20. Kapitel

Huck bringt das Geld beiseite – Seltsames Versteck – Trauerfeierlichkeiten – Zur Erde bestattet

20. Kapitel

Als nun alle fortgegangen waren, fragte der König Mary Jane, ob sie auch Platz im Hause hätte. Sie antwortete, sie habe ein Fremdenzimmer, das wohl Onkel William benutzen könnte; ihr eigenes Zimmer, das etwas größer sei, würde sie gern ihm überlassen, sie selbst könne ja im Zimmer der Schwester auf einem Feldbett schlafen; oben auf dem Boden sei auch ein kleiner Verschlag mit einer Pritsche darin. Der König meinte, der Verschlag sei gerade recht für seinen Diener – womit er mich meinte.

Mary Jane führte uns hinauf und zeigte allen die Zimmer, die einfach und nett waren. Sie wollte ihre Kleider und andere Sachen aus dem Zimmer räumen, falls sie Onkel Harry im Wege wären, aber er sagte, das sei nicht der Fall. Die Kleider hingen längs der Wand, von einem Kalikovorhang bedeckt, der auf den Boden reichte. Ein alter haariger Koffer stand in einer Ecke, ein Gitarrenkasten in der anderen, und allerlei Kleinigkeiten und Zierat, womit junge Mädchen ihre Zimmer schmücken, lagen und hingen umher. Der König sagte, es sei so viel hübscher und heimischer und sie solle nur nichts verändern.

Am Abend hatten sie ein großes Essen, und viele Männer und Frauen waren dabei. Ich stand hinter den Stühlen des Königs und des Herzogs und wartete den beiden auf; die andern wurden von den Negern bedient. Mary Jane saß oben am Tisch, mit Susan neben sich, und sagte, wie schlecht die Semmeln geraten, und wie die eingemachten Früchte auch nicht ganz nach Wunsch seien, und wie zäh die gebratenen Hühner seien – wie Frauen es gewöhnlich tun, um Komplimente zu fischen. Die Anwesenden wußten wohl, wie ausgezeichnet gut alles war, und wunderten sich und sagten: »Wie fangen Sie es nur an, daß Sie die Semmeln so schön gebräunt bekommen?« und »Wo haben Sie diese herrlichen Früchte her?« und ähnliches Gerede, wie es bei dergleichen Gelegenheiten vorkommt.

Als alles vorbei war, soupierten ich und die Hasenlippe in der Küche von dem, was übrig war, während die andern den Negern aufräumen halfen.

Sobald ich allein war, fing ich an, über die Sache nachzudenken. Ich sagte zu mir: Soll ich heimlich zum Doktor gehen und diese Betrüger entlarven? Nein – das geht nicht. Er könnte verraten, wer’s ihm gesagt, und dann würden mir König und Herzog die Hölle heiß machen. Soll ich insgeheim zu Mary Jane gehen und es ihr sagen? Nein, das wag‘ ich nicht. Ihr Gesicht, ein Blick könnte es ihnen verraten; sie haben das Geld und könnten damit entwischen. Und wenn sie Hilfe herbeiholte, würde ich leicht hineinverwickelt werden. Nein, der einzige Ausweg ist: Ich muß das Geld irgendwie stehlen, und zwar so, daß sie keinen Verdacht auf mich haben. Ich will es stehlen und verstecken, und nach einiger Zeit, wenn ich weit stromab bin, Mary Jane in einem Briefe verraten, wo es versteckt ist. Aber ich muß das heute nacht tun, wenn möglich, denn der Doktor hält sich vielleicht nicht so still, wie’s jetzt scheint, und das könnte die beiden zur schnellen Flucht veranlassen.

Ich hielt es für das beste, die Zimmer gleich zu durchsuchen. Oben war’s dunkel, doch ich fand des Herzogs Zimmer und fing an, mit den Händen herumzufühlen. Da fiel mir jedoch ein, daß es dem König nicht ähnlich sieht, das Geld einem andern anzuvertrauen; also ging ich in sein Zimmer und begann herumzutasten. Doch bald, fand ich, daß ohne Licht nichts auszurichten sei; allein ich wagte nicht, eins anzuzünden. Auf einmal hörte ich Schritte und wollte schnell unters Bett kriechen. Dabei berührte ich den Vorhang, der Mary Janes Kleider bedeckte; dahinter sprang ich und versteckte mich zwischen den Gewändern.

Sie kamen herein und schlossen die Tür. Das erste, was der Herzog tat, war, daß er unters Bett guckte! Dann setzten sie sich, und der König sprach:

»Nun, was ist’s? Mach’s kurz, denn es ist besser, wenn wir da unten mit heulen und trauern, statt hier oben zu bleiben und Gelegenheit zu geben, daß man über uns redet.«

»Dauphin, so höre denn! Mir ist nicht ganz wohl; ich habe keine Ruhe. Der Doktor liegt mir im Kopf. Was hast du für einen Plan? Ich habe eine Idee, und ich glaube, eine gute.«

»Heraus damit, Herzog!«

»Daß wir uns vor drei Uhr morgens hier aus dem Staub machen und stromab gleiten mit dem, was wir haben. Ich bin dafür, uns zu begnügen und zu verschwinden.«

»Was! Nicht den Rest der Erbschaft hier verkaufen? Abzumarschieren wie ein paar Narren und Eigentum im Wert von acht- bis neuntausend Dollar zurücklassen, das mit Schmerzen darauf wartet, eingesackt zu werden? – Und noch dazu gut verkäufliches Zeug!«

Der Herzog murrte und meinte, der Sack Geld sei genug, er wolle nicht noch weiter gehen – und wolle nicht die drei Waisen um alles, was sie hätten, berauben.

»Was du für Zeug redest!« rief der König. »Denen rauben wir doch nichts als das Geld. Die Leute, die das Eigentum kaufen, sind die Verlierenden; denn sobald sich’s zeigt, daß es uns nicht gehörte – was nicht lange dauern wird –, ist der Verkauf ungültig, und das Eigentum fällt an die Erben zurück. Diese Waisen hier erhalten das Haus zurück, und das ist genug für sie; sie sind jung und tüchtig und können sich leicht ihr Brot verdienen. Denen wird’s nicht schlecht gehen. Denk doch nur, es gibt Tausende und Tausende, die es lange nicht so gut haben. Die hier können sich doch wahrhaftig über nichts beklagen.«

Der König schwatzte drauflos, bis der Herzog endlich nachgab; doch er blieb dabei, daß es eine große Torheit sei, um so mehr, als der Doktor mit Entlarvung drohe.

Der König entgegnete: »Doktor oder Teufel! Was scheren wir uns um die? Haben wir nicht alle Toren der Stadt auf unserer Seite? Und ist das nicht genug Majorität?«

Sie wollten eben hinuntergehen, als der Herzog sagte: »Ich glaube nicht, daß wir das Geld an einen guten Ort getan haben.«

Jetzt horchte ich auf, denn ich hatte schon gefürchtet, daß ich keinen Wink bekommen würde.

Da fragte der König: »Warum?«

»Weil Mary Jane von nun an in Trauer gehen wird; der erste Befehl, den die Negerin, die das Zimmer aufräumt, erhält, wird sein, all diese Kleider fortzuschaffen; und meinst du, solch schwarzes Gesindel könne Geld finden, ohne etwas davon beiseite zu schaffen?«

»Hast wieder einmal recht, Herzog«, rief der König; und er kam und krabbelte unter dem Vorhang herum, nur zwei bis drei Fuß von der Stelle, wo ich stand. Ich drückte mich fest an die Wand und hielt still, obgleich ich zitterte. Ich dachte, was wohl die Kerls tun würden, wenn sie mich hier fänden, und versuchte zu überlegen, was ich tun könnte, wenn sie mich entdeckten. Aber der König hatte bereits den Sack und argwöhnte nichts. Nun steckten sie ihn in den Strohsack, der unterm Federbett lag, und schoben ihn tüchtig ins Stroh hinein und sagten, da sei er gut aufgehoben, denn die Schwarzen pufften ja nur das Federbett auf und wendeten den Strohsack nicht öfter als höchstens zweimal im Jahr. Bevor die beiden die Treppe halb hinab waren, hatte ich den Geldsack hervorgezogen. Ich kletterte in meinen Verschlag und versteckte ihn einstweilen dort. Ich nahm mir aber vor, ihn draußen irgendwo zu verbergen, denn, wenn sie ihn vermißten, würden sie ja das ganze Haus durchstöbern. Das wußte ich wohl. Dann legte ich mich in meinen Kleidern auf mein Lager; doch ich konnte nicht schlafen, selbst wenn ich’s gewollt hätte, denn es ließ mir keine Ruhe, meine Arbeit zu beenden. Bald hörte ich König und Herzog kommen, da stand ich flink auf und lauschte, den Kopf an der Leiter, ob was passieren würde. Aber es ereignete sich nichts.

Ich wartete nun lange, bis alles im Hause ganz ruhig war, und schlüpfte dann die Leiter hinab.

Zuerst kroch ich an ihre Türen und horchte; alles schnarchte.

So schlich ich denn auf den Zehen fort und kam glücklich unten an. Nirgends war ein Laut zu hören.

Ich guckte durch eine Spalte der Speisezimmertür und sah, daß die Männer, die die Leichenwacht hielten, alle auf ihren Stühlen eingeschlafen waren. Die Tür, die zum Salon führte, wo der Tote lag, stand offen, und eine Kerze brannte in jedem Zimmer. Ich ging auf dem Vorplatz weiter und fand die andere Salontür ebenfalls offen. Ein Blick überzeugte mich, daß außer Peters Leiche niemand drin war. Ich ging vorüber, fand aber die Haustür verschlossen, und der Schlüssel steckte nicht. In diesem Augenblick hörte ich jemand hinter mir die Treppe herabkommen. Ich sprang in den Salon, sah mich rasch um, und der einzige Platz, wo ich das Säckchen verbergen konnte, war der Sarg. Der Deckel war etwas verschoben, so daß das Gesicht des Toten sichtbar war. Ich steckte das Säckchen flink unter den Deckel, gerade unterhalb der gekreuzten Hände des Toten, bei deren Berührung ich schauderte. Dann huschte ich flink hinter die Tür.

Es war Mary Jane. Sie ging leise zum Sarg, sah hinein und kniete nieder; dann führte sie ihr Schnupftuch an die Augen, und ich sah, daß sie weinte, obwohl ich’s nicht hören konnte und ihr Rücken mir zugewendet war. Ich entwischte. Am Speisezimmer guckte ich wieder durch die Spalten, ob die Wächter mich nicht gesehen hatten. Alles war in Ordnung, sie hatten mich nicht bemerkt.

Ich schlüpfte hinauf ins Bett und fühlte mich sehr niedergeschlagen, weil die Sache, obwohl ich mir soviel Mühe gegeben und soviel Gefahr gelaufen war, so mißlich stand. Ich sagte mir, wenn der Sack nur bliebe, wo er ist, so war‘ schon alles gut; denn sobald wir ein- bis zweihundert Meilen stromab wären, könnte ich Mary schreiben und sie könnte den Sarg wieder ausgraben lassen. So wird’s aber schwerlich kommen, denn vor dem Zuschrauben des Deckels werden sie das Geld finden. Dann kriegt es der König wieder, und man wird es ihm nicht wieder fortschmuggeln. Gern wär‘ ich hinuntergegangen, um den Sack herauszunehmen – doch ich wagte es nicht.

Als ich des Morgens hinunterkam, war das Gastzimmer verschlossen, und die Wächter waren fortgegangen. Niemand war im Hause außer der Familie, Witwe Bartley und unsere Bande. Ich beobachtete ihre Gesichter, um zu sehen, ob sie etwas gemerkt hätten, konnte aber nichts wahrnehmen.

Gegen Mittag kam der Leichenbestatter mit seinen Leuten. Sie setzten den Sarg in die Mitte des Zimmers auf zwei Stühle, stellten die andern Stühle in zwei Reihen auf, wozu sie von den Nachbarn einige borgten, so daß Vorplatz, Salon und Speisezimmer damit voll waren. Ich sah, daß der Sargdeckel wie zuvor lag, doch wagte ich nicht, solange Menschen da waren, ihn aufzuheben.

Allmählich versammelte sich das Volk. Die falschen Onkel und die Mädchen nahmen die Sitze zu Häupten des Sarges ein, und vor Ablauf einer halben Stunde waren die Geladenen gekommen und hatten Platz genommen. Alles war still und feierlich, nur die Mädchen und die zwei Betrüger schluchzten dann und wann, gebeugten Hauptes, ihre Taschentücher vor den Augen.

Sie hatten eine Zimmerorgel geborgt, die ziemlich schadhaft war. Als alles bereit war, setzte sich ein junges Frauenzimmer davor und fing an, daran zu arbeiten. Es klang ziemlich kreischend und verstimmt. Dann fiel die Gemeinde mit Gesang ein. Hierauf erhob sich Pastor Hobsen langsam und feierlich und begann zu reden. Plötzlich brach der furchtbarste Lärm im Keller los, den man sich denken konnte! Es war nur ein Hund, aber er machte einen Heidenlärm und wollte gar nicht enden. Der Pfarrer mußte aufhören zu predigen. Es war sehr störend, und niemand wußte sich zu helfen. Bald jedoch machte der langbeinige Leichenbestatter dem Pfarrer ein Zeichen, als wollte er sagen: Ich werde schon Ruhe schaffen. Dann ging er hinaus, während das Gebell und der Lärm immer ärger wurden. Bald darauf hörten wir einen tüchtigen Krach, der Hund stieß ein schauerliches Geheul aus, dann wurde alles totenstill, und der Pfarrer fuhr in seiner Predigt fort, wo er aufgehört hatte. Nach einer Weile erschien der Leichenbestatter wieder, schlich leise an der Wand entlang, bis er beim Pfarrer war, und rief mit heiserem Ton zu ihm hinüber, indem er den Hals vorstreckte und die Hand über den Mund hielt: »Er hatte eine Ratte!« Diese Auskunft verbreitete unter den Anwesenden sichtlich Befriedigung.

Die Predigt war zweifellos sehr gut, aber heillos lang und ermüdend, und zum Überfluß mußte der König noch etwas von seinem Senf dazutun. Endlich war auch das überstanden, und der Leichenbestatter näherte sich mit einem Schraubenzieher dem Sarg. Mir wurde ganz heiß dabei. Aber er hob den Deckel nicht, schob ihn nur zurecht und schraubte ihn fest. Wissen konnte ich freilich nicht, ob das Geld noch drin war oder nicht. Wie, wenn jemand den Sack insgeheim herausgenommen hatte? Wie sollte ich jetzt wissen, ob ich Mary Jane schreiben mußte oder nicht? Angenommen, sie gräbt den Sarg aus und findet nichts – was würde sie von mir denken? Sie könnten mich vielleicht verfolgen und einsperren; lieber schreibe ich nicht.

Sie begruben ihn, wir kamen heim, und ich beobachtete wieder die Gesichter – ich konnte nicht anders, ich hatte keine Ruhe. Es kam aber nichts dabei heraus.

Der König machte am Abend Besuche, war gegen jedermann sehr liebenswürdig und wurde dadurch noch beliebter. Er deutete an, daß ihn seine Gemeinde in England nicht lange entbehren könne und er sich darum mit der Ordnung der Hinterlassenschaft beeilen müsse, um bald heimreisen zu können. Er bedauerte, daß er solche Eile habe, und den andern tat es auch leid; sie wünschten, er hätte länger bleiben können, doch sahen sie wohl ein, daß das nicht anging. Auch sagte er, daß er und William die Mädchen natürlich mit sich heimnehmen würden; das freute alle, denn die Mädchen würden bei ihren eigenen Verwandten gut aufgehoben sein. Den Mädchen gefiel es auch und freute sie so sehr, daß sie ihren Kummer ganz vergaßen. Sie baten den König, so schnell wie möglich alles zu verkaufen. Die armen Dinger waren so froh und glücklich; mir tat das Herz weh, sie so betört und belogen zu sehen, aber ich konnte nicht helfen.

In der Tat ließ der König sofort das Haus, die Neger und alles Eigentum zur Versteigerung anzeigen; doch konnte auch vorher jedermann aus freier Hand kaufen, was er wünschte.

21. Kapitel

Totaler Ausverkauf – Entdeckter Verlust – Mary Jane entschließt sich zum Fortgehen – Huck nimmt Abschied von ihr – Mumps

21. Kapitel

Schon am Tag nach dem Begräbnis bekam die Freude der Mädchen den ersten Stoß. Gegen Mittag erschienen nämlich zwei Sklavenhändler, und der König verkaufte die Neger zu passablen Preisen gegen in drei Tagen fällige Wechsel, wie sie es nannten. Ich dachte, den armen Mädchen und den Negern würde vor Jammer das Herz brechen. Ich glaube, ich wäre mit der Wahrheit herausgeplatzt und hätte die Kerls entlarvt, wenn ich nicht gewußt hätte, daß der Verkauf ungültig sei und die Neger in ein bis zwei Wochen wieder zurück sein würden.

Dieser Verkauf machte viel Gerede in der Stadt. Es schadete den Betrügern etwas; aber der König blieb hartnäckig dabei, trotz aller Einwendungen des Herzogs, der sich ernstlich unbehaglich fühlte.

Der nächste Tag war Auktionstag. Es war schon hell am Morgen, als König und Herzog zu mir auf den Boden kamen und mich weckten. Ich konnte in ihren Gesichtern lesen, daß was los sei.

Der König redete mich an: »Warst du vorgestern abend in meinem Zimmer?«

»Nein, Majestät« – so nannte ich ihn immer, wenn niemand außer unserer Bande dabei war.

»Warst du gestern oder letzte Nacht drin?«

»Nein, Majestät.«

»Auf Ehre? – Keine Lügen jetzt!«

»Auf Ehre, Majestät; ich sage Ihnen die Wahrheit. Ich bin nicht in Ihrem Zimmer gewesen, seit Fräulein Mary Sie und den Herzog hinführte, um es Ihnen zu zeigen.«

Der Herzog fragte: »Hast du sonst jemand hineingehen sehen?«

»Nein, Ihro Gnaden, nicht daß ich mich zu erinnern wüßte.«

»Denk etwas nach.«

»Doch, ja, ich habe die Neger mehreremal hineingehen sehen.«

»Wann war das?«

»Es war am Begräbnistag, am Morgen. Ich war nicht früh auf, denn ich hatte mich verschlafen. Ich kam gerade die Leiter herab, als ich sie sah.«

»Ja, ja, nur weiter, nur weiter. Was taten sie? Wie benahmen sie sich?«

»Sie taten nichts, und es fiel mir auch nichts Besonderes an ihnen auf. Sie schlichen auf den Zehen davon; allein ich dachte, sie seien in Ihro Gnaden Zimmer gegangen, um aufzuräumen oder dergleichen, in der Meinung, Sie wären schon auf; da sie aber merkten, daß Sie noch schliefen, würden sie nun leise davonschleichen, um Sie nicht zu wecken.«

»Alle Wetter, das ist ’ne Bescherung!« rief der König und sie sahen einander verdutzt und ziemlich dumm an. Eine Minute lang standen sie da, grübelnd und sich hinter den Ohren kratzend, dann brach der Herzog in ein heiseres Gelächter aus und sagte: »Es übersteigt alles, wie gut diese Neger ihre Rolle, gespielt haben. Sie taten so jämmerlich, weil sie aus dieser Gegend fort mußten! Und ich glaubte, sie fühlten sich wirklich elend, und du glaubtest es auch, und alle andern. Mir soll kein Mensch je wieder behaupten, daß Neger kein histrionisches Talent besitzen. In denen steckt ein Vermögen. Hätte ich die Mittel und ein Theater, so wäre mein erstes: Die müßten mir her. Und wir haben sie verschleudert, hergegeben für einen Wisch, einen Wechsel! Sag mal, wo ist er eigentlich, der Wisch?«

»Zum Einkassieren auf der Bank. Wo soll er sonst sein?«

»Nun, dann ist es, gottlob, in Ordnung.«

Jetzt sagte ich in etwas ängstlichem Ton: »Ist irgend etwas schiefgegangen?«

Der König wandte sich zu mir und fuhr mich an: »Geht dich nichts an! Halt deinen Mund und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, wenn du welche hast. Vergiß das nicht, solange du in dieser Stadt bist – verstanden?«

Als der König mit mir fertig war, sagte der Herzog höhnisch: »Schnelle Verkäufe mit kleinem Gewinn! Ist ja das wahre Geschäftsprinzip – was?«

Der König schnarrte zurück: »Ich hab’s gerade recht gut machen wollen, als ich die Kerls so rasch verkaufte. Wenn der Gewinn gleich Null oder gar minus ist, so ist’s mein Fehler nicht mehr als deiner.«

»Nun, sie wären noch in diesem Hause, und wir wären fort, wenn man meinen Rat befolgt hätte.«

Der König gab ihm darauf wieder heraus, dann fuhr er mich an und machte mich arg herunter, weil ich ihm nicht auf der Stelle gesagt hätte, daß die Neger aus seinem Zimmer gekommen seien und sich so eigen benommen hätten; jeder Narr hätte wissen können, daß dahinter was steckt. Dann fluchte er zur Abwechslung auf sich selbst und sagte, das käme davon, wenn man früh aufstehe, anstatt sich seine Ruhe zu gönnen, er wolle verdammt sein, wenn er’s je wieder täte. So gingen sie grollend und zankend ab.

Mittlerweile war’s Zeit zum Aufstehen geworden; so stieg ich denn die Leiter hinab und wandte mich zur Treppe. Als ich am Zimmer der Mädchen vorbeikam, stand die Tür offen, und ich sah Mary Jane neben ihrem alten haarigen Koffer sitzen, der offen war und in den sie eben Sachen gepackt hatte, um sich zur Reise nach England zu rüsten. Doch jetzt hielt sie inne – mit einem gefalteten Kleid auf dem Schoß –, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte.

Es tat mir leid, sie so traurig zu sehen, ich trat daher ins Zimmer und sagte:

»Fräulein Mary Jane, was fehlt Ihnen?«

So sagte sie mirs denn. Es war wegen der Neger; der Verkauf hätte ihr alle Freude an der Reise nach England verdorben. Sie könne nie wieder glücklich sein, wenn sie daran denke, daß Mutter und Kinder voneinander getrennt würden und daß sie sich nie, nie wiedersehen würden.

»Aber sie werdens doch, eh‘ zwei Wochen um sind – ich weiß es gewiß!« sagte ich.

Da war’s heraus, bevor ich mich’s versah! Und im nächsten Augenblick schlang sie ihre Arme um meinen Hals und rief: »Wär’s möglich? Bitte sag’s noch einmal!«

Ich hatte zuviel gesagt und fühlte mich etwas verlegen. Ich bat sie, mir eine Minute Zeit zum Besinnen zu lassen. Sie setzte sich wieder und war ganz voll Erwartung und Aufregung; dabei sah sie so glücklich und beruhigt aus wie jemand, der sich eben einen Zahn hat ausziehen lassen. Ich überlegte mir’s und sprach zu mir selbst: Ein Mensch, der sich aufrafft und die Wahrheit sagt, wenn er in die Enge getrieben wird, läuft manche Gefahr – zwar kann ich nicht aus Erfahrung sprechen und weiß es nicht gewiß, aber es will mir so scheinen. Nun ist hier aber ein Fall, wo es mir entschieden vorkommt, als ob die Wahrheit besser und sogar sicherer wäre als eine Lüge. Ich will’s also wagen und diesmal die Wahrheit sagen, obwohl für mich viel auf dem Spiel steht und es mir dabei zumute ist, wie einem, der sich mit der brennenden Pfeife auf ein Faß Schießpulver setzt. Dann sagte ich: »Fräulein Mary Jane, wissen Sie irgendeinen Platz etwas außerhalb der Stadt, wo Sie hingehen und drei bis vier Tage zubringen könnten?«

»Ja – bei Lothrops. Warum?«

»Lassen wir das warum. Wenn ich Ihnen sage, woher ich weiß, daß die Neger einander wiedersehen werden, innerhalb zwei Wochen, hier in diesem Hause, und beweise, woher ich’s weiß – wollen Sie dann zu Lothrops gehen und vier Tage dort bleiben?«

»Vier Tage«, rief sie »ein Jahr, wenn es sein muß!«

»Gut«, sagte ich, »von Ihnen will ich nichts mehr als Ihr Wort, das ist mir sicherer, als wenn ein anderer auf die Bibel schwört.« Sie lächelte und errötete lieblich; ich fuhr fort: »Wenn Sie nichts dagegen haben, will ich die Tür schließen und verriegeln.«

Dann kam ich zurück und begann: »Nun bitte ich, nicht aufzuschreien. Sitzen Sie hübsch still und hören Sie mich an wie ein Mann. Ich muß die Wahrheit sagen, und Sie müssen sich fassen, Fräulein Mary, denn sie ist schlimmer Art und schwer zu ertragen, aber es geht einmal nicht anders. Diese Onkel sind gar nicht Ihre Onkel; sie sind ein paar Betrüger, erbärmliche Landstreicher. – So, über’s Schlimmste sind wir nun hinweg, den Rest werden Sie ziemlich leicht ertragen.«

Natürlich griff sie dieser Anfang tüchtig an; doch ich war jetzt über das Gröbste weg und konnte nun leichter fortfahren. Ihre Augen leuchteten mehr und mehr, als ich ihr alles erzählte, von dem Augenblick an, wo wir den jungen Burschen trafen, der zum Dampfboot wollte – alles haarklein –, bis zu dem Moment, wo sie sich an der Haustür dem König an die Brust warf und ihn sechzehn- oder siebzehnmal küßte.

Da sprang sie auf, ihr Gesicht glühte wie die untergehende Sonne, und rief: »Der Schändliche! – Komm, verlier keine Minute, keine Sekunde. Sie sollen geteert und gefedert und in den Fluß geworfen werden!«

Ich entgegnete: »Versteht sich. Aber doch nicht, bevor Sie zu Lothrops gehen, oder…«

»Oh!« rief sie, »was fällt mir nur ein!« und setzte sich wieder. »Wo habe ich meine Gedanken? Du bist mir doch nicht böse, nicht wahr?« Und dabei legte sie ihre Sammethand auf meine, daß ich meinte, ich müsse vergehen. »Meine Aufregung war zu groß«, sagte sie, »sei jetzt so gut und fahre fort, ich werde mich zusammennehmen. Sag mir nur, was ich tun soll, es soll genau befolgt werden!«

»Wahrhaftig«, sprach ich, »es ist eine schlimme Bande, diese zwei Gauner, und ich bin leider darauf angewiesen, daß ich mit ihnen noch eine Weile reisen muß, ob ich will oder nicht – den Grund sage ich Ihnen lieber nicht. Allerdings, wenn Sie die Kerls anzeigten, würde die Stadt mich schon aus ihren Klauen reißen, und ich wäre sicher; es ist aber da noch ein anderer, von dem Sie nichts wissen, dem es dann schlecht gehen könnte. Den müssen wir doch retten, nicht wahr? Natürlich, so wollen wir also das Pärchen noch nicht anzeigen.«

Wie ich das sagte, kam mir ein guter Gedanke. Am Ende gelang es doch, mich und Jim von den Gaunern loszumachen und sie hier ins Gefängnis zu bringen. Doch da ich das Floß nicht bei Tage treiben lassen wollte, so durfte mein Plan nicht vor Abend zur Ausführung kommen.

Ich sagte: »Fräulein Mary Jane, ich will Ihnen sagen, was wir tun, dann werden Sie auch bei Lothrops nicht so lange zu bleiben brauchen. Wie weit ist’s bis dorthin?«

»Eine gute Stunde, landeinwärts.«

»Das genügt. Gehen Sie jetzt hin, bleiben Sie ruhig dort bis neun oder halb zehn Uhr abends, und dann lassen Sie sich wieder heimbringen; Sie können ja sagen, Sie hätten etwas vergessen. Wenn Sie vor elf hier sind, stellen Sie ein Licht ans Fenster und warten auf mich bis elf Uhr; sollte ich bis dahin nicht erscheinen, so denken Sie, daß ich fort bin und in Sicherheit. Dann kommen Sie heraus, enthüllen alles und lassen die Gauner ins Gefängnis stecken.«

»Gut«, sprach sie, »das will ich tun.«

»Sollte es aber passieren, daß ich nicht fortkomme, sondern mit den beiden ergriffen werde, dann müssen Sie den Leuten sagen, daß Sie alles durch mich erfahren haben, und müssen mir beistehen, soviel Sie können.«

»Dir beistehen? Gewiß will ich das. Sie sollen kein Haar auf deinem Haupte krümmen.«

»Wenn ich entwische, so kann ich freilich nicht beweisen, daß diese Schurken nicht Ihre Onkel sind; doch könnt‘ ich das auch nicht, selbst wenn ich hier wäre. Ich könnte nur beschwören, daß sie Landstreicher und Gauner sind, doch das wär‘ auch schon von Bedeutung. Aber es gibt noch andere, die das besser können als ich, und denen man leichter Glauben schenken wird als mir. Ich will Ihnen sagen, wo sie zu finden sind. Geben Sie mir einen Bleistift und ein Stück Papier – so, Königliches Nonplusultra zu Bricksville. Stecken Sie das ein und verlieren Sie’s nicht. Wenn das Gericht sich Auskunft verschaffen will über die zwei, so soll man nur nach Bricksville schicken und sagen lassen, die Leute, die das Königliche Nonplusultra gespielt haben, seien abgefaßt und man brauche einige Zeugen. Dann wird das ganze Städtchen im Nu hier sein, Fräulein Mary. Alle werden kommen, und zwar kochend vor Wut.«

Ich dachte, nun ist alles wohlgeordnet und sagte noch: »Lassen Sie die Versteigerung ruhig vor sich gehen. Niemand braucht für die gekauften Sachen zu bezahlen vor dem nächsten Tag, und die beiden werden nicht von hier fortgehen wollen, bis sie das Geld haben. So wie wir’s jetzt eingefädelt haben, wird der Verkauf ungültig sein, und die beiden werden das Geld nicht bekommen. Es geht ebenso wie mit den Negern: es ist kein gültiger Verkauf, und die Neger werden bald wieder heimkehren. Die Gauner können nicht einmal das Geld für die Neger erhalten. Warten Sie nur, das Pärchen soll seine Wunder erleben!«

»Ich will nur noch zum Frühstück hinunter«, rief sie, »und dann gehe ich gleich zu Lothrops.«

»Nein, nein, Fräulein Mary Jane«, entgegnete ich, »das geht nicht – geht unmöglich; Sie müssen vor dem Frühstück gehen. Stellen Sie sich vor, Sie könnten Ihren Onkeln begegnen! Sie können jeden Augenblick erscheinen, um Ihnen guten Morgen zu wünschen und Sie zu küssen –«

»Genug, genug davon! Da will ich lieber vor dem Frühstück gehen. Sollen die Schwestern hierbleiben?«

»Ja, grämen Sie sich nicht um sie. Sie müssen’s noch etwas aushalten. Es würde Verdacht erregen, wenn alle gingen. Sie dürfen jetzt weder den Gaunern, noch den Schwestern, noch irgend jemandem in der Stadt zu Gesicht kommen. Wenn Sie heute ein Nachbar nach dem Befinden Ihrer Onkel fragen würde, so könnte Ihr Gesicht Sie verraten. Nein, gehn Sie nur gleich fort, Fräulein Mary Jane, und lassen Sie mich alles besorgen. Ich werde Fräulein Susan auftragen, daß Sie den Onkeln einen freundlichen Gruß senden; Sie seien auf einige Stunden fortgegangen, um eine Freundin zu besuchen, und würden am Abend oder frühmorgens heimkehren.«

Fräulein Mary Jane stutzte einen Augenblick, dann bemerkte sie ein wenig spitz: »Sag meinetwegen, ich sei zu meinen Freundinnen gegangen, aber einen Gruß darfst du dem sauberen Paar von mir nicht ausrichten.«

»Gut, also keinen Gruß.« – Warum sollt‘ ich ihr gegenüber darauf bestehen? »Aber noch eins, Fräulein – der Geldsack!«

»Nun, den haben die leider; und ich schäme mich, wenn ich daran denke, wie sie ihn bekamen.«

»Nein, da irren Sie sich. Die haben ihn nicht.«

»Die nicht? – Wer sonst?«

»Ich wollte, ich wüßt‘ es; doch weiß ich es nicht. Ich hatte ihn, denn ich stahl ihn, stahl ihn für Sie und weiß auch, wo ich ihn versteckt habe, fürchte aber, daß er nicht mehr da ist. Es tut mir sehr leid, Fräulein Mary Jane, nie hat mir etwas so leid getan; aber ich tat alles, was ich tun konnte. So wahr ich lebe, ich meinte es ehrlich. Ich wurde beinah erwischt, und ich mußte ihn am ersten besten Platz verstecken und mich aus dem Staub machen – und es war kein guter Platz.«

»Oh, hör doch auf, dich anzuklagen! Es ist nicht recht von dir, und ich leid‘ es nicht. Es war nicht deine Schuld. – Wo hast du ihn versteckt?«

Ich wollte sie nicht wieder an ihren großen Kummer erinnern, so schwieg ich eine Minute und sagte dann: »Ich sag‘ es Ihnen jetzt lieber nicht, Fräulein Mary Jane, wenn Sie’s mir nicht übelnehmen; doch ich will es Ihnen auf ein Stück Papier schreiben, und Sie können es auf dem Weg zu Lothrops lesen, wenn Sie wollen. Sind Sie damit zufrieden?«

»O ja.«

So schrieb ich denn: »Ich verbarg ihn im Sarg. Er steckte drin, als Sie dort weinten – damals in der Nacht. Ich stand hinter der Tür und hatte viel Mitleid mit Ihnen, Fräulein Mary Jane.«

Mir wurden die Augen feucht bei dem Gedanken, wie sie dort einsam in der Nacht weinte, während diese Teufel, unter ihrem eigenen Dach beherbergt, sie betrogen und beraubten; und als ich das Papier zusammenfaltete und ihr gab, sah ich auch in ihren Augen Tränen, und sie schüttelte mir kräftig die Hand und sagte: »Leb wohl. Ich will alles tun, wie du mir’s gesagt hast. Und sollte ich dich auch nie wiedersehen, so werde ich dich doch nie vergessen; und ich werde oft, sehr oft an dich denken und auch für dich beten!« – und sie war fort.

Für mich beten! Na, wenn die dich kennen würde, dachte ich bei mir, würde sie eine Arbeit wählen, die ihrer Kraft angemessener und erfolgversprechender wäre. Aber ich wette, sie hat’s doch getan, das sah ihr ganz gleich. Darüber war kein Zweifel, sie besaß mehr Festigkeit, als ich je bei einem Mädchen gesehen hatte, und wirklichen Charakter. Das mag wie Schmeichelei klingen, ist aber keine. Was Schönheit anbetrifft, und auch Güte – ach, da übertraf sie alle. Seit dem Augenblick, als sie zur Tür hinausging, hab‘ ich sie nie wiedergesehen, nein – nie; aber an sie gedacht hab‘ ich viele, viele millionenmal, auch an ihre Worte, daß sie für mich beten würde. Und wenn ich genau gewußt hätte, daß es ihr wohltun könnte, wenn ich für sie betete, so will ich verdammt sein, wenn ich’s nicht versucht hätte.

Also Mary Jane war fort, und niemand hatte sie fortgehen sehen.

Als ich der Susan und der Hasenlippe begegnete, sagte ich: »Wie heißen die Leute jenseits des Flusses, die Sie zuweilen besuchen?« Sie antworteten: »Da sind mehrere, aber besonders die Proktors.« »Das ist der Name«, rief ich, »bald hätt‘ ich’s vergessen! Fräulein Mary Jane befahl mir, Ihnen zu sagen, daß sie in großer Eile dahinüber mußte; es ist dort jemand krank.«

»Wer denn?«

»Ich weiß nicht; oder vielmehr, ich hab’s vergessen, aber ich glaube, es war –«

»Um Gottes willen, doch nicht etwa Hannah?«

»Leider doch«, rief ich, »Hannah war der Name.«

»Um Gottes willen! Und noch vorige Woche war sie so munter! Ist es schlimm?«

»Ach, wenn’s bloß schlimm wäre. Man wachte bei ihr die ganze Nacht, sagte Fräulein Mary Jane, und befürchtet, daß sie nicht mehr lange leben wird.«

»Wer hätte das gedacht! Was fehlt ihr denn?«

Mir fiel im Augenblick nichts Vernünftiges ein, so sagte ich denn: »Mumps.« In manchen Gegenden auch Wochentölpel genannt.

»Mumps? Du Schlafmütze! Man wacht nicht bei Leuten, die Mumps haben.«

»So, meinen Sie? Na, Sie können darauf wetten, daß man bei diesem Mumps wacht. Das ist nämlich ein ganz anderer Mumps. Es sei eine neue Gattung Mumps, sagte Fräulein Mary Jane.«

»Wieso?«

»Weil noch andere Übel dabei sind.«

»Was für andere?«

»Ach, Masern und Keuchhusten und Rose und Schwindsucht und Gelbsucht und Gehirnfieber, und ich weiß nicht, was noch mehr.«

»Ach was! Und das heißen sie Mumps?«

»Fräulein Mary Jane sagte so!«

»Aber um alles in der Welt, warum nennen sie das Mumps?«

»Warum? Weil’s Mumps ist. Damit fängt’s an.«

»Liegt darin auch Sinn und Verstand? Angenommen, es verstaucht einer seine Zehen und fällt nachher von einem Haus herab, bricht den Hals und die Hirnschale, und es fragte jemand, woran er gestorben sei, und so ein Tölpel antwortete: ›Nun, er hatte sich die Zehen verstaucht!‹ – hätte das auch Sinn und Verstand? Nein: und ebensowenig Sinn ist in deinem Mumps! – Ist’s wohl ansteckend?«

»Jedenfalls, ich würde der Krankheit nicht trauen.«

»Das ist ja schrecklich«, rief die Hasenlippe, »da muß ich gleich zu Onkel Harry gehen, und…«

»Jawohl«, sag‘ ich, »das würd‘ ich auch. Natürlich tät‘ ich das. Ich würde keine Minute verlieren.«

»So, warum meinst du?«

»Nur Geduld, es soll Ihnen gleich ein Licht aufgehen. Nicht wahr, Ihre Onkel müssen so bald wie möglich wieder in England sein? Sie trauen Ihren Onkeln doch nicht zu, daß sie selber jetzt abreisen und Ihnen und Ihren Schwestern zumuten, später nachzukommen und die lange Seereise allein zu machen? Nein, Sie wissen wohl, daß sie warten werden, bis Sie alle zusammen reisen können. Also gut. Ihr Onkel Harry ist Pfarrer, nicht wahr? Wird ein Pfarrer einen Dampfbootbeamten täuschen, nicht bloß hier, sondern auch in New York und sonst, damit Fräulein Mary Jane an Bord gelassen wird? Trauen Sie Ihrem Onkel zu, daß er das Leben der anderen Passagiere in Gefahr brächte? Sie wissen recht gut, daß er das nicht täte. Also, was wird er tun? Nun, er wird sagen: ›Das ist zwar recht fatal, aber meine Kirche muß sich eben behelfen, so gut sie kann, denn meine Nichte war diesem ansteckenden, fürchterlichen Universal-Mumps ausgesetzt, und da ist es meine Pflicht und Schuldigkeit, hier zu bleiben und drei Monate zu warten, um zu wissen, ob sie angesteckt ist.‹ – Nun, ich will nichts gesagt haben, und wenn Sie meinen, es sei besser, dem Onkel Harry zu sagen…«

»Was, ein paar Monate hier herumliegen, während wir uns in England gut amüsieren könnten, bloß um zu wissen, ob Mary Jane angesteckt ist oder nicht? Du bist wohl nicht gescheit.«

»Was meinen Sie, wollen Sie’s nicht lieber einigen Nachbarn sagen?«

»Nun hör doch einer – deine Dummheit geht über alles. Weißt du denn nicht, daß sie es sogleich ausposaunen würden? Das beste ist, man sagt’s gar niemand.«

»Aber Onkel Harry sollten wir sagen, daß sie auf eine Weile ausgegangen ist, damit er sich nicht ihretwegen ängstigt.«

»Mag sein, daß Sie recht haben – ja, ich glaube Sie haben recht.«

»Ja, Fräulein Mary Jane wünschte auch, Sie möchten das bestellen. Sie sagte: ›bringe den Onkeln Harry und William von mir Gruß und Kuß und sag ihnen, ich sei nur geschwind zu einem kleinen Besuch über’n Fluß gegangen zu Herrn – Herrn –‹ wie ist der Name der reichen Familie, auf die Ihr Onkel Peter soviel hielt? Ich meine die, die…«

»Ach, du meinst wohl die Apthorps, nicht wahr?«

»Ja, ganz richtig. Der Kuckuck soll diese Namen holen, die man gar nicht behalten kann. Ja, sie sagte, ich solle melden, sie sei nur hinüber, um die Apthorps zu bitten, sicher zur Auktion zu kommen und das Haus zu kaufen, denn sie glaube, Onkel Peter möchte gern, daß sie es bekämen, statt jemand anderer. Sie will ihnen so lang zusetzen, bis sie versprechen zu kommen, und wenn sie nicht zu müde ist, will sie heute abend noch heimkommen, andernfalls würde sie bestimmt morgen früh zurück sein. Sie wünschte, daß man nichts von den Proktors sagen solle, sondern nur von den Apthorps – was auch ganz wahr ist, denn sie wird wegen des Hauses mit ihnen sprechen; ich weiß es, denn sie hat es mir selbst gesagt.«

»Schon gut«, riefen sie und gingen fort, um den Onkeln Gruß, Küsse und die Nachricht zu bringen.

Soweit war alles gut. Die Mädchen, dachte ich, werden den Mund halten, denn sie wollen nach England gehen; und dem König und Herzog muß es lieber sein, wenn Mary Jane fort ist und für die Auktion arbeitet, als daß sie sich noch im Bereich des Dr. Robinson befindet. Ich war mit mir zufrieden und schmeichelte mir, die Sache ziemlich nett gedeichselt zu haben – und daß Tom Sawyer selbst es nicht viel besser gekonnt hätte.

22. Kapitel

Welche sind die Rechten? – Handschriften – Probe – Tätowieren – Die Leiche wird ausgegraben – Fort! – Befreiung vom königlichen Joche – Jim wird verschachert

22. Kapitel

Die Auktion fand spät am Nachmittag statt und zog sich lange hin. Der Alte stand neben dem Auktionator, machte ein Armsündergesicht, warf hier und da einen Bibelvers dazwischen, oder auch dann und wann ein Schmeichelwort, und der Herzog gu-gu-te herum, um Teilnahme zu erregen.

Endlich ging’s zu Ende, und es war alles verkauft – alles, außer einem kleinen Begräbnisplatz auf dem Kirchhof, der auch noch verkauft werden mußte. Während noch darauf gesteigert wurde, landete ein Dampfboot, und in etwa zwei Minuten kam eine Menschenmenge schreiend und lachend daher, und viele riefen: ›Hurra, da sind neue Erben vom alten Wilks! Sie leben hoch!‹

Sie brachten einen fein aussehenden alten Herrn und einen netten jungen Mann, der den rechten Arm in einer Schlinge trug.

Das Volk umringte sie jubelnd und lachend. Mir war’s aber gar nicht lächerlich, und ich dachte, nun würde dem König und dem Herzog der Spaß vergehen. Doch weit gefehlt. Der Herzog ließ sich nicht das mindeste anmerken, sondern gu-gu-te drauflos, wie ein Krug mit engem Halse, aus dem man Buttermilch gießt. Der König aber blickte mitleidig auf die Neuankömmlinge herab, als bereite ihm der Gedanke, daß es solche Schurken und Betrüger auf der Welt geben könne, Magenschmerzen bis ins Herz hinein. Oh, er machte das bewundernswert. Eine Menge Leute umringten den König, um ihm zu zeigen, daß sie auf seiner Seite seien. Der eben angekommene alte Herr schaute ganz verdutzt drein. Bald jedoch fing er an zu reden, und ich konnte gleich hören, daß er wie ein Engländer sprach; nicht wie der König, obwohl der es ganz gut nachmachte. Des alten Herrn Worte kann ich nicht wiedergeben, aber er sagte etwa folgendes: »Das ist eine Überraschung, die ich nicht voraussah, und ich muß es leider frei gestehen: Ich bin schlecht vorbereitet, ihr zu begegnen, denn mein Bruder und ich haben Unglück gehabt; er hat den Arm gebrochen, und unser Gepäck wurde durch einen Irrtum letzte Nacht in einem Städtchen weiter oberhalb ans Land gesetzt. Ich bin Peter Wilks‘ Bruder Harry, und das ist sein Bruder William, der weder hören noch reden, und jetzt auch nicht einmal ordentlich Zeichen machen kann, da er nur eine Hand dazu frei hat. Wir sind, was wir zu sein vorgeben, und in ein bis zwei Tagen, wenn ich mein Gepäck erhalte, kann ich’s beweisen. Bis dahin will ich nichts weiter sagen, sondern ins Gasthaus gehen und warten.«

So gingen er und der neue Stumme ab; der König platzte folgendermaßen los: »Arm gebrochen – sehr wahrscheinlich, he? Und sehr rechtzeitig, zumal für einen, der Zeichen machen soll und es nicht gelernt hat. Gepäck verloren! Ausgezeichnet, vorzüglich ausgedacht unter den Verhältnissen!«

Dann lachte er und die andern auch, außer dreien oder vieren. Einer davon war der Arzt, ein anderer ein scharf dreinblickender Herr mit einer alten Reisetasche, der eben mit dem Dampfboot gekommen war und mit dem Arzt leise sprach. Sie sahen zum König hinüber und winkten einander zu – es war Levi Bell, der Advokat, der in Louisville gewesen war. Der dritte, der nicht mitgelacht hatte, war ein großer, rauher Kerl, der erst dem alten Herrn zugehört hatte und nun die Rede des Königs anhörte.

Er wartete, bis er geendet, und fuhr ihn dann wie folgt an: »Hör mal, wenn du Harry Wilks bist, wann kamst du hierher?«

»Den Tag vor der Beerdigung, Freund«, sprach der König.

»Zu welcher Tageszeit?«

»Am Abend, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang.«

»Woher kamst du?«

»Von Cincinnati, mit Dampfer Susan Pawell

»So – ich hab‘ dich doch am Morgen in einem Kanu bei der Landzunge landen sehen.«

»Ich war am Morgen nicht bei der Landzunge.«

»Das ist gelogen!«

Mehrere sprangen auf und baten ihn, doch nicht so zu einem alten Mann und Prediger zu reden.

»Potz Prediger, ein Betrüger und Lügner ist er. Er war jenen Morgen auf der Landzunge. Ich wohne da – ich war da, und er war da. Ich sah ihn dort. Er kam in einem Kanu mit Tim Collins und einem Knaben.« – Da rief der Arzt: »Würdest du den Knaben erkennen, wenn du ihn siehst, Heinz?«

»Ich weiß nicht, aber ich glaube. – Da ist er ja, ich kenne ihn ganz gut.« Er wies dabei auf mich.

Der Arzt sprach:

»Nachbarn, ich weiß nicht, ob das neuangekommene Paar Betrüger sind oder nicht; aber wenn die hier keine sind, will ich ein Narr sein. Ich halte es für meine Pflicht, sie nicht fortzulassen, bis wir mehr in Erfahrung bringen. Komm, Heinz, kommt alle, wir nehmen dieses Paar ins Gasthaus und stellen es dem andern gegenüber. Wir werden dann bald dahinterkommen.«

Das war ein Spaß für die Menge, wenn auch nicht für des Königs Freunde. So gings denn los. Es war um Sonnenuntergang. Der Arzt führte mich bei der Hand; er war ganz freundlich, ließ aber meine Hand nie los.

Wir gingen ins große Zimmer des Gasthofs, zündeten Licht an und holten das neue Paar.

Erst sprach der Arzt: »Ich will mit diesen beiden Männern – er deutete auf den König und den Herzog – nicht zu hart verfahren, aber ich halte sie für Betrüger. Wenn sie keine Betrüger sind, so werden sie sich nicht weigern, das Säckchen herbeizuschaffen, das ihnen Wilks hinterlassen hat, und es von uns aufbewahren lassen, bis sie sich richtig ausgewiesen haben. – Hab‘ ich recht?«

Alle stimmten bei. So schien mir’s, daß sich unser Pärchen gleich in einer bösen Klemme befand. Doch der König machte nur eine bekümmerte Miene und sprach:

»Meine Herren, ich wünschte, das Geld wäre da, denn ich habe nichts gegen eine redliche, offene Untersuchung dieser traurigen Affäre; aber leider ist das Geld nicht mehr da.«

»Wo ist es denn?«

»Nun, als meine Nichte es mir zum Aufheben gab, verbarg ich es im Bettstroh, mit der Absicht, es während der wenigen Tage unseres Hierseins auf die Bank zu senden. Wir hielten das Bett für einen sicheren Platz. Nicht an Neger gewöhnt, hielten wir sie ebenso ehrlich wie unsere Domestiken in England. Die Neger stahlen es den nächsten Morgen, nachdem ich das Zimmer verlassen hatte. Als ich sie verkaufte, vermißte ich das Geld noch nicht, und so sind sie damit fort. Mein Diener hier kann Ihnen darüber berichten, meine Herren.«

Der Arzt und mehrere andere riefen: »Unsinn!«, und ich sah, daß niemand ihm wirklich glaubte. Einer fragte mich, ob ich’s die Neger hätte stehlen sehen. Ich entgegnete: Nein, aber ich hätte die Neger fortschleichen sehen und hätte mir nichts dabei gedacht, als daß sie meinen Herrn aufgeweckt und sich aus dem Staub gemacht hätten, ehe er sie anranzen konnte. Das war alles, was ich darüber gefragt wurde. Doch plötzlich wandte sich der Arzt zu mir und sagte: »Bist du etwa auch ein Engländer?«

Ich antwortete mit ja, und er und einige andere lachten und machten ihre Witze darüber.

Dann ging’s wieder an die allgemeine Untersuchung, die Geschichte ging auf und nieder, hin und her, Stunde über Stunde verstrich, und niemand dachte ans Abendessen. Sie ließen erst den König sein Teil erzählen, dann den alten Herrn seines, und wer nicht ein vorurteilsvoller Starrkopf war, mußte einsehen, daß der alte Herr die Wahrheit, der andere Lügen auftischte. Bald mußte auch ich erzählen, was ich wußte. Der König warf mir einen Blick aus seinem linken Augenwinkel zu, und das genügte, um auf seiner Seite zu bleiben. Aber ich war noch nicht weit gediehen, als der Arzt zu lachen begann und Levi Bell, der Advokat, sagte: »Setz dich, mein Junge, ich würde mich an deiner Stelle nicht anstrengen. Ich glaube, du bist das Lügen noch nicht gewöhnt, wenigstens geht’s dir nicht leicht von der Hand. Dir fehlt noch Übung; du machst’s noch zu plump.«

Das Kompliment war mir gleichgültig, doch war ich froh, auf so billige Art wegzukommen.

Der Arzt wollte eben wieder anfangen, da unterbrach er sich und sagte: »Wärst du gleich zu Anfang in der Stadt gewesen, Levi Bell…«

Da fiel ihm der König ins Wort, streckte seine Hand aus und sprach: »Oh, ist das meines armen verstorbenen Bruders alter Freund, von dem er mir so oft schrieb?« Dabei schüttelten sie einander die Hände, und der Advokat lächelte und schien erfreut. Sie sprachen eine Weile miteinander, gingen dann etwas beiseite und flüsterten.

Schließlich sagte der Advokat laut: »Das wird die Sache bald in Ordnung bringen. Ich schicke die Anweisung mit derjenigen Ihres Bruders hin, und dann sehen die Leute ja gleich, daß alles im reinen ist.«

Feder und Papier wurden gebracht; der König setzte sich, legte den Kopf auf die Seite, biß sich auf die Zunge und schmierte was hin. Dann ging die Feder an den Herzog, dem’s dabei recht unbehaglich zumute war. Doch ergriff er die Feder und schrieb.

Dann wandte sich der Advokat an den alten Herrn und sagte: »Ich bitte jetzt Sie und Ihren Bruder, einige Zeilen zu schreiben und Ihre Namen zu zeichnen.«

Der alte Herr schrieb, doch niemand konnte es lesen. Der Advokat machte ein erstauntes Gesicht und sprach: »Na, jetzt hört alles auf!« Dann zog er eine Anzahl Briefe aus der Tasche und verglich die Handschriften. »Diese alten Briefe«, fuhr er fort, »sind von Harry Wilks, hier sind die zwei Handschriften seiner angeblichen Brüder: des ersten Paares und man sieht sofort, daß sie die Briefe nicht geschrieben haben (König und Herzog sahen sehr verblüfft aus, als sie merkten, welche Falle ihnen der Anwalt gestellt hatte), dann ist hier die Handschrift des alten Herrn vom zweiten Paar, und man sieht auf den ersten Blick, daß er die Briefe auch nicht geschrieben hat. Sein Gekritzel ist überhaupt keine Handschrift zu nennen. Hier hab‘ ich noch einige Briefe von…«

Da rief der alte Herr: »Erlauben Sie mir gefälligst eine kleine Erklärung. Niemand außer meinem Bruder hier kann meine Handschrift lesen – darum kopiert er für mich. Sie haben in den Briefen seine Handschrift, nicht meine.«

»Na«, rief der Anwalt, »wo soll das hinaus? Ich habe einige von Williams Briefen; wenn Sie ihn ein paar Zeilen schreiben lassen, könnten wir ja vergl…«

»Er kann nicht mit der linken Hand schreiben«, entgegnete der alte Herr. »Könnte er die rechte Hand gebrauchen, so würden Sie gleich sehen, daß er seine eigenen und meine Briefe geschrieben hat. Vergleichen Sie die gefälligst, sie sind von derselben Hand.«

Der Anwalt tat es und sagte: »Das scheint so – jedenfalls erkenne ich jetzt eine viel größere Ähnlichkeit als vorher. Ei, ei! Ich hatte schon gedacht, ich sei auf der rechten Spur; nun ist’s wieder nichts. Soviel ist jedoch sicher bewiesen, daß diese zwei – er deutete auf König und Herzog – keine Wilkse sind.«

Selbst jetzt gab der bocksbeinige alte Narr, der König, nicht klein bei und sagte, es sei kein reeller Beweis. Sein Bruder William sei ein arger Spaßmacher und hätte eben einen seiner Spaße losgelassen und seine Handschrift verstellt. Er hätt‘ es ihm gleich angesehen. So plapperte der Kerl fort, bis er anfing, selbst an das zu glauben, was er sagte. Doch bald unterbrach ihn der alte Herr mit den Worten: »Mir ist was eingefallen. Ist irgend jemand unter den Anwesenden, der beim Aufbahren der Leiche meines Bruders, des verstorbenen Peter Wilks, zugegen war?«

»Ja«, rief jemand, »ich und Abel Turner besorgten das. Wir sind beide hier.«

Dann wandte sich der alte Herr zum König und sagte: »Vielleicht weiß der Herr dann, was auf seiner Brust tätowiert war?«

Da mußte der König sich rasch zusammennehmen, sonst wäre er zusammengestürzt wie ein Stück Flußufer, das die Strömung untergraben hat; es kam so plötzlich und unerwartet und war so recht eine Frage, die einen, der nicht darauf vorbereitet war, ganz aus der Fassung zu bringen vermochte. Wie konnte er wissen, was auf der Leiche tätowiert war?! Er erblaßte ein wenig, das konnte er nicht vermeiden. Es wurde sehr still, und alle beugten sich vor und starrten ihn an. Ich dachte, nun würde er den ungleichen Kampf aufgeben – was konnte er auch noch sagen? Aber nein; so unglaublich es scheint: Er blieb fest. Wahrscheinlich wollte er versuchen, die Leute müde zu machen, bis sich die Menge verkleinerte und er und der Herzog vielleicht Gelegenheit fänden zu entschlüpfen. Er verzog seinen Mund zum Lächeln und sagte: »Hm! Eine große Frage, nicht wahr? Ja, mein Herr, allerdings weiß ich, was auf seiner Brust tätowiert ist. Es ist ein kleiner, dünner, blauer Pfeil, den man kaum bemerkt, wenn man nicht scharf hinsieht.«

Solch ein Ausbund grenzenloser Frechheit war mir doch noch nie vorgekommen.

Der alte Herr wandte sich rasch zu Abel Turner und dessen Kameraden, und seine Augen glänzten so, als ob er den König jetzt festgenagelt hätte; er sagte: »Da haben Sie es gehört! War solch ein Zeichen auf Peter Wilks‘ Brust?«

»Wir haben kein solches Zeichen bemerkt.«

»Gut!« sagte der alte Herr. »Was ihr auf seiner Brust fandet, war ein kleines mattes P und ein B (der Anfangsbuchstabe eines Namens, den er schon jung aufgab) und ein W. Diese drei Buchstaben sind mit Strichen verbunden so: P-B-W« – er zeichnete sie auf ein Stück Papier. »Habt ihr davon nichts bemerkt?«

Beide antworteten: »Nein, wir sahen überhaupt gar keine Zeichen.«

Nun ging der Skandal los, und alles rief: »Die ganze Sippe sind Betrüger« – »Spießruten laufen« – »In den Fluß tauchen« – »Ersäuft die Bande.«

Da sprang der Anwalt auf den Tisch und schrie: »Meine Herren, meine Her-r-ren! Ein Wort, nur ein Wort, ich bitte. Lassen Sie uns den Sarg ausgraben und selbst nachsehen.«

Das wirkte.

»Hurra!« rief das Volk, das nun auseinanderging; aber Arzt und Anwalt riefen: »Halt, halt, ergreift erst die vier Männer und den Jungen und schleppt sie mit.«

»Jawohl, jawohl«, riefen alle, »und finden wir die Zeichen nicht, so hängen wir die ganze Sippschaft.«

Jetzt wurde mir bange, doch was half’s? Sie griffen uns und marschierten mit uns direkt zum Kirchhof, der anderthalb Meilen stromab lag. Die ganze Stadt zog hinter uns her, angelockt durch den Lärm, den wir machten und der nun immer ärger wurde.

Als wir an unserem Haus vorbeigingen, wünschte ich, ich hätte Mary Jane nicht fortgeschickt. Hätte ich ihr jetzt zuwinken können, so wäre sie gewiß erschienen, um mich zu retten und die Schurken zu überführen.

Wir stürmten den Flußweg hinab wie Wildkatzen. Noch dazu stieg ein Gewitter am Himmel herauf, Blitze zuckten, und der Wind sauste in den Bäumen, wodurch alles noch unheimlicher wurde. Ich war noch nie in einer so fürchterlichen Lage und großen Gefahr gewesen, und ich war wie niedergeschmettert, alles war anders gegangen, als ich erwartete: Anstatt daß ich’s leiten konnte, wie ich vorhatte, in der Hoffnung, meinen Spaß daran zu haben und mich zur rechten Zeit von Mary Jane retten zu lassen, wenn der Spaß zuweit ging, bewahrte mich jetzt nichts in der Welt vor einem schmachvollen Tode, außer diese Tätowierungen. Wenn sie die nicht finden…!

Das war ein unerträglicher Gedanke, und doch vermochte ich an nichts anderes zu denken. Es wurde dunkler und dunkler, und ich hätte somit gute Gelegenheit zum Entwischen gehabt, aber der rücksichtslose Kerl, der Heinz, hielt mich am Handgelenk fest, und ich hätte mich eher vom Riesen Goliath losmachen können als von ihm. Er riß mich mit sich fort, und ich mußte immer aufpassen, daß ich nicht stürzte.

Als wir ankamen, war der Kirchhof von der Menge im Nu überflutet. Am Grab stellte sich heraus, daß hundertmal so viele Schaufeln mitgebracht waren, als man brauchte, aber niemand hatte an eine Laterne gedacht. Doch sie gruben darauflos beim unsteten Leuchten des Blitzes und schickten einen Mann zum nächsten Haus, eine halbe Meile entfernt, nach einer Laterne.

So gruben sie denn unaufhaltsam; es wurde schrecklich finster und regnete, der Wind sauste daher, und die Blitze zuckten rascher. Die Leute kümmerten sich aber nicht darum, sie waren voller Erwartung. Einen Augenblick konnte man jedes Gesicht der großen Menge unterscheiden und sehen, wie die Erde schaufelweise aus dem Grab emporsprang; dann, im nächsten Augenblick, löschte die Finsternis alles wieder aus, so daß man keinen Schritt weit sehen konnte.

Endlich holten sie den Sarg heraus und schraubten den Deckel los. Das war ein Drücken, Quetschen, Stoßen, Halsrecken – jeder wollte es sehen; bei dieser Finsternis war das ganz schrecklich. Heinz drängte sich auch vor und zog mich so heftig mit, daß ich beinahe geschrien hätte. Aber ich möchte wetten, daß er gar nicht mehr an mich dachte, so aufgeregt war er.

Plötzlich kam eine wahre Sintflut von Blitzen, und jemand rief: »Herr Gott, da liegt der Sack Gold auf seiner Brust!«

Heinz brüllte vor Erstaunen, die andern ebenfalls. Er ließ mich los und sprang vorwärts, um es auch zu sehen – die Eile aber, wie ich nach der anderen Richtung querfeldein sprang, kann sich kaum jemand vorstellen, der’s nicht selbst erlebt hat.

Im Städtchen angelangt, spähte ich umher und sah, daß niemand auf der Straße war, darum flog ich auch geradewegs durch die Hauptstraße. Als ich mich unserem Hause nahte, war kein Licht da – alles dunkel. Das betrübte mich sehr; ich weiß selbst nicht warum.

Aber zuletzt, gerade als ich vorbeieilte, erglänzte plötzlich ein Licht in Mary Janes Fenster, und mir schwoll das Herz, als wollte es zerspringen; im nächsten Moment war das Haus hinter mir im Dunkel für immer verschwunden. Sie war das beste Mädchen, das mir je vorgekommen.

Sobald ich weit genug vom Städtchen war und mich sicher fühlte, sah ich mich um, wo ein Kahn zu finden sei. Bald zeigte mir der Blitz einen, der nicht angekettet war. Ich hinein und fort war eins. Es war ein Kanu, das nur mit einem Strick angebunden war. Mein Floß war weit weg in der Mitte des Stromes an der kleinen Insel, und ich durfte deshalb keine Zeit verlieren. Als ich endlich hinkam, wäre ich vor Ermattung fast hingestürzt. Doch dürft ich’s noch nicht und tat’s auch nicht.

Ich sprang an Bord und rief: »Heraus, Jim, und schnell fort! Gott sei Dank, wir sind sie los!«

Jim sprang heraus und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Als ich ihn beim Blitz erblickte, stand mir fast das Herz still, und ich fiel rücklings ins Wasser. Ich hatte ganz vergessen, daß er König Lear und ein ertrunkener Araber, alles in einem war; er hatte mich fast zu Tode erschreckt. Jim fischte mich wieder aus dem Wasser und wollte mich umarmen und herzen und so weiter. Er war so froh, mich wiederzusehen, ohne König und Herzog, aber ich rief: »Nicht jetzt – später, später, warte bis zum Frühstück, jetzt nur rasch fort!«

Im Augenblick waren wir los und trieben den Fluß hinab. Ach, es tat so wohl, wieder frei zusammen auf dem großen Strom zu sein ohne widerwärtige Gesellschaft. Vor Freude sprang ich einigemal empor und schlug meine Hacken zusammen, ich konnte nicht anders; aber da hörte ich einen Laut, den ich wohl kannte, ich hielt den Atem an und horchte – und wahrhaftig, als der nächste Blitzstrahl übers Wasser zuckte, da sah ich sie kommen! Sie ruderten drauf los wie toll, daß der Kahn nur so dahinsauste! Ich wäre fast zusammengesunken und konnte kaum das Weinen zurückhalten.

Sie kamen aufs Floß. Der König sprang auf mich zu, packte mich am Kragen und rief: »Wolltest uns entwischen, du Racker! Bist unser müde, he?«

Ich sagte: »Nein, Majestät, sicher nicht, lassen Sie mich los!«

»Schnell ‚raus damit, was hattest du vor, sprich, oder ich zermalme dich!«

»Ich will Ihnen ja alles ehrlich erzählen, Majestät, grad‘ wie es kam. Der Mann, der mich hielt, war recht freundlich und sagte, er hätte einen Sohn in meinem Alter letztes Jahr verloren; es täte ihm leid, einen Knaben in solcher Gefahr zu sehen. Als alle so erstaunt waren, das Gold zu finden, und auf den Sarg zusprangen, ließ er mich los und flüsterte: ›Jetzt lauf, was du kannst, oder du wirst sicher gehängt!‹ und ich lief. Warum hätte ich bleiben sollen, da ich doch nichts nützen konnte, und wozu sollte ich mich hängen lassen, wenn ich entwischen konnte? So lief ich, bis ich das Kanu fand, und als ich hier ankam, mahnte ich Jim zur Eile, sonst würden sie mich fangen und doch hängen. Ich sagte ihm auch, ich fürchtete, daß Sie beide nicht mehr am Leben wären und wie leid mir das täte; Jim tat’s auch leid, und wir freuten uns so, als wir Sie ankommen sahen. Fragen Sie nur Jim selbst, ob’s nicht wahr ist.«

Jim bestätigte alles, doch der König gebot ihm zu schweigen und sagte: »Nun, das klingt freilich höchst wahrscheinlich.« Dann schüttelte er mich wieder und sagte, er würde mich ins Wasser werfen und ersaufen lassen.

Da rief der Herzog: »Laß den Jungen los, du alter Esel! Hättest du es anders gemacht? Hast du nach ihm gefragt, als du ausgerissen bist? Meines Wissens nicht!«

Da ließ mich der König los und begann auf die Stadt und alle ihre Bewohner zu fluchen, aber der Herzog rief: »Du tätest besser daran, auf dich selbst zu fluchen, du hast das beste Anrecht darauf, von dir selbst verflucht zu werden. Du hast von Anfang an nichts Gescheites getan, außer daß du kühn und frech mit dem erdichteten blauen Pfeil herauskamst. Das war ein glanzvoller Gedanke und das einzige, was uns rettete. Sonst hätten sie uns eingesperrt, bis das Gepäck der Engländer angekommen wäre, und dann stünde uns das Zuchthaus offen. Aber der Streich hetzte das Volk zum Kirchhof, und dann half uns das Gold erst recht. Denn wenn die aufgeregten Narren uns nicht losgelassen hätten, um das Gold zu sehen, hätten wir die Nacht in Halsbändern geschlafen, die uns länger gehalten hätten, als uns lieb gewesen wäre.«

Sie schwiegen eine Minute, dann sprach der König, wie in Gedanken: »Hm, und wir dachten, die Neger hätten es gestohlen.«

Da wurde mir ängstlich zumute.

»Ja«, sagte der Herzog langsam und sarkastisch, »wir dachten’s.«

Eine halbe Minute später brummte der König: »Wenigstens ich dachte es.«

Da entgegnete der Herzog im selben Ton: »Im Gegenteil – ich dachte es.«

Da rief der König ärgerlich: »Hör mal, Sommerfett, was willst du damit sagen?«

Der Herzog entgegnete rasch: »Wenn’s erlaubt ist, so möchte ich mir die Frage erlauben, was du damit meinst.«

»Hm«, rief der König sarkastisch, »vielleicht tatst du es im Schlafe und wußtest es selbst nicht.«

Da sagte der Herzog auffahrend: »Kerl, laß den Unsinn, hältst du mich für einen Narren? Meinst du vielleicht, ich wüßte nicht, wer das Geld in den Sarg gelegt hat?«

»Natürlich weiß ich, daß du es weißt, denn wer sollte es getan haben als du selber?«

»Du lügst«, schrie der Herzog und packte ihn.

Da rief der König: »Laß mich los! Laß meine Kehle los! – Ich nehme alles zurück.«

Der Herzog schrie: »Erst gestehe, daß du das Geld dort versteckt hast in der Absicht, mich loszuwerden, es später auszugraben und alles selbst zu behalten.«

»Wart einen Augenblick, Herzog, und beantworte diese eine Frage, ob du das Geld nicht hintastet, ehrlich, und ich will dir glauben und alles zurücknehmen, was ich gesagt.«

»Du alter Schurke, ich tat’s nicht, und du weißt es wohl!«

»Nun denn, ich glaube dir. Aber beantworte mir noch das eine – werd nicht böse: Hattest du nicht im Sinn, das Geld zu entwenden und zu verstecken?«

Der Herzog schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Was ich im Sinn hatte, ist ganz gleich. Ich hab’s nicht getan. Aber du hattest es nicht nur im Sinn, sondern tatest es auch.«

»So wahr ich lebe, Herzog, ich tat es nicht, wahrhaftig. Ich will nicht leugnen, daß ich es beabsichtigte, aber getan hab‘ ich’s nicht, denn du – ich meine irgend jemand kam mir damit zuvor.«

»Du lügst, du tatest es und mußt es gestehen, oder…«

Der König, den der Herzog immer noch an der Kehle hatte, begann zu röcheln und rief dann halb erstickt: »Genug – ich gestehe!«

Ich war froh, es ihn sagen zu hören; ich fühlte mich um ein gut Teil leichter.

Der Herzog ließ ihn los und rief: »Wenn du es je wieder leugnest, ersäuf ich dich. – Ja, sitz nur da und plärre wie ein Kind, das paßt ganz zu einem Kerl, der so handelt wie du. Meiner Lebtage habe ich keinen solch alten Gauner gesehen, der alles verschlingt, wenn’s darauf ankommt, und ich verließ mich auf dich, als seiest du mein eigener Vater. Du solltest dich schämen, dabeizustehen und es auf die armen Neger kommen zu lassen, ohne ein Wort zu ihren Gunsten zu sagen. Es ärgert mich immer noch, daß ich so dumm war, es zu glauben. Verdammt, jetzt verstehe ich, warum du das Defizit gutmachen wolltest: Du hast das Geld, das beim Nonplusultra verdient war, und alles andere allein einsacken wollen.«

Der König sagte ängstlich und halb röchelnd: »Nein, Herzog, du wolltest ja das Defizit decken, nicht ich.«

»Ruhe! Ich will davon nichts mehr hören«, rief der Herzog. »Du siehst nun die Folgen. Sie haben all ihr eigen Geld zurück und all unseres dazu, bis auf einige Silberstücke. Mach, daß du zu Bett kommst, und schaffe mir keine Defizits mehr, solange du lebst.«

Der König kroch unters Zelt und suchte Trost bei seiner Flasche; bald tat der Herzog ein Gleiches. In einer halben Stunde waren sie wieder die dicksten Freunde, und je trunkener sie wurden, desto mehr liebkosten sie sich, und bald schnarchten sie in gegenseitiger Umarmung. Sie waren riesig angeheitert, aber wie ich bemerkte, hütete sich der König wohl, darauf zurückzukommen, daß er das Gold nicht versteckt habe. Das war für mich eine wahre Erleichterung. Als die beiden schnarchten, erzählte ich natürlich Jim alles.

Wir trieben mehrere Tage stromab, ohne irgendwo anzuhalten, bis wir so weit südlich waren, wo das lange spanische Moos von den Bäumen hängt, als ob sie lange graue Barte hätten. Dann hielten wir wieder hier und da an. Die beiden versuchten ihr Glück mit Predigen, Wahrsagen, Mesmerismus, kurz mit allerlei, aber nichts wollte recht glücken. Sie wurden sehr mürrisch, und wir konnten ihnen nichts recht machen. Sie steckten viel beieinander und hatten manches zu flüstern, so daß Jim und ich anfingen zu fürchten, sie brüteten irgendeine Teufelei aus. Bald legten wir nicht weit von einem Städtchen an. Der König sagte, er wolle hingehen und sehen, ob Gelegenheit fürs Nonplusultra wäre, und wenn er bis Mittag nicht zurück sei, sollten der Herzog und ich nachkommen, und Jim sollte, wie gewöhnlich, das Floß hüten. Zu Mittag kam er nicht zurück. Der Herzog und ich gingen also zum Städtchen und fanden den König betrunken in einer Kneipe. Er und der Herzog fingen an sich zu streiten; da dachte ich, meine Gelegenheit sei gekommen, und rannte zum Floß zurück, rief Jim, erhielt aber keine Antwort. Ich rief zwei-, dreimal, bekam aber keine Antwort. Da ging ich ein Stück Weges ins Land und begegnete einem Jungen, den ich fragte, ob er einen Neger gesehen hätte, und beschrieb ihm Jim. »Ja, den haben die Leute vor einer halben Stunde zur Sägmühle des alten Silas Phelps geschleppt«, sagte der Junge. Ich erfuhr auch von ihm, daß ihn ein kahlköpfiger alter Kerl für eine Belohnung von zweihundert Dollars gefangen und sein Anrecht darauf einem Farmer für vierzig Dollars abgetreten habe. Der Anschlagzettel habe den Neger beschrieben und er sei auf dem Floß gefangen worden.

Jetzt ging mir ein Licht auf. Der König hatte Jim für vierzig Dollar verschachert, während er allein in der Stadt war, und als der Herzog und ich den König am Nachmittag aufsuchten, wurde Jim unterdessen weggeführt.

Mir stand das Herz fast still. Dieser verräterische Schurkenstreich setzte der Handlungsweise der Majestät vollends die Krone auf. Ich dachte einen Augenblick daran, umzukehren und dem Schurken die Meinung zu sagen. Doch er und der Herzog hätten nur neue Schurkereien gegen mich ausgebrütet, und Jim wäre dadurch nicht geholfen gewesen. Armer, alter Jim, wie mochte ihm zumute sein! Nein, ich wollte die Kerle gar nicht wiedersehen, da brauchte ich der Vorsehung nicht ins Handwerk zu pfuschen, diese Kerle würde ihr Schicksal ohne mich ereilen, früher oder später, das wußte ich gewiß. Und darin hab‘ ich recht gehabt, das will ich nur gleich jetzt erzählen, damit ich gar nicht noch einmal an die Lumpenbrut zu denken brauche. Ein paar Tage später, als ich mit Tom … Ja so, da verplappre ich mich, das gehört ja hier noch gar nicht hin! – Also, kurz und gut: Ein paar Tage später brachten Schiffsleute aus einem weiter stromab gelegenen Städtchen die Nachricht, es seien dort ein paar Gauner geteert, gefedert und von einer großen Volksmenge begleitet durch die Straßen gehetzt worden. Die Beschreibung, die man von ihnen machte, paßte genau auf meine hohen Herrschaften von früher. Sie hatten das Nonplusultra einmal zuviel aufgeführt. Dieser Lohn war gerecht. Warum hatten sie den armen Jim verraten, der ihnen nie was zuleide getan? Später hab‘ ich nichts mehr von ihnen gehört und gesehen und hoffe sehr, daß es auch nie mehr der Fall sein wird!

12. Kapitel

Langsame Fahrt – Geliehene Dinge – Besteigung des Wracks – Die Verschwörer – »Das ist unmoralisch!« – Jagd nach dem Boot

12. Kapitel

Es mußte beinahe ein Uhr sein, als wir endlich aus dem Bereich der Insel kamen; es war eine verflixt langsame Fahrt auf dem Floß. Sollte uns irgendwas Verdächtiges begegnen, so hatten wir verabredet, das Floß zu verlassen, unser Boot, das wir angehängt hatten, zu besteigen und uns so schnell wie möglich nach dem Illinois-Ufer zu aus dem Staub zu machen. Glücklicherweise hatten wir das aber nicht nötig, sonst wäre es uns übel ergangen, denn wir hatten mit keinem Gedanken daran gedacht, Flinte oder Angelleine oder irgendwelche Lebensmittel in unser Boot zu tun. Der Mensch kann nicht an alles denken, aber es war wahrhaftig sehr dumm gewesen, unsre ganze Habe aufs Floß zu schaffen.

Wenn die Männer wirklich nach der Insel gekommen sind, werden sie wohl mein Lagerfeuer gefunden und die ganze Nacht dabei auf Jim gewartet haben. Auf jeden Fall kamen sie uns nicht nach, und wenn das Feuer sie nicht an der Nase herumgeführt hat, so ist das nicht meine Schuld, ich zündete es in der besten Absicht an. Als sich der erste Streifen im Osten zeigte, landeten wir in einer Bucht am Illinois-Ufer und verbargen unsere Flotte im dichten Weiden- und Binsengestrüpp.

Drüben an der Missouri-Seite gab’s Berge, hier bei uns nur dichte Waldungen, auch war drüben die fahrbarere Strecke des Stroms, so daß es für uns keine Gefahr gab, entdeckt zu werden. So lagen wir denn den Tag über still und sahen den Fahrzeugen drüben zu, wie sie auf- und abwärts glitten, den Booten, den Flößen und den Dampfern, die in der Mitte des Stroms daherkeuchten und schnaubten. Ich erzählte Jim mein Abenteuer von gestern mit der Frau in der Hütte, die sich durch meinen Rock und Hut nicht hatte täuschen lassen, und er meinte, die sei schlau gewesen, die hätte uns wohl schwerlich so leicht entwischen lassen, wie’s die Männer getan; die hätte sich nicht schläfrig hingelegt und ein einsames Lagerfeuer bewacht, statt drauflos zu suchen, die wäre gar nicht ohne Hund ausgerückt und hätte überhaupt die Sache viel schlauer angefaßt. Warum sie dann wohl den Männern nicht geraten habe, einen Hund mitzunehmen, warf ich ein. Das habe sie wahrscheinlich zuletzt noch getan, meinte Jim, deshalb hätten sich auch gewiß die alten Schlafhauben von Männern verspätet und all die kostbare Zeit verloren und wir säßen hier auf dem Floß im Weidengestrüpp, statt da drüben hinter Schloß und Riegel im Städtchen, »ja warraftig!« Mir war’s nun ganz und gar einerlei, was die Ursache sei, daß wir hier waren statt dort, solange wir nur wirklich frei blieben und sie uns nicht wegfingen.

Als es anfing, dunkel zu werden, streckten wir unsre Köpfe vorsichtig aus dem Weidengestrüpp und sahen uns um. Vorn, hinten, hüben, drüben – alles sauber, nichts zu sehen! Jim nahm nun ein paar von den obersten Planken des Floßes und stellte eine Art Hütte her, um uns und unsre Habseligkeiten gegen das Wetter zu schützen; die Hütte erhielt einen Bretterboden, ungefähr einen Fuß höher als die Oberfläche des Floßes, so daß unsere Decken und andere Sachen aus dem Bereich der Wellen der Dampfboote waren. Gerade in der Mitte der Hütte machten wir dann von Lehm eine Art Herd, worauf wir unser Feuer anzünden konnten, ohne daß es von außen viel gesehen werden würde. Dann verfertigten wir noch ein zweites Steuerruder, um nicht in Not zu geraten, im Fall das eine zerbrochen würde. Ein gabeliger Baumast diente uns als Laternenpfosten, denn es war nötig, Licht zu haben, um nicht von irgendeinem Dampfboot in den Grund gebohrt zu werden.

In der zweiten Nacht ließen wir uns ungefähr sieben bis acht Stunden von einer ziemlich reißenden Strömung dahintragen. Wir fingen Fische und plauderten, schwammen auch mal neben her, um den Schlaf fernzuhalten. Es war uns ordentlich feierlich zumute, so auf dem großen, stillen Strom hinzugleiten in der lautlosen Nacht. Wir legten uns dann auf den Rücken und schauten nach den Sternen, und es kam uns gar nicht in den Sinn, laut zu sprechen, oder gar zu lachen, höchstens hie und da mal ganz leise. Wir hatten fabelhaft gutes Wetter, und nichts passierte uns, weder in dieser Nacht noch in der nächsten und übernächsten.

Jede Nacht kamen wir an Städtchen vorüber, die oft weit drüben an den schwarzen Abhängen gelegen waren; kein Haus war zu erkennen, nichts als Nester voll schimmernder Lichter. In der fünften Nacht kamen wir an St. Louis vorüber, und das leuchtete und funkelte, als habe man die ganze Welt in Brand gesteckt. Bei uns zu Haus in Petersburg hatten sie immer gesagt, wie furchtbar groß St. Louis sei und wie da zwanzig- oder dreißigtausend Menschen alle auf einem Fleck zusammen lebten. Ich hatt’s nie geglaubt. Als ich aber den Bündel Lichter dort sah, in der Nacht um zwei Uhr, wo sonst alles gesund und fest schläft, da wurde mir begreiflich, daß es wahr sein müsse und daß die Leute nicht geflunkert hatten.

Jeden Abend begab ich mich nun ans Ufer in irgendein kleines Dorf, meist so gegen zehn Uhr, und kaufte ein, was wir gerade brauchten, Speck oder Mehl oder Tabak, wie’s kam. Manchmal verhalf ich auch einem Huhn, das nicht recht ruhen wollte, zu einer bequemeren Lage in meinen Armen. Mein Alter sagte immer: Wenn du irgendwo ein Huhn kriegen kannst, nimm’s mit, unter allen Umständen. Brauchst du’s nicht, braucht’s ein anderer, und eine gute Tat lohnt sich jedesmal. Der Alte zwar brauchte das Huhn immer selbst, allein das änderte nichts an seinem Wahlspruch.

Morgens, eh‘ der Tag kam, schlüpfte ich dann in die Felder und pumpte mir irgendeine Melone oder einen Kürbis oder andere Früchte, die mir gerade in den Weg kamen. Pumpen sei nichts Schlimmes, hatte mein Alter immer gesagt, wenn man nur die Absicht habe, es einmal heimzugeben, die Witwe aber meinte, das sei nur ein schönerer Ausdruck für Stehlen, und kein ordentlicher Mensch täte dergleichen. Jim, den ich fragte, sagte, die Witwe habe recht, der Alte aber auch, und wenn wir zwei oder drei Sachen von unserer Pumpliste strichen, zum Beispiel schlechte Wassermelonen oder saure Äpfel, und uns fest vornehmen würden, diese künftig liegen zu lassen, dann sei’s wohl jedem recht gemacht, und wir könnten das übrige leichten Herzens lustig weiter nehmen. Vorher war’s uns nicht ganz wohl bei der Sache gewesen, aber seit wir diesen Ausweg gefunden hatten, wurde es uns wieder ganz behaglich – Wassermelonen und saure Äpfel ließen sich ja leicht entbehren.

Ab und zu schossen wir ein vorwitziges Wasserhuhn, das sich des Morgens zu früh oder des Abends zu spät legte, kurz, wir lebten ganz behaglich, glücklich und zufrieden und freuten uns unseres Daseins.

In der fünften Nacht, als wir an St. Louis vorbei waren, kam ein furchtbares Gewitter mit Donner und Blitz, und der Regen goß wie Bindfaden herunter. Wir verkrochen uns in unsre Hütte und ließen Floß Floß sein, das schwamm von selbst weiter. Beim Schein der Blitze konnten wir sehen, daß die Ufer felsig und steil waren, und auch im Wasser zeigten sich Felsen. Auf einmal ruf ich: »Hallo, Jim, sieh mal dort hin!« Und was war’s? Ein Dampfboot, das an einem der Felsen gestrandet war. Wir hielten gerade darauf los und konnten es ganz deutlich sehen beim Schein der Blitze. Ein Teil des Oberdecks ragte noch aus dem Wasser hervor, und wenn gerade ein heller Blitz kam, konnte man alles, was darauf war, deutlich erkennen, sogar einen Stuhl, der nahe bei der großen Schiffsglocke stand, samt einem Hut, der an der Lehne hing.

Puh, mich überlief’s! Es war so schauerlich da draußen in der Nacht bei dem Sturm, und mir ging’s, wie es jedem Jungen in meinem Alter beim Anblick des einsamen, traurigen Wracks da mitten im Strom gegangen wäre, mir gruselte, und doch wollt‘ ich für mein Leben gern an Bord und ein wenig dort herumschnüffeln.

»Laß uns anlegen, Jim«, bat ich.

Jim aber war zuerst taub für die Bitte und meinte: »Jim nix brauchen zu sehen auf Wrack, Jim sein gar nix neugierig. Du viel besser bleiben davon, oder du dir verbrennen die Finger. Jim nix wollen haben zu tun mit Polizei!«

»Polizei? Selbst Polizei! Was hätte denn die da zu tun? Das Deck und das Lotsenhaus zu bewachen, he? Glaubst du, irgendeiner riskiere sein Leben in einer solchen Nacht wegen ein paar alter Planken, die jeden Augenblick auseinandergerissen und weggespült werden können?« Jim glaubte das nun keineswegs und so blieb er still. »Und außerdem«, fuhr ich fort, könnten wir uns gewiß etwas aus des Kapitäns Kajüte pumpen, Jim – Zegarren, wett‘ ich, fünf Cents das Stück, feine Ware, Jim! Dampfboot-Kapitäne sind immer reich, Jim! Haben sechzig Dollars im Monat und fragen nicht lang, was etwas kostet, wenn sie’s brauchen. Komm, steck eine Kerze ein, Jim, ich hab‘ keine Ruh‘ mehr, bis wir dort sind. Meinst du, Tom Sawyer hätte zu so was nein gesagt? Niemals! Der nicht! Der hätt’s ein Abenteuer genannt, ein heldenhaftes Abenteuer, so hätt‘ er’s genannt und wäre an Bord gegangen, wenn’s auch sein Leben gekostet hätte. Und wie hätt‘ er sich dabei benommen! Mit Anstand, sag‘ ich dir! Der hätt‘ sich hingestellt wie Christian Klumbus, als er das tausendjährige Reich entdeckte! Ach, ich wollte, Tom wär‘ hier!«

Jim brummte noch etwas in seinen Bart, den er nicht hatte, und gab dann nach. Er sagte aber, wir dürften nur so wenig wie möglich reden, nur das Allernotwendigste und ganz, ganz leise. Der Blitz zeigte uns das Wrack wieder, gerade rechtzeitig, um anlegen zu können.

Das Deck ragte hier hoch empor. Wir schlichen im Dunkeln auf der schrägen Fläche nach Backbord auf die Kajüte zu, indem wir uns Schritt für Schritt behutsam vorwärtsbewegten und die Hände ausstreckten, um nirgends anzustoßen. Wir erreichten auch bald das vordere Ende des Oberlichts und kletterten in die Öffnung; noch ein paar Schritte, und wir standen vor der Tür des Kapitäns. Die stand offen, und – Herr des Himmels – ganz im Hintergrund des Ganges, der zum Salon führt, erblicken wir ein Licht und vernehmen Stimmengemurmel.

Jim flüsterte mir zu, ihm sei sterbensübel, und beschwor mich, mit ihm wegzugehen. Ich sagte: »Gut, komm fort.«

Da hörte ich gerade eine Stimme stöhnen und flehen: »Ach, laßt mich doch, Jungens, ich schwör’s, ich verrat‘ euch nicht!«

Drauf antwortete eine andre Stimme ziemlich laut: »Da lügst du, Jim Turner, wir sind dir hinter die Schliche gekommen! Immer hast du den größten Teil gewollt, wenn’s etwas zu teilen gab, und auch gekriegt, was noch wichtiger ist, weil du uns immer verraten wolltest, wenn wir’s nicht täten. Diesmal aber haben wir dich gefangen, Kerl! Gemeiner, verlogener Hund du!«

Jim hatte sich schon lange davongemacht und mußte bereits beim Floß angelangt sein, in mir aber regte sich die Neugier immer mehr. Tom Sawyer hätte nun erst recht nicht locker gelassen, sagte ich mir, und ich tu’s auch nicht, ich muß sehen, was da vorgeht. Ich ließ mich also auf Hände und Knie nieder und kroch in dem kleinen Durchgang in der Dunkelheit nach hinten, bis mich nur noch die Breite einer Kabine von dem Salon trennte. Da drinnen lag ein Mann an Händen und Füßen geknebelt auf dem Boden, zwei andre standen vor ihm, der eine mit einer kleinen Laterne, der andre mit einer Pistole in der Hand. Der mit der Pistole zielte auf den Kopf des Geknebelten und wiederholte immer wieder: »Ich möcht‘ ihn niederschießen, den Hund, und ich sollt’s eigentlich auch tun – dieser Verräter!«

Der am Boden krümmte sich dann jedesmal und ächzte: »Tu’s nicht, Bill, tu’s, bitte, nicht – ich sag‘ gewiß und wahrhaftig kein Sterbenswörtchen mehr!«

Und als er so wimmerte, höhnte der mit der Laterne: »Was Gescheiteres und was Wahreres hast du noch nie gesagt, das schwör‘ ich dir!« Und einmal sagte er: »Hör nur, wie der Kerl bettelt, und doch, wenn wir nicht stärker gewesen wären als er, hätt‘ er uns beide getötet, so gewiß ich hier stehe. Und warum – weshalb? Für nichts, rein für nichts? Nur weil wir haben wollten, was uns gehörte. Nur darum! Ich wett‘ aber, du drohst keinem mehr, Jim Turner! – Tu die Pistole weg, Bill!«

Drauf Bill: »Ich will aber nicht, Jack, ich will den Hund zum Schweigen bringen. Verdient er’s nicht, der schlechte Kerl? Hat er nicht von selbst dem alten Hatfield den Garaus gemacht?«

»Ich aber will nicht, daß du ihn tötest, und ich habe meine Gründe dafür!«

»Gott segne dich für diese Worte, Jack, ich werde sie dir nie vergessen, so lang ich lebe«, schluchzte der am Boden.

Jack hörte nicht auf ihn, hing seine Laterne an einen Nagel und ging im Dunkeln gerade auf die Stelle zu, wo ich war, während er Bill veranlaßte, ihm zu folgen. Ich retirierte wie ein Krebs, so schnell ich konnte. Um nicht entdeckt zu werden, blieb mir nur übrig, mich in eine der nächsten Kabinen zu flüchten.

Vor dem Eingang der Kabine, in die ich geflüchtet war, blieb Jack stehen und rief: »Komm hier herein.«

Und Jack, gefolgt von Bill, trat ein. Ich aber hatte mich zuvor geschwind in eine der oberen Kojen verkrochen. Sehen konnte ich sie nicht, wohl aber riechen, so viel Branntwein hatten sie geladen. Gott sei Dank, daß ich keinen trinke, aber ich glaube, sie hätten’s doch nicht gerochen. Mir war fast der Atem vergangen, so beklommen fühlte ich mich. Da lieg‘ aber auch mal einer und atme, wenn zwei dicht unter seiner Nase solches Zeug verhandeln! Sie sprachen leise und eifrig. Bill wollte Turner durchaus töten. Spricht Bill: »Er hat gedroht, uns zu verraten, und er wird’s tun, wenn wir ihn jetzt laufen lassen und wenn wir ihm selbst unser Teil noch dazugeben. Das weißt du so gut wie ich, Jack, warum also zögern? Ich bin dafür, daß wir ihn von dieser Welt erlösen!«

»Ich auch!« bestätigt Jack sehr ruhig. – »Hol’s der Teufel, das hab‘ ich dir bis jetzt nicht angemerkt! Gut also, voran denn!«

»Wart noch eine Minute, Bill, und hör mich erst zu Ende, ich bin noch nicht fertig. Eine Kugel ist ganz gut, aber es gibt auch noch eine geräuschlosere Art, so was zu tun, wenn’s getan sein muß! Warum sich in Gefahr begeben, wenn du ganz dasselbe ohne jede Gefahr haben kannst? Hab‘ ich nicht recht?«

»Natürlich! Aber was willst du eigentlich tun?«

»Hör mich an! Ich denke, wir sehen noch einmal alle Räume nach, damit wir nichts vergessen mitzunehmen, drauf stoßen wir ab ans Ufer und verbergen die Beute. Dann warten wir’s ruhig ab. In weniger als zwei Stunden geht diese alte Rattenfalle doch auseinander, und wenn der Kerl dann mit ersäuft, wer ist schuld daran? Warum kommt er her? Merkst du’s nun? Ich bin immer dagegen gewesen, einen Menschen zu töten, wenn man’s vermeiden kann – ’s ist dumm und ’s ist unmoralisch!«

»Da hast du recht! Aber wenn nun die Geschichte nicht so schnell auseinandergeht?«

»Na, die zwei Stunden wollen wir auf jeden Fall einmal warten. Komm, vorwärts!«

Sie verdufteten und ich auch, und zwar ziemlich rasch, von kaltem Schweiß bedeckt. Ich kroch eiligst dahin zurück, wo wir angelegt hatten. Es war dort so dunkel wie in einer Kuh, und ich konnte die Hand nicht vor den Augen sehen, flüsterte nur ganz leise: »Jim!« Dicht neben mir stöhnt etwas Antwort.

»Schnell, Jim, wir haben mit Stöhnen gar keine Zeit zu verlieren. Das ist eine Räuber- und Mörderbande dadrinnen, und wenn wir ihr Boot nicht erwischen und es forttreiben lassen, so ist einer von den Kerlen arg in der Klemme. Ich möcht‘ sie aber alle drei zappeln lassen und dem Sheriff ausliefern. Schnell, eil dich! Ich will diese Seite absuchen nach dem Boot, du die andre. Dann setzt du dich ins Floß und –«

»Floß? O Herr, herrjemine, Floß? Da sein kein Floß nix mehr! Floß sein losgerissen, sein fort, und arme alte Jim und Huck sein verloren! Sein keine Floß nix da!«

13. Kapitel

Flucht aus dem Wrack – Der Wächter an der Fähre – Untergang – Gesunder Schlaf

13. Kapitel

Mir ging der Atem aus, und ich fiel beinahe um vor Entsetzen. Hier auf dem Wrack allein mit einer solchen Bande wie die da drunten, das war kein Spaß! Jetzt mußten wir ihr Boot finden – mußten’s für uns selbst haben! So krochen wir zitternd und bebend nach Steuerbord zurück, und es schien uns eine Ewigkeit, bis wir zum Hinterteil des Schiffes gelangten. Ein Boot aber war nirgends, nirgends zu sehen. Jim sagte, er könne sich kaum noch aufrechthalten, so schlottern ihm die Knie, solche Angst habe er in seinem Leben noch nicht ausgestanden. Ach, du mein Himmel, mir ging’s nicht viel besser, aber gesagt hätte ich nichts um alles in der Welt. Ich trieb ihn nur vorwärts und versicherte ihm, daß wir, wenn wir hier bleiben, zwischen den Wellen und den Kerlen da drinnen garstig in der Klemme säßen. Wir also wieder drauflos und weitergesucht! Immer vorwärts tastend, hatten wir schon beinahe den Teil erreicht, wo das Deck sich gegen die Wasserfläche gesenkt hatte, da – seh‘ ich einen dunklen Klumpen im schwarzen Schatten da drunten, und weiß Gott und wahrhaftig, es war ein Boot! Wie froh und dankbar atmeten wir auf! Eben wollten wir uns hinunterlassen, da öffnet sich dicht neben mir eine Luke, und ein Kopf erscheint. Es ist einer von den Kerlen! Daß er mich nicht gesehen, war das reine Wunder!

Er aber dreht den Kopf nach rückwärts und flüstert: »Tu doch die Laterne weg, die kann uns ja verraten!«

Er warf einen gefüllten Sack ins Boot, schwang sich selbst nach und setzte sich. Es war Jack. Dann kam Bill nachgekrochen und war auch schnell unten.

Wispert Jack: »Fertig – stoß ab!«

Ich konnte mich kaum mehr festhalten, so schwach wurde mir. Da flüsterte Bill: »Wart ein wenig. Hast du ihn auch noch einmal genau durchsucht, den Hund?«

»Nein – hast du’s denn nicht getan?«

»Nein, Gott straf mich! Da hat der Kerl also noch seinen Teil an Barem in der Tasche!«

»Nun, dann aber geschwind zurück! – Es hat freilich keinen Wert, all den Kram fortzuschleppen und das Geld ihm zu lassen. Komm schnell!«

»Wird er denn aber nicht merken, was wir im Schilde führen?«

»Vielleicht – vielleicht auch nicht! Einerlei – haben müssen wir’s, also vorwärts!«

So kletterten die Kerle wieder zurück und verschwanden.

Ob wir flink unten und im Boot drin waren! Mir schien’s, als packe uns ein Wirbelwind! Messer raus, Leine durch – auf und los und davon, eh‘ einer Amen sagen konnte!

Wir rührten keine Ruder, verloren kein Wort, atmeten kaum. Lautlos glitten wir davon, totenstill, am Schiff entlang und waren in ein paar Minuten außer Hör-, Seh- und Schußweite, sahen das Wrack in der Dunkelheit verschwinden, waren gerettet – und dankten unserm Schöpfer.

Als wir ungefähr zwei- oder dreihundert Meter entfernt waren, sahen wir eine Laterne wie ein kleines Sternchen für einen Augenblick über dem Wasser aufblitzen; jetzt hatten die Kerle gewiß entdeckt, daß das Boot weg war und daß sie ungefähr so schlimm dran waren wie Jim Turner.

Wir aber legten uns tüchtig in die Ruder und spähten nach unserm Floß aus. Da kam es mir plötzlich in den Sinn, mir wegen des Schicksals der Männer Gedanken zu machen; vermutlich hatte ich bisher keine Zeit dazu gehabt. Mir schien die Klemme, in die ich sie gebracht hatte, selbst für Mörder etwas allzu grausam. Sag‘ ich zu mir selbst: Wer weiß, Huck, was aus dir noch einmal wird, vielleicht nichts viel Besseres, und da war‘ dir so was auch recht unangenehm.

Ruf ich deshalb Jim zu: »Jim, beim ersten Licht, das wir sehen, machen wir halt, legen an, verstecken dich und das Boot, und ich geh‘ dann hin und fable den Leuten was vor, daß sie nach den Kerlen dort im Wrack sehen, damit die nicht wie Ratten ersaufen, sondern schön gehenkt werden können, wenn sie einmal reif dafür sind!«

Die Idee aber war Essig, denn auf einmal begann der Sturm wieder wie toll drauflos zu rasen, schlimmer als je. Es goß nur so in Strömen, und nirgends war ein Licht zu entdecken, bei dem Hundewetter war wohl alles im Bett. Wir arbeiteten uns vorwärts, durch alles hindurch, und schauten scharf nach einem Licht und nach unserm verlorenen Floß aus. Nach einiger Zeit ließ der Regen etwas nach, aber die Wolken blieben, und der Blitz flammte hie und da noch auf. Auf einmal zeigte uns ein Strahl etwas Schwarzes, das vor uns dahinglitt. Wir natürlich flink drauflos.

Und wahrhaftig, es war unser Floß. Wir waren froh wie die Maikäfer, uns drauf verkriechen zu können, auf unserm alten, lieben, verlorenen und wiedergeschenkten Floße. Wie doch der Mensch an dem Seinen hängt! Jetzt entdeckten wir auch ein Licht drüben am Ufer, nach dem wollte ich mich denn auch hinmachen – die drei Kerle lagen mir zu schwer im Magen. Unser Boot war halb voll geladen mit Kram, den die Schurken gestohlen hatten. Den luden wir nun in einem Haufen auf unser Floß, und ich hieß Jim langsam weitertreiben und nach einiger Zeit, so etwa nach einer Stunde, ein Feuer zu machen und es brennen lassen, bis ich zurück sei, damit ich ein Zeichen habe. Dann zog ich los und auf das Licht zu. Als ich näher kam, entdeckte ich noch andere an einem Hügel aufwärts es mußte ein Dorf sein. Ich hielt auf das Uferlicht zu, zog die Ruder ein und ließ mich treiben, um erst ein wenig auszukundschaften. Im Vorbeigleiten sah ich, daß das Licht eine Laterne war, die an einem Fährboot befestigt hing. Ich schaute nun nach dem Wächter aus, wo er schliefe, und fand ihn richtig vorn bei den Tauwinden selig eingeschlummert, mit dem Kopf zwischen den Knien. Ich stieß ihn dann leicht an und begann zu schluchzen und heulen.

Er fuhr auf und sah sich dann verstört um. Als er aber entdeckte, daß nur ich es sei, reckte und streckte und dehnte er sich erst behaglich und brummte dann: »Hallo, was ist denn wieder los? Heul nicht, Bub! Was gibt’s denn?«

Schluchz‘ ich: »Vater und Mutter und Schwester und –«

Ich konnte nicht weiter vor Jammer. Dann sagt‘ er: »Oh, verdammt, heul nicht so, Junge, jeder hat seinen Packen zu tragen, und deiner wird nicht gar zu schwer sein! Was ist denn los mit Vater und Mutter und Schwester?«

»Sie sind – sie sind –. Sind Sie der Wächter von dem Fährboot?«

»Ja«, bestätigt er selbstgefällig, »der bin ich! Ich bin Kapitän, Eigentümer, Matrose und Lotse, Steuermann, Wächter – alles in einer Person. Oftmals auch alleinige Fracht und Passagier zugleich. So reich wie der alte Jim Hornback bin ich nicht, kann nicht so mit dem Gelde um mich werfen, wie er’s tut, der’s den Schlingeln dem Tom und dem Dick und dem Harry – nur so in die Taschen stopft, aber ich möcht‘ doch nicht mit ihm tauschen, nicht um viel. Denn, sag‘ ich zu ihm: Ein Leben auf dem Wasser, das ist doch ein Leben; lieber ließ ich mich hängen, als dahinten an den Bergen zu kleben, wo man nicht weiß, ob die Welt geht oder still steht, nicht um alles möcht‘ ich das, und wenn du mich in Gold fassen ließest, und, sag‘ ich …«

Nun fiel ich ein: »Ach, ach, meine Leute werden gar nicht wissen, was sie tun sollen und –«

»Wer wird’s nicht wissen?«

»Ei, der Vater und die Mutter und die Schwester und Miss Hooker. Ach, guter Herr, wenn Sie doch Ihr Boot nehmen wollten und hingehen und –«

»Wohin? Wo sind die denn?«

»Auf dem Wrack!«

»Auf welchem Wrack?«

»Ach, es ist ja nur eins da!«

»Was, du willst doch nicht sagen auf dem Walter Scott?«

»Ja! Dort!«

»Großer Gott! Was, um Himmels willen, tun sie denn da?«

»Nun, freiwillig sind sie nicht hingegangen!«

»Das glaub‘ ich wohl! Herr des Himmels, da sind sie ja einfach verloren, wenn sie nicht machen, daß sie schleunigst wegkommen. Wie, in Gottes Namen, sind sie denn eigentlich da hingeraten?«

»Sehr einfach! Miss Hooker war zu Besuch dort oben in der Stadt –«

»Booths Landing meinst du – weiter!«

»Also sie war zu Besuch in Booths Landing, und gegen Abend wollte sie dann fort und noch eine Freundin besuchen, um da zu übernachten, ein Fräulein – ach ich hab‘ den Namen vergessen. Mitsamt ihrer alten Niggerfrau ließ sie sich in der Fähre übersetzen, und da verloren sie das Steuerruder mitten auf dem Wasser und wurden nun fortgerissen von den Wellen und gegen das Wrack geschleudert, und Fähre und Fährmann und die Niggerfrau, alles war verloren. Nur Miss Hooker erwischte etwas vom Schiff, woran sie sich halten konnte, und rettete sich so auf Deck. – Vielleicht eine Viertelstunde später kamen wir in unserem Boot flußabwärts vom Markt heim; es war so stichdunkel, daß wir das Wrack nicht eher sahen, als bis wir mit der Nase draufstießen und es zu spät war. Das Boot war natürlich zum Kuckuck, aber retten konnten wir uns alle, nur Bill Whipple – der ertrank – ach, und der war der beste Kerl von der Welt, wahrhaftig, ich hätt‘ beinahe lieber all das Wasser selbst geschluckt – das hätt‘ ich, meiner Seel‘ –«

»Herr, du mein Gott, das ist gewiß und wahrhaftig die merkwürdigste Geschichte, die ich je gehört habe! Na und dann? Was habt ihr dann getan?«

»Nun, wir riefen und schrien natürlich und waren wie toll; aber es ist so weit da draußen, da konnte uns niemand hören. Sagt‘ mein Alter: Das nutzt alles nichts, einer von uns muß sehen, wie er ans Land kommt und Hilfe schafft. Gut also! Ich war der einzige, der schwimmen konnte, so mußte ich denn ran und mein Heil probieren. Da gab’s kein langes Zaudern! Ich denn rein und los. Miss Hooker rief mir nach, wenn ich nicht früher Hilfe fände, so solle ich nur machen, daß ich zu ihrem Onkel käme, der werde schon Rat wissen. So schwimm‘ ich denn drauflos und komme auch richtig ans Land, vielleicht eine Stunde weiter da unten, aber wo ich auch anklopfe und meine Geschichte erzähle, alle weisen mich ab. ›Was‹, sagen sie, ›in der schrecklichen Nacht? Nein, mein Junge, das wäre Unsinn, da such du sonst jemand – mach, daß du zur Dampf-Fähre kommst; wenn dir einer hilft, so wird dir der dort helfen!‹ Und da bin ich, und – ach, wenn Sie doch wirklich gehen wollten und sehen und –«

»Meiner Seel‘, das will ich, will’s gern tun, aber – sag mal, weißt du, ganz umsonst kann ich’s nicht, wie steht’s denn mit – na, du weißt, was ich sagen will, wer wird mir’s denn vergüten? Glaubst du, dein Vater kann –«

»Ach, darüber machen Sie sich keine Sorgen, daran soll’s nicht fehlen. Miss Hooker sagte noch, ihr Onkel Hornback …«

»Was – der ist ihr Onkel? Paß mal auf, was ich dir sage – siehst du dort das Licht? – Gut – also, darauf gehst du los, und wenn du hinkommst, fragst du in der Wirtschaft nach Jim Hornback. Die werden dich dann zurechtweisen; aber eil dich und halt dich unterwegs nicht auf, denn der wird’s schnell wissen wollen. Und sag ihm, ich wolle ihm seine Nichte bringen, heil und ganz, eh‘ er noch selbst zur Stadt kommen könne, er soll sich ja nicht ängstigen und – aber mach doch, daß du fortkommst, Schlingel – steht da und sperrt das Maul auf, statt den Weg unter die Füße zu nehmen! Vorwärts, ich werd‘ gleich abstoßen!«

Ich tu‘ also, als ob ich dem gewiesenen Licht zurenne. Kaum bin ich aber außer Hör- und Sehweite, schleich‘ ich in großem Bogen zurück, bis dahin, wo ich mein Boot versteckt hatte, mach‘ es flott und laß mich nun leise am Ufer hin treiben und verberg mich dann zwischen ein paar Holzschiffen, denn ich mußte sehen, ob der Mann wirklich Ernst mache. Im ganzen war ich sehr mit mir zufrieden, denn, denk‘ ich, viele hätten sich nicht soviel Mühe gemacht wegen der alten Diebsbande, sondern sie ruhig Wasser schlucken lassen, bis sie genug gehabt – und verdient hätten sie’s auch, die Kerle! Ich wollte, die Witwe hätte die Geschichte gehört, die härte gewiß geweint vor Rührung über meine Großmut gegen die Schurken, denn, merkwürdig, für Mörder und dergleichen Lumpengesindel hatte sie wie andere gute Seelen immer die größte Teilnahme.

Jetzt seh‘ ich, wie sich die Fähre in Bewegung setzt. Ich also raus aus meinem Versteck und flink drauflos gerudert, um zuerst an Ort und Stelle zu sein. Da erhebt sich auch schon das Wrack aus den Wellen, ganz geisterhaft dunkel und schwarz. Aber es sinkt rasch und zusehends, ist schon beinahe ganz mit Wasser gefüllt. Viel Spielraum, um frische Luft zu schöpfen, hatten die Kerle drin nicht mehr – soviel war klar. Ich rudre denn noch ein bißchen näher, versuch‘ auch, die Burschen, falls sie überhaupt noch existierten, schwach anzurufen, krieg‘ aber keine Antwort und denk‘: Wollt ihr nicht, so will ich erst recht nicht!

Jetzt kommt auch schon die Fähre mit voller Kraft angedampft. Ich halt‘ nun schleunigst nach der Mitte des Stroms zu, und wie ich glaubte außer Hörweite zu sein, zieh‘ ich die Ruder ein, um alles sehen und beobachten zu können. Ich sah, wie die Fähre um das Wrack herumdampfte und schnupperte, um nach Fräulein Hookers irdischen Resten zu suchen, zum Trost des armen, seiner geliebten Nichte beraubten Onkels Hornback. Der Fährmann konnte aber offenbar nichts entdecken, und da das Wrack von Minute zu Minute erschreckend rasch tiefer und immer tiefer sank, gab er schließlich den Versuch nach kurzem ganz auf und dampfte dem Ufer zu. Ich aber zog nun gewaltig aus, den Fluß hinunter.

Schrecklich lang kam es mir vor, ehe ich Jims Licht entdeckte, und als es endlich, endlich in Sicht kam, schien mir’s noch wenigstens tausend Meilen entfernt. Als ich schließlich glücklich anlangte, dämmerte im Osten schon der Tag herauf. Wir hielten also auf eine kleine Insel zu, verbargen unser Floß, bohrten das vom Wrack mitgenommene Boot an, daß es sank, krochen in unsere Hütte und schliefen wie die Toten den Schlaf der Gerechten.

14. Kapitel

Gelehrte Unterhaltungen – Der Harem – Französisch

14. Kapitel

Nachdem wir uns allmählich aus unserem Schlaf herausgerappelt hatten, untersuchten wir die Beute, die wir den Kerlen vom Schiff abgejagt, und fanden herrliche Dinge darunter. Stiefel, wollene Decken, Kleider, viele Bücher, ein Fernglas, zwei Kistchen Ziehgarren und sonst noch eine ganze Menge Brauchbares. So reich an derartigen schönen Sachen waren wir noch nie zuvor gewesen, keiner in seinem Leben! Die Ziehgarren besonders waren wundervoll, echte Harrwanna oder wie sie die Dinger heißen. Wir lagen den ganzen Nachmittag unter den Bäumen und dampften, und ich las dazu in den Büchern, es war ganz herrlich! Ich erzählte nun Jim alles, was ich in dem Wrack und an der Fähre erlebt hatte und wie das nun doch einmal ein ordentliches Abenteuer gewesen sei. Er aber wollte nichts von Abenteuern wissen, dankte dafür und sagte, er sei schon halb tot gewesen, als er das Floß nicht mehr habe finden können, und habe geglaubt, nun sei alles aus, so oder so. Entweder müsse er ertrinken und sei verloren oder er werde gerettet und würde ausgeliefert und verkauft, und das sei auch nicht viel besser für ihn. Darin hatte er nun recht, er hatte überhaupt beinahe immer recht; er war ein merkwürdiger alter Schlaukopf für einen Nigger.

Ich las Jim dann aus einem Buche vor. Da stand viel von Königen, Herzögen und Grafen und dergleichen drin, wie vornehm die sich anziehen und wie kostbar, und wie sie sich gegenseitig Majestät und Hoheit und Durchlaucht anreden, nicht bloß mit Herr. Jims Augen quollen förmlich aus dem Kopf heraus, so interessierte es ihn.

Sagt‘ er: »Jim gar nix wissen, daß ’s sein so viele. Jim nie nix davon hören! Jim nur wissen vom alten König Sallermon un – ja von die Kartenkönige! Wieviel so ein König denn kriegen?«

»Kriegen?« sag‘ ich, »was die kriegen? Tausend Dollars im Monat oder mehr, so viel sie wollen, kriegen sie, alles gehört ihnen ja!«

»Hui, das sein schön! Was sie haben zu tun, Huck?«

»Tun? Nichts! Könige tun gar nichts, Jim, die sitzen nur so herum!«

»Nein, warraftig?«

»Natürlich, Jim, ganz gewiß, die sitzen nur so herum. Vielleicht wenn’s Krieg gibt, müssen sie einmal aufstehen und mitgehen, aber sonst faulenzen sie nur so in allen Ecken herum oder jagen oder fi – scht, hast du nicht was gehört?«

Wir krochen vor und lauschten, es war aber nur das Geräusch einer Dampferschaufel. Ein Dampfer verschwand eben an einer Biegung des Stroms, und so zogen wir uns denn wieder zurück.

»Ja«, fuhr ich fort, »und manchmal, wenn’s ihnen gar zu langweilig wird, ärgern sie das Parlerment ein bißchen oder lassen ein paar Köpfe abhauen. Gewöhnlich aber halten sie sich im Harem auf!«

»Im – wo?«

»Im Harem!«

»Was das sein?«

»Der Ort, wo sie die Weiber halten. Was, du weißt nichts vom Harem, Jim? Sallermon hat ja auch einen gehabt, mit einer Million Frauen drin!«

»Ach – warraftig, alte Jim haben ganz vergessen, warraftig das sein so! Jim denken, Harem sein so groß wie große Wirtshaus! He, Huck? Müssen haben ganze Haus voll Kinnerstuben, nix als wie schreien, nix als wie zanken! Schreien die Kinner, zanken die Weiber! Alte Sallermon sein nix gewesen weiser Mann, wie Leute sagen. Sein gar nix gewesen weise, alter Jim sagen. Weiser Mann nix gehen un bauen ein Haus un stopfen ihr voll Weiber un Kinner, un sitzen in die Mitt von all die Lärm und Geschrei. Weiser Mann nix tun so dumme Sach, er bleiben schön allein oder bauen ganz kleine Laden un verkaufen Ziehgarren un Whiskey, un schließen den Laden, wann er wollen Ruhe haben. Un eine Weib sein ganz genug für weise Mann un keine so vielen Kinner – nein, Jim sagen, Sallermon sein gar nix weise!«

»Er war aber doch der weiseste König, der Sallermon, das hat mir schon die Witwe gesagt, und die Witwe weiß es!«

»Jim nix wollen wissen, was der Witwe sagen – Sallermon sein nix weise! Er sein halber verrückt, Jim sagen. Du hören von die Kind, die er wollen hauen entzwei?«

»Ja, das hat mir die Witwe gerade erzählt und …«

»Drum eben! Waren das nix verrückt? Du hören eine Augenblick! Dort die Baumstumpf sein eine Frau, du dort sein die anner, Jim sein Sallermon un hier Dollarschein sein Kind! Baumstumpf und du wollen haben der Schein. Jim nix gehen un fragen der Nachbarn, wem sein der Schein, dir oder anner Frau, Jim nix als nehmen Schein, reißen ihn in zwei Stücken un sagen: Hier du haben, un hier du! Sein das weise? Du nix haben, anner Frau nix haben! So Sallermon wollen tun mit der Kind! Jim dir nun fragen, was sein halbe Schein wert? Nix! Was sein halbe Kind wert? Wieder nix! Sein eine Million halber Kinner nix, gar nix wert. Nein, Sallermon nix sein weise!«

»Aber, Jim, laß dich begraben, du hast ja gerad‘ am Kernpunkt vorbeigeschossen, Gott straf mich, tausend Meter weit vorbeigeschossen, sag‘ ich dir!«

»Wer haben geschossen? Jim? Du dir lassen begraben! Du nix Jim kommen mit deine Kernpunkt. Jim wissen, was sein dumm, wann er sehen was Dummes, un alter Sallermon waren dumm mit die Kind! Über was sein der Streit angefangen, he? Über halbe Kind oder ganze Kind? Jim sagen über ganze Kind, un du da nix können machen gut mit halbe Kind, und wann Sallermon denkt das, er sein dumm Jim sagen, sein nix wert, daß Sonn ihn warm machen. Du mir nix kommen mit Sallermon, sein nix Jim seine Freund!«

»Aber, Jim, wahrhaftig, hör doch, darum handelt sich’s ja gar nicht, der Kernpunkt …«

»Kernpunkt sein verd …! Jim wissen, was er wissen. Un du, Huck, Jim dir was sagen! Deine Kernpunkt sein viel wo anders, sein ganz, ganz tief da drunten, liegen in Sallermon seine Eltern, die ’n haben falsch erzogen! Du nehmen einmal eine Mann, der nur haben zwei oder drei Kinner! Der nix sein verschwenderisch mit! Der wissen gut, was Kinner sein wert! Aber dann du nehmen eine Mann, der haben fünf Millionen Kinner in seine Haus rumstolpern, der sein ganz anners! Er nix fragen, ob sein Kind oder Katz, was er entzweihacken, sein so viele da, er können entbehren eins oder zwei! Un alter Sallermon – er nix fragen nach Dutzend mehr oder weniger, er haben Vorrat – das sein Kernpunkt, Huck, du alte Jim können glauben!«

So ein Nigger ist noch gar nicht dagewesen! Wenn der sich etwas in den Kopf setzt, so treibt’s ihm kein Kuckuck heraus! Hat ’nen harten Schädel, der alte Jim, und der Sallermon, der hat’s bei ihm verschüttet, ein für allemal. So ließ ich den Sallermon denn fallen und erzählte Jim von einem anderen König, über den ich eben las, von Ludwig dem Sechzehnten von Frankreich, dem sie dort einmal den Kopf abgeschlagen haben, und von seinem kleinen Sohn, dem Delphin, der König hätte werden sollen, als sein Vater keinen Kopf mehr hatte, um die Krone drauf zu setzen, den sie aber in den Kerker warfen, wo er dann auch gestorben sein soll – so sagen die Leute, wenigstens die meisten.

»Arme kleine Kerl!«

»Aber, denk einmal, Jim, viele sagen auch, er sei nicht gestorben, sondern durchgebrannt und hierher zu uns nach Amerika gekommen!«

»Das sein gescheit! Aber, Huck, kleine Kerl werden sein ganz allein, werden haben Heimweh, sein hier nix von Könige bei uns er sein ganz allein!«

»Ja, Könige findet er hier nicht, das ist wahr!«

»Wird nix haben zu tun, arme Kerl! Wovon er leben?«

»Ja, das weiß ich auch nicht. Er kann vielleicht bei der Polizei angestellt werden oder französische Stunden geben!«

»Was, Huck, sprechen die französische Leut nix wie wir?«

»Nein, Jim, bewahre! Man kann kein Wort verstehen, wenn sie was sagen.«

»Ei du mein Himmel! Jetzt aber Jim wissen gar nix, was er sollen denken! Woher das kommen, Huck?«

»Ja, ich weiß das nicht, aber so ist’s! Ganz gewiß! Wart einmal, ich hab‘ da etwas in meinem Buch gefunden. Jim, wenn mal einer zu dir käme und sagte: ›Pallewuhfranzä‹? was würdest du da denken?«

»Denken? Jim gar nix denken. Jim ihm hauen die Kopf voll, aber nur, wenn er nix sein Weißer; Jim sich nix lassen so schimpfen von Nigger!«

»Dummheit! Das ist doch nicht geschimpft! Der will dich nur fragen, ob du Französisch sprichst.«

»Warum er’s denn nix sagen?«

»Aber, er sagt’s ja, nur auf Französisch!«

»Das sein dumm, Jim nix wollen hören davon, sein ganz zum Lachen dumm!«

»Jim, gib mal acht: Spricht denn eine Katze wie wir?«

»Nein, warraftig, aber –«

»Tut’s ’ne Kuh?«

»Nein, auch nix, aber –«

»Spricht die Katze wie die Kuh, oder die Kuh wie die Katze?«

»Nein, gar nix, aber –«

»Und das ist ganz natürlich, daß jedes Tier anders spricht, nicht?«

»Jim sollen denken ja – aber –«

»Wart, wart, nur einen Augenblick! Ist es nicht auch ganz natürlich, daß ein Tier anders spricht wie wir, he?«

»Warum du fragen so dumm, Huck?«

»Also warum soll ein Franzose denn nicht anders reden wie wir?«

»Sein Katze ein Mensch, Huck?«

»Nein!«

»Gut, warum sollen Katze reden wie Mensch? Sein Kuh Mensch? Oder sein Kuh Katz?« »Nein, eine Kuh ist ’ne Kuh!«

»Gut, so sie brauchen nix zu reden wie Katz un Mensch! Sein Franzose Mensch?«

»Na, ob!«

»Also! Warum er denn nix reden wie Mensch? Das möcht ich wissen, Huck!«

Das war mir zuviel! Streit einer mit einem Nigger! Die Schädel sind zu hart. Ich gab’s auf.

15. Kapitel

Huck verliert das Floß aus Sicht – Im Nebel – Wiederfinden – Träume – Unrat!

15. Kapitel

In weiteren drei Nächten dachten wir mit Leichtigkeit bis nach Kairo zu kommen, ganz unten in Illinois; wo der Ohio in den Mississippi fließt, das war das eigentliche Ziel unserer Fahrt. Dort wollten wir dann das Floß verkaufen, auf ein Dampfboot gehen, den Ohio hinauffahren, bis zu den Staaten, wo die Nigger frei waren, und dann außer aller Gefahr zu sein.

In der zweiten Nacht kam ein dicker Nebel herunter; wir suchten daher nach einem Ort, um bequem anlegen zu können, denn eine Fahrt im Nebel lockte uns nicht. Ich ruderte im Boot voraus, fand aber zum Anbinden nichts als junge Bäumchen. Ich schlang die Leine um eines derselben; unglücklicherweise gerade an einer Stelle, wo das Ufer einen Vorsprung bildete und eine scharfe Strömung entstand. Von ihr erfaßt, schoß das Floß nur so dahin, und eh‘ ich mich’s versah, hatte es sich vom Boot losgerissen und war auch schon im Nebel verschwunden. Ich seh‘ noch, wie er sich hinter ihm schließt; mir wurde ganz schwarz vor den Augen, und ich konnte mich kaum rühren, viel weniger einen Laut von mir geben. Denk‘ ich, nun bist du verloren, verlassen gewiß, denn Jim ist weg auf Nimmerwiedersehen! Ich stürze ins Boot und falle über die Ruder her, aber es weicht nicht von der Stelle; ich hatte vergessen, es loszubinden. Ich probier jetzt den Knoten zu lösen, aber ich war so aufgeregt, und meine Hände zitterten so, daß ich nichts anfangen konnte.

Als ich dann endlich flott war, setzte ich hinter dem Floß her, hielt mich, solang ich konnte, in der Nähe des Ufers, um die Richtung nicht zu verlieren, kam aber doch schließlich ab und mitten in den dicken Nebel hinein und wußte nun geradeso wenig wie ein Toter, wohin ich getrieben wurde.

Denk‘ ich, rudern lohnt sich hier nicht, sitzt am Ende doch nur auf einer Sandbank fest, läßt dich lieber vom Wasser treiben, das ist jedenfalls sicherer. Aber still sitzen und die Hände in den Schoß legen, wenn man innerlich wie mit Dampf geladen ist, um vorwärtszukommen, ist eine mißliche Sache. Ich konnt’s kaum fertigbringen und rutschte auf meiner Bank herum, rief dann einmal und lauschte auf Antwort. Plötzlich hör‘ ich den Strom herauf einen schwachen Ruf, und da kommen mir auch die Lebensgeister und der Mut wieder. Ich drauflos, hör’s noch einmal, merk‘ aber auch, daß ich in ganz andrer Richtung bin, viel zuviel nach rechts. Dann hör‘ ich’s wieder und diesmal zu weit links, komm‘ auch nicht näher, denn mit dem Hin und Her verlier ich Zeit und das Floß treibt offenbar immer gerade fort!

Ich hoffte nun, der Narr von Jim würde einen alten Blechdeckel nehmen und ordentlich Lärm schlagen, wer’s aber nicht tat, war er, und gerade die Pausen zwischen den verschiedenen Rufen machten mich so irre. Na, ich immer voran, aber man denke sich mein Erstaunen, als ich plötzlich den Ruf hinter mir höre. Da war guter Rat teuer. Entweder kam der Ruf von jemand anderem her, oder das Boot hatte sich gedreht. Nun wußte ich nicht ein noch aus!

Ich ließ die Ruder sinken. Wieder kam der Ruf, immer noch hinter mir, aber von ganz woanders her; er kam immer näher, aber es wechselte beständig, und ich antwortete stets, bis der Ruf nach und nach wieder von vorne kam und ich merkte, daß die Strömung mein Boot wieder in das richtige Geleise stromab gebracht haben müsse. Jetzt war alles wieder gut, wenn’s nur Jim war, der da rief, und nicht sonst jemand; denn bei Nebel erkenn‘ der Kuckuck die Stimmen, im Nebel sieht alles geisterhaft aus und lautet auch so.

Das Rufen dauerte an, und nach einer Minute etwa stieß ich hart an einer Sandbank auf, von der alte Baumstümpfe wie Geister aus dem Nebel aufragten. Die Strömung packte mich und warf mich zur Linken, hart an vorstehenden Baumzweigen vorbei, die ordentlich pfiffen, so sauste das Wasser an ihnen dahin.

Im nächsten Moment war alles wieder Nebel und still. Ich hielt mich ganz ruhig und hörte nur, wie mein Herz hämmerte und klopfte, während ich kaum zu atmen wagte.

Nichts war mehr zu hören, und nun wußte ich auch genau, woran ich war. Die Sandbank, auf die ich, wie ich glaubte, aufgerannt, war eine Insel, und die Strömung hatte mich zur Linken gerissen, während Jim drüben auf der Rechten dahintrieb. Und die Insel schien nicht klein. Ab und zu konnte ich durch den Nebel hohe Bäume sehen, und das konnte stundenlang so weitergehen; wer will’s sagen, ob ich Jim und das Floß je wieder erreichen würde?

Ich hielt mich ganz still und spitzte die Ohren, soviel ich konnte. Alles umsonst. Ich wurde schnell immer weiter und weiter gerissen, denn die Strömung war stark; aber das wird einem nicht klar, man fühlt es kaum. Im Gegenteil! Man meint ganz, ganz still zu liegen auf dem Wasser, und wenn man einen Baum oder sonst was vorbeihuschen sieht, kommt es einem gar nicht in den Sinn, daß man selber so schnell fährt, sondern man hält den Atem an und denkt, ei, hat’s der Baum aber einmal eilig! Wer’s nicht glaubt, wie unheimlich und einsam es einem zumut ist, so allein im Nebel auf dem Wasser, mitten in der stillen, dunklen Nacht, der soll nur einmal hingehen und es probieren, dann wird er schon sehen.

Nach vielleicht einer halben Stunde fing ich wieder an zu rufen, denn ich dachte, nun könnte die Insel endlich ein Ende haben, und wahrhaftig, ich hörte auch einen Antwortruf, aber weit, weit weg. Ich versuchte ihm zu folgen, bracht’s aber nicht fertig. Gleich drauf kam es mir vor, als sei ich in ein ganzes Nest von Inselchen geraten, denn ein schwacher Schein davon war alle Augenblicke zu beiden Seiten sichtbar, und zuweilen war es mir, als führe ich durch einen schmalen Kanal. Manche von den Eilanden konnte ich gar nicht unterscheiden, aber daß sie vorhanden waren, merkte ich an dem Rauschen der Strömung, die sich an dem herüberhängenden Gesträuch und Laubwerk brach. Die Rufe konnte ich immer von Zeit zu Zeit wieder hören, aber der Richtung folgen zu wollen, wäre schlimmer gewesen als die Jagd auf ein Irrlicht, so sprang der Ton hin und her, von einer Richtung zur andern.

Dann mußte ich auch mit dem Ruder nachhelfen, daß ich nicht einmal irgendwo aufsaß und irgendeinen von den kleinen Landbrocken unversehens vom Platz rückte. Ich vermutete, daß auch das Floß aus demselben Grund so langsam vorwärts kam, denn nach dem Rufen zu urteilen – immer vorausgesetzt, daß es Jim war, der da rief –, trieb es jetzt kaum schneller als ich selbst dahin.

Nun schien ich wieder im freien Fahrwasser angelangt zu sein, konnte aber mit einem Male gar nichts mehr hören. Denk ich, Jim ist ganz sicher irgendwo angeprallt, und Floß und Jim sind weg und verloren! Ich war so müde und erschöpft, so traurig und mutlos, daß ich mich ruhig in mein Boot legte und mir sagte: Nun läßt du alles gehen, wie’s kommt! Schlafen wollte ich eigentlich nicht; aber allmählich fielen mir doch die Augen zu, ohne daß ich’s merkte, und ich nickte ein.

Aber es muß wohl mehr als ein bloßes Einnicken gewesen sein, denn wie ich wieder zu mir kam, war der Nebel weg, die Sterne standen klar am Himmel, und ich trieb auf einer ruhigen breiten Wasserfläche still dahin. Erst dachte ich, es sei ein Traum, wußte nicht, wo ich war, und als mir allmählich die Erinnerung an alles aufdämmerte, schien es mir, als sei’s in voriger Woche gewesen.

Der Strom war hier furchtbar breit, mit großen, alten, hohen Bäumen zu beiden Seiten, die wie dicke Mauern dastanden, soviel ich im Sternenlicht sehen konnte. Nun späh‘ ich nach vorn und entdecke einen schwarzen Punkt mitten im Wasser. – Ich drauflos; wie ich aber hinkomme, ist’s nichts als ein paar zusammengebundene Baumstämme. Wieder seh‘ ich was Schwarzes, jag‘ dem Ding nach und wieder ist’s nichts, dann aber noch ein dunkler Punkt, ich hinterdrein, und wahrhaftig, das ist’s – ist das Floß mit Jim und allem.

Wie ich hinkomme, sitzt Jim da mit dem Kopf zwischen den Knien, fest eingeschlafen, den Arm noch über das Steuerruder geworfen. Das andere Ruder war mitten durchgebrochen und das Floß selbst ganz bedeckt mit Laub, abgerissenen Baumzweigen und Schlamm. Da ist’s auch nicht sanft hergegangen, denk‘ ich.

Ich leg‘ mein Boot fest, streck mich lang und breit vor Jims Nase auf den Boden, fang an zu gähnen, mich zu recken und zu strecken und Jim anzustoßen.

Sag ich: »Herrje, Jim, ich hab‘ wohl gar geschlafen, warum hast du mich denn nicht wachgerüttelt?«

»Großer, allbarmherziger Himmel! Sein das du, Huck? Sein du nix tot? Nix vertrinkt? Sein du wieder da? Sein zu schön, zu gut für wahr zu sein. Jim gar nix können glauben, arme alte Jim denken, er träumen! Du Jim lassen sehen, lassen fühlen, ob du sein Huck! Nein, du nix sein tot, du sein wieder da, gute, alte, treue Huck – ganz die alte, treue Huck, Gott sei Lob und Dank und Preis und Ruhm!«

»Hallo – drei Schritte vom Leib, Jim! Was ist denn los, alter Kerl? Hast wohl ein Gläschen zuviel gehabt?«

»Wer – alte Jim? Gläschen zuviel? Alte Jim nix haben gehabt Zeit zu denken an Trinken!«

»Weshalb läßt du denn solchen Unsinn los?«

»Was – Unsinn?«

»Wie? Und du fragst noch, Jim? Hast du nicht von Weggehn, Ertrinken und Wiederkommen geschwatzt? – Und ich lieg‘ hier und schlaf wie ’ne Ratte!«

»Huck – Huck Finn, du sehen Jim in die Augen, sehen alte Jim in die Augen! Sein du denn nix weg gewesen?«

»Weg gewesen? – Aber Jim, was, zum Henker, willst du denn eigentlich? Weg gewesen? Wo in der Welt soll ich denn gewesen sein?«

»Alte Jim sein ganz dumm von alles! Hier etwas nix sein richtig! Sein Jim ich, oder was sein Jim? Sein Jim in die Floß oder wo? Jim wollen das wissen – alte Jim sein ganz toll!«

»Na, ich denk‘, daß du im Floß bist, Jim. Das ist ebenso klar, wie daß du ein ganz verrückter, alter Kerl bist.«

»Also Jim sein Jim? Dann du mir sagen, Huck, du mir sagen, Huck, sein du nix gegangen in Boot zu machen fest der Floß?«

»Wo denn? – Wann denn?«

»Du nix machen fest Floß und dann kommen Wasser – brr – un reißen Floß los un Floß schießen immer fort, immer fort und lassen Huck un Boot hinten in Nebel?«

»In welchem Nebel?«

»Ei – in die Nebel, dicke, weiße, große Nebel, was sein gewesen in die Nacht. Un hat nix Jim gerufen un geschreit, un Huck wieder gerufen und geschreit, bis sein gekommen die viele Insel un Huck ging verloren, und Jim beinahe verloren! Arme Jim gar nix wissen, wo sein! Un sein nix Floß gerannt, un gerannt an alle der Insel, und Jim sein fast ertrinkt un sein gewest so traurig? Sein das so, Huck, oder sein das nix so? Du Jim sagen!«

»Na, das ist mir zu hoch, Jim! Ich hab‘ keinen Nebel, keine Inseln, kein Aufrennen, gar nichts gesehen! Ich hab‘ die ganze Nacht hier gesessen und mit dir geschwatzt bis vielleicht vor zehn Minuten, und dann bist du eingenickt, und ich werd’s wohl auch so gemacht haben. Getrunken kannst du da wohl nichts haben, es muß also ein Traum gewesen sein!«

»Hol’s der un jener, Huck – das nix können sein wahr! Jim nix können träumen alle das in zehn Minuten – nix können sein wahr.«

»Na, dann glaub’s nicht, Dickkopf, aber geträumt muß es doch gewesen sein, denn passiert ist’s nicht!«

»Aber, Huck, Jim wissen alles, alles – sein so klar wie …«

»Darauf kommt’s nicht an, wie klar dir’s ist, alter Faselhans, es ist doch nichts dran! Ich werd’s doch wissen, war ja die ganze Zeit hier!«

Fünf Minuten lang sagte nun Jim nichts weiter, sondern brütete nur so vor sich hin, dann fing er an: »Also Jim haben geträumt, Huck? Du das sagen, dann müssen sein wahr! Aber Huck – sein gewesen so ganz schrecklich natürliche Traum, wie Jim nie nix haben gehört. Jim nie nix haben je geträumt, was machen so müd!«

»Ach, das ist gar kein Wunder, so geht’s oft, wenn man recht lebhaft träumt, da kann man nachher kein Glied regen. Deiner scheint aber wahrhaftig der reine Durchhautraum gewesen zu sein, so verhagelt siehst du aus – leg mal los, Jim, und erzähl!«

Nun fing Jim an und erzählte die ganze Geschichte von vorn bis hinten, nur schmückte er alles gewaltig aus. Dann meinte er, nun müsse er versuchen, den Traum auszulegen, denn er sei uns sicherlich zur Warnung gesandt von oben. Er sagte, unser erster mißglückter Versuch zum Anlegen bedeute, daß uns irgendeiner Gutes tun wolle, nun aber komme der Feind, die Strömung, und risse uns weg. Das Rufen, das er dann gehört und selbst ausgestoßen, seien Mahnungen des Schicksals, die wir versuchen müßten, recht zu verstehen, sonst brächten sie uns Unglück, statt uns davor zu behüten. Die Inseln schließlich und unsere Arbeit und Gefahr, dran vorüberzukommen, seien Streitigkeiten mit bösen Menschen, in die wir verwickelt werden würden; wir aber müßten, ohne uns viel drum zu kümmern, sehen, wie wir an den Inseln ungefährdet vorüberkämen und durch den dicken Nebel ins glatte Fahrwasser, das heißt in die freien Staaten, wo dann all unsre Not ein Ende habe. Der Himmel hat sich wieder tüchtig umwölkt gehabt, allmählich aber blitzten doch einige Sternchen hindurch.

»Das ist alles recht schön und gut, Jim, du hast deine Sache brav gemacht, aber – was bedeutet denn das da?«

Dabei deutete ich auf die Blätter, die abgerissenen Baumzweige und den Schlamm, womit das Floß ganz übersät war. Man sah es deutlich beim Licht der Sterne.

Jim starrte drauf hin, dann mir ins Gesicht, dann wieder auf all das Zeug, ohne eine Silbe zu erwidern. Der Traum schien sich in seinem Hirn so eingenistet zu haben, daß es ihm schwer wurde, die Idee davon fahren zu lassen und sich mit der Wirklichkeit vertraut zu machen. Dann, als ihm das Ding doch wirklich endlich klar wurde, sah er mich an, lange, starr, ohne eine Spur von Lächeln, beinah traurig und sagte zuletzt: »Was das bedeuten, Jim dir sagen. Wenn alte Jim ganz müde waren von Rufen un Rudern un Kummer, dann er denken, Huck sein ganz fort, Huck sein verloren, alte Jim seine Herz sein beinah gebrochen, un er wollen schlafen un nix mehr hören, nix mehr sehen von der Welt un Elend. Wenn er dann wach werden, er sehen Huck gesund un heil un ganz vor sich, er müssen weinen heiße Tränen un wollen küssen deine Fuß, so Jim sein froh un dankbar. Du aber, Huck, nur denken, wie können machen Narr aus arme alte Jim un schwindeln un lügen. Das Zeug da sein Unrat – un Unrat es sein, was Leute setzen arme alte Freund in Kopf, zu haben seinen Spaß daran, wenn arme alte Freund sein betrogen un angeführt!«

Langsam erhob er sich und ging zur Hütte. Ich fühlte mich ganz furchtbar beschämt und hätte nun selbst am liebsten seine alten, schwarzen Hufe geküßt, um ihm meine Reue zu zeigen und die Sache wieder gutzumachen.

Fünfzehn Minuten brauchte ich aber doch, ehe ich mich selbst soweit gebracht hatte, daß ich einen Nigger um Verzeihung bitten konnte. Getan hab‘ ich’s dann und hab’s auch nie bereut nachher. Streiche spielte ich ihm keine mehr und hätte auch den nicht losgelassen, wenn ich vorher gewußt hätte, daß es dem armen, alten Kerl so leid tun würde.

16. Kapitel

Erwartung – »Gute, alte Kairo!« – Eine Notlüge – Kairo verfehlt! – Wir schwimmen ans Ufer!

16. Kapitel

Den ganzen nächsten Tag über schliefen wir bombenfest, die nächtlichen Abenteuer lagen uns wie Blei in den Gliedern. Am Abend machten wir uns dann wieder auf, immer hinter einem kolossal langen Floß her, das feierlich wie eine Prozession vor uns dahinzog. An Bord waren vier große Hütten, hohe Flaggenmasten an beiden Enden und in der Mitte ein freies lustig flackerndes Feuer, um das viele Männer rauchend, trinkend und Karten spielend lagerten. Es mochten wohl etwa dreißig Leute Bemannung darauf sein. Ja, das lohnte der Mühe, Steuermann an Bord eines solchen Ungeheuers zu werden, das war doch etwas! Unser kleines Ding kam mir dagegen vor wie eine Wasserfliege, die sich an den Schwanz einer Seeschlange klammert.

Wir kamen an eine starke Krümmung des Flusses, und allmählich bewölkte sich der Himmel, und es wurde sehr heiß. Der Strom war hier sehr breit, und dichte, hohe Wälder zogen sich an beiden Ufern hin, wie dicke schwarze Linien ohne jede Unterbrechung, ohne jeden Lichtstrahl. Wir sprachen über Kairo, unser nächstes Ziel, und meinten, ob wir es wohl erkennen würden, wenn wir dran kämen. Ich sagte nein, vielleicht nicht, denn ich hatte gehört, es seien überhaupt nur ein Dutzend Häuser da, und wenn sie die nicht ganz extra hell erleuchteten, wie sollten wir wissen, daß es eine Stadt war. Jim meinte, wo die beiden Ströme (der Mississippi und der Ohio), zusammenkämen, das müsse man doch gewiß sehen. Das schien mir gar nicht so sicher, denn wir konnten uns leicht einbilden, die Spitze einer Insel zu passieren und im Fahrwasser des alten Stromes zu sein. Dieser Gedanke beunruhigte Jim – und mich nicht minder. Was also tun? Ich schlug vor, daß ich ans Ufer fahre, sobald sich ein Licht zeigt, und sage, mein Alter käme nach mit seinem Warenschiff, wisse aber nicht recht Bescheid hier in der Gegend und wie weit’s wohl noch nach Kairo sein könne. Jim hielt die Idee für ausgezeichnet; wir rauchten drauf noch eine Pfeife und hielten dabei Ausschau.

Etwas anderes, als ordentlich die Augen offen zu halten, konnten wir im Moment nicht tun. Es galt, die Stadt zu sehen und nicht blind an ihr vorüberzufahren. Jim meinte, er sehe sie ganz sicher, denn im Augenblick, wo er sie sehe, sei er ein freier Mann, ein freier Nigger! Vorbeifahren hieße wieder in die Sklaverei gehen, nur über den Ohio könne er zur Freiheit gelangen, sonst sei’s aus und vorbei. Alle paar Augenblicke schnellte er auf: »Da sie sein!«

Aber niemals war’s wirklich so. Einmal war’s ein Irrlicht, dann ein paar Leuchtkäfer, die er für Lichter der Stadt hielt. Seufzend setzte ersieh wieder hin, um geduldig weiter auszuschauen. Es mache ihn ganz zitterig und fieberig, sagte der arme Kerl, der Freiheit nun so nahe zu sein. Mich machte es auch zitterig und fieberig, aber ganz was andres. Mir kam’s plötzlich durch den Kopf, daß Jim jetzt ja schon so gut wie frei sei – und wer war daran schuld? – Ich! Ich, ich – Huck Finn – verhalf einem Nigger dazu, seinem Herrn durchzubrennen! Zur Zeit der Sklaverei war das ein höchst strafbarer Frevel. Zum allererstenmal in der ganzen langen Zeit, die ich mit Jim zusammengewesen, wurde mir so recht klar, was ich eigentlich tat. Mir wurde siedend heiß bei dem Gedanken. Ich suchte mich bei mir selbst zu entschuldigen, ich war ja eigentlich gar nicht zu tadeln, ich hatte ja Jim nicht davonlaufen heißen von seiner rechtmäßigen Besitzerin! Das half mir aber nichts. Allemal regte sich wieder das Gewissen und sagte: Aber du hast ihm geholfen auf der Flucht und härtest doch nur ans Ufer zu rudern und jemandem davon zu sagen brauchen. Wahrhaftig, so war’s – da half keine Ausrede. Das gab mir einen Stich. Und weiter bohrt das Gewissen: Was hat dir denn Miss Watson getan, Huck Finn, daß du mit ansehen kannst, wie ihr einziger Nigger ihr sozusagen unter der Nase durchgeht, ohne daß du ein Sterbenswörtchen sagst? Was hat dir das arme, alte Ding getan, daß du ihr den Streich spielst, was? Sie wollte dich doch lesen lehren, wollte dir Anstand beibringen, wollte dein Bestes, so gut sie’s verstand! Das ist’s, was sie dir getan hat, Huck – Huck Finn!

Mir war so erbärmlich, so elend zumute, daß ich wünschte, ich wäre tot. Ich rannte hin und her und machte mich immerzu in Gedanken vor mir selber schlecht, und Jim rannte mit, immer an mir vorbei. Keiner konnte ruhig bleiben. Jedesmal, wenn er wieder auffuhr: »Das sein Kairo!« ging es mir wie ein Schuß durchs Herz, und ich dachte, wenn’s wahr wäre, würde ich sterben vor Schreck. Jim sprach immer laut vor sich hin, während ich’s mit mir selber leise abmachte. Wenn er erst frei wäre – sagte er –, wolle er schaffen wie ein Pferd und sparen, sparen, bis er sein Weib loskaufen könne, das zu einer Farm in der Nähe von Miss Watson gehörte. Dann wollten sie beide für die Kinder sparen, und wenn ihr Herr diese nicht gegen Geld und gute Worte an sie abtreten wolle, so werde er irgendeinen Ablitionisten bitten, sie zu stehlen.

Mir gefror das Mark in den Knochen, als ich das Zeug hörte. Vorher hätte er nie, nie gewagt, so etwas je zu äußern. Wie doch der Gedanke, jeden Augenblick frei sein zu können, sein ganzes Wesen verändert hatte! Das alte Sprichwort hatte eben recht: ›Gib ’nem Nigger den kleinen Finger, und er nimmt die ganze Hand!‹ Denk‘ ich, das kommt davon! Hast du einem Nigger geholfen davonzulaufen, und, kaum am Ziel, sagt er dir ganz naiv und unverfroren, er wolle seine Kinder stehlen – Kinder, die einem Mann gehören, den ich nicht einmal kenne, der mir nie was zuleid getan hat!

Ich bedauerte, daß Jim dergleichen sagen konnte, es setzte ihn so tief herab in meinen Augen. Mein Gewissen rumorte in mir toller als je, bis ich ihm zuletzt zuflüstre: »Sei still, es ist ja noch nicht zu spät, sowie ich das erste Licht sehe, gehe ich ans Ufer und zeig’s an.« Danach war ich ruhig und zufrieden und fühlte mich so leicht wie eine Feder. Alles, was mich gequält, war mit einemmal verschwunden und wie weggeblasen. Ich spähe nach einem Licht aus und sing‘ mir dabei was vor.

Da zeigt sich eins und Jim schreit: »Sein gerettet, Huck, sein gerettet! Spring un sei froh, das sein gute, alte Kairo, endlich, endlich! Jim weiß ’s, Jim fühlt’s! Müssen sein Kairo! Gute, alte Kairo!«

Sag‘ ich: »Will doch lieber das Boot nehmen, Jim, und nachsehen, es könnt‘ am Ende doch nicht wahr sein!«

Er springt nach dem Boot, hat’s im Nu flott gemacht, legt mir noch seinen alten Rock auf die Bank, um den Sitz bequem zu machen, drückt mir das Ruder in die Hand und jauchst, indem ich abstoße: »Alte Jim bald wird singen vor Freud! Wird er sagen: Alles, alles danken Huck! Jim sein freie Mann, wären nie nix gewesen freie Mann ohne Huck, gute, alte, treue Huck! Jim nix vergessen das, Huck! Huck Finn sein arme, alte schwarze Nigger seine beste Freund, sein alte Jim seine einzigste Freund!«

Und ich war eben im vollen Begriff, ihn zu verraten, um mein Gewissen zu beruhigen! Als er so zu mir redete, wurde ich weich wie ein Waschlappen, das Ruder schien mir wie Blei so schwer, und ich wußte nicht, soll ich mich freuen, daß ich abgefahren bin, oder nicht. Wie ich eine kleine Strecke weit entfernt bin, ruft Jim mir noch nach: »Da du gehen hin, alte, treue Huck! Einzigste weiße Mann, was hat nix gelogen mit arme, alte Jim! Gute, treue Huck!«

Mir war ganz elend zumut, ich sagte mir aber: Du mußt’s und mußt’s tun, da gibt’s keinen Ausweg, kannst dich nicht drum herumdrücken! Gerade in dem Moment kommt ein Nachen daher mit zwei Männern drin; sie halten an und ich auch.

Sagt der eine: »Was ist das dort?«

»Ein Stück Floß«, sag‘ ich.

»Gehörst du drauf?«

»Ja!«

»Sonst noch wer drauf?«

»Noch einer!«

»Es sind fünf Nigger durchgebrannt, da drüben von der Farm gerade an der Flußbiegung da hinten – dort! Ist euer Mann auf dem Floß weiß oder schwarz?«

Ich konnte nicht gleich antworten. Die Worte schienen mir in der Kehle kleben zu bleiben. Ein oder zwei Sekunden lang wollte ich Mut fassen und alles gestehen, war aber nicht Manns genug dazu – mir war nicht für einen Cent Courage geblieben! Als ich fühlte, wie ich weich wurde, gab ich denn auch gleich nach, wehrte mich nicht lang und fahre nur so heraus: »Weiß ist er!«

»Na, wollen doch lieber selber nachsehen!«

»Das war‘ mir sehr recht«, sag‘ ich, »denn der dort ist mein Alter. Ihr könntet mir vielleicht dann gleich helfen das Floß ans Ufer zu bringen. Er ist nicht ganz wohl, der Alte, und Mutter auch nicht und Annemarie!«

»Oh, geh zum Kuckuck, Junge, wir haben Eile. Doch – na schneid nur kein Gesicht, werden’s wohl tun müssen, soll ja doch immer ein Christenmensch dem andern helfen! Na, denn mal los, komm, vorwärts, schnell! Haben keine Zeit zu verlieren!«

Sie griffen nach den Rudern und ich auch, und als wir ein paarmal ausgezogen hatten, sag‘ ich: »Vater wird euch so dankbar sein! Jeder, den ich bis jetzt gebeten habe, mir zu helfen, ist davongelaufen, und allein kann ich das Floß nicht ans Land bringen.«

»Na, das ist aber recht scheußlich! Merkwürdig auch! Sag, Junge, was ist denn eigentlich los mit deinem Vater?«

»Nichts – nicht viel – er hat nur – ach – eigentlich gar nicht viel gar nichts!«

Sie hielten plötzlich an; wir waren nicht mehr weit vom Floß entfernt.

Sagt der eine: »Junge, du lügst! Was ist los mit deinem Vater? Schnell heraus damit, ohne Flunkern, es ist besser für dich!«

»Ich will’s ja gestehen, wahrhaftig, ich will’s, ihr Leute, aber laßt uns nicht stecken, bitte, bitte! Es sind die – die – ach, wenn ihr nur vorrudern wolltet, dann könnte ich euch die Leine zuwerfen und ihr müßtet gar nicht nahe kommen!«

»Halt an, John, zurück!« schreit der eine, und sie wenden in plötzlicher Hast. »Halt dich weg, Junge, dort nach rechts! Hol’s der Henker, ich glaub‘ der Wind bläst gerade vom Floß auf uns her! Dein Vater, Junge, hat gewiß die Blattern, und du weißt’s auch ganz gut! Warum hast du’s nicht ehrlich und offen gesagt, sondern fährst da herum und bringst andre ehrsame Leute in Gefahr?«

»Ach«, stotter‘ ich und fang‘ an zu schluchzen, »ich hab’s ja vorher immer gesagt, und da ist jeder weggelaufen!«

»Armer Tropf! Du hast so unrecht nicht. Ja, siehst du, du tust uns leid, aber die Blattern – weißt du, das ist so eine Sache! Ich will dir mal sagen, wie du’s anfängst. Das Landen mußt du nicht probieren, das bringst du allein nicht fertig, ohne daß alles zuschanden geht. Treib also nur ruhig weiter, noch so ein paar Stunden, bis du zu einer Stadt kommst am linken Ufer. Bis dorthin ist dann die Sonne schon lang herauf, und wenn du Hilfe holst, sagst du, deine Leute hätten das Fieber. Sei nicht wieder solch‘ ein Narr und laß dir’s anmerken, was eigentlich los ist. Es würde dir auch gar nichts helfen, da drüben bei dem Licht anzulegen, das ist nur ein Zimmerplatz. Sag einmal, gelt, dein Vater ist recht arm und jetzt recht schlimm dran? Da – ich leg dir ein Zwanzigdollarstück auf das Brett, das fängst du dann auf, wenn’s an dir vorbeitreibt. Mir kommt’s scheußlich vor, daß wir dich so stecken lassen, armer Kerl, aber die Blattern, siehst du, das ist keine Kleinigkeit!«

»Wart mal, Parker«, ruft der andre, »da sind auch zwanzig Dollar von mir. Leg’s dazu auf’s Brett. Na, leb wohl, Junge, mach’s nur, wie der Parker dir’s gesagt hat, dann wird schon alles recht werden!«

»Das denk‘ ich auch, mein Junge, na, leb wohl, leb wohl! Wenn du was von den Niggern siehst, mach, daß du Hilfe kriegst und faß sie ab, da ist Geld dabei zu verdienen, viel Geld!«

»Schönen Dank, ihr Herren, schönen Dank! Wenn ich die Nigger kriegen kann, soll’s mir lieb sein, wollt‘, ’s wär‘ so, könnt’s brauchen und Vater auch!«

Fort waren sie, und ich ruderte zum Floß zurück, fühlte mich elend und erbärmlich, wußte wohl, wie unrecht ich getan, aber bei mir lohnt’s sich schon nicht mehr der Mühe, probieren zu wollen, anders und besser zu werden. Das muß man von Kind auf gewöhnt sein, sonst ist man nicht fest genug drin, und wenn man einmal in der Klemme sitzt, so ist man nicht stark genug sich herauszuziehen, sondern bleibt allemal drin hängen. Ich hatte eben wieder nicht einmal den Mut gehabt, das Rechte zu tun, wie andere ehrliche, brave Menschen! Dann denk‘ ich aber wieder, wenn du nun recht gehandelt hättest und den alten Jim verraten, wär‘ dir dann wohl jetzt besser zumut? Nein, sag‘ ich, nein, dann wär’s geradeso schlimm. Und, denk‘ ich, wozu besser werden und recht tun, wenn man davon nur Mühe hat, vom Unrechten aber keine, und der Lohn derselbe ist? Da saß ich fest! Eine Antwort konnte ich mir hierauf nicht geben. Wollt‘ mich auch nicht weiter damit plagen, sondern beschloß, in Zukunft immer das zu tun, was mir gerade am besten paßte – Recht oder Unrecht, einerlei!

Ich ging in die Hütte, Jim war nicht drin, ich stöberte jeden Winkel durch, er war nirgends.

Ruf ich: »Jim!«

»Hier sein Jim, Huck! Sein Männer ganz weg? Du nix reden laut!«

Er war im Wasser unter dem Steuerruder und guckte nur mit der Nase hervor. Als ich ihm sagte, sie seien schon weit weg, kroch er heraus und kam an Bord.

Sagt er: »Jim alles hören, Huck, alles, un Jim springen in die Wasser, um zu schwimmen an die Land, wenn Männer kommen. Dann Jim wollen schwimmen zurück, wenn Männer sein weg. Aber, Huck, du sie haben wundervoll angeführt! Sein gewesen die beste Streich, die Jim haben gehört all seine Leben! Ach, herrjemine, Huck, du haben Jim gerettet, Jim das wohl wissen, du haben Jim wieder gerettet, Jim das nie nix vergessen!«

Dann berieten wir uns über das Geld. Zwanzig Dollar für jeden von uns war nicht schlecht! Jim meinte, damit könnten wir, Gott weiß wie weit, Passage nehmen auf einem Ohio-Boot und behielten gewiß noch ein gutes Teilchen übrig, um drüben in den freien Staaten ein neues Leben zu beginnen. Noch ein paar Stunden weiter auf dem Floß zu bleiben, sagte er, sei nicht lang, aber er wollte doch, sie wären vorüber.

Gegen Tagesanbruch legten wir an, und Jim war diesmal ganz besonders drauf bedacht, das Floß gut zu verbergen. Dann beschäftigte er sich den ganzen Tag über damit, unsre Sachen in Bündel zu packen, um zum Verlassen des Bootes fertig zu sein.

Gegen zehn Uhr am andern Abend kamen endlich die Lichter einer Stadt am linken Ufer in Sicht.

Ich stieß im Boot ab, um Erkundigungen einzuziehen. Bald fand ich auch einen Mann in einem Nachen, der eine Leine auswarf.

»Ist das Kairo dort?« frag‘ ich.

»Kairo? Nein. Ich glaub‘, du bist nicht recht gescheit!«

»Wie heißt denn die Stadt?«

»Wenn du’s wissen willst, geh hin und frag! Wenn du noch eine Minute lang mir hier die Fische verjagst mit deinem dummen Gefrag, geb‘ ich dir was, nach dem du nicht verlangt hast!«

Ich also wieder zum Floß zurück. Jim war schrecklich enttäuscht, ich aber tröstete ihn und meinte, Kairo käme gewiß jetzt erst.

Vor Tagesanbruch noch kamen wir an einer andern Stadt vorbei, und ich wollte eben hin und fragen. Da sagte Jim, die Ufer seien zu steil, Kairo liege flach, das wisse er; so blieb ich denn. Wieder bargen wir unser Floß für den Tag. Allmählich dämmerte mir eine Ahnung, Jim desgleichen. Sag ich: »Jim, ich glaub‘, wir sind am Ende letzte Nacht im Nebel an Kairo vorübergefahren!«

Antwortet er: »Wir nix wollen reden mehr davon. Arme Nigger können nix haben Glück! Jim immer denken, Schlangenhaut von Insel hören noch nix auf zu bringen Unglück!«

»Wollt‘, ich hätt‘ die verd- Haut nie gesehen, Jim!«

»Sein nix deine Schuld, Huck, du nix konnten wissen von Schlangenhaut-Unglück!«

Als es Morgen wurde, sahen wir deutlich, wie sich das klare Ohio-Wasser mit dem schmutzigen Gelb des Mississippi mengte. Nun war’s also aus und vorbei, war verpaßt, soviel war sicher! An ein Zurückgehen, an ein Stromaufwärtsfahren mit dem Floß war nicht zu denken, es blieb uns nur übrig, unser Heil im Boot zu probieren. Im Augenblick ließ sich nichts anderes tun, als die Nacht abzuwarten. So schliefen wir denn den ganzen Tag im Weidendickicht, um uns fürs Kommende zu stärken, und als wir gegen Abend zum Floß gingen, war das Boot, unsre letzte Hoffnung – fort! Losgerissen, fortgeschwemmt von der Strömung!

Lange, lange sagten wir kein Wort, wir wußten, daß die Schlangenhaut nochmals dabei im Spiel gewesen war. Was ließ sich da also sagen? Das hätte am Ende nur noch mehr Unglück heraufbeschworen; es war daher das beste, geduldig stillzuhalten! –

Dann berieten wir uns, was wir nun anfangen wollten, und fanden, daß es ratsam sei, ruhig im Floß weiterzutreiben, bis wir uns einmal irgendwo ein Boot verschaffen, das heißt kaufen könnten. Auf meines Alten Art eins zu leihen, kam uns nicht in den Sinn, man hätte uns am Ende dabei fassen können.

Also vorwärts auf dem Floß und gute Miene zum bösen Spiel gemacht! Nach Einbruch der Dunkelheit setzten wir denn auch unsern Weg fort.

Wer bis jetzt vielleicht noch nicht fest an das Unglück geglaubt hat, das das Anfassen einer Schlangenhaut bringt, der wird’s nun unfehlbar tun, wenn er hört, wie es uns weiter ergangen!

Nirgends konnten wir eine Gelegenheit entdecken, uns ein Boot zu verschaffen, soviel wir auch ausspähten. Sonst begegnet man doch immer Flößen oder dergleichen, die ein übriges Boot haben und es gerne abgeben, aber nein, wir sollten kein Glück haben! Die Nacht wurde schwärzer und schwärzer, es war beinahe so schlimm wie Nebel, man konnte die Hand kaum vor den Augen sehen, geschweige denn den Strom überblicken. Allmählich war’s spät geworden und sehr still, und da hören wir ein Dampfboot in der Entfernung heranbrausen. Wir zündeten unsere Laterne an, damit man uns sehen könne. Wir hörten das Schnauben und Keuchen der Maschine näher und näher, konnten aber erst etwas entdecken, als das Ungetüm schon ganz dicht bei uns war und wir merkten, daß es direkt auf uns lossteuerte. Das tun die großen Dampfer manchmal, um zu zeigen, wie geschickt sie im Lenken des Kolosses sind. Wenn sie nun so dicht an einem vorbeistreifen und das Rad ein Ruder faßt und abknackst, da streckt dann wohl der Steuermann lachend den Kopf heraus und meint wunder welche Heldentat er vollbracht hat. Wir dachten, sie wollten das auch bei uns probieren und waren selbst voller Erwartung, wie es gelingen würde. Das Ungetüm kam aber näher und näher, furchtbar schnell, und sah aus wie eine dicke, pechschwarze Wolke mit kleinen Glühwürmchen gespickt. Und ehe wir uns nur besinnen konnten, glühten schon dicht über uns die weitoffenen Luken des Maschinenraums wie feurige Schlünde, bereit, uns zu verschlingen. Man schrie uns zu, gellendes Pfeifen ertönte, Dampf zischte und qualmte, Jim wälzte sich von der einen, ich von der anderen Seite über Bord, und im selben Moment krachten und splitterten die Planken unseres Floßes, in Fetzen gerissen, auseinander.

Ich tauchte unter und suchte möglichst auf den Grund zu kommen, um das Rad des Dampfers, das über mich wegrauschte, nicht zu genieren. Eine Minute hab‘ ich’s immer unter Wasser aushalten können, diesmal blieb ich wohl anderthalb, aber dann schoß ich auch nur so nach oben, sonst wäre ich im nächsten Moment geborsten. Als ich bis an die Schultern wieder an der Luft war, blies ich erst das Wasser aus den Nüstern und prustete und keuchte mich zurecht. Vom Dampfer konnte ich nichts mehr sehen in der argen Finsternis, hörte nur noch das Schnauben und Stampfen und fühlte die wilden Wellen. Man hatte nach ein paar Sekunden Aufenthalt die Maschine wieder in Gang gesetzt und dampfte nun davon, ohne sich weiter um das elende kleine Floß zu kümmern.

Ich rief nach Jim, wieder und wieder, aber vergebens. Weiß Gott, was aus dem armen Kerl geworden war! Eine Planke trieb auf mich zu, ich faßte sie und ließ mich eine Weile treiben, um zu ruhen und nach Jim auszuspähen. Ich konnte aber nichts entdecken, vielleicht war er doch dem Ufer zugeschwommen. Die Strömung trieb nach der linken Seite, so überließ ich mich ihr, in der Hoffnung, daß Jim es ebenso machte, und so erreichte ich denn auch nach einiger Anstrengung sicher das Ufer.

Hier lief ich hin und her und schrie: »Jim, Jim!« Aber kein Jim war zu hören und zu sehen, und endlich fiel ich todmüde und elend an einem Baum zu Boden und weinte mich in Schlaf – mir war gar so einsam und allein zumute! So öde – so verlassen von aller Welt!

17. Kapitel

Jim findet sich wieder – Floß zurückgewonnen – Neue Kameraden! – Der Herzog von Somerset – Königliches Schicksal – Eine Gebetsversammlung – Der Wolf unter den Schafen

17. Kapitel

Als ich am andern Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ich brauchte ein paar Augenblicke, bis ich mich auf die Abenteuer der letzten Nacht besinnen konnte. Ich richtete mich auf und sah mich um, meinte, ich müsse Jims altes, treues, breites Gesicht irgendwo aus dem hohen Ufergras auftauchen sehen, aber nichts regte sich – ich rief, ein-, zweimal – alles blieb still. Da erhob ich mich mühsam und schlich mich, elend, zerschlagen und ganz mutlos, flußabwärts dem Ufer entlang. Das Wasser behielt ich scharf im Auge, vielleicht konnte ich doch wenigstens seine Leiche – ich meine Jims Leiche – entdecken und so Gewißheit darüber erlangen, was aus dem armen Kerl geworden war. Da ich nichts zu essen hatte, rebellierte mein Magen sehr gegen die weitere Entdeckungsreise am einsamen Fluß. Der Hunger hätte mich weit lieber landeinwärts, bewohnten Gegenden zu getrieben; ich aber konnte Jim nicht ohne weiteres aufgeben. Lange, lange schlenderte ich so hin, ohne das geringste zu entdecken. Ziemlich weit vor mir sah ich den Wald in scharfem Bogen bis zum Wasser hin reichen. Denk‘ ich, bis dahin gehst du noch, und ist Jim dort auch nicht, so hat ihn richtig die Schlangenhaut ins Unglück gebracht. Entweder ist er dann ertrunken oder aber am Ufer Leuten in die Hände gefallen, die ihn für einen der durchgebrannten Nigger gehalten und ihn festgenommen haben. So schlepp‘ ich mich denn noch weiter, immer auf den Wald zu. Das Ufer griff dort landzungenartig in den Fluß hinein, so daß man einen freien Ausblick auf das Wasser haben mußte. Endlich bin ich dort und schau mich um und – was seh‘ ich? Von Jim nichts, aber – einen Teil von unsrem Floß, dem guten, alten Floß, und zwar den größeren, mit der Hütte drauf. Die war nun freilich etwas zusammengerissen, der Dampfer war haarscharf daran hingestreift:, aber sie stand doch noch. Ich wußte gar nicht, wie mir war! Ich sank fast in die Knie vor freudiger Erregung und mußte auf allen vieren drauf zukriechen. Wie ich näher komm‘, seh‘ ich, daß das Ding sogar mit einem Seil am Ufer festgemacht ist und nicht, wie ich dachte, zufällig dort hängengeblieben war. Das macht mich stutzig! Vorsichtig kriech‘ ich näher und schiel‘ erst einmal durch einen Spalt in die Hütte hinein. Und richtig – leer war sie nicht. In der einen dunklen Ecke liegt’s wie ein großer Klumpen zusammengeballt, und jetzt regt es sich – Arme und Beine und ein schwarzer Wollkopf hebt sich und – weiß Gott, ich glaub, ich hab‘ laut aufgeschrien, und dann muß ich geweint haben wie ein kleines Kind, denn als ich dann wieder zu mir kam, hielt mich Jim in den Armen, und mein Gesicht war ganz naß von Tränen und seines auch. Wer von uns beiden sie aber geweint hat, weiß ich nicht recht. – Dann setzten wir uns zusammen, und ich sprudelte und stammelte alle meine Angst, meinen Kummer und meine Verzweiflung hervor, die mich diesen Morgen beim Aufwachen gepackt hatte.

Dann erzählte Jim: »Huck, Herzensjung‘, weißt du, wie sein kommen Dampfer und sein kommen so ganz schrecklich nah, Jim denken, das beste wäre, sich ins Wasser zu rollen. Jim ’s tun un bleiben lang unten, kommen dann mal rauf, hören noch Schiff un gehen gleich wieder nunter. So noch mal un noch mal. Denken, wollen nix gleich fortschwimmen, wollen erst mal sehen nach gute alte Floß. Un wie Jim dann wieder rauf kommen, Jim sehen dicke schwarze Schiffsklumpen schon weit weg un kleine schwarze Klumpen hinter sich. Er schwimmen auf kleine schwarze Klumpen zu, weil er denken, holla, sein am Ende Floß, un richtig, wie er kommen hin, sein warraftig diese Stück Floß, un sein alte gute Hütte noch da un gar nix viel fort. Jim also rein in Hütte.«

»Hast du mich denn gar nicht rufen hören, Jim?« frag‘ ich, habda drüben am Ufer so schrecklich nach dir gebrüllt!«

»Jim gar nix hören, sein zuviel weit weg! Jim immer denken, Huck sein gewiß am Ufer mit Strömung, un die sein links; so Jim auch kommen links mit Floß un finden Huck dann am Morgen. Un so sein’s dann auch gewesen!«

Ja, so war’s gewesen, Gott sei Dank! Da waren wir drei denn wieder beisammen. Jim und das Floß und ich. Keine Schlangenhaut hatte uns was anhaben können; aber viel drüber reden taten wir lieber nicht! Jim machte mir ein Frühstück zurecht, und ich ließ mir’s köstlich schmecken. Danach machten wir uns an die Ausbesserung unsres Floßes, das fast um die Hälfte kleiner geworden war, aber doch immerhin noch reichlich Raum bot. Vor Abend waren wir fertig damit, und nun konnte das alte Leben wieder losgehen. Als es Nacht wurde, stießen wir vom Ufer; sobald wir weit genug waren, ließen wir das Floß treiben, wie es die Strömung wollte. Dann steckten wir unsere Pfeifchen an, ließen unsere Füße ins Wasser hängen und schwatzten über allerlei. Manchmal hatten wir für längere Zeit den Strom ganz für uns. Drüben waren Ufer und Inseln sichtbar, zuweilen auch ein Licht, gleich einem Fünkchen, das durchs Fenster einer Blockhütte schien – dann und wann auch ein ähnlicher Lichtpunkt auf dem Wasser, von einem Floß oder ähnlichen Fahrzeug herrührend, von denen auch mitunter der Ton einer Geige oder ein Liedchen herüberschallte. Es ist lieblich, so auf einem Floß zu leben. Über uns hatten wir den Himmel voller Sterne. Wir lagen oft auf dem Rücken und schauten zu ihnen empor. Dann sprachen wir darüber, ob sie gemacht worden wären oder nur durch Zufall da seien. Jim meinte das erstere, wogegen ich einwendete, daß es zu lange gedauert hätte, so viele zu machen. Er meinte dann, der Mond könnte sie gelegt haben. Das ließ sich eher hören, und so widersprach ich ihm auch nicht, hatte ich doch gesehen, daß ein bloßer Frosch mindestens so viele Eier legen kann. Besonders beobachteten wir die herabfallenden Sterne, und Jim behauptete, es seien die faulen, die aus dem Nest geschmissen würden.

Nach Mitternacht gingen die Uferbewohner zu Bett, und für zwei bis drei Stunden waren die Ufer schwarz – kein Fünkchen mehr in den Blockhausfenstern. Diese Lichtpunkte waren unsere Uhr. Die ersten, die sich wieder zeigten, bedeuteten die Ankunft des Morgens, dann suchten wir einen Schlupfwinkel auf einer kleinen Insel und legten an, wo’s am besten ging.

Eines Morgens bei Tagesanbruch fand ich ein Kanu und fuhr damit von der Insel zum Ufer, dann etwa eine Meile unter Zypressen einen kleinen Fluß hinauf, um zu sehen, ob ich nicht einige Beeren pflücken könnte. Als ich an einem Ort vorüberkam, wo ein Kuhpfad den Fluß berührte, rannten zwei Männer herbei. Ich dachte schon, daß mir’s nun an den Kragen gehen würde, denn ich fürchtete, sie wären hinter mir und Jim her. Ich wollte schon umkehren, sie waren aber ganz nahe und baten mich, ihnen das Leben zu retten; sie hätten nichts getan, würden trotzdem verfolgt und Männer mit Hunden wären hinter ihnen her. Sie wollten gleich zu mir in den Nachen springen, aber ich sagte: »Tut’s ja nicht. Ich höre weder Pferde noch Hunde. Ihr habt Zeit, durchs Gebüsch etwas stromauf zu gehen, dann watet durchs Wasser zu mir – das lenkt die Hunde von der Fährte ab.«

Sie taten’s, und als ich sie im Kanu hatte, ging’s rasch nach unserm Floß. Nach ungefähr fünf Minuten hörten wir Hunde und Männer in der Ferne lärmen. Sie schienen an den Fluß zu kommen – sehen konnten wir sie nicht – und dort eine Zeitlang herumzulungern. Wir machten uns aus dem Staube, bis wir sie zuletzt nicht mehr hörten. Als wir aus dem Fluß in den Strom liefen, war alles still. Wir erreichten das Floß und versteckten uns für den Tag.

Einer der Kerle war siebzig Jahre alt oder mehr, hatte einen kahlen Kopf und grauen Vollbart. Er trug einen zerknitterten alten Filz, ein schmutziges baumwollenes Hemd, zerfetzte blaue Hosen in seine Stiefel gestopft und gestrickte Hosenträger – oder vielmehr nur einen. Er trug auf dem Arm einen alten blauen Rock mit Messingknöpfen, und beide Kerle hatten große vollgepfropfte Reisesäcke.

Der andere war etwa dreißig Jahre alt und war etwas besser gekleidet.

Nach dem Frühstück machten wir’s uns bequem und plauderten; dabei stellte es sich gleich heraus, daß die beiden einander fremd waren.

»Was hat dich in die Klemme gebracht?« fragte der Kahlkopf den andern Patron.

»Nun, ich verkaufte einen Stoff, der den Weinstein von den Zähnen nimmt, und die Zahnglasur gewöhnlich auch. Ich blieb eine Nacht länger in dem Städtchen, als mir zuträglich war, und machte mich eben davon, als ich dir über den Weg lief und du mir sagtest, man sei hinter dir her und ich möchte dir helfen. Da sagte ich dir, daß mir’s ähnlich ginge und wir zusammenhalten könnten – das ist die ganze Geschichte – was ist deine?«

»Nun ja, ich hielt eben dort Versammlungen zur Förderung der Mäßigkeit, etwa eine Woche lang, und war der Liebling des schönen Geschlechts: jung und alt, und verdiente nebenbei fünf bis sechs Dollar den Abend; zehn Cents die Person, Kinder und Neger frei. Das Geschäft ging täglich besser. Da verbreitete sich gestern abend irgendwie das Gerücht, daß ich eine Privatflasche bei mir trüge, der ich insgeheim fleißig zuspräche. Ein Neger weckte mich heute früh und sagte mir, daß sich die Leute in aller Stille sammelten und vorhätten, mich mit Hunden und Pferden zu hetzen, nachdem sie mir eine halbe Stunde Vorsprung gegeben, und, wenn meiner habhaft, mich mit Teer und Federn zu überziehen und auf einem Zaunpfahl reiten zu lassen. Ich wartete nicht aufs Frühstück – der Hunger war mir vergangen.«

»Alter«, sagte der Jüngere, »wir geben ein gutes Doppelgespann ab; was meinst du dazu?«

»Ich bin nicht abgeneigt. Was ist dein Geschäft – hauptsächlich?«

»Bin von Haus Buchdrucker; mache etwas in Patentmedizinen; bin Schauspieler, besonders im Trauerspiel; tue auch gelegentlich etwas in Mesmerismus und Phrenologie; zur Abwechslung halte ich Schule, besonders Singen und Geographie; lasse wohl auch einmal einen Vortrag vom Stapel. Oh, ich verstehe mich auf vielerlei – fast auf alles, was mir unter die Hand kommt, nur darf es keine schwere Arbeit sein. Wie steht’s mit dir?«

»Am meisten hab‘ ich in meinem Leben wohl gedoktert. Das Händeauflegen gelingt mir am besten, bei Krebs, Lähmung und dergleichen; auch versteh‘ ich mich ziemlich gut aufs Wahrsagen, wenn ich jemand finde, der mich vorher mit den nötigen Tatsachen versorgt. Predigen schlägt auch in mein Fach, besonders bei Bekehrungs-Versammlungen im Freien. Ich kann überhaupt gut herum missionärieren

Für eine Weile sprach keiner, dann seufzte der Jüngere tief auf und schloß mit einem: »Ach!«

»Na, worüber lachst du?« rief der Kahlkopf.

»Oh, daß ich solches Leben führen muß und zu solcher Gesellschaft heruntergekommen bin!« Und er wischte sich einen seiner Augenwinkel mit einem Fetzen.

»Ist dir etwa die Gesellschaft nicht gut genug?« fuhr der Kahlkopf etwas scharf und ärgerlich heraus.

»Ja, sie ist gut genug für mich, so gut wie ich’s verdiene. Wer hat mich so heruntergebracht, nachdem ich so hoch stand? Ich selbst. Ich werfe euch nichts vor, meine Herren – weit entfernt –, niemandem werfe ich etwas vor. Ich bin ganz allein schuld. Mag die kalte Welt ihr Schlimmstes tun, mag das Schicksal ferner mich verfolgen und mir alles entreißen – Freunde, Eigentum, alles –, eines weiß ich: Irgendwo finde ich ein Grab, das kann die Welt mir nicht entreißen, eines Tages werde ich mich niederlegen und alles vergessen, und mein armes gebrochenes Herz wird Ruhe haben.« Und er wischte sich wieder an den Augen herum.

»Potz armes gebrochenes Herz! Warum läßt du es vor uns hier überlaufen? Was können wir dafür?«

»Nein, ihr allerdings nicht. Euch beschuldige ich auch nicht, meine Herren. Ich habe mich selbst heruntergebracht – ja, ich selbst. Es geschieht mir recht, wenn ich leide, ganz recht; ich grolle niemand.«

»Heruntergebracht von wo? Von wo bist du heruntergebracht worden?«

»Ach, ihr würdet mir’s nicht glauben; die Welt glaubt nie. Laßt mich! Es kann euch einerlei sein. Das Geheimnis meiner Geburt –« »Das Geheimnis deiner Geburt? Willst du behaupten …«

»Meine Herren«, sagte der junge Mann feierlich, »ich will es euch enthüllen, denn ich fühle, daß ich euch vertrauen darf. Von Rechts wegen bin ich ein Herzog!«

Jims Augen starrten vor Erstaunen, und ich glaube, die meinigen auch. Der Kahlkopf aber sagte: »Unmöglich! Ist das dein Ernst?«

»Ja. Mein Urgroßvater, der älteste Sohn des Herzogs von Somerset, flüchtete in dieses Land gegen Ende des letzten Jahrhunderts, um die reine Luft der Freiheit zu atmen. Er heiratete hier und starb und hinterließ einen Sohn; sein eigener Vater starb fast zur selben Zeit. Dessen zweiter Sohn bemächtigte sich des Titels und der Güter; der wirkliche Erbprinz wurde ignoriert und dessen Nachkomme in gerader Linie bin ich – ich bin der rechtmäßige Herzog von Somerset; und nun bin ich verstoßen, meiner hohen Stellung beraubt, von Menschen gehetzt, zerlumpt, elend, und herabgewürdigt zu einer Gesellschaft Entlaufener auf einem Floß!«

Jim bedauerte ihn sehr, ich auch. Wir versuchten ihn zu trösten, aber er sagte, es wäre nutzlos, denn er sei untröstlich; doch wenn wir ihn als Herzog anerkennen wollten, so wäre das für ihn eine kleine Entschädigung. Wir wollten ihm den Gefallen gern tun, wenn er uns nur sagte wie. Er meinte, wir sollten uns verbeugen, wenn wir ihn anredeten, und zwar mit den Worten Ihro Gnaden oder Hoheit oder auch Mylord und er hätte auch nichts dagegen, wenn wir ihn einfach Somerset nennen, denn das wäre eigentlich mehr ein Titel als ein Name; und einer von uns solle ihn bei Tische bedienen und ihm überhaupt kleine Dienstleistungen erweisen.

Nun, das hatte ja nichts auf sich, und wir waren willens. Während der Mahlzeit bediente Jim ihn mit: ›Ihro Gnaden wünschen dies oder das?‹ und so weiter, und man konnte sehen, daß es ihm gefiel.

Aber der Alte wurde allmählich schweigsam, hatte wenig zu sagen und sah aus, als ob ihm dieser Herzogkultus nicht recht gefiele. Ihn schien innerlich etwas zu wurmen. Am Nachmittag fing er folgendermaßen an:

»Hör mal, Sommerfett«, sagte er, »du tust mir verdammt leid, aber du bist nicht der einzige, der so etwas durchgemacht hat.«

»Nicht?«

»Nein, du bist nicht die einzige Person, die ungerechter Weise aus ihrer Höhe herabgerissen worden ist.«

»Ach!«

»Nein, du bist nicht die einzige Person, die ein Geburtsgeheimnis hat.« – Und der Alte fing zu weinen an.

»Halt, was meinst du damit?«

»Sommerfett, darf ich mich dir vertrauen?« sagte der Alte noch schluchzend.

»Bis zum bittren Tode!« Der Herzog ergriff bei diesen Worten des Alten Hand, drückte sie und sprach: »Vertrau mir das Geheimnis deines Daseins, wie ich dir das meinige vertraute. Rede!«

»Sommerfett – ich bin der Dauphin!«

Jim und ich starrten vor Erstaunen. Dann rief der Herzog: »Du bist was?«

»Ja, mein Freund, es ist nur zu wahr – deine Augen schauen in diesem Moment auf den armen verschollenen Dauphin: Louis XVII., Sohn Ludwigs XVI. und Marie Antoinettens.«

»Du? In deinem Alter? Nein! Du meinst wohl, du bist Karl der Große; du mußt doch mindestens sechs- bis siebenhundert Jahre alt sein.«

»Kummer hat’s getan, Sommerfett, Kummer hat’s getan. Sorgen haben mir das Haupthaar vor der Zeit geraubt und den Bart gebleicht. Ja, meine Herren, ihr seht vor euch, in abgetragenem Zeug und in Elend versunken, den wandernden, verbannten, niedergebeugten und leidenden rechtmäßigen König von Frankreich!«

Er weinte und gebärdete sich so, daß Jim und ich gar nicht wußten, was tun, so leid tat er uns, und zugleich waren wir so froh und stolz, ihn bei uns zu haben. Wir taten denn auch für ihn, wie erst für den Herzog, alles was wir konnten. Aber er sagte, es sei umsonst, nichts als der Tod könne ihn glücklich machen. Und doch meinte er, sei das Leben etwas erträglicher, wenn Menschen ihn nach seinem Rechte behandelten, ein Knie beugten, wenn sie mit ihm sprächen, ihn mit Majestät anredeten, ihm bei der Mahlzeit aufwarteten und sich nicht setzten, bis er es ihnen erlaubte. So schickten Jim und ich uns an, ihn zu bemajestäten, dies und das und jenes für ihn zu tun und zu stehen, bis er uns zum Sitzen aufforderte. Das tat ihm wohl, und er machte sich’s bequem. Aber dem Herzog schien das nicht zu gefallen, er schien mit der Sachlage sehr unzufrieden. Doch der König behandelte ihn recht freundlich und sagte, des Herzogs Urgroßvater und alle andern Herzoge von Sommerfett wären von seinem Vater stets hochgeschätzt und in seinem Palast recht willkommen gewesen; doch der Herzog blieb lange brummig, bis der König sagte: »Wir werden wahrscheinlich eine verdammt lange Zeit auf diesem Floß zusammen sein müssen, Sommerfett, und was nützt es, so traurig zu sein? Man macht sich’s dadurch nur ungemütlich. Es ist nicht meine Schuld, daß ich nicht als Herzog, und nicht deine, daß du nicht als König geboren bist – also warum darüber grübeln? Machen wir das beste aus der Lage, in der wir uns befinden, sag‘ ich: Das ist mein Motto. Und genau betrachtet, ist das hier so schlimm nicht – genug zu essen und ein leichtes Leben. Komm, gib mir deine Hand, Herzog, und laß uns Freunde sein.«

Der Herzog tat’s, und Jim und ich waren darüber froh.

Es dauerte nicht lange, und ich war überzeugt, daß diese Kerle weder König noch Herzog, sondern ganz erbärmliche Schufte und Betrüger waren. Aber ich ließ mir nichts merken, sondern behielt’s für mich; es gab dann keinen Streit und Verdruß. Wenn sie wünschten, König und Herzog genannt zu werden, warum nicht? – Wenn es nur Frieden in der Familie gab. Da es nichts nützte, Jim darüber aufzuklären, sagte ich ihm auch nichts davon.

Sie fragten uns nach vielerlei und wollten wissen, warum wir am Tage das Floß versteckten, anstatt weiterzufahren.

»Meine Angehörigen«, erklärte ich, »lebten in Pike County in Missouri, wo ich geboren bin, und sie starben alle außer meinem Papa und meinem Bruder Ike. Papa gab den Haushalt auf, um zu Onkel Ben zu ziehen, der ein kleines Besitztum am Fluß, vierundzwanzig Meilen unterhalb Orleans, hat. Papa war arm und hatte Schulden. Als er alles verkauft und sie bezahlt hatte, war nichts übrig als sechzehn Dollar und unser Neger Jim. Das war nicht genug, uns vierzehnhundert Meilen reisen zu lassen, selbst nicht Zwischendeck. Als der Fluß stieg, hatte Papa eines Tages das Glück, ein Stück von einem Floß aufzufischen; so beschlossen wir, darauf nach Orleans zu fahren. Papas Glück war nicht von Dauer; eines Nachts stieß ein Dampfboot auf die vordere Ecke des Floßes, und wir alle stürzten ins Wasser und tauchten unter das Rad. Jim und ich kamen wieder zum Vorschein; aber Papa war betrunken und Ike nur vier Jahre alt – beide blieben für immer unten. Einige Tage hatten wir viel Ungemach, denn Leute kamen und wollten mir Jim wegnehmen. Sie meinten, er sei ein entlaufener Sklave. So fahren wir jetzt nicht mehr am Tage, nachts lassen sie uns in Ruhe.«

Da sagte der Herzog: »Überlasse es mir, einen Plan auszudenken, der es uns möglich macht, auch bei Tageslicht zu fahren. Ich will mir die Sache überlegen. Heute wollen wir jedoch das Städtchen dort drüben nicht am Tag passieren – es dürfte uns nicht gut bekommen.«

Gegen Abend wurde es früh dunkel, und es sah nach Regen aus; das Wetterleuchten zuckte ringsum, die Blätter begannen zu zittern – man konnte sehen, daß es eine schlimme Nacht geben würde. Der König und der Herzog durchstöberten unser kleines Zelt, um das Bettzeug zu untersuchen. Meins war ein Strohsack, besser als Jim seins, das nur ein mit Maishülsen gefüllter Sack war, und in denen stecken oft Kolben, die einem in die Rippen drücken, und wenn man sich umdreht, rauscht das Zeug wie dürre Blätter und weckt einen auf.

Nun der Herzog meinte, er wolle mein Bett nehmen, doch der König meinte anders und sagte: »Ich sollte meinen, daß der Unterschied in unserm Rang genügt, dir begreiflich zu machen, daß der Maishülsensack nicht geeignet ist, mir als Bett zu dienen. Ihro Gnaden werden ihn für sich selbst nehmen.«

Jim und ich fürchteten jetzt Streit zwischen den beiden und waren recht froh, als der Herzog sagte: »Es ist immer mein Schicksal gewesen, von dem eisernen Absatz der Bedrückung in den Grund getreten zu werden. Unglück hat meinen einst stolzen Sinn gebrochen; ich gebe nach, ich gehorche, es ist mein Schicksal. Ich stehe allein in der Welt – laßt mich leiden; ich kann’s ertragen.«

Wir stießen ab, sobald es dunkel genug war. Der König gebot uns, die Mitte des Stromes zu gewinnen und kein Licht zu zeigen, bis wir das Städtchen weit hinter uns hätten. Bald sahen wir ein kleines Häufchen Lichter – das war das Städtchen – und glitten, eine halbe Meile davon, ganz gut vorbei. Als wir etwa eine Meile unterhalb waren, hißten wir unsere Signallaterne auf; und um etwa zehn Uhr gings los: Regen, Wind, Donner, Blitz – hast du was kannst du! Der König gebot uns beiden Wacht zu halten, bis das Wetter sich aufgeklärt hätte; er und der Herzog krochen ins Zelt und lagerten sich für die Nacht. Meine Wacht dauerte bis zwölf; doch ich hätte mich auch sonst nicht zur Ruhe gelegt, selbst wenn ich ein Bett gehabt hätte, denn solch ein Gewitter sieht man nicht jeden Tag, wahrhaftig nicht. Meiner Seel! Wie der Wind dahinkreischte! Und alle Augenblicke kam ein Lichtstrahl, der den weißen Wellenschaum auf eine halbe Meile ringsum erglänzen ließ. Dann sahen die Inseln wie staubig durch den Regen aus, und die Bäume hieben mit ihren Ästen wild um sich in den Wind; dann kam’s Sch – Krach! – Bum – bum – bumlerumbumbum – und der Donner grollte und rollte und schwieg. Dann fing dieselbe Geschichte wieder von vorn an und so weiter. Zuweilen spülten mich die Wellen fast vom Floß.

Endlich ließ der Sturm nach, und sobald ich das erste Licht am Land erblickte, weckte ich Jim, und wir steuerten zu einem guten Versteckplatz für den Tag.

Nach dem Frühstück holte der König ein altes dreckiges Spiel Karten hervor, und er und der Herzog spielten Sieben auf, zu fünf Cents das Spiel. Als sie dessen müde waren, steckte der Herzog seinen Arm in seinen Reisesack, holte daraus eine Anzahl kleiner gedruckter Anschlagzettel und las laut vor. Auf einem stand: ›Der berühmte Dr. Armand de Montalban aus Paris wird einen Vortrag über Phrenologie halten in … am …‹ (Ort und Datum waren freigelassen) ›Eintritt 10 Cents; Untersuchungen pro Person 25 Cents.‹ Der Herzog sagte: »Das bin ich selbst.« In einem andern Zettel war er ›der weltberühmte Shakespeare-Tragöde, Garrick der Jüngere vom Drury-Lane-Theater, London.‹ In anderen Zetteln hatte er eine Menge anderer Namen und tat andere Wunderdinge, wie zum Beispiel Wasser und Gold mit der Wünschelrute finden, Behexungen besprechen und dergleichen mehr. Nach einer Weile sagte er:

»Aber die histrionische Muse ist meine Wonne. Hast du je die Bretter betreten, Majestät?«

»Nein«, sprach der König.

»Dann, o gefallene Größe, sollst du es tun, eh‘ du drei Tage älter bist«, rief der Herzog. »In dem ersten besten Städtchen, wo wir hinkommen, mieten wir eine Halle und produzieren das Schwertgefecht aus Richard III. und die Balkonszene aus Romeo und Julia. Was sagst du dazu?«

»Ich bin dabei, bis an den Hals hinein, bei allem, wenn sich’s nur bezahlt macht; aber viel verstehe ich nicht vom Schauspielern, hab‘ auch nicht viel davon gesehen. Ich war zu klein, als mein Papa dergleichen in seinem Palaste hatte. Meinst du, daß du mir’s beibringen kannst?«

»Leicht genug!«

»Wohl denn. Ich lechze schon nach was Frischem. Fangen wir nur gleich an!«

So erzählte ihm nun der Herzog ausführlich, wer Romeo war und wer Julia war, und da er selbst immer Romeo gespielt hätte, könnte der König Julia darstellen.

»Aber«, entgegnete der, »wenn Julia ein so junges Mädchen war, so würde mein abgeschälter Kopf und mein weißer Bart bei ihr doch wohl etwas altertümlich erscheinen.«

»Nein, sei unbesorgt; diesen Landkaffern wird das nicht auffallen. Und dann wirst du ja auch verkleidet, das macht einen großen Unterschied. Julia auf dem Balkon freut sich des Mondscheins vor dem Schlafengehen, sie hat ihr Nachtgewand und eine faltenreiche Nachthaube auf. Hier sind die Kostüme.«

Er holte zwei oder drei Kalikodinger hervor und sagte, das seien die mittelalterlichen Rüstungen für Richard III. und den andern Burschen – dann auch ein langes, weißes Nachthemd und eine faltige Nachthaube. Der König war’s zufrieden; dann nahm der Herzog sein Buch und las die Rollen in großartigem Stil vor, wobei er herumsprang und wunderliche Gebärden machte, um zu zeigen, wie gespielt werden müsse; dann gab er das Buch dem König zum Auswendiglernen.

Etwa drei Meilen stromab war ein kleines Städtchen, und nach Mittag sagte der Herzog, es sei ihm eine Idee gekommen, wie man auch bei Tage ohne Gefahr für Jim fahren könne. Er wolle sich erlauben, in das Städtchen zu gehen und alles besorgen. Der König erteilte sich selbst die gleiche Erlaubnis, um zu sehen, ob er dort nicht etwas Profitables ausrichten könne. Wir hatten keinen Kaffee mehr, Jim schlug daher vor, daß ich im Kanu mitginge und welchen besorgte.

Als wir hinkamen, schien alles ausgestorben, als ob es Sonntag wäre. Wir fanden einen kranken Neger, der sich in einem Hof sonnte. Er sagte uns, daß alle, die nicht zu jung, zu krank oder zu alt seien, bei einer öffentlichen Bußfeier wären, etwa zwei Meilen entfernt im Wald. Der König ließ sich die Richtung angeben und beschloß hinzugehen, um aus der Gelegenheit zu machen, was sich machen ließ. Ich durfte mit.

Der Herzog aber sagte, er müsse eine Druckerei ausfindig machen. Wir hatten bald eine entdeckt. Es war ein kleiner Raum über einer Schreinerwerkstatt – Schreiner und Drucker waren alle fort, bei der Versammlung, doch nichts war verschlossen. Der Herzog zog den Rock aus und sagte, er sei jetzt in seinem Element; so schoben denn ich und der König ab und gingen zur Versammlung.

In etwa einer halben Stunde kamen wir schweißtriefend dort an, es war ein schrecklich heißer Tag. Es mochten etwa tausend Menschen aus einem Umkreis von zwanzig Meilen beisammen sein. Der Wald war voller Wagen und Gespanne; die Pferde waren überall angebunden, fraßen aus den Wagentrögen und stampften mit den Hufen, um die Fliegen abzuwehren. Dazwischen hatte man Zelte aufgeschlagen, aus Stangen mit Zweigen bedeckt, unter denen Limonade und Pfefferkuchen, Haufen von Wassermelonen, junger Mais und dergleichen zum Verkauf waren.

Unter ähnlichen Zelten fand auch das Predigen statt, Mark Twain beschreibt hier ein sog. campmeeting, wie diese im Freien abgehaltenen Bußfeiern genannt werden. nur waren sie größer und faßten viele Menschen. Die Prediger standen auf hohen Brettergerüsten an einem Ende des Zeltes. Die Frauen hatten Hauben auf und waren in selbstgesponnene Stoffe gekleidet, einige in Gingham, die Jugend in Kaliko. Mehrere der Jünglinge waren barfuß, und von den Kindern trugen viele nichts als ein gewöhnliches Hemd. Die alten Frauen strickten, und das junge Volk machte einander den Hof.

Im ersten Zelt, das wir besuchten, las der Prediger einen Choral vor. Er las immer zwei Zeilen, und dann stimmte die Versammlung an und sang sie. Jeder sang mit, und es tönte ordentlich ergreifend. Das Volk wurde immer wärmer und wärmer und sang lauter und lauter – gegen Ende des Liedes schluchzten einige, andere jauchzten. Dann begann der Prediger seine Predigt, und was für eine; er wandelte von einem Ende des Gerüsts zum andern, beugte sich weit vornüber – Körper und Arme waren in steter Bewegung – und brüllte die Worte mit aller Gewalt heraus. Von Zeit zu Zeit hielt er die geöffnete Bibel hoch empor und schwenkte sie hin und her, wobei er ausrief: ›Das ist die eherne Schlange in der Wüste! Schauet her und lebet!‹ Und das Volk rief: ›Hosiannah – A – a – men!‹ In dieser Weise ging es fort, unter unaufhörlichem Geplärre der Menge. Zum Schluß forderte er die Anwesenden auf, sich auf die Bank der Bußfertigen zu begeben.

›Ihr reumütigen Kinder, tretet heraus und setzet euch auf die Bank der Bußfertigen (Amen!), kommet ihr Mühseligen und Beladenen (Amen!), kommet ihr Armen und Bedürftigen, in Schmach und Leid Verzehrten (A – a – men!); kommet, die ihr gebrochenen Herzens, die ihr verzagten Geistes seid! Kommet, die ihr in Sünde und Schmutz gewandelt seid; das reinigende Wasser quillt für euch, die Tür zum Himmel steht euch offen – oh, tretet ein und seid selig!‹

In diesem Ton gings weiter. Allenthalben erhoben sich nun Leute aus der Menge und drängten sich mit aller Gewalt hindurch bis zu der Bank der Bußfertigen, während ihnen die Tränen über die Backen liefen. Nachdem alle Büßer hier versammelt waren, sangen und jubilierten sie, daß ihnen schier der Atem ausging; manche gebärdeten sich ganz wahnsinnig und warfen sich in wilder Verzückung auf den mit Stroh bedeckten Boden.

Auf einmal packte es auch den König, und er sprang auf das Gerüst. Der Prediger bat ihn, zum Volk zu reden, und er tat es mit einer gewaltigen Stimme. Er sagte ihnen, er sei ein Pirat, sei seit dreißig Jahren einer gewesen, fern im Indischen Ozean. Seine Mannschaft sei im Frühling bei einem Kampf sehr zusammengeschmolzen und er sei heimgekommen, um Rekruten zu sammeln; doch – dem Himmel sei Dank! – letzte Nacht sei er beraubt und ohne einen Cent vom Dampfboot ans Land gesetzt worden; er freue sich aber darüber, etwas Besseres hätte ihm gar nicht widerfahren können, denn er sei dadurch zu einem anderen Menschen geworden, und zum erstenmal in seinem Leben fühle er sich glücklich. Arm, wie er sei, wolle er sich jetzt zurück zum Indischen Ozean durchschlagen und den Rest seines Lebens dazu verwenden, die Piraten auf den wahren Weg zu führen; er könne es besser als irgendein anderer, da er mit allen Piratenmannschaften jenes Ozeans bekannt sei. Wohl würde er lange Zeit brauchen, ohne Geld dorthin zu kommen, aber hin komme er sicher, und jedesmal, wenn er einen Piraten bekehrt hätte, würde er ihm sagen: »Mir danke nicht, mir gebührt die Ehre nicht; nein, wohl aber den guten Menschen der Pokville-Buß-Versammlung, den wahren Brüdern und Wohltätern der Menschheit – und dem teuren Prediger dort, dem treuesten Freund, den ein Pirat je hatte!«

Hier brach der König in Tränen aus, und ebenso alle anderen. Dann rief einer: »Sammelt für ihn!« Ein halbes Dutzend sprangen auf und schickten sich dazu an, aber jemand rief: »Laßt ihn selbst den Hut herumreichen!« Alle riefen es nach, der Prediger auch.

So schritt der König durch die Massen, indem er den Hut herumreichte und sich die Augen wischte, das Volk segnend und preisend und ihm dankend, weil es mit den Piraten in der Ferne es so gut meine; und sie luden ihn ein, eine Woche zu bleiben; jeder wollte sich’s zur Ehre anrechnen, ihn in seinem Hause zu beherbergen. Doch er sagte, da das der letzte Tag der Versammlung sei, habe er hier nichts mehr zu tun, und er habe Eile, zum Indischen Ozean zurückzukehren, um schnell an seine Arbeit bei den Piraten zu gehen.

Als er wieder auf dem Floß ankam und das Geld zählte, fand er, daß er siebenundachtzig Dollar und fünfundsiebzig Cents gesammelt hatte. Außerdem hatte er einen Dreigallonenkrug Branntwein erwischt, den er unter einem Wagen sah, als wir durch den Wald zurückgingen. Da sagte der König, daß er im Missionsgeschäft kaum jemals einen besseren Tag gehabt habe als heute. »Heiden«, rief er, »sind doch nichts im Vergleich mit Piraten, wenn’s gilt, aus einer Bußversammlung Kapital zu schlagen.«

Indessen war der Herzog auch nicht faul gewesen und freute sich schon im stillen, erzählen zu können, was er eingeheimst. Als aber der König kam und loslegte, da fühlte er sich doch etwas klein. In der Druckerei hatte er zuerst zwei kleine Aufträge für ein paar Farmer ausgeführt – Rechnungsformulare – und dafür vier Dollar eingesteckt. Dann hatte er für zehn Dollar Zeitungsanzeigen angenommen, was er gegen augenblickliche Vorausbezahlung um vier Dollar tat. Der Preis der Zeitung war zwei Dollar pro Jahr, doch hatte er drei Abonnements, jedes zu einem halben Dollar, verkauft, unter der Bedingung augenblicklicher Vorausbezahlung. Sie wollten in Brennholz und Zwiebeln bezahlen, aber er sagte ihnen, er hätte das Geschäft eben erstanden und die Preise so niedrig wie möglich herabgesetzt, um auf Barzahlung bestehen zu können. Außerdem hat er ein Gedichtchen in Typen gesetzt; das hatte er aus seinem eigenen Kopf gemacht. Drei Verse, zart und melancholisch. Es hieß: ›Ja, kalte Welt, erdrück dies brechend‘ Herz usw.‹ – er hatte es fix und fertig dagelassen zum Druck in der nächsten Nummer der Zeitung und nichts dafür gerechnet. So hatte er denn im ganzen neun und einen halben Dollar eingenommen und meinte, er hätte eine gute Tagesarbeit dafür geleistet.

Dann zeigte er uns noch eine kleine Arbeit, die er besorgt, doch nicht berechnet habe, denn sie sei für uns. Es war das Bild eines entlaufenen Negers, der ein Bündel auf einem Stock über der Schulter trug, und darunter stand geschrieben: ›200 Dollar Belohnung.‹ Das übrige auf dem Zettel gab eine genaue Beschreibung von Jim und besagte, dieser sei von der St. Jakobs-Plantage vierzig Meilen unterhalb New Orleans letzten Winter – wahrscheinlich nordwärts – entlaufen, und wer ihn fange und wiederbringe, würde die Belohnung und die Unkosten bezahlt erhalten.

»Von jetzt an«, sagte der Herzog, »können wir auch am Tage drauflosfahren. Wenn wir jemand kommen sehen, binden wir Jims Hände und Füße, legen ihn ins Zelt, verweisen auf die Anzeige, sagen, wir hätten ihn gefangen, seien zu arm, mit dem Dampfboot zu fahren, hätten von Freunden dies Floß auf Kredit gekauft und wollten uns jetzt unsere Belohnung holen. Handschellen und Ketten würden sich zwar noch besser ausnehmen, das stimmt aber nicht recht mit unserer Armutsgeschichte. Stricke sind das rechte. Wir müssen die Einheit wahren, wie wir auf den Brettern sagen.«

Wir stimmten alle darin überein, daß der Herzog ein findiger Kopf sei und das Reisen bei Tage uns jetzt keine Ungelegenheit mehr bringen würde. Wir hofften, diese Nacht noch weit genug zu kommen, um aus dem Bereich des Skandals zu sein, den des Herzogs Arbeit in der Druckerei jenes Städtchens verursachen würde – im übrigen konnten wir unbehelligt reisen.

Wir blieben versteckt und hielten uns still und wagten uns nicht hinaus bis etwa zehn Uhr; dann glitten wir ziemlich entfernt vom Stadtufer dahin und hißten unsere Laterne erst auf, als das Städtchen schon längst außer Sicht war.

Als Jim mich weckte, um die Wacht um vier Uhr morgens zu übernehmen, sagte er: »Huck, du denken, wir noch mehr Könige werden treffen auf Reise?«

»Glaub’s nicht, Jim«, entgegnete ich.

»Nun, das gut sein, ein oder zwei Jim wollen haben ganz gern, wenn müssen, aber das sein auch genug. Sein ganz mächtig betrunken unser König – un Herzog nix viel weniger!«

18. Kapitel

Shakespeares Wiederaufleben – Das Kgl. Nonplusultra – Aus der Schlinge gezogen

18. Kapitel

Die Sonne war längst aufgegangen, als der König und der Herzog hervorkrochen. Sie sahen recht verschlafen aus; aber nachdem sie über Bord gesprungen waren und etwas geschwommen hatten, wurden sie bedeutend frischer. Nach dem Frühstück setzte sich der König auf eine Ecke des Floßes, zog die Stiefel aus, rollte die Hosen auf, ließ die Beine bequem ins Wasser hängen, zündete die Pfeife an und begann seinen Teil in Romeo und Julia auswendig zu lernen. Als er es ziemlich gut innehatte, übten er und der Herzog zusammen. Der Herzog ließ ihn seufzen und die Hand aufs Herz legen, nach einiger Zeit sagte er, es ginge ziemlich gut; »nur«, meinte er, »mußt du Romeo nicht so herausbrüllen wie ein Stier, du mußt’s liebeskrank, sanft und schmelzend sprechen: – R-o-o-meo! denn Julia ist ein liebes süßes Mädchen, fast ein Kind, weißt du, und schreit nicht wie ein Esel.«

Nun holten sie ein paar lange Schwerter hervor, die der Herzog, der Richard III. vorstellte, aus Eichenstöcken gemacht hatte, und übten ihr Schwertgefecht. Es war wirklich großartig anzusehen, wie sie drauflos hieben und umhersprangen. Nach einiger Zeit glitt der König aus und fiel über Bord; danach rasteten sie und plauderten von allen möglichen Abenteuern, die sie früher längs des Stromes erlebt hatten.

Sobald sich eine Gelegenheit bot, ließ der Herzog einige Anschlagzettel drucken. Auf dem Floß aber ging es in den darauffolgenden Tagen, während wir stromab trieben, sehr lebhaft zu; es gab nichts als Schwertgefechte und Generalproben, wie der Herzog es nannte. Eines Morgens, als wir schon ziemlich weit drunten im Staate Arkansas waren, sahen wir ein kleines Städtchen in einer großen Bucht. Wir legten etwa dreiviertel Meile oberhalb an, in der Mündung eines Baches, der, von Zypressen überragt, wie ein Tunnel aussah; und wir alle, außer Jim, nahmen das Kanu und fuhren hinunter, um zu sehen, was für Gelegenheit in dem Städtchen für unsere Vorstellung wäre.

Wir trafen es gut; am Nachmittag sollte dort ein Kunstreiterzirkus Vorstellung geben, und das Landvolk fing schon an, in allerlei alten Rumpelkasten von Wagen und auch zu Pferde herbeizuströmen. Die Kunstreiter wollten vor Abend noch weiterreisen, und so war für unsere Vorstellung gute Gelegenheit. Der Herzog mietete die Rathaushalle, und wir gingen umher und klebten unsere Zettel an. Die lauteten:

Shakespeares Auferstehung!!!

Wunderbare Attraktion!!

Nur für einen Abend!

Die weltberühmten Tragöden

David Garrick der Jüngere vom Drury-Gasse-Theater London

und

Edmund Kean der Ältere vom königlichen Heumarkt-Theater, Piccadilly-London

wie auch der königlichen Kontinental-Theater in ihrem erhabenen Schau-Stück:

Die Balkon-Szene

aus

Romeo und Julia!

Romeo …… Herr Garrick

Julia ……. Herr Kean

Unterstützt von allen Kräften der Gesellschaft!

Neue Kostüme, neue Dekorationen, alles neu!

Ferner:

Der erschütternde, meisterhafte, bluterstarrende Schwertkampf aus Richard III.!!!

Richard III. ….. Herr Garrick

Richmond ….. Herr Kean

Ferner:

(auf besonderen Wunsch)

Hamlets unsterblicher Monolog!

Gegeben von dem berühmten Kean, der ihn an 300 aufeinanderfolgenden Abenden in Paris gespielt hat!

Nur einen Abend wegen unversäumbarer europäischer Engagements!

Eintritt 25 Cents; Kinder und Dienstboten 10 Cents.

Dann trieben wir uns etwas im Städtchen umher. Die Häuser waren meistens alte hölzerne Rumpelkasten, die nie einen Anstrich gehabt hatten; sie ruhten drei bis vier Fuß über der Erde auf Pfählen, damit sie vor dem Strom geschützt waren, wenn er austrat.

Die Kaufläden befanden sich alle an einer Straße. Davor waren weiße Segeltuchdächer über die Seitenwege gespannt, und an die Pfosten, die diese Dächer stützten, band das Landvolk die Pferde. Unter diesen Zeltdächern standen leere Kisten, auf denen sich den Tag über Faulenzer räkelten und mit ihren großen Messern daran herumschnitzten. Es war ein tabakkauendes, gähnendes, faulenzendes und Maulaffen feilhaltendes Gesindel.

Am Flußufer standen mehrere Häuser, die so unterwaschen waren, daß man meinte, sie müßten jeden Augenblick ins Wasser stürzen. Die Leute waren bereits ausgezogen. Bei ein paar anderen Häusern hatte der Fluß die Erde unter einer Ecke weggespült, so daß sie sich vornüber neigten. Trotzdem wohnten noch Menschen drin, aber es war gefährlich, denn zuweilen versinkt ein Stück Land, so breit wie ein Haus, mit einem Male. Solch ein Städtchen muß sich immer weiter zurückziehen, denn der Strom nagt beständig daran.

Je näher der Mittag herankam, desto dichter drängten sich Wagen und Pferde in den Straßen, und es kamen immer noch mehr. Familien vom Lande brachten ihr Mittagessen mit und verzehrten es in ihren Wagen. Es wurde viel Branntwein getrunken, auch sah ich drei Prügeleien.

Also am Abend hatten wir unsere Vorstellung; es waren aber kaum ein Dutzend Leute dabei, gerade genug, um die Unkosten zu decken. Sie lachten fortwährend, und das machte den Herzog ärgerlich. Noch vor dem Ende der Aufführung waren alle wieder fortgegangen, mit Ausnahme eines Jungen, der eingeschlafen war. Da sagte der Herzog: »Diese Arkansas-Kaffern stehen zu tief für Shakespeare; was sie wollen, ist niedrige Komödie – und vielleicht gar noch Schlimmeres als das. Ich kann mir schon denken, was die wollen.«

Am nächsten Morgen nahm er große Bogen Packpapier nebst schwarzer Farbe, malte Anzeigen darauf und klebte sie überall an. Die Ankündigung lautete: Im Rathaus! Nur drei Abende!

David Garrick der Jüngere

und

Edmund Kean der Ältere!

vom London- und den Kontinental-Theatern

in dem ergreifenden Trauerspiel:

Des Königs Kamelopard

oder

Das königliche Nunplusultra!!!

Eintritt 50 Cents

Ganz unten war in fetter Schrift zu lesen:

Frauen und Kinder sind ausgeschlossen.

»Wenn das nicht zieht«, sagte der Herzog, »dann kenne ich Arkansas schlecht.«

Den ganzen Tag waren König und Herzog damit beschäftigt, die Bühne, den Vorhang und eine Reihe Talglichter für die Rampe zurechtzumachen. Am Abend war in kurzer Zeit die Halle gesteckt voll Männer. Als keiner mehr hineinging, verließ der Herzog seinen Posten am Eingang, ging hinten herum auf die Bühne und trat vor den Vorhang. Er hielt eine kleine Rede, worin er das angekündigte Trauerspiel pries; es sei das ergreifendste, das überhaupt existiere, und so fuhr er fort zu prahlen mit dem Trauerspiel und mit Edmund Kean dem Älteren, der die Hauptrolle spielen würde. Endlich, als jedermanns Erwartung aufs höchste gespannt war, zog er den Vorhang auf, und im nächsten Augenblick kam der König auf allen vieren und fast völlig nackt hereingesprungen. Er war ganz bemalt mit Ringen und Streifen aller Farben, prächtig wie ein Regenbogen. Das Volk fiel fast um vor Lachen, und als der König sich müde gesprungen hatte und hinter die Szene kroch, da klatschte, trampelte und stürmte die Menge, bis er wiederkam und alles wiederholte, und er mußte es dann noch einmal machen, denn sie riefen ihn wieder heraus. Der Unsinn, den der alte Kerl machte, war toll genug, um sogar eine Kuh zum Lachen zu bringen.

Dann ließ der Herzog den Vorhang herunter, verbeugte sich und sagte, das Trauerspiel würde nur noch zwei Abende gegeben werden wegen dringender Engagements in London, wo die Plätze im Drury-Gassen-Theater bereits alle verkauft seien. Dann machte er noch eine Verbeugung und sagte: »Wenn es uns gelungen ist, Sie zu amüsieren und zu belehren, werden wir Ihnen dankbar sein, wenn Sie es Ihren Freunden sagen, damit sie auch kommen.«

Etwa zwanzig Stimmen riefen: »Was? Schon vorüber? Ist das alles?«

Der Herzog sagte ja. Dann wurde es lebhaft. Alles schrie »Oho!« sprang wild auf und nach der Bühne zu. Aber ein großer, fein aussehender Mann sprang auf eine Bank und rief: »Ruhe! Ein Wort, meine Herren.«

Sie schwiegen wirklich und horchten. »Wir sind zum besten gehalten worden – ziemlich arg zum besten. Aber wir wollen uns doch nicht von der ganzen Stadt auslachen lassen. Nein. Wir wollen hübsch stille fortgehen und über die Vorstellung prahlen, damit der Rest der Stadt ebenso genarrt werde; dann wissen alle, wie es ist, und keiner kann den andern auslachen. Ist das nicht vernünftig?«

»Das ist wahr! – Der Richter hat recht!« riefen alle.

»Wohl denn, also kein übles Wort mehr! – Geht heim und ratet jedem, das Trauerspiel zu besuchen.«

Am nächsten Tag war nur noch von dem herrlichen Trauerspiel die Rede. Am Abend war das Haus wieder überfüllt, und auch diese Versammlung war genarrt.

Als ich und der König und der Herzog wieder auf das Floß zurückkamen, aßen wir zusammen zu Abend. Nachher, etwa um Mitternacht, ließen sie Jim und mich das Floß in die Mitte des Stromes steuern und etwa zwei Meilen unterhalb der Stadt anlegen.

Am dritten Abend war das Haus wieder gepackt voll – es waren diesmal keine neuen Gesichter, sondern Leute, die schon an den vorigen Abenden dagewesen waren. Ich stand beim Herzog und sah, daß jeder, der hineinging, etwas in seinen Taschen oder unter seinem Rock versteckt trug, und ich konnte sehen, daß es keine Parfümflaschen waren – nein, gewiß nicht! Es hatte einen widerlichen Geruch, der an schlechte Eier, verfaulte Kohlköpfe und dergleichen erinnerte. Als niemand mehr hinein konnte, gab der Herzog einem in der Nähe Stehenden einen Viertel-Dollar und bat ihn, für eine Minute Türwächter zu sein. Dann ging er hinten herum zur Bühnentür, ich hinter ihm her; doch kaum waren wir um die Ecke gebogen und im Dunkeln, da sprach er: »Jetzt geh rasch, bis du von den Häusern weg bist, und dann mach, daß du so schnell zum Floß kommst, als sei der Böse hinter dir!« Ich tat’s, und er gleichfalls. Wir kamen zur gleichen Zeit dort an, und im Nu glitten wir stromab – niemand sprach ein Wort. Ich dachte an den armen König, wie es dem wohl mit seiner Audienz gehen würde; der aber kam lustig aus dem Zelt hervorgekrochen und sagte: »Nun, Herzog, wie hat sich die Geschichte diesmal gelohnt?«

Er war nämlich gar nicht in die Stadt gegangen.

Erst als wir zehn Meilen stromab waren, machten wir Licht und nahmen unser Abendessen. König und Herzog hielten sich den Bauch vor Lachen über die Art, wie sie das Volk überlistet hatten.

Der Herzog sagte: »Grünschnäbel, Dummköpfe! Ich wußte wohl, daß das erste Publikum ’s Maul halten würde, damit die übrigen auch in die Falle gingen; ich wußte, daß sie den dritten Abend denken würden, nun sei die Reihe an ihnen. Ja, jetzt haben sie ihre Revanche. Ich gäbe was drum, wenn ich sehen könnte, was sie für ein Gesicht dabei machen.«

Diese Halunken hatten wirklich 465 Dollar an diesen drei Abenden eingenommen. Ich habe früher nie einen solchen Berg von Kleingeld beisammen gesehen.

Bald schliefen und schnarchten die beiden, da sagte Jim zu mir: »Du nix sein erstaunt, von unsre Könige, Huck?«

»Nein«, sagte ich, »durchaus nicht.«

»Aber Huck, sein ja wahre Teufelskerls, nix anderes, rechte echte Teufelskerls.«

»Nun, soviel ich weiß, sind das viele Könige.«

»So, du das meinen? Dann Jim nix wollen wissen von Könige.«

»Lies doch etwas darüber nach, dann wirst du’s sehen. Da ist Henry VIII.; im Vergleich mit dem ist der unsrige ein Sonntagsschul-Superintendent. Und dann Charles II. und Louis XIV. und Louis XV. und James II. und Eduard II. und Richard III. und noch viele andere; fast alle die angelsächsischen Fürsten in den alten Zeiten waren rechte Kains-Kinder. Oh, du solltest Henry VIII. in seiner Blüte gesehen haben. Das war ein Kerl. Der heiratete ein neues Weib jeden Tag, und am nächsten Morgen hieß es immer: ›Kopf ab!‹ und er tat dabei so gleichgültig, als ob er sich ein paar Eier bestellte. ›Nell Gwynn her‹, rief er. Man brachte sie. Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹ und ab war er. ›Jane Shore her‹, rief er. Sie kommt. Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹ ab war er. ›Leute, die schöne Rosamund herbei‹; schön Rosamund folgt dem Lockruf. Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹

Jede von diesen Frauen mußte ihm in der Nacht eine Geschichte erzählen, und er sammelte sie alle, bis es tausend und eine waren; dann machte er ein Buch daraus, das er Domesday book nannte. Die Vorstellung, die Huck von dem Buch der englischen Grundrechte und anderen geschichtlichen Begebenheiten hat, läßt uns seine Ansicht über Könige nachsichtig beurteilen. Ja, Jim, ich könnte dir noch manches von jenem König erzählen. Hast du nie davon gehört, was dieser Heinrich für Händel mit unserem Land anfing? Das ging so zu. Auf einmal läßt er so mir nichts dir nichts im Hafen von Boston allen Tee über Bord schmeißen und läßt eine Unabhängigkeitserklärung vom Stapel und droht mit einem Krieg. Das war seine Art so – keine Spur von Rücksicht und Billigkeit. Ein andermal hatte er seinen Vater, den Herzog von Wellington, im Verdacht. Was tut er? Er geht her und läßt ihn in einem Sirupfaß ersäufen wie eine Katze. Wenn die Leute Geld herumliegen ließen und er sah es – wupp dich, steckte er es ein. Er brauchte nur den Mund aufzutun, und wenn er ihn nicht gleich wieder zuklappte, kam allemal eine Lüge heraus. Ja, wenn dieser Heinrich über das Städtchen drüben gekommen wäre, der hätte ihm noch ganz anders mitgespielt, das kannst du mir glauben.«

»Huck, das sein ganz abscheulich. Wollte, hätten solche Leute nicht auf Floß.«

»Mir geht’s ebenso, Jim. Aber sie sind nun einmal da, und wir müssen denken, daß sie so erzogen sind und nichts dafür können.«

Was hätte es genützt, Jim zu sagen, daß die beiden gar nicht König und Herzog sind?