1. Der in ein dürres Blatt verwandelte Thaler.

Gringoire und der ganze Wunderhof befanden sich in einer entsetzlichen Unruhe. Seit einem ganzen Monate wußte man nicht, was aus der Esmeralda geworden war: was den Herzog von Aegypten und seine Freunde, die Bettler, aufs höchste betrübte; ebenso wenig wußte man, was mit ihrer Ziege geworden war: was namentlich den Schmerz Gringoire’s verdoppelte. Eines Abends war die Zigeunerin verschwunden und hatte seitdem kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Alle Nachforschungen waren fruchtlos geblieben. Einige neckische Landstreicher theilten Gringoire mit, daß sie ihr an jenem Abende in der Gegend der Sanct-Michaelsbrücke begegnet wären, wie sie mit einem Offiziere davon gegangen sei; aber dieser Ehemann nach Zigeunerbrauch war ein ungläubiger Philosoph; und überdies wußte er besser, als irgend jemand, wie sehr seine Frau noch Jungfrau war. Er hatte sich ein Urtheil bilden können, welche unbezwingliche Schamhaftigkeit sich aus der Kraft des Amuletes und der Tugendhaftigkeit der Zigeunerin – beides vereinigt – ergaben; und er hatte mathematisch genau die Widerstandskraft dieser Keuschheit gegen die zweite Möglichkeit berechnet. Er war also nach dieser Seite hin beruhigt.

Demnach konnte er sich dieses Verschwinden nicht zusammenreimen. Das war sein tiefer Kummer. Er wäre noch magerer darüber geworden, wenn das ein Ding der Möglichkeit gewesen wäre. Er hatte darüber alles vergessen, sogar seine literarischen Neigungen, selbst sein großes Werk: »De figuris regularibus et irregularibus,« 41 welches er mit dem ersten Gelde, das er bekommen würde, drucken zu lassen ausgerechnet hatte (denn er faselte vom Drucke, seitdem daß er das »Didascalon« des Hugo von Sanct-Victor, welches mit den berühmten Typen des Wendelin von Spira gedruckt ist, gesehen hatte.)

Eines Tages, als er trübselig vor dem Criminalgefängnisse vorbeiging, bemerkte er eine ziemliche Menschenmenge an einer der Thüren des Justizpalastes.

»Was giebt’s da?« fragte er einen jungen Mann, welcher herauskam.

»Ich weiß nicht, mein Herr,« antwortete der junge Mann. »Man sagt, daß eine Frau abgeurtheilt wird, welche einen Offizier erdolcht hat. Wie es scheint, steckt Hexerei dahinter; der Bischof und der Official haben sich in die Sache gemengt, und mein Bruder, welcher Archidiaconus von Josas ist, haftet mit seinem Leben dafür. Nun wollte ich mit ihm sprechen, aber ich habe nicht an ihn kommen können wegen des Gedränges, was mir sehr unangenehm ist, denn ich brauche Geld.«

»O weh, mein Herr!« sagte Gringoire, »ich wollte, ich könnte Euch welches leihen; aber wenn meine Hosentaschen durchlöchert sind, so sind die Thaler nicht schuld daran.«

Er wagte nicht, dem jungen Manne zu sagen, daß er seinen Bruder, den Archidiaconus, kenne, zu welchem er seit der Scene in der Kirche nicht hingegangen war: eine Nachlässigkeit, die ihn in Verlegenheit setzte.

Der Student setzte seinen Weg fort, und Gringoire schickte sich an, der Menge zu folgen, welche die Treppe zum großen Verhandlungssaale hinaufdrängte. Er hielt dafür, daß es nichts Besseres gäbe, die Melancholie zu verjagen, als einen Criminalproceß, bei dem die Richter gewöhnlich so viel lächerliche Albernheiten zum besten geben. Das Volk, unter das er sich gemischt hatte, ging vorwärts und drängte sich schweigend weiter. Nach einem langsamen und langweiligen Trippeln unter einem langen Gange hin, der sich im Palaste, wie der Grundkanal des alten Bauwerkes, hinschlängelte, gelangte er an eine niedrige Thüre, die in einen Saal führte, welchen, über die Köpfe der wogenden Menge hinweg, seine Körperlänge gestattete mit dem Auge zu prüfen.

Der Saal war groß und düster, was ihn noch größer erscheinen ließ. Der Tag ging zur Neige; die hohen Spitzbogenfenster ließen nur einen blassen Lichtstrahl hereindringen, der halb erlosch, ehe er bis zur Wölbung, einem ungeheueren Gitterwerk aus Steingebälk, vordrang, dessen zahllose Figuren in der Dunkelheit bunt durcheinander zu laufen schienen. Hier und da standen schon mehrere angezündete Kerzen auf Tischen und warfen ihre Strahlen auf die Köpfe der Schreiber, welche auf Aktenbündel geneigt waren. Der vordere Theil des Saales war vom Volke besetzt; zur Rechten und Linken saßen Männer in Amtskleidern an Tischen; im Hintergrunde, auf einer Erhöhung, zahlreiche Richter, deren letzte Reihen sich in der Dunkelheit verloren, mit starren und finstern Gesichtern. Die Mauern waren mit zahllosen Lilien besäet. Man unterschied undeutlich ein großes Kruzifix über den Richtern, und überall Piken und Hellebarden, von deren Spitzen das Licht der Kerzen strahlend zurückfiel.

»Herr,« fragte Gringoire einen seiner Nachbarn, »was stellen diese Personen vor, die da unten wie Prälaten auf dem Concile Platz genommen haben?«

»Mein Herr,« sprach der Nachbar, »zur Rechten, das sind die Oberkammerräthe, und zur Linken die Untersuchungsrichter: die Meister in schwarzer Tracht und die Herren in rother Tracht.«

»Da über ihnen,« fuhr Gringoire fort, »wer ist denn der dicke Rothe, der schwitzt?«

»Das ist der Herr Präsident.«

»Und jene Hammel hinter ihm?« bemerkte Gringoire, welcher, wie wir schon gesagt haben, dem Beamtenstande nicht gewogen war, was vielleicht mit dem alten Grolle zusammenhing, welchen er seit seinem dramatischen Mißgeschicke dem Justizpalaste nachtrug.

»Das sind die Herren Richter der Cassationskanzlei des königlichen Palastes.«

»Und vor ihm das Wildschwein?«

»Das ist der Herr Gerichtsschreiber des Parlamentsgerichtshofes.«

»Und zur Rechten das Krokodil?«

»Meister Philipp Lheulier, der peinliche Anwalt des Königs.«

»Und zur Linken jener große schwarze Kater?«

»Meister Jacob Charmolue, der Procurator des Königs beim Kirchengerichtshofe, mit den Herren vom geistlichen Gericht.«

»Nun denn, Herr,« sagte Gringoire, »was thun denn alle diese braven Leute da?«

»Sie richten.«

»Wen richten sie? Ich sehe den Angeklagten ja nicht.«

»Es ist ein Frauenzimmer, Herr. Ihr könnt sie nicht sehen; sie dreht Euch den Rücken zu und wird uns von der Menge verborgen. Halt! Da ist sie, wo Ihr eine Anzahl Partisanen seht.«

»Was ist das für ein Weib?« fragte Gringoire. »Wißt Ihr ihren Namen?«

»Nein, Herr; ich bin eben erst hereingekommen. Ich nehme nur an, daß es sich um Zauberei handelt, weil der Official dem Processe beiwohnt.«

»Nur zu!« sagte unser Philosoph, »wir werden sehen, wie alle diese Leute im Amtskleide Menschenfleisch essen. Es ist ein Schauspiel, wie alle andern.«

»Herr,« bemerkte ein Nachbar, »findet Ihr nicht auch, daß Meister Jacob Charmolue eine sehr sanfte Miene macht?«

»Herr!« antwortete Gringoire. »Ich traue keiner Sanftmuth, welche scharfgeschnittene Nasenflügel und dünne Lippen hat.«

Hier geboten die Nachbarn den zwei Plauderern Ruhe. Man nahm eine wichtige Zeugenaussage entgegen.

»Gnädige Herren,« sagte mitten im Saale ein altes Weib, deren Gesicht dermaßen unter ihren Kleidungsstücken versteckt war, daß man sie einen wandelnden Lumpenhaufen hätte nennen mögen, »gnädige Herren, die Sache ist ebenso wahr, als es wahr ist, daß ich, die ich hier stehe, die Falourdel bin, die seit vierzig Jahren auf der Sanct-Michaelsbrücke wohnt, und pünktlich Abgaben, Schoß und Grundzins zahlt; es ist die Thür gegenüber vom Hause Tassin-Caillarts, des Färbers, welches auf der Seite stromaufwärts steht. Jetzt eine arme Alte, war ich einstmals ein schönes Mädchen, gnädige Herren! Seit einigen Tagen sagte man zu mir: »Frau Falourdel, laßt Euer Spinnrad nicht zu sehr des Abends schnurren; der Teufel hechelt gern mit seinen Hörnern den Rocken alter Weiber. Es ist gewiß, daß der gespenstige Mönch, welcher vergangenes Jahr sein Wesen in der Nähe des Tempelherrenhauses trieb, jetzt in der Altstadt herumschweift. Frau Falourdel paßt auf, daß er nicht an Eure Thüre klopft.« Eines Abends, ich spann mein Rad, klopft man an meine Thüre. Ich frage, wer da ist. Es flucht jemand. Ich öffne. Zwei Männer treten ein. Ein Schwarzer mit einem schönen Offiziere. Man sah nur die zwei Augen des Schwarzen, zwei glühende Kohlen. Alles übrige war Hut und Mantel. Da sagen sie zu mir: »Die Stube zur heiligen Martha.« Das ist meine Oberstube, gnädige Herren, mein reinlichstes Zimmer. Sie geben mir einen Thaler. Ich stecke den Thaler in meine Schublade und sage bei mir: »Das ist dazu bestimmt, morgen Kaldaunen in der Schlächterei La Gloriette zu kaufen.« Wir steigen hinauf. Als wir in der Oberstube angekommen sind, und während daß ich den Rücken drehte, verschwand der schwarze Mann. Das setzte mich ein wenig in Erstaunen. Der Offizier, welcher schön wie ein vornehmer Herr war, steigt wieder mit mir herab. Er geht weg. Die Zeit ein Viertel Strähne zu spinnen war um, als er mit einem schönen jungen Mädchen zurückkommt, einer Puppe, die wie eine Sonne geglänzt hätte, wenn sie geputzt gewesen wäre. Sie hatte einen Bock, einen großen Bock, schwarz oder weiß, ich kann mich nicht mehr erinnern, bei sich. Das machte mich nachdenklich. Das Mädchen geht mich nichts an, aber der Bock!… Ich habe diese Thiere nicht gern, sie haben einen Bart und Hörner. Das sieht einem Manne ähnlich. Und dann riecht es nach dem Hexensabbath. Jedoch, ich sage nichts. Ich hatte den Thaler. Das ist recht, nicht wahr, Herr Richter? Ich lasse das Mädchen und den Offizier in die Oberstube hinaufsteigen, und ich lasse sie allein, das heißt mit dem Bocke. Ich steige wieder herab und setze mich wieder zum Spinnen nieder… Ich muß Euch sagen, daß mein Haus ein Erdgeschoß und ein erstes Stockwerk hat; es geht von hinten auf den Fluß, wie die andern Häuser der Brücke auch, und das Fenster des Erdgeschosses und das Fenster des Oberstockes öffnen sich nach dem Wasser zu… Ich war also im besten Spinnen. Ich weiß nicht, warum ich an jenen gespenstigen Mönch dachte, den der Bock mir in den Kopf gesetzt hatte, und dann war das hübsche Mädchen ein wenig wild aufgeputzt. Plötzlich höre ich einen Schrei oben, und etwas auf den Boden fallen, und wie das Fenster sich öffnet. Ich laufe zu dem meinigen, welches darunter ist, und ich sehe vor meinen Augen eine schwarze Masse vorbeischießen, die ins Wasser stürzt. Es war ein als Priester gekleidetes Gespenst. Es war heller Mondenschein. Ich habe es sehr gut gesehen. Es schwamm nach der Altstadt zu. Am ganzen Leibe zitternd rufe ich dann die Nachtwache. Die Herren von den Zwölfern treten ein, und im ersten Augenblicke sogar, da sie nicht wußten, worum es sich handelte, und weil sie vergnügt waren, haben sie mich geschlagen. Ich habe es ihnen auseinandergesetzt. Wir steigen hinauf, und was finden wir da? Meine arme Stube ganz in Blut schwimmend, den Hauptmann der Länge nach hingestreckt mit einem Dolche im Nacken, das Mädchen sich todt stellend, und den Bock ganz wüthend. »Gut,« sage ich, »ich werde mehr als vierzehn Tage lang den Fußboden zu waschen haben. Ich werde ihn abkratzen müssen, das wird schrecklich werden.« Man trug den Offizier davon, den armen jungen Mann! und das ganz entblößte Mädchen … Halt! das Schlimmste ist, daß am andern Morgen, als ich den Thaler nehmen wollte, um Kaldaunen zu kaufen, ich ein dürres Blatt an seiner Stelle gefunden habe.«

Die Alte schwieg. Ein Gemurmel des Entsetzens lief durch den Zuhörerraum. »Dieses Gespenst, dieser Bock, alles das riecht nach Hexerei,« sagte ein Nachbar Gringoire’s. – »Und dieses dürre Blatt!« fügte ein anderer hinzu. – »Kein Zweifel,« fuhr ein dritter fort, »das ist eine Hexe, die im Verkehre mit dem gespenstigen Mönche steht, um die Offiziere auszuplündern.« Gringoire selbst war nicht abgeneigt, dieses alles entsetzlich und wahrscheinlich zu finden.

»Weib Falourdel,« sagte der Herr Präsident mit Würde, »habt Ihr dem Gerichtshofe nichts weiter zu sagen?«

»Nein, gnädiger Herr,« antwortete die Alte, »außer, daß man in dem Berichte mein Haus als ein schiefes und stinkendes Loch bezeichnet hat; was doch beschimpfend sich ausdrücken heißt. Die Häuser auf der Brücke haben kein vornehmes Aussehen, weil dort Menschen im Ueberflusse wohnen; aber nichts desto weniger wohnen dennoch Fleischer dort, welche reiche Leute und mit schönen, sehr reinlichen Frauen verheirathet sind.«

Der Beamte, welcher auf Gringoire den Eindruck eines Krokodils gemacht hatte, erhob sich.

»Stille!« sagte er. »Ich bitte, meine Herren, nicht aus dem Auge zu verlieren, daß man einen Dolch bei der Angeklagten gefunden hat. Weib Falourdel, habt Ihr jenes Blatt mitgebracht, in welches sich der Thaler verwandelt hat, den Euch der Teufel gegeben hatte?«

»Ja, gnädiger Herr,« antwortete sie; »ich habe es wiedergefunden. Hier ist es.«

Ein Gerichtsdiener überreichte das todte Blatt dem Krokodile, welches traurig den Kopf schüttelte, und händigte es dem Präsidenten ein, welcher es dem Procurator des Königs beim Kirchengerichtshofe zustellte, so daß es die Runde im Saale machte.

»Das ist ein Birkenblatt,« sagte Meister Jacob Charmolue; »ein neuer Beweis von der Zauberei.«

Ein Rath nahm das Wort.

»Zeugin, zwei Männer sind zu gleicher Zeit bei Euch eingetreten. Der schwarze Mann, den Ihr zuerst verschwinden, nachher in Priesterkleidern in der Seine habt schwimmen gesehen, und der Offizier. Welcher von beiden hat Euch den Thaler gegeben?«

Die Alte überlegte einen Augenblick und sagte:

»Es war der Offizier.«

Ein Murmeln durchlief den Saal.

»Ah,« dachte Gringoire, »das ist eine Thatsache, die meine Ueberzeugung schwankend macht.«

Währenddem schlug sich Philipp Lheulier, der peinliche Anwalt des Königs, von neuem ins Mittel.

»Ich erinnere die Herren daran, daß der gemeuchelte Offizier in der auf seinem Krankenbette geschriebenen Zeugenaussage erklärt, daß in dem Augenblicke, wo der schwarze Mann sich ihm zugesellt habe, der Gedanke dunkel in ihm aufgestiegen sei, daß dies sehr möglich der gespenstige Mönch sein könnte, und hinzufügte, daß das Gespenst lebhaft in ihn gedrungen sei, der Angeklagten das verabredete Stelldichein zu geben, und auf seine, des Hauptmanns, Bemerkung hin, daß er ohne Geld wäre, ihm den Thaler gegeben hätte, mit dem der genannte Offizier die Falourdel bezahlt hat. Folglich ist der Thaler eine Münze aus der Hölle …«

Diese folgerichtige Bemerkung schien bei Gringoire und den andern Skeptikern des Zuschauerraumes alle Zweifel zu zerstreuen.

»Die Herren haben die Aktenstücke in Händen,« fügte der Anwalt des Königs hinzu, während er sich niedersetzte; »sie können die Aussage des Phöbus von Châteaupers zu Rathe ziehen.«

Bei diesem Namen erhob sich die Angeklagte; ihr Kopf überragte die Menge, Gringoire erkannte entsetzt die Esmeralda. Sie war blaß, ihre Haare, die früher so zierlich geflochten und mit Zechinen beflittert waren, fielen wirr hernieder; ihre Lippen waren bleich, ihre hohlen Augen flößten Schrecken ein. Ach, leider!

»Phöbus!« sprach sie in Geistesverwirrung, »wo ist er? Ach, gnädige Herren, ehe ihr mich tödtet, Erbarmen, sagt mir, ob er noch lebt?«

»Schweiget, Weib,« antwortete der Präsident, »das ist jetzt nicht unsere Angelegenheit.«

»Oh! aus Mitleiden sagt mir, ob er am Leben ist!« wiederholte sie, indem sie ihre schönen abgemagerten Hände faltete; und man hörte ihre Ketten an ihrem Gewande hinunterklirren.

»Nun denn!« sagte trocken der Anwalt des Königs, »er liegt im Sterben. Seid Ihr zufrieden?«

Die Unglückliche fiel auf ihren Schemel zurück, stumm, ohne Thränen, bleich wie ein Wachsbild.

Der Präsident neigte sich nach einem Manne hin, der vor seinen Füßen saß, eine goldene Mütze und ein schwarzes Gewand trug, eine Kette um den Hals und einen Stab in der Hand hatte.

»Thürhüter, führet die zweite Angeklagte herein.«

Aller Augen wandten sich nach einer kleinen Thüre hin, welche sich öffnete und zum größten Schrecken Gringoire’s eine hübsche Ziege mit vergoldeten Hörnern und Füßen hereinließ. Das zierliche Thier blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, streckte den Hals vor, als ob sie auf einer Felsspitze stehend, einen ungeheuern Gesichtskreis unter ihren Augen gehabt hätte. Plötzlich bemerkte sie die Zigeunerin, sprang über den Tisch und den Kopf eines Schreibers hinweg, und war in zwei Sprüngen vor ihren Knien; dann rollte sie sich zierlich zu den Füßen ihrer Herrin nieder und bettelte um ein Wort oder eine Liebkosung; aber die Angeklagte blieb unbeweglich, und selbst die arme Djali erhielt keinen Blick.

»Ach ja … es ist mein abscheuliches Thier,« sagte die alte Falourdel, »und ich erkenne sie gemach alle beide!«

Jacob Charmolue schlug sich jetzt ins Mittel.

»Wenn es den Herren recht ist, wollen wir zum Verhöre der Ziege schreiten.«

Diese war in Wahrheit die zweite Angeklagte. Es gab zu damaliger Zeit nichts Einfacheres, als einen Proceß wegen Zauberei, der gegen ein Thier angestrengt wurde. Man findet unter anderem in den Rechnungen des Amtsbezirkes für das Jahr 1466 eine merkwürdige Kostenspecification im Processe Gillet Sonlards und seiner Sau, welche »für ihre Verschuldungen in Corbeil hingerichtet wurden«. Das Wichtigste dabei ist: die Kosten für die Löcher, um das Schwein hineinzustecken, die fünfhundert Reisigbündel, die am Hafen von Morsant verwendet wurden, die drei Maß Wein und das Brot, als Henkermahl des armen Sünders, das brüderlich vom Henker mit ihm getheilt wurde, sogar die elf Tage Bewachung und Fütterung des Schweines, jeder mit acht Pariser Hellern berechnet. Manchmal ging man sogar weiter, als nur Thiere zu processiren. Die Capitularien Karls des Großen und Ludwigs des Frommen verhängen schwere Strafen über die feurigen Erscheinungen, welche in der Luft zu erscheinen sich unterstehen sollten.

Der Procurator beim Kirchengerichte hatte inzwischen ausgerufen:

»Wenn der Teufel, welcher in diese Ziege gefahren ist, und welcher allen Beschwörungen Widerstand geleistet hat, bei seinen Behexungen beharrt, und wenn er den Gerichtshof in Schrecken versetzt, so kündigen wir ihm an, daß wir gezwungen sein werden, gegen ihn den Galgen oder den Scheiterhaufen in Anwendung zu bringen.«

Gringoire trat der kalte Schweiß vor die Stirn. Charmolue nahm die baskische Trommel der Zigeunerin von einem Tische, und während er sie der Ziege mit einer gewissen Förmlichkeit hinhielt, fragte er sie: »Wie viel Uhr ist es?«

Die Ziege sah ihn mit einem klugen Blicke an, hob ihren vergoldeten Fuß auf und machte sieben Schläge. Es war in der That sieben Uhr. Eine Bewegung des Entsetzens ging durch die Menge. Gringoire konnte nicht mehr an sich halten.

»Sie macht sich unglücklich!« schrie er ganz laut; »ihr sehet doch, daß sie nicht weiß, was sie thut.«

»Stille, ihr Zuhörer da unten im Saale!« rief der Thürhüter heftig.

Jacob Charmolue ließ unter Anwendung der nämlichen Kunstgriffe, wie bei dem Tamburin, die Ziege mehrere andere Gaukeleien über das Datum des Tages, den Monat des Jahres u. s. w. ausführen, bei denen der Leser schon Zeuge gewesen ist. Und infolge einer optischen Täuschung, die den Gerichtsverhandlungen eigentümlich ist, waren dieselben Zuschauer, die vielleicht mehr als einmal an der Straßenecke bei den unschuldigen Schelmereien Djali’s Beifall geklatscht hatten, unter den Wölbungen des Justizpalastes darüber entsetzt. Die Ziege war offenkundig der Teufel. Das wurde noch viel schlimmer, als der Procurator des Königs eine Art Ledersack voll beweglicher Buchstaben, die Djali am Halse trug, auf den Boden ausgeschüttet hatte, und man die Ziege nun mit ihrem Fuße aus dem hingestreuten Alphabete den verhängnisvollen Namen »Phöbus« heraussuchen sah. Die Zaubereien, deren Opfer der Hauptmann geworden war, schienen unwidersprechlich erwiesen, und in aller Augen war die Zigeunerin, diese bezaubernde Tänzerin, die so oft die Straßenpassanten mit ihrer Anmuth geblendet hatte, nichts weiter, als eine fürchterliche Hexe.

Sie gab übrigens kein Lebenszeichen von sich; weder die zierlichen Bewegungen Djali’s, noch die Drohungen der Untersuchungsrichter, noch die dumpfen Verwünschungen der Zuhörer, – nichts bewegte mehr ihr Denken. Um sie aufzuwecken, mußte ein Gerichtsdiener sie mitleidslos rütteln, worauf der Präsident mit feierlicher Stimme also anhob:

»Mädchen, Ihr seid vom Stamme der Zigeuner und den Hexereien ergeben. Ihr habt in Gemeinschaft mit der behexten Ziege, welche mit in den Proceß verwickelt ist, in der Nacht des letzten neunundzwanzigsten März, im Einverständnis mit den Mächten der Hölle, unter Beihilfe Eurer Reize und Ränke, einen Hauptmann vom Commando der Königsschützen, Phöbus von Châteaupers, ermordet und erdolcht. Beharrt Ihr beim Läugnen?«

»Entsetzen!« schrie das junge Mädchen, und verbarg ihr Antlitz in ihren Händen. »Mein Phöbus! ach! das ist die Hölle!«

»Beharrt Ihr beim Läugnen?« fragte der Präsident kalt.

»Ja, ich läugne es!« sagte sie mit schrecklichem Tone, und sie hatte sich erhoben, und ihr Auge flammte.

Der Präsident fuhr entschieden fort: »Wie erklärt Ihr dann die Euch zur Last gelegten Thaten?«

Sie antwortete mit stockender Stimme:

»Ich habe es schon gesagt. Ich weiß es nicht. Ein Priester ist’s, ein Priester, den ich nicht kenne; ein höllischer Priester, der mich verfolgt!«

»Das ist es gerade,« versetzte der Richter, »der gespenstige Mönch.«

»O gnädige Herren! habt Mitleid! ich bin nur ein armes Mädchen …«

»Aus Aegypten,« sagte der Richter.

Meister Jacob Charmolue nahm das Wort und sprach mit sanftem Tone:

»In Anbetracht der betrübenden Hartnäckigkeit der Angeklagten trage ich auf Anwendung der Folter an.«

»Zugestanden!« sagte der Präsident.

Die Unglückliche zitterte am ganzen Körper. Sie erhob sich jedoch auf das Geheiß der Partisanenträger und schritt, unter Vortritt Charmolue’s und der Priester des geistlichen Gerichtes, ziemlich festen Schrittes zwischen zwei Reihen Hellebarden auf eine Nebenthüre zu, welche sich plötzlich öffnete und hinter ihr wieder schloß, was auf den betrübten Gringoire den Eindruck machte, als habe sie ein fürchterlicher Rachen eben verschlungen.

Als sie verschwand, hörte man ein klägliches Blöken. Die kleine Ziege war es, die hinter ihr her schrie.

Die Sitzung war aufgehoben. Als ein Rath darauf aufmerksam gemacht hatte, daß die Herren ermüdet wären, und daß es doch wohl sehr lange dauern würde, bis zum Ende der Folterung zu warten, so entgegnete der Präsident, daß ein Gerichtsbeamter wissen müsse, sich für seine Pflicht zu opfern.

»Die widerwärtige und unangenehme Vettel,« sagte ein alter Richter, »die sich die Folter geben läßt, wenn man noch nicht zu Abend gespeist hat!«

  1. Lateinisch: Ueber regelmäßige und unregelmäßige Figuren. Anm. d. Uebers.

6. Was sieben Flüche in freier Luft für eine Wirkung hervorbringen können.

»Te Deum laudamus!« 33 rief Meister Johann aus, als er aus seinem Loche herauskroch, »nun sind die beiden Nachteulen abgezogen. Och! och! Hax! Pax! Max! die Flöhe! die tollen Hunde! Zum Teufel, ich habe genug an ihrer Unterhaltung! Der Kopf brummt mir, wie ein Glockenthurm. Schimmeligen Käse noch obendrein in den Kauf! Frisch! Wir wollen hinabsteigen, den Beutel des großen Bruders nehmen und alle diese Münzen darin in Flaschen umsetzen!«

Er warf einen zärtlichen und bewundernden Blick in das Innere des kostbaren Beutels, brachte seine Kleider wieder in Ordnung, rieb seine Halbstiefeln ab, stäubte die armen, von Asche ganz grau gewordenen Aermel ab, pfiff ein Lied, machte einen Luftsprung, untersuchte, ob nicht noch etwas in der Zelle wäre, das er mitnehmen könnte, raffte hier und da vom Herde einige Glasperlenamulette zusammen, die er Isabeau-la-Thierrye als Schmuckstück geben könnte, stieß dann die Thür auf, welche sein Bruder als einen letzten Gnadenbeweis unverschlossen gelassen hatte, und die er seinerseits als letzten Schabernack offen stehen ließ, und stieg, wie ein Vogel hüpfend, die Wendeltreppe hinab. Mitten auf der finstern Stiege stieß er mit dem Ellbogen an etwas, das sich brummend zur Seite drückte; er vermuthete, daß es Quasimodo wäre; und das kam ihm so spaßhaft vor, daß er sich vor Lachen die Seiten haltend den Rest der Treppe hinabstieg. Und er lachte noch, als er auf den Platz hinaustrat.

Er stieß mit dem Fuße auf, als er sich wieder auf ebener Erde befand. »Ach,« sagte er, »gutes und ehrenwerthes Pflaster von Paris! Die verdammte Treppe, welche die Engel der Jacobsleiter selbst außer Athem bringen kann! Woran dachte ich, als ich mich anschickte, in diese Steinsäule einzudringen, die in die Wolken steigt? Und das alles, um verschimmelten Käse zu essen und die Thürme von Paris durch eine Dachluke zu betrachten!

Er that einige Schritte weiter und bemerkte die beiden Nachteulen, d. h. Dom Claude und Meister Jacob Charmolue, die vor einer Bildhauerarbeit des Haupteinganges in Betrachtung versunken waren. Er näherte sich ihnen auf den Zehen und vernahm, wie der Archidiaconus ganz leise zu Charmolue sagte: »Auf diesem lapis-lazulifarbigen Steine hat Wilhelm von Paris einen Hiob einmeißeln lassen. Hiob stellt den Stein der Weisen dar, welcher geprüft und auch gepeinigt werden muß, um zur Vollkommenheit zu gelangen, wie Raimundus Lullus sagt: »Sub consevatione formae specificae salva anima.« 34

»Das ist mir ganz gleichgiltig,« sagte Johann, »denn ich bin’s, der die Börse hat.«

In diesem Augenblicke hörte er, wie hinter ihm eine starke und wohllautende Stimme eine Reihe von schrecklichen Flüchen ausstieß: »Beim Blute Christi! – Beim Leibe Gottes! – Bei Gott! – So wahr Gott lebt! – Beim Nabel Beelzebubs! – Beim heiligen Vater in Rom! – Donner und Teufel!«

»Bei meiner Seele,« rief Johann, »das kann nur mein Freund Phöbus, der Hauptmann, sein!«

Der Name »Phöbus« traf das Ohr des Archidiaconus gerade im Augenblicke, als er dem königlichen Procurator den Drachen erklärte, der seinen Schwanz in einen Wasserbehälter steckt, aus welchem Rauch und der Kopf eines Königs sich erheben. Dom Claude schrak zusammen, brach zum großen Staunen Charmolue’s ab, wandte sich um und sah seinen Bruder Johann, der einen hohen Offizier an der Thür des Hauses Gondelaurier anredete. Es war in der That der Herr Hauptmann Phöbus von Chateaupers. Er hatte sich mit dem Rücken an die Ecke des Hauses seiner Braut gelehnt und fluchte wie ein Heide.

»Meiner Treu! Hauptmann Phöbus,« sagte Johann und ergriff seine Hand, »Ihr flucht ja mit einem bewunderungswürdigen Feuer.«

»Donner und Teufel!« antwortete der Hauptmann.

»Donner und Teufel über Euch selbst!« versetzte der Student. »Nun aber, netter Hauptmann, was ist der Grund zu diesem Ueberflusse an schönen Redensarten?«

»Verzeihung, lieber Kamerad Johann,« rief Phöbus, während er ihm die Hand schüttelte, »ein durchgehendes Pferd steht nicht so bald still. Nun ich fluchte im vollen Galopp. Ich komme aus dem Hause dieser Zieraffen, und wenn ich da herkomme, habe ich immer die Kehle voller Flüche; ich muß sie ausspeien, oder ich würde ersticken, Himmel und Hölle!«

»Wollt Ihr mit mir zechen gehen?« fragte der Student.

Dieser Vorschlag beruhigte den Hauptmann.

»Sehr gern, aber ich habe kein Geld.«

»Aber ich habe welches!«

»Ei was! laßt sehen!«

Johann zeigte überlegen und gutmüthig die Börse vor den Augen des Hauptmanns. Währenddem war der Archidiaconus, welcher Charmolue verwundert hatte stehen lassen, zu ihnen gekommen, hatte sich auf einige Schritte genähert, und beobachtete sie alle beide, ohne daß sie Rücksicht auf ihn nahmen, so sehr hatte die Betrachtung des Geldbeutels ihr Interesse in Anspruch genommen.

Phöbus rief aus: »Eine Börse in Eurer Tasche, Johann, – das ist der Mond in einem Wasserkübel. Man sieht ihn drin, aber er ist nicht drin. Es ist nur der Schatten davon. Bei Gott! wir wollen wetten, daß es Kieselsteine sind!«

Johann antwortete kaltblütig: »Da sind die Kieselsteine, mit denen ich meine Hosentasche pflastere.«

Und ohne ein Wort weiter zu verlieren, schüttete er die Börse auf einem Ecksteine in der Nähe mit der Miene eines Römers aus, der sein Vaterland rettet.

»So wahr Gott lebt!« murmelte Phöbus, »Schildpfennige, große Weißpfennige, kleine Weißpfennige, Heller, von denen zwei auf einen Tours’schen gehen, Pariser Heller, wirkliche Adlerliards! Es ist zum Blindwerden!«

Johann bewahrte seine Ruhe und Würde. Einige Liards waren in den Koth gerollt; in seiner Begeisterung bückte sich der Hauptmann, um sie aufzuheben. Johann hielt ihn zurück.

»Pfui, Hauptmann Phöbus von Châteaupers!«

Phöbus zählte das Geld und wandte sich feierlich an Johann: »Wißt Ihr, Johann, daß es dreiundzwanzig Pariser Sols sind! Wen habt Ihr denn in der Straße Coupe-Gueule vergangene Nacht ausgeplündert?«

Johann warf seinen blonden Lockenkopf in den Nacken und sagte hochmüthig mit halbgeschlossenen Augen:

»Man hat einen Bruder, der Archidiaconus und ein schwacher Mann ist.«

»Donner und Hagel!« rief Phöbus, »ein würdiger Herr!«

»Wir wollen trinken,« sagte Johann.

»Wohin werden wir gehen?« fragte Phöbus; »nach dem ›Apfel der Eva‹?«

»Nein, Hauptmann, wir wollen zur ›Alten Weisheit‹ gehen. Eine Alte, in deren Kannen die Weisheit steckt, das ist ein Wortspiel; ich liebe so etwas.« 35

»Fort mit den Wortspielen, Johann! Der Wein ist besser im ›Apfel der Eva‹, und dann steht neben der Thüre ein Weinstock im Sonnenscheine, der mich lustig macht, wenn ich trinke.«

»Nun gut! auf zur Eva und ihrem Apfel,« sprach der Student und ergriff den Arm des Phöbus. »Was ich sagen wollte, mein lieber Hauptmann, Ihr habt soeben die Straße Coupe-Gueule genannt. Das ist sehr übel gesprochen; man ist gegenwärtig nicht mehr so barbarisch. Man sagt: die Straße Coupe-Gorge.« 36

Die beiden Freunde machten sich nach dem »Apfel der Eva« auf den Weg. Es ist überflüssig zu erwähnen, daß sie vorerst das Geld zusammenrafften, und daß der Archidiaconus ihnen folgte.

Der Archidiaconus folgte ihnen düster und voll leidenschaftlichen Sinnes nach. War der da der Phöbus, dessen verfluchter Name seit seiner Zusammenkunft mit Gringoire sich in alle seine Gedanken drängte? Er wußte es nicht; kurz aber, es war ein Phöbus, und dieser magische Name war hinreichend, daß der Archidiaconus den beiden sorglosen Genossen nachschlich, wobei er ihren Worten lauschte, und ihre geringsten Bewegungen mit ängstlicher Aufmerksamkeit beobachtete. Uebrigens war nichts so leicht, als alles das zu hören, was sie sagten: so laut sprachen sie, und so wenig thaten sie sich Zwang an, die Straßenpassanten an ihren Geheimnissen teilnehmen zu lassen. Sie unterhielten sich von Zweikämpfen, Mädchen, Zechereien und sonstigen Possen.

An der Krümmung einer Straße vernahmen sie den Lärm einer baskischen Trommel, der von der nächsten Straßenecke her erklang. Dom Claude hörte, wie der Offizier sagte:

»Donnerwetter! wir wollen unsere Schritte verdoppeln.«

»Warum, Phöbus?«

»Ich befürchte, daß die Zigeunerin mich erblickt.«

»Welche Zigeunerin?«

»Die Kleine mit der Ziege.«

»Die Esmeralda?«

»Ganz recht, Johann. Ich vergesse immer diesen verteufelten Namen. Laßt uns eilen; sie würde mich wiedererkennen. Ich mag nicht, daß dies Mädchen mich auf der Straße anredet.«

»Kennt Ihr sie denn, Phöbus?«

Hier sah der Archidiaconus, wie Phöbus kicherte, sich zu Johanns Ohre neigte und diesem ganz leise einige Worte sagte; darauf brach Phöbus in ein Gelächter aus und schüttelte den Kopf mit einer triumphirenden Miene.

»In Wahrheit?« fragte Johann.

»Bei meiner Seele!« sprach Phöbus.

»Heute Abend?«

»Heute Abend.«

»Seid Ihr sicher, daß sie kommen wird?«

»Aber seid Ihr thöricht, Johann? Kann man an dergleichen zweifeln?«

»Hauptmann Phöbus, Ihr seid ein glücklicher Ritter!«

Der Archidiaconus hörte diese ganze Unterhaltung an. Seine Zähne klapperten: ein sichtbarer Schauder durchbebte seinen ganzen Körper. Er blieb einen Augenblick stehen, stützte sich wie ein Trunkener auf einen Eckstein; dann nahm er die Fährte der beiden lustigen Schelme wieder auf.

In dem Augenblicke, wo er sie wieder einholte, hatten sie die Unterhaltung verändert. Er hörte sie aus vollem Halse den alten Refrain singen:

»Erzschelme blähen sich ohne Bangen,
Kleine Diebe werden gehangen!«

  1. Lateinisch: »Herr Gott, Dich loben wir!« Anfangsworte des Ambrosianischen Lobgesanges. Anm. d. Uebers.
  2. Lateinisch: Bei der Bewahrung einer eigenartigen Gestalt eine schöne Seele. Anm. d. Uebers.
  3. Die Worte Johanns bilden im französischen Originale einen deutsch nicht wiederzugebenden Wortwitz. Aus den Worten des Wirthshausschildes »Vieille-Science« (Alte Weisheit) macht der Student das homophonische: Une »vieille« qui »scie« une »anse« (eine Alte, die einen Henkel zerschneidet).
  4. Coupe-Gueule: Halsabschneider; Coupe-Gorge: Kehlabschneider. Beide Namen bezeichnen eine berüchtigte Straße. Anm. d. Uebers.

7. Der gespenstige Mönch.

Das berühmte Wirthshaus »Zum Apfel der Eva« lag im Universitätsviertel, an der Ecke der Rue de la Rondelle und der Rue de la Bâtonnier. Das Ganze bestand aus einem ziemlich großen und sehr niedrigen Saale im Erdgeschosse, mit einer Deckenwölbung, deren mittlerer Bogen auf einem großen, gelbfarbigen Holzpfeiler ruhte. Ueberall standen Tische, glänzende Zinnkannen hingen an der Wand; stets waren zahlreiche Trinker und Mädchen im Ueberflusse vorhanden; ein Glasfenster führte auf die Straße, ein Weinstock stand neben der Thüre; und über dieser Thüre befand sich eine knarrende Platte von Eisenblech, auf welche eine Frau und ein Apfel gemalt war; vom Regen mit Rost bedeckt, drehte sie sich auf einem eisernen Stabe im Winde. Diese Art Wetterfahne, die von der Straße aus sichtbar war, diente als Wirthshausschild.

Die Nacht sank nieder; die Straße lag in Finsternis gehüllt; das von Lichtern erhellte Wirthshaus leuchtete von weitem wie eine Schmiede in der Dunkelheit. Man hörte Gläsergeklirr, den Lärm von Schmausereien, von Flüchen und Streitereien, welcher durch die zerbrochenen Fensterscheiben herausdrang. Durch den Dunst hindurch, welchen die Hitze des Saales über den Glasvorbau verbreitete, sah man zahlreiche Gestalten bunt durch einander wimmeln, und von Zeit zu Zeit klang ein schallendes Gelächter heraus. Die Straßenpassanten, welche ihren Geschäften nachgingen, eilten, ohne die Blicke hineinzuwerfen, an diesem lärmenden Fenster vorüber. Irgend ein kleiner, zerlumpter Junge höchstens hob sich auf den Fußspitzen bis zum Fensterbrette des Vorbaues und rief das alte spöttische Hohngeschrei: »Scher‘ dich, Saufsack, Saufsack, Saufsack!« mit dem man damals die Trunkenbolde verfolgte, in die Schenke hinein. Unterdessen ging ein Mann unbeirrt vor der geräuschvollen Schenke auf und ab, blickte unaufhörlich hinein und entfernte sich nicht weiter davon, als ein Landsknecht von seinem Schilderhause. Er hatte sich bis an die Nase in seinen Mantel gehüllt. Diesen Mantel hatte er soeben bei dem Trödler gekauft, der neben dem »Apfel der Eva« wohnte, ohne Zweifel um sich gegen die Kälte der Märzabende zu schützen, vielleicht auch um sein Gewand zu verbergen. Von Zeit zu Zeit blieb er vor dem trüben Butzenscheibenfenster stehen: er horchte, sah hinein und stampfte mit dem Fuße auf.

Endlich öffnete sich die Thüre der Schenke. Darauf gerade schien er zu warten. Zwei Zecher traten heraus. Der Lichtstrahl, welcher durch die Thüre drang, röthete einen Augenblick ihre fröhlichen Gesichter. Der Mann im Mantel stellte sich unter einer Thürhalle auf der andern Seite der Straße auf die Lauer.

»Donner und Wetter!« sagte der eine der beiden Zecher. »Sieben Uhr wird es gleich sein. Es ist die Stunde meines Stelldicheins.«

»Ich sage Euch,« fuhr sein Gefährte mit schwerer Zunge fort, »daß ich nicht in der Rue-des-Mauvaises-Paroles wohne, indignus, qui inter mala verba habitat. 37 Meine Wohnung ist in der Rue Jean-Pain-Mollet, in vico Johannis Pain-Mollet. Ihr seid gehörnter als ein Einhorn, wenn Ihr das Gegentheil behauptet. Jeder weiß, daß, wer einmal auf einem Bären reitet, niemals Furcht hat; aber Ihr habt Eure Nase zur Lüsternheit gewendet, wie Sanct-Jacob de l’Hôpital.«

»Johann, mein Freund, Ihr seid betrunken,« sagte der andere.

Der andere antwortete wankend: »Es macht Euch Vergnügen, das zu behaupten, Phöbus; aber es ist erwiesen, daß Plato das Gesicht eines Jagdhundes hatte.«

Der Leser hat zweifelsohne unsere beiden braven Freunde, den Hauptmann und den Studenten, schon wiedererkannt. Offenbar hatte der Mann, der sie in der Dunkelheit beobachtete, beide gleichfalls erkannt; denn er folgte langsamen Schrittes allen Zickzacks, die der Student den Hauptmann machen ließ, welcher, als ein kampfbereiterer Trinker, seine ganze Kaltblütigkeit bewahrt hatte. Der Mann im Mantel hörte ihnen aufmerksam zu, und konnte die ganze folgende interessante Unterhaltung vernehmen:

»Zum Teufel! so bemühet Euch doch, geradeaus zu gehen, Herr Baccalaureus; Ihr wißt, daß ich Euch verlassen muß. Eben schlägt es sieben. Ich habe ein Stelldichein mit einem Frauenzimmer.«

»Laßt mich doch, sage ich Euch! Ich sehe Sterne und feurige Lanzen. Ihr seid wie das Schloß Dampmartin, das vor Lachen zerberstet.«

»Bei den Warzen meiner Großmutter, Johann, das heißt mit zu großer Beharrlichkeit Unsinn schwatzen. Was ich sagen wollte, Johann, habt Ihr kein Geld mehr?«

»Herr Rector, es ist kein Fehler mehr darin: das kleine Schlachthaus, parva boucheria.«

»Johann, mein Freund Johann! Ihr wißt, daß ich dieser Kleinen ein Stelldichein am Ende der Sanct-Michaelsbrücke zugesagt habe, und daß ich sie nur zur Falourdel, der Kupplerin an der Brücke, führen kann, und daß ich das Zimmer werde bezahlen müssen. Die alte Vettel mit dem weißen Barte wird mir keinen Credit geben. Johann! bitte! Haben wir wirklich den ganzen Beutel des Pfaffen verzecht? Ist nicht ein Pariser Heller mehr übrig geblieben?«

»Das Bewußtsein, die übrige Zeit gut angewendet zu haben, ist eine richtige und schmackhafte Tafelwürze.«

»Bauch und Gedärme! Zum Teufel mit dem albernen Gewäsch! Sagt mir, Teufelsjohann, habt Ihr noch etwas Geld übrig? Gebt her, bei Gott! oder ich will Euch durchsuchen, wäret Ihr auch aussätzig wie Hiob und krätzig wie Cäsar!«

»Herr, die Straße Galiache ist eine Straße, die mit einem Ende an die Rue-de-la-Verrerie und mit dem andern an die Rue-de-la-Tixeranderie grenzt.«

»Nun gut, ja! mein lieber Freund Johann, mein armer Kamerad, die Straße Galiache, allerdings, es ist ganz recht. Aber in des Himmels Namen, kommt doch zur Besinnung. Ich brauche nur einen Pariser Sou, und zwar wegen des Stelldicheins um sieben Uhr.«

»Still ringsum! und Achtung aus den Refrain:

Wenn die Ratten fressen die Katz‘ –
In Arras wird der König Herr vom Platz;
Und wenn das Meer, so tief und klar,
Zufriert um Sanct Johann – fürwahr.
Dann wird man die Leute von Arras sehn.
Wie sie aus der Stadt über’s Eis hingehn.«

»Nun denn, Schüler des Antichrist, mögest du mit den Gedärmen deiner Mutter erdrosselt werden!« rief Phöbus aus; und er stieß heftig den betrunkenen Studenten von sich, welcher gegen die Mauer taumelte und schlaff auf das Pflaster aus Philipp Augusts Zeiten her niedersank. Mit dem Bodensatze jenes brüderlichen Mitleidens, das im Herzen eines Trinkers niemals erlischt, rollte Phöbus seinen Kamerad Johann mit dem Fuße auf eines jener Ruhekissen der Armuth, welche die Vorsehung im Winkel aller Ecksteine von Paris bereit hält, und welche die Reichen verächtlicherweise mit dem Namen »Kehrichthaufen« brandmarken. Der Hauptmann legte den Kopf Johanns auf einem abschüssigen Haufen von Kohlstrünken zurecht, und im nämlichen Augenblicke begann der Student mit einem prächtigen Tenore zu schnarchen. Im Herzen des Hauptmanns war indessen nicht jeder Groll erloschen. »Um so schlimmer, wenn dich der Karren des Teufels im Vorbeifahren aufliest!« rief er dem armen entschlummerten Studenten zu und ging davon.

Der Mann im Mantel, der unterlassen hatte, ihm weiter zu folgen, stand einen Augenblick vor dem schlafenden Studenten still, wie wenn Unentschlossenheit in ihm sich regte; dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und entfernte sich gleichfalls zur Weiterverfolgung des Hauptmanns.

Wie sie beide wollen wir Johann unter dem gütigen Schutze des freien Himmels schlafen lassen, und wenn es dem Leser gefällt, ihnen gleichfalls nachfolgen.

Wie der Hauptmann Phöbus in die Straße Saint-André-des-Arcs einschwenkte, bemerkte er, daß jemand ihm folgte. Als er zufällig die Blicke zur Seite wandte, sah er eine Schattengestalt, welche hinter ihm an den Mauern entlang hinschlich. Er blieb stehen, sie blieb auch stehen; er setzte sich wieder in Bewegung, der Schatten that dasselbe. Das beunruhigte ihn nur in sehr geringem Maße. »Ach was!« sprach er zu sich selbst, »ich habe nicht einen Sou.« Vor der Façade des Collegiums Autun machte er Halt. In dieser Bildungsanstalt hatte er kurze Zeit das getrieben, was er »Studien machen« nannte; und nach neckischer Schülergewohnheit, die an ihm haften geblieben war, ging er niemals vor dem Gebäude vorbei, ohne daß er der Bildsäule des Cardinals Peter Bertrand, die zur Rechten des Einganges in Stein gemeißelt war, jene Schändungsart angedeihen ließ, über die sich Priapus so bitter in der Satire von Horaz: »Olim truncus eram ficulnus« 38 beklagt. Er hatte dabei so viel Eifer entwickelt, daß die Inschrift der Statue »Eduensis episcopus« 39 fast ganz verwischt war. Er blieb also, wie er gewohnt war, vor dieser Bildsäule stehen. Die Straße war vollständig einsam. Im Augenblicke, wo er, die Nase hoch, gelassen seine Nestelschnüren wieder festband, bemerkte er den Schatten, der sich ihm langsamen, so langsamen Schrittes näherte, daß er vollkommen Muße hatte, zu erkennen, daß dieser Schatten einen Mantel und Hut trug. Als er in seine Nähe gekommen war, hielt er an und stand unbeweglicher, als die Bildsäule des Cardinals Bertrand da. Dabei heftete er auf Phöbus seine starren Blicke, die voll jenes unruhigen Feuers waren, welches nachts aus der Pupille einer Katze strahlt.

Der Hauptmann war muthig und würde sich sehr wenig um einen Dieb mit dem Knüttel in der Hand gekümmert haben. Aber diese wandelnde Statue, dieser Stein gewordene Mensch machten ihn starr vor Entsetzen. Es circulirten damals allerlei Geschichten von einem gespenstigen Mönche im Munde der Leute, der nachts in den Straßen von Paris sein Wesen treiben sollte, und diese kamen ihm dunkel in die Erinnerung. Er blieb einige Minuten bestürzt stehen; schließlich brach er das Schweigen, indem er sich zum Lachen zwang:

»Herr, wenn Ihr ein Räuber seid, wie ich erwarte, so werdet Ihr denselben Erfolg bei mir haben, wie wenn ein Reiher sich an eine Nußschale macht. Mein Lieber, ich bin der Sohn einer heruntergekommenen Familie. Wendet Euch hier nebenan. In der Kapelle dieses Collegiums befindet sich Holz vom echten Kreuze Christi, welches in silbernem Behälter ruht.«

Die Hand des Schatten streckte sich unter seinem Mantel hervor und fiel auf Phöbus‘ Arm mit der Wucht einer Adlerklaue nieder. Zugleich sprach der Schatten:

»Hauptmann Phöbus von Châteaupers!«

»Was der Teufel!« sagte Phöbus, »Ihr wißt meinen Namen!«

»Ich weiß nicht nur Euern Namen,« fuhr der Mann im Mantel mit seiner Grabesstimme fort. »Ihr habt heute Abend ein Stelldichein.«

»Ja,« antwortete Phöbus erstaunt.

»Um sieben Uhr.«

»In einer Viertelstunde.«

»Bei der Falourdel.«

»Ganz recht.«

»Der Kupplerin an der Sanct-Michaelsbrücke.«

»Des heiligen Erzengel Michael, wie das Vaterunser sagt.«

»Gottloser!« murmelte das Gespenst. »Mit einem Frauenzimmer?«

»Confiteor.« 40

»Welche heißt …«

»Die Esmeralda,« sagte Phöbus lebhaft. Seine ganze Sorglosigkeit war nach und nach bei ihm wiedergekommen.

Bei diesem Namen schüttelte die Kralle des Schatten wüthend den Arm des Phöbus.

»Hauptmann Phöbus von Châteaupers, du lügst!«

Wer in diesem Augenblicke das zornflammende Angesicht des Hauptmanns hätte sehen können, den Rückprall, den er nach hinten machte, und der so heftig war, daß er sich von der zangenartigen Hand, die ihn gepackt hielt, losriß; wer die stolze Geberde hätte betrachten können, mit der seine Hand nach dem Gefäße seines Degens fuhr, und diesem Zorne gegenüber die düstre Unbeweglichkeit des Mannes im Mantel, – wer das hätte beobachten können, würde entsetzt gewesen sein. Es war etwas wie der Kampf Don Juans mit der Bildsäule.

»Christus und Satan!« schrie der Hauptmann. »Das war ein Wort, welches selten das Ohr eines Châteaupers trifft! Du dürftest nicht wagen, es noch einmal zu wiederholen?«

»Du lügst!« sagte der Schatten mit eisiger Ruhe.

Der Hauptmann knirschte mit den Zähnen. Den gespenstigen Mönch, Schattenbild und abergläubische Gedanken – alles hatte er in diesem Augenblicke vergessen. Er sah nichts weiter, als einen Menschen und hörte nur eine Beleidigung. »Ha! das fängt gut an!« stotterte er mit vor Wuth erstickter Stimme. Er zog seinen Degen, dann rief er zitternd, weil der Zorn, wie die Furcht zittern macht: »Hierher! sofort! frisch! die Degen! die Degen heraus! Blut muß ich auf diesen Steinen sehen!«

Der andere jedoch rührte sich nicht. Als dieser seinen Gegner auf der Hut und bereit zu bersten sah, sprach er, während der Ton seiner Stimme in Bitterkeit bebte:

»Hauptmann Phöbus, Ihr vergeßt Euer Stelldichein.«

Die leidenschaftlichen Aufwallungen der Menschen vom Schlage eines Phöbus sind wie Milchsuppen, deren Sieden ein einziger Tropfen kalten Wassers niederschlägt. Dieses einfache Wort ließ den Degen sinken, der in der Hand des Hauptmanns funkelte.

»Hauptmann,« fuhr der Mann fort, »morgen, übermorgen, in einem Monate, in zehn Jahren sollt Ihr mich wieder bereit finden, Euch die Kehle durchzuschneiden; aber geht jetzt zu Eurem Stelldichein.«

»In der That,« sagte Phöbus, als ob er mit sich selbst zu kapituliren suchte, »das sind zwei hübsche Abenteuer, ein Duell und ein Mädchen bei einem Stelldichein zu finden; aber ich sehe nicht ein, warum ich mir das eine für das andere entgehen lassen sollte, wenn ich sie alle beide haben kann.«

Er steckte den Degen wieder in die Scheide.

»Gehet zu Eurem Stelldichein,« wiederholte der Unbekannte.

»Herr,« antwortete Phöbus mit einiger Verlegenheit, »viel Dank für Eure Artigkeit. Allerdings wird es morgen immer noch Zeit sein, uns mit Schlitzen und Schmarren das Wamms Vater Adams zu zerfetzen. Ich weiß es Euch Dank, daß Ihr mir erlaubt, noch eine Viertelstunde angenehm zu verleben. Ich hoffte wohl, Euch in den Rinnstein zu legen, und noch zur Zeit zur Schönen zu kommen, um so mehr, als es zum guten Tone gehört, die Weiber in solchem Falle ein wenig warten zu lassen. Aber Ihr scheint mir ein entschlossener Patron zu sein, und es ist sicherer, die Partie auf morgen zu verschieben. Ich gehe also zu meinem Stelldichein; es ist auf die siebente Stunde verabredet, wie Ihr wißt.« Hierbei kratzte sich Phöbus hinter dem Ohre. »Ach, zum Teufel! ich vergaß! Ich habe nicht einen Sou, um die Miethe für die Dachkammer zu bezahlen, und die alte Vettel wird vorher bezahlt werden wollen. Sie traut mir nicht.«

»Hier habt Ihr etwas zum bezahlen.«

Phöbus fühlte, wie die kalte Hand des Unbekannten ein großes Geldstück in die seinige schob. Er konnte sich nicht enthalten, das Geld zu nehmen und diese Hand zu drücken.

»Bei Gott im Himmel!« rief er aus, »Ihr seid eine gute Seele!«

»Eine Bedingung!« sagte der Mann. »Beweist mir, daß ich unrecht gehabt habe, und daß Ihr wahr gesprochen habt. Versteckt mich in irgend einem Winkel, von dem aus ich sehen kann, ob dieses Weib in Wahrheit diejenige ist, deren Namen Ihr mir genannt habt.«

»O!« antwortete Phöbus, »das ist mir sehr gleichgiltig. Wir wollen das Zimmer der heiligen Martha benutzen; Ihr könnt von dem Loche aus, das nebenan ist, nach Belieben zusehen.«

»Kommt also,« erwiderte der Schatten.

»Zu Euren Diensten,« sagte der Hauptmann. »Ich weiß nicht, ob Ihr nicht der Herr Teufel in höchst eigner Person seid; aber wir wollen heute Abend gute Freunde sein, morgen will ich Euch alle meine Schulden mit der Börse und mit dem Degen bezahlen.«

Sie machten sich beide wieder in höchster Eile auf den Weg. Nach Verlauf einiger Minuten verkündete ihnen das Rauschen des Stromes, daß sie sich auf der Sanct-Michaelsbrücke befanden, die damals mit Häusern bedeckt war.

»Ich will Euch zunächst hineinführen,« sagte Phöbus zu seinem Gefährten, »dann will ich die Schöne holen, die mich am Klein-Châtelet erwarten soll.«

Der Gefährte antwortete nichts; so lange sie Seite an Seite hinwanderten, hatte er kein Wort gesprochen. Phöbus hielt vor einer niedrigen Thüre an und klopfte heftig; ein Licht zeigte sich an den Spalten der Thüre.

»Wer ist da?« rief eine kreischende Stimme.

»Beim Leibe Gottes! beim Haupte Gottes! bei Gottes Gebeinen!« antwortete der Hauptmann.

Die Thüre öffnete sich sofort und zeigte den Ankömmlingen ein altes Weib und eine alte Lampe, die alle beide zitterten. Die Alte war vollständig gekrümmt, in Lumpen gehüllt, wackelte mit dem Kopfe, welchen sie mit einem Tuche verhüllt hatte, und aus welchem kleine Augen herausblitzten. Sie war vollständig runzelig an den Händen, im Gesicht, am Nacken; ihre Lippen traten unter das Zahnfleisch zurück, und rings um den Mund hatte sie Büschel von weißen Barthaaren, die ihr das schnurrige Aussehen einer Katze verliehen. Das Innere der Hütte war ebenso verfallen, wie die Alte; ihre Mauern getüncht, die Balken der Decke geschwärzt, der Kamin eingestürzt, Spinneweben hingen an allen Ecken; in der Mitte stand eine Reihe wackliger Tische und zerbrochener Schemel, in der Asche saß ein schmutziges Kind, und im Hintergrunde erblickte man eine Treppe oder vielmehr eine hölzerne Leiter, welche zu einer Fallthüre in der Decke hinaufführte. Beim Eintritt in diese Höhle zog der geheimnisvolle Begleiter des Phöbus seinen Mantel bis zu den Augen in die Höhe. Doch beeilte sich der Hauptmann, der fortwährend wie ein Sarazene fluchte, »das Licht in einem Thaler glänzen zu lassen«, wie unser bewundernswürdiger Régnier sich ausdrückt. »Das Zimmer zur heiligen Martha,« sagte er.

Die Alte titulirte ihn »gnädiger Herr« und verbarg den Thaler in einer Schublade. Es war das Geldstück, welches der Mann im Mantel dem Phöbus gegeben hatte. Während daß sie den Rücken wandte, näherte sich der kleine langhaarige und zerlumpte Junge, welcher in der Asche spielte, geschickt der Schublade, nahm den Thaler heraus und legte an seine Stelle ein trockenes Blatt, welches er aus einem Reisigbündel abgepflückt hatte.

Die Alte gab den beiden Edelleuten, wie sie sie nannte, ein Zeichen, ihr zu folgen, und stieg die Leiter vor ihnen in die Höhe. Als sie im obern Stocke angekommen war, setzte sie ihre Lampe auf eine Kiste, und Phöbus, als Stammgast des Hauses, öffnete eine Thüre, die in ein dunkles Gelaß führte. »Tretet da hinein, mein Lieber,« sagte er zu seinem Begleiter. Der Mann im Mantel gehorchte, ohne ein Wort zu erwidern; die Thüre fiel hinter ihm wieder ins Schloß; er hörte, wie Phöbus sie mit dem Riegel verschloß, und einen Augenblick nachher mit der Alten die Leiter wieder hinabstieg. Das Licht war verschwunden.

  1. Lateinisch (in freier Übersetzung): »Ehrlos ist, wer in der Zänkerstraße (übelberüchtigten Straße) wohnt.« Die lateinischen Worte, auch die folgenden, sind jedesmal die Übersetzung des französischen Straßennamens. Anm. d. Uebers.
  2. Lateinisch: Einst war ich ein Feigenbaumstrunk.
  3. Lateinisch: Bischof von Autun. Anm. d. Uebers.
  4. Lateinisch: Ich bekenne es. Anm. d. Uebers.

8. Nutzen der Fenster, die nach dem Flusse hinausgehen.

Claude Frollo (denn wir setzen voraus, daß der Leser, welcher verständiger als Phöbus ist, bei diesem ganzen Abenteuer keinen andern gespenstigen Mönch gesehen hat, als den Archidiaconus), Claude Frollo tastete einige Augenblicke in dem finstern Verstecke umher, in das ihn der Hauptmann eingeriegelt hatte. Es war einer von jenen Winkeln, wie solche manchmal die Baumeister am Einigungspunkte zwischen Dach und Stützmauer übrig behalten. Der senkrechte Durchschnitt dieses Loches, wie es Phöbus so treffend bezeichnet hatte, hätte ein Dreieck gegeben. Uebrigens war weder ein Fenster noch eine Luke vorhanden, und die Neigung des Daches verhinderte, daß man aufrecht darin stehen konnte. Claude kauerte sich also in den Staub und in den Gypsschutt, der unter ihm zerdrückt wurde, nieder; sein Kopf glühte, und während er rings um sich mit den Händen hin- und hertastete, fand er ein Stück zerbrochenes Glas am Boden, welches er an seine heiße Stirne drückte, und dessen Kühle ihm ein wenig Linderung gewährte.

Was ging in diesem Augenblicke in der düstern Seele des Archidiaconus vor? Er und Gott allein konnten das wissen. Nach welcher unseligen Reihenfolge ordnete er die Esmeralda, Phöbus, Jacob Charmolue, seinen jungen, so sehr geliebten und von ihm auf der Straße zurückgelassenen Bruder, sein Priestergewand als Archidiaconus, vielleicht seinen guten Namen, der im Hause der Falourdel zurückblieb, – kurz alle diese Bilder, alle diese Ereignisse in seinen Gedanken? Aber gewiß ist, daß diese Gedanken in seinem Geiste eine fürchterliche Verbindung bildeten.

Er wartete eine Viertelstunde lang; es kam ihm vor, als ob er ein Jahrhundert durchwacht hätte. Plötzlich hörte er die Stufen der hölzernen Treppe knacken; jemand stieg herauf. Die Fallthüre öffnete sich wieder; ein Licht kam zum Vorschein. In der wurmstichigen Thüre seines Gelasses befand sich eine ziemlich weite Spalte; er drückte sein Gesicht daran. Auf diese Weise konnte er alles sehen, was sich im benachbarten Zimmer zutrug. Die Alte mit dem Katzengesichte stieg, ihre Lampe in der Hand, zuerst aus der Fallthür heraus, dann Phöbus, der sich seinen Schnurrbart in die Höhe strich, und dann eine dritte Person: die Esmeralda, diese schöne und reizende Gestalt. Der Priester sah sie wie eine blendende Erscheinung aus dem Boden heraufsteigen. Claude zitterte, eine Wolke lagerte sich auf seine Augen, seine Pulsadern schlugen mit Macht, alles rauschte und drehte sich um ihn; er sah und hörte nichts mehr.

Als er wieder zu sich kam, waren Phöbus und die Esmeralda allein; sie saßen auf dem hölzernen Kasten neben der Lampe, welche diese jugendlichen Gestalten und ein elendes Bett im Hintergrunde der Dachkammer in die Augen des Archidiaconus springen ließ.

Neben dem Bette war ein Fenster, dessen zertrümmerte Butzenscheiben, die einem vom Regen zerrissenen Spinnennetze glichen, durch ihre zerbrochenen Rundungen ein Stück Himmel und den Mond erblicken ließen, der in der Ferne auf einem Daunenkissen von zarten Wolken ruhte.

Das junge Mädchen war schamroth, außer Fassung und zitterte. Ihre langen, gesenkten Wimpern beschatteten die Purpurwangen. Der Offizier, auf den sie ihre Augen nicht zu erheben wagte, strahlte vor Verlangen. Mechanisch und mit einer reizenden Geberde von Verlegenheit zeichnete sie mit der Spitze des Fingers unzusammenhängende Linien auf die Bank und blickte auf ihren Finger nieder. Ihren Fuß sah man nicht; die kleine Ziege hatte sich darauf gekauert. Der Hauptmann war sehr artig gekleidet: um den Hals und die Handgelenke trug er Puffen von Goldlitze, für die damalige Zeit eine große Zierde.

Nur mit Mühe vermochte Dom Claude zu hören, was sie sich sagten, so heftig rollte sein Blut, das ihm in den Schläfen kochte.

(Es ist ein ziemlich alltägliches Etwas um eine verliebte Plauderei. Sie ist ein beständiges »Ich liebe dich«, – eine wohlklingende Redensart, die sehr nackt und fade für diejenigen klingt, welche sie gleichgiltig anhören: es müßte denn sein, daß sie mit etwas »Schmuckwerk« verziert ist; aber Claude hörte nicht als Gleichgiltiger zu.)

»Ach!« sagte das junge Mädchen, ohne die Augen aufzuschlagen, »verachtet mich nicht, gnädiger Herr Phöbus. Ich fühle, daß das, was ich gethan habe, unrecht ist.«

»Euch verachten, schönes Kind!« entgegnete der Offizier mit einer Miene überlegener und vornehmer Galanterie, »Euch verachten, beim Haupte Gottes! und warum?«

»Daß ich Euch gefolgt bin.«

»In dieser Hinsicht, meine Schöne, verstehen wir uns nicht. Ich müßte Euch nicht verachten, sondern Euch hassen.«

Das junge Mädchen sah ihn erschrocken an: »Mich hassen! Was habe ich denn gethan?«

»Dafür, daß Ihr Euch so sehr habt bitten lassen.«

»Wehe!« sprach sie … »ich bin einem Gelübde untreu geworden. Ich kann meine Eltern nicht wieder sehen … das Amulet wird seine Kraft verlieren. Aber was thut das? Was bedarf ich jetzt eines Vaters und einer Mutter?«

Während sie so sprach, heftete sie ihre großen schwarzen, von Freude und Zärtlichkeit feuchten Augen auf den Hauptmann.

»Soll der Teufel mich holen, wenn ich Euch verstehe!« rief Phöbus.

Die Esmeralda schwieg einen Augenblick, dann rollte eine Thräne aus ihren Augen, ein Seufzer entrang sich ihren Lippen, und sie sprach: »Ach! gnädiger Herr, ich liebe Euch.« Um das junge Mädchen verbreitete sich ein solcher Duft von Reinheit, ein derartiger Zauber von Keuschheit, daß Phöbus sich in ihrer Nähe nicht ganz behaglich fühlte. Doch ermuthigte ihn dieses Wort. »Ihr liebt mich!« sagte er mit leidenschaftlicher Aufwallung und legte seinen Arm um den Leib der Zigeunerin. Er wartete nur auf diese Gelegenheit.

Der Priester sah es und prüfte mit der Fingerspitze die Spitze eines Dolches, welchen er in seinem Busen versteckt trug.

»Phöbus,« fuhr die Zigeunerin fort, während sie sanft die pressenden Hände des Hauptmanns von ihrem Gürtel losmachte, »Ihr seid gut, Ihr seid edelmüthig, Ihr seid schön; Ihr habt mich gerettet, mich, die ich nur ein armes, unter die Zigeuner gerathenes Kind bin. Lange Zeit träume ich von einem Offiziere, der mir das Leben rettet. Von Euch träumte ich, ehe ich Euch kannte, mein Phöbus; mein Traum zeigte mir eine schöne Uniform, wie Ihr sie habt, ein stolzes Aussehen, einen Degen; Ihr heißt Phöbus, das ist ein schöner Name; ich liebe Euern Namen, ich liebe Euern Degen. Ziehet doch Euern Degen, damit ich ihn sehe.«

»O Kind,« sagte der Hauptmann, und er zog lächelnd seinen Schläger aus der Scheide.

Die Zigeunerin betrachtete den Griff, die Klinge, prüfte mit reizender Neugierde den Namenszug am Stichblatte, und küßte den Degen, wobei sie zu ihm sprach: »Du bist der Degen eines Tapfern. Ich liebe meinen Hauptmann.«

Phöbus benutzte diese Gelegenheit wenigstens, um einen Kuß auf ihren schönen, niedergeneigten Nacken zu drücken, worüber das junge Mädchen, rothgeworden wie eine Kirsche, in die Höhe fuhr. Der Priester knirschte darüber die Zähne in seinem dunkeln Loche.

»Phöbus,« begann die Zigeunerin wieder, »erlaubt mir, daß ich zu Euch rede. Gehet doch ein wenig auf und ab, auf daß ich Euch, in Eurer ganzen Größe sehe, und daß ich Eure Sporen klirren höre. Wie schön Ihr seid!«

Der Hauptmann stand auf, um sich ihr gefällig zu erweisen, und murmelte ihr mit einem selbstgefälligen Lächeln zu: »Aber was seid Ihr für ein Kind! Doch da wir davon reden, Liebchen, habt Ihr mich denn im Paradewaffenrocke gesehen?«

»Leider nein!« antwortete sie.

»Der ist erst prächtig!«

Phöbus setzte sich wieder neben sie nieder, aber viel näher, als vorher.

»Hört mich an, meine Süße …«

Die Zigeunerin gab ihm mit ihrer niedlichen Hand ein paar leise Schläge auf den Mund, wobei ihre ganze Kindlichkeit voll Muthwillen, Anmuth und Frohsinn zu Tage trat.

»Nein, nein, ich will Euch nicht anhören. Liebt Ihr mich? Ich will, daß Ihr mir sagt, ob Ihr mich liebt.«

»Ob ich dich liebe, Engel meines Lebens!« rief der Hauptmann aus und sank halb vor ihr auf die Knie nieder. »Mein Leib, mein Blut, meine Seele – alles gehört dir, alles ist nur für dich. Ich liebe dich und habe niemanden, als dich allein geliebt.«

Der Hauptmann hatte diese Redensart in mancher ähnlichen Lage so viele Male wiederholt, daß er sie in einem Athemzuge, ohne einen einzigen Gedächtnisfehler zu machen, vortrug. Bei dieser leidenschaftlichen Liebeserklärung sandte die Zigeunerin zur schmutzigen Decke, die hier den Himmel vertrat, einen Blick voll himmlischen Glückes empor. »Ach!« flüsterte sie, »das ist der Augenblick, wo man sterben sollte!«

Phöbus fand »den Augenblick« für geeignet, um ihr einen neuen Kuß zu rauben, welcher den unglücklichen Archidiaconus in seinem Winkel von neuem marterte.

»Sterben!« rief der Hauptmann aus. »Was sagt Ihr da doch, schöner Engel? Jetzt ist die Gelegenheit, zu leben, oder Jupiter ist nur ein Possenreißer! Sterben beim Beginn einer so süßen Angelegenheit! Beim Horn des Stieres, welcher Scherz! … So ist’s nicht gemeint … Höret mich an, meine theure Similar … Esmenarda … Verzeihung! Aber Ihr habt einen so seltsamen sarazenischen Namen, daß ich mich nicht herausfinden kann. Er ist ein Gestrüpp, in dem ich stets hängen bleibe.«

»Mein Gott,« sagte das arme Mädchen, »ich, ich hielt diesen Namen wegen seiner Seltsamkeit für hübsch! Aber da er Euch mißfällt, möchte ich lieber Goton heißen.«

»Ach! härmen wir uns nicht wegen so Unbedeutenden, meine Süße; es ist ein Name, an den man sich gewöhnen muß, und damit genug. Wenn ich ihn einmal auswendig weiß, wird es schon von selbst gehen. Hört mich also, meine theure Similas: ich bete Euch bis zum Wahnsinne an. Ich liebe Euch wahrhaftig, daß es ein Wunder ist. Ich kenne eine Kleine, die darüber vor Wuth berstet …«

Das eifersüchtige Mädchen unterbrach ihn: »Wen denn?«

»Was, mein Gott, thut das uns?« sagte Phöbus; »liebt Ihr mich?«

»Ach! …« sagte sie.

»Nun gut! Das ist die Hauptsache. Ihr sollt sehen, wie auch ich Euch liebe. Mag mich der große Teufel Neptunus aufspießen, wenn ich Euch nicht zum glücklichsten Geschöpfe der Welt mache. Wir wollen irgendwo ein hübsches kleines Häuschen miethen. Ich will meine Bogenschützen unter Eurem Fenster paradiren lassen. Sie sind alle beritten und bieten denjenigen des Hauptmanns Mignon Trotz. Ich habe Hellebardiere, Armbrustschützen und Artilleristen mit Handfeldschlangen. Ich will Euch zu den großen Schaugeprängen der Pariser im Speicher von Rully führen. Achtzigtausend bewaffnete Leute, dreißigtausend blanke Harnische, Koller oder Panzerhemden, die siebenundsechzig Banner der Gewerke, die Standarten des Parlaments, der Rechnungskammer, der Generalschatzkammer, der Münzgehilfen, – mit einem Worte: ein verteufelter Prunk. Ich werde Euch auch die Löwen im königlichen Schlosse zeigen, welche Rothwild sind. Alle Frauenzimmer sehen so etwas gern.«

Seit einigen Minuten träumte das junge Mädchen, in liebliche Gedanken versunken, beim Klange seiner Stimme, ohne auf den Sinn seiner Worte zu achten.

»O! Ihr sollt glücklich sein!« fuhr der Hauptmann fort, und zu gleicher Zeit löste er leise den Gürtel der Zigeunerin.

»Was thut Ihr denn?« sagte sie erregt. Diese Gewalttätigkeit hatte sie aus ihrer Träumerei gerissen.

»Nichts,« antwortete Phöbus; »ich sagte nur, daß Ihr diesen närrischen und gassenmäßigen Anzug aufgeben müßtet, wenn Ihr bei mir bleiben wollt.«

»Wenn ich bei dir sein werde, mein Phöbus!« sagte das junge Mädchen zärtlich.

Sie wurde nachdenklich und schwieg.

Der Hauptmann, durch ihre Sanftmuth dreist gemacht, faßte sie um den Leib, ohne daß sie widerstand, begann dann ganz leise das Mieder des armen Mädchens aufzuschnüren und zog das Busentuch so tief herunter, daß der keuchende Priester die schöne nackte, runde und braune Schulter der Zigeunerin aus der Spitzenhülle hervortreten sah, wie den Mond, der im Nebel am Horizonte sich erhebt.

Das junge Mädchen ließ Phöbus gewähren. Sie schien es nicht zu merken. Das Auge des dreisten Hauptmanns funkelte. Plötzlich wandte sie sich nach ihm hin:

»Phöbus,« sagte sie mit einem Ausdrucke unendlicher Liebe, »unterweise mich in deiner Religion.«

»In meiner Religion?« rief der Hauptmann und brach in ein Gelächter aus. »Ich Euch in meiner Religion unterweisen? Donner und Wetter! Was wollt Ihr mit meiner Religion anfangen?«

»Um uns zu heirathen,« antwortete sie.

Das Gesicht des Hauptmanns nahm einen Ausdruck an, in dem sich Ueberraschung, Verachtung, Gleichgiltigkeit und zügellose Leidenschaft vermischten.

»Ach was!« sagte er, »heirathet man sich denn?«

Die Zigeunerin wurde blaß und ließ traurig ihr Haupt auf den Busen sinken.

»Schönes Liebchen,« fuhr Phöbus zärtlich fort, »was sollen diese Thorheiten bedeuten? Es ist etwas Wichtiges um eine Heirath! Hat man sich etwa nicht so innig lieb, wenn man nicht mit lateinischen Brocken in der Bude eines Priesters um sich geworfen hat?«

Während er das mit innigstem Tone sprach, drängte er sich ganz nahe an die Zigeunerin heran; seine liebkosenden Hände hatten sich wieder um diesen zarten und schmiegsamen Leib geschlungen; sein Auge glühte immer mehr und mehr, und alles kündete an, daß Herr Phöbus sich offenbar einem jener Augenblicke näherte, in welchem Jupiter selbst so viele Thorheiten begeht, daß der gute Homer sich genöthigt sieht, eine Wolke zu seiner Hilfe herbeizurufen.

Dom Claude jedoch sah alles. Die Thüre war aus ganz verfaulten Faßdauben gemacht, die seinem Raubvogelblicke zwischen ihren Fugen freien Durchblick gestatteten. Dieser dunkelfarbige, breitschultrige Priester, der bis dahin zur strengen Keuschheit des Klosters verdammt gewesen war, schauerte und kochte bei dieser nächtlichen Liebes- und Wollustscene. Das junge und schöne Mädchen, das in ihrem Seelenaufruhr diesem feurigen Jünglinge ergeben war, verwandelte das Blut seiner Adern in geschmolzenes Blei. In seinem Innern gingen die seltsamsten Bewegungen vor sich; sein Auge heftete sich mit wollüstiger Eifersucht an jede dieser losgenestelten Nadeln. Wer in diesem Augenblicke das Antlitz des Unglücklichen hätte sehen können, das an die wurmstichigen Thürpfosten gepreßt war, hätte geglaubt, ein Tigergesicht zu schauen, das aus der Tiefe eines Käfigs heraus einen Schakal erblickt, der eine Gazelle verschlingt. Sein Auge blitzte wie eine Flamme durch die Spalten der Thüre.

Auf einmal zog Phöbus mit heftiger Bewegung das Busentuch von den Schultern der Zigeunerin. Das arme Kind, welches bleich und nachdenkend geblieben war, erwachte wie aus einem Traume; sie entfernte sich hastig von dem unternehmenden Offiziere, warf einen Blick auf ihren Busen und die entblößten Schultern, und kreuzte roth, verwirrt und stumm vor Scham ihre beiden Arme über der Brust, um sie zu bedecken. Stumm und bewegungslos, wie sie war, und ohne die Röthe, welche auf ihren Wangen flammte, hätte man sie für eine Bildsäule der Schamhaftigkeit halten können. Ihre Augen blieben am Boden geheftet.

Die Zudringlichkeit des Hauptmanns hatte zugleich das geheimnisvolle Amulet entblößt, das sie um den Hals trug.

»Was ist das?« fragte er, diesen Vorwand ergreifend, um sich dem schönen Geschöpfe, das er soeben verscheucht hatte, wieder zu nähern.

»Rühret nicht daran!« entgegnete sie lebhaft, »es ist mein Beschützer. Es wird mich meine Familie wiederfinden lassen, wenn ich dessen würdig bleibe. Ach! laßt mich in Frieden, Herr Hauptmann! Meine Mutter! meine arme Mutter! Meine Mutter, wo bist du? Komm mir zu Hilfe! Gnade, Herr Phöbus! gebt mir mein Busentuch wieder!«

Phöbus trat zurück und sagte mit kaltem Tone:

»O, Jungfer! nun sehe ich wohl, daß Ihr mich nicht liebt!«

»Ich ihn nicht lieben!« rief das arme unglückliche Kind, und zu gleicher Zeit hing sie sich an den Hauptmann, welchen sie neben sich niederzog. »Ich dich nicht lieben, mein Phöbus! Was sprichst du da, böser Mann, um mir das Herz zu zerreißen? Ach! komm! nimm mich hin, nimm alles! Mache mit mir, was du willst, ich bin dein. Was mache ich mir aus dem Amulete? was aus meiner Mutter? Du bist meine Mutter, da ich dich ja liebe! Phöbus, mein heißgeliebter Phöbus, siehst du mich? Ich bin es, sieh mich an; es ist jene Kleine, welche du doch nicht von dir stoßen wirst; die da kommt, die selbst kommt, um dich zu suchen. Meine Seele, mein Leben, mein Leib, meine Person, – alles das ist ein Ding, das dir gehört, mein Hauptmann. Gut denn, nein! heirathen wir uns nicht; es ist dir zuwider; und dann, was bin ich denn, ich? Ein elendes Mädchen aus dem Rinnsteine, während daß du, mein Phöbus, ein Edelmann bist. Wahrhaftig, es wäre spaßhaft! eine Tänzerin einen Offizier heirathen! – Ich war thöricht. Nein, Phöbus, nein; ich will deine Geliebte sein, dein Zeitvertreib, dein Vergnügen, wann du es wünschest; ein Mädchen, das dir gehören will. Ich bin nur dazu geschaffen, beschimpft, verachtet, entehrt zu werden: aber was thut’s? wenn ich geliebt bin! Ich will die stolzeste und die glücklichste aller Frauen sein. Und wenn ich alt oder häßlich werde, Phöbus, wenn ich nicht mehr gut bin, deine Liebe zu genießen, gnädiger Herr: dann werdet Ihr mich noch um Euch dulden, um Euch zu dienen. Andere werden Euch dann Schärpen sticken; ich, die Magd, will dafür Sorge tragen. Ihr werdet mir erlauben, Eure Sporen zu putzen, Euren Waffenrock zu bürsten, Eure Reiterstiefeln vom Staube zu reinigen. Nicht wahr, mein Phöbus, Ihr werdet dieses Mitleid für mich haben? Bis dahin nimm mich hin! Siehst du, Phöbus, alles das gehört dir, liebe mich nur! Wir Zigeunerinnen, wir bedürfen nichts als dessen: Luft und Liebe.«

Bei diesen Worten schlang sie ihre Arme um den Hals des Offiziers; sie blickte ihn von oben bis unten an, flehend und mit einem süßen, ganz in Thränen erstickten Lächeln. Ihr zarter Busen drängte sich an das Tuchwamms und die scharfen Stickereien. Sie wand ihren schönen, halbnackten Leib auf seinen Knien. Der berauschte Hauptmann drückte seine glühenden Lippen auf diese schönen afrikanischen Schultern. Das junge Mädchen bebte, die Augen zur Decke erhoben, nach hinten übergesunken und am ganzen Leibe zitternd, unter seinem Kusse.

Auf einmal sah sie über Phöbus‘ Kopfe einen andern Kopf: ein fahles, gelbes, verzerrtes Gesicht mit dem Blicke eines Verdammten; bei diesem Gesichte zeigte sich eine Hand, welche einen Dolch hielt. Es war das Gesicht und die Hand des Priesters; er hatte die Thüre erbrochen und war da. Phöbus konnte ihn nicht sehen. Das junge Mädchen war regungslos, erstarrt, sprachlos bei der furchtbaren Erscheinung: wie eine Taube, welche den Kopf in dem Augenblicke erheben will, wo der Falke mit seinen starren Augen in ihr Nest schaut.

Sie konnte nicht einmal einen Schrei ausstoßen. Sie sah, wie der Dolch auf Phöbus niedersank und sich rauchend wieder hob.

»Verflucht!« stöhnte der Hauptmann und sank nieder.

Sie fiel in Ohnmacht.

In dem Augenblicke, wo ihre Augen sich schlossen, wo jede Empfindung in ihr hinschwand, glaubte sie zu empfinden, daß ein feuriger Druck, ein glühenderer Kuß, als das rothe Eisen des Henkers, sich auf ihre Lippen preßte.

Als sie ihre Besinnung wieder gewann, war sie von Soldaten der Wache umgeben; man trug den Hauptmann in seinem Blute schwimmend davon; der Priester war verschwunden; das Fenster im Hintergrunde des Zimmers, welches auf den Fluß hinausging, stand ganz weit offen; man hob einen Mantel auf, welcher, wie man vermuthete, dem Offizier gehörte, und sie vernahm die Worte um sich her:

»Das ist eine Hexe, die einen Hauptmann erdolcht hat.«

4. ΑΝΑΤΚΗ. 7

An einem schönen Morgen des nämlichen Monats März, ich glaube, es war am neunundzwanzigsten, einem Sonnabende, am Tage des heiligen Eustache, bemerkte unser junger Freund, der Student Johann Frollo du Moulin, als er sich eben ankleidete, daß die Taschen, die seine Börse enthielten, nicht den leisesten Metallklang von sich gaben. »Arme Börse,« sprach er, indem er sie aus der Hosentasche zog, »was! nicht der geringste Pariser Heller mehr drin! wie haben dich doch die Würfel, Bierkannen und Venus 8 grausamerweise ausgebeutelt! Wie bist du nun leer, runzlig und schlaff! Du gleichst dem Schlunde einer Furie! Ich bitte euch, Herr Cicero und Herr Seneca, deren ganz verschrumpfte Exemplare ich verstreut auf dem Boden liegen sehe, was nützt es mir, besser als ein Münzmeister oder ein Jude von der Wechslerbrücke zu wissen, daß ein goldener Kronthaler fünfunddreißig Unzen, jede zu fünfundzwanzig Sous acht Pariser Heller gilt, und daß ein Kreuzthaler sechsunddreißig Unzen, zu sechsundzwanzig Sous und sechs Heller Tours’sche Münze das Stück macht, wenn ich nicht einen erbärmlichen schwarzen Heller an eine Doppel-Sechse zu wagen habe! Ach! Consul Cicero! das ist doch keine Calamität, aus der man sich mit Umschreibungen, mit einem » quemadmodum« 9 oder »verum enim vero« 10 herauszieht!«

Er kleidete sich mürrisch an. Ein Gedanke war ihm gekommen, während er sich die Schuhe zuschnallte; aber er wies ihn anfangs von sich; jedoch kam er wieder; und er zog seine Weste verkehrt an, was offenbar das Zeichen eines heftigen, inneren Kampfes ist. Schließlich warf er seine Mütze zur Erde und rief: »Desto schlimmer! es mag kommen, wie es wolle. Ich will zu meinem Bruder gehen! Ich werde da zu einer Strafpredigt kommen, aber auch einen Thaler erwischen.«

Dann zog er schleunigst sein pelzverbrämtes Wamms an, raffte seine Mütze auf und ging verzweifelt davon.

Er ging die Rue-de-la-Harpe nach der Altstadt hinab. Als er an der Rue-de-la-Huchette vorbeikam, begann der Duft jener bewunderungswürdigen Bratspieße, die sich hier beständig drehen, sein Geruchsorgan zu kitzeln, und er warf einen verliebten Blick in die cyklopische Garküche hinein, die eines Tages dem Franziskaner Calatagironne jenen pathetischen Ausruf entlockte: » Veramente, queste rotisserie sono cosa stupenda11 Aber Johann besaß nichts, womit er frühstücken konnte, und er verschwand mit einem tiefen Seufzer unter dem Thore von Klein-Châtelet, diesem ungeheuern Doppel-Kleeblatte von massiven Thürmen, das den Zugang zur Altstadt hütete.

Er nahm sich nicht einmal die Zeit, im Vorbeigehen, wie es Sitte war, einen Stein nach dem Standbilde jenes elenden Périnet Leclerc zu werfen, welcher unter Karl dem Sechsten Paris an die Engländer verrathen hatte, ein Verbrechen, welches sein Bildnis, dessen Fläche von Steinwürfen zerschellt und mit Koth besudelt war, drei Jahrhunderte lang, wie an einem ewigen Pranger, an der Ecke der Rue-de-la-Harpe und der Rue-de-Buci hat büßen müssen.

Als Johann de Molendino die Kleine Brücke überschritten und die Rue Neuve-Sainte-Genevieve durchwandert hatte, befand er sich vor Notre-Dame. Nun packte ihn wieder die Unentschlossenheit, und er spazierte einige Augenblicke um die Bildsäule des Herrn Legris herum, wobei er sich beklommen die Worte wiederholte: »Die Strafpredigt ist dir gewiß, der Thaler ist zweifelhaft!«

Er hielt einen Kirchendiener an, der aus dem Kloster kam. »Wo ist der Herr Archidiaconus von Josas?«

»Ich glaube, daß er sich in seinem Thurmverstecke befindet,« sagte der Diener, »und ich rathe Euch nicht, ihn da zu stören, wenn Ihr nicht etwa von Seiten jemands, wie des Papstes oder unseres gnädigen Herrn, des Königs, kommt.«

Johann schlug die Hände zusammen. »Ei! der Teufel! das ist ja eine prächtige Gelegenheit, das berüchtigte kleine Zaubergemach kennen zu lernen!«

Von diesem Gedanken getrieben, verschwand er entschlossen in der kleinen, dunkeln Pforte, und begann die Wendeltreppe des heiligen Aegidius, welche nach den obern Stockwerken des Thurmes führt, hinaufzusteigen. »Ich will mich überzeugen!« sprach er unterwegs zu sich. »Bei den Schmerzen der heiligen Jungfrau! es muß doch ein sonderbares Etwas mit dieser Zelle sein, die mein ehrwürdiger Bruder verbirgt wie seine Scham! Man behauptet, er heize hier riesige Herde und lasse den Stein der Weisen bei mächtigem Feuer sieden. Bei Gott! ich sorge mich um den Stein der Weisen so viel, wie um einen Kieselstein, und möchte auf seinem Herde lieber einen Ostereierkuchen mit Speck, als den größten Stein der Weisen von der Welt finden!«

Als er auf der Säulchengalerie angelangt war, verschnaufte er einen Augenblick, und fluchte zahllose Karren voll Teufel auf die endlose Treppe herab; dann setzte er seinen Aufgang durch die enge Thüre des nördlichen Thurmes fort, die jetzt dem Publikum verboten ist. Als er nach einigen Augenblicken an der Glockenstube vorübergekommen war, traf er auf einen kleinen Treppenabsatz, welcher in eine Seitenvertiefung führte; und unter der Wölbung auf eine niedrige Spitzbogenthüre, deren eine, gegenüber in die Zirkelmauer der Treppe gebrochene Schießscharte, ihm das ungeheure Schloß und den mächtigen Eisenbeschlag zu bemerken gestattete. Alle die Personen, die heute neugierig sein könnten, diese Thür zu besichtigen, vermögen sie an folgender Inschrift zu erkennen, die in hellen Buchstaben auf die dunkle Mauer eingegraben ist: »Ich bete Coralie an, 1823. Unterzeichnet: Ugène.« (»Unterzeichnet« steht im Wortlaute.)

»O!« sagte der Student, »hier ist es sicherlich.«

Der Schlüssel stak im Schlosse. Die Thüre war nur angelehnt; er machte sie sacht auf und steckte den Kopf durch die Oeffnung.

Der Leser wird gewiß schon das bewundernswürdige Werk Rembrandts, dieses Shakespeares der Malerei, durchgeblättert haben. Unter den vielen bewunderungswürdigen Stichen ist namentlich ein Blatt, das, wie man vermuthet, den Doctor Faust vorstellt, und das man ohne geblendet zu werden, nicht betrachten kann. Es stellt eine düstere Zelle vor; in der Mitte steht ein mit scheußlichen Gegenständen (Todtenköpfen, Planetengloben, Retorten, Compassen, hieroglyphenbeschriebenen Pergamenten) bedeckter Tisch. Der Doctor befindet sich vor diesem Tische, in seinen großen Ueberrock gehüllt, das Haupt bis zu den Brauen mit der Pelzmütze bedeckt. Man sieht von ihm nur die Hälfte des Leibes. Er hat sich, halb aus seinem ungeheuern Lehnstuhle erhoben; die runzeligen Hände stützen sich auf den Tisch, und er betrachtet mit Neugierde und Schrecken einen großen, leuchtenden, aus magischen Buchstaben geformten Kreis, der auf der Mauer im Hintergrunde wie das Sonnenspectrum in dem dunkeln Zimmer glänzt. Diese kabbalistische Sonne scheint vor dem Auge zu flimmern und erfüllt die matterleuchtete Zelle mit ihrem geheimnisvollen Scheine. Es ist schrecklich und schön zugleich.

Etwas der Zelle Fausts ziemlich Aehnliches bot sich dem Auge Johanns dar, als er seinen Kopf durch die halbgeöffnete Thür zu stecken gewagt hatte. Es war gleichfalls ein düsteres und kaum erleuchtetes Gemach. Auch hier befanden sich ein großer Lehnstuhl und ein großer Tisch, Compasse, Destillirkolben, an der Decke hängende Thierskelette, auf dem Boden ein rollender Himmelsglobus, Pferdeköpfe im bunten Gemisch mit Glasflaschen, in denen Blattgold flimmerte, Todtenköpfe, welche auf Pergamentblättern ruhten, die über und über mit Figuren und Schriftzeichen besäet waren, dicke Handschriften, welche ganz geöffnet und ohne Rücksicht auf die geknickten Pergamentecken, übereinander lagen, kurz – aller Kehricht der Wissenschaft, und überall auf diesem Wirrwarr Staub und Spinneweben; aber nirgends fand sich der Kreis aus leuchtenden Buchstaben, kein Doctor in Verzückung, der die flammende Erscheinung betrachtete, so wie der Adler nach seiner Sonne blickt …

Dennoch war die Zelle durchaus nicht einsam. Ein Mann saß in dem Lehnstuhle und auf den Tisch gebeugt. Johann, welchem er den Rücken zukehrte, konnte nur seine Schultern und das Hintertheil des Kopfes sehen; aber es war nicht schwer, diesen Kahlkopf zu erkennen, dem die Natur eine unvergängliche Tonsur gegeben hatte, als ob sie durch dieses äußerliche Sinnbild die unwiderlegliche kirchliche Bestimmung des Archidiaconus hätte andeuten wollen.

Johann erkannte nun seinen Bruder; aber die Thür hatte sich so leise geöffnet, daß nichts den Dom Claude von seiner Gegenwart benachrichtigt hatte. Der neugierige Student benutzte dies, um einige Augenblicke die Zelle mit Muße auszukundschaften. Ein breiter Kochofen, den er anfänglich nicht bemerkt hatte, befand sich links vom Stuhle unter dem Fenster. Der Lichtstrahl, der durch diese Oeffnung hereinfiel, drang durch das runde Gewebe einer Spinne, welche ihre seine Rosette geschmackvoll im Bogen des Dachfensters angebracht hatte, und in deren Mitte das webekundige Thier, als das Centrum dieses Spitzenrades, unbeweglich saß. Auf dem Ofen waren allerlei Arten von Gefäßen, Steingutkruken, Glasretorten, Destillirkolben mit Kohle bunt durcheinander aufgestellt. Seufzend bemerkte Johann, daß sich keine Bratpfanne darunter befand. »Es ist kalt – das Küchengeschirr!« dachte er.

Uebrigens war kein Feuer im Ofen, und es schien sogar, daß man seit langem keins darin angezündet hatte. Eine gläserne Maske, welche Johann unter den Geräthschaften für Alchymie beobachtete, und die ohne Zweifel dazu diente, das Gesicht des Archidiaconus, wenn er irgend eine fürchterliche Substanz zubereitete, zu schützen, lag mit Staub bedeckt und anscheinend vergessen in einer Ecke. Daneben lag ein ebenso staubiger Blasebalg, und seine obere Fläche trug folgende in kupfernen Buchstaben eingelegte Inschrift: »Spira, Spera.« 12

Andere Inschriften fanden sich, nach Sitte der Alchymisten, in großer Zahl an die Wände geschrieben; einige mit Tinte gezogen, andere mit einem metallenen Griffel eingegraben: übrigens gothische, hebräische, griechische und lateinische Schriftzüge in bunter Reihe durcheinander durch; die Inschriften aufs Gerathewohl hingeschrieben, diese über jene weg, so daß die neuesten die ältern unleserlich machten, und alle sich durcheinander wirrten, wie die Zweige eines Gestrüppes, oder wie die Lanzen bei einem Handgemenge. Es war in der That ein ziemlich wirres Gemisch aus allen philosophischen Systemen, von allerlei Einfällen, von allerlei Weisheitssprüchen der Menschheit. Hier und da stand ein solcher Ausspruch, der über alle andern, wie eine Fahne unter Lanzenspitzen hervorglänzte. Gewöhnlich war es ein kurzer lateinischer oder griechischer Denkspruch, wie solche das Mittelalter so trefflich ausdrückte: »Unde? inde? – Homo homini monstrum. – Astra, castra, nomen, numen. – Μέγα βιβλιον, μέγα χαχόν – Sapere aude. – Fiat ubi vult etc.; 13 manchmal ein Wort, das augenscheinlich jeden Sinnes entblößt war, wie: Αναγχοφαγια – was vielleicht eine bittere Anspielung auf die Klosterherrschaft enthielt; bisweilen endlich einen einfachen Lehrsatz aus der Kirchenzucht, der in einen regelrechten Hexameter gekleidet war, wie folgenden: »Coelestem dominum terrestrem dicito domnum.« 14 Hier und da fanden sich auch hebräische Stellen, von denen Johann, der schon ein schwacher Grieche war, nichts verstand; und das Ganze wurde in jedem Augenblicke von Sternen, Menschen- oder Thierfiguren, von sich schneidenden Dreiecken durchkreuzt, was alles nicht wenig dazu beitrug, die besudelte Zellenwand einem Blatte Papier ähnlich zu machen, auf welchem ein Affe eine tintengefüllte Feder hätte herumspazieren lassen. Das ganze Zellchen gewährte übrigens den Anblick vollständiger Vernachlässigung und gänzlichen Verfalles; und der schlechte Zustand der Gerätschaften ließ vermuthen, daß der Besitzer schon ziemlich lange durch andere Beschäftigungen von seinen Arbeiten abgehalten war. Dieser Besitzer nun, welcher über ein dickes, mit seltsamen Malereien geschmücktes Manuscript gebückt war, schien von einem Gedanken gequält zu werden, welcher sich unaufhörlich in seine Betrachtungen einzumischen bestrebte. So wenigstens urtheilte Johann, als er ihn, nach langen, sinnenden Pausen, wie einen Menschen, der im tiefen Traume laut spricht, ausrufen hörte:

»Ja, Menu 15 sagte es und Zoroaster 16 lehrte es! Die Sonne entsteht aus Feuer, der Mond aus der Sonne; das Feuer ist die Seele des großen Alls; seine Grundsubstanztheilchen ziehen und rieseln unaufhaltsam in endlosen Strömungen durch die Welt! An den Punkten wo diese Strömungen sich am Himmel schneiden, erzeugen sie das Licht; an ihrem Schneidepunkte auf der Erde bringen sie das Gold hervor … Licht, Gold – beide sind dasselbe! Feuer im festen Zustande … Der Unterschied zwischen Sichtbarem und Greifbarem, zwischen Flüssigem und Festem bei einer und derselben Substanz, zwischen Wasserdampf und Eis, nichts weiter … Das sind durchaus keine Träumereien … das ist das allgemeine Gesetz in der Natur … Aber wie fängt man es an, um das Geheimnis dieses Naturgesetzes in die Wissenschaft herüberzuziehen? Was! dieses Licht, welches über meine Hand flutet, ist Gold? Es handelt sich nur darum, diese nämlichen, nach einem bestimmten Gesetze verbreiteten Substanztheilchen nach einem bestimmten andern Gesetze zu verdichten… Wie das anfangen? – Einige haben ausgedacht, einen Sonnenstrahl zu vergraben, Averrhoes 17 … ja, Averrhoes ist’s … Averrhoes hat einen solchen unter dem ersten Pfeiler, links vom Hochaltare des Koran, in der großen Moschee zu Cordova vergraben; aber man darf die Höhle erst in achttausend Jahren öffnen, um zu sehen, ob das Unternehmen gelungen ist.«

»Zum Teufel,« sagte Johann für sich, »das ist eine lange Zeit, auf einen Thaler zu warten.«

»… Andere haben gedacht,« fuhr der Archidiaconus fort, »daß es besser wäre, mit einem Lichtstrahle des Sirius zu operiren. Aber es ist sehr schwer, diesen Strahl rein zu bekommen, wegen der gleichzeitigen Nähe anderer Sterne, deren Strahlen sich mit ihm zu vereinigen pflegen. Flamel ist der Meinung, daß es einfacher wäre mit dem Erdfeuer zu operiren … Flamel! welch ein Name voll Vorherbestimmung. Flamma! 18 … Ja, das Feuer! das ist alles … der Diamant ist in der Kohle enthalten, das Gold befindet sich im Feuer. Aber wie soll man es herausziehen? … Magistri behauptet, daß es gewisse Frauennamen von so süßem und geheimnisvollem Zauber gäbe, daß es schon hinreiche, sie während der Operation auszusprechen … Wir wollen lesen, was Menu darüber sagt; »Wo die Frauen geehrt werden, da sind die Gottheiten erfreut; wo sie verachtet werden, da ist es unnütz, zu Gott zu beten. – Der Mund eines Weibes ist immer rein; er ist ein fließendes Wasser, ist ein Sonnenstrahl. – Der Name einer Frau muß angenehm, lieblich sein, die Phantasie anregen; muß auf lange Vocale endigen und Segensworten gleichen.« … »Ja, der Weise hat recht; in der That: Maria, Sophia, die Esmeral– … Hölle und Verdammnis! immer derselbe Gedanke!«

Und er machte das Buch heftig zu. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, als ob er einen Gedanken verjagen wollte, von dem er gequält wurde; dann nahm er vom Tische einen Nagel und einen kleinen Hammer, dessen Stiel sonderbar mit kabalistischen Zeichen bemalt war.

»Seit einiger Zeit,« sprach er mit bitterem Lächeln, »scheitere ich bei allen meinen Experimenten! Die fixe Idee beherrscht mich und ermattet mein Gehirn, wie ein feuriges Kleeblatt. Ich habe nicht einmal das Geheimnis des Cassiodorus 19 entdecken können, dessen Lampe ohne Docht und ohne Oel brannte. Und das ist doch eine so einfache Sache!«

»Daß dich die Pest –!« brummte Johann in den Bart.

»… So ist also,« fuhr der Priester fort, »ein einziger erbärmlicher Gedanke im Stande, einen Menschen schwach und albern zu machen! O! wie würde Claude Pernelle über mich lachen, sie, die den Nicolaus Flamel nicht einen Augenblick von der Fortsetzung seines großen Werkes abzuziehen vermocht hat! Was? Ich halte in meiner Hand den magischen Hammer des Zechieles! Bei jedem Schlage, den der furchtbare Rabbi aus der Tiefe seiner Zelle mit dem Hammer auf den Nagel that, versank derjenige seiner Feinde, den er verflucht hatte, und wäre er zweitausend Meilen weit entfernt gewesen, eine Elle tief in die Erde, die ihn verschlang. Der König von Frankreich selbst sank, als er unvorsichtigerweise an die Thüre des Wunderthäters klopfte, bis an die Knien in den Boden seiner Stadt Paris hinein … Das hat sich vor drei Jahrhunderten zugetragen … Nun gut! ich besitze den Hammer und den Nagel, und beides sind in meinen Händen keine fürchterlicheren Werkzeuge, als ein Hammer in den Händen eines Grobschmiedes. Und doch bedarf es blos das magische Wort wiederzufinden, welches Zechieles aussprach, wenn er auf seinen Nagel schlug.«

»Possen!« dachte Johann.

… Wollen sehen, wollen’s versuchen!« fuhr der Archidiaconus lebhaft fort. »Wenn es mir gelingt, so werde ich einen blauen Funken aus dem Nagelkopfe herausspringen sehen … Emen-Hetan! Emen-Hetan! … Das ist’s nicht… Sigeani! Sigeani! … Möge der Nagel das Grab unter demjenigen öffnen, der den Namen Phöbus trägt! … Verflucht! immer noch und ewig derselbe Gedanke!« Und zornig warf er den Hammer von sich. Dann ließ er sich so in den Lehnstuhl und über den Tisch gebeugt nieder, daß Johann ihn hinter dem ungeheuern Bücherhaufen ans dem Gesichte verlor. Einige Minuten lang sah er nichts mehr von ihm, als seine krampfhaft über dem Buche geballte Faust. Plötzlich stand Dom Claude auf, ergriff einen Zirkel und schnitt schweigend das griechische Wort:

ÁÍÁÔÊÇ

in großen Buchstaben in die Wand ein.

»Mein Bruder ist ein Narr,« sagte Johann für sich; »es wäre viel einfacher gewesen, »Fatum« 20 zu schreiben; nicht jeder ist verpflichtet, Griechisch zu verstehen.«

Der Archidiaconus setzte sich jetzt wieder in seinen Lehnstuhl, stützte den Kopf in beide Hände, wie ein Kranker zu thun pflegt, dessen Kopf schwer und glühend ist.

Der Student beobachtete seinen Bruder mit Erstaunen. Er freilich, der seinem Herzen freien Lauf ließ, der keinem Gesetze in der Welt, als dem wahren Naturgesetze, Folge leistete, er, der den Leidenschaften nach seinen Neigungen die Zügel schießen ließ, und bei dem der See großer Gemüthsbewegungen immer trocken war, weil er ihm jeden Morgen in freigebiger Weise neue Abzugsgräben öffnete – er begriff ihn nicht; er wußte nicht, mit welcher Raserei dieses Meer der menschlichen Leidenschaften wogt und schäumt, wenn man ihm jeden Abfluß versperrt, wie es anschwillt, wie es steigt, wie es über das Ufer tritt, wie es das Herz aushöhlt, wie es in innerem Schluchzen und dumpfen Zuckungen berstet, bis daß es seine Dämme zerrissen und sein Bett gesprengt hat. Die strenge und eisige Hülle Claude Frollo’s, diese kalte Außenseite schroffer und unnahbarer Tugend, hatte Johann immer getäuscht. Der fröhliche Student hatte niemals daran gedacht, daß kochende, rasende Lava tief unter dem schneeigen Gipfel des Aetna verborgen liegt.

Wir wissen nicht, ob er sich sofort von diesen Gedanken Rechenschaft gab; aber so leichtsinnig er auch war, so begriff er doch, daß er etwas gesehen hatte, was er nicht hätte sehen sollen; daß er die Seele seines ältern Bruders soeben in einer ihrer geheimsten Regungen überrascht hatte, und daß Claude dies nicht merken durfte. Wie er sah, daß der Archidiaconus in seine anfängliche Regungslosigkeit zurückgesunken war, zog er seinen Kopf ganz leise zurück und machte hinter der Thüre ein Geräusch von Tritten, wie jemand, der ankommt und seine Ankunft meldet.

»Herein!« rief der Archidiaconus aus dem Innern der Zelle; »ich erwartete Euch. Ich habe absichtlich den Schlüssel in der Thüre stecken lassen; tretet ein, Meister Jacob.«

Der Student trat dreist ein. Der Archidiaconus, den ein solcher Besuch an einem solchen Orte sehr in Verlegenheit setzte, erschrak in seinem Lehnstuhle. »Was!! Ihr seid es, Johann?«

»Es ist immerhin einer, dessen Namen mit J anfängt,« sagte der Student mit rothem, dreisten und fröhlichen Gesichte.

Das Antlitz Dom Claude’s hatte seinen strengen Ausdruck angenommen.

»Was habt Ihr hier zu schaffen?«

»Bruder,« antwortete der Student, der sich bemühte, eine sittsame, klägliche und bescheidene Miene anzunehmen, und seine Mütze mit einem Ausdrucke der Unschuld zwischen den Händen drehte, »ich wollte Euch bitten …«

»Um was?«

»Um ein wenig moralische Belehrung, die ich sehr nöthig habe.« Johann wagte nicht laut hinzuzusetzen: »Und um ein wenig Geld, das ich noch nöthiger habe.« Dieser letzte Theil seines Satzes blieb unausgesprochen.

»Junger Herr,« sagte der Archidiaconus mit kaltem Tone, »ich bin sehr unzufrieden mit Euch.«

»O weh!« seufzte der Student.

Dom Claude rückte mit seinem Lehnstuhle etwas herum und blickte Johann scharf an. »Es ist mir lieb, daß ich Euch sehe.«

Das war ein fürchterlicher Eingang. Johann machte sich auf einen heftigen Stoß gefaßt.

»Johann, es gehen mir täglich Beschwerden über Euch zu. Was ist das mit jener Schlägerei, bei der Ihr einen kleinen Vicomte Albert von Ramonchamp mit Stockhieben zugerichtet habt? …«

»O!« sagte Johann, »hat guten Grund! Ein erbärmlicher Page, der sich damit belustigte, die Studenten dadurch zu besudeln, daß er sein Pferd in den Koth traben ließ!«

»Was ist das dann,« fuhr der Archidiaconus fort, »mit Mahiet Fargel, dessen Rock Ihr zerrissen habt? Tunicam dechiraverunt, 21 besagt die Beschwerde.«

»Ach was! ein schäbiges Mützchen von Montaigu! Ist’s nicht so?«

»Die Beschwerde sagt » tunicam« und nicht » cappettam«. 22 Versteht Ihr Latein?«

Johann antwortete nicht.

»Ja,« fuhr der Priester fort und schüttelte den Kopf, »da haben wir’s, wie die Studien und die Wissenschaften jetzt beschaffen sind! Latein versteht man kaum noch, das Syrische ist unbekannt, das Griechische dermaßen verhaßt, daß es bei den ersten Gelehrten nicht für Unwissenheit gilt, ein griechisches Wort, ohne es zu lesen, zu überspringen, und daß man spricht: » Graecum est, non legitur23

Der Student schlug mit Entschlossenheit die Augen auf. »Herr Bruder, gestattet Ihr, daß ich Euch auf gut Französisch jenes griechische Wort erkläre, das da an die Mauer geschrieben ist?«

»Welches Wort?«

»ΑΝΑΤΚΗ«

Ein flüchtiges Roth überzog die faltigen Wangen des Archidiaconus gleich einem Rauchstoße, der äußerlich die inneren Erschütterungen eines Vulkanes ankündigt. Der Student bemerkte es kaum.

»Nun wohl, Johann!« stotterte der ältere Bruder mit Mühe, »was will dieses Wort sagen?«.

» Das Verhängnis

Dom Claude wurde bleich, und der Student fuhr in Sorglosigkeit fort: »Und jenes Wort, welches darunter steht, von der nämlichen Hand hineingekratzt: Αναγνεια bedeutet »Unlauterkeit«. Ihr sehet, daß man sein Griechisch versteht.«

Der Archidiaconus blieb stumm. Diese Lection im Griechischen hatte ihn nachdenklich gemacht. Der kleine Johann, der alle Kniffe eines nichtsnutzigen Burschen besaß, hielt den Augenblick für günstig, um sein Anliegen zu wagen. Er nahm daher einen äußerst sanften Ton an, und begann:

»Mein lieber Bruder, habt Ihr einen derartigen Haß auf mich, daß Ihr mir wegen ein Paar böser Ohrfeigen und Faustschlägen, die im offenen Kampfe an, Gott weiß, welche Buben und Fratzengesichter, quibusdam marmosetis, ausgetheilt wurden, ein böses Gesicht macht? Ihr seht, lieber Bruder Claude, daß man sein Latein versteht.«

Aber diese ganze schmeichelnde Gleißnerei machte auf den strengen großen Bruder durchaus nicht die gewohnte Wirkung. Cerberus 24 biß nicht in den Honigkuchen. Die Stirn des Archidiaconus entrunzelte sich nicht um eine Falte.

»Wo wollt Ihr damit hin?« sagte er im trockenen Tone.

»Nun gut, zur Sache! mein Anliegen ist das!« antwortete muthig Johann, »ich brauche Geld.«

Bei dieser dreisten Erklärung nahm die Physiognomie des Archidiaconus plötzlich einen schulmeisterlichen und väterlichen Ausdruck an.

»Ihr wißt, Herr Johann, daß unser Lehnsgut zu Tirechappe, wenn man den Grundzins und die Einkünfte von den einundzwanzig Häusern in Bausch und Bogen anschlägt, nur neununddreißig Livres, elf Sols und sechs Heller Pariser Geld einbringt. Das ist zwar um die Hälfte mehr, als zur Zeit der Gebrüder Paclet, aber es ist nicht viel.«

»Ich brauche Geld,« sagte Johann mit stoischer Ruhe.

»Ihr wißt, daß das geistliche Gericht entschieden hat, unsere einundzwanzig Häuser hängen als völliges Lehen vom Bisthume ab, und wir könnten den Lehnseid nur dadurch loskaufen, wenn wir dem ehrwürdigen Bischofe zwei Mark vergoldetes Silber im Werthe von sechs Livres Pariser Geld zahlen. Nun, diese zwei Mark habe ich noch nicht zusammenbringen können. Ihr wißt es.«

»Ich weiß, daß ich Geld brauche,« wiederholte Johann zum dritten Male.

»Und was wollt Ihr damit machen?«

Diese Frage ließ einen Hoffnungsschimmer in Johanns Augen erglänzen. Er nahm seine schmeichelnde und süßliche Miene wieder an.

»Glaubt mir, theurer Bruder Claude, ich werde mich in keiner schlechten Absicht an Euch wenden. Es handelt sich nicht darum, mir mit Euern Unzen in den Weinschenken einen schönen Tag zu machen, und in den Straßen von Paris mit meinem Lakeien, cum meo laquasio, auf goldbrokatener Pferdedecke spazieren zu reiten. Nein, Bruder, es handelt sich um ein gutes Werk.«

»Was für ein gutes Werk?« fragte Claude etwas überrascht.

»Da sind zwei meiner Freunde, welche für das Kind einer armen Witwe vom Kloster ein Wickelzeug kaufen wollen. Es ist ein Werk der Barmherzigkeit. Das wird drei Gulden kosten, und ich möchte das Meinige dazu beitragen.«

»Wie heißen Eure beiden Freunde?«

»Peter l’Assommeur und Baptist Croque-Oison.«

»Hm!« sagte der Archidiaconus; »das sind Namen, die zu einem guten Werke passen, wie eine Donnerbüchse auf einen Hochaltar.«

Sicherlich hatte Johann die zwei Freundesnamen sehr schlecht gewählt. Er fühlte das zu spät.

»Und dann,« fuhr der scharfsinnige Claude fort, »was ist das denn für ein Kinderzeug, welches drei Gulden kosten soll, und noch dazu für das Kind einer Klosterwitwe. Seit wann haben die Klosterwitwen Kinder im Wickelbette?«

Johann begann noch einmal im vertraulichen Tone:

»Nun gut, ja! ich brauche Geld, um heute Abend Isabeau-la-Thierrye im Val-d’Amour zu besuchen!«

»Elender Wüstling!« rief der Priester.

»Αναγνεια!« sagte Johann.

Dieses Citat, welches der Student vielleicht aus Bosheit der Wand der Zelle entlehnte, machte auf den Priester einen merkwürdigen Eindruck. Er biß sich in die Lippen, und sein Zorn erlosch in Schamröthe. »Verlaßt mich,« sagte er drauf zu Johann. »Ich erwarte jemanden.«

Der Student wagte noch eine Anstrengung.

»Bruder Claude, gebt mir wenigstens eine Kleinigkeit, um essen zu können.«

»Wie weit seid Ihr mit den Decretalien Gratians?« fragte Dom Claude.

»Ich habe meine Hefte verloren.«

»Wie weit seid Ihr mit den lateinischen Humanitätsstudien?«

»Man hat mir mein Exemplar des Horatius gestohlen.«

»Wo steht Ihr im Aristoteles?«

»Meiner Treu! Bruder, wer ist doch jener Kirchenvater, der da sagt, die Irrthümer der Ketzer hätten zu allen Zeiten das Buschwerk der Aristotelischen Metaphysik als Schlupfwinkel benutzt? Aristotelisches Heu! Ich will mir nicht meine Religion an seiner Metaphysik zerfetzen lassen.«

»Junger Mensch,« fuhr der Archidiaconus fort, »beim letzten Einzuge des Königs befand sich ein junger Edelmann, mit Namen Philipp von Comines, der auf der Schabracke seines Pferdes die gestickte Devise trug, die ich Eurem Nachdenken empfehle: »Qui non laborat, non manducet.« 25

Der Scholar schwieg einen Augenblick, den Finger am Ohre, das Auge an den Boden geheftet, und mit erzürnter Miene. Plötzlich kehrte er sich mit der lebhaften Geschwindigkeit einer Bachstelze nach Claude hin.

»Also, lieber Bruder, Ihr verweigert mir einen Pariser Sou, um mir ein Stück Brot bei einem Bäcker zu kaufen?«

»Qui non laborat, non manducet.«

Nach dieser Antwort des unbeugsamen Archidiaconus verbarg Johann das Gesicht in seinen Händen, wie ein schluchzendes Weib, und schrie mit dem Ausdrucke der Verzweiflung: »Οτοτοτοτοτοτοτο«

»Was soll das denn heißen, Bursche?« fragte Claude, von dieser Albernheit überrascht.

»Nun wohl, was!« sagte der Student, und er richtete auf Claude wieder die frechen Augen, in die er eben seine Fäuste gedrückt hatte, um ihnen die Röthung von Thränen zu geben.

»Das ist griechisch! Es ist ein Anapäst des Aeschylus, welcher auf das Vollkommenste den Schmerz ausdrückt.«

Und hierbei brach er in ein so närrisches und heftiges Lachen aus, daß er auch dem Archidiaconus ein Lächeln abnöthigte. Es war in der That Claude’s Schuld: warum hatte er diesen Buben so sehr verzogen?

»Ach! lieber Bruder Claude,« fuhr Johann, von diesem Lächeln ermuthigt, fort, »sehet einmal meine durchlöcherten Halbstiefeln an. Giebt es einen tragischern Cothurn in der Welt, als Stiefeln, deren Sohlen die Zunge herausstecken?«

Der Archidiaconus hatte plötzlich seinen ursprünglichen Ernst wieder gefunden.

»Ich werde Euch neue Stiefeln schicken, aber kein Geld.«

»Nur einen armen kleinen Sou, Bruder,« fuhr demüthig bittend Johann fort. »Ich werde den Gratian auswendig lernen; ich will gern an Gott glauben; ich will ein wahrer Pythagoras an Wissen und an Tugend sein. Aber einen kleinen Sou, wenn ich bitten darf! Wollt Ihr, daß mich der Hunger mit seinem Rachen verschlingt, der da klaffend vor mir steht, und schwärzer, stinkender und tiefer ist, als ein Tartarus, oder als die Nase eines Mönches?«

Dom Claude schüttelte sein runzliges Haupt.

»Qui non laborat …«

Johann ließ ihn nicht zu Ende kommen.

»Nun gut,« schrie er, »zum Teufel! Es lebe die Freude! Ich will mich in Schenken herumtreiben, mich prügeln, will Krüge zerschlagen und die Mädchen besuchen!«

Und dabei warf er seine Mütze gegen die Mauer und ließ seine Finger wie Castagnetten schnalzen.

Der Archidiaconus sah ihn mit finsterer Miene an.

»Johann, Ihr habt gar keine Seele.«

»In diesem Falle fehlt mir, nach Epikur, etwas, das aus einem namenlosen Etwas gemacht ist.«

»Johann, Ihr müßt ernstlich daran denken, Euch zu bessern.«

»Ach so!« rief der Student und sah bald seinen Bruder, bald die Retorten auf dem Herde an, »hier ist alles gehörnt, die Gedanken, wie die Flaschen!«

»Johann, Ihr seid an einem sehr schlüpfrigen Abhange. Wißt Ihr, wohin Ihr gehet?«

»In die Kneipe,« sagte Johann.

»Die Kneipe führt zum Pranger.«

»Das ist eine Laterne, wie alle andern; und mit dieser hätte vielleicht Diogenes seinen Menschen gefunden.«

»Vom Pranger führt der Weg zum Galgen.«

»Der Galgen ist eine Wage, an deren einem Ende ein Mensch, am andern die ganze Erde hängt. Es ist schön, der Mensch zu sein.«

»Der Galgen führt zur Hölle.«

»Das ist ein großes Feuer.«

»Johann, Johann, das Ende wird bös sein.«

»Dafür wird der Anfang gut gewesen sein.«

In diesem Augenblicke ließ sich das Geräusch von Schritten auf der Treppe hören.

»Still!« sagte der Archidiaconus und legte den Finger an den Mund, »das ist Meister Jacob. Höret, Johann,« fügte er mit leiser Stimme hinzu: »hütet Euch jemals von dem zu sprechen, was Ihr hier gesehen und gehört haben werdet. Verbergt Euch schnell unter diesem Ofen und rührt Euch nicht.«

Der Student duckte sich unter den Ofen; da fiel ihm ein fruchtbringender Gedanke ein. »Ganz recht, Bruder Claude, einen Gulden, damit ich still liegen kann.«

»Schweigt! ich verspreche ihn Euch.«

»Ihr müßt mir ihn geben.«

»So nimm denn!« sagte der Archidiaconus und warf ihm zornig seinen Geldbeutel zu. Johann kroch wieder unter den Ofen, und die Thüre öffnete sich.

  1. Griechisch: Verhängnis.
  2. Lateinisch: Die Göttin der (sinnlichen) Liebe.
  3. Lateinisch: Wie auch.
  4. Lateinisch: Doch, aber. Anm. d. Uebers.
  5. Italienisch: Wahrhaftig, diese Garküche ist eine staunenswerthe Sache! Anm. d. Uebers.
  6. Lateinisch: Blase, hoffe. Anm. d. Uebers.
  7. Lateinisch: Woher? daher? – Der Mensch ist für den Menschen ein Ungethüm. – Die Sterne, eine Festung; der Namen, eine Wundermacht. – Ein dickes Buch, ein großes Uebel (griechisch). – Wage weise zu sein. – Er weht, wo er will u. s. w.
  8. Lateinisch: Den himmlischen Herrn nenne deinen irdischen Gebieter. Anm. d. Uebers.
  9. Indischer Gesetzgeber.
  10. Reformator der Religion der Perser (im sechsten oder siebenten Jahrhunderte v. Chr. Geb.).
  11. Name eines arabischen Arztes und Philosophen († 1225). Anm. d. Uebers.
  12. Lateinisch: Die Flamme, das Feuer.
  13. Name eines lateinischen Geschichtsschreibers (um 570 nach Chr. Geb.). Anm. d. Uebers.
  14. Lateinisch: Verhängnis. Anm. d Uebers.
  15. Lateinisch: Das Gewand haben sie ihm zerrissen.
  16. Lateinisch: Kappe, Mütze.
  17. Lateinisch: Es ist griechisch, wird nicht gelesen. Anm. d. Uebers.
  18. Lateinisch: Der Höllenhund bei den Alten. Anm. d. Uebers.
  19. Lateinisch: Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Anm. d. Uebers.

5. Die beiden schwarzgekleideten Männer.

Die Person, welche eintrat, trug ein schwarzes Gewand und zeigte eine finstre Miene. Was beim ersten Blicke unserem Freunde Johann auffiel (der, wie man wohl denken kann, sich in seinem Winkel so eingerichtet hatte, um alles nach Belieben sehen und hören zu können), war die tiefe Trauer, welche in der Kleidung und im Antlitze des neuen Ankömmlings sich zeigte. Und dennoch war eine gewisse Freundlichkeit über dieses Gesicht ausgegossen; aber es war die Freundlichkeit einer Katze oder eines Richters, – kurz eine süßliche Freundlichkeit. Er war ganz grau, runzlig, streifte an die sechziger Jahre, zwinkerte mit den Augen, hatte weiße Augenbrauen, eine hängende Unterlippe und große Hände. Als Johann sah, daß es nur eine solche Persönlichkeit war, d. h. zweifelsohne ein Arzt oder ein Gerichtsbeamter, und daß dieser Mensch eine vom Munde weit entfernt stehende Nase im Gesichte hatte – das Zeichen der Dummheit –, so zog er sich in den Winkel seines Loches mit dem hoffnungslosen Gefühle zurück, daß er eine unbegrenzte Zeit in so unbequemer Lage und in so schlechter Gesellschaft zuzubringen haben würde.

Der Archidiaconus indessen hatte sich wegen dieser Persönlichkeit nicht einmal vom Stuhle erhoben. Durch ein Zeichen hatte er ihm angedeutet, sich auf einem Fußschemel neben der Thüre niederzulassen, und nach einigen Augenblicken des Schweigens, das ein vorausgegangenes Nachsinnen zu verlängern schien, hatte er ihm mit einem gewissen Gönnertone gesagt: »Guten Tag, Meister Jacob.«

»Ich grüße Euch, Meister,« hatte der schwarze Mann geantwortet.

Es lag in der Art und Weise, mit der von der einen Seite das »Meister Jacob«, und vorzugsweise von der andern das »Meister« ausgesprochen wurde, ein Unterschied, wie zwischen »gnädiger Herr« und »Herr«, wie zwischen »domine« und »domne«. Es war augenscheinlich die Anrede zwischen Lehrer und Schüler.

»Nun!« fuhr der Archidiaconus nach einem neuen Schweigen fort, das Meister Jacob nicht zu unterbrechen wagte, »gelingt es Euch?«

»Ach, theurer Meister,« sagte der andere mit einem trüben Lächeln, »ich blase immer zu. Asche, soviel als ich will. Aber kein Funken Gold.«

Dom Claude machte eine Geberde der Ungeduld. »Ich rede nicht davon mit Euch, Meister Jacob Charmolue, sondern vom Processe Eures Zauberers. Nicht wahr, Ihr nanntet ihn Mark Cenaine? Den Schaffner am Rechnungshofe? Gesteht er seine Zauberei ein? Ist Euch die Untersuchung geglückt?«

»Leider, nein!« antwortete Meister Jacob immer mit seinem trüben Lächeln; »wir haben nicht diesen Trost. Dieser Mensch ist ein Kieselstein; wir können ihn auf dem Ferkelmarkte sieden lassen, ehe er etwas gesteht. Indessen sparen wir nichts, um hinter die Wahrheit zu kommen; er ist schon ganz von der Folter verrenkt; wir haben schon alle Mittel aufgeboten, wie der alte Komiker Plautus sagt:

»Advorsum stimulos, laminas, crucesque, compedesque.
Nervos, catenas, carceres, numellas, pedicas, boia.«
26

27

Nichts hilft hier; dieser Mensch ist schrecklich. Mein Latein ist an ihm zu Ende.«

»Ihr habt nichts Neues in seinem Hause gefunden?«

»O doch,« sagte Meister Jacob, während er seine Tasche am Gürtel durchsuchte, »dieses Pergament. Es befinden sich Worte darauf, die wir nicht verstehen. Der Herr Criminalanwalt Philipp Lheulier versteht doch ein bißchen Hebräisch, das er im Processe des Juden aus der Straße Kantersten in Brüssel gelernt hat.«

Bei diesen Worten entrollte Meister Jacob ein Pergament. »Gebt her,« sagte der Archidiaconus. Und während er die Augen auf das Blatt richtete, rief er aus: »Die reine Zauberei, Meister Jacob! »Emen-Hetan!« das ist der Ruf der Nachtgeister, wenn sie zum Hexensabbath kommen. »Per ipsum, et cum ipso, et in ipso!« 28 Das ist das Gebot, welches den Teufel wieder in der Hölle festmacht. »Hax, pax, max!« das stammt aus der Heilkunde. Eine Formel gegen den Biß toller Hunde. Meister Jacob! Ihr seid königlicher Procurator beim Kirchengerichtshofe: dieses Pergament ist abscheulich!«

»Wir wollen den Mann wieder auf die Folter legen. Hier ist auch,« fügte Meister Jacob hinzu, während er von neuem in seiner Gürteltasche suchte, »etwas, was wir bei Mark Cenaine gefunden haben.«

Es war ein Gefäß von der Familie derer, welche den Herd Dom Claude’s bedeckten. »Ah!« sagte der Archidiaconus, »ein alchymistischer Schmelztiegel.«

»Ich will Euch gestehen,« fuhr Meister Jacob mit seinem schüchternen und linkischen Lächeln fort, »daß ich ihn auf dem Ofen probirt habe, aber es ist mir nicht besser gegangen, als mit dem meinigen.«

Der Archidiaconus fing an, das Gefäß zu prüfen. »Was hat er auf seinem Tiegel eingegraben? »Och! och!« das Wort, das die Flöhe vertreibt. Dieser Mark Cenaine ist ein Dummkopf! Ich glaube es wohl, daß Ihr damit kein Gold machen werdet! Es taugt gerade nur, es im Sommer in Euern Alkoven zu stellen, und zu weiter nichts!«

»Da wir gerade bei den Irrthümern stehen,« sagte der königliche Procurator, »so habe ich eben, ehe ich heraufkam, das Portal unten genau untersucht. Ist Euer Hochwürden ganz sicher, daß der Anfang des Schaffens der Natur dort nach dem Hôtel Dieu hin abgebildet ist, und daß unter den sieben nackten Figuren, welche an den Sockeln von Notre-Dame sich befinden, diejenige, welche Flügel an den Fersen hat, Merkur ist?«

»Ja,« antwortete der Priester; »denn Augustin Nypho schreibt es: jener italienische Doctor, welcher einen bärtigen Dämon besaß, der ihm alles offenbarte. Uebrigens wollen wir hinuntersteigen, und ich will Euch das am Gegenstande erläutern.«

»Dank, lieber Meister,« sprach Charmolue und neigte sich bis zur Erde … »Doch halt, ich vergaß! Wann soll ich die kleine Zauberin festnehmen lassen?«

»Welche Zauberin?«

»Jene Zigeunerin, die Ihr doch kennt, und die alle Tage auf dem Vorhofe tanzt, trotz des Verbotes des Officials! Sie hat eine besessene Ziege, welche Teufelshörner trägt, welche liest, schreibt, welche Mathematik versteht wie Picatrix, was alles schon hinreichen würde, jede Zigeunerin an den Galgen zu bringen. Der Proceß ist ganz bestimmt, er wird bald gemacht sein, nur zu! Ein reizendes Geschöpf, diese Tänzerin, bei meiner Seele! Die schönsten schwarzen Augen! Zwei ägyptische Karfunkel! Wann machen wir den Anfang?«

Der Archidiaconus war todtenblaß geworden.

»Ich werde Euch das sagen,« stotterte er mit kaum vernehmbarer Stimme; dann fuhr er mit Mühe fort: »Macht Euch nur mit Mark Cenaine zu schaffen.«

»Seid ohne Sorge,« sagte Charmolue lächelnd, »nach meiner Rückkunft will ich ihn wieder auf das lederne Bett schnallen lassen. Er ist aber ein Teufel von Menschen: er ermüdet selbst Pierrat Torterue, der doch stärkere Fäuste hat, als ich. Wie der gute Plautus sagt:

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Die Folterung auf der Haspel! Das ist das beste, was wir haben. Er soll darauf kommen.«

Dom Claude schien in eine düstere Zerstreutheit versunken zu sein. Er wandte sich nach Charmolue hin.

»Meister Pierrat … Meister Jacob, wollte ich sagen, macht Euch mit Mark Cenaine zu thun!«

»Ja, ja, Dom Claude. Der bedauernswerte Mensch! Es wird ihm ergangen sein, wie den Mummal. Welcher Gedanke aber auch, zu einer Walpurgisnacht zu gehen! Ein Schaffner des Rechnungshofes, der doch den Gesetzlaut Karls des Großen kennen sollte: »Stryga vel masca!« 30 … Was die Kleine betrifft … Esmeralda nennt man sie ja wohl … so werde ich Eure Befehle erwarten … Ach! wenn wir unter dem Portale durchgehen, möget Ihr mir auch erklären, was der Gärtner in Flachgrundmalerei bedeuten soll, den man beim Eintritte in die Kirche sieht. Ist es nicht der Säemann? … He! Meister, woran denkt Ihr denn?«

Dom Claude, der in sich versunken war, hörte nicht mehr auf ihn. Charmolue, welcher der Richtung seines Blickes folgte, sah, daß er unwillkürlich auf das große Spinnennetz gerichtet war, welches das Thurmfenster überzog. In diesem Augenblicke stürzte sich eine leichtsinnige Fliege, welche die Märzensonne aufsuchte, quer in das Gewebe und war gefangen. Bei der Erschütterung ihres Gewebes machte die ungeheure Spinne eine plötzliche Bewegung aus ihrem Sitze in der Mitte heraus, dann stürzte sie sich mit einem Sprunge auf die Fliege, welche sie mit ihren Vorderfühlern in zwei Hälften zusammenpreßte, während ihr scheußlicher Saugrüssel ihr den Kopf durchbohrte. »Arme Fliege!« sagte der königliche Procurator beim Kirchengerichtshofe, und er erhob die Hand, um sie zu retten. Der Archidiaconus, der plötzlich wie aus dem Schlafe ausfuhr, hielt ihm den Arm mit krampfhafter Heftigkeit fest.

»Meister Jacob,« schrie er, »lasset das Verhängnis walten!«

Der Procurator drehte sich bestürzt um; es schien ihm, als ob eine eiserne Zange ihn am Arme gepackt hielt. Das Auge des Priesters war starr, wild, flammend und haftete gebannt an der schrecklichen kleinen Gruppe aus Fliege und Spinne.

»Ach, ja!« fuhr der Priester mit einer Stimme fort, von der man sagen konnte, daß sie aus der Tiefe seiner Seele kam, »das ist das Sinnbild des Alls. Sie fliegt, sie ist fröhlich, sie ist eben zum Leben erwacht, sie sucht den Frühling, die freie Luft, die Freiheit: ach, ja! aber wenn sie sich in die gefährliche Gespinnstrosette stürzt, kommt die Spinne heraus, die schreckliche Spinne! Arme Tänzerin! arme, dem Untergange geweihte Fliege! Meister Jacob, lasset sie gewähren! Es ist das Verhängnis! … Wehe! Claude, du bist die Spinne. Claude, du bist auch die Fliege! … Du flogst zur Wissenschaft, zum Lichte, zur Sonne; du warst nur besorgt, an die freie Luft, zum hellen Lichte der ewigen Wahrheit zu gelangen; aber als du dich zur blendenden Lichtöffnung hinstürztest, die in eine andere Welt führt, in die Welt der Klarheit, der Erkenntnis und des Wissens, – blinde Fliege, unsinniger Doctor, da hast du nicht dieses feine Spinnengewebe gesehen, das vom Schicksale zwischen dem Lichte und dir ausgespannt war; du hast dich blindlings hineingestürzt, armseliger Thor, und jetzt zappelst du mit zerschmettertem Haupte und ausgerissenen Flügeln zwischen den eisernen Klauen des Verhängnisses! … Meister Jacob! Meister Jacob! lasset die Spinne gewähren!«

»Ich versichere Euch,« sagte Charmolue, der ihn ansah, ohne ihn zu verstehen, »daß ich sie nicht berühren werde. Aber laßt meinen Arm los, Meister, wenn ich bitten darf! Ihr habt eine Hand, wie eine Zange.«

Der Archidiaconus hörte ihn nicht an. »O Thörichter!« fuhr er fort, ohne das Thurmfenster aus den Augen zu lassen, »und wenn du es hättest zerreißen können, dieses furchtbare Gewebe, mit deinen Mückenflügeln, so glaubst du, du würdest zum Lichte haben gelangen können! Wehe! jenes Glas, das in weiterer Ferne ist, dieses durchsichtige Hindernis, diese krystallene Mauer, die härter als Erz, und die alle Erdenweisheit von der Wahrheit trennt, – wie hättest du durch sie dringen wollen? O Eitelkeit menschlichen Wissens! Wie viele Weise flattern aus weiten Fernen heran, um sich das Haupt an ihr zu zerschellen! Wie viele philosophische Lehrgebäude stoßen sich, bunt durcheinander summend, an diese durchsichtige, ewige Scheidewand!«

Er schwieg. Diese letzteren Gedanken, die ihn unmerklich von seiner Betrachtung zur Gewißheit zurückgeführt hatten, schienen ihn beruhigt zu haben. Jacob Charmolue ließ ihn völlig zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurückkommen, als er die Frage an ihn richtete: »Nun denn, lieber Meister, wann wollt Ihr mir helfen, Gold zu machen? Ich sehne mich danach, zum Ziele zu kommen.«

Der Archidiaconus hob das Haupt mit einem bittern Lächeln. »Meister Jacob, lest des Michael Psellus »Dialogus de energia et operatione daemonum«. 31 Was wir treiben, ist nicht ganz unschuldig.«

»Sprecht leiser, Meister! Ich ahne es,« sagte Charmolue. »Aber man muß wohl ein wenig Alchymie treiben, wenn man nur königlicher Procurator mit dreißig Thalern Tours’sche Münze jährlich beim Kirchengerichtshofe ist. Laßt uns nur ja leise sprechen.«

In diesem Augenblicke traf das Schmatzen einer kauenden Kinnlade, welches vom Untertheile des Herdes herkam das furchtsame Ohr Charmolue’s.

»Was ist das?« fragte er.

Es war der Student, der in seinem Verstecke sehr beengt und gelangweilt, hier soeben eine alte Brotkruste und ein Stück verschimmelten Käse entdeckt, und sich ohne weiteres daran gemacht hatte, beides zum Troste als Frühstück zu verzehren. Weil er Heißhunger hatte und jeden Bissen schmatzend kaute, so entstand ein hörbares Geräusch, das den Procurator aufmerksam und erschrocken machte.

»Es ist eine meiner Katzen,« entgegnete schnell der Archidiaconus, »die da unten einige Mäuse verzehrt.«

Diese Erklärung beruhigte Charmolue.

»In Wahrheit, Meister,« erwiderte er mit ehrerbietigem Lächeln, »alle großen Philosophen haben ihr Lieblingsthier gehabt. Ihr wißt, was Servius sagt: »Nullus enim locus sine genio est.« 32

Mittlerweile erinnerte Dom Claude, der einen neuen Unfug von Johanns Seiten befürchtete, seinen würdigen Schüler daran, daß sie beide einige Figuren des Portales zu studiren hätten; und alle zwei verließen die Zelle unter lautem »Ach« des Studenten, der ernstlich zu befürchten anfing, daß sein Knie den Abdruck seines Kinnes annehmen möchte.

  1. Lateinisch:
  2. Die Peitsche, Glüheisen, Folter, Fußeisen auch.
    Und Stricke, Ketten, Kerker, Fesseln gegen ihn gebraucht.
  3. Lateinisch: Durch ihn, und mit ihm, und in ihm! Anm. d Uebers.
  4. Lateinisch: Nackt gefesselt wiegst du hundert Pfund, hängst du an den Füßen.
  5. Lateinisch: Eine Hexe oder Gespenst! Anm. d. Uebers.
  6. Lateinisch: Zwiegespräch über die Stärke und Thätigkeit der Geister. Anm. d. Uebers.
  7. Lateinisch: Es ist ja kein Ort ohne seinen Schutzgeist.

2. La creatura bella bianco vestita. 85 (Dante)

Als Quasimodo sah, daß die Zelle leer war, daß die Zigeunerin sich nicht mehr dort befand, daß, während er sie vertheidigte, man sie entführt hatte, fuhr er sich mit beiden Händen in die Haare, und rannte vor Ueberraschung und Schmerz hin und her; dann fing er an durch die ganze Kirche zu laufen, suchte seine Zigeunerin, stieß seltsame Schreie in allen Mauerwinkeln aus und streute seine rothen Haare auf dem Boden herum. Es war gerade der Augenblick, wo die Häscher des Königs siegreich in die Kirche eindrangen, welche ja ebenfalls die Zigeunerin suchten. Quasimodo half ihnen hierbei, ohne daß der arme Taube ihre unseligen Absichten ahnte; denn er glaubte, die Bettler wären die Feinde der Zigeunerin. Er führte selbst Tristan l’Hermite in alle nur denkbaren Schlupfwinkel, öffnete ihm die geheimen Thüren, die Doppelböden der Altäre, die Hintergemächer der Sakristeien. Wenn die Unglückliche sich noch dort befunden hätte, so wäre er es gewesen, der sie ausgeliefert hätte. Als Tristan, da er nichts fand, des Suchens müde geworden war, – er, der nicht leicht ermüdete – fuhr Quasimodo ganz allein fort, zu suchen. Er machte zwanzig Mal, hundert Mal den Weg durch die Kirche nach der Länge und Breite, von Oben nach Unten, stieg hinauf und herunter, lief, rief, schrie, witterte und spürte herum, suchte und steckte seinen Kopf in alle Löcher und leuchtete verzweifelt und wahnwitzig mit einer Fackel in alle Gewölbe. Ein männliches Thier, das sein Weibchen verloren hat, ist nicht verstörter und schreit nicht so sehr. Endlich, als er sicher, ganz sicher war, daß sie nicht mehr da, daß es mit ihr aus wäre, daß man sie ihm geraubt hatte, stieg er langsam die Treppe zu den Thürmen empor, – diese Treppe, welche er mit so viel Eifer und Siegesgewißheit an dem Tage hinaufgestürmt war, als er sie gerettet hatte. Er ging noch einmal durch dieselben Plätze, das Haupt gesenkt, stumm, ohne Thränen und fast ohne Athem. Die Kirche war von neuem öde und in ihre Stille zurückgesunken. Die Häscher hatten sie verlassen, um die Hetze auf die Hexe in der Altstadt anzustellen. Quasimodo, der allein in dieser weiten Notre-Damekirche zurückgeblieben war, die den Augenblick zuvor so bestürmt und lärmerfüllt gewesen, schlug den Weg zur Zelle ein, wo die Zigeunerin so viele Wochen unter seiner Obhut geschlafen hatte. Indem er sich ihr näherte, stellte er sich vor, daß er sie dort vielleicht finden könnte. Als er bei der Biegung der Galerie, welche über das Dach der Seitenschiffe führt, das enge Zimmerchen mit seinem Fensterchen und Thürchen bemerkte, das unter einem großen Schwibbogen wie ein Vogelnest unter einem Zweige versteckt war, sank dem armen Menschen der Muth, und er lehnte sich an einen Pfeiler, um nicht umzusinken. Er bildete sich ein, daß sie vielleicht dorthin zurückgekehrt wäre, daß ein guter Geist sie ohne Zweifel dahin zurückgeführt hätte; daß dieses Kämmerchen zu ruhig, zu sicher und zu reizend wäre, als daß sie nicht mehr dort sein könnte, und er wagte nicht einen Schritt weiter zu gehen, aus Furcht seine Täuschung zu zerstören. »Ja,« sprach er bei sich, »sie schläft vielleicht oder betet. Wir wollen sie nicht stören.« Zuletzt nahm er seinen Muth zusammen, ging auf den Fußspitzen heran, blickte hinein, trat ein. Leer! Die Zelle blieb immer leer. Der unglückliche Taube ging in langsamen Schritten darin herum, hob das Bett in die Höhe und blickte darunter, als ob sie zwischen der Diele und dem Polster versteckt sein könnte, dann schüttelte er den Kopf und stand stumpfsinnig da. Plötzlich zertrat er wüthend mit dem Fuße die Fackel, und ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Seufzer auszustoßen, stürzte er sich im vollen Laufe mit dem Kopfe gegen die Wand und sank ohnmächtig auf dem Boden zusammen.

Als er wieder zu sich kam, warf er sich auf das Bett, wälzte sich darauf herum und küßte wahnsinnig den noch warmen Platz, wo das junge Mädchen geschlafen hatte; er blieb hier einige Minuten bewegungslos liegen, als ob er da die Seele aushauchen wollte; dann erhob er sich in Schweiß gebadet, keuchend und sinnverwirrt wieder, und begann mit der schrecklichen Regelmäßigkeit des Klöppels seiner Glocken den Kopf gegen die Wände zu rennen, in der Entschlossenheit eines Menschen, der ihn daran zerschellen will. Schließlich fiel er zum zweiten Male erschöpft nieder; er schleppte sich auf den Knien aus der Zelle heraus, und kauerte der Thüre gegenüber in der Stellung dumpfen Staunens nieder. So verharrte er länger, als eine Stunde, ohne eine Bewegung zu machen, das Auge auf die verlassene Zelle gerichtet, düsterer und nachdenklicher, als eine Mutter, die zwischen einer leeren Wiege und einem vollen Sarge sitzt. Er brachte kein Wort vor, nur schüttelte ein Schluchzen in langen Zwischenräumen heftig seinen ganzen Körper, aber ein Schluchzen ohne Thränen, wie jene Blitze im Sommer, die keinen Donner verursachen.

Es ist offenbar, daß er jetzt, während er im Grunde seines trostlosen Herzens nachgrübelte, wer wohl der unvermuthete Räuber der Zigeunerin sein könnte, an den Archidiakonus dachte. Er erinnerte sich, daß Dom Claude allein einen Schlüssel zu der Treppe hatte, welche nach der Zelle führte; er dachte an dessen nächtliche Anschläge auf das junge Mädchen; an den ersten, bei welchem ihm Quasimodo behilflich gewesen war, an den zweiten, welchen er verhindert hatte. Er rief sich tausend einzelne Umstände zurück und zweifelte bald nicht mehr daran, daß der Archidiakonus ihm die Zigeunerin entrissen hätte. Jedoch war seine Ehrfurcht vor dem Priester so groß, die Erkenntlichkeit, die Ergebenheit, die Liebe zu diesem Manne hatten so tiefe Wurzeln in seinem Herzen, daß sie selbst in diesem Augenblicke den Krallen der Eifersucht und der Verzweiflung Widerstand leisteten.

Er dachte daran, daß der Archidiakonus das gethan hätte, und die Wuth nach Blut und Tod, die er gegen jeden andern empfunden haben würde, verwandelte sich von dem Augenblicke an, wo es sich um Claude Frollo handelte, bei dem armen Tauben in wachsenden Schmerz.

In dem Augenblicke, wo sein Gedanke sich so an den Archidiakonus klammerte, sah er, als das Morgengrauen die Strebepfeiler erhellte, im obern Stockwerke von Notre-Dame, an der Biegung, welche der Balustradenrand macht, der sich um den Chor dreht, eine Gestalt, welche dahinwandelte. Diese Gestalt kam auf ihn zu. Er erkannte sie. Es war der Archidiakonus. Claude ging langsamen und schweren Schrittes heran. Er sah im Gehen nicht vor sich herab – er wendete sich nach dem nördlichen Thurme zu – sondern sein Gesicht war zur Seite, nach dem rechten Ufer der Seine hin gekehrt, und er hielt das Haupt hoch, als ob er sich bemüht hätte, etwas über die Dächer hinweg zu sehen. Die Eule zeigt oft diese seitwärts gerichtete Haltung. Sie fliegt nach einem Punkte zu und sieht dabei nach einem andern hin. Der Priester ging also über Quasimodos Kopfe hin, ohne ihn zu sehen.

Der Taube, welchen diese plötzliche Erscheinung versteinert hatte, sah ihn unter dem Eingange der Treppe zum nördlichen Thurme verschwinden.

Der Leser weiß, daß dieser Thurm derjenige ist, von dem man das Stadthaus sieht. Quasimodo erhob sich und folgte dem Archidiakonus.

Quasimodo stieg die Treppe zum Thurme empor, um in Erfahrung zu bringen, weshalb der Priester da hinaufstieg. Uebrigens wußte, der arme Glöckner Quasimodo selbst nicht, was er thun, was er sagen sollte, was er wollte. Er war wutherfüllt und zugleich voll Furcht. Der Archidiakonus und die Zigeunerin traten in seinem Herzen einander gegenüber.

Als er auf der Spitze des Thurmes angelangt war, untersuchte er, ehe er aus dem Dunkel der Treppe hervor- und auf die Plattform hinaustrat, vorsichtig, wo der Priester sich befand. Der Archidiakonus kehrte ihm den Rücken zu. Hier befindet sich ein durchbrochenes Geländer, welches den Glockenthurm umgiebt. Der Priester, dessen Augen auf die Stadt herabblickten, hatte die Brust gegen diejenige der vier Geländerseiten gestemmt, welche nach der Notre-Damebrücke zu gerichtet ist.

Quasimodo, der leise wie ein Wolf hinter ihm herschlich, wollte sehen, was er so scharf beobachtete. Die Aufmerksamkeit des Priesters war derartig von andern Dingen in Anspruch genommen, daß er gar nicht hörte, daß der Taube neben ihm herging. Es ist ein großartiges und bezauberndes Schauspiel, welches Paris, und vornehmlich das Paris von damals, von der Höhe der Notre-Damethürme aus gesehen, dem Auge im glänzenden Schimmer eines Sommermorgens bietet. An jenem Tage mochte man sich im Monat Juli befinden. Der Himmel war vollkommen rein. Einige letzte Sterne erblichen an ihm an verschiednen Punkten, und unter ihnen stand ein sehr glänzender an der hellsten Stelle des östlichen Himmels. Die Sonne war im Begriffe, sich über den Horizont zu erheben. Paris begann sich zu regen. Ein sehr helles und reines Licht ließ alle Umrisse, welche die zahllosen Häuser der Stadt dem Auge bieten, lebhaft hervortreten. Der riesige Schatten der Thürme zog sich von Dach zu Dach, von einem Ende der großen Stadt zum andern. In einigen Stadtvierteln ertönte schon der Lärm und das Gewirr von menschlichen Stimmen durcheinander. Hier erklang ein Glockenschlag, dort ein Hammerschlag, da unten das verworrene Gerassel eines rollenden Wagens. Schon wogten hier und da einige Rauchwolken über jene ganze Dächerfläche wie durch die Risse eines ungeheuern Solfatara. Der Fluß, welcher sein Wasser unter den Bogen so vieler Brücken, an der Spitze so vieler Inseln hinwirbelte, war von Silberfurchen gekräuselt. Ringsum in der Stadt, außerhalb der Wälle verlor das Auge sich in einem großen Kranze flockiger Nebeldünste, durch welche man undeutlich die endlose Linie der Ebenen und die zierliche Erhebung der Hügelreihen erkannte. Allerlei Geräusch ergoß sich in Wogen über diese halberwachte Stadt. Nach Sonnenaufgang hin jagte der Morgenwind einige weiße Streifen über den Himmel, die von dem Nebelgewande der Hügel losgerissen waren.

Auf dem Vorhofe von Notre-Dame zeigten sich mehrere Mütterchen, die ihren Milchtopf in der Hand hatten, einander erstaunt die sonderbare Verunstaltung der großen Kirchenthüre, und zwei zwischen den Spalten der Sandsteine geronnene Bleiströme. Das war alles, was von dem nächtlichen Aufruhre übrig war. Der von Quasimodo angezündete Holzstoß zwischen den Thürmen war niedergebrannt. Tristan hatte den Platz bereits abräumen und die Todten in die Seine werfen lassen. Die Könige wie Ludwig der Elfte tragen Sorge, das Pflaster nach einer Metzelei schnell reinigen zu lassen.

Außerhalb der Balustrade des Thurmes, gerade unter dem Punkte, wo der Priester sich hingestellt hatte, befand sich eine jener steinernen, phantastisch geformten Dachrinnen, welche die gothischen Bauwerke zieren, und in einer Spalte dieser Rinne standen zwei hübsche, blühende Levkojen, welche vom Lufthauche bewegt und wie lebend erscheinend, sich schelmische Grüße zusandten. Ueber den Thürmen hoch oben, weit in der Tiefe des Himmels, hörte man das Zwitschern kleiner Vögel.

Aber der Priester hörte und sah nichts von alledem. Er war einer von den Menschen, für welche es keine Morgenröthen, keine Vögel, keine Blumen giebt. In diesem unendlichen Gesichtskreise, welcher so viele Anblicke rings um ihn gewährte, war seine Betrachtung nur auf einen einzigen Punkt hingezogen. Quasimodo brannte vor Verlangen ihn zu fragen, was er mit der Zigeunerin angefangen hätte; aber der Archidiakonus schien in diesem Augenblicke fern von der Welt zu sein. Er befand sich offenbar in einem dieser stürmischen Augenblicke des Lebens, wo man es nicht merken würde, wenn die Erde zusammenbräche. Die Augen unveränderlich auf eine bestimmte Stelle gerichtet, verharrte er unbeweglich und sprachlos; und dieses Schweigen und diese Regungslosigkeit hatten etwas so Furchtbares, daß der wilde Glöckner davor zurückschrak und nicht wagte, sich an ihn zu machen. Es gab noch eine Art, den Archidiakonus auszuforschen: er folgte nur der Richtung seines Augenstrahles, und auf diese Weise fiel der Blick des unglücklichen Tauben aus den Grèveplatz.

Er sah also das, wonach der Priester hinblickte. Die Leiter war nahe an dem stehenden Galgen aufgerichtet. Es befanden sich einige Leute und viele Soldaten auf dem Platze. Ein Mann schleppte über den Boden einen weißen Gegenstand fort, an den sich etwas Schwarzes angeklammert hatte. Dieser Mann hielt am Fuße des Galgens an. Nun ereignete sich etwas, das Quasimodo nicht sehen konnte. Nicht etwa, weil sein einziges Auge seine weite Sehkraft nicht bewährt hätte, sondern weil ein Haufe Soldaten in der Nähe war, der alles zu erkennen verhinderte. Überdieß ging in diesem Augenblicke die Sonne auf, und ein solcher Lichtstrom ergoß sich über den Horizont, daß man hätte glauben mögen, alle hervorragenden Spitzen von Paris: Thurmspitzen, Schornsteine, Giebel ständen auf einmal in Flammen.

Während dem schickte der Mann sich an, die Leiter zu besteigen. Jetzt erkannte ihn Quasimodo wieder deutlich. Er trug ein Weib auf seiner Schulter: ein junges in Weiß gekleidetes Mädchen; dieses junge Mädchen hatte eine Schlinge um den Hals. Quasimodo erkannte sie. Sie war es.

Der Mann kam so an der Spitze der Leiter an. Dort befestigte er die Schlinge. Jetzt warf sich der Priester, um besser sehen zu können, an dem Geländer auf die Knien nieder.

Plötzlich stieß der Mann die Leiter heftig mit der Ferse zurück, und Quasimodo, der seit einigen Augenblicken nicht mehr athmete, sah am Ende des Strickes, zwei Klafterlängen über dem Boden, das unglückliche Kind mit dem Manne schaukeln, der seine Füße auf dessen Schultern gesetzt hatte. Der Strick machte mehrere Drehungen um sich selbst, und Quasimodo sah die schrecklichen Zuckungen, die durch den Körper der Zigeunerin liefen. Der Priester seinerseits betrachtete mit vorgestrecktem Halse und aus dem Kopfe getretenen Augen die furchtbare Gruppe des Mannes und des jungen Mädchens: – der Spinne und der Fliege!

In dem Augenblicke, wo das Entsetzlichste sich zutrug, fuhr ein Satansgelächter, ein Gelächter, welches man nur haben kann, wenn man kein Mensch mehr ist, über das bleifarbige Gesicht des Priesters. Quasimodo hörte dieses Gelächter nicht, aber er sah es. Der Glöckner trat einige Schritte hinter den Archidiakonus; dann stürzte er sich plötzlich voll Wuth auf ihn und stieß ihn mit seinen mächtigen Händen rücklings in die Tiefe, über welche Dom Claude sich hinabgebogen hatte.

»Verflucht!« schrie der Priester, und stürzte hinab.

Die Dachrinne, über welcher er sich befand, hielt ihn in seinem Falle auf. Er klammerte sich mit verzweifelten Händen an sie fest; und im Augenblicke, wo er den Mund öffnete, um einen zweiten Schrei auszustoßen, sah er am Kranze des Geländers, über seinem Kopfe, das furchtbare Rächerantlitz Quasimodos erscheinen. Da versagte ihm das Wort.

Der Abgrund lag unter ihm. Eine Tiefe von mehr, als zweihundert Fuß, und das Straßenpflaster dazu. In dieser schrecklichen Lage sprach der Archidiakonus nicht ein Wort, stieß keine Klage aus. Nur wand er sich mit unerhörten Anstrengungen auf der Dachrinne, um wieder nach oben zu gelangen; aber seine Hände hatten an dem Granite keinen Halt, seine Füße streiften die geschwärzte Mauer, ohne sich in sie einbohren zu können. Leute, welche auf die Thürme von Notre-Dame gestiegen sind, wissen, daß unmittelbar unter der Balustrade eine steinerne Ausbauchung sich befindet. Gerade auf dieser einspringenden Ecke erschöpfte der elende Archidiakonus seine Kraft. Er hatte es nicht mit einer senkrechten Wand, sondern mit einer Mauer, die unter ihm zurückwich, zu thun.

Quasimodo hätte, um ihn vom Abgrunde zurückzuziehen, nur nöthig gehabt, ihm die Hand hinzureichen; aber er sah ihn gar nicht einmal an. Er blickte nach dem Grèveplatze, nach dem Galgen, nach der Zigeunerin hinab. Der Taube hatte sich an der Stelle, wo den Augenblick vorher der Archidiakonus gestanden hatte, auf die Balustrade gelehnt, und hier stand er bewegungslos und stumm, wie ein vom Blitz erschlagener Mann, wandte den Blick nicht von dem einzigen Gegenstande, der für ihn in diesem Augenblicke in der Welt vorhanden gewesen war, und ein langer Thränenstrom rollte schweigend aus diesem Auge, das bis jetzt nur erst eine einzige Thräne vergossen hatte. Inzwischen keuchte der Archidiakonus in seiner fürchterlichen Lage. Seine kahle Stirn troff von Schweiß, seine Nägel bluteten an dem Steine, und seine Kniee schunden sich an der Mauer. Er hörte, wie sein Priesterrock, mit dem er an der Dachrinne hängen geblieben war, mit jeder Erschütterung, die er verursachte, krachte und weiter aufriß. Um das Maß seines Unglückes voll zu machen, endigte diese Dachrinne in einem bleiernen Rohre, das sich unter der Last seines Körpers bog. Der Archidiakonus fühlte, wie dieses Rohr langsam nachgab. Der Unglückliche sagte sich, daß wenn seine Hände vor Anstrengung ermüdet, sein Gewand zerrissen, dieses Bleirohr niedergebogen sein würden, er fallen müßte; und das Entsetzen schüttelte ihn bis in die Eingeweide. Bisweilen betrachtete er mit verwirrtem Blicke eine Art schmaler Platte, die ohngefähr zehn Fuß tiefer von den Unebenheiten der Steinzierathen gebildet wurde, und er bat den Himmel im Grunde seines geängstigten Herzens, daß es ihm vergönnt sein möge, sein Leben auf diesem Raume von zwei Fuß im Gevierte beschließen zu dürfen: sollte es auch hundert Jahre dauern. Ein Mal blickte er unter sich aus den Platz, in den Abgrund; er wandte den Kopf zurück, schloß die Augen und alle Haare standen ihm zu Berge.

Es war etwas Furchtbares um das Schweigen dieser beiden Männer. Quasimodo weinte und blickte auf den Grèveplatz, während der Archidiakonus einige Fuß von ihm entfernt in dieser schrecklichen Weise mit dem Tode rang. Als der Archidiakonus sah, daß alle seine Anstrengungen nur dazu dienten, den zerbrechlichen Stützpunkt, der ihm blieb, zu erschüttern, hatte er den Entschluß gefaßt, sich nicht mehr zu bewegen. So schwebte er dort, hielt die Dachrinne umfaßt, athmete kaum, rührte sich nicht, und zeigte keine anderen Bewegungen, als das mechanische Zucken des Leibes, welches man erleidet, wenn man im Traume glaubt, sich fallen zu fühlen. Seine starren Augen waren in krankhafter und erschrockener Weise aufgerissen. Nach und nach indessen verlor er an Raum: seine Finger glitten an der Dachrinne hin; er fühlte immer mehr und mehr die Schwäche seiner Arme und die Schwere seines Körpers. Die Krümmung der Bleiröhre, die ihn stützte, neigte sich in jedem Augenblicke um einen Grad dem Abgrunde zu. Er sah unter sich – ein fürchterlicher Anblick – das Dach von Saint-Jean-le-Roud, so klein wie ein in zwei Hälften zusammengefaltetes Kartenblatt. Er betrachtete die gefühllosen Bildhauerarbeiten des Thurmes eine nach der andern, die wie er über dem Abgrunde schwebten, aber ohne Furcht für sich selbst und ohne Mitleiden für ihn. Alles um ihn war von Stein: vor seinen Augen die Ungeheuer mit offenem Rachen; unten, ganz in der Tiefe, auf dem Platze, das Straßenpflaster; über seinem Haupte: Quasimodo, der Thränen vergoß.

Auf dem Vorhofe standen einige Gruppen neugieriger Leute, die gleichmüthig zu errathen suchten, wer der Narr sein könnte, der sich auf eine so seltsame Weise die Zeit vertriebe. Der Priester hörte, wie sie zu einander sagten, denn ihre helle und grelle Stimme gelangte bis zu ihm: »Aber er wird sich den Hals brechen!«

Quasimodo weinte noch immer.

Der vor Wuth und Entsetzen schäumende Archidiakonus begriff endliche daß alles nutzlos war. Er sammelte dennoch alle Kraft, die ihm geblieben war, zu einer letzten Anstrengung. Er steifte sich auf die Dachrinne, stieß die Mauer mit den beiden Knien ab, klammerte sich mit beiden Händen in eine Spalte der Steine, und er hätte es vielleicht erreicht, mit einem Fuße wieder in die Höhe zu klettern: aber diese Bewegung brachte plötzlich die Mündung des Bleirohres, auf welches er sich stützte, zum Weichen. Im selben Augenblicke riß das Gewand auseinander. Jetzt, da er alles unter sich wanken fühlte, als er nur noch seine starren und kraftlos werdenden Hände hatte, die etwas festhielten, schloß der Unglückliche die Augen und ließ die Dachrinne los. Er fiel in die Tiefe. Quasimodo sah, wie er hinabstürzte. –

Ein Sturz von solcher Höhe geschieht selten in senkrechter Richtung. Der in die Tiefe stürzende Archidiakonus fiel erst mit dem Kopfe nach unten und beide Hände von sich gestreckt; dann beschrieb er mehrere Umdrehungen um sich selbst; der Luftzug trieb ihn auf das Dach eines Hauses, wo der Unglückliche die erste Zerschmetterung erlitt. Als er dort anlangte war er jedoch nicht todt. Der Glöckner sah, wie er noch versuchte, sich mit den Nägeln an die Zinne anzuklammern; aber die Fläche war zu steil, und er besaß keine Kraft mehr. Er glitt schnell über das Dach herab wie ein Ziegel, der sich loslöst, und schlug endlich auf das Pflaster auf. Da blieb er regungslos liegen.

Quasimodo hob nun sein Auge wieder auf die Zigeunerin; ihren am Galgen hängenden Körper sah er in der Ferne, unter ihrem weißen Gewande, in den letzten Schauern des Todeskampfes zucken; dann senkte er den Blick wieder auf den Archidiakonus, der ohne eine menschliche Form mehr, am Fuße des Thurmes ausgestreckt lag, und er sprach mit einem Schluchzen, das aus der Tiefe seiner Brust drang: »Ach! Alles, was ich geliebt habe!«

  1. Italienisch: Das schöne weiß gekleidete Geschöpf. Anm. d. Uebers.

3. Die Glocken.

Seit dem Morgen am Pranger hatten die Nachbarn von Notre-Dame zu bemerken geglaubt, daß die Läutewuth Quasimodo’s sich sehr abgekühlt hatte. Vordem gab es Geläute bei jedem Anlasse: lange Morgenständchen, die von den Primen 6 bis zu den Vesperschlüssen dauerten, Geläute mit allen Glocken zu einem Hochamte, reiche Tonleitergänge mit den kleinen Glocken bei einer Trauung, einer Taufe, so daß die Luft mit einer Tonreihe von allerlei lieblichen Klängen gleichsam erfüllt war. Die alte Kirche, die bis in die Grundfesten bebte und tönte, befand sich in einem immerwährenden Glockenjubel. Man fühlte hier beständig die Gegenwart eines lärmenden und eigensinnigen Geistes, welcher mit all den metallenen Zungen sang. Jetzt schien dieser Geist verschwunden, die Kathedrale schien traurig zu sein, und bewährte gern ihr Schweigen; die Feste und Beerdigungen erhielten ihr einfaches, trockenes und kahles Geläute, und wie es die Kirchenordnung verlangte, nichts weiter; von dem zwiefachen Lärme, den eine Kirche verursacht: die Orgel im Innern, die Glocke draußen, war nur die Orgel geblieben. Man hätte behaupten mögen, es wäre nichts Musikalisches mehr in den Thürmen. Dennoch befand sich Quasimodo immer noch in ihnen; was war also in ihm vorgegangen? Lebten vielleicht Scham und Verzweiflung vom Prangerstehen her noch im Innern seines Herzen fort? Sausten die Peitschenhiebe des Foltermeisters endlos in seiner Seele nach? Hatte die Trauer über eine solche Behandlung alles in ihm ausgetilgt, selbst seine Leidenschaft für die Glocken? Oder aber, hatte »Marie«, die große Glocke, eine Nebenbuhlerin im Herzen des Glöckners von Notre-Dame, und wurde sie und ihre vierzehn Schwestern über etwas Liebenswürdigerem und Schönerem vernachlässigt?

In diesem gnadenbringenden Jahre vierzehnhundertzweiundachtzig fiel das Fest der Verkündigung Mariä gerade auf den fünfundzwanzigsten März, einen Dienstag. An jenem Tage war die Luft so rein und mild, daß Quasimodo etwas Liebe zu seinen Glocken zurückkehren fühlte. Er stieg also auf den nördlichen Thurm, während unten der Kirchendiener ganz weit die Thüren der Kirche öffnete, die damals aus ungeheuern Flügeln von dickem, mit Leder überzogenem Holze bestanden, mit Nägeln aus vergoldetem Eisen beschlagen und von »sehr kunstvoll gearbeiteten« Schnitzereien umrahmt waren.

Als Quasimodo in der obern Glockenstube angekommen war, betrachtete er mit betrübtem Kopfschütteln die sechs Glocken, als ob er über etwas Fremdartiges jammerte, das sich in seinem Herzen zwischen sie und ihn gedrängt hätte. Aber als er sie in Schwingung versetzt hatte, als er diese Glockenreihe unter seiner Hand sich bewegen fühlte; als er sah – denn er hörte es ja nicht – wie der bebende Octavengang, einem von Zweig zu Zweig hüpfenden Vogel gleich, auf dieser Tonleiter auf- und ablief; als der Musikteufel, dieser Dämon, welcher eine blitzende Garbe von Fugen, Trillern und gebrochenen Accorden ausstreut, sich des armen Tauben bemächtigt hatte, – da wurde er wieder glücklich, er vergaß alles, und sein Herz, das sich weitete, ließ sein Antlitz aufleuchten.

Er eilte hin und her, er schlug in die Hände, lief von einem Seile zum andern, er feuerte die sechs Sänger mit Mund und Hand an, wie ein Kapellmeister, der verständige Musiker anspornt.

»Auf,« sagte er, »auf, Gabriele, schleudere deine ganze Tonkraft auf den Platz hinab, heute ist Festtag … Thibauld, keine Faulheit, du lässest nach; auf, auf denn! Bist du etwa eingerostet, Faulenzer? … Recht so! schnell! schnell! Man darf den Klöppel nicht sehen. Mache sie alle taub, wie mich … So ist’s recht, Thibauld, brav! … Wilhelm! Wilhelm! Du bist der größte und Pasquier ist der kleinste, aber Pasquier springt am besten. Wir wollen wetten, daß die, welche zuhören, ihn besser hören als dich … Gut! Hut! meine Gabriele, laut! immer lauter! He! was macht ihr denn alle beide da oben, ihr Spatzen? Ich sehe euch ja nicht den geringsten Lärm veranstalten… Was soll das mit den metallenen Mäulern da, die da aussehen, als ob sie gähnten, wo sie singen sollen? Auf! an die Arbeit! es ist Maria Verkündigung. Es ist schönes Wetter, da muß es auch ein schönes Geläute geben … Armer Wilhelm! ich sehe, du bist ganz außer Athem, mein dicker Bursche!«

Er war ganz und gar damit beschäftigt, seine Glocken anzuspornen, die alle sechs um die Wette tanzten und ihre glänzenden Rücken wie ein lärmender Zug spanischer Maulthiere schüttelten, welche durch die Zurufe des Treibers hier und da angefeuert werden. Plötzlich, als er seinen Blick zwischen den breiten Schieferschuppen hindurchfallen ließ, welche die senkrechte Mauer des Thurmes bis zu einer gewissen Höhe bedecken, sah er auf dem Platze ein junges, sonderbar herausgeputztes Mädchen, welches stehen blieb, auf dem Boden einen kleinen Teppich ausbreitete, auf welchem eine kleine Ziege sich niederlegte, und eine Gruppe Zuschauer, die sich im Kreise herum aufstellten. Dieser Anblick änderte plötzlich den Gang seiner Gedanken und kühlte seinen Musikenthusiasmus ab, wie ein Luftzug fließendes Harz erstarren läßt. Er hielt ein, wandte dem Glockenstuhle den Rücken zu, kauerte sich hinter dem Schieferwetterdache nieder und heftete jenen träumerischen, zärtlichen und milden Blick auf die Tänzerin, der schon einmal den Archidiaconus in Erstaunen versetzt hatte. Dabei verstummten die vergessenen Glocken alle auf einmal, zum Mißvergnügen der Liebhaber des Geläutes, welche die Glocken im guten Glauben von der Wechslerbrücke her angehört hatten und bestürzt davongingen, einem Hunde gleich, welchem man einen Knochen gewiesen hat und dem man einen Stein giebt.

  1. Prime: das erste Stundengebet in der katholischen Liturgie. Anm. d. Uebers.

3. Heirath des Phöbus.

Um die Abendzeit des nämlichen Tages, als die Gerichtsbeamten des Bisthums erschienen, um den zerrissenen Leichnam des Archidiakonus vom Pflaster des Vorhofes aufzuheben, war Quasimodo aus Notre-Dame verschwunden.

Ueber dieses Ereignis schwirrten viele Gerüchte durch Paris. Man zweifelte nicht daran, daß der Tag gekommen wäre, wo, zufolge ihres Vertrages, Quasimodo, d. h. der Teufel, den Claude Frollo, d. h. den Zauberer, holen mußte. Man nahm an, daß, als er sich der Seele bemächtigte, er den Körper zerschmettert hätte: wie die Affen, welche die Schale zerbrechen, um eine Nuß zu verspeisen. Deshalb wurde der Archidiakonus auch nicht in geweihter Erde bestattet.

Ludwig der Elfte starb das Jahr darauf, im Monat August 1483.

Was Peter Gringoire betrifft, so gelang es ihm, die Ziege zu retten, und er hatte Erfolge in der Trauerspieldichtung. Es scheint, daß, nachdem er den Versuch mit der Sterndeutern, der Philosophie, der Baukunst, der Alchymie, mit allen Thorheiten gemacht hatte, er von ihnen zum Trauerspieldichten zurückkehrte, was das Tollste von allen Tollheiten ist. Das nannte er nämlich »ein tragisches Ende genommen haben.« Folgendes sind die Worte, die man in Bezug auf seine Theatertriumphe seit 1483 in den Rechnungen des königlichen Haushaltes liest: »An Johann Marchand und Peter Gringoire, den Zimmermann und den Dichter, welche das Mysterium gefertigt und gedichtet haben, das im Châtelet zu Paris beim Einzuge des Herrn Legaten ausgeführt wurde, geordnet nach den Rollen, besagte gekleidet und vorgestellt, so wie es in dem genannten Mysterium gefordert wurde; und ingleichen die Bühnengerüste, die dazu nöthig, angefertigt zu haben; und für dessen Aufstellung: hundert Livres.«

Auch Phöbus von Châteaupers nahm ein tragisches Ende – er verheirathete sich.

4. Heirath des Quasimodo.

Wir haben soeben erzählt, daß Quasimodo am Todestage der Zigeunerin und des Archidiakonus aus Notre-Dame verschwunden war. Man sah ihn in der That nicht wieder, und man wußte nicht, was aus ihm geworden war.

In der Nacht, welche auf die Hinrichtung der Zigeunerin folgte, hatten die Henkersknechte ihren Leichnam vom Galgen abgenommen und ihn, dem Gebrauche gemäß, in die Gruft von Montfaucon gebracht.

Montfaucon war, wie Sauval sagt, »der älteste und prächtigste Galgen des Königreichs.« Zwischen den Vorstädten Le-Temple und Saint-Martin, ungefähr einhundertundsechzig Klafterlängen von den Mauern von Paris, einige Armbrustschüsse von La-Courtille, sah man aus dem Gipfel einer sanften, niedrigen Anhöhe, die hoch genug war, um einige Meilen in der Umgegend gesehen zu werden, ein Gebäude von seltsamer Gestalt, welches so ziemlich einem keltischen Druidentempel glich, und wo auch Menschenopfer dargebracht wurden.

Man denke sich auf dem Gipfel eines Kalkhügels ein großes Rechteck aus Mauerwerk, fünfzehn Fuß hoch, dreißig Fuß breit und vierzig Fuß lang, mit einer Thür, einer Rampe nach außen, und einer Plattform; auf dieser Plattform sechzehn ungeheuere, aufrecht stehende Säulen aus unbehauenem Steine von dreißig Fuß Höhe, die an drei der vier Seiten des Steinbaues, welcher sie trug, in Säulenordnung aufgestellt, und unter sich an ihrer Spitze durch starke Balken verbunden waren, an denen von Zwischenraum zu Zwischenraum Ketten herabhingen; an allen diesen Ketten Menschengerippe; in der Nähe in der Ebene ein steinernes Kreuz und zwei Galgen zweiten Ranges, die rings um das Hauptjoch Schößlinge zu treiben schienen; über dem allen, am Himmel, ein beständiges Geschwirr von Raben – und man kennt Montfaucon.

Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war der furchtbare Galgen, der vom Jahre 1328 herdatirte, schon sehr verfallen; die Balken waren wurmstichig, die Ketten verrostet, die Pfeiler mit Schimmel bedeckt; die Grundschichten aus behauenem Steine waren aus ihren Fugen gewichen, und das Gras wucherte auf der Plattform, wo kein menschlicher Fuß mehr wandelte. Es gab keinen schrecklichen Anblick in der Ferne, als denjenigen dieses Bauwerkes, vor allem des Nachts, wenn ein schwaches Mondlicht auf diese bleichen Schädel fiel, oder wenn der Nachtwind Ketten und Gerippe an einander schlug, und das alles sich im Dunkel bewegte. Die Gegenwart jenes Galgens reichte hin, um die ganze Umgegend in eine unheimliche Stätte zu verwandeln.

Die steinerne Mauermasse, welche dem verhaßten Bauwerke als Grundlage diente, war hohl. Man hatte dort eine weite Gruft angelegt, die mit einem alten, zerbrochenen Eisengitter verschlossen war, und wohinein man nicht allein die menschlichen Ueberreste warf, die von den Ketten von Montfaucon herabfielen, sondern auch die Körper der Unglücklichen, die an den übrigen stehenden Galgen von Paris hingerichtet worden waren. In dieses tiefe Beinhaus, wo so viel menschlicher Staub und so viele Verbrechen zusammen vermodert sind, sind nach und nach unzählige Unschuldige gekommen, um ihre Gebeine zur Ruhe zu bringen – von Enguerrand von Marigni an, der Montfaucon einweihete und ein Gerechter war, bis zum Admiral von Coligny, der den Schluß davon machte, und der auch ein Gerechter war.

Was nun das geheimnisvolle Verschwinden Quasimodos betrifft, so ist Folgendes alles, was wir haben entdecken können.

Ohngefähr zwei oder anderthalb Jahre nach den Begebenheiten, welche diese Erzählung beschließen, als man in der Gruft von Montfaueon den Leichnam Oliviers-le-Daim aufsuchen wollte, der zwei Tage zuvor gehangen worden war, und dem Karl der Achte die Gnade gewährte, zu Saint-Laurent in besserer Gesellschaft beerdigt zu werden, fand man unter all den scheußlichen Gerippen zwei Skelette, von denen das eine das andere in sonderbarer Weise umarmt hielt. Das eine dieser beiden Skelette, welches dasjenige einer Frau war, hatte noch einige Kleiderfetzen eines Stoffes an sich, der weiß gewesen war, und man sah um seinen Hals eine Kette von Adrezarachperlen mit einem kleinen Säckchen aus Seidenstoff, das mit grünen Glassteinen verziert, und das offen und leer war. Diese Gegenstände hatten so wenig Werth, daß der Henker zweifelsohne kein Verlangen danach getragen hatte. Das andere, welches dieses eng umarmt hielt, war ein männliches Skelett. Man machte die Bemerkung, daß seine Wirbelsäule gekrümmt war, der Kopf zwischen den Schulterblättern saß, und ein Bein kürzer als das andere war. Es zeigte überdies keinen Bruch der Wirbelsäule am Genick; und es lag zu Tage, daß er nicht gehangen worden war. Der Mann, welchem es angehört hatte, war also hierher gekommen, und er war hier gestorben. Als man es von dem Skelette, welches es umfaßt hielt, losmachen wollte, zerfiel es in Staub.

 

Ende des zweiten und letzten Bandes.