XXI.

Seit dem Tage, wo Quasimodo auf dem Pranger gestanden hatte, glaubten die Nachbarn der Liebfrauenkirche zu bemerken, daß der Feuereifer des Glöckners für seine Glocken sehr erkaltet war. Vorher wurde zu jeder Stunde und bei jedem Anlaß, von der Frühmette bis zur Vesper, anhaltend eifrig, durch alle Tonleitern der Glocken geläutet. Die alten Thürme der Liebfrauenkirche erzitterten den ganzen Tag unter ihrem Schalle. Man fühlte ohne Unterlaß die Gegenwart eines geräuschvollen Geistes, der ihren metallenen Mund in Bewegung setzte. Jetzt schien dieser Geist verschwunden zu sein; die Kirche war stumm, die Feste und Leichenbegängnisse hatten ihr einfaches Geläute, trocken und nackt, was eben das Ritual erforderte, nicht mehr noch weniger. Von dem doppelten Geräusch, das eine Kirche mit der Orgel im Innern, der Glocke nach Außen macht, blieb nur die Orgel übrig. Man hätte glauben können, daß kein Glöckner mehr im Glockenturme sei. Gleichwohl war Quasimodo immer noch dort. Was war denn in ihm vorgegangen? Hielten ihn Scham und Verzweiflung wegen des Prangers immer noch niedergeschlagen, tönten die Peitschenhiebe des Stockmeisters noch immer in seiner Seele wieder, und hatte die Betrübniß über eine solche Behandlung jedes andere Gefühl in ihm erstickt, selbst die Liebe zu den Glocken? Oder hatte Marie eine Nebenbuhlerin in dem Herzen des Glöckners der Liebfrauenkirche, vernachlässigte er die große Glocke und ihre vierzehn Schwestern für etwas noch Liebenswürdigeres und Schöneres?

Es begab sich, daß in diesem Gnadenjahre 1482 Mariä-Verkündigung auf Dienstag den 25. März fiel. An diesem Tage war die Luft so rein und leicht, daß Quasimodo wieder einige Liebe für seine Glocken zu fühlen begann. Er stieg demnach in den nördlichen Thurm hinauf, während unten die Pforten für die gläubige Menge weit geöffnet waren.

Im Glockenthurme angelangt, betrachtete Quasimodo mit traurigem Kopfschütteln die Glocken, als ob es ihm leid sei, daß etwas Fremdartiges sich zwischen ihn und sie gestellt habe. Als er jedoch die Glocken in Schwung gesetzt hatte, und sie in den Lüften dahinfliegen sah, ward er wieder glücklich wie zuvor, und die Freude strahlte auf seinem Gesichte. Er ging und kam, lief von einer Glocke zur andern, ermunterte mit Stimme und Geberde die Sänger der Lüfte, gleich einem Kapellmeister, der seine Virtuosen anspornt,

»Munter,« rief er, »munter, Gabriele! sause durch die Luft und trage Deine Stimme durch die Stadt hin, es ist heute Festtag!«

»Thibault, nicht so faul, Du lässest nach, bist Du eingerostet, Du alter Träumer? So ist es recht! Schnell! Schnell! Man darf den Schlegel nicht sehen. Mache sie alle taub wie mich!«

»Guillaume! Guillaume! Du bist der größte und Pasquier ist der kleinste, und macht seine Sache besser als Du! Ich will wetten, daß man ihn weiter hört als Dich.«

So sprechend belebte Quasimodo den Eifer seiner geliebten Glocken.

Jetzt warf er zufällig einen Blick auf den Platz hinab und gewahrte auf demselben ein seltsam gekleidetes Mädchen, das einen Teppich auf den Boden ausbreitete, auf welchen sich eine kleine Ziege setzte; eine Gruppe Zuschauer sammelte sich um sie her. Dieser Anblick änderte plötzlich den Gang seiner Ideen. Quasimodo kehrte den Glocken den Rücken, setzte sich nieder und heftete auf die Tänzerin jenen träumerischen Blick, sanft und zärtlich, der schon einmal den Archidiakonus in Erstaunen gesetzt hatte. Der Glöckner schien Kirche, Thurm und Glocken vergessen zu haben und ganz in der Anschauung des lieblichen Geschöpfes zu leben, das unten auf dem Platze tanzte.

XXII.

An einem schönen Morgen dieses nämlichen Monats März, Samstag den 29., am St. Eustachstage, bemerkte unser junger Freund Johannes Frollo, der Mühlenhans, während er sich ankleidete, daß seine Börse keinen metallischen Klang mehr von sich gab.

»Arme Börse!« sprach er. »Keinen rothen Heller mehr! Ach! die Würfel, die Bierflaschen und Venus haben dich grausam ausgesogen! Wie bist du so leer, so flach, so runzlich!«

Traurig kleidete er sich an. Ein Gedanke schien in ihm aufzusteigen, aber nur widerstrebend. Er dachte nach, aber dieser Gedanke kam wieder. Endlich warf er zornig seine Mütze auf den Boden und rief: »Sei’s, wie es sei! Es muß sein. Ich gehe zu meinem Bruder, dem Archidiakonus. Er wird mir eine Predigt halten und einen Thaler geben.«

Mit diesen Worten raffte er seine Mütze vom Boden auf und schritt hinaus, wie ein Mensch, der zum Aeußersten schreitet. Als er vor der Liebfrauenkirche ankam, fühlte er sich aufs Neue unschlüssig. Er ging gedankenvoll ein paarmal auf und ab und sagte: »Die Predigt ist gewiß, der Thaler zweifelhaft! Wo ist mein Bruder, der Archidiakonus?« fragte er einen Meßner, der aus dem Kloster kam.

»Er ist,« erwiederte dieser, »in seiner Zelle im Thurm, und ich rathe Euch nicht, ihn dort zu stören, Ihr hättet denn eine Botschaft vom Pabst oder vom König auszurichten.«

Der Mühlenhans klatschte in die Hände und rief: »Das kommt wie gerufen, eine herrliche Gelegenheit, die berüchtigte Zauberzelle zu sehen.«

Während er den Thurm hinaufstieg, hielt er folgendes Selbstgespräch: »Ich bin recht neugierig, diese Wunderzelle zu sehen, die mein Bruder versteckt, wie sein Pudendum! Es heißt, daß er dort große Oefen anzünde, um den Stein der Weisen zu kochen! Wie einfältig! Mir liegt an dem Steine der Weisen so wenig, als an einem Kieselstein, und es wäre mir lieber, wenn ich in seinem Ofen einen Eierkuchen mit Speck fände, als den größten Stein der Weisen, den es auf der Welt geben mag.«

Nachdem er tausend Schock Donnerwetter über die endlose Treppe geflucht hatte, kam er endlich keuchend vor der magischen Zelle seines Bruders an. »Uf!« sagte er, »da sind wir ja!«

Der Schlüssel steckte und die Thüre war nur angelehnt; er gab ihr einen leisen Stoß und brachte seinen Kopf durch die Oeffnung.

Wer Rembrand’s Faust gesehen hat, kann sich einen Begriff von dem machen, was jetzt Johannes Frollo erblickte: eine düstere Zelle, in der Mitte derselben eine Tafel mit Todtenköpfen, Sphären, Brennkolben, Compaß, hieroglyphischen Pergamenten. Vor dieser Tafel sitzt der Doktor Faust, seine Pelzmütze über die finstern Augenbraunen herabgezogen. Man sieht ihn nur mit halbem Leibe; er hat sich halb erhoben von seinem ungeheuern Lehnstuhl, stützt sich mit den Händen auf die Tafel und betrachtet, neugierig und schreckenvoll, einen großen leuchtenden Cirkel magischer Buchstaben, der im Hintergrund der Zelle auf der Wand glänzt. Die cabbalistische Sonne scheint unter der Anschauung zu flimmern und erfüllt die düstere Zelle mit den Strahlen eines geheimnißvollen Lichtes. Es ist schön und furchtbar zugleich.

So ziemlich den nämlichen Anblick hatte Johannes Frollo, als er durch die halboffene Thüre in die Zelle seines Bruders blickte. Sie war eben so düster als Doktor Faust’s. Es stand auch ein großer Lehnstuhl und eine große Tafel darin, deßgleichen Compasse, Brennkolben, Todtenköpfe, Skelette von Thieren, dicke Manuskripte; nur die leuchtende Inschrift an der Wand fehlte.

In dem Lehnstuhl saß, auf die Tafel niedergebückt, ein Mann, den Johannes Frollo an seinem Kahlkopf alsbald für seinen Bruder erkannte, obgleich er ihm den Rücken zukehrte. Der Archidiakonus war in so tiefen Gedanken, daß er die Anwesenheit seines Bruders nicht bemerkte. Er sprach in abgebrochenen Sätzen für sich, indem er von Zeit zu Zeit wieder in die Manuscripte blickte: »Ja, Manou sagt es und Zoroaster lehrt es! Das Feuer erzeugt die Sonne, die Sonne den Mond. Das Feuer ist die Seele des großen All. Seine elementarischen Atome ergießen sich unaufhörlich über die Welt und rieseln aus unzähligen Quellen. An den Punkten, wo diese Ausströmungen sich am Himmel durchschneiden, erzeugen sie das Licht, an ihren Durchschnittspunkten in der Erde erzeugen sie das Gold. Licht und Gold ist eins. – Feuer im concreten Zustand. – Die Verschiedenheit zwischen dem Sichtbaren und Fühlbaren, zwischen dem Flüssigen und Festen der nämlichen Substanz, der Wasserdünstung zum Eise, weiter nichts. – Das sind keine müßigen Träume, es ist das allgemeine Gesetz der Natur. – Aber wie das Geheimniß dieses allgemeinen Gesetzes in wissenschaftliche Regeln bringen? Wie! dieses Licht, das meine Hand überströmt, ist Gold! diese nämlichen Atome, die nach einem gewissen Gesetze vereinzelt sind, müssen nun nach einem gewissen andern Gesetze wieder vereint werden. – Wie nun? – Einige sind auf den Gedanken gerathen, einen Lichtstrahl einzuschließen. – Averroës, ja, der ist es, – Averroës hat einen solchen Lichtstrahl unter dem ersten linken Pfeiler des muhamedanischen Heiligthums in der großen Moschee zu Cordova eingeschlossen, allein man darf die Höhle nicht öffnen, um zu sehen, ob die Operation geglückt ist, bevor 8000 Jahre verflossen sind.«

Da müßte ich lange auf meinen Thaler warten, dachte der Mühlenhans bei sich. –

Andere waren der Meinung, fuhr der träumerische Priester fort, daß es besser sei, auf einen Strahl des Sirius zu operiren. Es ist aber sehr schwierig, diesen Strahl rein zu erhalten, wegen der gleichzeitigen Gegenwart anderer Gestirne, deren Strahlen sich damit vermischen. Flamel glaubt, daß es einfacher sei, auf das irdische Feuer zu operiren. – Flamel! Welcher prophetische Name! Flamma! – Ja, das Feuer, sonst nichts, darin liegt Alles. – Der Diamant ist in der Kohle, das Gold im Feuer. – Aber wie es herausziehen? – Magistri behauptet, daß es gewisse Frauennamen von so geheimnißvollem Zauber gebe, daß es nichts weiter bedürfe, als sie während der Operation auszusprechen. – Laßt doch sehen, was hierüber Manou sagt: »Wo man die Weiber ehrt, ist Gott geliebt; wo man sie verachtet, braucht man nimmer zu Gott zu beten. Der Mund eines Weibes ist eine reine Quelle, ein fließendes Wasser, ein Sonnenstrahl. – Der Name eines Weibes muß angenehm, sanft, wohlklingend sein und Weisen einer Benediction gleichen…« – Fürwahr! der Weise hat Recht: Maria, Sophia, Esmeral… – Verflucht seist Du! Immer dieser Gedanke!

Der Priester schlug das Buch, aus dem er gelesen hatte, heftig zu und rieb mit seiner Hand die Stirne, als ob er den Gedanken, der ihn verfolgte, aus dem Kopfe treiben wollte. Hierauf nahm er vom Tische einen Nagel und einen kleinen Hammer, dessen Stiel mit cabbalistischen Zeichen seltsam bemalt war.

Seit einiger Zeit, sagte er mit bitterem Lächeln, scheiterte ich in allen meinen Versuchen! Ich bin von einer fixen Idee besessen, die mein Hirn verzehrt, wie ein brennendes Feuer. Ich konnte nicht einmal Cassiodors Geheimniß, dessen Lampe ohne Docht und Oel brannte, wieder auffinden, und das ist doch eine so leichte und einfache Sache!

Den Teufel auch, mag das leicht sein! brummte der Mühlenhans in den Bart.

Es bedarf also, fuhr der Priester fort, bloß eines einzigen ärmlichen Gedankens, um den Menschen schwach und toll zu machen! wie würde doch Claude Pernelle über mich lachen, sie, die nicht einen Augenblick Nicolas Flamel von dem großen Werke abwendig zu machen vermochte!

Wie! ich halte in meiner Hand Zechiels magischen Hammer! Bei jedem Streiche, den der furchtbare Rabbiner, in seine Zelle eingeschlossen, mit diesem Hammer auf diesen Nagel schlug, that sich plötzlich die Erde auf und verschlang denjenigen seiner Feinde, den er dem Untergang geweiht hatte, wäre er auch zweitausend Meilen weit entfernt gewesen. Der König von Frankreich selbst mußte im Pflaster von Paris bis an die Kniee versinken, bloß weil er eines Abends unbedachtsam an die Pforte des Wunderthäters gepocht hatte. Und das ist erst vor dreihundert Jahren geschehen. Diesen Hammer und diesen Nagel nun besitze ich, aber was sind sie in meiner schwachen Hand? Eben so wenig furchtbar, als der Schmiedhammer in der Faust eines Grobschmieds. Und gleichwohl braucht es nichts, als die Zauberformel wieder aufzufinden, welche Zechiel aussprach, während er auf den Nagel klopfte.

Das wird keine so große Hexerei sein! dachte der Mühlenhans.

Es kommt nur auf einen Versuch an, fuhr der Priester lebhaft fort. Ist das rechte Wort gefunden, so wird ein blauer Funken aus dem Nagel strömen. – Emen-Hetan! Emen-Hetan! Emen-Hetan! – Das ist nicht das rechte Wort. – Sigeani! Sigeani! Nagel, Nagel, öffne das Grab Jedem, der den Namen Phöbus trägt! – Verflucht seist Du! immer und ewig der nämliche Gedanke! Mit diesen Worten warf er den Hammer zornig von sich und beugte sich so tief auf die Tafel nieder, daß ihn der lauschende Johannes Frollo vor der ungeheuern Lehne seines Stuhls nimmer sehen konnte. Plötzlich erhob er sich wieder, nahm einen Zirkel und grub stillschweigend in die Mauer das griechische Wort:

ΑΝΑΓΚΗ

Mein Bruder ist ein Narr, dachte der Mühlenhans bei sich. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn er geschrieben hätte: Fatum. Es braucht nicht Jedermann Griechisch zu verstehen.

Der Archidiakonus setzte sich wieder in seinen Lehnstuhl und stützte das Haupt in seine beiden Hände, wie ein Kranker thut, dessen Kopf schwer und brennend ist.

Der Student staunte bei diesem Anblick. Er, dessen Herz in der frischen freien Luft flatterte, wie ein Vogel, der auf der Welt kein anderes Gesetz befolgte, als das der Natur, der seinen Neigungen und Leidenschaften freien Lauf ließ, und bei dem der See großer menschlicher Erschütterungen immer trocken war, weil er ihn jeden Tag in vollen Strömen fließen ließ, er wußte nicht, wie stürmisch dieses Meer menschlicher Leidenschaften aufwallt und gegen die Ufer schlägt, wenn man ihm jeden Ausgang wehrt, wie es anschwillt und das Herz durchfrißt, wie es wallt und wogt, bis es die Dämme durchgraben und sich sein Bett gebrochen hat. Des Priesters ernste und kalte Außenseite, die eisartige Oberfläche unzugänglicher Tugend hatte Johannes Frollo immer getäuscht. Der lustige Student hatte niemals daran gedacht, daß unter dem schneebedeckten Gipfel des Aetna ein Meer flammender Lava verborgen liegt.

Er konnte sich vielleicht im Augenblicke keine genaue Rechenschaft über diese Gedanken geben, aber das fühlte er doch, daß er gesehen, was er nicht hätte sehen sollen; daß er die Seele seines älteren Bruders in einem Erguß ihrer geheimsten Tiefen überrascht hatte, und daß dieser nichts davon erfahren durfte. Als er daher sah, daß der Archidiakonus in seine vorige Unbeweglichkeit zurückgefallen war, zog er sachte den Kopf aus der Thüre und machte hinter derselben ein Geräusch, wie Jemand, der gerade ankommt und seine Ankunft schon von ferne anmelden will.

»Herein!« rief der Archidiakonus. »Ich habe auf Euch gewartet und deswegen den Schlüssel stecken lassen. Nur herein, Meister Jakob!«

Der Student trat keck in die Zelle. Der Priester, dem ein solcher Besuch an solchem Orte unwillkommen, war, rief ihm mißmuthig entgegen: »Wie! Du bist es! Johann?«

»Es ist immerhin ein J,« erwiederte der Student mit seinem rothen, lustigen, unverschämten Gesichte.

Der Archidiakonus nahm eine ernste und strenge Miene an: »Was willst Du hier?«

»Mein Bruder,« erwiederte der Student, indem er sich vergebliche Mühe gab, sein Gesicht in anständige und bescheidene Falten zu legen, ich wollte Euch nur bitten…«

»Um was?«

»Um ein wenig Moral, deren ich sehr benöthigt bin.« Der Mühlenhans wagte nicht hinzuzufügen: und um ein wenig Geld, das ich noch nothwendiger habe.

»Mein Freund,« sagte der Archidiakonus frostig, »ich bin sehr unzufrieden mit Dir.«

»Ei du mein Gott!« seufzte der Student.

Der Priester faßte ihn scharf ins Auge. »Es ist gut, daß Du selbst kommst.«

Dieser Eingang war nicht sehr erbaulich, und der Mühlenhans war einer scharfen Strafpredigt gewärtig.

»Johann, man bringt mir täglich Klagen über Dich vor. Was ist es denn mit der Bastonade, die ihr dem jungen Vicomte Albert de Ramonchamp gegeben habt?«

»Oh! Das ist nicht der Mühe werth: ein unverschämter Page, der absichtlich sein Pferd durch den Koth sprengte, um die Studenten zu bespritzen!«

»Was ist es weiter mit einem gewissen Mahiet Fargel, dessen Kleid ihr zerrissen habt?

Tunicam dechiraverunt, besagt die Klagschrift.«

»Bah! Es war nur ein schlechter Kittel! Was ist da für ein Lärm darum?«

»Die Klagschrift besagt Tunicam, und nicht cappettam. Verstehst Du Dein Lateinisch?«

Johannes antwortete nichts.

»So,« fuhr der Priester mit Kopfschütteln fort, »so steht es jetzt um die Wissenschaft und das Studium? Die lateinische Sprache versteht man kaum, die hebräische gar nicht, die griechische ist so unbekannt, daß selbst die Gelehrtesten sich nicht schämen, ein griechisches Wort zu überhüpfen, und daß es fast sprüchwörtlich geworden ist: graecum est, non legitur.«

Der Student erhob kühnlich seine Augen zu dem Priester: »Wenn es Euch gefällig ist, Herr Bruder, so will ich Euch das griechische Wort, das dort auf der Mauer steht, auf gut Französisch erklären.«

»Welches Wort?«

ΑΝΑΓΚΗ

Eine leichte Röthe färbte die bleichen Wangen des Priesters, gleich dem emporsteigenden Rauche, der die innere Glut eines Vulkans nach Außen ankündigt. Der Student bemerkte sie kaum.

»Je nun,« stotterte der ältere Bruder mühsam, »so sage mir, was dieses Wort heißt.«

»Verhängniß

Der Archidiakonus wurde wieder bleich, und der leichtsinnige Student fuhr fort: »Und das Wort, das von der nämlichen Hand darunter gegraben ist: Αναγνεία, bedeutet Unkeuschheit. Ihr seht, daß man sein Griechisch versteht.«

Der Archidiakonus erwiederte nichts. Diese griechische Lektion hatte ihn in seine alten Träumereien versenkt. Der schlaue Mühlenhans, der sich auf alle Ränke eines verzogenen Kindes verstand, hielt den Augenblick für günstig, seine Bitte anzubringen. Er nahm daher eine äußerst sanfte Stimme an und begann auf folgende Weise:

»Mein lieber Bruder, Ihr werdet mir doch nicht böse sein wegen einer Tracht Schläge, welche etliche böse Buben in gerechter Fehde von mir erhalten haben?«

Dieser schmeichelnde Eingang machte jedoch auf den ernsten Archidiakonus nicht den gehofften Eindruck. Cerberus biß nicht in den Honigkuchen. Die Stirne des Priesters entrunzelte sich nicht im geringsten.

»Wo willst Du damit hinaus?« fragte er trocken.

»Je nun, um auf die Hauptsache zu kommen: ich brauche Geld.«

Auf diese unverschämte Anforderung nahm das Gesicht des Archidiakonus einen pädagogischen und väterlichen Ausdruck an.

»Ihr wißt, Meister Johann, daß unser Lehen von Tirechappe, wenn man Alles zusammenfegt, nicht über 39 Livres, 11 Sous und 6 Pfennige erträgt. Das ist zwar um die Hälfte mehr, als zu den Zeiten der Gebrüder Paclet, aber es ist noch nicht viel.«

»Ich brauche Geld,« sagte der Student mit stoischem Gleichmuth.

»Ihr wißt, daß nach dem Spruche des Officials unsere 21 Häuser des Lehens dem bischöflichen Stuhle frohnpflichtig sind, und daß wir diese Last mit zwei Mark abkaufen müssen. Nun wißt Ihr auch ferner, daß ich diese zwei Mark noch nicht zusammen zu bringen vermochte.«

»Ich weiß weiter nichts, als daß ich Geld brauche.«

»Und was willst Du damit machen?«

Auf diese Frage glänzte ein Hoffnungsstrahl in den Augen des Studenten. Er nahm seine vorige unterwürfige und süßliche Miene wieder an.

»Seht, mein lieber Bruder,« sagte er, »ich würde mich gewiß nicht in schlechter Absicht an Euch wenden. Es ist nicht davon die Rede, mit Euren Pfennigen in der Kneipe den Wildfang zu machen, noch im goldgestickten Mantel durch die Straßen von Paris zu ziehen, den Lakaien hinter mir, cum meo laquasio. Nein, lieber Bruder, dieses Geld ist zu einem guten Werke bestimmt.«

»Zu welchem guten Werke?« fragte der Archidiakonus etwas verwundert.

»Zwei meiner Freunde möchten gerne dem Kind einer armen Wittwe ein Wickelzeug kaufen. Das ist ein Almosen. Es kostet drei Gulden und ich möchte das Meinige auch dazu beitragen.«

»Wie heißen diese beiden Freunde?«

»Pierre l’Assommeur und Baptiste Croque-Oison.«

»Hm!« sagte der Archidiakonus, »die Namen dieser guten Freunde passen zu einem guten Werke wie die Faust auf ein Auge.«

Der Mühlenhans sah zu spät ein, daß er die Namen seiner beiden Freunde übel gewählt hatte.

»Und,« fuhr der kluge Priester fort, »einem armen Weib ein Kindszeug kaufen, das drei Gulden kostet!«

»Nun, zum Teufel,« fuhr der Student erbost auf, »so brauche ich also dieses Geld, um diesen Abend Isabelle im Liebesthale zu besuchen.«

»Unzüchtiger Mensch!« rief der Priester aus.

»Αναγνεία«, sagte Johannes.

Dieses Citat, welches der Student boshafter Weise von der Mauer der Zelle entlehnte, machte einen sonderbaren Eindruck auf den Priester. Er biß sich in die Lippen und sein Gesicht überzog sich mit einer Schamröthe.

»Packe Dich,« sagte er zu Johannes, »ich erwarte Jemand.«

Der Student machte noch einen letzten Versuch:

»Bruder Claudius, gib mir wenigstens ein halbes Livre, daß ich zehren kann.«

»Wo bist Du in Gratian’s Decretalien stehen geblieben?« fragte der Archidiakonus.

»Ich habe meine Hefte verloren.«

»Wie weit bist Du in den lateinischen Humanioren gekommen?«

»Man hat mir meinen Horaz gestohlen.«

»Wie steht es mit Deinem Aristoteles?«

»Meiner Treu, Herr Bruder! Sagt nicht ein gewisser Kirchenvater, daß die Ketzer aller Zeiten auf die metaphysische Waide des Aristoteles gegangen seien? Ich will kein aristotelisches Heu fressen und meine Religion nicht der Methaphysik opfern.«

»Junger Mensch,« fuhr der Archidiakonus fort, »bei dem letzten Einzug des Königs war ein Edelmann, Philipp de Comines genannt, auf dessen Pferdsdecke der Wahlspruch gestickt war: Qui non laborat, non manducet. Diesen Wahlspruch nimm Dir zu Herzen.«

Der Student zögerte einen Augenblick mit der Antwort, heftete das Auge auf den Boden und machte ein böses Gesicht. Plötzlich wandte er sich gegen seinen Bruder und sagte: »Ihr wollt mir also nicht einmal ein paar Sous geben, um bei dem nächsten Bäcker ein Brod zu kaufen?«

»Qui non laborat, non manducet.«

Auf diese Antwort des unerbittlichen Archidiakonus deckte der Mühlenhans seine Augen mit beiden Händen zu, wie ein schluchzendes Weib, und rief im Tone der Verzweiflung aus: O to to to to toi!

»Was will das heißen, Freund?« fragte der Archidiakonus, erstaunt über dieses tolle Benehmen.

»Je nun,« erwiederte der Student und erhob seine frechen Augen zu dem Priester, »das ist Griechisch! Es ist ein Anapäst von Aeschylus, das vollkommen den Schmerz ausdrückt.«

Bei diesen Worten brach er in ein so tolles, convulsivisches Gelächter aus, daß der Archidiakonus selbst mitlachen mußte. Es war freilich seine eigene Schuld, daß er den Knaben so verwöhnt hatte.

»Oh! mein guter Claudius!« fuhr Johannes, hierdurch ermuthigt fort, »seht doch einmal meine zerrissenen Stiefel an! Es gibt keinen tragischeren Cothurn auf der Welt, als ein paar Stiefel, von denen die Sohlen herabhängen.«

»Ich werde Dir neue Stiefel schicken, aber kein Geld,« versetzte der Archidiakonus mit wiederkehrender Strenge.

»Nur ein paar Sous, geliebtester Bruder!« flehte der Mühlenhans. »Ich will Gratian auswendig lernen, an Gott glauben und ein wahrer Pythagoras in Wissenschaft und Tugend sein. Nur ein paar lumpige Sous! Wollt Ihr, daß mich der Hunger fasse mit seinem offenen Munde, der mir drohend entgegenstarrt, schwarz, stinkend, wie ein Tartarus oder wie die Nase eines Mönchs?«

Der Archidiakonus wiederholte seinen Spruch: Qui non laborat…. Der Student ließ ihn nicht ausreden: »Zum Teufel!« schrie er. »Es lebe die Freude! Ich will mich festkneipen, ich will mich schlagen, ich will Krüge und Gläser zerbrechen, ich will zu den Mädchen gehen.«

Mit diesen Worten warf er seine Mütze an die Wand und ließ seine Finger knacken, wie Klappern.

Der Archidiakonus warf einen düstern Blick auf ihn: »Johann, Du bist ein Mensch ohne Seele.«

»In diesem Falle fehlt mir, laut Epikur, ein Etwas, das von einem Etwas geschaffen ist, welches keinen Namen hat.«

»Johann, Du mußt ernstlich auf Deine Besserung denken.«

»Ich sehe wohl,« rief der Student, indem er bald seinen Bruder, bald die Brennkolben auf dem Ofen betrachtete, »daß es hier verzwickte Gläser und verzwickte Ideen gibt.«

»Johann, Du stehst am Rande eines Abgrunds. Weißt Du, wohin das führen wird?«

»In die Kneipe,« sagte der Student.

»Die Kneipe führt auf den Pranger.«

»Das ist eine Laterne wie eine andere, und mit dieser hätte vielleicht Diogenes seinen Menschen gefunden.«

»Der Pranger führt an den Galgen.«

»Der Galgen ist eine Wage, an deren einem Ende ein Mensch, an dem andern die ganze Erde hängt. Es ist schön, ein Mensch zu sein,«

»Der Galgen führt in die Hölle.«

»Die Hölle ist ein großes Feuer.«

»Johann, Johann, das Ende wird schlecht sein.«

»Wenn nur der Anfang gut ist.«

In diesem Augenblicke ließen sich auf der Treppe menschliche Tritte hören.

»Stille,« sagte der Archidiakonus und legte seinen Finger aus den Mund, »da kommt Meister Jakob. Höre, Johann,« fügte er mit leiser Stimme hinzu, »rede niemals von dem, was Du hier gesehen und gehört hast. Verstecke Dich geschwind hinter den Ofen und rühre Dich nicht.«

Der Student kroch hinter den Ofen. Hier kam ihm ein guter Gedanke. »Bruder Claudius, einen Gulden, oder ich bin nicht still!«

»Schweig! ich verspreche Dir einen Gulden.«

»Ich will ihn gleich haben.«

»So nimm ins Teufels Namen,« schrie der Priester zornig und warf ihm seine Börse zu.

Der Mühlenhans schlüpfte wieder hinter den Ofen, und in diesem Augenblicke öffnete sich die Thüre.

II.

Was des Donnergottes glänzender Anzug bei der ungeduldigen Menge gut gemacht hatte, das verdarb seine ungeschickte Anrede wieder, und als er zu der unglücklichen Stelle kam: »Sobald Se. Eminenz der Herr Kardinal anlangt, werden wir das Stück beginnen,« verlor sich seine Stimme unter tausendfältigem Geschrei und Zischen,

»Gleich angefangen! Auf der Stelle! Das Mysterium! Sogleich das Mysterium!« schrie man von allen Seiten. Mitten unter dem allgemeinen Getöse vernahm man deutlich die helle, gellende Stimme des Mühlenhans: »Fort mit Jupiter und dem Kardinal Bourbon!«

»Sogleich das moralische Stück! Auf der Stelle! Den Strick für die Komödianten und den Kardinal!« schrie die Menge ungeduldig.

Der arme Donnergott, vor Entsetzen bleich, ließ den Blitz fallen, nahm demüthig seinen Helm ab, grüßte zitternd mit hundert Verbeugungen das Volk und stotterte: »Se. Eminenz … die Gesandten … Frau Margareth von Oesterreich …« hier blieb er stecken, denn die Angst vor dem Strick schnürte ihm die Kehle zu. Fing er das Stück nicht an, so hängte ihn das Volk; fing er es an, so ließ ihn der Kardinal hängen: von beiden Seiten drohte ihm der Strick.

In diesem kritischen Moment trat ein langer hagerer Mann, in einem abgetragenen schwarzen Rock, auf die Bühne zu und sprach: »Jupiter, mein lieber Jupiter!«

Dem Donnergott war vor Angst Hören und Sehen vergangen. Da schrie ihm der Andere unter die Nase: »Michel Giborne!«

»Wer ruft mich?« antwortete Jupiter wie aus einem Traume erwachend.

»Ich bin’s,« erwiederte der Schwarzrock.

»Ah, ah, ah!« sagte Jupiter tief ausathmend.

»Fange sogleich an,« sprach der Schwarze weiter. »Thue den Willen des Volles, ich will den Hausmeister besänftigen, und dieser wird den Kardinal beschwichtigen,«

Diese Worte hauchten dem Vater der Götter und Menschen neues Leben ein, und er schrie mit einer jupiterähnlichen Donnerstimme: »Meine Herrn Bürger, das Stück wird sogleich beginnen.«

»Evoe, Jupiter! Plaudite, cives!« riefen die Studenten.

»Hurrah! Hurrah!« schrie das Volk.

Ein betäubendes Händeklatschen folgte, und der Saal ertönte noch von rauschendem Beifall, als Jupiter längst hinter der Tapete verschwunden war.

Inzwischen hatte sich die Person, die, gleich einem Zauderer, den Sturm so plötzlich in Sonnenschein verwandelt, bescheiden in den Schatten eines Pfeilers zurückgezogen und wäre vielleicht dort unbemerkt geblieben, wenn nicht zwei junge Damen das Zwiegespräch zwischen ihm und Jupiter mit angehört hätten.

»Meister,« rief eine derselben dem Manne zu, und gab ihm ein Zeichen, sich zu nähern.

»Was machst Du denn da, liebe Lienarde?« sagte ihre junge reizende Nachbarin zu ihr, »das ist kein Geistlicher, sondern ein Laie, und man sagt zu ihm nicht »Meister,« sondern »Herr.«

In Folge dessen rief ihm Lienarde zu: »Herr

Auf diesen Ruf näherte sich der Unbekannte der Balustrade mit den Worten: »Was steht Euch zu Dienst, meine Damen?«

»Oh!« erwiederte Lienarde verwirrt, »nichts, meine Nachbarin Gisquette wünscht Euch zu sprechen.«

»Nein,« unterbrach sie Gisquette erröthend, »Lienarde hat Euch zugerufen: Meister! und ich sagte ihr bloß, du mußt »›Herr‹« sagen.«

Die beiden jungen Mädchen schlugen die Augen nieder. Der Unbekannte betrachtete sie lächelnd und sagte: »Ihr habt mir also nichts zu sagen, meine Damen?«

»Ganz und gar nichts,« antwortete Gisquette.

»Im geringsten nichts,« sprach Lienarde.

Als hierauf der Unbekannte sich entfernen wollte, siegte die weibliche Neugierde und Gisquette rief ihm lebhaft nach: »Herr, Ihr kennt also den Soldaten, der in dem Mysterium die Rolle der heiligen Jungfrau spielen wird?«

»Ihr wollt sagen: die Rolle Jupiters?« versetzte der Anonymus.

»Freilich, freilich, wie einfältig! Ihr kennt also den Jupiter?« fiel Lienarde ein.

»Michel Giborne?« antwortete der Unbekannte, »ja, den kenne ich.«

»Er hat einen gewaltigen Bart!« sprach Lienarde.

»Ist es schön, was sie da sagen werden?« fragte schüchtern Gisquette.

»Sehr schön,« antwortete der Anonymus.

»Was ist es denn eigentlich?« fragte Lienarde.

»Das gute Urtheil der heiligen Jungfrau, ein moralisches Stück, mit Euerm Wohlnehmen,«

»Ah, so!« sagte Lienarde. Hieraus folgte eine kurze Pause, welche der Unbekannte mit den Worten unterbrach: »Es ist ein ganz neues moralisches Stück, das noch nie aufgeführt wurde.«

»Es ist also nicht das nämliche, das man vor zwei Jahren bei dem Einzug des Legaten gab, und worin drei schöne Mädchen auftraten, welche die Rolle…«

»Der Sirenen spielten,« ergänzte Lienarde.

»Und zwar splitternackt,« fügte der Unbekannte hinzu.

Lienarde schlug schamhaft die Augen nieder. Gisquette sah sie an und machte es ebenso.

Der Unbekannte fuhr lächelnd fort: »Das war lustig anzuschauen. Das heutige Schauspiel ist aber ein moralisches Stück, das man ausdrücklich für die Dame von Flandern gemacht hat.«

»Wird man auch Schäferliedchen singen?« fragte Gisquette.

»Nicht doch,« antwortete der Unbekannte, »das kommt in einem moralischen Stücke nicht vor. Man muß die Gattungen nicht verwechseln. Ja, wenn es eine Posse wäre, dann allerdings.«

»Das ist Schade,« versetzte Gisquette. »Damals kamen Wilde, Männer und Weiber vor, die lustige Stückchen sangen.«

»Das ist schön genug für einen Legaten,« sagte trocken der Unbekannte, »aber einer Prinzessin gehört etwas Anderes.«

»Und wie die Musik,« sagte Lienarde, »so schöne Melodien spielte!«

»Und der Brunnen, aus dem Wein, Milch und süßer Wein floß, wo Jedermann so viel trinken konnte, als ihm beliebte.«

»Und die stumme Passion auf dem Dreifaltigkeitsplatze,« fuhr Lienarde redselig fort.

»Der Heiland am Kreuz und die zwei Schächer daneben,« rief Gisquette aus.

Jetzt, nachdem die beiden Plaudertaschen einmal in Gang gekommen waren, floß der Strom ihrer Rede zumal und unaufhaltsam.

»Und am Malerthor andere Personen, sehr reich gekleidet.«

»Und am Brunnen der unschuldigen Kindlein der Jäger, der unter großem Gebell der Hunde und unter dem Schalle der Jagdhörner ein Reh verfolgte!«

»Und als der Legat vorüberzog, lief man Sturm und hieb allen Engländern die Köpfe ab.«

»Und ließ mehr als zweihundert Dutzend Vögel aller Art fliegen, das war sehr schön!«

»Heute wird es noch schöner!« fiel ihnen der Anonymus ungeduldig in die Rede.

»Noch schöner!« rief Gisquette verwundert aus!

»Allerdings,« antwortete der Unbekannte mit Selbstgefühl, »Ihr erblickt in mir, meine Damen, den Verfasser des Stücks.«

»Den Verfasser!« riefen die beiden jungen Mädchen.

»Ihn selbst!« antwortete mit wichtiger Miene der Dichter; »d. h. wir sind unser zwei: Jean Marchand, der das Theater aufgeschlagen, und ich, der das Schauspiel verfertigt hat. Ich heiße: Peter Gringoire.«

Inzwischen hatte die zuvor so tobende Menge geduldig die Eröffnung des Schauspiels erwartet, aber noch immer blieb das Theater leer. Da rief Johannes Frollo mit lauter Stimme: »Holla! Heda! Jupiter, heilige Jungfrau, Gaukler der Hölle! Wo bleibt ihr denn! Das Stück! das Stück! Fangt an, ins Teufels Namen!«

Augenblicklich ließ sich im Innern des Gerüstes Musik hören, der Vorhang hob sich; vier Personen stiegen die Leiter heran und stellten sich, nachdem sie mühsam auf die Bühne gelangt waren, in einer Reihe auf. Sie begrüßten mit demüthiger Verbeugung das gestrenge Publikum, die Symphonie schwieg, und nun nahm das heilige Mysterium seinen Anfang.

Hierauf wurde der Prolog gesprochen, den wir dem geneigten Leser schenken. Die Wahrheit zu sagen, wurde das damalige Publikum, wie das heutige noch, mehr von dem Costüm der Schauspieler, als von dem Text des Stückes angezogen. Unsere vier Personen trugen gleiche Röcke, halb gelb und halb weiß, und untereinander bloß durch die Gattung des Stoffs verschieden. Das erste Kleid war von Gold- und Silberstoff, das zweite von Seide, das dritte von Wolle, das vierte von Leinwand. Die erste der handelnden Personen trug in der rechten Hand ein Schwert, die zweite zwei goldene Schlüssel, die dritte eine Wage, die vierte einen Spaten; um dem Verständnis der Zuschauer, wenn sie sich die Bedeutung dieser Attribute nicht erklären konnten, zu Hülfe zu kommen, las man mit großen schwarzen Buchstaben unten an dem goldenen Kleide: »ich nenne mich Adel;« unten an dem seidenen: »ich nenne mich Geistlichkeit;« unten an dem wollenen: »ich nenne mich Kaufmannschaft;« unten an dem leinenen: »ich nenne mich Landmann.« Das Geschlecht der beiden männlichen und der beiden weiblichen Allegorien war durch die mehr oder minder lange Kleidung und den Kopfputz angedeutet.

Durch den Prolog erfuhr man übrigens, daß Landmann mit der Kaufmannschaft, und Adel mit der Geistlichkeit vermählt sei, und daß beide glücklichen Paare gemeinschaftlich einen prächtigen goldenen Delphin (Dauphin) besaßen, den nur die Schönste der Schönen bekommen sollte. Zu diesem Ende waren sie durch die Welt aus- und eingezogen, die Schönste der Schönen zu suchen. Sie hatten aber dieselbe weder im Königreich Golkonda, noch im Kaiserthum Trapezunt, noch sonst irgendwo in der Welt gefunden, waren so eben höchst ermüdet zu Paris angekommen, und ruhten auf der Marmorplatte im großen Saale des Justizpalastes aus, von wo herab sie einen Schwall von Sentenzen und heilsamen Lehren unter das lauschende Publikum warfen. Das Alles war schön anzuschauen und fein anzuhören.

Niemand lieh den Schauspielern und ihren Worten ein aufmerksameres Ohr, als der Verfasser des Stücks, der Dichter, Peter Gringoire, der Poet. Da stand er hinter einem Pfeiler, reckte seinen langen Hals aus, schaute mit trunkenen Blicken auf die Bühne, und lauschte mit offenem Ohr den Worten der handelnden Personen. Der Beifall, der bei Eröffnung des Prologs von dem Publikum gezollt worden, hatte ihn bereits berauscht. Würdiger Peter Gringoire!

Bald jedoch, so wollte es das grausame Schicksal, sollte ein bitterer Tropfen in den Kelch seiner Freude fließen. Ein zerlumpter Bettler, der, eingekeilt in die Menschenmenge, kein Almosen fordern konnte, suchte irgend einen erhöhten Platz einzunehmen, wo er die Blicke auf sich ziehen und milde Gaben sammeln konnte. Zu diesem Ende stieg er auf einen Pfosten der Estrade, welche für die flämischen Gesandten errichtet war. Hier suchte er durch seinen zerlumpten Anzug und eine häßliche offene Wunde, die fast den ganzen rechten Arm bedeckte, die Blicke und das Mitleid der Menge auf sich zu ziehen. Im Uebrigen jedoch saß er schweigend da und hätte den Fortgang des Stücks nicht gestört, wenn er nicht zum Unglück dem muthwilligen Johannes Frollo, der von seinem Pfeiler umberschaute, in die Augen gefallen wäre. Dieser kümmerte sich wenig um die Unterbrechung des Schauspiels und rief mit tollem Gelächter: »Seht dort den armen Lazarus und werft ihm auch einen Brocken von dem Ueberflusse Eures Tisches zu!«

Wer jemals einen Stein in einen Froschteich geworfen, oder unter einen Flug Tauben geschossen hat, kann sich einen Begriff davon machen, welche Wirkung diese während der allgemeinen Aufmerksamkeit hingeworfenen Worte unter der Menge hervorbrachten. Der arme Peter Gringoire war wie vom Blitze getroffen, denn der Prolog stockte plötzlich und alle Köpfe drehten sich stürmisch dem Bettler zu, der sich dadurch im geringsten nicht aus der Fassung bringen ließ, sondern vielmehr in diesem Zufall eine günstige Gelegenheit zu reichlicher Ernte erblickte; er schloß demnach die Augen zur Hälfte, machte ein Jammergesicht und sagte in kläglichem Tone: »ein Almosen, um Gotteswillen! kranker Mann! armer Mann!«

»Beim Teufel und meiner armen Seele,« rief ihm Johannes Frollo zu, »das ist ja Clopin Trouillefou! Holla! guter Freund, hat Dich denn Deine Wunde am Schenkel gehindert, daß Du sie jetzt auf den Arm gemacht hast?«

So sprechend warf er ihm, mit der Geschicklichkeit eines Affen, eine Silbermünze in den schmutzigen Filz, den der Bettler mit seinem kranken Arm ausstreckte. Clopin Trouillefou nahm Almosen und Spott gleichmüthig hin und fuhr im nämlichen lamentablen Tone fort: »Kranker Mann, armer Mann! Ein Almosen, um Gotteswillen!«

Diese Episode hatte die Aufmerksamkeit der Zuhörer bedeutend gestört; viele von ihnen, Robin Poussepain und sämmtliche Studenten an der Spitze, klatschten diesem seltsamen Duett, das der Mühlenhans mit seiner kreischenden Stimme und der Bettler mit seiner ewigen Litanei, als Schauspiel im Schauspiel, aufführten, stürmischen Beifall.

Der arme Verfasser des Stücks war sehr mißvergnügt. Nachdem er sich von seiner ersten Bestürzung erholt hatte, rief er den Schauspielern mit lauter Stimme zu: »Fortgefahren! In’s Teufels Namen! Fortgemacht!«

In diesem Augenblicke zupfte ihn Jemand am Rock; er drehte sich um, es war der runde Arm der schönen Gisquette, die auf solche Art seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

»Herr,« fragte das Mädchen, »werden sie wohl fortfahren?«

»Allerdings,« antwortete der Dichter.

»In diesem Falle, mein Herr, werdet Ihr wohl die Güte haben, mir zu erklären…«

»Was sie weiter sagen werden?« unterbrach sie der Dichter schnell. »Mit größtem Vergnügen werde ich…«

»Verzeiht, ich meine, was sie bis jetzt gesagt haben,« erwiederte Gisquette.

Der verblüffte Dichter verzuckte das Gesicht wie ein Mensch, dessen wundesten Fleck man berührt. »Dummes, einfältiges Gänschen!« murmelte er zwischen den Zähnen. Von dieser Minute an hatte es die schöne Gisquette, so reizend sie war, für immer mit ihm verdorben.

Inzwischen hatten die Schauspieler seinem Befehle Folge geleistet, und das Publikum hörte ziemlich aufmerksam zu. Der Störenfried, Johannes Frollo, verhielt sich ruhig, der Bettler zählte die gesammelten Pfennige in seinen alten Hut, und das Stück hatte seinen ungestörten Fortgang.

Es war aber auch ein sehr schönes Stück, und man könnte vielleicht heute noch Gebrauch davon machen, wenn man dort Etwas wegschnitte und hier Etwas zusetzte. Die Einleitung, zwar etwas lang und etwas langweilig, war einfach, und Peter Gringoire, in der Aufrichtigkeit seines Herzens, bewunderte ihre Klarheit. Man kann sich denken, daß die vier allegorischen Reisenden, nachdem sie drei Welttheile durchwandert hatten, ohne auf eine angemessene Weise sich ihres goldenen Delphins entledigen zu können, etwas ermüdet waren. Sie hatten demnach, während sie ausruhten, volle Muße, das Lob dieses wunderbaren Fisches zu singen und dabei tausend feine Anspielungen auf den jungen Bräutigam Margarethens von Flandern anzubringen, der damals in seinem traurigen Neste Amboise gewiß nicht daran dachte, daß Landmann und Geistlichkeit, Adel und Kaufmannschaft so eben von einer Reise um die Welt zurückgekommen waren, welche sie in seinen Geschäften gemacht hatten. Besagter Delphin war, wie man aus dem Munde des allegorischen Frankreichs, das sich auf dem Theater bewegte, vernahm, jung, schön, tapfer, und vor Allem (glorreicher Ursprung aller königlichen Tugenden!), war er der Sohn des Löwen von Frankreich. Diese Metapher war kühn und einzig in ihrer Art; auf der Bühne, besonders an einem allegorischen Tage, wo von Hochzeiten, Geburtsfesten etc. großer Herren die Rede ist, nimmt man es mit der Naturgeschichte nicht so genau und stoßt sich nicht an einem Fisch, welcher der Sohn eines Löwen ist; gerade diese seltsamen pindarischen Mischungen deuten auf wahren Enthusiasmus. Allerdings hätte der Dichter diesen schönen Gedanken in etwas weniger als zweihundert Versen entwickeln können, aber man muß bedenken, daß, laut Verordnung des Herrn Prévot, das Stück von der Mittagsstunde bis vier Uhr Abends dauern sollte, und in vier Stunden läßt sich Vieles sagen.

Das Stück war, zur Freude des Dichters, in vollem Gange, als es zu seinem Verdrusse auf’s Neue gestört wurde. Als eben die Kaufmannschaft und der Adel in einem Streite begriffen waren, und der gute Bauersmann, von dem Löwen von Frankreich sprechend, mit Entzücken ausrief:

Dort brüllt er durch den Wald, und schüttelt seine Mähnen!

öffnete sich die Thüre der bisher verschlossenen Estrade, und der Thürsteher verkündete mit tönender Stimme: »Se. Eminenz, unser gnädigster Herr Kardinal von Bourbon!«

III.

Armer Peter Gringoire! Der Donner von zwanzig Kanonen und hundert Büchsen hätte deinen Ohren nicht so wehe gethan, als die in diesem feierlichen dramatischen Augenblicke vom Munde eines Thürstehers ausgegangenen Worte: Se. Eminenz, der gnädigste Herr Kardinal von Bourbon!

Nicht als ob Peter Gringoire den Kardinal gefürchtet oder mißachtet hätte: er hatte weder jene Schwäche, noch diese Vermessenheit. Ein wahrhafter Eklektiker, gehörte Peter Gringoire zu jenen erhabenen und festen, gemäßigten und ruhigen Geistern, welche sich stets in der Mitte aller Dinge zu halten wissen (stare in dimidio rerum), und die der reinen Vernunft, der liberalen Philosophie, der theoretischen Freiheit und Allem, was groß und edel ist, huldigen, bei dem Allem aber Minister, Kardinäle, Bischöfe und Staatsräthe sind und bleiben. Ein kostbares Geschlecht praktischer Philosophen, das sich ununterbrochen fortgepflanzt hat vom Anfang der Dinge, und dem der Himmel den Knäuel der Klugheit verliehen hat, durch den es im Labyrinth aller Zeiten und Ereignisse stets einen erwünschten Ausgang findet! Zu allen Epochen ist und war dieses Geschlecht sich selbst gleich; es weiß sich in alle Zeiten zu schicken.

Nicht also aus Haß gegen den Kardinal oder aus Mißachtung war ihm dessen Eintritt unangenehm, sondern weil er eine neue Störung des Stücks fürchtete. Die Besorgnis des Dichters verwirklichte sich nur allzusehr. Der Eintritt Sr. Eminenz zog die ganze Schaulust des Publikums auf sich. Alle Köpfe drehten sich der Estrade zu. »Der Kardinal! Der Kardinal!« wiederholten tausend Stimmen. Der unselige Prolog gerieth abermals in Stocken. Der Kardinal blieb einen Augenblick auf der Schwelle der Estrade stehen und warf einen ziemlich gleichgültigen Blick auf die Zuschauer im Saale. Die Gährung stieg, jeder wollte die Eminenz sehen.

In der That war auch diese Eminenz ein Herr von großer Gestalt und ebenso sehenswerth, als manches andere Schaustück. Karl, Kardinal von Bourbon, Erzbischof und Graf von Lyon, Primas der Gallier, war mit Ludwig XI. und Karl dem Kühnen verwandt, mit Jenem durch seinen Bruder Peter von Beaujeu, der die älteste Tochter des Königs geheirathet hatte, mit Diesem durch seine Mutter, Agnes von Burgund. Der Hauptzug im Charakter des Primas der Gallier war jener Höflingsgeist, jene Ergebenheit gegen die herrschende Macht, wie wir sie heute noch, so sehr wir uns auch der Fortschritte unserer Civilisation rühmen, tausend- und hunderttausendfältig sehen. Man kann sich denken, in welche zahllose Verlegenheiten ihn diese doppelte Verwandtschaft brachte, und welche weltliche Klippen sein geistliches Schifflein zu umsegeln hatte, um weder an Ludwig noch an Karl zu scheitern, dieser Scylla und Charybdis, die den Herzog von Remours und den Connetable Saint-Pol verschlungen hatten. Unter dem Beistand des Himmels hatte er die Durchfahrt glücklich vollendet und war in dem Hafen zu Rom angelangt, um den rothen Hut, als Preis seiner Bemühungen, in Empfang zu nehmen. Aber obgleich er jetzt im sichern Hafen war, und gerade eben deßhalb, dachte er niemals ohne Unruhe an die vermiedenen Wechselfälle seines politischen Lebens, das so lange Zeit stürmisch und thatenreich war.

Im Übrigen war der Kardinal, was man einen guten Mann heißt; er führte ein lustiges Leben, wie die hohe Geistlichkeit pflegte, trank seinen schäumenden Champagner, war einem feinen Nönnchen nicht abgeneigt, gab lieber hübschen Mädchen als alten Weibern Almosen, und war deßhalb, als ein munterer, leutseliger Herr, wohl gelitten beim Volke von Paris. So oft er öffentlich erschien, umgab ihn ein Schwarm junger Geistlicher, die so galant waren, als heutige Stutzer, und so liederlich, als man nur immer wünschen mochte. Mehr als einmal, wenn alte Betschwestern Abends am erleuchteten Palast des Kardinals vorübergingen, hörten sie zu ihrem Entsetzen die nämlichen Stimmen, die ihnen erst noch in der Kirche zur Vesper gesungen, das bacchische Lied Benedikts XII. anstimmen: Bibamus papaliter.

Ohne Zweifel war es diese so wohl erworbene Popularität, die dem Kardinal bei seinem Eintritt einen schlimmen Empfang von Seiten der Menge ersparte, welche eben noch so unzufrieden gewesen war, und wenig geneigt schien, an dem Tage, wo sie einen Pabst wählte, mit einem Kardinal viele Umstände zu machen. Es ist ein guter Schlag Leute um diese Pariser, sie vergessen und vergeben gerne, und zudem hatten sie ja, da sie das Stück aus eigener Machtvollkommenheit beginnen ließen, einen Sieg über den Kardinal davon getragen, und dieser Triumph genügte ihnen. Ueberdies war der Herr Kardinal von Bourbon ein großer, stattlicher Herr, trug einen sehr schönen Scharlachmantel, wußte sich eine vornehme Haltung zu geben, und hatte mithin den einflußreichsten Theil des Publikums, die Weiber, für sich. Es wäre aber auch die höchste Ungerechtigkeit und Gemeinheit, einen Kardinal auszuzischen, weil er im Schauspiel auf sich warten ließ, wenn dieser Kardinal ein stattlicher Herr ist, einen Scharlachmantel trägt und eine vornehme Haltung hat.

Der Kardinal trat demnach ein und grüßte die Versammlung mit jenem fürstlichen Lächeln, das den Großen gegen das Volk immer zu Gebote steht, und das sich, gleich Krone und Scepter, von Vater auf Sohn vererbt. Hierauf setzte er sich mit abgemessenen Schritten gegen den rothsammt’nen Lehnsessel in Bewegung, der für ihn bereit gestellt war. Ihm auf dem Fuße folgte sein geistlicher Generalstab, dessen Erscheinen den Lärm und die Neugierde im Parterre verdoppelte. Man deutete mit Fingern auf jeden Einzelnen und nannte seinen Namen.

Das Volk, und besonders die Studenten, machten vollen und ungemessenen Gebrauch von den Privilegien, die ihnen das heutige Narrenfest verlieh. Nichts war zu gemein und frech, daß es nicht an diesem Tage gestattet und fast geheiligt gewesen wäre. Jeder wählte sich unter dem geistlichen Generalstab des Kardinals eine schwarze, graue, weiße oder violette Mütze zur Zielscheibe seines Witzes aus. Damit war aber Johannes Frollo de Molendino, als Bruder eines Archidiakonus, noch nicht zufrieden, sondern griff kühnlich den rothen Hut selbst an, indem er freche Blicke auf den Kardinal warf und aus vollem Halse sang: Cappa repleta mero!

Alle diese Einzelnheiten, welche wir hier zur Erbauung des Lesers mittheilen, verloren sich so sehr unter dem allgemeinen Geräusch, daß fast keine Spur von ihnen bis zur Estrade gelangte. Im Uebrigen würde sie der Kardinal geduldig hingenommen haben, weil die Freiheiten dieses Tages ganz in den Sitten jener Zeit lagen. Zudem lag ihm noch etwas ganz Anderes auf dem Herzen, nämlich die Gesandtschaft von Flandern. Nicht als ob er ein großer Politiker gewesen wäre, den die möglichen Folgen einer Verbindung Margarethens von Burgund mit dem Erben von Frankreich schreckten, sondern bloß weil er den flämischen Gesandten Feste geben und Höflichkeiten erweisen mußte, er, Karl von Bourbon, gemeinen Bürgern, er, der Kardinal, ungehobelten flämischen Schöppen, er, ein artiger und lustiger Franzose, niederländischen Bierlümmeln! Mit solchen Leuten öffentlich zu erscheinen, war eine harte Probe, welche nur die geprüfte Königsliebe eines geprüften Höflings zu bestehen vermochte.

Als nun die Thüre sich mit Geräusch öffnete und der Thürsteher mit lauter Stimme ausrief: »Die Herren Gesandten des Herrn Herzogs von Oesterreich!« wendete der Kardinal mit der zärtlichsten Miene von der Welt (so sehr hat ein Höfling sich in der Gewalt) sein Gesicht der Eingangspforte zu.

Jetzt erschienen paarweise mit ernstem Wesen, das in auffallendem Gegensatz zu dem muthwilligen geistlichen Generalstab Karls von Bourbon stand, die achtundvierzig Gesandten Maximilians von Oesterreich, an ihrer Spitze der sehr ehrwürdige Vater in Gott, Jehan, Abt von Saint-Bertin, Kanzler des Ordens vom goldenen Vließ, und Jakob Van Goy, Herr zu Dauby, Bürgermeister von Gent. Die Versammlung im Saale hörte mit halb ersticktem Lachen die fremdartigen Namen und die bürgerlichen Qualifikationen der flandrischen Gesandten an, die der Thürsteher, wie Kraut und Rüben, entstellt und verstümmelt von der Estrade unter das Publikum warf. Da hörte man die für ein französisches Ohr barbarisch klingenden Namen: Loys Roelof, Schöppe der Stadt Löwen: Paul Baeust, Präsident der Provinz Flandern; Jehan Coleghens, Bürgermeister der Stadt Antwerpen; Meister Georg van Moeren, erster Schöppe der Stadt Gent; Meister Geldolf van der Haagen, Schöppe gedachter Stadt; Jehan Pinnok u. s. w., lauter gute, dicke, wohlgenährte flämische Figuren.

Ein einziger derselben machte eine Ausnahme von der Regel. Das war ein feines, verständiges, verschmitztes Gesicht, gegen welches der Kardinal drei Schritte vorwärts und eine tiefe Verbeugung machte, obgleich dasselbe bloß einem gewissen Wilhelm Rym, Rathsherrn der Stadt Gent, angehörte. Wenigen war es damals bekannt, welche Bedeutung dieser Wilhelm Rym hatte; ein seltener Geist, der in stürmischen Zeiten, wie wir sie erlebt haben, an der Spitze einer Revolution erschienen wäre, im fünfzehnten Jahrhundert aber zum Handlanger der lichtscheuen Ränke jener Zeit verdammt war. Ludwig XI., der erste Maulwurf des damaligen Europa’s, wußte ihn in seinen geheimen Aufträgen gar wohl zu gebrauchen. Das war aber dem großen Haufen im Saale gänzlich unbekannt, und er ergötzte sich daher nicht wenig an den Höflichkeitsbezeugungen, die, seiner Meinung nach, der Kardinal an die unscheinbare Figur eines flandrischen Stadtraths verschwendete.

IV.

Während der Rathsherr von Gent und die Eminenz tiefe Verbeugungen wechselten und einige leise Worte mit einander flüsterten, trat ein Mann von hoher Gestalt, breiten Schultern und kräftigem, fast plumpem Gesichte, zu gleicher Zeit unter die Thüre. Man konnte einen Bullenbeißer neben einem Fuchs zu sehen glauben. Seine einfache Filzkappe und sein ledernes Koller nahmen sich schlecht aus in der Mitte seiner Umgebungen, die von Gold, Sammt und Seide starrten. Der Thürsteher, der ihn für irgend einen Troßknecht hielt, der sich eindringen wolle, verwehrte ihm den Eintritt.

»Heda, guter Freund! Hier wird nicht passirt.«

Der Mann im ledernen Koller faßte den Thürsteher mit kräftiger Faust an der Schulter und rief mit einer Donnerstimme, die den ganzen weiten Saal erfüllte: »Was willst Du, Bengel? Siehst Du nicht, daß ich auch dazu gehöre?«

»Euer Name?« fragte der Thürsteher.

»Jakob Coppenole.«

»Eure Qualitäten?«

»Strumpfweber zu den drei Ketten in Gent.«

Der Thürsteher prallte vor Schrecken drei Schritte zurück. Bürgermeister und Schöppen anzukündigen, das ging noch an, aber einen Strumpfweber, das war allzu hart. Der Kardinal saß auf Nadeln. Alles Volk horchte und schaute. Seit zwei Tagen bereits hatte sich die Eminenz alle Mühe gegeben, diese flämischen Bären etwas glatt zu lecken, um sie für das Publikum möglichst präsentabel zu machen, und nun kam dieser Akt dazwischen! Wilhelm Rym näherte sich, um den Kardinal aus der Verlegenheit zu ziehen, dem Thürsteher mit seinem feinen Lächeln und flüsterte ihm in die Ohren: »Verkündiget Meister Jakob Coppenole, Schreiber des Schöppenstuhls der Stadt Gent.«

»Thürsteher,« wiederholte der Kardinal mit lauter Stimme, »verkündiget Meister Jakob Coppenole, Schreiber des Schöppenstuhls der erlauchten Stadt Gent.«

Das war ein Fehler; Wilhelm Rym, für sich allein, hätte die Schwierigkeit beseitigt, jetzt aber hatte Jakob Coppenole die Worte des Kardinals vernommen.

»Nein, beim heiligen Kreuz!« schrie er mit seiner Donnerstimme. »Jakob Coppenole, Strumpfweber. Hörst Du’s, Thürsteher? Kein Wort mehr noch weniger. Beim heiligen Kreuz! Strumpfweber, das ist genug. Der Erzherzog hat schon mehr als einmal seinen Handschuh in meinem Strumpfladen geholt.«2

Diesen kräftigen Worten folgte stürmischer Beifall und schallendes Gelächter der Menge. Ein Wortspiel fällt in Paris nie unbeachtet auf den Boden.

Dazu kam noch, daß Coppenole ein Mann aus dem Volke war, und das Publikum, das ihn umgab, war auch vom Volk. Das gegenseitige Verständniß war folglich hergestellt. Das trotzige Wort des flämischen Strumpfwebers, das den Hof demüthigte, hatte in allen plebejischen Herzen ein gewisses Gefühl von Würde erweckt, das freilich im fünfzehnten Jahrhundert noch vag und unbestimmt war. Es war ein bloßer Bürger, einer ihresgleichen, der hier dem Kardinal die Spitze bot! Dies war ein sehr süßes Gefühl für unterthänig gehorsamste Spießbürger, die selbst die Bedienten des Schlosses und der Großen mit Respekt zu betrachten und zu behandeln pflegten.

Jakob Coppenole grüßte mit stolzer Miene den Kardinal, der dem allmächtigen Bürger von Gent, welchen selbst Ludwig XI. fürchtete, seinen Gruß höflich erwiederte. Wilhelm Rym folgte ihnen mit einem ironischen Lächeln, in welchem sich das Bewußtsein seiner Ueberlegenheit über beide kundgab; sie traten an ihre Plätze, der Kardinal außer Fassung und nachdenklich, Coppenole ruhig und trotzig, und bei sich erwägend, daß sein Strumpfweberstitel noch so viel werth sei als ein anderer, und daß Maria von Burgund, die Mutter der Margarethe, die er jetzt verheirathete, ihn weniger gefürchtet hätte, wenn er nur Kardinal und nicht Strumpfweber gewesen wäre, denn niemals hätte ein Kardinal vermocht, so wie er, die Bürger von Gent gegen die Günstlinge der Tochter Karls des Kühnen in Aufruhr zu bringen und mit einem einzigen Worte sie gegen die Bitten und Thränen der Fürstin von Flandern zu verhärten, so daß dieselbe am Fuße des Schaffots vergebens um das Leben ihrer Räthe flehte, während der Strumpfweber bloß seinen ledernen Handschuh zu erheben brauchte, um zwei erlauchte Köpfe, Guy d’Hymbercourt’s und Guillaume Hugonet’s Haupt, fallen zu machen.

Inzwischen hatte sich das Unglück an diesem armen Kardinal noch nicht erschöpft, und er sollte den Kelch der schlechten Gesellschaft, worin er sich befand, bis auf die Hefe leeren.

Der geneigte Leser wird sich wohl des unverschämten Bettlers noch erinnern, der beim Beginnen des Prologs auf einen der Pfosten der gesandtschaftlichen Estrade gestiegen war. Er hatte sich durch die Ankunft der erlauchten Gäste im geringsten nicht stören lassen, und während die Prälaten und Gesandten, gleich wahrhaften niederländischen Häringen, sich in den Logen drängten, saß er mit gekreuzten Beinen auf seinem Balken, als ob er ein anerkanntes Recht auf diesen Sitz hätte. Niemand kümmerte sich um ihn und seine Unverschämtheit, weil die allgemeine Aufmerksamkeit anderswohin gerichtet war. Er seinerseits nahm keinen Antheil an Allem, was im Saale vorging; er wiegte, mit der Gleichgültigkeit eines Lazzarone, sein Haupt hin und her und wiederholte von Zeit zu Zeit, mitten im Geräusch, mit einer gleichsam mechanischen Gewohnheit: »Kranker Mann, armer Mann! Ein Almosen um Gotteswillen!« Und sicherlich war er der Einzige in der ganzen Versammlung, der bei dem Streit zwischen Jakob Coppenole und dem Thürsteher nicht einmal den Kopf nach jener Seite drehte. Nun wollte der Zufall, der so ziemlich Alles in der Welt regiert, daß der Meister Strumpfweber von Gent, mit dem das Volk bereits so lebhaft sympathisirte, und auf den Aller Augen gerichtet waren, gerade in die erste Logenreihe der Estrade, oberhalb dem Bettler, zu sitzen kam, und man war nicht wenig verwundert, als man sah, daß der flämische Gesandte, nachdem er den unter ihm sitzenden Burschen näher in Augenschein genommen hatte, seine Hand freundschaftlich auf dessen zerlumpte Schulter legte. Der Bettler wendete sich um. Staunen, Wiedererkennen, vor Freude strahlende Gesichter von beiden Seiten! Hierauf unterhielten sich der diplomatische Strumpfweber und der zerlumpte Bettler, ohne sich im mindesten um die Zuschauer zu kümmern, mit leiser Stimme und Hand in Hand unter einander, und die Lumpen von Clopin Trouillefou, die neben dem Galastoff der Estrade herabhingen, sahen gerade aus, wie wenn eine graue Raupe auf einer goldgelben Pomeranze kriecht.

Die Neuheit dieser sonderbaren Scene erregte ein so tolles, lustiges Geräusch im Saale, daß es dem Kardinal nicht entgehen konnte; er neigte sich mit halbem Leibe vorwärts, und da er von seinem Platze aus die schmähliche Gestalt des Bettlers nur unvollständig wahrnehmen konnte, so glaubte er natürlich, daß er ein Almosen fordere, und rief, empört über diese Frechheit: »Hausmeister des Palastes, laßt mir doch diesen Schuft in den Fluß werfen.«

»Beim heiligen Kreuz! Herr Kardinal,« schrie Jakob Coppenole, ohne Clopin’s Hand loszulassen, »er ist mein Freund, und das lasse ich nicht geschehen.«

»Hurrah! Hurrah!« schrie die jubelnde Menge, und von diesem Augenblicke an war der Handschuhmacher von Gent zu Paris ebenso populär, als in seiner Vaterstadt.

Der Kardinal biß sich in die Lippen, wandte sich zu seinem Nachbar, dem Abt von St. Genovefa, und sprach mit halblauter Stimme zu ihm: »Saubere Gesandtschaft, die uns der Erzherzog hier schickt, um uns Madame Margaretha anzukündigen!«

»Eminenz,« antwortete der Abt, »Ihr werft Eure Perlen vor die Schweine. Das sind flämische Säue, an welche alle Höflichkeit vergebens verschwendet ist. Margarita ante porcos

»Sagt vielmehr,« erwiederte der Kardinal lächelnd: »Porcos ante Margaritam

Der ganze kleine geistliche Hof ergoß sich in Bewunderung dieses Wortspiels, wodurch sich die Eminenz in etwas getröstet fand. Der Kardinal war nun quitt mit dem Strumpfweber, denn sein Quodlibet war auch beklatscht worden.

Mögen nun diejenigen unserer Leser, welche sich, wie man im Styl des Tags zu sagen pflegt, eine umfassende Ansicht eines Bildes oder einer Idee zu machen vermögen, uns die Frage erlauben, ob sie sich wohl eine deutliche Vorstellung von dem Schauspiel machen können, das der Riesensaal des Justizpalastes in diesem Augenblicke darbot: In der Mitte des Saals, angelehnt an die westliche Mauer, eine breite und mit Goldstoff prachtvoll verzierte Estrade, auf welche durch eine kleine Bogenthüre die Eintretenden eingeführt und durch die schnarrende Stimme des Thürstehers angemeldet werden. Auf den ersten Bänken bereits viele ehrwürdige Figuren, in Hermelin, Sammt und Scharlach gekleidet: rings um die Estrade, die ernst und schweigsam bleibt, unten, gegenüber, um und um, eine sich drängende Menge und großes Geräusch. Tausend Blicke auf jedes Gesicht der Estrade gerichtet, tausendfaches Kichern bei jedem Namen, der genannt wird. Seltsames Schauspiel, das gewiß die ganze Aufmerksamkeit der Zuschauer verdiente! Dort unten aber, an der Bühne, sehen wir die lange, dürre schwarze Figur des armen verlassenen Schauspieldichters bleichen Angesichts stehen. Armer Peter Gringoire, was machst du und dein Prolog? Beide sind vergessen, und das ist das Schlimmste, was einem Dichter begegnen kann!

Von dem Eintritt des Kardinals an hatte der Dichter Alles aufgeboten, die Aufmerksamkeit auf sich und sein Schauspiel zu ziehen. Erst gebot er den handelnden Personen, ihre Stimme zu erheben, damit sie den Lärm der Zuschauer überbiete; als er sah, daß Niemand auf seinen Prolog hörte, ließ er die Schauspieler innehalten, und seit der Viertelstunde, welche jetzt die Unterbrechung dauerte, hörte er nicht auf, mit dem Fuß auf den Boden zu stampfen, geberdete sich wie rasend, rief Gisquette und Lienarde, forderte seine Nachbarn links und rechts auf, dem Schauspiel zuzuhören, Alles vergebens! Armer Poet! Niemand wendet seine Blicke von dem Kardinal, den Gesandten und der Estrade ab. Was verlangten die Zuschauer auch Besseres! Auf der Estrade, wie auf der Marmorplatte, wurde das gleiche Schauspiel aufgeführt: der Conflict zwischen Landmann und Geistlichkeit, zwischen Adel und Kaufmannschaft. Was Wunder, daß die Zuschauer lieber die wirklichen Schauspieler, in Fleisch und Bein, dargestellt in dieser flandrischen Ambassade und in diesem erzbischöflichen Hofstaat, unter dem Purpurmantel des Kardinals und unter dem ledernen Koller des Strumpfwebers von Gent, schauen wollten, als die fratzenhaften allegorischen Figuren in ihren gelben und weißen Röcken, mit denen sie der poetische Peter Gringoire ausgestattet hatte!

Unser Poet jedoch verzweifelte noch nicht, und als er die Ruhe nothdürftig hergestellt sah, ersann er eine Kriegslist, die sein Stück retten konnte.

»Mein Herr,« sprach er zu einem seiner Nachbarn, einem ehrlichen, dicken Bürgersmann, aus dessen Zügen Ruhe, Ergebung, Geduld sprachen, »wie wäre es, wenn man von vorn anfinge?«

»Was?« fragte der Nachbar.

»Hm, das Mysterium,« sagte Gringoire.

»Wie es Euch gefällig ist,« erwiederte der Nachbar.

Diese halbe Billigung genügte dem Dichter, und da er seine Geschäfte selbst machen mußte, so schrie er, während er sich möglichst unter der Menge verbarg, aus vollem Halse: »Von vorn angefangen das Mysterium! Von vorn!«

»Was Teufels,« rief der Mühlenhans, »was singen sie denn da unten für ein Lied? (Der Dichter machte ein Geschrei, als ob es ihrer ein Dutzend wären.) Ist denn das Mysterium noch nicht zu Ende? Sie wollen es von vorn anfangen. Ist das billig? Sprecht, Kameraden?«

»Nein, nein,« schrieen alle Studenten, »fort, fort mit dem Mysterium!«

Als Gringoire dieses hörte, verdoppelte er seinen Eifer und schrie noch lauter: »Von vorn! Von vorn!«

Dieses Geschrei zog die Aufmerksamkeit des Kardinals auf sich.

»Herr Hausmeister des Palastes,« sprach er zu einem langen, schwarz gekleideten Manne, der in seiner Nähe stand, »riechen diese Teufel das Weihwasser, daß sie einen solchen höllischen Lärm machen?«

Der Hausmeister des Palastes war gewissermaßen ein amphibischer Beamter, eine Art Fledermaus des richterlichen Standes, dem Mäusegeschlecht und dem Vogelgeschlecht zumal angehörend, ein Richter und ein Soldat.

Er näherte sich der Eminenz und stattete, nicht ohne einige Angst, Bericht ab von der Unverschämtheit des Volkes, das die Schauspieler gezwungen habe, das Stück anzufangen, ehe der Herr Kardinal angekommen sei.

Der Kardinal, weit entfernt sich zu erzürnen, schlug ein helles Gelächter auf und sprach: »Meiner Treu, daran haben sie wohl gethan, und wenn es nur der Rektor der Universität auch so gemacht hätte! Was sagt Ihr dazu, Meister Wilhelm Rym?«

»Gnädigster Herr,« erwiederte dieser, »wir wollen zufrieden sein, daß wir der Hälfte der Komödie entgangen sind. So viel wenigstens haben wir gewonnen.«

»Sollen die Schufte da unten in ihrem Possenspiel fortmachen?« fragte der Hausmeister.

»Fortmachen!« versetzte der Kardinal gähnend. »Meinetwegen! Ich will inzwischen in meinem Brevier lesen.«

Der Hausmeister trat an den Rand der Estrade, gebot durch ein Zeichen der Hand Stille und rief: »Bürger, Insassen und Einwohner, um Diejenigen, welche wünschen, daß man von vorn anfange, und Diejenigen, welche wollen, daß man schließe, gleichmäßig zu befriedigen, befiehlt Se. Eminenz, daß man fortfahre, wo man stehen geblieben ist.«

Man mußte sich von beiden Seiten diesem Gebote fügen. Die Schauspieler fuhren demnach in der unterbrochenen Handlung fort, und der Dichter hoffte, daß er wenigstens für den Rest seines Werkes ein aufmerksames Publikum finden werde. Das Stillschweigen hatte sich zwar so ziemlich hergestellt, aber durch die neuen Ankömmlinge, welche der Thürsteher jeden Augenblick von der Estrade herab mit lauter Stimme anmeldete, wurde gleichwohl der Gang des Stücks immer gestört.

So eben waren die vier allegorischen Personen in grausamer Verlegenheit, wie sie ihres goldenen Delphins los werden sollten, und ergossen ihren Jammer in kläglichen Versen, da erschien ihnen, vom Himmel gesandt, Venus in eigener Person, und zwar in einem Rocke von Goldstoff, auf welchem das Wappen der Stadt Paris prangte. Sie nahm, als die Schönste der Schönen, den goldenen Delphin für sich in Anspruch. Jupiter, der von der Leiter herauf Blitze schleuderte, unterstützte ihre Ansprüche, und die Göttin war auf dem Punkt, zu siegen und den goldenen Delphin davonzutragen. Da erschien plötzlich ein junges Mädchen, in weißen Damast gekleidet und ein Gänseblümchen3 in der Hand tragend (deutliche Anspielung auf Margareth von Flandern), den Kampf um den goldenen Delphin mit der Göttin der Liebe und Schönheit zu bestehen. Hierauf erfolgte ein hitziger Streit zwischen den beiden Nebenbuhlerinnen, welcher Gelegenheit zu vielen trefflichen Versen gab und mit der Uebereinkunft endigte, die heilige Maria zur Schiedsrichterin zu bestellen. Als dieselbe eben in Begleitung des Königs von Mesopotamien auf dem Theater angekommen war und der Dichter jetzt zum Knalleffekt seines Stücks zu gelangen hoffte, erhob sich plötzlich der Strumpfweber von Gent und hielt mit seiner Donnerstimme folgende Standrede an das Publikum: »Ihr Herren Bürger und Junkherren von Paris! Ich sehe, beim heiligen Kreuz, nicht ein, was wir hier machen. In jenem Winkel dort, auf dem Gerüste, erblicke ich zwar einige Leute, die, wie es scheint, sich boxen wollen. Ich weiß, zum Teufel, nicht, ob das das Mysterium sein soll, von dem ich hier immer sprechen höre, aber verflucht langweilig ist es, denn sie streiten nur mit der Zunge, und nicht mit den Fäusten. Jetzt sitze ich schon eine Viertelstunde da und warte immer auf den ersten Faustschlag, aber da könnte ich lange warten, bis diese feigen Hunde an einander gerathen. Ihr hättet sollen Boxer aus London oder Rotterdam kommen lassen, da wären Schläge gefallen, die man bis draußen auf dem Platze gehört hätte. Aber die Leute da unten dauern einen! Wenn sie doch wenigstens einen Mohrentanz oder irgend eine andere Mummerei aufgeführt hätten! Zum Henker auch, man hat mir was ganz Anderes versprochen: ein Narrenfest und die Wahl eines Narrenpabstes. Wir haben zu Gent auch unser Narrenfest, und; beim heiligen Kreuz, wir stehen hierin Niemand nach. Aber wir machen es ganz anders. Wenn ein Haufen versammelt ist, wie hier, steckt jeder seinen Kopf durch ein Loch und schneidet den Anderen Gesichter, und wer die häßlichste Grimasse macht, der wird zum Pabst gewählt. So machen wir’s, und das ist sehr lustig. Wollt Ihr nun Euren Pabst nach der Weise meines Landes wählen, so werdet Ihr mehr Freude dabei haben, als wenn Ihr den Schwätzern da unten zuhört. Wenn sie an die Lucke kommen und ihre Grimasse machen wollen, so dürfen sie auch mitspielen. Was sagt Ihr dazu, Ihr Herren Bürger von Paris? Es gibt hier eine so hinreichende Auswahl von häßlichen Gesichtern beider Geschlechter, daß wir eine Ausbeute belustigender Grimassen hoffen dürfen.«

Der Vorschlag des Strumpfwebers von Gent wurde von den Parisern Bürgern, welche sich sehr geschmeichelt fühlten, daß man sie Junkherren genannt hatte, mit rauschendem Beifall aufgenommen. Dem verzweifelnden Poeten blieb keine Hoffnung übrig, sein unseliges Stück zu Ende gebracht zu sehen. Bestürzung und Unwille verschlossen ihm den Mund; er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

  1. Unübersetzbar. Gant, Handschuh. Gand. Gent. L’archiduc a plus d’une fois cherché son Gant dans mes chausses, darauf anspielend, daß ihm, dem Strumpfweber, der Erzherzog mehr als einmal den Besitz von Gent verdankte.
  2. Marguerite, Gänseblümchen. Margarethe von Flandern.

XVIII.

Diese Worte waren, so zu sagen, der Verbindungspunkt zwischen den beiden Scenen, welche in dem gleichen Augenblicke in paralleler Richtung von einander, jede auf ihrem besonderen Schauplatz aufgeführt worden waren: die eine vor dem Rattenloche, wie man bereits gelesen, die andere vor der Leiter des Drillers, die wir nun erzählen wollen. Die eine derselben hatte bloß die drei Frauen, welche der Leser bereits kennt, zu Zeugen, der anderen wohnten als Zuschauer die Volkshaufen an, die sich, wie wir oben gesehen, auf dem Grèveplatz um den Schandpfahl und Galgen drängten.

Diese Menge, die den Driller neugierig umlagerte, zeigte keine allzugroße Ungeduld. Sie betrachtete einstweilen den Driller, der aus einfachem Mauerwerk, etwa zehn Fuß hoch und innen hohl war. Eine sehr steile Staffel von unbehauenem Stein führte auf den Altan, auf welchem ein horizontales Rad von Eichenholz war. Auf diesem Rade band man den Patienten, knieend und mit auf den Rücken gebundenen Armen fest. Ein hölzerner Balken, der eine im Innern des kleinen Gebäudes verborgene Winde in Bewegung setzte, gab dem Rad eine immer im horizontalen Plane erhaltene Schwingung und kehrte auf solche Weise das Gesicht des Verurtheilten allmählig allen Punkten des Platzes zu. Dies hieß einen Verbrecher drillen. Der Patient kam endlich, mit auf den Rücken gebundenen Armen, auf einem Karren an, und nachdem man ihn auf den Schandpfahl hinaufgewunden hatte, erscholl der ganze Platz von ungeheurem Gelächter und Zuruf. Man hatte Quasimodo den Buckligen erkannt.

Er war es in der That. Der Wechsel der Dinge war seltsam. Jetzt geknebelt und gedrillt auf dem nämlichen Platze, wo er am Abend zuvor, den Herzog von Aegypten, den König von Kauderwelsch und den Kaiser von Galiläa in seinem Gefolge, triumphirend aufgezogen und von der jubelnden Menge als Pabst und Fürst der Narren begrüßt und ausgerufen worden war.

Jetzt gebot Michel Noiret, geschworner Trompeter unseres Herrn, des Königs, den Bürgern und Insassen Stille und rief mit lauter Stimme das Urtheil des Prevot aus. Quasimodo, ruhig und unbeweglich, verzog keine Miene. Seine Bande waren so fest geschnürt, daß sie ihm jeden Widerstand unmöglich machten. Auf seinem Gesichte war nichts zu erkennen, als das dumpfe Staunen eines Wilden oder Blödsinnigen. Er war taub und man hätte ihn auch für blind halten können. Man hieß ihn niederknieen, er knieete. Man entblöste seinen Rücken bis zum Gürtel, er ließ es geschehen. Man befestigte ihn an den Driller, er rührte sich nicht. Bloß von Zeit zu Zeit blies er mit Geräusch den Athem von sich, wie ein Kalb, dessen Kopf auf dem Karren des Schlächters hinten überhängt.

»Der Lümmel,« sagte Johannes Frollo, der Mühlenhans, zu seinem Freunde Robin Poussepain (denn beide waren natürlich dem Spektakel nachgelaufen), »er weiß so wenig, was mit ihm vorgeht, als ein Maikäfer, den man in eine Schachtel einschließt.«

Die Menge lachte wie toll, als sie Quasimodo’s bloßen Höcker, seine haarige Brust und seine hornartigen Schultern erblickte. Inzwischen stieg ein Mann von untersetzter und starker Gestalt, in der Livrée der Stadt Paris, auf die Plattform und stellte sich in die Nähe des Patienten. Sein Name lief alsbald von Mund zu Mund. Es war Pierrat Torterue, geschworner Stockmeister des Chatelet.

Er warf seinen Rock ab und nahm in die rechte Faust eine dünne Peitsche von weißen Riemen, die mit metallenen Nägeln besetzt waren. Hierauf streifte er mit der linken Hand das Hemd am rechten Arme auf.

Bei diesem Anblick schrie Johannes Frollo mit der Stimme eines Ausrufers: »Schaut her, Ihr Herren und Frauen, man wird allhier geißeln den Meister Quasimodo, Glöckner meines Bruders, des Archidiakonus an der Liebfrauenkirche, ein Schaustück orientalischer Baukunst, dessen Rücken ein Dom, und dessen Beine gewundene Säulen sind!«

Die Menge brach in ein unermeßliches Gelächter aus. Jetzt stampfte der Stockmeister mit dem Fuße auf den Boden. Das Rad setzte sich in Bewegung, Quasimodo fing an zu schwanken. Die Bestürzung, die sich plötzlich in seinen mißgestalteten Zügen abzeichnete, verdoppelte ringsum das allgemeine Gelächter. Als jetzt das Rad in seinem Umschwung dem Meister Pierrat Quasimodo’s Höcker zukehrte, hob er den Arm. Die dünnen Riemen pfiffen durch die Luft und fielen mit Macht auf die bloßen Schultern des Unglücklichen herab. Quasimodo’s ganzer Körper schütterte zusammen, als ob er plötzlich aus dem Schlafe erwacht wäre. Jetzt fing er an zu begreifen, was mit ihm vorging. Er rang und wand sich in seinen Banden; ein heftiges Zucken der Ueberraschung und des Schmerzes verzerrte die Muskeln seines Gesichts, aber seinen Lippen entfuhr kein Seufzer. Er drehte bloß seinen Kopf bald rückwärts, bald links, bald rechts, wie ein Stier, den eine Bremse in die Seite sticht. Dem ersten Hieb folgte ein zweiter, dann ein dritter und so fort. Das Rad hörte nicht auf sich zu drehen, in gleichem Maße fielen die Hiebe hageldicht. Bald rieselte das Blut aus hundert Oeffnungen über die schwarzen Schultern des Buckligen herab. Quasimodo hatte, wenigstens dem Anschein nach, seine vorige Fühllosigkeit wieder angenommen. Zuerst hatte er, insgeheim und ohne große äußere Anstrengung, seine Bande zu zerreißen gesucht. Sein Auge glühte, seine Muskeln spannten sich an, er raffte die ganze Kraft seines Körpers zusammen, und man sah, wie sich die Riemen dehnten, die ihn gefesselt hielten. Die Anstrengung war kraftvoll und verzweifelt, aber die Bande waren allzustark und widerstanden ihr. Sie krachten, aber hielten fest. Quasimodo fiel erschöpft zurück. An der Stelle des Stumpfsinns erblickte man in seinen Zügen das Gefühl einer tiefen und bitteren Muthlosigkeit. Er schloß sein einziges Auge, ließ das Haupt auf die Brust sinken und blieb so unbeweglich, als ob sein Leben entflohen wäre. Nichts vermochte ihm eine Bewegung zu entreißen: weder sein Blut, das in Strömen floß, noch die verdoppelten Hiebe des Henkers, die mit stets wachsender Heftigkeit fielen, noch das Zischen der Geißel, die um seine Ohren sauste. Endlich streckte ein Gerichtsbote des Chatelet, der, schwarz gekleidet, auf einem schwarzen Rosse neben dem Driller hielt, um über die Vollziehung des Urtheils zu wachen, seinen Stab von Ebenholz aus. Der Henker hielt inne. Das Rad stand still. Quasimodo’s Auge öffnete sich langsam wieder. Die Geißelung war vorüber. Zwei Knechte des geschworenen Stockmeisters wuschen die blutigen Schultern des Patienten, rieben sie mit Balsam ein und warfen eine Decke über seine nackten Schultern.

Noch war nicht Alles für den armen Zwerg beendet; er hatte noch eine Stunde auf dem Pranger auszuhalten. Quasimodo war, wie wir bereits wissen, ziemlich allgemein verhaßt. Es gab kaum Einen Zuschauer unter der ihn umgebenden Menge, der sich nicht aus diesem oder jenem Grunde über den bösartigen Großbuckel der Liebfrauenkirche beklagen zu müssen glaubte. Die Freude war daher allgemein, als man ihn auf dem Pranger erblickte; und die blutige Stäupung, die er so eben erlitten, hatte, statt das Mitleid zu wecken, die öffentliche Munterkeit und Schadenfreude nur noch vermehrt.

Die Weiber zeichneten sich bei dieser Gelegenheit, wie bei anderen solcher Art, besonders aus. Da war keine, die ihm nicht entweder wegen seiner Bosheit oder wegen seiner Häßlichkeit gram gewesen wäre. Die letzteren waren die wüthendsten.

»Oh, Maske des Antichrist!« rief die eine.

»Ritter vom höllischen Besenstiel!« schrie die andere.

»Die schöne tragische Grimasse,« heulte eine dritte, »und wer würde den Narrenpabst machen, wenn heute gestern wäre?«

»Gut,« fügte ein altes Weib hinzu, »das ist die Grimasse des Schandpfahls; wann wird die des Galgens kommen?«

»Wann wirst Du hundert Schuh unter der Erde liegen mit Deiner großen Glocke als Nachtmütze auf dem Kopf, verdammter Glockenläuter!«

»Und dieser Satan soll das Angelus einläuten?«

»Oh, der Taube! der Einäugige! der Bucklige! Das Scheusal!«

Tausend Verwünschungen regneten zumal auf den Unglücklichen; das Zischen und Lachen nahm kein Ende und von da und dort flogen Steine auf ihn.

Quasimodo war taub, aber er sah mit seinem einzigen Auge hell genug, und die öffentliche Wuth war nicht minder deutlich auf den Gesichtern zu lesen, als sie sich durch Worte aussprach. Die Steine, die auf den Unglücklichen geworfen wurden, gaben vollends den Text dazu.

Quasimodo hielt im Anfang fest, nach und nach aber erlag seine Geduld, die sich unter der Geißel des Henkers nicht verläugnet hatte, unter den wiederholten Stichen der ihn umschwärmenden Insekten. Der asturische Stier, der ruhig bleibt bei den Angriffen des Picadors, wird wüthend beim Anblick der Hunde und der Fahnenschwinger, die ihn hetzen.

Quasimodo warf erst einen drohenden Blick auf die Menge; aber geknebelt wie er war, vermochte sein Blick nicht die Fliegen zu verscheuchen, die in seine offenen Wunden stachen. Jetzt knirschte er in seinen Banden und suchte sie zu zerreißen. Das Gerüste krachte unter seiner Anstrengung. Vergebens, und das Zischen und Lachen um ihn her wurde immer heftiger.

Jetzt wurde der Unglückliche, da er seine Bande nicht zu zerreißen vermochte, plötzlich wieder ruhig; nur stieß er von Zeit zu Zeit einen Seufzer der Wuth aus, der ihm die Brusthöhle zersprengen zu wollen schien. In seinen stumpfsinnigen Zügen war keine Empfindlichkeit für Ehre und Schande zu lesen; er war zu sehr roher Naturmensch, um zu wissen, was bürgerliche Schande sei. Nur Zorn, Haß, Verzweiflung zogen allmählig aus diesem häßlichen Gesichte ein immer düstereres Gewölke, je mehr und mehr von einer Elektricität geschwängert, welche in tausend Blitzen aus dem brennenden Auge des Cyklopen ausströmte.

Dieses Gewölke hellte sich einen Augenblick auf, als Quasimodo mitten unter der Menge einen Maulesel erblickte, auf dem ein Priester saß. Bei diesem Anblick, so entfernt er noch war, wurden die Züge des armen Patienten milder, Zorn und Haß verschwanden und machten einem seltsamen Lächeln von unaussprechlicher Milde, Zahmheit und Zärtlichkeit Platz. Je näher der Priester kam, um so deutlicher, bestimmter, strahlender wurde dieses Lächeln. Der Unglückliche schien die Ankunft eines Heilandes und Retters zu begrüßen. Als aber das Maulthier nahe genug am Pranger war, daß sein Reiter den Patienten erkennen konnte, schlug der Priester die Augen nieder, wendete plötzlich sein Thier um, gab ihm beide Sporen, als ob er sich eilends dem demüthigenden Hülferufen des Delinquenten entziehen wollte und wenig geneigt wäre, an solchem Ort und in solcher Lage von dem armen Teufel erkannt und begrüßt zu werden.

Dieser Priester war der Archidiakonus Claude Frollo.

Jetzt umzog sich Quasimodo’s Gesicht noch finsterer als zuvor. Noch eine Zeitlang mischte sich dem düsteren Gewölke ein Lächeln bei, aber bitter, entmuthigt, tiefbetrübt. Die Zeit verfloß. Jetzt stand der Unglückliche wenigstens anderthalb Stunden da, blutig gegeißelt, mißhandelt, verhöhnt, fast gesteinigt. Plötzlich suchte er in einem neuen Anfall von Verzweiflung seine Bande zu sprengen; er faßte alle seine Kraft zusammen und das Gerüst zitterte unter ihm. Als er sah, daß seine Anstrengung vergeblich war, brach er sein hartnäckiges Stillschweigen und schrie mit einer rauhen mißtönenden Stimme, die mehr einem Geheul, als menschlichen Tönen glich! »Zu trinken!«

Dieser Ausruf des Leidenden, weit entfernt das öffentliche Mitleid zu wecken, gab der rohen Menge neue Gelegenheit zu Neckereien und Scherzreden. Nicht eine einzige Stimme erhob sich für den Unglücklichen; man lachte und machte sich lustig über seine Leiden. Man muß jedoch bekennen, daß in diesem Augenblicke der Patient mehr lächerlich und widerwärtig, als mitleidswürdig erschien, mit seinem finstern Gesicht, mit seinem flammenden Auge, mit seinem von Wuth und brennendem Durst schäumenden Munde. Man muß ferner gestehen, daß, wenn sich auch irgend eine mitleidige Seele unter dem Haufen gefunden hätte, die geneigt gewesen wäre, dem armen leidenden Geschöpf einen Tropfen Wassers zu reichen, doch um die ehrlosen Stufen des Schandpfahls ein Vorurtheil von Schmach und Schande herrschte, das jeden gutmüthigen Samariter hindern mußte, sich ihnen zu nähern. Einige Minuten lang warf Quasimodo einen Blick der Verzweiflung auf die Menge und wiederholte dann in noch kläglicherem Tone: »Zu trinken!« Die Menge erhob ein schallendes Gelächter. »Hier hast Du zu trinken!« schrie Robert Poussepain und warf ihm einen im Straßenkoth getränkten Schwamm zu. »Da, garstiger Zwerg, ich bin noch Dein Schuldner.« Ein Weib warf ihm einen Stein an den Kopf: »Das soll Dich lehren, uns bei Nacht mit Deinem verfluchten Geläute aufzuwecken.« »Teufelskind!« heulte ein Lahmer und suchte ihn mit seiner Krücke zu erreichen, »wirst Du uns wieder Zauberzettel vom Thurm der Liebfrauenkirche herabwerfen?« »Hier hast Du einen Napf zum Trinken!« rief ihm ein Mann zu und warf ihm einen zerbrochenen Krug auf die Brust. »Du bist Schuld daran, daß meine Frau ein Kind mit zwei Köpfen auf die Welt gebracht hat!« »Und meine Katze ein Junges mit sechs Füßen!« heulte ein altes Weib und warf einen Ziegel nach ihm. »Zu trinken!« wiederholte Quasimodo zum dritten Mal, keuchend und halb verschmachtet.

In diesem Augenblicke sah er aus der sich öffnenden Menge ein junges seltsam gekleidetes Mädchen treten. Eine kleine weiße Ziege mit vergoldeten Hörnern folgte ihr. Das Mädchen trug einen baskischen Tambourin in der Hand.

Quasimodo’s Auge funkelte. Es war die nämliche Zigeunerin, die er in der vergangenen Nacht entführen wollte, und wegen welcher er, wie er dunkel fühlte, jetzt gezüchtigt wurde. Er zweifelte nicht, daß sie komme, um sich zu rächen und ihm irgend ein Leid anzuthun. Er sah sie in der That rasch die Stufen heraufsteigen. Zorn und Verdruß erstickten ihn fast; er hätte das ganze Gerüste zertrümmern mögen, und wenn sein Blick ein Blitz gewesen wäre, so würde er die Aegypterin zermalmt haben, ehe sie die Plattform erreichte.

Das Mädchen näherte sich, ohne ein Wort zu sagen, dem Unglücklichen, nahm eine Flasche aus ihrem Gürtel und brachte sie sachte an seine vertrockneten Lippen.

Jetzt sah man in diesem trockenen und brennenden Auge eine Thräne aufsteigen, die langsam über sein mißgestaltetes Gesicht herabrollte. Es war vielleicht die erste Thräne, die der Unglückliche je vergossen hatte.

Er vergaß zu trinken. Das Zigeunermädchen machte eine Geberde der Ungeduld, brachte ihm die Flasche an den Mund und hob sie in die Höhe. Er trank in langen Zügen. Sein Durst war brennend gewesen.

Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, verlängerte er seine schwarzen Lippen, ohne Zweifel in der Absicht, die Hand zu küssen, die ihm Beistand geleistet. Aber die Kleine, die sich des gewaltsamen Versuchs der vergangenen Nacht erinnerte und auch jetzt nicht recht traute, zog ihre Hand mit der Geberde eines erschrockenen Kindes zurück, das von einem wilden Thiere gebissen zu werden fürchtet.

Der arme Taube warf ihr einen Blick zu, in dem sich stiller Vorwurf und unaussprechliche Traurigkeit malten.

Dieses junge, schöne, blühende Mädchen, dieses reine und schwache Geschöpf, voll Mitleid herbeieilend, um dem Elend, der Mißgestalt und Bosheit Hülfe zu leisten – dies wäre überall ein rührendes Schauspiel gewesen! Auf einem Pranger war es göttlich. Selbst der rohe Haufe, der das Gerüst umstand, wurde davon ergriffen, klatschte in die Hände und rief: »Hurrah! Hurrah!« In diesem Augenblicke hatte die Klausnerin vom Rolandsthurm das Zigeunermädchen auf dem Pranger erblickt und ihr die Verwünschung zugerufen: »Verflucht seist Du, Tochter aus Aegyptenland! Verflucht! Verflucht!« Esmeralda erbleichte und stieg mit schwankenden Schritten vom Pranger herab. Die Stimme der Klausnerin rief ihr nach: »Steige herab! Steige herab, ägyptische Räuberin! Du wirst eines Tages wieder hinaufsteigen!« »Die Klausnerin hat ihre schwarze Stunde!« murmelte das Volk. Dabei blieb es, denn wer damals aus freiem Willen Tag und Nacht betete, wurde für heilig gehalten und gefürchtet.

Nachdem die Zeit verflossen war, entließ man den Delinquenten und die Menge zerstreute sich nach allen Richtungen. An der großen Brücke machte Mahiette plötzlich Halt und fragte ihren Knaben: »Ei, Eustach! Was hast Du denn mit dem Kuchen gemacht?« »Mutter,« erwiederte das Kind, »während Ihr mit der Dame im Rattenloche sprachet, kam ein großer Hund und biß meinen Kuchen an; dann habe ich auch davon gegessen.« »Wie, Du hast Alles gegessen?« »Der Hund hat’s gethan; ich sagte es ihm wohl, aber er hörte nicht darauf; dann aß ich auch mit.«

I.

Heute vor dreihundert acht und vierzig Jahren, sechs Monaten und neunzehn Tagen wurden die Pariser durch das Läuten aller Glocken geweckt, die in dem dreifachen Umkreise der alten Lutetia, der Universität und der neuen Stadt einen gewaltigen Bimbam machten.

Dieser sechste Januar des Jahres vierzehnhundert zwei und achtzig war gleichwohl kein Tag, der in der Geschichte roth angezeichnet ist. Es war nichts Besonderes in dem Ereigniß, das auf solche Weise die Glocken und die Spießbürger von Paris vom frühen Morgen an in Bewegung setzte. Kein Fechtspiel zwischen Burgundern und Picarden, keine Prozession des Allerheiligsten, keine Studentenrevolte im Weingarten von Laas, kein feierlicher Einzug unseres gnädigsten Herrn, des Königs, ja nicht einmal eine schöne Hängerei von Räubern und Räuberinnen, zur Befriedigung des Rechts und der Gerechtigkeit und zum abscheulichen Exempel für die gaffende Menge. Es hatte auch nicht, wie sonst im fünfzehnten Jahrhundert häufig geschah, eine glänzende Gesandtschaft mit wehenden Helmfedern und flatternden Fähnlein ihren Einzug gehalten, denn erst vor zwei Tagen hatte die letzte Cavalcade dieser Art, die flämischen Botschafter, welche die Heirath zwischen dem Dauphin und Margarethen von Flandern abschließen sollten, ihren Einzug in die Hauptstadt gehalten, zum großen Verdruß des Kardinals von Bourbon, der, dem Könige zu gefallen, diesen ganzen Troß bäuerischer Bürgermeister aus Flandern in seinem prächtigen Palaste bewirthen mußte.

An diesem sechsten Januar, der, wie Jehan von Troyes sagt, Alles was Leben hatte auf die Beine brachte, war die doppelte Feierlichkeit, die seit unfürdenklichen Zeiten auf einen Tag fällt: das Fest der Könige und der Narren. Da war jedesmal Freudenfeuer auf dem Grèveplatz, Maienfest in der Kapelle von Braque und Mysterium im Justizpalast. Am Abend zuvor schon war das Fest auf Straßen und Plätzen durch die Leute des Herrn Prevot, die in veilchenblauen Sammtkleidern stolzirten und große weiße Kreuze auf der Brust trugen, austrompetet worden.

Die ganze Stadt, Männer und Weiber, lief demnach vom frühen Morgen an einem der obenbezeichneten drei Plätze zu: Der dem Feuerwerk, Dieser dem Maienfest und Jener dem Mysterium; man muß es dem alten gesunden Verstand der Pariser Spießbürger zum Ruhme nachsagen, daß der bei weitem größte Theil dem Feuerwerk oder dem Mysterium im großen Saale des Justizpalastes zuströmte, während die Bänder an dem armen Maienbaum auf dem Kirchhofe der Kapelle von Braque fast einsam und verlassen flatterten. Hauptsächlich fluthete die Menge dem Justizpalaste zu, weil man wußte, daß die flämischen Gesandten der Darstellung des heiligen Mysteriums und der Erwählung des Narrenpabstes, die im gleichen Saale stattfand, anwohnen wollten.

Es war aber nicht so leicht, an jenem Tage in diesen großen Saal zu gelangen, den man damals für den größten hielt, der auf dem ganzen Erdball unter Dach und Fach stand. Der von Menschen wimmelnde Platz vor dem Justizpalast bot den Zuschauern aus den Fenstern den Anblick eines Meeres dar, in

welches fünf bis sechs Straßen, gleich Flußmündungen, jeden Augenblick ihre lebendigen Wellen ergossen. Das Geschrei, das Lachen, und das Stampfen dieser tausend Füße machten ein großes Geräusch und Gelärm. Von Zeit zu Zeit verdoppelte sich dieses Rauschen und Lärmen, und der Strom, der die ganze Masse gegen den großen Thorweg des Palastes fortriß dämmte sich und gerieth in Wirbel. Es bedurfte dabei bloß des Kolbenstoßes eines Bogenschützen von der Leibwache, oder eines Stadtsergenten, der sein Pferd tummelte, um die Ordnung herzustellen.

Unter den Thüren, an den Fenstern, an den Dachladen, auf den Dächern selbst wimmelten Tausende jener ehrbaren, so gutmüthigen und so ruhigen Bürgergesichter; sie blickten auf den Palast, sie blickten auf die strömende Menge und waren zufrieden, denn solche Leute sind schon zufrieden, wenn sie nur viele andere Leute sehen, und ihre Neugierde ist gereizt, wenn sie nur wissen, daß hinter irgend einer Mauer irgend etwas vorgeht, was sie weder sehen noch hören.

Wenn wir, wie wir jetzt im Jahre 1830 sind, uns in Gedanken unter jene Pariser des fünfzehnten Jahrhunderts mischen und mit ihnen, gedrückt und gestoßen, in jenen unermeßlichen Saal, der am sechsten Januar vierzehnhundertzweiundachtzig dennoch zu klein war, einziehen könnten, so würden wir ein Schauspiel genießen, das uns gewiß Freude machte, und lauter so alte Dinge sehen, daß sie uns nagelneu erschienen. Wenn der geneigte Leser nichts dagegen hat, wollen wir versuchen, ihm den Eindruck darzustellen, den er empfunden haben würde, wenn er mit uns über die Schwelle jenes großen Saales geschritten wäre, in dem Gedränge der Spießbürger und der Polizeischergen jener Zeit. Man tritt ein, die Ohren gellen und die Augen werden geblendet. Ueber unsern Häuptern ein doppeltes Bogengewölbe, mit hölzerner Bildnerei eingefaßt, himmelblau gemalt mit gold’nen Lilien: unter unsern Füßen abwechselnde Platten von weißem und schwarzem Marmor; einige Schritte von uns ein ungeheurer Pfeiler, dann wieder einer, dann noch einer, im Ganzen sieben Pfeiler in der Länge des Saals, die in der Mitte seiner Breite das doppelte Gewölbe halten. Rund um die vier ersten Pfeiler Krämerbuden voll glänzenden Geschirrs, um die drei letzten Bänke von Eichenholz, abgenützt und abgeglättet durch die ledernen Hosen der Klagenden und die Mäntel der Richter. Rings um den Saal, an der hohen Mauer hin, zwischen den Thüren, zwischen den Fenstern, zwischen den Pfeilern, die unübersehliche Reihe der Bildsäulen aller Könige von Frankreich seit Pharamund; die schläfrigen Könige mit herabhängenden Armen und stieren Augen, die tapfern und kriegslustigen Herren mit trotzigem Haupt und hoch erhobener Hand. Hierauf unter den langen Fensterbogen tausendfarbige Gläser, an den weiten Ausgängen des Saals reiche Thüren mit feiner Bildnerarbeit, und Alles, Bogen, Pfeiler, Mauern, Thüren, Bildsäulen, von oben bis unten in Himmelblau und Gold glänzend. Hiezu denke man sich den unermeßlichen oblongen Saal, von dem bleichen Lichte eines Wintertages erhellt, angefüllt von der rauschenden Menge, die sich an den Mauern entlang und rund um die sieben Pfeiler drängt, und man wird sich eine, wenn auch nicht klare Idee von dem ganzen Gemälde machen können, dessen seltsame Einzelnheiten wir jetzt vor unsern Lesern aufzurollen gedenken.

An den beiden Enden dieses gigantischen Vierecks sah man an dem einen die berühmte Marmortafel aus einem Stück, das so lang, breit und dick war, daß man, wie alte Schriften berichten, noch kein ähnliches auf der ganzen weiten Welt gesehen hatte; an dem andern die Kapelle, in welcher Ludwig XI., vor der heiligen Jungfrau auf den Knieen liegend, in Stein gehauen war. Diese Kapelle, damals noch neu und kaum seit sechs Jahren erbaut, war ganz im Geschmacke jener seinen Baukunst, jener wunderbaren Bildnerei, jener feinen und profunden Meißelarbeit errichtet, welche das Ende der gothischen Aera bezeichnet und in märchenhaften Phantasien bis gegen die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts fortgelebt hat.

Mitten im Saale, der großen Eingangsthüre gegenüber, war eine mit Goldstoff bekleidete Estrade für die flandrischen Gesandten und die andern vornehmen Personen errichtet, die man zur Darstellung des Mysteriums eingeladen hatte. Nach altem Brauche sollte das Mysterium auf der großen Marmorplatte aufgeführt werden. Man hatte zu diesem Ende ein leichtes hölzernes Gerüste auf derselben aufgeschlagen, das zum Theater dienen sollte, und dessen Inneres, mit Tapeten behängt, den handelnden Personen des Stücks zum Ankleidezimmer diente. Eine von Außen angelegte Leiter wurde als Verbindungsmittel zwischen der Bühne und dem Ankleidezimmer gebraucht, und auf ihr stiegen die Schauspieler, die auftraten oder abgingen, auf und ab. So war es in der Kindheit der Schauspielkunst und der Maschinerie beschaffen.

An den vier Ecken der Marmorplatte standen, aufrecht und steif, vier Trabanten des Hausmeisters des Justizpalastes, bei Festen wie bei Hinrichtungen verpflichtete Hüter des Volks.

So bald der zwölfte Schlag der großen Palastuhr Mittag anzeigte, sollte das Stück beginnen; das war allerdings für eine theatralische Darstellung sehr spät, aber man mußte sich nach der Bequemlichkeit der flandrischen Gesandten schicken. Die schaulustige Menge wartete bereits seit dem frühesten Morgen. Tausende standen schon mit Tagesanbruch vor der großen Treppe des Justizpalastes; Einige hatten sogar die Nacht unter dem großen Thore zugebracht, um sich des Eintritts zu versichern, sobald es geöffnet würde. Mit jeder Minute wuchs der Haufen an und ergoß sich gleich einem Strome, der über sein Ufer tritt, an Mauern, Pfeiler, Fenstergesimse, und wo irgend ein leerer Fleck war, der einen Menschen fassen konnte. Unbehaglichkeit, Ungeduld, Langeweile, die Freiheit eines Tages cynischer Ungebundenheit, die Händel, die sich in Folge des Stoßens und Tretens erhoben, die Abspannung des langen Wartens, gaben schon lange vor der Ankunft der Gesandten dem Treiben dieses eingeschlossenen, gepreßten, halb erstickten Volkes einen Ausdruck bittern Verdrusses. Man hörte nichts als Klagen und Verwünschungen gegen die Flamänder, den Handlungsvorsteher, den Kardinal Bourbon, den Hausmeister des Palastes, Margarethe von Oesterreich, die Stadtsergenten, die Kälte, die Hitze, das schlechte Wetter, den Bischof von Paris, den Narrenpabst, die Pfeiler, die Bildsäulen, diese geschlossene Thüre und jenes offene Fenster: Alles zum großen Ergötzen der zahlreichen Studenten und Lakaien, die unter der Masse zerstreut waren und zu ihrer Belustigung überall das Feuer der üblen Laune schürten.

Eine Bande dieser muntern Gesellen hatte die Scheiben eines Fensterflügels eingeschlagen, und war auf das Gesimse gestiegen, von wo sie abwechselnd nach innen und außen, mit dem Volkshaufen im Saal und dem auf der Straße, schäkerte und Possen trieb. Aus den Fratzengesichtern, welche sie gegen Diesen und Jenen schnitten, aus ihrem schallenden Gelächter, aus den scherzhaften Zurufen, welche sie von einem Ende des Saales zum andern an ihre Spießgesellen ergehen ließen, war leicht abzunehmen, daß sie die allgemeine Abspannung und Langeweile nicht theilten, und einstweilen, bis das Schauspiel anfing, ein Stück auf eigene Faust zu spielen wußten.

»Bei meiner armen Seele, Du bist’s, Johannes Frollo de Molendino!« rief einer derselben einem dieser kleinen Teufelsjungen, blondhaarig und mit einem hübschen Spitzbubengesichte, zu, der sich in das Schnitzwerk einer Säule eingenistet hatte, »und man nennt Dich wohl mit Recht Mühlenhans, denn so wie Du dahängst, sehen Deine Arme und Füße wie Windmühlenflügel aus. Seit wann hängst Du denn so in der Luft zwischen Himmel und Erde?«

»Bei der ewigen Barmherzigkeit des Teufels,« erwiderte Johannes Frollo, »es sind schon mehr als vier lange Stunden, und wenn mir die nicht für die Zeit meines Fegfeuers angerechnet werden, so ist kein Gott mehr im Himmel. Schon diesen Morgen um die siebente Stunde hörte ich die acht Chorsänger des Königs beider Sicilien den ersten Vers des Hochamtes in der heiligen Kapelle anstimmen.«

»Saubere Sänger, die!« versetzte der Andere, »ihre Stimme ist noch spitziger, als ihre Kappen. Ehe der König eine Messe für den heiligen Johann stiftete, hätte er sich zuvor erkundigen sollen, ob der heilige Johann lateinische Psalmen im Dialekt der Provence liebt.«

»Das hat er bloß gethan, um diese vermaledeiten Chorsänger des Königs von Sicilien anzustellen!« rief ein altes Weib, das mitten unter der Menge unten am Fenster stand, geifernd aus. »Seht doch, tausend gute Pariser Livres für eine Messe! und dazu noch auf den Pacht des Pariser Fischmarkts angewiesen!«

»Ruhig, alte Vettel!« fuhr sie ein dicker und ansehnlicher Mann an, während er sich die Nase zuhielt, um anzudeuten, daß es in der Nähe eines Fischweibes übel rieche. »Mußte man nicht eine heilige Messe stiften, oder willst Du, daß der König auf’s Neue krank werde?«

»Wohl gesprochen, Meister Gilles Lecornu, königlicher Hofkürschner!« rief ihm der kleine Student zu, der am Pfeiler hing.

Der übelklingende Name des armen königlichen Hofkürschners wurde mit schallendem Gelächter aus dem Munde sämmtlicher Studenten begrüßt.

»Lecornu! Gilles Lecornu!« schrieen die Einen.

»Cornutus et hirsutus,« fiel ein Anderer ein.

»Freilich, er ist es in eigener Person!« fuhr der Teufelsjunge von seinem Pfeiler herab fort, »Und was habt Ihr denn zu lachen? Es ist der sehr ehrenwerthe Meister Gilles Lecornu, Bruder des Meisters Johann Lecornu, Haushofmeisters des Königs, Sohn des Meisters Mahiet Lecornu, ersten Thürstehers im Park von Vincennes, lauter ehrbare Spießbürger von Paris, sämmtlich geheirathet von Vater auf Sohn!«

Diese Apostrophe steigerte die allgemeine lustige Laune auf den höchsten Grad. Der arme Hofkürschner wagte den Mund nicht aufzuthun, sondern suchte sich den von allen Seiten auf ihn gerichteten Blicken zu entziehen; er schnaubte wie ein harpunierter Wallfisch, und schwitzte wie ein gehetzter Hase. Vergebens, je mehr er sich Mühe gab, sich durchzudrängen, um so fester speitelte sich seine breite Figur zwischen den Schultern seiner Nachbarn ein. Sein Gesicht war dunkelroth vor Zorn und Verdruß.

Endlich kam ihm einer seiner Nachbarn, dick, stämmig und ehrenfest, wie er selbst, mit christlichem Beistand zu Hülfe.

»Gräulich und abscheulich!« rief er aus, »Studenten, Schulbuben führen eine solche Sprache gegen einen Pariser Bürger! Zu meiner Zeit hätte man sie dafür mit Ruthen gestrichen und auf einem Holzstoß verbrannt.«

Diese Worte brachten die ganze Studentenbande in Aufruhr.

»Holla! Heda! Wer ist’s, der dieses Lied singt? Wer ist die unglückverkündende Nachteule?«

»Es ist der Meister Andry Musnier, ich kenne ihn wohl,« rief einer der Studenten.

»Richtig, einer der vier geschwornen Buchhändler der Universität!« fiel ein Anderer ein.

»Alles ist vierfach in diesem Kram,« fügte ein Dritter hinzu: »Die vier Nationen, die vier Fakultäten, die vier Feste, die vier Prokuratoren, die vier Wähler, die vier Buchhändler!«

»Nun wohl denn,« schrie Johannes Frollo, »so muß man ihm auch den Teufel vierfach im Glase zeigen!«

»Musnier, wir verbrennen Deine Bücher!«

»Musnier, wir schlagen Deinem Ladenburschen den Buckel voll!«

»Musnier, wir zerren Dein Schätzchen herum!«

»Die gute dicke Jungfer Oudarde, die so frisch und munter ist, wie wenn sie Wittwe wäre!«

»Hol‘ euch Alle der Teufel!« brummte Meister Andry Musnier in den Bart.

»Meister Andry,« rief ihm der Teufelsjunge vom Pfeiler herab warnend zu, »wenn Du nicht schweigst, so lasse ich mich auf Deinen Strohkopf herabfallen!«

Bei diesen Worten erhob Meister Andry die Augen zum Pfeiler, schien einen Augenblick dessen Höhe und das Gewicht des kleinen Spitzbuben zu messen, multiplicirte in Gedanken dieses Gewicht durch die Geschwindigkeit des Falles vermehrt, und schwieg weislich.

Johannes Frollo, auf solche Weise Meister des Feldes, fuhr triumphirend fort: »Das thue ich Dir, so wahr ich der Bruder eines Archidiakonus bin! Das sind saubere Leute, unsere Herren von der Universität, daß sie nicht einmal an einem Tage, wie der heutige ist, unseren Privilegien den nöthigen Respekt verschaffen! Sind nicht Maienfest und Feuerwerk in der Neustadt? heiliges Mysterium, Narrenpabst und flämische Gesandte in der Altstadt? Und in der Universität nichts!«

»Und doch wäre der Platz Maubert groß genug dazu!« fiel einer der Studenten ein, der auf dem Fenstergesimse saß.

»Fort mit dem Rektor, den Wählern und den Prokuratoren!« schrie Johannes Frollo.

»Man muß diesen Abend auf dem Champ-Gaillard mit den Büchern des Meisters Andry ein Freudenfeuer machen!«

»Da kann man gleich die Pulte der Schreiber mit verbrennen!« sagte sein Nachbar.

»Und die Stöcke der Pedellen!«

»Und die Spucknäpfe der Professoren!«

»Und die Schenktische der Prokuratoren!«

»Und die Mehlkästen der Wähler!«

»Und den Fußschemel des Rektors!«

»Fort,« rief auf’s Neue Johannes Frollo, »fort mit dem Meister Andry, fort mit den Pedellen und Schreibern, fort mit den Theologen, den Medicinern und Juristen, fort mit den Prokuratoren, den Wählern und dem Rektor!«

»Gott stehe uns bei, der jüngste Tag bricht an!« murmelte Meister Andry für sich, und bedeckte mit beiden Händen die Ohren.

»Vom Rektor redet Ihr, da geht er eben über den Platz!« rief einer der Studenten.

Alle Blicke wendeten sich nach dieser Gegend.

»Richtig kurirt, das ist unser in Gott ehrwürdiger Rektor, Meister Thibaut,« sagte Johannes Frollo, der Mühlenhans, »ich kann ihn zwar nicht sehen, aber ich rieche ihn schon von Weitem.«

»Ja, ja,« antworteten mit einer Stimme die Anderen, »er ist es selbst, unser sehr ehrwürdiger Rektor, Meister Thibaut.«

Es waren wirklich der Rektor und sämmtliche Lehrer und Diener der Universität, welche in diesem Augenblicke in Prozession über den Platz des Justizpalastes zogen, um die flämische Gesandtschaft feierlich zu empfangen. Die Studenten, die sich am Fenster drängten, empfingen sie beim Vorüberziehen mit Spottreden und ironischen Beifallsbezeugungen. Der Rektor, der an der Spitze des Zuges einherkam, empfing die erste, sehr gewichtige Ladung derselben.

»Guten Morgen, Herr Rektor! Holla! Heda! Guten Morgen, Herr Rektor!«

»Ist er auch schon da, der alte Spieler? Wo hat er denn seine Würfel gelassen!«

»Wie er auf seinem Maulthier einhertrampelt! Seine Ohren sind länger, als die seines Maulesels!«

»Holla! Heda! Guten Morgen, Herr Rektor Thibaut! Tybalde Aleator! Alter Strohkopf! Alter Spieler!«

»Gott erhalte Dich gesund! Hast Du in dieser Nacht schon oft zweimal sechs geworfen?«

»Oh! welche schlotternde Gestalt, wie die Spielwuth seine Züge verzerrt hat!«

»Wohin denn, alter Thibaut, Tybalde ad Dados, kehrst Du der Universität den Rücken und zottelst der Stadt zu?«

»Ohne Zweifel,« rief der Mühlenhans dazwischen, »sucht er eine Wohnung in der Straße Thibautodé, (Thibaut aux dés).«

Diese Anspielung auf die Spielwuth des Rektors wurde mit donnerndem Beifall und schallendem Händeklatschen aufgenommen und von der ganzen lustigen Bande wiederholt:

»Er sucht eine Wohuung in der Straße Thibautodé, der alte Meister Thibaut, der dem Teufel die Karten mischt!«

Hierauf kam die Reihe an die übrigen Lehrer und Diener der Universität.

»Fort mit den Pedellen! Fort mit den Stabträgern!«

»Sage mir doch, Robin Poussepain, wer ist denn dieser da?«

»Das ist Gilbert de Suilly, Gilbertus de Soliaco, der Kanzler des Collegiums von Autun.«

»Hier hast Du meinen Schuh, wirf ihm denselben in sein Fratzengesicht; Du kannst besser beikommen als ich.«

»Saturnalitias mittimus ecce nuces.«

»Fort mit den sechs Theologen in ihren weißen Chorhemden!«

»Sind das Theologen! Ich hielt sie für sechs weiße Gänse, die das Kloster der heiligen Genovefa der Stadt Paris für das Lehen von Rogny spendet,«

»Fort mit den Medicinern!«

»Fort mit den Hauptdisputationen und allen Schulfuchsereien!«

»Gib mir meine Mütze, Kanzler von St. Genovefa, Du hast eine Ungerechtigkeit gegen mich begangen! Ihr möget es glauben oder nicht, er hat meine Stelle in der Nation der Normandie dem kleinen Ascanio Falzaspada aus Bourges verliehen, weil er ein Italiener ist.«

»Das ist eine Ungerechtigkeit,« schrieen alle Studenten mit einer Stimme. »Fort mit dem Kanzler von St. Genovefa!«

»Heda! Meister Joachim de Ladehors! Heda! Louis Dahuille! Heda! Lambert Hoctement!«

»Hole der Teufel den Prokurator der deutschen Nation!«

»Und die Kaplane der heiligen Kapelle, mit ihren grauen Pelzmänteln dazu! cum tunicis grisis!«

»Seu de pellibus grisis furratis!«

»Holla! Heda! Die Meister der freien Künste! Alle schwarzen und rothen Mützen!«

»Er führt einen schönen Schweif hinter sich, Meister Thibautodé, der Rektor!«

»Man sollte ihn für den Dogen von Venedig halten, der auszieht, sich mit dem Meer zu vermählen.«

»Da kommen die Pfaffen der heiligen Genovefa! Zum Teufel mit ihnen und dem ganzen Pfaffenthum!«

»Abbé Claude Choart! Doktor Claude Choart! Suchst Du Deine Marie Giffarde?«

»Suche sie in der Straße Glatigny.«

»Sie macht eben das Bett des Königs der Hurenjäger.«

»Sie bezahlt eben ihre vier Pfennige, quatuor denarios

»Aut unum bombum

»Seht da«, ihr lieben Leute, den Meister Simon Sanguin, Wähler der Picardie, der seine Frau hinter sich auf dem Maulesel sitzen hat!«

»Post equitem sedet atra cura.«

»Frisch auf, Meister Simon!«

»Guten Morgen, Herr Wähler!«

»Gute Nacht, Frau Wählerin!«

Inzwischen hatte der geschworene Buchhändler der Universität, Meister Andry Musnier, sich zum Ohre des Hofkürschners, Meisters Gilles Lecornu, geneigt: »Ich sage Euch, lieber Herr, der jüngste Tag ist nahe. Wann hat man je solchen Uebermuth von Studenten gesehen? Das Alles dankt man diesen verfluchten Erfindungen des Jahrhunderts: dem Pulver, dem Blei, den Kanonen, den Feldschlangen, den Mörsern, vor Allem aber der Buchdruckerkunst, dieser weiteren Pest aus Deutschland. Es fliegt mit Manuskripten und Büchern, der Buchhandel geht durch die Buchdruckerkunst zu Grunde, ich sage Euch, das Ende der Welt ist nahe.«

»Freilich, freilich« versetzte der Hofkürschner, »ich merke es wohl, denn Sammt und Seide sind jetzt weit mehr gesucht, als die Pelzwaaren,«

In diesem Augenblicke schlug es zwölf Uhr.

»Ah, ah, ah!« rief die ganze Menge aus einem Munde.

Jetzt schwiegen die Studenten. Hierauf großes Geräusch mit den Füßen, Bewegung der Hände und Häupter, Husten und Wehen mit den Sacktüchern; alle machten sich fertig, die Dinge zu schauen, die da kommen sollten. Tiefe Stille, alle Anwesenden starren mit offenem Munde auf die Marmorplatte, auf der die Bühne aufgeschlagen ist. Nichts läßt sich blicken, als die vier Trabanten des Hausmeisters, die noch immer stets und unbeweglich dastehen wie Bildsäulen. Jetzt wenden sich die Blicke dem erhöhten Sitze zu, der für die flämischen Gesandten errichtet ist; aber die Thüre bleibt geschlossen und die Estrade leer. Seit frühem Morgen hatte diese ungeduldige Menge auf dreierlei gewartet: auf die Mittagsstunde, die flandrische Gesandtschaft und das heilige Mysterium. Jetzt, zu dieser Frist, war bloß die Mittagsstunde da.

Das war allzuviel für ein schaulustiges Publikum. Man wartet eine, zwei, drei, fünf Minuten, eine Viertelstunde, nichts zeigt sich. Die Estrade steht verlassen, das Theater bleibt stumm. Auf Ungeduld folgt jetzt Zorn. Erst leise, dann lauter, laufen trotzige Reden von Mund zu Mund. »Das Mysterium! das Mysterium!« murmelt man halblaut. Die Köpfe erhitzen sich, der Sturm ist dem Ausbruche nahe. Jetzt wirft der Mühlenhans den ersten Funken in den Zündstoff.

»Das Mysterium, und zum Teufel mit den Flamändern!« ruft er aus voller Brust über den Haufen hin.

Tausend Hände klatschen ihm Beifall, und tausend Zungen wiederholen donnernd: »das Mysterium und zu allen Teufeln mit den Flamändern!«

»Das Mysterium, und zwar auf der Stelle,« wiederholte der Student, »oder wir führen selbst ein christliches Schauspiel auf, und hängen den Hausmeister des Palastes an seine eigenen Pfosten.

»Wohl gesprochen,« schrie die Menge tobend, »und laßt uns gleich das Geschäft mit seinen Trabanten beginnen!«

Dieser Vorschlag wurde mit Beifall aufgenommen.

Die vier armen Teufel, auf solche Weise bedroht, wurden todesblaß und warfen sich ängstliche Blicke zu. Bereits drängte sich die Menge dem aufgeschlagenen Gerüste zu, das unter dem allgemeinen Andrang krachte und zu brechen drohte.

Der Augenblick war kritisch. »An den Strick! An den Strick!« rief man von allen Seiten.

In diesem Augenblicke hoben sich die Tapeten, die das Ankleidezimmer der Schauspieler bedeckten, und eine Person trat heraus, deren bloßer Anblick dem Andrang der Menge Einhalt that und, wie mit einem Zauberschlag, ihren Zorn in Neugierde verwandelte.

»Stille! Stille!«

Jene Person trat nicht sehr gefaßt und an allen Gliedern zitternd bis an den Rand der Marmorplatte vor, unter hundert Verbeugungen, die sich, nach Maßgabe ihres Vorschreitens, mehr und mehr in förmliche Kniebeugungen verwandelten.

Inzwischen hatte sich die Ruhe so ziemlich wieder hergestellt, und man vernahm nur noch jenes leichte Murmeln, das selbst bei dem Stillschweigen einer großen Menschenmasse immer hörbar ist.

»Meine Herren Bürger und meine Damen Bürgerinnen,« sprach das Individuum, »wir werden die Ehre haben, vor Sr. Eminenz, dem Herrn Kardinal, aufzuführen und darzustellen ein sehr schönes moralisches Schauspiel, das den Namen führt: Das gute Urtheil der heiligen Jungfrau Maria. Ich spiele den Jupiter. Se. Eminenz befindet sich in diesem Augenblicke bei der Gesandtschaft des verehrtesten Herrn Herzogs von Oesterreich, welche eben jetzt an dem Thore Baudets von dem Herrn Rektor der Universität mit einer Anrede empfangen wird. Sobald Se. Eminenz der Herr Kardinal anlangt, werden wir das Stück beginnen.«

Es war allerdings nichts Geringeres als die Vermittlung des Donnergottes in eigener Person erforderlich, um die vier armen Trabanten des Hausmeisters zu retten. Wenn wir so glücklich gewesen wären, diese wahrhaftige Geschichte selbst zu erfinden, und mithin vor unserer Dame Kritik dafür verantwortlich zu sein, so könnte man in diesem Augenblicke gegen uns die klassische Vorschrift anwenden: Nec Deus intersit. Im Uebrigen war das Kostüm unseres Herrn Jupiters sehr schön und hatte nicht wenig dazu beigetragen, die Menge zu beruhigen, indem es ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Donnergott trug ein mit goldenen Nägeln beschlagenes Panzerhemd, auf dem Haupte einen Helm mit silbernen und vergoldeten Knöpfen, und hätte er nicht einen ungeheuern Bart gehabt und etwas in seiner Hand getragen, das den Blitz vorstellen sollte, den er zu schleudern pflegt, so hätte man ihn für einen Bogenschützen der königlichen Leibwache halten können.

XIX.

Mehrere Wochen waren verflossen. Man befand sich in den ersten Tagen des März und die Sonne schien schon recht warm und freundlich.

Der Liebfrauenkirche gegenüber, die im Strahl der Mittagssonne glänzte, auf dem Balkon eines gothischen Hauses, saßen mehrere schöne junge Mädchen, lachend und schäkernd. Sie waren in Gold, Sammt und Seide gekleidet, und Alles an ihnen deutete auf Reichthum und hohen Stand. Es waren in der That die adeligen Damen Fleur-de-Lys de Gondelaurier und ihre Gespielinnen Diana de Christeuil, Amelotte de Montmichel, Colombe de Gaillefontaine und die kleine Chanchevrier, lauter Töchter aus guten Häusern, in diesem Augenblicke bei der Wittwe Gondelaurier versammelt, den Prinzen von Beaujeu und seine Gemahlin zu erwarten, die im Monat April nach Paris kommen und die Ehrendamen wählen sollten, die zur Einholung der Dauphine Margarethe bestimmt waren, wenn man sie in der Picardie von den Flamändern übernehmen würde. Alle Junker auf dreißig Stunden in der Runde strebten nach dieser Auszeichnung für ihre Töchter, und Viele hatten sie bereits nach Paris gebracht oder geschickt. Die genannten jungen Damen waren der Hut der ehrwürdigen Dame Aloise de Gondelaurier anvertraut, welche die Wittwe eines Kapitäns der königlichen Bogenschützen war und sich mit ihrer einzigen Tochter in ihr Haus an der Ecke der Straße Parvis, der Liebfrauenkirche gegenüber, zurückgezogen hatte.

Der Balkon, auf welchem die jungen Mädchen waren, öffnete sich gegen ein reich tapezirtes Zimmer. Im Hintergrunde desselben, am Kamin, saß in einem reichen Armstuhl von rothem Sammt die Dame Gondelaurier, deren 55 Jahre in ihrer Kleidung sowohl, als auf ihrem Gesichte zu lesen waren. Neben ihr stand ein junger Mann, dessen Gesicht ziemlich vielen Stolz, auch zugleich keine geringe Dosis von Eitelkeit und Anmaßung aussprach, kurz einer jener schönen Männer, über deren Schönheit alle Weiber einig sind, während der ernste Physiognom die Achsel darüber zuckt. Dieser junge Cavalier trug die glänzende Uniform eines Hauptmanns der königlichen Bogenschützen.

Die Damen saßen theils auf dem Balkon, theils in dem Zimmer; jede hielt auf ihren Knieen den Zipfel einer großen Stickerei, an welcher sie gemeinschaftlich arbeiteten. Sie unterhielten sich unter einander mit jener kichernden Stimme und dem halberstickten Lachen einer Versammlung junger Mädchen, in deren Mitte sich ein junger Mann befindet. Der junge Mann, dessen bloße Gegenwart schon alle diese weiblichen Eitelkeiten in Bewegung setzte, schien sich nur wenig um sie zu kümmern, und während jedes dieser schönen Mädchen seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchte, putzte er gleichgültig mit seinem hirschledernen Handschuh die Schnalle an seinem Leibgürtel.

Von Zeit zu Zeit sprach die alte Dame leise mit ihm, und er antwortete ihr, so gut er vermochte, mit einer Art linkischer Höflichkeit. Aus der lächelnden Miene, aus kleinen Zeichen guten Einverständnisses der alten Dame, aus den Blicken, welche sie bisweilen auf ihre Tochter Fleur-de-Lys schießen ließ, während sie leise mit dem Kapitän sprach, ließ sich leicht erkennen, daß von einer bereits vollzogenen Verlobung, von einer ohne Zweifel nahen Heirath zwischen dem jungen Manne und Fleur-de-Lys die Rede war. Aus der verlegenen Kälte des Offiziers ergab sich jedoch, daß es sich, von seiner Seite wenigstens, nicht mehr um Liebe handelte. Sein ganzes Gesicht drückte Verlegenheit und Verdruß aus, und man sah ihm an, daß er hier eine Art Frohndienst verrichtete.

Die gute Dame, ganz vernarrt in ihre Tochter, wie Mütter zu sein pflegen, nahm seinen Mangel an Enthusiasmus nicht wahr, und machte ihm mit leiser Stimme bemerklich, mit welcher unendlichen Vollkommenheit und Grazie Fleur-de-Lys ihre Nadel handhabe.

»Seht doch einmal, Vetterchen,« flüsterte sie ihm ins Ohr, indem sie ihn am Aermel zu sich herabzog, »seht doch, jetzt bückt sie sich über die Arbeit!«

»Wahrhaftig!« antwortete der junge Mann und fiel in sein zerstreutes und kaltes Stillschweigen zurück.

Einen Augenblick darauf mußte er sich aufs Neue zu ihrem Ohre neigen und Dame Aloise sprach zu ihm: »Habt Ihr je ein einnehmenderes und liebreizenderes Gesicht gesehen, als das Eurer Zukünftigen? Kann es etwas Weißeres und Blonderes geben? Sind das nicht vollendete Hände? Und dieser Hals, nimmt er nicht zum Bezaubern alle Biegungen des Schwans an? Wahrhaftig, ich beneide Euch selbst bisweilen! Ihr seid glücklich, ein Mann zu sein, und Ihr verdient es kaum, Ihr lockerer Geselle! Ist nicht meine Fleur-de-Lys anbetungswürdig schön, und seid Ihr nicht ganz rasend in sie verliebt?«

»Allerdings!« erwiederte er und dachte an etwas Anderes.

»So redet doch mit ihr,« sagte die Dame plötzlich und stieß ihn an der Schulter weg, »sagt ihr etwas Schönes! Ihr seid ja gar zu schüchtern.«

Die Schüchternheit war übrigens weder die Tugend noch der Fehler des Offiziers. Er machte nun einen Versuch, dem Genüge zu leisten, was man von ihm verlangte.

»Schöne Base,« sprach er zu Fleur-de-Lys, »welches ist der Gegenstand dieser Stickerei?«

»Schöner Vetter,« antwortete Fleur-de-Lys mit verdrießlicher Betonung, »ich habe Euch schon dreimal gesagt, daß es die Grotte Neptuns ist.«

Augenscheinlich besaß Fleur-de-Lys einen helleren Blick als ihre Mutter, und die Kälte und Zerstreutheit ihres Bräutigams waren ihr nicht entgangen. Er fühlte daher die Notwendigkeit, irgend ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen.

»Und für wen ist diese Stickerei bestimmt?« fragte er.

»Für die Abtei Sanct Anton,« antwortete Fleur-de-Lys, ohne die Augen zu erheben.

Der Kapitän nahm eine Ecke der Tapete in die Hand: »Wer ist dieser dicke Gendarm, schöne Base, der mit vollen Backen in die Trompete bläst?«

»Es ist Trito.«

In den kurzen Antworten der Dame lag eine Betonung, die anzeigte, daß sie sich gekränkt fühle. Der junge Mann sah ein, daß er ihr nothwendig etwas ins Ohr sagen müsse, eine Galanterie, eine Dummheit, gleichviel. Er neigte sich demnach zu ihrem Ohre, aber er konnte mit der ganzen Anspannung seiner Denkkraft keine zärtlichere und innigere Anrede finden, als folgende: »Warum trägt denn Eure Frau Mutter immer noch den alten, mit Wappen gestickten Rock, wie unsere Großmütter zur Zeit Karls VII.? Sagt ihr doch, schöne Base, daß dies nimmer Mode ist, und daß der Harnisch und Lorbeer auf ihrem gestickten Kleide ihr das Ansehen einer wandernden Tapete geben. So kleidet man sich heutzutage nimmer, das schwöre ich Euch.«

Fleur-de-Lys erhob ihre schönen Augen und erwiederte leise im Tone des Vorwurfs: »Ist das Alles, was Ihr mir schwört?«

Die gute alte Dame, als sie so das liebende Paar, flüsternd und kosend, erblickte, sagte zu sich selbst: »Oh, rührendes Bild der Liebe!«

Der Kapitän, immer verlegener, bückte sich auf die Tapete und sprach: »Eine herrliche Arbeit, so wahr Gott lebt!«

Colombe de Gaillefontaine, eine andere schöne Blondine, benützte diesen Ausruf und wagte furchtsam ein Wort, das sie an Fleur-de-Lys richtete, in der Hoffnung, daß der schöne Offizier es ihr beantworten werde: »Meine liebe Gondelaurier habt Ihr die Tapeten des Palastes Rouche-Gujon gesehen?«

»Ist das nicht der Palast, der den Garten der Weißzeughändlerin des Louvre einschließt?« fragte lachend Diana de Christeuil, die, weil sie schöne Zähne hatte, bei jeder Gelegenheit lachte.

»Und wo der große alte Thurm der alten Mauer von Paris steht?« fügte Amelotte de Montmichel hinzu, eine niedliche Brünette, welche die Gewohnheit hatte zu seufzen, wie die Andere zu lachen, ohne daß eine von Beiden wußte, warum.

»Meine liebe Colombe,« fiel die alte Dame ein, »Ihr sprecht wohl von dem Palast des Herrn von Bacqueville unter dem König Karl VI.? Es sind wirklich sehr schöne Tapeten darin.

»Karl VI.! König Karl VI.!« brummte der Kapitän zwischen den Zähnen. »Die gute Dame hat ein herrliches Gedächtnis; für diese alten Geschichten!«

Die alte Dame fuhr fort: »Schöne Tapeten, beim wahrhaftigen Gott! Sehr seltene Tapeten!«

In diesem Augenblicke rief Berangere de Champchevrier, ein munteres Kind von sieben Jahren, das vom Balkon auf den Platz hinabgeblickt hatte: »Seht doch, schöne Pathin Fleur-de-Lys! Seht doch die niedliche Tänzerin, die da unten, mitten unter den Bürgern, auf dem Pflaster tanzt und den Tambourin schwingt!«

»Es wird irgend eine Zigeunerin sein!« erwiederte Fleur-de-Lys, indem sie nachlässig den Kopf der Straße zudrehte.

»Laßt sehen! Laßt sehen!« riefen ihre lebhaften Gespielinnen und rannten auf den Balkon, während ihnen Fleur-de-Lys, nachdenklich über die Kälte ihres Bräutigams, langsam folgte. Der Kapitän, den dieser Zwischenfall von einer peinlichen Unterhaltung befreite, zog sich mit der Zufriedenheit eines Soldaten, der von seinem Posten abgelöst wird, in den Hintergrund des Zimmers zurück.

Vor noch nicht langer Zeit war ihm der Dienst bei der schönen Fleur-de-Lys im geringsten nicht als ein Frohndienst erschienen, und er hatte ihn mit Eifer und Neigung verrichtet; aber je näher der Hochzeitstag kam, um so kälter wurde der Bräutigam. Die Aussicht auf die unauflösbaren Bande der Ehe behagte ihm nicht, er war etwas unbeständig und, die Wahrheit zu sagen, von ziemlich gemeinem Geschmack. Obgleich von hoher Geburt, hatte er doch unter dem Harnisch mehr als eine Gewohnheit gemeiner Haudegen angenommen. Die Kneipe und was ihr anklebt, gefiel ihm wohl. Die Soldatensprache, die militärischen Galanterien, die zugänglichen Schönheiten und die leichten Erfolge: das war es, was ihm Freude machte. Er hatte zwar in seiner Familie einige Erziehung erhalten und Manier angenommen; aber er kam allzujung unter den Harnisch, in die Garnison, in das Lager, und der Firniß des Edelmanns verwischte sich bald an dem ledernen Degengehänge des Gendarmen.

Er besuchte zwar, aus einem Ueberrest von Achtung für die gute Gesellschaft, Fleur-de-Lys noch von Zeit zu Zeit, aber die Gegenwart seiner Braut war ihm doppelt peinlich: einmal, weil er um so weniger Liebe für sie übrig behielt, je mehr er von diesem Artikel an öffentlichen Orten verschwendete, und dann, weil er in der Mitte dieser geputzten und anständigen Damen wie auf Nadeln saß und immer befürchtete, daß ihm irgend ein Fluch oder eine Zote aus der Wachtstube entwischen möchte.

Im Uebrigen machte er bei alle dem große Ansprüche auf Eleganz und schöne Kleidung. Er hatte sich eben, an Etwas oder an Nichts denkend, an das Kamin gelehnt, als Fleur-de-Lys plötzlich den Kopf nach ihm umwendete und ihm zurief: »Schöner Vetter, habt Ihr uns nicht von einer Zigeunerin gesagt, die Ihr vor zwei Monaten, als Ihr die Runde machtet, aus den Händen von zwölf Straßenräubern befreitet?«

»Ich glaube ja, schöne Base,« antwortete der Kapitän.

»Nun,« erwiederte sie, »das ist vielleicht die nämliche Zigeunerin, die da unten auf dem Pflaster tanzt. Kommt einmal und seht, ob Ihr sie wieder erkennt, schöner Vetter Phöbus!«

Aus dieser sanften Einladung und aus der traulichen Benennung Phöbus, die sie ihm gab, leuchtete ein geheimes Verlangen der Versöhnung hervor. Der Hauptmann Phöbus de Chateaupers (denn er ist es selbst) näherte sich langsam dem Balkon.

»Seht einmal,« sagte Fleur-de-Lys, indem sie sanft ihre Hand auf seinen Arm legte, »betrachtet diese Kleine, die da unten tanzt! Ist das Eure Zigeunerin?«

Phöbus sah hin und erwiederte: »Ja, ich erkenne sie an ihrer Ziege.«

»Oh, die niedliche kleine Ziege!« sagte Amelotte, und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen.

»Sind ihre Hörner von echtem Gold?« fragte Berangere.

Ohne von ihrem Armstuhl aufzustehen, nahm die alte Dame das Wort: »Ist das nicht eine der Zigeunerinnen, die im vergangenen Jahre durch das Thor Gibard eingezogen sind?«

»Frau Mutter,« erwiederte Fleur-de-Lys sanft, »dieses Thor heißt jetzt Höllenthor.«

Fleur-de-Lys wußte, daß sich ihr Bräutigam über die veralteten Benennungen und Redensarten immer ärgerte. Wirklich murmelte er auch zwischen den Zähnen: »Thor Gibard! Thor Gibard! Da könnte der König Karl VI. noch einmal seinen Einzug halten!«

»Pathin,« rief die kleine Berangere, deren stets bewegliche Augen sich gegen den Gipfel der Liebfrauenkirche erhoben hatten, »was ist denn das für ein schwarzer Mann auf dem Thurm da oben?«

Alle die jungen Mädchen wendeten ihre Augen zum Thurme hinauf. Ein Mann in schwarzer Kleidung lehnte sich über die Balustrade des nördlichen Thurms heraus und blickte auf den Greveplatz herab. Es war ein Priester. Man erkannte deutlich seine Kleidung und sein in beide Hände gestütztes Gesicht. Er stand unbeweglich wie eine Bildsäule. Sein Auge starrte unverändert auf den Platz hinab. Er glich einem Habicht, der hoch in der Luft eine Taube erblickt und auf sie herabstoßen will.

»Das ist der Archidiakonus der Liebfrauenkirche,« sagte Fleur-de-Lys.

»Ihr müßt gute Augen haben, daß Ihr ihn von hier aus erkennt!« bemerkte Gaillefontaine.

»Wie er die kleine Tänzerin betrachtet!« fiel Diane de Christeuil ein.

»Die Aegypterin mag sich hüten, denn er liebt Aegyptenland nicht!« sagte Fleur-de-Lys.

»Der Mann da oben,« fügte Amelotte de Montmichel hinzu, »sollte sie nicht mit so bösen Augen ansehen, denn sie tanzt zum Entzücken.«

»Schöner Vetter Phöbus,« sagte plötzlich Fleur-de-Lys, »da Ihr diese kleine Zigeunerin kennt, so ruft sie doch herauf, daß wir einen Spaß haben.«

»Ach ja! Ach ja!« riefen alle Mädchen und klatschten in die Hände.

»Das wäre thöricht,« antwortete Phöbus. »Sie hat mich ohne Zweifel vergessen, und ich weiß nicht einmal ihren Namen. Weil Ihr es aber wünscht, meine Damen, so will ich einen Versuch machen.«

Mit diesen Worten beugte er sich über den Balkon und schrie auf die Straße hinab: »Kleine!«

Die Tänzerin, die in diesem Augenblicke den Tambourin nicht schlug, wendete das Haupt der Gegend zu, woher dieser Ruf kam. Ihre glänzenden Augen hafteten auf Phöbus fest, und sie hörte auf zu tanzen.

»Kleine!« wiederholte der Kapitän und gab ihr mit dem Finger ein Zeichen, zu kommen.

Das Zigeunermädchen betrachtete ihn noch immer; jetzt erröthete sie, als ob ihr eine Flamme ins Gesicht gestiegen wäre, nahm ihren Tambourin unter den Arm und ging, zum großen Verdrusse der Zuschauer, der Pforte des Hauses zu, von dessen Balkon Phöbus sie gerufen hatte: sie ging langsam, schwankend und mit dem angsterfüllten Blicke eines Vogels, der dem Zauberblick einer Schlange gehorcht.

Bald darauf hob sich die Tapete der Eingangsthüre, und das Zigeunermädchen erschien auf der Schwelle des Zimmers; hoch erröthend, verlegen, athemlos, mit niedergeschlagenen Augen, wagte sie nicht einzutreten.

Die kleine Berangere klatschte vor Vergnügen mit den Händen.

Die Tänzerin blieb unbeweglich auf der Thürschwelle stehen. Ihr Erscheinen hatte auf die Gruppe der jungen Mädchen einen sonderbaren Eindruck gemacht. Ein vages und unbestimmtes Verlangen, dem schönen Offizier zu gefallen, belebte sie Alle zumal; seine glänzende Uniform war der Spiegel, in dem alle ihre Koketterien widerstrahlten, und seit seiner Anwesenheit bestand zwischen ihnen eine gewisse geheime Eifersucht, welche sie sich kaum selbst bekannten, die aber gleichwohl jeden Augenblick in ihren Geberden und Reden zum Vorschein kam. Da sie jedoch Alle ungefähr gleich schön waren, so kämpften sie mit gleichen Waffen, und jede von ihnen konnte auf den Sieg hoffen. Das Erscheinen der Zigeunerin störte plötzlich dieses Gleichgewicht. Sie war von einer so seltenen Schönheit, daß sie, als sie die Schwelle betrat, in dem ganzen Zimmer einen ihr eigenthümlichen Schein zu verbreiten schien. In diesem engen Raume, von vier Mauern eingeschlossen, war sie unendlich schöner und strahlender, als auf dem öffentlichen Platze. Sie glich einer Fackel, die man vom hellen Tageslicht in den Schatten bringt. Die adeligen Damen wurden wider Willen von ihr geblendet. Jede fühlte sich in ihrer Schönheit gleichsam verwundet. Auch änderte sich alsogleich ihre Schlachtordnung, ohne daß sie sich mit einem einzigen Worte darüber verständigten. Der weibliche Instinkt versteht sich schneller, als der männliche Verstand. Eine allgemeine Feindin war erschienen: Alle fühlten es, Alle verbündeten sich gegen sie. Ein einziger Tropfen rothen Weins färbt ein ganzes Glas Wasser; um eine ganze Versammlung schöner Weiber mit einer gewissen Laune zu färben, bedarf es nur der Ankunft einer noch schöneren Frau, besonders wenn nur ein einziger Mann in der Gesellschaft ist.

Die so angelegentlich herbeigerufene Zigeunerin wurde eiskalt empfangen. Die Edeldamen betrachteten sie vom Kopf bis zu den Füßen, sahen sich dann untereinander selbst an, und hiermit war Alles gesagt: sie hatten sich wechselseitig verstanden. Inzwischen wartete das arme Mädchen auf eine Anrede und war so bewegt, daß sie kaum die Augen wieder aufzuschlagen wagte. Der Kapitän brach zuerst das Stillschweigen. »Auf meine Ehre,« sagte er mit seinem Tone unerschrockener Albernheit, »das ist ein herrliches Geschöpf! Was meint Ihr, schöne Base?« Diese Bemerkung, die ein gebildeterer Bewunderer wenigstens leise gesagt hätte, war nicht geeignet, die weiblichen Eifersuchten niederzuschlagen, die das Zigeunermädchen umlagert hielten. Fleur-de-Lys antwortete dem Kapitän in affektirt wegwerfendem Tone: »Nicht so übel!« Die Andern kicherten. Die alte Dame, vielleicht die eifersüchtigste von Allen, weil sie es für ihre Tochter war, sagte zu der Tänzerin: »Tritt näher, Kleine!« »Tritt näher, Kleine!« wiederholte Berangère mit komischer Würde. Die Aegypterin trat auf die Edeldame zu. »Schönes Kind,« sagte Phöbus mit Begeisterung und trat ihr einige Schritte entgegen, »ich weiß nicht, ob ich das unaussprechliche Glück habe, von Dir wieder erkannt zu werden?« Sie unterbrach ihn, indem sie ihn mit einem graziösen Lächeln anblickte und schnell erwiederte: »O ja! O ja!« »Sie hat ein gutes Gedächtnis,« sagte Fleur-de Lys mit bitterem Lachen. »Ei,« fuhr Phöbus ungestört fort, »Du bist mir da neulich unter der Hand entwischt. Fürchtest Du mich denn?« »O nein! O nein!« sagte schnell das Zigeunermädchen. In diesem O ja und in diesem O nein lag Etwas, was sich nicht beschreiben läßt, und wodurch sich Fleur-de-Lys gekränkt fühlte.

»Du hast mir da an Deiner Stelle, mein schönes Kind,« fuhr der Kapitän fort, dessen Zunge geläufiger wurde, seit er mit einem Straßenmädchen sprach, »einen saubern Vogel zurückgelassen, einäugig und bucklig, den Glöckner des Bischofs, glaube ich. Man hat mir gesagt, daß er der Bastard eines Archidiakonus und von Geburt ein Teufel sei. Er hat einen wunderlichen Namen, Ostertag, Pfingsttag, oder wie Teufels er heißt! Ein Festtag ist es! Der Bursche hat sich also unterstanden, Dich zu entführen, als ob Du für solche Lümmel gemacht wärest! Das ist etwas stark. Was Teufels wollte sie denn von Dir, diese Nachteule? He! was sagst Du?«

»Ich weiß nicht,« antwortete die Zigeunerin.

»Unbegreifliche Unverschämtheit! Ein Glöckner ein Mädchen entführen, wie ein Graf! Ein so gemeines Vieh in das Gehege des Adels einbrechen! Aber er hat es büßen müssen, der Hund! Meister Pierrat Torterue läßt seine Peitsche schwer auffallen, und es wird Dir Freude machen, zu erfahren, daß er Striemen von dem Rücken des unverschämten Glöckners gehauen hat.«

»Armer Mensch!« sagte die Zigeunerin, der diese Worte die Scene am Schandpfahl wieder in Erinnerung brachten.

Der Kapitän wollte sich vor Lachen ausschütten. »Bei den Hörnern aller Ochsen!« rief er aus, »da ist das Mitleid so übel angebracht, als eine Feder am Hintern einer Sau, und mein Bauch soll so dick werden, als der des Pabstes, wenn …«

Er hielt plötzlich inne. »Verzeihung, meine Damen! Ich glaube, ich habe einige Dummheiten gesagt.«

»Pfui, mein Herr!« sagte Gaillefontaine.

»Er redet mit diesem Geschöpf ihre Sprache!« fügte Fleur-de-Lys, deren Verdruß von Minute zu Minute stieg, halblaut hinzu.

Dieser Verdruß verminderte sich nicht, als der Kapitän, bezaubert von der Zigeunerin und seiner eigenen Person, sich auf dem Absatz herumdrehte und mit plumper soldatischer Galanterie wiederholte: »Ein schönes Mädchen, auf Ehre und Seligkeit!«

»Wie eine Halbwilde gekleidet,« sagte Diane de Christeuil und bleckte ihre schönen Zähne.

Diese Bemerkung war ein Lichtstrahl für sämtliche Damen. Sie zeigte ihnen die wunde Seite der Ägypterin. Da sie ihrer Schönheit nichts anhaben konnten, so warfen sie sich auf ihren Anzug.

»Das muß wahr sein, Kleine,« sagte die Montmichel, »wie magst Du so ohne Brusttuch und Busenschleier durch die Straßen laufen?«

»Ihr Rock ist so kurz, daß einem Angst und bange wird,« fügte Gaillefontaine hinzu.

»Meine Liebe,« sagte Fleur-de-Lys in bitterem Tone, »die Stadtserganten werden Dich auffangen, weil Du einen goldenen Leibgürtel trägst.«

»Kleine, Kleine,« sagte Diane de Christeuil und warf einen giftigen Blick auf sie, »wenn Du ehrbar deinen Arm mit einem Ärmel bedecktest, so würde er nicht so von der Sonne verbrannt sein.«

Es war in der Tat ein Schauspiel, das eines verständigeren Zuschauers würdig gewesen wäre, als unser Phöbus war, wie diese schönen Edeldamen mit ihren vergifteten Zungen die Straßentänzerin zwickten und stachen; sie betäubten das arme Kind durch ihr Gelächter, durch ihren Spott, durch endlose Demütigungen. Man hätte sie für junge römische Damen halten können, die zu ihrer Ergötzlichkeit den Busen einer schönen Sklavin mit goldenen Nadeln durchstachen, oder für zierliche Windhunde, die mit brennenden Augen und lechzender Zunge ein Reh umkreisen, das der Blick ihres Herrn ihnen anzutasten verbietet.

Eine Straßentänzerin ist freilich ein Nichts und weniger als Nichts in den Augen hochgeborner Damen. Sie taten, als ob sie gar nicht zugegen wäre, und sprachen von ihr, vor ihr, zu ihr, mit lauter Stimme, als von etwas, das ziemlich unreinlich, ziemlich verworfen und ziemlich niedlich sei. Die Tänzerin war nicht fühllos gegen diese Nadelstiche. Von Zeit zu Zeit färbten sich ihre Wangen mit dem Purpur der Scham, ein Blitz des Zorns entflammte ihren Augen; ein höhnisches Wort schien auf ihren Lippen zu schweben; sie warf verachtungsvoll den Mund auf; doch blieb sie ruhig und heftete auf Phöbus einen Blick der Ergebung, sanft und traurig. Es lag auch etwas von Glück und Zärtlichkeit in diesem Blick. Man konnte glauben, daß sie sich bezwang, um nicht fortgejagt zu werden.

Phöbus nahm die Partei der Zigeunerin mit einer Mischung von Unverschämtheit und Mitleid. »Laß sie reden, Kleine,« sagte er, und ließ seine goldenen Sporen klirren; »allerdings hat Deine Toilette etwas Ungewöhnliches und Wildes, aber da Du ein so niedliches Kind bist, so hat das nichts zu sagen.«

»Mein Gott!« rief die blonde Gaillefontaine aus und bog mit einem bittern Lächeln ihren Schwanenhals zurück, »die Herren Bogenschützen des Königs fangen, wie ich sehe, leicht Feuer an den schönen ägyptischen Augen.«

»Warum denn nicht?« sagte Phöbus.

Auf diese Antwort, die der Kapitän nachlässig hinwarf, lachten sämmtliche Damen. Fleur-de-Lys schloß sich nicht aus, aber zu gleicher Zeit perlte eine Träne des Verdrusses in ihren Augen.

Die Zigeunerin, die ihre Blicke zur Erde gerichtet hatte, erhob sie jetzt strahlend von Stolz und Freude. Sie blickte Phöbus mit brennenden Augen an und war wunderschön und reizend.

Die alte Dame, die sich durch diesen Auftritt beleidigt fühlte und doch die Sache nicht recht begriff, schrie jetzt plötzlich: »Heilige Jungfrau! Was kriecht mir denn da unter meinen Füßen! Ah! das häßliche Tier!«

Es war die weiße Ziege, die ihre Herrin suchte und sich mit den Hörnern in dem Schleppkleide der Edeldame verwickelt hatte. Die Zigeunerin machte sie los, ohne ein Wort zu sagen.

»Oh! Da ist die kleine Ziege mit den goldenen Hörnern!« rief Berangère aus und hüpfte vor Freude.

Die Zigeunerin setzte sich auf den Boden nieder und drückte den schmeichelnden Kopf der Ziege gegen ihre Wange. Sie schien sie gleichsam um Verzeihung zu bitten, daß sie auf solche Art von ihr weggegangen sei.

Inzwischen hatte sich Diane zum Ohre der Colombe geneigt.

»Mein Gott!« rief diese. »Warum habe ich nicht bälder daran gedacht! Das ist die Zigeunerin mit der weißen Ziege; man sagt, sie sei eine Hexe, und ihre Ziege mache sehr wunderbare Kunststücke.« Nun wandte sie sich an das Zigeunermädchen: »laß Deine Ziege ein Wunder tun!«

»Ich weiß nicht, was Ihr damit sagen wollt,« erwiderte die Tänzerin.

»Ein Wunder, eine Zauberei, eine Hexerei.«

»Ich verstehe es nicht,« wiederholte die Zigeunerin und liebkoste die Ziege.

In diesem Augenblicke bemerkte Fleur-de-Lys ein Säckchen von gesticktem Leder, das am Halse der Ziege hing.

»Was ist das?« fragte sie die Zigeunerin.

Die Ägypterin erhob ihre großen Augen gegen sie und antwortete ernst: »Das ist mein Geheimnis.«

Ich möchte dein Geheimnis wohl wissen, dachte Fleur-de-Lys.

Inzwischen hatte sich die gute alte Dame erhoben und sagte ärgerlich: »Heda, Zigeunerin! Wenn weder Du noch Deine Ziege uns etwas zu tanzen haben, was macht Ihr da?«

Das Zigeunermädchen, ohne ein Wort zu erwiedern, wendete sich langsam der Türe zu, aber je näher sie ihr kam, um so langsamer wurde ihr Schritt. Ein Magnet schien sie im Zimmer zurückzuhalten. Plötzlich richtete sie ihre in Thränen schwimmenden Augen auf Phöbus und blieb stehen.

»Beim wahrhaftigen Gott,« rief der Kapitän, »so geht man nicht. Komm zurück und tanze uns etwas. Ei! mein schönes Schätzchen! wie heißest Du denn?«

»Esmeralda!« antwortete sie, ohne den Blick von ihm zu wenden.

Dieser ungewöhnliche Name erregte ein tolles Gelächter unter den Mädchen.

»Ein abscheulicher Name für ein junges Mädchen!« sagte Diane.

»Man sieht wohl,« rief Amelotte aus, »daß sie eine Heidin und Zauberin ist.«

»Mein Kind,« sagte feierlich die alte Dame, »Deine Eltern haben Dir diesen Namen sicherlich nicht aus dem Weihkessel der heiligen Taufe geschöpft.«

Inzwischen hatte die kleine Berangère, ohne daß man auf sie Acht gab, mit einem Zuckerbrod die Ziege in einen Winkel des Zimmers gelockt. In einem Augenblicke waren sie gute Freunde geworden. Das neugierige Kind knüpfte das lederne Säckchen vom Halse der Ziege ab, öffnete es und schüttelte den Inhalt auf den Boden aus. Es war ein Alphabet, dessen Buchstaben, jeder einzeln, in Buchsbaum geschnitten waren. Kaum lagen diese Buchstaben auf dem Boden, so sah das Kind mit Staunen, wie die Ziege mit ihren Pfoten gewisse Buchstaben herauszog und sie in Ordnung legte. Bald hatte die Ziege ein Wort gebildet, auf das sie eingeübt schien, so schnell war sie damit fertig, und die kleine Berangère klatschte in die Hände und rief mit Staunen:

»Pathin Fleur-de-Lys, kommt doch und seht, was die Ziege da gemacht hat!«

Fleur-de-Lys kam, blickte hin und schauderte zusammen.

Die auf dem Boden geordneten Buchstaben bildeten das Wort:

Phöbus.

»Hat das die Ziege geschrieben?« fragte sie mit gebrochener Stimme.

»Ja, Pathin,« antwortete die kleine Berangère, und es war auch keinem Zweifel unterworfen, denn das Kind konnte nicht schreiben.

Das ist also das Geheimnis, seufzte Fleur-de-Lys.

Auf den Ruf des Kindes waren Alle herbeigekommen. Die Zigeunerin sah, welche Dummheit ihre Ziege gemacht hatte. Sie wurde bald roth, bald blaß, und zitterte wie eine Schuldige vor dem Kapitän, der sie mit Verwunderung und einem Lächeln befriedigter Eigenliebe betrachtete.

»Phöbus!« kicherten die jungen Mädchen, »das ist der Name des Hauptmanns!«

»Du hast ein wunderbares Gedächtnis!« sagte Fleur-de-Lys zu der Zigeunerin. »Oh!« fügte sie hinzu, indem sie in Thränen ausbrach und ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckte, »es ist eine Zauberin!«

Ein bitteres Gefühl in ihrem Innern, das sie nicht laut werden lassen wollte, sagte ihr, es sei eine Nebenbuhlerin! Sie fiel in Ohnmacht.

»Mein Kind! Mein Kind!« rief die erschrockene Mutter; »fort Du höllische Zigeunerin!«

Esmeralda raffte schnell die unglücklichen Buchstaben zusammen, gab der Ziege ein Zeichen, und entfernte sich durch die eine Thüre, während man die ohnmächtige Fleur-de-Lys zur andern hinaustrug.

Phöbus, der allein zurückgeblieben war, zeigte sich einen Augenblick unschlüssig zwischen den beiden Thüren, dann folgte er dem Zigeunermädchen.

XX.

Der Priester, den die jungen Mädchen auf der Höhe des Thurmes erblickt hatten, wo er ernst und aufmerksam dem Tanze des Zigeunermädchens zuschaute, war wirklich der Archidiakonus Claude Frollo.

Der Leser kennt die geheimnißvolle Zelle, welche sich der Priester in diesem Thurme vorbehalten hatte. Jeden Tag, eine Stunde vor Sonnenuntergang, stieg er die Treppe des Thurmes hinauf, schloß sich in die Zelle ein und brachte manchmal ganze Nächte darin zu. Als er heute die Treppe hinaufstieg, hörte er den Ton des Tambourin und begab sich auf den Turm, da er von seiner Zelle aus nicht auf den Platz sehen konnte. Hier stand er, als ihn die jungen Damen erblickten, ernst, unbeweglich, in einen Anblick und einen Gedanken vertieft. Die ganze große Stadt lag unter seinen Füßen, mit dem Flusse, der sie durchströmt, mit ihren tausend Häusern, mit dem Gewimmel ihrer Bewohner; aber der Priester blickte nur auf einen Punkt und ein Wesen: den Platz unter ihm und das tanzende Zigeunermädchen.

Es war schwer zu sagen, welcher Art dieser Blick war, und welche Flamme aus ihm leuchtete. Es war ein fester und doch von innerer Unruhe zeugender Blick. Wenn man den Priester so dastehen sah, in der Unbeweglichkeit seines Körpers, mehr Marmor als das Geländer, auf das er sich lehnte, das versteinerte Lächeln auf seinem Gesichte, so konnte man sagen, daß alles Leben sich in seine Augen gezogen habe.

Inzwischen tanzte die Zigeunerin, schwang den Tambourin, leicht, behend, fröhlich, und fühlte nichts von dem Gewicht des furchtbaren Blickes, den der Priester von der Höhe des Thurmes auf ihr Haupt warf.

Die Menge wimmelte um sie her. Von Zeit zu Zeit ließ ein Mann, der eine gelb und rothe Mütze auf dem Kopfe trug, den Kreis erweitern, wenn die Zuschauer sich allzunahe drängten, setzte sich dann wieder auf einen Stuhl in der Nähe der Tänzerin und nahm den Kopf der Ziege zwischen seine Kniee. Dieser Mensch schien der Begleiter der Zigeunerin zu sein. Claude Frollo konnte von der Höhe des Thurmes seine Gesichtszüge nicht erkennen.

Von dem Augenblicke an, da der Archidiakonus diesen Unbekannten gewahrte, schien sich seine Aufmerksamkeit zwischen ihm und der Tänzerin zu teilen, und sein Gesicht wurde immer finsterer. Plötzlich durchschauerte ein Frost seinen ganzen Körper. Was ist das für ein Mann? murmelte er zwischen den Zähnen, ich habe sie doch immer allein gesehen.

Mit diesen Worten verließ er plötzlich den Altan und stieg die Wendeltreppe hinab. Als er am Glockenthurme vorüber ging, sah er Quasimodo auf den Platz hinabblicken. Der Zwerg war so in Betrachtung vertieft, daß er den vorübergehenden Priester nicht bemerkte. Sein wildes Auge hatte einen ganz anderen Ausdruck angenommen, sein Blick war sanft und wie bezaubert.

Das ist doch seltsam! murmelte der Priester. Ist es auch die Aegypterin, die er auf solche Weise betrachtet? Er stieg weiter hinab und kam auf den öffentlichen Platz.

»Wo ist denn die Zigeunerin hingekommen?« fragte er, sich unter die Gruppe der Zuschauer mischend, welche der Tambourin herbeigelockt hatte.

»Ich weiß es nicht,« antwortete ihm einer derselben; »ich glaube, man hat sie da in ein Haus gerufen, um ihre Kunststücke zu machen.«

An der Stelle der Aegypterin machte jetzt der Mensch mit der roth und gelben Mütze, der eine Art Hanswurst schien, seine Kunststücke. Er ging eben im Zirkel herum, die Ellenbogen in die Seiten gestemmt, den Kopf rückwärts gebogen, mit ausgestrecktem Hals und hochrothem Gesicht, einen Stuhl zwischen den Zähnen haltend. Auf diesen Stuhl hatte er eine Katze gebunden, die ihm eine Nachbarin geliehen hatte, und die jämmerlich schrie.

»Bei unserer lieben Frau!« rief der Archidiakonus aus, als eben der Hanswurst, große Tropfen schwitzend, an ihm vorüberging, »das ist ja unser Meister Peter Gringoire.«

Die strenge Stimme des Archidiakonus erschreckte den armen Teufel so sehr, daß er das Gleichgewicht verlor, und daß Stuhl und Katze unter allgemeinem Zischen auf die Köpfe der Zunächststehenden fielen.

Meister Peter Gringoire, denn er war es selbst, würde wahrscheinlich einen harten Stand mit der Eigenthümerin der Katze und den zerkratzten Gesichtern um ihn her gehabt haben, wenn er nicht schnell in die Kirche entwischt wäre, wohin ihm der Priester, nachdem er ihm ein Zeichen gegeben, ihm zu folgen, vorangegangen war.

Die Kirche war bereits finster und verlassen. Nachdem sie einige Schritte gegangen waren, lehnte sich der Priester mit dem Rücken an einen Pfeiler und warf einen ernsten und festen Blick auf den Poeten und Hanswurst. Dieser Blick war kein solcher, wie Peter Gringoire ihn fürchtete, beschämt, wie er war, daß eine so ernste und gelehrte Person ihn in der Hanswurstjacke überrascht hatte. Der Blick des Priesters hatte nichts Scherzhaftes und Ironisches an sich; er war ernst, ruhig und durchdringend. Der Archidiakonus brach zuerst das Stillschweigen.

»Kommt einmal daher, Meister Peter! Ihr werdet mir Allerlei zu erzählen haben, und vor allen Dingen, wie es kommt, daß man Euch seit zwei Monaten nimmer gesehen hat, und jetzt auf der Straße findet, in einem saubern Aufzug, halb gelb und halb roth, wie ein wahrer Hanswurst und Seiltänzer.«

»Herr und Meister,« erwiederte Peter Gringoire mit kläglicher Stimme, »ich trage da allerdings einen seltsamen Kittel, und ich bin selbst so beschämt darüber wie eine Katze, der man eine Kürbisflasche aufsetzt. Es ist allerdings nicht wohl gethan, die Stadtsergenten in den Fall zu setzen, unter dieser bunten Jacke den humerus eines pythagoräischen Philosophen ausklopfen zu müssen. Aber was ist zu machen, mein sehr ehrwürdiger Herr und Meister? Die Schuld liegt an meinem alten schwarzen Rock, der mich im Anfang des Winters unter dem Vorwand, daß er in Lappen zerfalle und in der Kiste des Lumpensammlers ausruhen müsse, schmählich verlassen hat. Was war zu machen! Die Civilisation ist noch nicht so weit vorgerückt, daß man nackt geht, wie der alte Diogenes wollte. Zudem wehte ein kalter Wind, und der Monat Januar ist nicht der geeignetste im Jahr, um diesen neuen Schritt zur Humanität zu thun. Diese bunte Jacke hat sich nun vorgefunden, und ich habe sie an die Stelle meines seligen schwarzen Rocks gesetzt, der für einen Hermetiker, wie ich bin, nicht sehr hermetisch geschlossen war. Ihr seht mich demnach hier in meiner Histrionen-Jacke. Was ist zu machen? Es ist eben eine Sonnenfinsternis, und Apoll hat ja selbst bei Admet die Ziegen gehütet.«

»Ihr treibt da ein schönes Handwerk!« fuhr der Archidiakonus fort.

»Ich muß selbst gestehen, daß es besser ist, zu philosophiren und zu dichten, die Flamme im Ofen anzublasen oder sie vom Himmel zu empfangen, als Katzen auf dem Pflaster herumzutragen. Auch stehe ich hier so dumm vor Euch wie ein Esel vor einem Bratenwender. Was ist aber zu machen? Man muß alle Tage gelebt haben, und die schönsten alexandrinischen Verse wägen kein Stückchen alten Käse auf, das man zwischen den Zähnen hat. Ich habe, wie Ihr wißt, für Frau Margarethe von Flandern jenes berühmte Epithalamium gemacht, und die Stadt bezahlt es mir nicht unter dem Vorwand, daß es nichts Vorzügliches sei, als ob man um vier Thaler eine Sophocles’sche Tragödie liefern könnte. Es blieb mir also nichts übrig, als Hungers zu sterben. Zum Glücke habe ich ein paar kräftige Kinnbacken, und ich sprach zu denselben: Macht Kunststücke, haltet den Stuhl und die Katze im Gleichgewicht! Nährt euch selbst! Ein Schock Spitzbuben, die jetzt meine guten Freunde sind, haben mich zwanzig verschiedene Herkules-Stücke gelehrt, und nun beißen jeden Abend meine Zähne das Brod, das sie den Tag über verdient haben. Im Uebrigen concedo, ich gebe zu, daß es ein trauriger Gebrauch meiner geistigen Fähigkeiten ist, und daß der Mensch etwas Anderes treiben kann, als in altes Holz zu beißen und mit den Zähnen Katzen auf dem Pflaster herumzutragen. Allein, mein sehr verehrter Meister, es ist nicht hinreichend, sein Leben hinzubringen, man muß es auch verdienen.«

Der Priester hatte ihn stillschweigend angehört. Jetzt nahm sein tiefliegendes Auge einen so forschenden und durchdringenden Ausdruck an, daß er dem armen Poeten bis auf den geheimsten Grund seiner Seele drang.

»Ganz wohl, Meister Peter,« sagte der Archidiakonus, »aber wie kommt es, daß Ihr Euch jetzt in Gesellschaft dieser ägyptischen Tänzerin befindet?«

»Meiner Treu!« erwiederte Peter Gringoire, »das kommt daher, daß sie meine Frau ist und ich ihr Mann bin.«

Bei diesen Worten entflammte sich das finstere Auge des Priesters.

»Und das hättest Du gethan, Elender?« schrie er wüthend und faßte krampfhaft den Arm des Dichters. »So bist Du von Gott verlassen, daß Du Dich an dieses heidnische Mädchen hängst!«

»Bei meiner ewigen Seligkeit, ehrwürdiger Herr und Meister,« antwortete der Poet an allen Gliedern zitternd, »schwöre ich Euch, daß ich sie mit keinem Finger berührt habe, wenn Euch das beunruhigt.«

»Und was faselst Du denn von Mann und Frau?« fragte der Priester weiter.

Peter Gringoire erzählte nun, so gedrängt als möglich, Alles was der Leser bereits weiß, sein Abenteuer im Hofe der Wunder und seine Heirath mittelst des zerbrochenen Kruges.

Es ergab sich aus seinem Bericht, daß bis jetzt seine Heirath noch kein Resultat gehabt hatte, und daß jeden Abend das schöne Zigeunermädchen ihm die Brautnacht wegstipizte, wie am Hochzeittage.

»Das ist ein bitterer Kelch,« schloß unser Dichter seine Erzählung, »aber es kommt daher, daß ich das Unglück gehabt habe, eine Jungfrau zu heirathen.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« fragte der Archidiakonus, dessen Zorn sich bei Anhörung dieses Berichts allmählig gelegt hatte.

»Das läßt sich schwer erklären,« antwortete der Poet. »Es ist ein Aberglaube. Meine Frau ist, wie mir ein alter Zigeuner sagte, den wir bei uns den Herzog von Aegypten nennen, ein Findelkind. Sie trägt am Hals ein Zaubergehänge, durch das sie eines Tages ihre Eltern wieder finden wird, und das seine Kraft verlieren würde, wenn dessen Besitzerin ihre Jungfrauschaft verlöre. Es folgt daraus, daß wir Beide sehr tugendhaft leben.«

»Ihr glaubt also,« fragte der Priester, dessen Stirne sich immer mehr entwölkte, »Ihr glaubt also, Meister Peter, daß dieses Geschöpf noch ganz unschuldig ist und mit keinem Manne zu thun gehabt hat?«

»Wie will ein Mann mit einem solchen Aberglauben zurecht kommen! Sie hat sich einmal das in den Kopf gesetzt. Es ist allerdings etwas Seltenes um diese Nonnenhaftigkeit, die sich mitten unter diesen so leicht zugänglichen Zigeunerinnen bewahrt. Sie hat aber zu ihrem Schutz drei Dinge: den Herzog von Aegypten, der sie unter seine Obhut genommen hat, weil er vielleicht denkt, daß er eines Tages ihre Jungfrauschaft an irgend einen geilen Abt oder Priester gut verkaufen könne, ihren ganzen Stamm, der sie in besonderer Verehrung hält, wie wir unsere liebe Frau, und dann einen gewissen kleinen Dolch, den die Spitzbübin trotz des Verbots immer an einem verborgenen Orte bei sich führt, und der blitzschnell aus der Scheide fährt, wenn man sie umfassen will. Das ist eine Wespe, die gleich sticht!«

Der Archidiakonus bestürmte jetzt Peter Gringoire mit Fragen. Dieser erzählte was er wußte: Die Esmeralda sei ein niedliches und harmloses Geschöpf, ungekünstelt und leidenschaftlich, unwissend in Allem und begeistert für Alles, noch nicht, nicht einmal im Traume, den Unterschied zwischen einem Manne und Weibe kennend; Tanz, Geräusch, frische Luft liebend, eine Biene, mit unsichtbaren Flügeln an den Füßen. So sei sie durch das herumirrende Leben geworden, das sie von Jugend auf geführt habe. Peter Gringoire hatte erfahren, daß sie als Kind schon Spanien und Katalonien durchzogen hatte, und bis Sizilien gekommen war; er glaubte sogar, daß die Zigeunerhorde, der sie angehörte, sie bis nach Algier geführt habe. So viel sei gewiß, daß Esmeralda sehr jung aus Ungarn nach Frankreich gekommen. Aus allen diesen Ländern habe das junge Mädchen einige Lappen ihrer Sprache, Gesänge und seltsame Ideen mitgebracht. Das Volk liebe sie wegen ihrer Schönheit, ihrer Munterkeit, ihrer Tänze und Gesänge. Sie glaube sich in der ganzen Stadt von Niemand gehaßt, als von zwei Personen, von denen sie oft mit Entsetzen spreche: von der Klausnerin im Rolandsthurm, welche die Zigeunerin jedesmal verwünsche, so oft sie an ihrem Loch vorübergehe, und von einem Priester, der ihr nie begegne, ohne Blicke auf sie zu werfen, welche ihr Furcht einflößen.

Dieser letztere Umstand brachte den Archidiakonus in große Verlegenheit, ohne daß eben Peter Gringoire viel darauf achtete. Der harmlose Dichter schien bereits jene Nacht wieder vergessen zu haben, in welcher Quasimodo in Gesellschaft des Priesters Esmeralda entführen wollte.

Bei alle dem fürchtete die kleine Tänzerin nichts; sie gab sich nicht mit Wahrsagen ab und sicherte sich dadurch gegen jene Hexenprozesse, die damals so häufig waren. Peter Gringoire gewährte ihr, wenn auch nicht als Gatte, doch als Bruder seinen Schutz. Er war philosophisch genug, diese Art platonischer Ehe geduldig zu ertragen. Er hatte doch ein Obdach und Brod. Jeden Morgen zog er vom Hofe der Wunder aus, meistens mit der Aegypterin, half ihr auf den öffentlichen Plätzen die Spenden der Zuschauer einsammeln, und jeden Abend kehrte er mit ihr unter das nämliche Dach zurück; sie verriegelte sich in ihrem Kämmerlein und Meister Peter schlief den Schlaf des Gerechten. Ein sehr gemüthliches Dasein, sagte er, und ganz zu poetischen Träumereien geeignet! Im Uebrigen, wenn er sich auf sein Gewissen fragte, war unser Philosoph nicht ganz gewiß, wen er mehr liebe: Esmeralda oder ihre Ziege. Er sei ganz vernarrt in dieses niedliche, kluge, fast gelehrte Thier. Ueberhaupt seien die Kunststücke, welche die Ziege mache, höchst einfacher Art, und Esmeralda besitze ein besonderes Talent, sie darin abzurichten. So habe sie die Ziege in kurzer Zeit gelehrt, den Namen Phöbus mit beweglichen Buchstaben zu schreiben.

»Phöbus!« sagte der Priester. »Warum Phöbus?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete der Poet. »Es ist vielleicht ein Wort, welchem sie geheime Zauberkraft zuschreibt. Sie wiederholt es oft halblaut, wenn sie sich allein glaubt.«

»Seid Ihr versichert,« fragte der Archidiakonus mit seinem durchdringenden Blicke, »daß es nur ein Wort und kein Name ist?«

»Name! wessen?«

»Was weiss ich?« sagte der Priester.

»Ich denke mir die Sache so: die Zigeuner haben etwas vom Glauben der Parsen und beten die Sonne an. Daher Phöbus.«

»Das scheint mir nicht so klar, als Euch, Meister Peter.«

»Nun, mir liegt nichts daran. Mag sie ihr Phöbus murmeln, so oft sie will. Das weiß ich gewiß, daß Djali mich fast eben so liebt, als ihre Herrin.«

»Was ist das, diese Djali?«

»Das ist die Ziege.«

Der Archidiakonus stützte sein Kinn in die Hand und schien einen Augenblick nachzusinnen. Plötzlich wendete er sich barsch gegen den Dichter.

»Und Du schwörst mir, daß Du sie nicht berührt hast?«

»Wen? die Ziege?«

»Nein, dieses Weib.«

»Mein Weib? Das kann ich wohl beschwören.«

»Und Du bist oft allein mit ihr?«

»Jeden Abend wohl eine Stunde.«

Der Priester runzelte die Stirne und sagte: »Solus cum sola, non cogitabuntur orare Pater noster. Bei meiner armen Seele, ich könnte das Pater noster, das Ave Maria und das Credo in Deum omnipotentem hersagen, ohne daß sie mehr auf mich Acht hätte, als eine Henne auf eine Kirche.«

»Schwöre mir bei dem Bauche Deiner Mutter,« fuhr der Priester heftig fort, »daß Du dieses Geschöpf nicht mit der Spitze Deines Fingers berührt hast.«

»Ich will es auch bei dem Kopfe meines Vaters beschwören, aber erlaubt mir dagegen auch eine Frage an Euch, mein sehr verehrter Meister.«

»Rede!«

»Was geht dieses Ding Euch an?«

Das bleiche Gesicht des Priesters röthete sich, wie die Wangen eines jungen Mädchens. Er schwieg einen Augenblick, dann erwiederte er in sichtbarer Verlegenheit: »Hört, Meister Peter Gringoire, Ihr seid noch nicht verdammt, so viel ich weiß. Ich nehme Antheil an Euch und will Euch wohl. Nun würde aber jede Berührung dieser höllischen Aegypterin Euch zum Vasallen des Teufels machen. Ihr wißt, daß immer der Leib die Seele verdirbt. Wehe Dir, wenn Du dieses Weib berührst!«

»Einmal,« sagte Peter Gringoire und kratzte sich hinter den Ohren, »habe ich den Versuch gemacht, es war gleich am ersten Tage; aber er ist mir schlecht bekommen.«

»Ihr habt diese Unverschämtheit begangen, Meister Peter?« fragte der Priester mit gerunzelter Stirne.

»Ein andermal,« sagte der Poet und lachte behaglich in sich hinein, »habe ich, ehe ich in’s Bett ging, durch das Schlüsselloch gesehen, und da sah ich das niedlichste Geschöpf im Hemde, das je den bloßen Fuß auf den Teppich setzte.«

»Geh zu allen Teufeln!« rief der Priester mit einem furchtbaren Blicke, stieß den Dichter an den Schultern von sich und verlor sich in den finsteren Gängen der Kirche.

XIII.

Der wissenschaftliche Ruf des gelehrten Archidiakonus hatte sich weit verbreitet. Er zog ihm einen Besuch zu, den er lange im Andenken behielt.

Eines Abends hatte er sich in seine Zelle im Kloster unserer lieben Frau zurückgezogen. Diese Zelle bot, außer einigen gläsernen Flaschen, die mit feinem Pulver gefüllt waren, nichts Seltsames oder Geheimnißvolles dar. Hie und da erblickte man auf der Mauer einige Inschriften, aber es waren bloß wissenschaftliche oder fromme Denksprüche aus guten Schriftstellern. Der Archidiakonus saß beim Scheine einer kupfernen Lampe an einem mit Manuscripten bedeckten Tische. Sein Ellenbogen war auf ein altes Manuscript gestützt und er blätterte mit tiefem Nachdenken in einem gedruckten Folioband, der einzigen Druckschrift, welche sich in der Zelle befand.

Ein Klopfen an der Thüre störte ihn in seinen Träumen. »Wer ist da?« schrie er mit der Stimme eines bellenden Hundes, den man von seinem Knochen aufschreckt.

»Euer Freund Jacques Coictier,« antwortete man von außen.

Der Archidiakonus öffnete die Thüre, und der Leibarzt des Königs, ein Mann von etlich und fünfzig Jahren, trat herein; ihm folgte ein Zweiter.

»Helfe mir Gott, meine Herren,« begrüßte sie der Archidiakonus, »wenn ich in so später Stunde noch einen so ehrenvollen Besuch erwartete.«

»Es ist nie zu spät, einen so großen Gelehrten, wie Don Claude Frollo ist, zu besuchen.«

Hierauf begann zwischen dem Arzt und dem Priester ein Austausch höflicher Redensarten, wie sie damals als Eingang jeder Unterhaltung zwischen Gelehrten üblich waren. Der Archidiakonus wünschte dem gelehrten Arzt Glück zu den vielen zeitlichen Vortheilen, welche ihm, in seiner so beneideten Laufbahn, jede Krankheit des Königs eingebracht hatte.

»In der That,« sprach er mit feiner Ironie, »ich habe mit Vergnügen erfahren, daß Euer Neffe Bischof von Amiens geworden ist.«

»Durch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes,« antwortete der Leibarzt mit Salbung: »ich danke Euch, Herr Archidiakonus.«

»Wie weit ist Euer neues Haus gediehen? Es ist ein wahres Louvre.«

»Lieber Heiland, dieses verdammte Gebäude kostet mich mein Schmalz; je größer das Haus wird, um so leerer wird mein Beutel.«

»Oh,« erwiederte der Priester, »der ist noch lange nicht erschöpft.«

Auf solche Weise dauerte dieses Zwiegespräch noch eine Zeit lang fort, und der Archidiakonus entwickelte darin jenen sardonischen Ton, dessen sich überlegene Geister gegenüber der zeitlichen Wohlfahrt eines Alltagsmenschen zu bedienen pflegen. Der Arzt nahm den Spott des Priesters als baare Münze hin.

»Wie geht es denn,« fragte Claude Frollo weiter, »mit Eurem königlichen Kranken?«

»Wenn er nur seinen Arzt besser bezahlte,« erwiederte der Doktor mit einem Seitenblick auf seinen Gefährten.

»Meint Ihr, Gevatter?« sagte dieser.

Dies war das erste Wort, das der Unbekannte hören ließ.

»Don Claude,« sprach der Leibarzt, »ich habe Euch einen Collegen gebracht, den Euer wissenschaftlicher Ruf begierig machte, Euch zu sehen.«

»Der Herr ist ein Gelehrter?« fragte der Archidiakonus und warf einen durchdringenden Blick auf ihn. Er begegnete unter den Augbraunen des Unbekannten einem nicht minder stechenden Auge, als das seinige war. So weit sich beim düsteren Scheine der Lampe erkennen ließ, war der Fremde etwa 60 Jahre alt, von mittlerer Größe und kränklichem, leidendem Aussehen. Der Unbekannte nahm nun selbst das Wort und sagte in ernstem Tone zu dem Archidiakonus: »Ehrwürdiger Meister, Euer Ruf ist bis zu mir gedrungen und ich bin gekommen, Euch um Rath zu fragen. Ich bin nur ein armer Edelmann aus der Provinz, der nicht werth ist, die Schuhriemen der Gelehrten aufzulösen. Ich heiße Gevatter Tourangeau.«

Sonderbarer Name für einen Edelmann! dachte der Priester. Inzwischen fühlte er, daß ihm ein Wesen von ernstem und kräftigem Gepräge gegenüberstehe. Der Instinkt seiner hohen Einsicht ließ ihn errathen, daß unter der Pelzmütze, die der Gevatter Tourangeau trug, ein nicht minder fähiger Kopf stecke. Das spöttische Lächeln, das die Gegenwart des Doktors Jacques Coictier bei ihm erweckt hatte, verschwand allmählig von seinen Lippen. Ernst und schweigend, die Stirne in der flachen Hand, setzte er sich in seinen großen Lehnstuhl. Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens gab er den beiden Gästen ein Zeichen, sich zu setzen.

»Ihr kommt, mich um Rath zu fragen, Meister,« sagte er zu dem Unbekannten, »und worüber?«

»Ehrwürdiger,« erwiederte der Gevatter Tourangeau, »ich bin krank, sehr krank. Man hält Euch für einen großen Aesculap, und ich möchte ein medizinisches Gutachten von Euch haben.«

»Arzneikunde!« sagte der Archidiakonus und zuckte die Achseln. »Gevatter Tourangeau, drehet Euern Kopf, und Ihr werdet meine Antwort dort auf die Mauer geschrieben finden.«

Der Gevatter Tourangeau wendete das Haupt seitwärts und las folgende in die Mauer gegrabene Inschrift:

Die Arzneiwissenschaft ist die Tochter der Träume.

Der Leibarzt hatte schon die Frage seines Begleiters mit Verdruß vernommen; diese Antwort des Archidiakonus mußte seinen Aerger noch erhöhen. Er neigte sich zum Ohre des Gevatters Tourangeau und flüsterte ihm leise zu: »Ich hatte Euch ja vorhergesagt, daß er ein Narr sei.«

»Dieser Narr könnte sehr leicht Recht haben, Doktor Jakob,« erwiederte der Gevatter Tourangeau mit einem bitteren Lächeln.

»Wie es Euch gefällig ist,« versetzte der Leibarzt trocken.

Hierauf wendete er sich an den Archidiakonus mit den Worten: »Ihr habt ja gleich ausgefegt, Don Claude Frollo, und seid mit Hippokrates eben so bald fertig, als ein Affe mit einer Haselnuß. Die Arzneiwissenschaft ein Traum! Wißt Ihr, daß Euch die Apotheker steinigen werden, wenn sie das erfahren. Ihr läugnet also den Einfluß der Tränke auf das Blut, und des Balsams auf das Fleisch! Ihr läugnet jene ewige Pharmacie der Blumen und der Metalle, welche man die Welt nennt, ausdrücklich geschaffen für jenen ewigen Kranken, der Mensch heißt.«

»Ich läugne,« erwiederte kalt der Archidiakonus, »weder die Pharmacie noch die Kranken, sondern den Arzt.«

»Es ist also nicht wahr,« fuhr der Doktor heftig fort, »daß die Gicht eine innerliche Flechte ist, daß man eine Schußwunde durch Auflegung einer gebratenen Maus heilt, daß ein in alte Adern eingegossenes junges Blut den Körper verjüngt? es ist nicht wahr, daß zweimal zwei vier macht, und daß der Emprostathonos auf den Opistathonos folgt?«

»Es gibt gewisse Dinge, über die ich nach meiner Weise denke,« antwortete trocken der Priester.

Der Leibarzt wurde roth und blaß vor Zorn.

»Ruhig, Doktor Jakob, der Archidiakonus ist unser Freund,« sagte der Gevatter Tourangeau.

»Ein Narr ist er!« murmelte der Arzt zwischen den Zähnen.

»Ihr seid mir da gewaltig in die Quere gekommen, Meister Claude,« fuhr der Gevatter Tourangeau fort. »Ich hatte zwei Konsultationen an Euch zu stellen: die eine meine Gesundheit, die andere meine Constellation betreffend.«

»Lieber Herr,« versetzte der Priester, »wenn das Eure Absicht war, so hättet Ihr Euch die Mühe ersparen können, meine Schneckentreppe heraufzusteigen. Ich glaube weder an Arzneiwissenschaft, noch an die Astrologie.«

»Wirklich!« rief der Gevatter Tourangeau verwundert aus.

Der Leibarzt zwang sich zu einem gewaltsamen Lachen.

»Jetzt werdet Ihr einsehen,« sagte er leise zu seinem Begleiter, »daß er ein Narr ist, er glaubt nicht an Astrologie!«

»Wie kann man sich nur einbilden,« fuhr Claude Frollo fort, »daß jeder Strahl eines Sterns ein Faden sei, der sich an das Haupt eines Menschen knüpft?«

»Und woran glaubt Ihr denn?« rief der Gevatter Tourangeau aus.

Der Priester blieb einen Augenblick unschlüssig, dann sprach er mit einem düstern Lächeln: »Credo in Deum.«

»Dominum nostrum,« fügte der Gevatter Tourangeau hinzu, indem er das Zeichen des Kreuzes machte.

»Amen!« sagte der Arzt.

»Ehrwürdiger Meister,« fuhr der Gevatter fort, »es freut mich von Herzen, Euch so gläubigen Gemüths zu finden; aber seid Ihr denn bis zu diesem Punkte der Gelehrsamkeit gelangt, daß Ihr nicht mehr an die Wissenschaft glaubt?«

»Nein,« erwiederte der Priester, und ein Strahl der Begeisterung glänzte in seinem Auge, »nein, ich läugne die Wissenschaft nicht. Ich bin nicht durch die zahllosen Verzweiflungen der dunkeln Höhle des Wissens gegangen, ohne in weiter Ferne ein Licht, eine Flamme, den Wiederschein der leuchtenden Werkstätte zu erblicken, wo die nie rastende Weisheit Gott in seinem Mittelpunkt aufgefunden hat.«

»Welche Wissenschaft aber,« fragte der Gevatter Tourangeau, »haltet Ihr für wahr und sicher?«

»Die Alchymie.«

»Die Alchymie,« schrie der Leibarzt, »hat allerdings ihren guten Grund, aber warum verleumdet Ihr die Medicin und die Astrologie?«

»Ein Nichts, Eure Wissenschaft des Menschen! Ein Nichts, Eure Wissenschaft des Himmels!« sprach der Priester mit gebietendem Wesen.

»Das heißt auf das hohe Roß steigen, Epidaurus und Chaldäa zumal!« sagte der Doktor spottend.

»Hört, Meister Jakob, und ärgert Euch nicht. Welche Wahrheit habt Ihr, ich will nicht sagen, aus der Medicin, denn das wäre allzu lächerlich, sondern aus der Astrologie gezogen? Führt mir die Eigenschaften des senkrechten Bustrophedon, den Erfund der Zahl Ziruph und der Zahl Zephirod an.«

»Wollt Ihr,« versetzte der Doktor, »die sympathetische Kraft der Clavicula läugnen und bestreiten, daß von ihr die Cabalistik ausgeht?«

»Ihr irrt Euch, Meister Jakob, keine Eurer Formen führt zur Wirklichkeit. Die Alchymie hingegen hat ihre unbestrittenen Entdeckungen. Wollt Ihr Ergebnisse läugnen, wie die folgenden sind: das während tausend Jahren unter der Erde eingeschlossene Eis verwandelt sich in Felskrystall. Das Blei braucht bloß vier Perioden, je von zweihundert Jahren, um allmählig von Blei in rothen Arsenik, von rothem Arsenik in Kupfer, von Kupfer in Silber überzugehen. Sind das nicht lauter Thatsachen? Hingegen an die Clavicula, an die Linie der Hand und an die Gestirne zu glauben, ist eben so lächerlich, als wenn man glaubt, daß sich ein Vogel in einen Maulwurf verwandle.«

»Ich habe die Hermetik studirt,« schrie der Arzt, »und ich bekräftige…«

Der streitfertige Priester ließ ihn nicht zum Worte kommen: »Und ich, ich habe die Medicin, die Astrologie und die Hermetik studirt. Hier allein ist Wahrheit, hier allein ist Licht!«

Mit diesen Worten nahm er die oben erwähnte, gläserne, mit einem feinen Pulver gefüllte Flasche zur Hand und fuhr begeistert fort: »Hippokrates ein Traum; Urania ein Traum; Hermes ein Gedanke! Das Gold ist die Sonne. Goldmachen heißt Gott sein. Dies ist die einzige Wissenschaft. Ich bin in die Tiefen der Medicin und Astrologie gedrungen, ein Nichts, ein Nichts sage ich Euch! Der menschliche Körper: Dunkelheit! Die Gestirne: Dunkelheit!«

Der Priester fiel in der Stellung eines Begeisterten auf feinen Lehnstuhl zurück. Der Gevatter Tourangeau betrachtete ihn stillschweigend. Der Leibarzt murmelte für sich: Ein Narr! Ein Narr!

»Und,« fragte plötzlich der Gevatter Tourangeau, »seid Ihr zum Ziele gelangt, habt Ihr Gold gemacht?«

»Hätte ich Gold gemacht,« sagte langsam und feierlich der Priester, »so würde der König von Frankreich Claudius heißen, nicht Ludwig.«

Gevatter Tourangeau runzelte die Stirne.

»Was sage ich da?« unterbrach sich der Priester selbst mit einem Lächeln der Verachtung. »Was sollte mir dieser Thron von Frankreich, wenn ich das morgenländische Kaiserreich wieder errichten könnte!«

»Das lasse ich gelten!« sagte der Gevatter.

»Ach, der arme Narr,« murmelte der Arzt.

Der Priester fuhr in tiefen Gedanken und, als ob er allein wäre, zu sich selbst sprechend, fort: »Aber nein, ich krieche noch, Kniee und Gesicht sind mir wund von den Steinen der unterirdischen Bahnen. Zur Betrachtung möchte ich gelangen, und es leuchtet mir nur ein ferner Schimmer! Ich bin ein armer Schüler in der großen Wissenschaft!«

»Und wenn Ihr zur Betrachtung gelangt sein werdet,« fragte der Gevatter, »könnt Ihr dann Gold machen?«

»Wer mag daran zweifeln?«

»In diesem Falle, unsere liebe Frau weiß, wie nöthig ich das Geld brauche, möchte ich wohl in Euren Büchern lesen lernen. Sagt mir doch, ehrwürdiger Meister, ist Eure Wissenschaft unserer lieben Frau nicht mißfällig oder feindlich?«

»Bin ich nicht Erzpriester der Kirche unserer lieben Frau!« versetzte der Archidiakonus mit ruhiger Würde.

»Das ist wahr, mein Meister. Nun, wenn es Euch gefällt, so weiht mich in die Anfangsgründe Eurer Wissenschaft ein.«

Der Archidiakonus nahm die majestätische und priesterliche Haltung eines Samuel an: »Alter Mann, es erfordert mehr Jahre, als Dir noch übrig sind, in die Tiefen der verborgenen Weisheit zu dringen. Dein Haupt ist schon sehr grau! Man betritt ihr Heiligthum mit schwarzen Haaren, und mit schneeweißem Haupte geht man heraus. Treibt Dich aber unüberwindliche Lust, das Alphabet der Weisen zu entziffern, so will ich Dein Lehrer sein. Ich verlange nicht von Dir altem Manne, daß Du die Grabgewölbe der Pyramiden besuchst, noch den steinernen Thurm von Babel, noch den Marmortempel von Eklinga. Ich selbst habe weder die chaldäischen Mauern, noch Salomons Tempel gesehen. Wir müssen uns mit den Fragmenten des Buches von Hermes begnügen. Ich werde Dir die Bildsäule des heiligen Christoph, das Gleichnis vom Säemann, und das Symbolum der beiden Engel erklären, die am Eingang der heiligen Kapelle stehen, und deren einer seine Hand in einem Gefäß, der andere in einer Wolke hat…«

»Erras, amice Claudi!« fiel der Arzt triumphirend ein. »Das Symbol ist nicht die Zahl. Ihr nehmt Orpheus für Hermes.«

»Ihr selbst irrt,« erwiederte ernst der Priester, »Dädalus ist der Grundstein, Orpheus die Mauer, Hermes das Gebäude, das Ganze. Ihr könnt kommen, wann Ihr wollt,« fuhr er, zu dem Gevatter Tourangeau gewendet, fort, »ich werde Euch die Hieroglyphen am Hospital Saint-Gervais, an den Vorderseiten von Saint-Come, von Sainte-Genevieve, von Saint- Martin und Saint-Jacques kennen lehren …«

»Was sind denn das für Bücher?« unterbrach ihn der Gevatter Tourangeau, der ihn nicht zu verstehen schien, mit Ungeduld.

»Ich will Euch,« erwiederte der Priester, »ein solches Buch zeigen.«

Mit diesen Worten öffnete er das Fenster seiner Zelle und deutete mit dem Finger auf den ungeheuren Umriß der Liebfrauenkirche, die ihren weiten Schatten in die Nacht warf, und mit ihren beiden Thürmen als eine zweiköpfige Sphinx, mitten in der Stadt thronend, erschien.

Der Archidiakonus betrachtete eine Zeitlang stillschweigend das gigantische Gebäude, dann legte er mit einem Seufzer seine rechte Hand auf die Druckschrift, die offen auf dem Tische lag, streckte die linke gegen die Liebfrauenkirche aus und sagte traurig: »Diese Buchstaben werden diese Steine tödten!«

Der Arzt schlug schnell den Titel des Buches nach und rief! »Was ist denn das so Furchtbares: Glossa in epistolas D. Pauli, Norimbergiae, Antonius Koburger, 1474. Das ist ja von Peter Lombard und längst bekannt. Etwa weil es gedruckt ist?«

»Du hast es gesagt,« antwortete der in tiefes Nachdenken versunkene Priester. Dann fügte er in geheimnißvollem, prophetischem Tone hinzu: »Das Kleine wird das Große überwinden, ein Zahn wird Felsen und Mauern zermalmen. Der Ichneumon tödtet das Krokodil des Nils, der Schwertfisch den Riesen des Meeres, die Buchstaben der Druckschrift werden die Kirche tödten!«

Die Abendglocke des Klosters fing an zu läuten, als der Arzt seinen ewigen Refrain wiederholte: »Er ist ein Narr!«

Diesmal antwortete ihm der Gevatter Tourangeau: »Ich glaube es selbst!«

Die Stunde hatte geschlagen, wo kein Fremder im Kloster bleiben durfte. Die beiden Gäste beurlaubten sich.

»Meister,« sagte der Gevatter Tourangeau, »ich liebe die Gelehrten und großen Geister, und Euch insbesondere. Kommt morgen in den Palast von Tournelles und fragt nach dem Abt von St. Martin.«

Der Archidiakonus begriff endlich mit Staunen, wer der Gevatter Tourangeau sei, und erinnerte sich der Stelle aus Saint-Martin de Tours: Abbas beati Martini, scilicet Rex Franciae, est canonicus de consuetudine et habet parvam praebendam quam habet sanctus Venantius et debet sedere in sede thesaurarii.

Von dieser Zeit an hatte, wie man versichert, der Archidiakonus häufige Zusammenkünfte mit Ludwig XI., und sein Einfluß überwog fast den von Oliver, dem Teufel, und Jacques Coictier, dem Leibarzt.