Mitte dieses furchtbaren Kreises stand der arme Peter Gringoire als Delinquent. Clopin Trouillefou, der Doge dieses Senats, der König dieses Oberhauses, der Pabst dieses Conclave, thronte auf seinem Fasse in furchtbarer Majestät.

»Hör‘ einmal,« sagte er zu dem Dichter, »ich sehe nicht ein, warum man Dich nicht hängen sollte. Es scheint Dir zwar unangenehm zu sein, und ich will es gerne glauben, denn ihr ehrlichen Bürger seid nicht daran gewöhnt, ihr macht Euch eine viel zu schauerliche Vorstellung von der Sache. Im Uebrigen wollen wir Dir nicht übel, und es gibt ein Mittel, Deinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Willst Du ein Bürger des Königreichs Kauderwelsch werden?«

Peter Gringoire ergriff unbedenklich diesen letzten Rettungsbalken und erwiederte hastig: »Ob ich will? Mit Freuden will ich!«

»Du willigst also ein, in die Reihen der Leute von der Blendlaterne zu treten?«

»Von der Blendlaterne, jawohl,« wiederholte Peter Gringoire mechanisch.

»Du erkennst Dich als Mitglied der Freibürgergesellschaft an?«

»Der Freibürgergesellschaft,« wiederholte der Dichter.

»Unterthan des Königreichs Kauderwelsch?«

»Unterthan des Königreichs Kauderwelsch.«

»Landstreicher?«

»Landstreicher.«

»Mit Leib und Seele?«

»Mit Leib und Seele.«

»Sehr brav,« fuhr der Bettelkönig fort, »aber ich muß Dir bemerken, daß Du darum nicht minder gehängt werden wirst.«

»Teufel auch!« rief der Poet erschrocken und fuhr drei Schritte zurück.

»Nur,« sprach Clopin Trouillesou weiter, »wirst Du später gehängt werden, mit mehr Feierlichkeit, auf Kosten der guten Stadt Paris, an einen schönen steinernen Galgen, und durch die ehrlichen Leute. Das ist allerdings ein Trost.«

»Ganz gewiß,« sagte Peter Gringoire.

»Du erlangst noch andere Vortheile. Als Freibürger hast Du kein Pflastergeld, keine Armentaxe, kein Laternengeld zu bezahlen, womit die ehrlichen Leute der Stadt Paris belegt sind.«

»Amen!« sprach der Poet. »Ich bin Landstreicher, Freibürger, Unterthan des Königreichs Kauderwelsch, Blendlaterne, Alles, was Eure Majestät aus mir machen will, und ich war es im Voraus schon, gnädigster Herr König, Euch zu dienen, denn ich bin Philosoph, et omnia in philosophia, omnes in philosopho continentur, wie Ihr selbst wißt.«

Der Bettelkönig runzelte die Stirne und erwiederte zornig: »Für wen hältst Du mich, Freund, daß Du mir da in Deiner ungarischen Judensprache vorleierst? Ich kann nicht hebräisch, und wer ein Bandit ist, ist noch lange kein Jude. Ich stehle sogar nicht mehr, ich stehe höher, ich morde.«

»Verzeihung, gnädigster Herr König,« versetzte demüthig der Poet, »es ist nicht hebräisch, sondern lateinisch.«

»Halt’s Maul,« erwiederte zornig der Bettelkönig »ich sage Dir noch einmal, daß ich kein Jude bin, und wenn Du nicht schweigst, so lasse ich Dich hängen.«

Peter Gringoire schwieg weislich, worauf der König ruhig fortfuhr: »Du willst also ein Unterthan unseres Reiches werden, Du Spitzbube?«

»Allerdings,« antwortete der Poet.

»Der Wille allein thut es nicht,« sprach der König, »der schafft keine Zwiebel weiter in die Suppe und taugt zu nichts, als in’s Paradies zu kommen; das Paradies und das Königreich Kauderwelsch sind aber zwei verschiedene Dinge. Im Paradies ist gut faullenzen, aber im Königreich Kauderwelsch muß man zu Etwas tauglich sein, und deßhalb mußt Du vor allen Dingen dem Gliedermann die Taschen leeren.«

»Alles will ich leeren, was Euch beliebt, Herr König,« entgegnete der Poet.

Auf ein Zeichen des Königs wurde ein tragbarer hölzerner Galgen herbeigebracht.

»Sie werden doch nicht gar des Teufels sein?« sprach Peter Gringoire mit innerlicher Angst.

Ein Glockengeläute, das er in diesem Augenblicke hörte, machte seiner Furcht ein Ende! es war der Gliedermann, den man am Strick des Galgens befestigte. Die tausend Glöckchen, mit denen er bedeckt war, hallten noch nach, so lange die Schwingung des Stricks dauerte, bis sie allmählig ganz schwiegen.

Hierauf deutete der Bettelkönig auf einen alten schwankenden Schemel, der unterhalb des Gliedermanns stand, und sprach zu Peter Gringoire: »Steig da hinauf, guter Freund.«

»Tod und Hölle!« rief der Dichter, »da muß ich den Hals brechen. Euer Schemel hinkt, wie ein Distichon von Martial; er hat einen Fuß Hexameter und einen Fuß Pentameter.«

»Steig hinauf!« wiederholte Clopin Trouillefou.

Jetzt faßte sich der Dichter ein Herz und gelangte, nicht ohne einige Schwankungen des Hauptes und der Arme, auf die Höhe des Schemels, wo er den Centralpunkt seines Gleichgewichts wieder fand.

»Jetzt,« fuhr der König fort, »drehe Deinen rechten Fuß um Dein linkes Bein und richte Dich auf der Spitze des linken Fußes in die Höhe.«

»Gnädigster Herr,« versetzte der Poet, »Ihr wollt also durchaus, daß ich den Hals breche?«

Clopin Trouillesou schüttelte den Kopf und sprach: »Höre, guter Freund, Du plauderst mir zu viel. Ich will Dir mit zwei Worten sagen, um was es sich hier handelt. Du richtest Dich, wie ich Dir schon gesagt, auf der linken Zehenspitze in die Höhe, um die Tasche des Gliedermanns mit ausgestreckter Hand erreichen zu können, Du ziehst den Beutel heraus, der darin steckt; und wenn dieses vollbracht ist, ohne daß der Ton einer Glocke hörbar wird, so hast Du wohlgethan und bist ein Unterthan unseres Königreichs Kauderwelsch. Dann bleibt uns nichts mehr übrig, als Dich acht Tage lang tüchtig durchzuprügeln.«

»Und wenn sich eine Glocke bewegt?« fragte unser Dichter.

»Dann wirst Du gehängt. Verstehst Du?«

»Ganz und gar nicht,« antwortete Peter Gringoire in der Angst seines Herzens.

»So höre noch einmal: Du ziehst dem Gliedermann die Börse aus der Tasche, und wenn dabei ein einziges Glöckchen sich hören läßt, so wirst Du gehängt. Verstehst Du das?«

»Wohl, ich verstehe es jetzt. Und hernach?«

»Nimmst Du die Börse, ohne daß man eine Glocke hört, so bist Du Unterthan unseres Reiches und wirst acht Tage hintereinander tüchtig durchgeprügelt. Verstehst Du es jetzt?«

»Nein, Herr König, das verstehe ich nicht. Welchen Vortheil habe ich denn? In dem einen Falle gehängt, in dem andern halbtodt geschlagen!«

»Und unser Unterthan, Unterthan des Königreichs Kauderwelsch, ist das nichts?« fragte mit ernster Stimme Clopin Trouillefou, der König der Diebe. »Wirst Du geschlagen, so geschieht es bloß zu Deinem eigenen Besten, damit Du Dich gegen Schläge abhärtest.«

»Schönen Dank!« erwiederte der Poet.

»Jetzt spute Dich,« sprach der König ungeduldig und stampfte mit dem Fuß auf seinen Thron, »frisch an’s Werk, und wenn eine einzige Glocke läutet, so hängt man Dich an den Platz des Gliedermanns.«

Der königliche Staatsrath und die Zuschauer bei diesem offenen Gericht klatschten den Worten des Königs Beifall und reihten sich unter wildem Gelächter um den Galgen. Es blieb nun unserem Patienten nichts Anderes übrig, als das große Werk zu vollbringen. Er betrachtete mit angsterfüllter Seele den Gliedermann, und die tausend Glöckchen, die an ihm hingen, mit ihren kleinen kupfernen Zungen, erschienen ihm wie lauter Nattern mit offenem Munde, jeden Augenblick bereit, zu pfeifen und zu beißen.

Oh! sprach er leise für sich, soll mein Leben an der geringsten Schwingung des kleinsten dieser Glöckchen hängen? Oh! fügte er mit gefalteten Händen hinzu, ihr Glocken läutet nicht, ihr Schlegel, rührt euch nicht!

Noch einmal machte er einen Versuch auf die Barmherzigkeit des Bettelkönigs.

»Und wenn,« fragte er, »ein plötzlicher Windstoß käme?«

»So wirst Du gehängt,« erwiederte Clopin Trouillefou ohne Zaudern.

Da nun alle Mittel, aus diesem Labyrinth zu gelangen, erschöpft waren, ergab sich unser Dichter in sein unabwendbares Schicksal, drehte den rechten Fuß um das linke Bein, richtete sich auf der linken Zehenspitze in die Höhe und streckte den Arm aus; in dem Augenblicke aber, wo er den Gliedermann berührte, schwankte sein Körper, der nur noch auf einem Fuße stand, auf dem Schemel, der nur drei Füße hatte; mechanisch wollte er sich an dem Gliedermann halten, verlor das Gleichgewicht und stürzte schwerfällig zu Boden, während der Ton von tausend Glocken in seinen Ohren wiederhallte.

»Verflucht!« rief er im Fallen, und blieb, das Gesicht der Erde zugekehrt, wie todt auf dem Boden liegen. In diesem schrecklichen Augenblicke gellte der Schall der Glocken todverkündend in seinen Ohren; er hörte das teuflische Gelächter der diebischen Rotte und vernahm des Bettelkönigs Stimme: »Hebt mir diesen Schuft auf und hängt ihn an den Galgen!«

Peter Gringoire erhob sich vom Boden, und als er aufblickte, sah er, daß man bereits den Gliedermann abgenommen hatte, um ihm Platz zu machen.

Man ließ ihn auf den Schemel steigen, der König in eigener Person legte ihm den Strick um den Hals, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sprach: »Gott befohlen, mein Herzenssohn! Du kannst jetzt dem Stricke nimmer entgehen, und wenn Du auch mit dem Magen des Pabstes verdautest.«

Das Wort Gnade! erstarb auf den Lippen unseres armen Dichters; er blickte trostlos um sich her, denn auf keinem dieser grinsenden Gesichter erblickte er einen Funken von Mitgefühl.

»Bellevigne de l’Etoile,« sprach der König zu einem Vagabunden von riesenhafter Gestalt, »steig auf den Querbalken.«

Schnell und gewandt stieg der Riese hinauf, und mit Entsetzen sah ihn Peter Gringoire über seinem Haupte schweben.

»Jetzt,« fuhr Clopin Trouillefou fort, »sobald ich in die Hände klatsche, wirfst Du, Andry le Rouge, den Schemel um, Du, François Chante-Prune, hängst Dich an die Füße des armen Sünders, und Du, Bellevigne de l’Etoile, steigst auf seine Schultern, und alle Drei zumal, hört Ihr’s?«

Dem armen Peter Gringoire lief es eiskalt über den Rücken hinab.

»Seid Ihr fertig?« fragte der Bettelkönig. Der letzte Augenblick des armen Dichters war nahe.

»Seid Ihr fertig?« wiederholte Clopin Trouillefou und schickte sich an, mit den Händen zu klatschen. Noch eine Sekunde, und es war um unsern Poeten geschehen.

Plötzlich hielt Clopin Trouillefou, wie von einem schnellen Gedanken ergriffen, inne,

»Halt!« sagte er, »fast hätte ich vergessen… Es ist unter uns gebräuchlich, daß wir keinen Mann hängen, ohne zuvor bei den Weibern Umfrage zu halten, ob ihn eine von ihnen will. Kamerad, das ist Dein letztes Rettungsmittel, ein Bettelmensch zum Weibe oder den Strick.«

Peter Gringoire schöpfte frischen Athem. Zum zweitenmal, seit einer halben Stunde, kehrte er in’s Leben zurück. Es war aber noch nicht allzusehr darauf zu bauen.

»Holla!« schrie Clopin Trouillefou mit lauter Stimme, »holla! Ihr Weiber und Weiblein, ist unter Euch irgend eine alte oder junge Hexe, die diesen Schlingel zum Manne will? Holla! Kommt und schaut! Ein Mann umsonst! Wer will ihn?«

Unser Peter Gringoire, in seinem kläglichen Zustande, bot nicht den reizendsten Anblick dar; auch schienen die Damen des Königreichs Kauderwelsch den Antrag ihres gnädigsten Souveräns wenig zu beachten.

»Nein! nein!« antworteten viele Stimmen, »knüpft ihn lieber auf, dann haben doch Alle einen Genuß davon!«

Ein Trio dieser Damen trat jedoch aus dem Haufen, den Brautwerber zu beschauen. Die Erste derselben, ein dickes Bettelmensch mit viereckigem Gesicht, musterte ihn und seinen abgeschabten Anzug. Sie warf das Maul auf und sprach: »Alte Wetterfahne! wo hast Du Deinen Mantel?«

»Ich habe ihn verloren,« erwiederte mit kläglicher Stimme der Poet.

»Deinen Hut?«

»Man hat mir ihn genommen.«

»Deine Börse?«

»Es ist kein Pfennig mehr darin.«

»So laß Dich hängen und bedanke Dich schön dafür!« sagte die Bettlerin und wendete ihm den Rücken.

Die Zweite, alt, runzlig, von Rauch und Schmutz geschwärzt und so häßlich, daß sie selbst in dem Hofe der Wunder Aufsehen machte, umschlich ihn wie eine Katze, betrachtete ihn von allen Seiten und entfernte sich dann mit den Worten: »den dürren Häring mag ich nicht!«

Die Dritte war ein junges Mädchen, ziemlich frisch und nicht allzuhäßlich.

»Rette mich!« rief ihr der arme Teufel mit gedämpfter Stimme zu.

Sie betrachtete ihn einen Augenblick mit anscheinendem Mitleid, schlug die Augen nieder, spielte an ihrer Schürze und war unschlüssig.

Peter Gringoire folgte allen diesen Bewegungen, die ihm für Leben und Tod entscheidend waren, mit gierigen Blicken.

»Nein!« sprach endlich das Mädchen, »nein! Guillaume Longue-Joue würde mich prügeln!« Mit diesen Worten trat sie in den Haufen zurück.

»Kamerad,« sprach Clopin Trouillefou, »Du hast Unglück!«

Hierauf erhob sich der Bettelkönig aufrecht auf seinem Throne und rief mit der Stimme eines Ausrufers: »Wer will ihn haben? Ist Niemand da? Wer will ihn haben? Zum ersten… zweiten… zum… zum… drittenmal!«

Bei diesen Worten machte er einen Knix gegen den Galgen und sagte: »Zum dritten- und letztenmal!«

Bellevigne de l’Etoile, Andry le Rouge und François Chante-Prune näherten sich dem Patienten.

In diesem Augenblicke erhob sich der allgemeine Ruf: »die Esmeralda! die Esmeralda!«

Peter Gringoire schauderte zusammen und wendete das Haupt nach der Seite, woher der Ruf kam. Die Menge öffnete sich, und man erblickte die reizende Gestalt des schönen Zigeunermädchens.

Die Esmeralda! seufzte der arme Poet, dem dieses magische Wort alle Erinnerungen des vergangenen Tages ins Gedächtniß zurückführte.

Dieses seltsame Geschöpf schien bis in den Hof der Wunder die Herrschaft ihres Liebreizes zu erstrecken. Männer und Weiber bildeten eine Reihe, durch welche sie leichten Schrittes hinschwebte, und ihre finsteren Gesichter erheiterten sich bei dem Anblick dieses lieblichen Geschöpfes.

Sie trat auf den armen Peter Gringoire zu, der mehr todt als lebendig war, betrachtete ihn einen Augenblick stillschweigend und sprach dann ernst zu Clopin Trouillefou: »Du willst diesen Menschen hängen lassen?«

»Ja, Schwester,« erwiederte der Bettelkönig, »es wäre denn, daß Du ihn zum Manne nähmest.«

»Ich nehme ihn,« sagte sie.

Als unser Dichter dies hörte, glaubte er steif und fest, daß es ihm seit diesem Morgen bloß geträumt habe, und daß er jetzt aus dem Schlaf erwache.

Man nahm ihm den Strick ab und ließ ihn vom Schemel steigen. Er war so erschöpft, daß er sich setzen mußte.

Der Herzog von Aegypten brachte, ohne ein Wort zu sagen, einen irdenen Krug. Das Zigeunermädchen bot ihn dem Dichter mit den Worten dar: »Wirf ihn zu Boden!«

Der Krug zerbrach in vier Stücke.

»Bruder,« sprach jetzt der Herzog von Aegypten, indem er beiden die Hände auf die Stirne legte, »sie ist Dein Weib; Schwester, er ist Dein Mann, auf vier Jahre.«

X.

Nach wenigen Minuten befand sich unser Dichter in einem kleinen gewölbten Zimmer, das gegen den Zugang der Luft wohl verwahrt und wohl geheizt war, und saß vor einem Tische, der zwar noch nicht besetzt war, aber die Aussicht auf einen an der Wand hängenden Speiseschrank darbot, aus dem man nur für die Tafel entnehmen durfte; ein gutes Bett stand in der Ecke, und er befand sich unter vier Augen mit einem schönen Mädchen. Seliger Peter Gringoire! Dieser Wechsel der Dinge glich einer wahren Verzauberung. Unser Poet begann im Ernst sich für eine Art irrenden Ritters zu halten, an dessen Person die Feen und Zauberer guten und schlimmen Antheil nehmen. Er blickte von Zeit zu Zeit um sich, um den mit zwei geflügelten Genien bespannten Feenwagen zu suchen, der allein vermocht hatte, ihn mit so reißender Schnelligkeit aus dem Tartarus in den Olymp zu bringen. Dann, um diesen magischen Schwung abzukühlen und sich in die Wirklichkeit zurückzuversetzen, sah er wieder seinen abgeschabten, zerrissenen Rock an, und dies war der einzige Faden, an dem seine schwankende Vernunft noch festhielt.

Das schöne Zigeunermädchen schien gar nicht auf ihn zu achten; sie ging, kam, verrichtete Dieses und Jenes, plauderte mit ihrer Ziege. Endlich setzte sie sich an den Tisch, und unser Dichter konnte sie mit Muße betrachten.

Je mehr und mehr in seine Träumereien versinkend und nur von Zeit zu Zeit einen Seitenblick auf das Mädchen werfend, sprach er zu sich selbst: Das ist also die Esmeralda! Fürwahr ein himmlisches Geschöpf! Sie tanzt zwar auf der Straße, aber gleichviel! Sie ist es, die heute meinem Mysterium den Garaus gemacht hat, sie ist es, die diesen Abend mein Leben gerettet hat. Mein böser Genius! Mein guter Engel! In der That ein schönes Weib, und die ganz rasend in mich verliebt sein muß, da sie mich auf solche Weise geheirathet hat! Potz tausend! fügte er, sich besinnend hinzu, ich bin also ihr Mann, obgleich ich nicht recht weiß, wie das zugegangen ist.

Diese Idee im Kopfe und in den Augen, näherte er sich dem Mädchen mit einer so legitimen Galanterie, daß sie vor seinen Blicken zurückwich,

»Was willst Du von mir?« fragte sie.

»Kannst Du fragen, angebetete Esmeralda?« antwortete Peter Gringoire mit einem so leidenschaftlichen Ausdrucke, daß er sich über sich selbst wundern mußte.

Das Zigeunermädchen öffnete ihre großen, schwarzen Augen und sprach: »Ich weiß nicht, was Du damit sagen willst.«

»Nun, wahrlich!« erwiederte der Poet, der immer hitziger wurde und zu bedenken anfing, daß er am Ende doch nur eine Tugend, wie sie im Hofe der Wunder zu finden waren, vor sich habe, »bin ich nicht Dein, bist Du nicht mein, mein süßes Mädchen?«

Mit diesen Worten umfaßte er sie ohne Umstände. Das Mieder der Zigeunerin glitschte in seiner Hand, wie die Haut eines Aals, den man abzieht. Das Mädchen sprang wie eine Gemse von einem Ende des Zimmers zum andern, einen kleinen Dolch in der Hand, stolz und zürnend, mit aufgeworfenen Lippen und offenen Nasenflügeln, mit vor Scham und Wuth brennenden Wangen und Augen, die Blitze von sich schleuderten. Zu gleicher Zeit stellte sich die Ziege auf die Hinterbeine, blöckte und bedrohte unsern Dichter mit ihren spitzigen Hörnern. Alles dies war das Werk eines Augenblicks.

Unser Philosoph war wie verzaubert und festgebannt, und betrachtete mit stieren Blicken bald die Ziege, bald das Zigeunermädchen. Heilige Jungfrau, sprach er für sich, die beiden muß der Teufel gemacht haben!

»Du bist ein kecker Bursche!« sprach die Zigeunerin zu ihm.

»Aber warum, in’s Teufels Namen, hast Du mich denn geheirathet?«

»Sollte ich Dich hängen lassen?«

»Also,« versetzte der in seinen verliebten Hoffnungen getäuschte Poet, »hattest Du keinen andern Gedanken dabei, als mich vom Galgen zu retten?«

»Welchen anderen Gedanken hätte ich denn haben sollen?«

Peter Gringoire biß sich vor Verdruß in die Lippen und sagte: »Ich bin also noch nicht so sieghaft in Cupido’s Reiche, wie ich glaubte; aber wozu hat es denn jetzt genützt, den armen Krug zu zerbrechen?«

Inzwischen waren die Hörner der Ziege und Esmeralda’s Dolch noch immer zur Vertheidigung gerüstet.

Als unser Philosoph seine Bemühungen fruchtlos sah, ergab er sich mit stoischer Gleichmüthigkeit in den Willen des Schicksals, gedachte in seinem Herzen, daß er ein hungriger Poet sei, und sprach: »Ich schwöre Dir, daß ich Dich ohne Deinen Willen mit keinem Finger berühren will, aber gib mir etwas zu Nacht zu essen.«

Peter Gringoire war ein Philosoph in der Liebe, wie in allen anderen Dingen! er konnte kapituliren und temporisiren, und ein gutes Nachtessen unter vier Augen schien ihm, besonders wenn er Hunger hatte, ein herrlicher Zwischenakt zwischen dem Prolog und der Entwicklung eines verliebten Abenteuers.

Das Zigeunermädchen antwortete nicht, sie warf den Mund spöttisch auf, hob das Haupt, brach in ein Gelächter aus, und plötzlich war der kleine Dolch verschwunden, ohne daß unser Dichter sehen konnte, wohin die Biene ihren Stachel versteckte.

Gleich darauf ward die Tafel mit Roggenbrod, einem Stück Speck, einigen gebratenen Aepfeln und einem Kruge Bier besetzt.

Unser Dichter machte sich mit Heißhunger darüber her, und wenn man das Geklapper von Messer und Gabel hörte, die er mit reißender Schnelligkeit handhabte, so hätte man glauben können, die Liebe sei ihm in den Magen gefahren.

Das junge Mädchen, das neben ihm saß, sah ihm stillschweigend zu und war sichtbarlich mit einem andern Gedanken beschäftigt, der bisweilen ein stilles Lächeln auf ihre Lippen brachte, während ihre zarte Hand das kluge Haupt der Ziege streichelte, welche sich zwischen ihre Kniee gepreßt hatte.

Ein gelbes Wachslicht beleuchtete diese Scene der Gefräßigkeit und des träumerischen Nachsinnens.

Nachdem die dringendsten Forderungen des Magens befriedigt waren, schämte sich unser Dichter, daß er von dem ganzen Mahl nur einen einzigen Apfel zurückgelassen habe.

»Willst Du denn gar nichts essen?« fragte er, freilich allzu spät, das Mädchen.

Sie antwortete mit einem verneinenden Kopfnicken und blickte gedankenvoll zur Decke des Zimmers hinauf.

An was denkt sie wohl? sagte Peter Gringoire für sich und folgte der Richtung ihrer Blicke. Das Fratzengesicht des steinernen Zwergs da, der in der Wölbung eingegraben ist, kann doch nichts so Anziehendes für sie haben. Beim Teufel! mit Dem halte ich die Vergleichung noch aus!

Er rief ihr laut zu: »Esmeralda!«

Sie schien ihn nicht zu hören.

Er rief noch lauter: »Esmeralda!«

Vergebens, ihr Geist war anderswo, und Peter Gringoire’s Stimme hatte nicht die Macht, ihn zurückzurufen. Glücklicherweise nahm sich die Ziege der Sache an; sie zupfte ihre Gebieterin sanft am Aermel.

»Was willst du, Djali?« fragte Esmeralda, wie plötzlich aus einem Traume erwachend.

»Sie wird Hunger haben,« antwortete der Poet im Namen der Ziege.

Esmeralda bröckelte Brod und gab es dem Thier in ihrer hohlen Hand zu fressen.

Damit das Mädchen nicht wieder in ihre Träumereien versinke, wagte unser Peter Gringoire eine kitzliche Frage: »Du willst mich also nicht zu Deinem Manne haben?«

Esmeralda fixirte ihn mit den Augen und sagte trocken: »Nein!«

»Oder zu Deinem Liebhaber?«

Sie warf den Mund höhnisch auf und sagte: »Nein!«

»Auch nicht zu Deinem Freunde?«

Sie sah ihm fest in die Augen und erwiederte nach augenblicklichem Nachdenken: »Vielleicht!«

Dieses Vielleicht, das den Philosophen so theuer ist, ermuthigte unseren Dichter: »Weißt Du,« fragte er, »was Freundschaft ist?«

»Ja,« erwiederte das Mädchen, »sie ist Bruder und Schwester, zwei Seelen, die sich berühren, ohne in einander zu fließen, zwei Finger einer Hand.«

»Und die Liebe?« fuhr der Dichter fort.

»Die Liebe!« wiederholte sie, und ihre Stimme zitterte und ihr Auge strahlte, »die Liebe macht aus zwei Wesen eines, einen Mann und ein Weib, die sich in einen Engel auflösen, das ist der Himmel.«

Die Straßentänzerin bot in dem Augenblicke, als sie diese Worte sagte, einen Anblick himmlischer Schönheit dar, die unseren Dichter um so mehr bezauberte, da sie in vollkommenem Einklang mit dem fast orientalischen Schwung ihrer Worte stand. Ihre rosigen Lippen waren halb geöffnet, ihre reine, freie Stirne umwölkte sich je und je nach dem Gange ihrer Gedanken, wie ein Spiegelglas vom Hauche getrübt wird, und unter ihren zu Boden gehefteten schwarzen Augbraunen schimmerte ein unauslöschbares Licht hervor, das ihrem Profil jene ideale Lieblichkeit gab, welche inzwischen Raphael auf dem Punkt des mystischen Durchschnitts der Jungfräulichkeit, der Mütterlichkeit und der Göttlichkeit wiedergefunden hat.

Der Dichter fuhr zu fragen fort: »Wie muß man denn beschaffen sein, um Dir zu gefallen?«

»Man muß ein Mann sein.«

»Und ich, was bin ich denn?«

»Ein Mann hat den Helm auf dem Haupt, das Schwert in der Faust und goldene Sporen an den Fersen.«

»Gut,« sprach unser Peter, »ohne Roß kein Mann! Liebst Du irgend Einen?«

»Lieben?«

»Ja, lieben!«

Sie dachte einen Augenblick nach und sagte dann mit eigentümlichem Ausdruck: »Ich werde das bald wissen.«

»Und warum nicht diesen Abend schon?« versetzte der zärtliche Poet. »Und warum nicht mich?«

Sie warf ihm einen ernsten Blick zu und sagte: »Ich liebe nur einen Mann, der mich zu schützen vermag.«

Peter Gringoire erröthete, denn augenscheinlich spielte sie auf den geringen Beistand an, den er ihr vor wenigen Stunden in einer bedenklichen Lage zu leisten vermochte. Plötzlich erinnerte er sich der Abenteuer dieser Nacht, schlug sich vor die Stirne und sprach: »Wie dumm! Eigentlich hätte ich damit anfangen sollen: ›Wie bist Du denn den Klauen des garstigen Zwergs entkommen?‹«

Bei dieser Frage schauderte Esmeralda zusammen: »O, der scheußliche Zwerg!« sagte sie und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

»Scheußlich ist er,« fuhr der Poet fort, »aber sage mir, wie Du ihm entkommen bist?«

Esmeralda lächelte, seufzte und schwieg.

»Weißt Du, warum er Dir gefolgt ist?« fuhr Peter Gringoire fort, um auf einem Umweg auf seine Frage zurückzukommen.

»Ich weiß es nicht,« erwiederte sie und fügte lebhaft hinzu: »Aber Du selbst, warum bist Du mir nachgefolgt?«

»Meiner Treu!« antwortete der ehrliche Peter, »ich weiß es auch nicht.«

Es trat eine Pause ein. Der Dichter klimperte mit dem Messer auf dem Tisch, und die Zigeunerin streichelte ihre Ziege.

»Du hast da ein schönes Thier,« sagte Peter Gringoire.

»Es ist meine Schwester.«

»Warum nennt man Dich Esmeralda?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie zog aus ihrem Busen ein längliches Säckchen, das an einer Kette um ihren Hals hing; dieses Säckchen hatte eine starke Ausdünstung von Campher, war mit grüner Seide bedeckt, und in seiner Mitte hatte es ein großes grünes Glas, das einen Smaragd (émeraude) vorstellte. »Es ist vielleicht deßhalb,« sagte sie, indem sie ihm das Säckchen hinhielt.

Peter Gringoire wollte es mit der Hand fassen.

Sie zog es hastig zurück: »Rühre es nicht an, es ist verzaubert. Du würdest dem Zauber schaden, oder der Zauber Dir.«

»Wer hat es Dir gegeben?« fragte der neugierige Poet.

Sie legte einen Finger auf den Mund und verbarg das Amulet in ihrem Busen.

»Was heißt das Wort: Esmeralda?«

»Ich weiß es nicht!«

»Welcher Sprache gehört es an?«

»Es ist ägyptisch, glaube ich.«

»Das dachte ich doch, Du bist nicht aus Frankreich?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie alt warst Du, als Du nach Frankreich kamst?«

»Ganz klein.«

»Wann kamst Du nach Paris?«

»Im vergangenen Jahre. Als wir durch die päbstliche Pforte einzogen, sah ich die röthliche Grasmücke durch die Luft streichen; es war Ende August und ich sagte: Wir werden einen strengen Winter bekommen.«

»Das war er auch,« rief der Poet aus, »und ich habe mir mehr als einmal in die Hände gehaucht. Du besitzest also die Gabe der Weissagung?«

»Nein!«

»Ist der Mann, den Ihr den Herzog von Aegypten nennt, das Haupt Eures Stammes?«

»Ja!«

»Nun, und dieser Nämliche hat uns verheirathet,« sagte der Poet und warf einen schüchternen Blick auf die Schöne.

Sie machte die ihr eigene höhnische Geberde: »Ich weiß nicht einmal Deinen Namen!«

»Oh, wenn es nur daran liegt! Peter Gringoire, Dir zu dienen!«

»Da weiß ich einen schönern,« sagte sie,

»Verdammte Hexe!« fuhr der Poet fort, »doch gleichviel, ich will nicht zornig werden. Vielleicht lernst Du mich lieben, wenn Du mich erst besser kennst; und überhaupt will ich Dir meine Geschichte erzählen.«

»Wisse also, daß ich Peter Gringoire heiße und der Sohn eines Pächters aus der Amtei Gonesse bin. Als man vor zwanzig Jahren Paris belagerte, haben die Burgunder meinen Vater gehängt, und die Picarden meiner Mutter den Bauch aufgeschnitten. Im sechsten Jahre also, denn ich bin jetzt sechsundzwanzig Jahre alt, lief ich als eine vater- und mutterlose Waise mit bloßen Füßen auf dem Pflaster von Paris. Wie ich die Zeit vom sechsten bis zum sechzehnten Jahre zugebracht habe, weiß ich mich kaum mehr zu erinnern. Hier warf mir eine Obsthändlerin eine Pflaume, dort eine Gemüsehändlerin einen halbverfaulten Kohlkopf zu; Abends ließ ich mich von der Polizei auffangen, die mich über Nacht einsteckte, und im Gefängniß fand ich einen Bund Stroh zum Liegen. So wurde ich groß und blieb mager, wie Du siehst. Im sechzehnten Jahre dachte ich daran, Etwas zu werden. Ich machte allerlei Versuche: ich wurde Soldat, aber es fehlte mir an Muth; ich wurde Mönch, aber ich war nicht fromm genug; ich wurde Zimmermann, da fehlte es mir an Stärke; ich wollte ein Schulmeister werden, aber ich konnte weder lesen noch schreiben. Nach einiger Zeit nahm ich wahr, daß es mir zu Allem an Etwas fehlte, und da ich einsah, daß ich zu Nichts tauglich sei, so wurde ich ein Dichter. Man kann Poet und Vagabund zugleich sein. Zu meinem Glück lernte ich eines Tages Don Claude Frollo, den hochwürdigen Archidiakonus der Liebfrauenkirche, kennen; er nahm Antheil an mir, und ihm danke ich es, daß ich jetzt ein wahrer Gelehrter bin, der das Latein von Cicero’s Officien an bis zum Leichengesang der hochwürdigen Cölestiner aus dem Grunde versteht. Ich bin der Verfasser des Mysteriums, das man heute, unter großem Zulauf und Beifall des Volks, im großen überfüllten Saale des Justizpalastes aufgeführt hat. Ich habe auch ein Buch von sechshundert Seiten über den wunderbaren Kometen des Jahres 1456 geschrieben, worüber ein Mensch närrisch geworden ist. Ich verstehe mich auch ein wenig auf das Geschütz und habe an dem großen Mörser geholfen, der, als man den ersten Versuch damit machte, auf der Brücke von Charenton zersprungen ist und achtzig Personen getödtet hat. Du siehst also, daß ich ein Mann bin, den man brauchen kann und demnach keine so üble Partie für Dich wäre. Ich verstehe auch allerlei Kunststücke, die Deiner Ziege wohl zu Statten kommen werden, z. B. den Bischof von Paris nachzumachen, und derlei Dinge. Auch werde ich ein schönes Stück Geld für mein Mysterium einnehmen, wenn man mich anders bezahlt. Somit bin ich zu Deinem Befehl, meine Person, mein Geist, meine Wissenschaft, Alles nach Deinem Gefallen, züchtig oder lustig, Mann und Frau, wenn Du willst, oder Bruder und Schwester, wenn es Dir so lieber ist.«

Der Philosoph schwieg und wartete auf den Erfolg, den seiner Meinung nach seine wohlgesetzte Rede unfehlbar hervorgebracht haben mußte. Das Mädchen hob ihre schwarzen Augen vom Boden und sagte halb träumend: Phöbus! Hierauf wandte sie sich dem Dichter zu mit den Worten: »Phöbus, was bedeutet das?«

Peter Gringoire, der gerne seine Gelehrsamkeit glänzen ließ, antwortete auf der Stelle: »Das ist ein lateinisches Wort und bedeutet Sonne.«

»Sonne!« wiederholte sie.

»Es ist der Name eines schönen Bogenschützen, der ein Gott war,« fügte der Dichter hinzu.

»Ein Gott!« wiederholte Esmeralda, und in ihrem Tone lag etwas Nachdenkliches und Leidenschaftliches.

In diesem Augenblicke entfiel ihr eines ihrer Armbänder. Der galante Poet bückte sich hastig darnach. Als er den Kopf wieder erhob, war das Mädchen mit der Ziege verschwunden, und er hörte von Außen den Riegel schließen.

»Hat sie mir doch wenigstens ein Bett dagelassen?« sagte unser Philosoph.

Er machte die Runde im Zimmer und fand nur eine nicht sehr lange hölzerne Kiste, auf deren Deckel hölzerne Figuren in erhabener Arbeit ausgeschnitten waren. Als er sich auf derselben zum Schlaf ausstreckte, hatte er ungefähr die nämliche Empfindung, wie der Riese Mikromegas, als er die Alpen in ihrer ganzen Länge zur Ruhestätte wählte. Nun, sprach er mit Ergebung, man muß sich begnügen. Es ist freilich eine sonderbare Brautnacht. Schade, es lag in dieser Verheiratung mittelst eines zerbrochenen Kruges etwas Ungekünsteltes und Antediluvianisches, das mir wohlgefiel.

XI.

Sechzehn Jahre vor dem Anfang dieser Geschichte war am Sonntag Quasimodo in der Liebfrauenkirche zu Paris, auf dem Brett vor dem Bilde des heiligen Christoph, ein lebendes Geschöpf ausgesetzt worden. An diesem Platze pflegte man die Findelkinder auszusetzen, bis ein barmherziger Samariter kam, der sie zu sich nahm. Daneben stand ein Opferbecken, in das man Almosen für die verlassenen Geschöpfe warf.

Das lebende Wesen, das am Sonntag Quasimodo des Jahres 1467 auf diesem Brette lag, schien die Neugierde der Gruppe, welche sich um dasselbe gesammelt hatte, in hohem Grade zu erregen. Sie gehörte meist dem schönen Geschlechte an, bestand jedoch fast aus lauter alten Weibern.

In der vordersten Reihe standen vier solche Weiber, die ihrer Kleidung nach irgend einer frommen Gesellschaft angehörten. »Was ist das, Schwester?« fragte die eine, indem sie auf das kleine Geschöpf deutete, das, durch den Anblick so vieler fremden Gesichter erschreckt, sich auf dem Brett unruhig hin und her wälzte.

»Ich verstehe mich nicht auf Kinder,« erwiederte die Andere, »aber es ist gewiß eine Sünde, ein solches in Sünden erzeugtes Wesen nur anzusehen.«

»Es ist ein Kind,« fiel die Dritte ein.

»Es ist ein halber Affe,« sagte die Vierte.

Jetzt fingen sie Alle zumal an zu reden:

»Ein wahres Scheusal an Häßlichkeit!«

»Es schreit, daß man taub werden möchte!«

»Das ist kein Mensch, aber auch kein Thier; ich glaube fast, daß es von einem Juden und einer Sau ist, irgend etwas Unchristliches, das man in’s Wasser oder Feuer werfen sollte.«

»Ich glaube nicht, daß irgend ein Mensch es annehmen wird.«

In der That war dieses kleine Geschöpf, das bereits wenigstens vier Jahre zählte, ein wirkliches Ungeheuer an Häßlichkeit. Seine unförmliche Masse steckte in einem Sack, der ihm bis an den Hals ging; der Kopf war sichtbar, er zeigte einen Wald rother Borsten, ein Auge, einen Mund und Zähne. Das Auge troff, der Mund schrie und die Zähne schienen beißen zu wollen. Der Körper stampfte unruhig in dem Sack, zur großen Belustigung der Zuschauer.

Eine vornehme, reichgekleidete Dame, ihre sechsjährige Tochter an der Hand, bückte sich zu dem unförmlichen Wesen hinab, wandte den Blick mit Ekel ab und sagte: »In der That, ich glaubte, man setze hier bloß Kinder aus.« – Sie warf ein Silberstück in das Opferbecken und ging.

Ein ernster, wohlgekleideter Mann, von der sogenannten hohen Bürgerschaft, schritt vorüber. »Findelkind!« sagte er und bückte sich zu dem Wesen hinab; als er es angesehen hatte, fügte er hinzu: »Offenbar an den Ufern des Flusses Phlegeton gefunden!«

»Es hat nur ein Auge und auf dem andern eine Warze,« bemerkte eine der Betschwestern.

»Es ist keine Warze,« erwiederte der Bürger mit großem Ernst, »sondern ein Ei, in dem ein anderer kleiner Teufel steckt, der wieder ein kleines Ei hat, in dem wieder ein kleiner Teufel steckt, und so fort.«

Die Betschwestern wunderten sich darüber sehr und eine derselben fragte: »Was prophezeit Ihr uns von diesem angeblichen Findelkinde?«

»Das größte Unglück,« versetzte er.

»So wäre es besser,« riefen viele Zuschauer zumal, »diesen kleinen Höllenbrand ins Wasser oder ins Feuer zu werfen.« Einige machten bereits Anstalten, diesen Vorschlag zu vollziehen.

Da trat plötzlich ein junger Priester von ernstem Ansehen hinzu, legte die Hand auf das kleine Geschöpf und sprach: »Ich nehme dieses Kind an.«

Er wickelte es in seinen Priesterrock und ging. Eine der Betschwestern neigte sich zu dem Ohre einer andern und sprach: »Habe ich es nicht gesagt, daß dieser junge Priester Claude Frollo ein Hexenmeister ist?«

Claude Frollo gehörte einer jener Familien an, die man hohe Bürgerschaft oder kleinen Adel nannte. Er war von seiner Kindheit an für den geistlichen Stand bestimmt: man lehrte demnach das Kind lateinisch lesen, die Augen niederschlagen und leise reden. Hierauf, als er ein Knabe wurde, mauerte man ihn in das Collegium von Torchi ein. Dort wuchs er mit dem Meßbuch und dem Lexicon auf.

Claude Frollo war ein ernsthafter, fast düsterer Knabe, der eifrig lernte und schnell begriff; er mischte sich selten unter die Spiele seiner Mitschüler und nahm nur lauen Antheil an denselben; dagegen lag er um so fleißiger seinen Büchern ob, und im sechzehnten Jahre hatte er die mystische, die kanonische und die scholastische Theologie inne. Hierauf ging er zum Studium der Rechtsgelehrsamkeit, sodann zu dem der Arzneikunde und der schönen Wissenschaften über. Die alten Sprachen, Lateinisch, Griechisch und Hebräisch, verstand er, was damals eine Seltenheit war, vollkommen. Er hatte ein wahres Fieber, Schätze der Wissenschaft anzuhäufen.

Etwa um diese Zeit führte der außerordentlich heiße Sommer des Jahres 1466 jene große Pest herbei, die allein in der Grafschaft Paris mehr als 40,000 Menschen hinraffte. In der Universitätsstadt verbreitete sich das Gerücht, daß die Straße Tirechappe, wo Claude Frollo’s Eltern wohnten, besonders heftig von der Krankheit heimgesucht sei. Der junge Student, durch diese Nachricht bestützt, lief eilends dem väterlichen Hause zu. Sein Vater und seine Mutter waren bereits den Tag zuvor gestorben, und in der Wiege schrie verlassen ein kleines Kind, sein Bruder. Dies war Alles, was von seiner Familie übrig blieb. Er nahm das Kind auf den Arm und trug es fort.

Bis jetzt hatte der junge Mensch bloß in der Wissenschaft gelebt. Diese Katastrophe führte ihn in das wirkliche Leben ein und war für ihn eine Krisis in seinem Dasein. Waise und Familienhaupt zugleich in seinem neunzehnten Jahre, sah er sich von den Träumereien der Schule in die Wirklichkeiten des Lebens gewaltsam weggezogen. Er, der bis jetzt bloß Bücher geliebt hatte, lernte jetzt andere Gefühle kennen und widmete seine ganze Liebe dem verlassenen Säugling.

Diese Neigung entwickelte sich in seinem so unerfahrenen Herzen bis zu einem seltsamen Grade, sie glich fast einer ersten Liebe. Von Kindheit an von seinen Eltern getrennt, die er kaum gekannt hatte, festgebannt an seine Bücher, heißhungrig im Lernen, ausschließlich sich den Fortschritten in der Wissenschaft widmend, hatte bis jetzt der arme Schüler noch nicht Zeit gehabt zu untersuchen, ob er auch ein Herz habe. Dieser vater- und mutterlose junge Bruder, dieses kleine Kind, das ihm wie vom Himmel zugefallen war, machte ihn zu einem neuen Menschen. Er überzeugte sich, daß es noch etwas Anderes in der Welt gebe, als theologische Streitfragen und Homerische Verse; daß der Mensch zur Liebe geschaffen sei, und daß ein Leben ohne Liebe und Zärtlichkeit nur ein trockenes, kreischendes Räderwerk ist, das eintönig von der Wiege bis zum Sarge führt. Dies fühlte er jetzt; da er aber noch immer in dem Alter war, wo eine Täuschung bloß durch eine andere verdrängt wird, so bildete er sich ein, daß die Neigungen der Blutsverwandtschaft die einzig nothwendigen seien, und daß die Liebe zu einem kleinen Bruder das ganze Dasein eines Menschen ausfüllen könne.

Der kleine Johannes Frollo war noch ein Säugling, als er seine Mutter verlor. Die Familie besaß in der Nähe des Schlosses Winchester auf einem Hügel eine Mühle; hieher brachte er den Säugling und übergab ihn der Müllerin, die ein Kind von gleichem Alter säugte. Nun theilte er seine Zeit zwischen dem Knaben und seinen Büchern. Seine Fortschritte in den Wissenschaften, seine Verdienste und Glücksumstände öffneten ihm alle Pforten der Kirche, und im zwanzigsten Jahre wurde er durch besondere Dispensation des heil. Stuhles zum Priester geweiht. Seine wissenschaftlichen Kenntnisse und sein ernstes Wesen erwarben ihm schnell die Achtung und Bewunderung des Klosters, und von da aus hatte sich sein Ruf als ausgezeichneter Gelehrter unter das Volk verbreitet, das ihn, was damals häufig war, wie jeden ungewöhnlichen Mann, für eine Art Hexenmeister hielt.

Dies war der junge Priester, der zum Erstaunen der Betschwestern den mißgestalteten Findling zu sich nahm. Als er ihn aus dem Sacke zog, fand er ein wahres Ungeheuer an Häßlichkeit, krumm, verwachsen, einäugig! doch kündigte sein Geschrei, obgleich man nicht unterscheiden konnte, in welcher Sprache er stammelte, Gesundheit und Kraft an. Er ließ den Findling taufen und nannte ihn Quasimodo, entweder weil er ihn an diesem Tage gefunden hatte, oder um anzudeuten, bis zu welchem hohen Grade das arme, kleine Geschöpf unvollständig und gleichsam bloß aus dem Groben geschnitten sei. In der That war auch unser Quasimodo ein wahrer Quasimodo.

Im Jahre 1482 war Quasimodo, trotz seiner Mißgestalt, kräftig und lebendig. Seit einigen Jahren war er Glöckner in der Liebfrauenkirche, Dank seinem Adoptivvater Claude Frollo, der Archidiakonus derselben geworden war, Dank Herrn Louis de Beaumont, welcher im Jahre 1472 Bischof von Paris war, Dank seinem Beschützer Olivier, dem Teufel, Barbier Ludwigs XI., der durch die Gnade Gottes König von Frankreich war.

Quasimodo war demnach Glöckner in der Liebfrauenkirche. Die Zeit bildete zwischen dem Glöckner und der Kirche ein gewisses inniges Band. Durch seine unbekannte Geburt und seine Mißgestalt von der übrigen Welt abgeschnitten, hatte sich der Unglückliche daran gewöhnt, die heiligen Mauern, die ihn in ihren Schatten aufgenommen, als seine Welt anzusehen. Die Liebfrauenkirche war für ihn, so wie er allmählig heranwuchs, sein Ei, sein Nest, sein Haus, sein Vaterland, seine Welt. Er kannte jeden Winkel des weiten Gebäudes; es gab keine Tiefe und keine Höhe der Kirche, wohin der Zwerg nicht schon gekommen war. Durch die Gewohnheit, alle Räume und Höhen des gigantischen Gebäudes zu durchklettern und zu überspringen, war er halb Affe, halb Gemse geworden.

Noch niederer, als sein mißgestalteter Körper, stand die Seele des Zwergs. Mit großer Mühe und Geduld hatte ihn Claude Frollo sprechen gelehrt. Ein neues Unglück und eine neue Gebrechlichkeit trafen ihn im vierzehnten Jahre; das Geläute der Glocken hatte ihn taub gemacht. Die einzige Thüre, welche ihm die Natur nach außen offen gelassen hatte, war jetzt plötzlich und für immer geschlossen. Von nun an konnte kein Strahl von Licht und Freude mehr in die Seele des Zwergs fallen, und sie sank in finstere Nacht. Die Melancholie des elenden Wesens war unheilbar und vollständig, wie seine Mißgestalt. Seine Taubheit machte ihn gewissermaßen stumm, denn von dem Augenblicke an, wo er taub wurde, faßte er, um nicht Andern zum Gelächter zu dienen, den festen Entschluß, nicht mehr zu sprechen, und brach dieses Stillschweigen selten anders, als wenn er allein war. Daher kam es, daß, wenn ihn die Nothwendigkeit zum Reden trieb, seine Zunge ungeschmeidig und schwerfällig war, gleich einer Thüre, deren Angeln eingerostet sind.

Der Geist verkrüppelt in einem mißgestalteten Körper. Quasimodo fühlte kaum etwas in sich, das von Ferne einer Seele glich. Die äußeren Eindrücke erlitten eine bedeutende Strahlenbrechung, bevor sie zu seinem Denkvermögen gelangten. Nachdem eine Idee durch seinen Kopf gegangen war, kam sie ganz verwirrt aus demselben heraus. Die Betrachtung, die aus dieser eigenthümlichen Strahlenbrechung hervorging, war nothwendig divergent und abschweifend. Daher tausend optische Täuschungen, tausend Verwirrungen im Urtheil, tausend Abschweifungen des Gedankens, bald unklug, bald stumpfsinnig. Die erste Wirkung dieser unglücklichen Organisation war, daß sie den Blick trübte, den er auf die Dinge warf. Er erlangte fast nie eine unmittelbare Berührung mit denselben. Die Außenwelt erschien ihm um Vieles weiter entfernt, als uns.

Die zweite Wirkung seines Unglücks war, daß es ihn bösartig machte. Er war bösartig, weil er roh, er war roh, weil er häßlich war. Es war eine Logik in seiner Natur, wie in der unseren.

Seine auf so außerordentliche Weise entwickelte Stärke war eine weitere Ursache seiner Bösartigkeit. Malus puer robustus.

Im Uebrigen war ihm seine Bösartigkeit nicht angeboren. Von seinem ersten Auftreten an unter den Menschen sah er sich verachtet, verhöhnt, mit Ekel abgestoßen. Die menschliche Stimme hatte für den Unglücklichen keine anderen Worte, als Verhöhnung oder Verwünschung. Er wuchs heran und fand nur Haß und Verachtung um sich her. Er nahm sie in sich auf und stritt nun mit derselben Waffe, mit der man ihm Wunden geschlagen hatte.

So mied nun der Zwerg den Umgang mit den Menschen, die düstern Mauern seiner Kirche genügten ihm. Die Marmorbilder darin höhnten, die Heiligen, die Bischöfe verspotteten ihn nicht und blickten ihn stets mit demselben unbeweglichen, wohlwollenden Auge an. Die Statuen mißgestalteter Dämonen glichen ihm zu sehr, um ihn hassen zu können. Die Heiligen waren seine Freunde und segneten ihn. In dieser einsamen Bilderwelt lebte der Zwerg. Stundenlang konnte er vor einer Bildsäule stehen und mit ihr plaudern. Ueberraschte ihn Jemand bei diesem Gekose, so entfloh er, wie ein Liebhaber vor den Blicken der Lauscher.

Die Kirche war seine Welt und die Glocken seine Kinder; diese liebte er am meisten, er sprach mit ihnen, er liebkoste sie, diese nämlichen Glocken, die ihn taub gemacht hatten. Oft liebt eine Mutter das Kind am meisten, das sie mit Schmerzen geboren.

Die Stimme der Glocken war noch der einzige Laut, der die Ohren des tauben Zwerges durchdrang. Darum war auch die große Glocke sein Lieblingskind. Diese große Glocke hieß Marie. Quasimodo hatte fünfzehn Glocken auf seinen Thürmen, aber die große Marie war sein Liebling.

Die großen Festtage, wo man mit allen Glocken läutete, waren für ihn Tage des Hochgenusses. Wenn die Stunde schlug, eilte er schneller auf den Glockenthurm hinauf, als ein Anderer heruntergestiegen wäre. Athemlos trat er in die luftige Kammer der großen Glocke, betrachtete sie einen Augenblick mit den wohlwollenden Blicken eines Vaters, redete sie sanft an, streichelte sie mit der Hand, wie man einem Renner den Hals klopft, bevor er seinen Wettlauf beginnt. Hierauf rief er seinen Gehülfen im untern Stockwerke zu, das Läuten zu beginnen. Sie hingen sich an das Seil, und die ungeheure Maschine begann sich langsam zu bewegen. Quastmodo, zitternd vor Freude, folgte ihr mit den Blicken. Der Balken, auf den er gestiegen war, erzitterte unter dem ersten Schlag der Glocke. Quasimodo baumelte mit ihm. Baumle! Baumle! schrie er mit wahnsinnigem Gelächter. Immer schneller, immer lauter ertönte der Schlag der Glocke, immer flammender wurden die Augen des Zwergs. Jetzt läuteten alle Glocken zumal, der Thurm zitterte unter ihrem Schall. Quasimodo schäumte, ging, kam, zitterte mit dem Thurme von oben bis unten. Die Glocke, losgelassen, durch die Lüfte sausend, gab jene weithallenden Töne von sich, die man auf vier Stunden Weges hört. Quasimodo stellte sich vor ihre offene Kehle, schlürfte mit Wollust ihren betäubenden Hauch ein. Dies war die einzige Stimme, die er hörte, der einzige Ton, der das allgemeine Stillschweigen um ihn her unterbrach. Plötzlich ergriff ihn die Tollwuth der Glocke, aus seinen Augen sprühte ein irres Feuer, er lauerte auf den Rückschwung der Glocke, wie die Spinne auf eine Fliege, und warf sich dann plötzlich mit vollem Leibe auf sie hin. Jetzt, über dem Abgrund schwebend, mit dem reißenden Schwung der Glocke dahingerissen, faßte er das eherne Ungeheuer am Oehr, umschlang es mit seinen Knieen, spornte es mit seinen Fersen und verdoppelte auf solche Weise, mit dem ganzen Stoß und Gewicht seines Körpers, den mächtigen Schwung der Glocke. Der Thurm schwankte, der zauberhafte Zwerg schrie und grinste mit den Zähnen, seine rothen Borsten sträubten sich auswärts, seine Brust pochte wie ein Hammer, sein Auge strömte Flammen aus, die ungeheure Glocke schien unter ihrem Reiter zu stöhnen; das war nicht mehr die Glocke der Liebfrauenkirche, noch Quasimodo, es war ein Traum, ein Sturm, eine Windsbraut, der auf dem Geräusch reitende Schwindel, ein auf dem Kreuz eines Flügelrosses angeklammerter Dämon, ein seltsamer Centaur, halb Mensch, halb Glocke.

Das Dasein dieses ungewöhnlichen Wesens flößte der ganzen Kirche einen gewissen Lebenshauch ein. Der Aberglaube der Menge schrieb ihm eine magische Kraft zu, welche alle Steine des alten Gebäudes zu beleben, die tausend Bildsäulen in Bewegung zu setzen und die Mauern der Kirche bis in den Grund zu erschüttern vermöge. In der That war auch die Kirche von Quasimodo wie von einem spiritus familiaris besessen und erfüllt. Ueberall und zu allen Zeiten sah man ihn, er schien sich zu vervielfältigen. Bald erblickte man mit Schaudern auf der höchsten Spitze eines Thurmes einen seltsamen Zwerg, der emporstieg, auf allen Vieren kroch, und über dem äußeren Rande schwebte, von Gestein zu Gestein sprang und endlich in dem hohlen Leib einer Gorgone mit den Händen wühlte: es war Quasimodo, der ein Rabennest ausnahm. Bald stieß man in einem finstern Winkel der Kirche auf eine Art lebender Chimäre, die trübsinnig in einer Ecke kauerte: es war Quasimodo in Gedanken. Bald sah man in einem Glockenturme einen mißgestalteten Zwerg am Seile hängen: es war Quasimodo, der die Vesper oder das Angelus einläutete. In Aegypten würde man ihn für den Gott des Tempels gehalten haben, im Mittelalter hielt man ihn für den bösen Geist desselben.

XXIX.

Nachdem Ordender die Grotte von Walderhog verlassen hatte, irrte er den ganzen Tag im wilden Gebirge umher, ohne eine Spur von Menschen zu finden. Mit Einbruch der Nacht befand er sich in einer geräumigen Ebene. Er war ermüdet, wickelte sich in seinen Mantel und legte sich auf den Boden nieder, um zu schlafen. Der Wind war kalt, der Himmel schwarz, und bisweilen durchzuckten Blitze die Dunkelheit.

Plötzlich schlugen verwirrte Menschenstimmen an sein Ohr. Er richtete sich halb in die Höhe und erblickte in einiger Entfernung in der Dunkelheit wandelnde Schatten. Ein Licht brannte in der Mitte der geheimnisvollen Gruppe, und zu seinem Erstaunen sah Ordener diese phantasmagorischen Gestalten, eine nach der andern, in der Erde verschwinden. Alles war weg, wie ein Gedanke.

Ordener war erhaben über den Aberglauben seiner Zeit und seines Landes. Gleichwohl lag in diesem seltsamen Erscheinen und Verschwinden etwas Übernatürliches, das ihn gegen seine eigene Vernunft mißtrauisch machte.

Er stand auf und ging dem Orte zu, wo die wandelnden Gestalten verschwunden waren. Dicke Regentropfen begannen zu fallen. Plötzlich blieb er stehen. Ein Blitz hatte ihm vor seinen Füßen eine Art breiten und kreisförmigen Brunnens gezeigt, in den er ohne das wohlthätige Leuchten des Gewitters unfehlbar gestürzt wäre. Er näherte sich dem Schlund. In grauenvoller Tiefe sah er ein Licht glänzen, das einen röthlichen Schein von sich warf. Dieser Strahl, der einem magischen Feuer der Erdgeister glich, vermehrte gewissermaßen den unermeßlichen Umfang der Finsternis, welche das Auge durchdringen mußte, um ihn zu erreichen. Ordener, über den Abgrund sich neigend, horchte. Ein feines Geräusch von Stimmen traf sein Ohr. Er zweifelte nicht, daß die Wesen, die ihm aus eine so seltsame Weise erschienen und wieder verschwunden waren, in diesen Abgrund hinabgestiegen seien, und ein unwiderstehliches Verlangen trieb ihn, ihnen zu folgen.

Der Sturm fing an, heftig zu toben, und dieser Schlund konnte ihm Schutz dagegen gewähren. Aber wie hinabsteigen? Welchen Weg hatten diejenigen genommen, denen er nachfolgen wollte, wenn es anders nicht Gespenster gewesen waren?

Ein zweiter Blitz ließ ihn das obere Ende einer Leiter erblicken, die in die Tiefe zu führen schien. Ordener zauderte keinen Augenblick; er stieg muthig die Leiter hinab. Bald sah er vom Himmel nichts mehr, als die bläulichen Blitze, die ihn beleuchteten. Der Regen, der in Strömen auf die Oberfläche der Erde fiel, gelangte nur noch als ein feiner Thau zu ihm. Er stieg, stieg weiter, stieg immer hinab, und kaum schien es, daß er sich dem unterirdischen Lichte nähere.

Endlich merkte er an der mehr und mehr sich verdickenden Luft, an dem mehr und mehr zunehmenden Geräusche der Stimmen, an dem purpurnen Wiederschein, der die kreisförmige Mauer des Brunnens zu färben begann, daß er nicht mehr weit vom Boden sei. Er stieg noch einige Stufen hinab, und jetzt konnte er deutlich am Fuße der Leiter den Eingang eines unterirdischen Gewölbes erblicken, der von einem röthlichen zitternden Lichte beschienen war, während zugleich Stimmen in sein Ohr drangen, welche seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zogen,

»Kennybol kommt nicht,« sagte eine Stimme im Tone der Ungeduld.

»Wer mag ihn wohl zurückhalten?« wiederholte dieselbe Stimme nach einer Pause. »Wir wissen es nicht, Herr Hacket,« antwortete man.

»Er muß bei seiner Schwester Maase Braall im Weiler Surb übernachtet haben,« fügte eine andere Stimme hinzu.

»Ihr seht,« fuhr die erste Stimme fort, »daß ich alle meine Versprechungen halte… Ich versprach Euch Han den Isländer zum Anführer zu bringen, hier ist er.«

Ein Murmeln, dessen Sinn schwer zu errathen war, antwortete auf diese Worte. Ordeners Neugierde, die durch den Namen dieses Kennybol, der ihn am Tage zuvor so sehr in Verwunderung gesetzt hatte, bereits geweckt worden war, verdoppelte sich, als er Han den Isländer nennen hörte.

Die nämliche Stimme begann wieder: »Meine Freunde, Jonas, Norbith, wenn auch Kennybol zögert, was thut es? Wir sind zahlreich genug, um nichts mehr zu fürchten. Habt Ihr in den Ruinen von Crag Eure Fahnen gefunden?«

»Ja, Herr Hacket,« antworteten mehrere Stimmen.

»Nun, so greift zu den Waffen, es ist Zeit! Hier ist Gold. Da steht Euer unüberwindlicher Anführer! Vorwärts zur Befreiung des edlen Schuhmacher, des unglücklichen Grafen von Greiffenfeld!«

»Es lebe Schuhmacher!« riefen viele Stimmen, und der Name Schuhmacher drang in den unterirdischen Gewölben fort von Echo zu Echo.

Ordener, der von einem Staunen ins andere gerieth, hielt den Athem an sich, um kein Wort zu verlieren. Er konnte nicht glauben noch begreifen, was er hörte. Schuhmachers Name im Verein mit Kennybol und Han dem Isländer! Was war das für ein geheimnisvolles Drama, von dem er, als verborgener Zuschauer, eine Scene mit ansah?

»Ihr seht hier,« fuhr dieselbe Stimme fort, »den Freund und Vertrauten des edeln Grafen von Greiffenfeld. Schenkt mir nur Vertrauen, wie er mir das seinige schenkt. Alles ist Euch günstig. Ihr werdet nach Drontheim kommen, ohne einen Feind zu sehen.«

»Herr Hacket,« unterbrach ihn eine Stimme, »wir müssen schnell aufbrechen. Peters hat mir gesagt, daß er in den Engpässen das ganze Regiment von Munckholm im Anmarsch gegen uns gesehen habe.«

»Er hat Euch getäuscht,« erwiederte der andere im Tone des Ansehens. »Die Regierung weiß noch nichts von Eurem Aufstand und ist so sicher, daß derjenige, der Eure gerechten Beschwerden abgewiesen hat, Euer Unterdrücker, der Unterdrücker des erlauchten und unglücklichen Schuhmacher, der General Levin von Knud, Drontheim verlassen hat und in die Hauptstadt abgereist ist, um den Vermählungsfeierlichkeiten seines Zöglings Ordener Guldenlew, der Ulrike Ahlfeldt heirathet, beizuwohnen.«

Man kann sich Ordeners Staunen denken. In diesem wilden, kaum bewohnten Lande, tief im Schooß der Erde, hörte er unbekannte Menschen alle die Namen aussprechen, die ihm theuer waren. Ein entsetzlicher Zweifel bemächtigte sich seines Herzens. Sollte es wahr sein? War das wirklich ein Agent des Grafen von Greiffenfeld? Wie! Schuhmacher, dieser ehrwürdige Greis, der Vater seiner Ethel, empörte sich gegen seinen König, besoldete Straßenräuber, entzündete einen Bürgerkrieg? Und für diesen Heuchler, für diesen Rebellen, hatte er, der Sohn des Vicekönigs von Norwegen, der Zögling des Generals Levin von Knud, seine Zukunft aufs Spiel gesetzt, sein Leben gewagt! Für ihn hatte er diesen isländischen Räuber aufgesucht und bekämpft, mit dem Schuhmacher im Einverständnis sein mußte, weil er ihn an die Spitze seines rebellischen Haufens stellte!

»Ja,« fuhr inzwischen der Emissär fort, »der furchtbare Han der Isländer stellt sich an Eure Spitze. Wer wird gegen Euch zu kämpfen wagen? Ihr fechtet für Eure Weiber und Kinder, die man auf schmähliche Weise ihres Erbthums beraubt, für einen edeln Unglücklichen, der seit zwanzig Jahren unschuldig im Kerker schmachtet. Vorwärts, Schuhmacher und die Freiheit harren Euer! Krieg den Tyrannen!«

»Krieg!« wiederholten tausend Stimmen. Waffen klirrten zusammen und das Horn erscholl.

»Haltet ein!« rief Ordener, indem er auf die Schwelle des unterirdischen Gewölbes trat. Der Gedanke, Schuhmacher ein Verbrechen und seinem Lande die Leiden eines Bürgerkriegs zu ersparen, hatte sein ganzes Wesen ergriffen.

Vor seinen Blicken lag eine unermeßliche unterirdische Stadt, deren Grenzen sich hinter einer Menge von Pfeilern verloren, die das Gewölbe trugen. Diese Pfeiler glänzten, wie Krystallbogen, im Strahl von tausend brennenden Fackeln, welche eine seltsam bewaffnete und in den Tiefen des Platzes ordnungslos verbreitete Menschenmenge trug. Wenn man von allen Seiten dieses Licht wiederstrahlen, dann in der fernen Dunkelheit schreckhafte Gestalten zwischen den Pfeilern hinschweben sah, so hätte man glauben können, daß man sich bei einer jener fabelhaften Zusammenkünfte von Hexen und Teufeln befinde, die Sterne als Fackeln in der Hand tragen und nächtlicher Weile um die Bäume der Wälder und die Mauern verfallener Schlösser tanzen.

Ein lautes Geschrei erhob sich: »Ein Fremder! Nieder! Nieder! Nieder mit ihm!«

Hundert Arme erhoben sich gegen Ordener. Er griff mit der rechten Hand an die linke Seite, um seinen Säbel zu ziehen; er hatte vergessen, daß er waffenlos war.

»Haltet ein!« rief Schuhmachers Agent, ein kleiner, dicker, schwarzgekleideter Mann. Er trat gegen Ordener vor.

»Wer seid Ihr?« fragte er.

Ordener antwortete nicht. Von allen Seiten starrten ihm Säbelspitzen oder Pistolenmündungen entgegen.

»Hast Du Furcht?« fragte der Emissär lächelnd.

»Lege Deine Hand auf mein Herz und fühle, ob es schneller schlägt,« erwiederte der Jüngling verächtlich.

»Ei!« sagte Jener, »er spielt den Stolzen! Je nun, er mag sterben!«

»Geduld, Herr Hacket,« fiel ein Greis mit weißem Barte ein, der sich auf ein langes Gewehr stützte. »Ich habe hier allein das Recht, diesen Christen zu den Todten zu senden, um ihnen zu erzählen, was er hier gesehen hat.«

Hacket lachte: »Wie es Euch gefallt, mein lieber Jonas! Gleichviel, wer diesen Spion richtet, wenn er nur verurtheilt wird.«

Der alte Mann wandte sich an Ordener: »Wer bist Du, der sich so kühn in unsere Mitte wagt?«

Ordener schwieg.

»Er will nicht antworten,« sagte der Alte. »Wenn der Fuchs gefangen ist, schreit er nicht mehr. Macht ihn nieder!«

»Mein wackerer Jonas,« unterbrach ihn Hacket, »laßt Han den Isländer diesen Menschen tödten, dies soll seine erste That in Eurer Mitte sein.«

»Ja, ja!« riefen beifällig viele Stimmen.

Ordener suchte diesen Han den Isländer, mit dem er erst ein so heißes Gefecht gehabt hatte, mit den Augen und sah mit Verwunderung einen Mann von riesenmäßiger Größe in der Tracht der Bergbewohner auf sich zukommen. Der Riese sah Ordener mit einem wild stumpfsinnigen Blicke an und verlangte eine Axt.

»Du bist nicht Han der Isländer,« sagte Ordener ruhig.

»Nieder mit ihm! Nieder mit ihm!« schrie Hacket wüthend.

Ordener sah seinen Tod vor Augen. Er griff in den Busen, um eine Haarlocke seiner Ethel herauszuziehen und den letzten Kuß auf sie zu drücken. Bei dieser Bewegung fiel ein Papier aus seinem Gürtel.

»Was ist das für ein Papier?« sagte Hacket. »Norbith, hebt dieses Papier auf.

Dieser Norbith war ein junger Mann, dessen bräunliches Gesicht, obwohl von harten Zügen, doch einen Ausdruck von Edelmuth hatte. Er hob das Papier auf und entfaltete es.

»Großer Gott!« rief er aus, »das ist der Paß meines armen Freundes Christoph Nedlam, den sie vor acht Tagen zu Skongen wegen Falschmünzerei gehängt haben.«

»Nun, so behalte diesen Wisch Papier,« sagte Hacket im Tone getäuschter Erwartung. »Ich hielt es für wichtiger. Und Ihr, mein lieber Han, fertigt diesen Menschen ab!«

Norbith trat vor Ordener hin und rief: »Dieser Mann steht unter meinem Schutze. Eher soll mein Haupt fallen, als ein Haar von dem seinigen. Ich leide nicht, daß der Paß meines Freundes Christoph Nedlam verletzt wird.«

»Bah! Bah!« sagte Hacket, »das ist eine Narrheit von Euch, mein wackerer Norbith! Dieser Mensch ist ein Spion und muß sterben.«

»Gebt mir meine Axt!« rief der Riese.

»Er soll nicht sterben,« entgegnete Norbith. »Was würde der Geist meines armen Nedlam dazu sagen? Nein, er wird nicht sterben, denn Nedlam will, daß er nicht sterbe!«

»Norbith hat Recht,« sagte der alte Jonas. »Warum soll man diesen Fremdling tödten, da er einen Paß von Christoph Nedlam hat?«

»Er ist aber ein Spion,« erwiderte Hacket.

Der alte Jonas trat neben Norbith und beide sagten feierlich: »Er hat einen Paß von Christoph Nedlam, der zu Skongen gehängt worden ist.«

Hacket sah, daß er nachgeben mußte, denn Alle murrten, und viele Stimmen riefen: »Dieser Fremdling darf nicht sterben, denn er hat einen Paß von Nedlam dem Falschmünzer.«

»So mag er denn leben!« murmelte Hacket mit zurückgehaltener Wuth.

»Und wenn es der Teufel wäre,« sagte Norbith, »so würde ich ihn nicht tödten.«

Er wandte sich zu Ordener und fuhr fort: »Du bist gewiß ein guter Bruder, weil Du einen Paß von Christoph Nedlam hast. Wir sind königliche Bergleute. Wir empören uns, um uns von der königlichen Vormundschaft frei zu machen. Der Herr Hacket, den Du hier siehst, sagt, daß wir für einen gewissen Grafen Schuhmacher zu den Waffen greifen; aber ich kenne diesen Schuhmacher nicht. Fremdling, unsere Sache ist gerecht. Ich frage Dich, willst Du mit uns sein?«

Ein Gedanke ging in Ordeners Seele auf.

»Ja!« antwortete er.

Norbith reichte ihm einen Säbel, den er stillschweigend annahm.

»Bruder,« sagte Norbith, »wenn Du uns verrathen willst, so tödte mich zuerst.«

Ein Horn erscholl und ferne Stimmen riefen: »Da kommt Kennybol!«