Nachdem Ordender die Grotte von Walderhog verlassen hatte, irrte er den ganzen Tag im wilden Gebirge umher, ohne eine Spur von Menschen zu finden. Mit Einbruch der Nacht befand er sich in einer geräumigen Ebene. Er war ermüdet, wickelte sich in seinen Mantel und legte sich auf den Boden nieder, um zu schlafen. Der Wind war kalt, der Himmel schwarz, und bisweilen durchzuckten Blitze die Dunkelheit.

Plötzlich schlugen verwirrte Menschenstimmen an sein Ohr. Er richtete sich halb in die Höhe und erblickte in einiger Entfernung in der Dunkelheit wandelnde Schatten. Ein Licht brannte in der Mitte der geheimnisvollen Gruppe, und zu seinem Erstaunen sah Ordener diese phantasmagorischen Gestalten, eine nach der andern, in der Erde verschwinden. Alles war weg, wie ein Gedanke.

Ordener war erhaben über den Aberglauben seiner Zeit und seines Landes. Gleichwohl lag in diesem seltsamen Erscheinen und Verschwinden etwas Übernatürliches, das ihn gegen seine eigene Vernunft mißtrauisch machte.

Er stand auf und ging dem Orte zu, wo die wandelnden Gestalten verschwunden waren. Dicke Regentropfen begannen zu fallen. Plötzlich blieb er stehen. Ein Blitz hatte ihm vor seinen Füßen eine Art breiten und kreisförmigen Brunnens gezeigt, in den er ohne das wohlthätige Leuchten des Gewitters unfehlbar gestürzt wäre. Er näherte sich dem Schlund. In grauenvoller Tiefe sah er ein Licht glänzen, das einen röthlichen Schein von sich warf. Dieser Strahl, der einem magischen Feuer der Erdgeister glich, vermehrte gewissermaßen den unermeßlichen Umfang der Finsternis, welche das Auge durchdringen mußte, um ihn zu erreichen. Ordener, über den Abgrund sich neigend, horchte. Ein feines Geräusch von Stimmen traf sein Ohr. Er zweifelte nicht, daß die Wesen, die ihm aus eine so seltsame Weise erschienen und wieder verschwunden waren, in diesen Abgrund hinabgestiegen seien, und ein unwiderstehliches Verlangen trieb ihn, ihnen zu folgen.

Der Sturm fing an, heftig zu toben, und dieser Schlund konnte ihm Schutz dagegen gewähren. Aber wie hinabsteigen? Welchen Weg hatten diejenigen genommen, denen er nachfolgen wollte, wenn es anders nicht Gespenster gewesen waren?

Ein zweiter Blitz ließ ihn das obere Ende einer Leiter erblicken, die in die Tiefe zu führen schien. Ordener zauderte keinen Augenblick; er stieg muthig die Leiter hinab. Bald sah er vom Himmel nichts mehr, als die bläulichen Blitze, die ihn beleuchteten. Der Regen, der in Strömen auf die Oberfläche der Erde fiel, gelangte nur noch als ein feiner Thau zu ihm. Er stieg, stieg weiter, stieg immer hinab, und kaum schien es, daß er sich dem unterirdischen Lichte nähere.

Endlich merkte er an der mehr und mehr sich verdickenden Luft, an dem mehr und mehr zunehmenden Geräusche der Stimmen, an dem purpurnen Wiederschein, der die kreisförmige Mauer des Brunnens zu färben begann, daß er nicht mehr weit vom Boden sei. Er stieg noch einige Stufen hinab, und jetzt konnte er deutlich am Fuße der Leiter den Eingang eines unterirdischen Gewölbes erblicken, der von einem röthlichen zitternden Lichte beschienen war, während zugleich Stimmen in sein Ohr drangen, welche seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zogen,

»Kennybol kommt nicht,« sagte eine Stimme im Tone der Ungeduld.

»Wer mag ihn wohl zurückhalten?« wiederholte dieselbe Stimme nach einer Pause. »Wir wissen es nicht, Herr Hacket,« antwortete man.

»Er muß bei seiner Schwester Maase Braall im Weiler Surb übernachtet haben,« fügte eine andere Stimme hinzu.

»Ihr seht,« fuhr die erste Stimme fort, »daß ich alle meine Versprechungen halte… Ich versprach Euch Han den Isländer zum Anführer zu bringen, hier ist er.«

Ein Murmeln, dessen Sinn schwer zu errathen war, antwortete auf diese Worte. Ordeners Neugierde, die durch den Namen dieses Kennybol, der ihn am Tage zuvor so sehr in Verwunderung gesetzt hatte, bereits geweckt worden war, verdoppelte sich, als er Han den Isländer nennen hörte.

Die nämliche Stimme begann wieder: »Meine Freunde, Jonas, Norbith, wenn auch Kennybol zögert, was thut es? Wir sind zahlreich genug, um nichts mehr zu fürchten. Habt Ihr in den Ruinen von Crag Eure Fahnen gefunden?«

»Ja, Herr Hacket,« antworteten mehrere Stimmen.

»Nun, so greift zu den Waffen, es ist Zeit! Hier ist Gold. Da steht Euer unüberwindlicher Anführer! Vorwärts zur Befreiung des edlen Schuhmacher, des unglücklichen Grafen von Greiffenfeld!«

»Es lebe Schuhmacher!« riefen viele Stimmen, und der Name Schuhmacher drang in den unterirdischen Gewölben fort von Echo zu Echo.

Ordener, der von einem Staunen ins andere gerieth, hielt den Athem an sich, um kein Wort zu verlieren. Er konnte nicht glauben noch begreifen, was er hörte. Schuhmachers Name im Verein mit Kennybol und Han dem Isländer! Was war das für ein geheimnisvolles Drama, von dem er, als verborgener Zuschauer, eine Scene mit ansah?

»Ihr seht hier,« fuhr dieselbe Stimme fort, »den Freund und Vertrauten des edeln Grafen von Greiffenfeld. Schenkt mir nur Vertrauen, wie er mir das seinige schenkt. Alles ist Euch günstig. Ihr werdet nach Drontheim kommen, ohne einen Feind zu sehen.«

»Herr Hacket,« unterbrach ihn eine Stimme, »wir müssen schnell aufbrechen. Peters hat mir gesagt, daß er in den Engpässen das ganze Regiment von Munckholm im Anmarsch gegen uns gesehen habe.«

»Er hat Euch getäuscht,« erwiederte der andere im Tone des Ansehens. »Die Regierung weiß noch nichts von Eurem Aufstand und ist so sicher, daß derjenige, der Eure gerechten Beschwerden abgewiesen hat, Euer Unterdrücker, der Unterdrücker des erlauchten und unglücklichen Schuhmacher, der General Levin von Knud, Drontheim verlassen hat und in die Hauptstadt abgereist ist, um den Vermählungsfeierlichkeiten seines Zöglings Ordener Guldenlew, der Ulrike Ahlfeldt heirathet, beizuwohnen.«

Man kann sich Ordeners Staunen denken. In diesem wilden, kaum bewohnten Lande, tief im Schooß der Erde, hörte er unbekannte Menschen alle die Namen aussprechen, die ihm theuer waren. Ein entsetzlicher Zweifel bemächtigte sich seines Herzens. Sollte es wahr sein? War das wirklich ein Agent des Grafen von Greiffenfeld? Wie! Schuhmacher, dieser ehrwürdige Greis, der Vater seiner Ethel, empörte sich gegen seinen König, besoldete Straßenräuber, entzündete einen Bürgerkrieg? Und für diesen Heuchler, für diesen Rebellen, hatte er, der Sohn des Vicekönigs von Norwegen, der Zögling des Generals Levin von Knud, seine Zukunft aufs Spiel gesetzt, sein Leben gewagt! Für ihn hatte er diesen isländischen Räuber aufgesucht und bekämpft, mit dem Schuhmacher im Einverständnis sein mußte, weil er ihn an die Spitze seines rebellischen Haufens stellte!

»Ja,« fuhr inzwischen der Emissär fort, »der furchtbare Han der Isländer stellt sich an Eure Spitze. Wer wird gegen Euch zu kämpfen wagen? Ihr fechtet für Eure Weiber und Kinder, die man auf schmähliche Weise ihres Erbthums beraubt, für einen edeln Unglücklichen, der seit zwanzig Jahren unschuldig im Kerker schmachtet. Vorwärts, Schuhmacher und die Freiheit harren Euer! Krieg den Tyrannen!«

»Krieg!« wiederholten tausend Stimmen. Waffen klirrten zusammen und das Horn erscholl.

»Haltet ein!« rief Ordener, indem er auf die Schwelle des unterirdischen Gewölbes trat. Der Gedanke, Schuhmacher ein Verbrechen und seinem Lande die Leiden eines Bürgerkriegs zu ersparen, hatte sein ganzes Wesen ergriffen.

Vor seinen Blicken lag eine unermeßliche unterirdische Stadt, deren Grenzen sich hinter einer Menge von Pfeilern verloren, die das Gewölbe trugen. Diese Pfeiler glänzten, wie Krystallbogen, im Strahl von tausend brennenden Fackeln, welche eine seltsam bewaffnete und in den Tiefen des Platzes ordnungslos verbreitete Menschenmenge trug. Wenn man von allen Seiten dieses Licht wiederstrahlen, dann in der fernen Dunkelheit schreckhafte Gestalten zwischen den Pfeilern hinschweben sah, so hätte man glauben können, daß man sich bei einer jener fabelhaften Zusammenkünfte von Hexen und Teufeln befinde, die Sterne als Fackeln in der Hand tragen und nächtlicher Weile um die Bäume der Wälder und die Mauern verfallener Schlösser tanzen.

Ein lautes Geschrei erhob sich: »Ein Fremder! Nieder! Nieder! Nieder mit ihm!«

Hundert Arme erhoben sich gegen Ordener. Er griff mit der rechten Hand an die linke Seite, um seinen Säbel zu ziehen; er hatte vergessen, daß er waffenlos war.

»Haltet ein!« rief Schuhmachers Agent, ein kleiner, dicker, schwarzgekleideter Mann. Er trat gegen Ordener vor.

»Wer seid Ihr?« fragte er.

Ordener antwortete nicht. Von allen Seiten starrten ihm Säbelspitzen oder Pistolenmündungen entgegen.

»Hast Du Furcht?« fragte der Emissär lächelnd.

»Lege Deine Hand auf mein Herz und fühle, ob es schneller schlägt,« erwiederte der Jüngling verächtlich.

»Ei!« sagte Jener, »er spielt den Stolzen! Je nun, er mag sterben!«

»Geduld, Herr Hacket,« fiel ein Greis mit weißem Barte ein, der sich auf ein langes Gewehr stützte. »Ich habe hier allein das Recht, diesen Christen zu den Todten zu senden, um ihnen zu erzählen, was er hier gesehen hat.«

Hacket lachte: »Wie es Euch gefallt, mein lieber Jonas! Gleichviel, wer diesen Spion richtet, wenn er nur verurtheilt wird.«

Der alte Mann wandte sich an Ordener: »Wer bist Du, der sich so kühn in unsere Mitte wagt?«

Ordener schwieg.

»Er will nicht antworten,« sagte der Alte. »Wenn der Fuchs gefangen ist, schreit er nicht mehr. Macht ihn nieder!«

»Mein wackerer Jonas,« unterbrach ihn Hacket, »laßt Han den Isländer diesen Menschen tödten, dies soll seine erste That in Eurer Mitte sein.«

»Ja, ja!« riefen beifällig viele Stimmen.

Ordener suchte diesen Han den Isländer, mit dem er erst ein so heißes Gefecht gehabt hatte, mit den Augen und sah mit Verwunderung einen Mann von riesenmäßiger Größe in der Tracht der Bergbewohner auf sich zukommen. Der Riese sah Ordener mit einem wild stumpfsinnigen Blicke an und verlangte eine Axt.

»Du bist nicht Han der Isländer,« sagte Ordener ruhig.

»Nieder mit ihm! Nieder mit ihm!« schrie Hacket wüthend.

Ordener sah seinen Tod vor Augen. Er griff in den Busen, um eine Haarlocke seiner Ethel herauszuziehen und den letzten Kuß auf sie zu drücken. Bei dieser Bewegung fiel ein Papier aus seinem Gürtel.

»Was ist das für ein Papier?« sagte Hacket. »Norbith, hebt dieses Papier auf.

Dieser Norbith war ein junger Mann, dessen bräunliches Gesicht, obwohl von harten Zügen, doch einen Ausdruck von Edelmuth hatte. Er hob das Papier auf und entfaltete es.

»Großer Gott!« rief er aus, »das ist der Paß meines armen Freundes Christoph Nedlam, den sie vor acht Tagen zu Skongen wegen Falschmünzerei gehängt haben.«

»Nun, so behalte diesen Wisch Papier,« sagte Hacket im Tone getäuschter Erwartung. »Ich hielt es für wichtiger. Und Ihr, mein lieber Han, fertigt diesen Menschen ab!«

Norbith trat vor Ordener hin und rief: »Dieser Mann steht unter meinem Schutze. Eher soll mein Haupt fallen, als ein Haar von dem seinigen. Ich leide nicht, daß der Paß meines Freundes Christoph Nedlam verletzt wird.«

»Bah! Bah!« sagte Hacket, »das ist eine Narrheit von Euch, mein wackerer Norbith! Dieser Mensch ist ein Spion und muß sterben.«

»Gebt mir meine Axt!« rief der Riese.

»Er soll nicht sterben,« entgegnete Norbith. »Was würde der Geist meines armen Nedlam dazu sagen? Nein, er wird nicht sterben, denn Nedlam will, daß er nicht sterbe!«

»Norbith hat Recht,« sagte der alte Jonas. »Warum soll man diesen Fremdling tödten, da er einen Paß von Christoph Nedlam hat?«

»Er ist aber ein Spion,« erwiderte Hacket.

Der alte Jonas trat neben Norbith und beide sagten feierlich: »Er hat einen Paß von Christoph Nedlam, der zu Skongen gehängt worden ist.«

Hacket sah, daß er nachgeben mußte, denn Alle murrten, und viele Stimmen riefen: »Dieser Fremdling darf nicht sterben, denn er hat einen Paß von Nedlam dem Falschmünzer.«

»So mag er denn leben!« murmelte Hacket mit zurückgehaltener Wuth.

»Und wenn es der Teufel wäre,« sagte Norbith, »so würde ich ihn nicht tödten.«

Er wandte sich zu Ordener und fuhr fort: »Du bist gewiß ein guter Bruder, weil Du einen Paß von Christoph Nedlam hast. Wir sind königliche Bergleute. Wir empören uns, um uns von der königlichen Vormundschaft frei zu machen. Der Herr Hacket, den Du hier siehst, sagt, daß wir für einen gewissen Grafen Schuhmacher zu den Waffen greifen; aber ich kenne diesen Schuhmacher nicht. Fremdling, unsere Sache ist gerecht. Ich frage Dich, willst Du mit uns sein?«

Ein Gedanke ging in Ordeners Seele auf.

»Ja!« antwortete er.

Norbith reichte ihm einen Säbel, den er stillschweigend annahm.

»Bruder,« sagte Norbith, »wenn Du uns verrathen willst, so tödte mich zuerst.«

Ein Horn erscholl und ferne Stimmen riefen: »Da kommt Kennybol!«