Am 7. Januar 1482 wurde im Chatelet, wie üblich, offene Sitzung gehalten. Der Saal war klein, nieder und gewölbt. Eine Tafel, mit ausgeschnitzten Lilien verziert, stand am äußersten Ende, dem Eingange gegenüber; ein großer hölzerner Lehnstuhl, für den Prevot bestimmt, war unbesetzt; links von demselben auf einer Bank saß der Auditor, Meister Florian; unter ihm der Gerichtsschreiber, die Feder in der Hand. Gegenüber, vor den hölzernen Schranken, standen die Zuschauer. Im Saale selbst, vor der Thüre, vor den Schranken sah man eine Menge Sergenten sich bewegen und ihren Dienst verrichten.

Meister Florian Barbedienne, Auditor am Chatelet, war taub. Dieser Fehler hat bei einem Richter nicht viel zu bedeuten, Meister Florian richtete darum nicht minder gut, und zwar ohne Appellation. Es ist hinreichend, wenn ein Richter sich nur das Ansehen gibt zuzuhören, und Meister Florian erfüllte diese Bedingung, die einzig wesentliche einer guten Rechtspflege, um so besser, als seine Aufmerksamkeit durch kein Geräusch gestört werden konnte.

Im Uebrigen hatte er unter den Zuhörern einen unerbittlichen Kritiker seiner Handlungen und Geberden an unserem guten Freunde Johannes Frollo de Molendino, der überall zu finden war, nur in den Hörsälen der Lehrer nicht.

»Siehe da,« sagte er zu Robin Poussepain, die Scene, die vor ihren Augen aufgeführt wurde, commentirend, »siehe da, Jehanneton du Buisson! Bei meiner armen Seele, der alte Esel verurtheilt sie! Er ist eben so blind als taub! Fünfzehn Sous soll das schöne Kind bezahlen, weil sie zwei Paternoster getragen hat.«

»Ei! Zwei Edelleute unter diesem Gesindel! Corpus Christi! Sie haben gewürfelt! Wann werde ich doch einmal unsern Rektor hier erblicken! Hundert Pfund Strafe für den König unseren Herrn! Ich will mein Bruder, der Archidiakonus, werden, wenn mich das abhält zu spielen, zu spielen bei Tage, zu spielen bei Nacht, zu leben im Spiel, zu sterben im Spiel, und am letzten Ende meine arme Seele zu verspielen!«

»Heilige Jungfrau, wie viele Mädchen! Ein ganzer Schafstall voll! Ich kenne sie alle, so wahr Gott lebt! Zehn Sous Strafe, ihr Koketten! Das wird Euch lehren, goldene Leibgürtel zu tragen!«

»Aufgepaßt, Robin Poussepain! Wen bringen sie denn jetzt, daß so viele Sergenten auf den Beinen sind? Beim Jupiter! die ganze Meute ist in Bewegung! Das muß das Hauptstück der Jagd sein! Ein Keuler! Hercle! Es ist unser Fürst von gestern, unser Narrenpabst, unser Glöckner, unser Einäugiger, unser Buckliger, unser Fratzengesicht, unser Quasimodo!«

Es war Quasimodo, gebunden und unter starker Bedeckung. Es lag übrigens, seine Mißgestalt ausgenommen, in Quasimodo nichts, was diesen ungewöhnlichen Aufwand von Spießen, Büchsen und Schwertern rechtfertigte; er war düster, schweigsam und ruhig. Kaum warf von Zeit zu Zeit sein einziges Auge einen zornerfüllten Blick auf die Bande, die ihn fesselten. Inzwischen blätterte Meister Florian in der gegen Quasimodo vorliegenden Klage, die ihm der Gerichtsschreiber darreichte. Diese Vorsicht brauchte er bei jedem Verhör; er lernte dadurch die Namen, Qualitäten und Vergehungen des Beschuldigten kennen, machte voraussichtliche Antworten auf vorausgesehene Fragen, und arbeitete sich so durch alle Schwierigkeiten des Verhörs durch, ohne daß man seine Taubheit allzusehr gewahr wurde. Das Protocoll war für ihn der Hund des Blinden. Wenn zufällig durch irgend eine unpassende Anrede oder eine unverständliche Frage seine Taubheit sich kundgab, so hielten die Einen dies für tiefe Gelehrsamkeit, die Anderen für Dummheit. Meister Florian gab sich so viele Mühe, seine Taubheit zu verhehlen, daß es ihm meistens gelang. Dieser Erfolg machte ihm selbst Illusion, was übrigens leichter ist, als man glaubt, denn alle Buckligen gehen mit erhobenem Haupte, alle Stammelnden schreien und alle Tauben sprechen leise. Daher hatte sich Meister Florian endlich überredet, daß sein Ohr bloß ein wenig rebellisch sei.

Nachdem er nun Quasimodo’s Sache wohl ausgefaßt und sich einverleibt hatte, bog er das Haupt rückwärts und schloß die Augen zur Hälfte, um sich ein majestätisches und unpartheiisches Ansehen zu geben, so daß er jetzt sowohl blind als taub war, ohne welche doppelte Bedingung es keinen vollkommenen Richter gibt. In dieser richterlichen Haltung begann er das Verhör!

»Euer Name?«

Hier trat ein durch das Gesetz nicht vorausgesehener Fall ein, nämlich, daß ein Tauber einen Tauben zu verhören hatte.

Quasimodo, der nichts von der an ihn gerichteten Frage hörte, starrte vor sich hin und antwortete nicht.

Der Richter, gleichfalls taub und von der Taubheit des Delinquenten nicht unterrichtet, glaubte, daß er geantwortet habe, wie gewöhnlich alle Befragten thun, und fuhr in seiner mechanischen und stupiden Weise fort:

»Gut! Euer Alter?«

Quasimodo antwortete eben so wenig auf diese Frage. Der Richter glaubte sie beantwortet und fuhr fort:

»Jetzt, Euer Stand?«

Immer das nämliche Stillschweigen.

Die Zuschauer sahen sich unter einander an und kicherten.

»Gut,« fuhr der taube Richter ungestört fort, indem er voraussetzte, daß der Angeklagte seine dritte Frage beantwortet habe: »Ihr seid vor uns angeklagt: primo, nächtlicher Ruhestörung; secundo, unehrbaren Angriffs auf die Person eines närrischen Weibsbilds; tertio, des Widerstands und Aufruhrs gegen die Bogenschützen der königlichen Leibwache. Erklärt Euch über alle diese Punkte. Gerichtschreiber, habt Ihr die Antworten aufgeschrieben, welche der Angeklagte bis jetzt gegeben hat?«

Auf diese unpassende Frage erhob sich ein allgemeines Gelächter im ganzen Saale, so heftig, so toll, daß es selbst den beiden Tauben nicht entgehen konnte. Quasimodo zuckte die Achseln und blickte verachtungsvoll um sich. Meister Florian, gleich ihm verwundert, bildete sich ein, daß irgend eine unehrerbietige Antwort des Angeklagten das Gelächter der Zuhörer erregt habe, und fuhr ihn mit den Worten an:

»Du Schuft, Du hast hier eine Antwort gegeben, die den Strick verdiente!«

Dieser Ausfall war nicht geeignet, der allgemeinen Lustigkeit Einhalt zu thun, sondern erregte ein convulsivisches Gelächter, das durch den ganzen Saal lief und alle Anwesenden ohne Ausnahme ansteckte. Die beiden Tauben allein stimmten nicht mit ein. Der Richter, immer erbitterter, glaubte im nämlichen Tone fortfahren zu müssen, in der Hoffnung, dadurch dem Angeklagten einen heilsamen Schrecken, und den Zuhörern den nöthigen Respekt einzuflößen.

»Du heilloser und verkehrter Bursche!« redete er den Delinquenten an, »Du erlaubst Dir ein solches Benehmen gegen den Auditor des Chatelet! Weißt Du, daß ich Florian Barbedienne heiße und Stellvertreter des Herrn Prevot bin?«

In diesem Augenblicke trat der Prevot, Robert d’Estouteville, in eigener Person in den Saal, wodurch die Rede seines Auditors unterbrochen wurde. Meister Florian stürmte ihm sogleich entgegen und redete ihn mit den Worten an: »Gnädiger Herr, ich bitte um exemplarische Bestrafung des hier gegenwärtigen Angeklagten, wegen groben Mangels an Achtung vor der Justiz.«

Der Prevot runzelte die Stirne und warf einen so gebietenden und bezeichnenden Blick auf den Stummen, daß dessen Aufmerksamkeit erregt wurde.

Hierauf richtete der Prevot, mit Strenge in Blick und Ton, bie Frage an ihn: »Was hast Du denn begangen, Du Schuft, daß Du hier bist?«

Der arme Teufel, in der Meinung, daß der Prevot seinen Namen wissen wolle, brach sein gewöhnliches Stillschweigen und antwortete mit seinem rauhen Kehllaute: »Quasimodo.«

Die Antwort paßte so wenig auf die Frage, daß das tolle Gelächter von neuem begann. Der Prevot wurde roth und blau vor Zorn und schrie: »Willst Du auch mit mir Deinen Spaß treiben, Du Hund?«

»Glöckner an der Liebfrauenkirche,« antwortete Quasimodo, in der Meinung, daß der Richter wissen wolle, wer er sei.

»Glöckner!« wiederholte der Prevot zornig. »Ich werde auf Deinem Buckel durch alle Straßen von Paris läuten lassen! Hörst Du, Schuft?«

»Wenn Ihr mein Alter wissen»wollt,« sagte Quasimodo, »ich werde, glaube ich, auf den Sanct Martinstag zwanzig Jahre alt.«

Das war allzuviel für die Geduld des Prevot: »Sergenten,« rief er vor Zorn außer sich, »führt mir diese Bestie nach dem Driller auf dem Grèveplatz, dreht ihn eine Stunde lang und haut ihm die Haut voll!«

Der Gerichtschreiber brachte dieses Urtheil alsogleich zu Papier.

»Beim Bauche des Pabsts!« rief der Mühlenhans aus seiner Ecke, »der ist wohl gerichtet.«

Der Gerichtschreiber reichte dem Prevot das Urtheil dar; dieser setzte seinen Namen bei und entfernte sich dann, um seine Runde durch die Gerichtssäle der Hauptstadt fortzusetzen. Johannes Frollo und Robin Poussepain lachten in’s Fäustchen. Quasimodo, der von dem ganzen Vorgang nichts verstand, schien verwundert, aber ziemlich gleichgültig. Inzwischen, als Meister Florian das Urtheil durchlas, um es auch zu unterzeichnen, näherte sich der Gerichtschreiber, der Mitleid mit dem armen Teufel hatte, seinem Ohre und sagte: »Dieser Mensch ist taub.«

Der Gerichtschreiber hoffte, daß die Beiden gemeinschaftliche Gebrechlichkeit Meister Florian zu Gunsten des Verurtheilten stimmen würde. Aber einmal wollte Meister Florian nicht taub scheinen, und dann war sein Gehör so hart, daß er nicht ein Wort von dem hörte, was der Gerichtschreiber zu ihm gesagt hatte. Er stellte sich jedoch, als ob er ihn vollkommen verstanden hätte, und rief: »Ah! Ah! Das ist ein Anderes; das wußte ich nicht. Eine Stunde Pranger mehr in diesem Falle.«

Er unterzeichnete das also verschärfte Urtheil.