29. Kapitel

Das Wappen – Ein geschickter Aufseher – Unwillkommener Nachruhm – Ein reuiger Sünder

29. Kapitel

Das Herstellen der Schreibfedern war eine verteufelt schwierige Arbeit, und ebenso war’s mit der Säge, Jim aber meinte, das Einkratzen der Inschrift in die Wand sei noch das Schlimmste von allem. Das mußte aber geschehen, wohl oder übel, denn Tom sagte, nie in seinem Leben habe er noch von einem Staatsgefangenen gehört, der nicht eine Inschrift auf den Mauern seines Kerkers zurücklasse mit seinem Namen und seinem Wappen.

»Denk doch nur einmal an Lady Jane Grey und Gilford Dudley und den alten Northumberland! Wenn’s auch lange Zeit braucht und viel Arbeit macht, Huck, es muß eben sein, man kann sich nicht drumherumdrücken! Jim muß die Inschrift machen mit seinem Wappen, das tun sie alle!«

Sagt Jim: »Aber, junge Herr Tom, Jim haben gar keine Wappen nix, haben gar nix wie alte Hemd da, und Tom wissen selber, Jim sollen schreiben Tagebuch auf alte Hemd.«

»Ach, du verstehst mich nicht, Jim, ein Wappen ist ja ganz was anderes.«

»Na«, sag‘ ich »aber Jim hat doch jedenfalls recht, wenn er sagt, daß er kein Wappen hat, denn er hat einmal keins!«

»Das weiß ich selbst«, fährt mich Tom an, »das brauchst du mir nicht erst zu sagen, aber ich wett‘ mit dir, was du willst, er kriegt eins, eh‘ er hier herauskommt, denn – das versichere ich dir – es soll einmal später nicht heißen, daß so etwas versäumt worden sei!«

Während also Jim und ich, jeder auf einem Backstein, seine Feder schliff – Jim machte seine aus einem Stück Messing, ich die meine aus dem Blechlöffel –, saß Tom da und dachte sich ein Wappen aus.

Nach einiger Zeit sagte er, er habe so viele gute Ideen, daß er kaum wisse, welche er wählen solle, eine davon aber leuchte ihm ganz besonders ein: »Aufgepaßt«, erklärt er, »im Schild haben wir einen Querbalken und unten im rechten Feld ein dunkelrotes Andreaskreuz, unter dem ein Hund kauert und zu dessen Füßen eine zersprengte Kette liegt, Zeichen der Sklaverei, dann noch ein grüner Querbalken und in azurnem Feld eine siebenfach gezackte Krone. Gekreuzte Degen im andern Feld, drüber steht ein durchgebrannter Nigger in Zobel, der mühsam sein Bündel auf der Schulter trägt. Wappenhalter: zwei Säulen – das sind wir beide –, und als Motto: Maggiore fretta, minore atto. Das hab‘ ich aus meinem Buch, und das will sagen: Je mehr Hast, desto weniger Schnelligkeit. Was sagst du dazu?«

»Hui-i-i-i! Wundervoll! Aber verstehen tu ich’s nicht recht!«

»Na, damit können wir jetzt keine Zeit verlieren, Huck, jetzt müssen wir tüchtig an die Arbeit.«

»Was ist denn ein Feld zum Beispiel und ein Querbalken und ein Andreaskr…«

»Ach, plag mich doch nicht! Ein Feld? Na, ein Feld ist – wart, ich will’s Jim schon zeigen, wenn er drankommt.«

»Aber mir könntest du’s doch vorher sagen, Tom, nicht? Was ist ein Querbalken?«

»Ja, was weiß ich? Aber haben muß er’s, alle vom Adel haben’s!«

So war er immer. Wenn es ihm nicht paßte, einem etwas zu erklären, konnte man drei Wochen lang an ihm pumpen und erfuhr’s doch nie.

Da er mit dem Wappen jetzt im klaren war, fing er an und überlegte die Inschrift, die recht düster und schwermütig sein müsse. Jim müsse auch die haben, wie alle andern. Er hatte gleich eine Menge zur Auswahl fertig und schrieb sie auf ein Stück Papier. Dann las er uns vor:

  1. Hier barst ein gefangenes Herze
  2. Hier hauchte ein armer Gefangener, von Gott und den Menschen verlassen, sein trostloses Leben aus
  3. Hier brach ein einsames Herz, und ein müder, gequälter Geist ging zur ewigen Ruhe ein, nach siebenunddreißig langen Jahren martervollster Gefangenschaft
  4. Hier, heimat- und freundlos, nach siebenunddreißig bittren Jahren der Einkerkerung, hauchte ein edler Fremdling, natürlicher Sohn Ludwigs XIV., seinen großen Geist aus. Friede seiner Asche!

Toms Stimme zitterte und brach beinahe, als er las, so gerührt war er. Nachher konnte er sich für keine der vier Inschriften entscheiden, so lieb waren ihm alle, und gestattete schließlich, daß Jim alle vier an die Wand kritzle. Jim aber wehrte sich und sagte, er brauche ein Jahr, bis er all das Zeug hingekritzelt, und zudem könne er keinen Buchstaben machen; aber Tom versicherte, das wolle er ihm zeigen und alles erst für ihn hinmalen, dann habe er nur noch den Linien zu folgen.

Auf einmal sagt er: »Halt, was mir da einfällt! Wir haben ja hier Holzwände, und das ist ganz und gar nicht das Richtige. Fels muß es sein, richtiger, harter Fels, aus dem die Kerkermauern gemacht sind! Da müssen wir sehen, wie wir uns den verschaffen.«

Jim meinte, Fels sei noch schlimmer, da könne er vermodern, ehe er da alles hineinritze, da würde er nie frei; aber Tom sagte, ich dürfe ihm dabei helfen, und das tröstete Jim ein wenig. Dann sah Tom nach, wie weit wir mit unsern Federn seien. Das war eine ganz infam mühsame Arbeit, und meine armen Hände hatten wenig Aussicht, dabei die Blasen des Grabens loszuwerden, auch kamen wir gar nicht voran.

Sagt Tom: »Ich weiß, was wir tun! Wir müssen ja doch einen Felsen haben für das Wappen und die Trauer-Inschrift, und da können wir zwei Fliegen mit einer Klappe töten. Drunten bei der Mühle liegt ein prachtvoller alter Mühlstein, den schleppen wir her, und darauf machen wir Wappen und Inschrift und schleifen obendrein Federn und Säge!«

Das war mal eine grandiose Idee, der Mühlstein war aber auch grandios. Es war noch nicht Mitternacht, wir also hinaus zur Mühle, indes Jim bei der Arbeit blieb. Wir fanden den Mühlstein und brachten ihn auch ins Rollen, aber es war eine verteufelt schwierige Sache. Manchmal – wir mochten uns dagegenstemmen, soviel wir wollten – fiel der Stein zur Seite und hätte beinahe den einen oder andern zerquetscht; Tom meinte auch, das geschehe sicherlich noch, ehe wir an Ort und Stelle seien. Den halben Weg zur Hütte hatten wir den Kerl gelotst, dann waren unsre Kräfte ganz und gar zu Ende, und wir waren wie in Schweiß gebadet. Es half nichts, Jim mußte herbei und mit anpacken. Der hob also den Bettpfosten auf, machte die Kette los und wickelte sie dreifach um Hals und Leib; wir krochen also durch unser Loch und flink hinunter, und Jim und ich rollten den Stein spielend weiter, während Tom die Aufsicht führte. Darin war er stark, darin war er jedem Jungen überlegen. So was hab‘ ich nie wieder gesehen – er hatte eben Geschick zu allem!

Unser Loch war nun ziemlich groß, aber doch nicht groß genug, um den Stein durchzukriegen, aber Jim kam uns zu Hilfe, nahm Hacke und Schaufel, und bald war er samt dem Stein glücklich in der Hütte drin. Nun ritzte Tom mit einem Nagel ganz leicht die Buchstaben und das übrige auf den Stein, setzte dann Jim dran, mit dem Nagel als Meißel und einem Stück Eisen aus dem Schuppen als Hammer, und befahl ihm, an der Arbeit zu bleiben, solange sein Licht reiche, und erst dann zu Bett zu gehen, den Mühlstein aber unter seinem Strohsack zu verbergen und drauf zu schlafen. Dann halfen wir ihm die Kette wieder am Bettpfosten befestigen und wollten nun selbst schlafen gehen. Tom aber fiel noch etwas ein.

»Hast du Spinnen hier, Jim?«

»Nein, junge Herr, Jim danken dem Himmel, haben keine Spinnen nix!«

»Na, dann müssen wir dir welche verschaffen!«

»Aber, liebste Tom, Jim gar nix brauchen Spinnen, gar nix wollen haben Spinnen! Jim sich fürchten vor Spinnen, lieber noch wollen haben Klapperschlangen!«

Tom besann sich ein paar Minuten und sagte: »Das wär ’ne gute Idee, Jim, das war sicherlich auch schon da, es muß dagewesen sein. Das ist eine herrliche Idee! Jim, wo könntest du sie halten?«

»Halten was, Tom?«

»Ei, die Klapperschlangen!«

»Herr des Himmels! Wenn Klapperschlang kämen hier rein, Jim würden stoßen Loch in die Wand mit sein Kopf un springen durch, mit seine eigene, arme, alte Kopf zuerst. Oh, junge Herr Tom!«

»Was, Jim, du hast doch keine Angst davor, oder? Du könntest die Schlange ja zähmen!«

»Zähmen…?«

»Ja ganz leicht. Jedes Tier ist so dankbar, wenn man’s liebkost und freundlich mit ihm ist, und denkt nicht daran, jemanden zu verletzen, der gut mit ihm ist. Das kannst du in jedem Buch lesen! Probier’s doch einmal! Das ist alles, worum ich dich bitte, probier’s nur einmal zwei oder drei Tage lang. Ich bin überzeugt, du kriegst die Schlange noch so weit, daß sie dich wirklich lieb hat, und bei dir schlafen will, und dich keine Minute allein läßt, und es leidet, daß du sie dir um den Hals wickelst und ihren Kopf in deinen Mund nimmst.«

»Bitte, Massa Tom, nix das sagen, nix so sprechen. Jim nix wollen haben Kopf in Mund, Schlang können lang warten, bis Jim drum fragen! Un Jim auch nix wollen schlafen mit Schlang – nein, Jim gar nix wollen!«

»Jim, sei doch nicht so verrückt! Ein Gefangener muß ja irgendein zahmes Lieblingstier haben, und wenn sie’s bis jetzt noch nie mit einer Klapperschlange probiert haben, nun, dann ist’s um so mehr Ruhm und Ehre für dich, der erste zu sein, der das tut. Leichter wird es dir nie mehr im Leben gemacht werden, dir großen Nachruhm zu sichern!«

»Nein, nein, Massa Tom, Jim nix braueben solche Nachruhm! Schlang kommen un beißen Jim tot – nein, Jim nix brauchen Nachruhm!«

»Sei doch gescheit. Du sollst’s ja nur probieren, sag ich dir! Du kannst’s ja sein lassen, wenn’s wirklich nicht geht.«

»Oh, dann sein zu spät, wenn Schlang erst beißen arme Jim! Massa Tom, Jim wollen tun alles, was sein nix zu dumm und unvernünftig, aber wenn Massa Tom un Huck bringen Klapperschlang für Jim zu zähmen, Jim brennen durch, brennen gleich durch – sofort durch. Soviel sein sicher!«

»Na, dann laß es sein, wenn du so dickköpfig bist! Weißt du was, wir bringen dir ein paar Blindschleichen, und du bindest denen Knöpfe an den Schwanz, daß sie klappern, und tust, als wären’s Klapperschlangen – ja wahrhaftig, so machen wir’s!«

»Das können eher sein, Massa Tom, Jim nix haben Angst für Blindschleich, können aber gut sein ohne, das Jim sagen! Ach, was doch Gefangener für Geschäft un Plage machen; hätt’s nie gedacht.«

»Ja, das ist immer so, wenn’s die rechte Art haben soll. Ei, gibt’s hier Ratten?«

»Jim nie nix sehen keine!«

»Also, dafür müssen wir auch sorgen!«

»Ratten, Massa Tom? Jim nix brauchen Ratten! Sein ganz abscheulich verd… Kreaturen, stören Leut in Schlaf. Rennen un laufen un springen auf Bett un beißen in Nas un beißen in Fuß un können nie nix schlafen mit Ratt. Nein, Massa Tom, ihr geben Blindschleich, wenn Jim müssen haben etwas, aber nix geben Ratt. Jim nix können tun mit Ratt, nix brauchen Ratt, zu nix, nie!«

»Aber Jim, die Ratten mußt du wirklich haben, die sind immer dabei. Drum sträub dich lieber nicht. Gefangene sind nie ohne Ratten! Ich weiß gar kein Beispiel dafür. Man zähmt sie und liebkost sie und lehrt sie alle möglichen Kunststücke, und zuletzt werden sie so zutraulich wie Fliegen. Aber Musik mußt du ihnen machen! Hast du was, um Musik drauf zu machen?«

»Jim gar nix haben als alte Kamm un Stück Papier, un – ja, un kleine Mundharmonika! Ratt aber wohl nix lieben Harmonika, oder?«

»Ach gewiß, denen ist das Instrument ganz einerlei, wenn’s nur Musik ist. Eine Mundharmonika ist gut genug für die! Alle Tiere lieben Musik – und im Gefängnis schwärmen sie dafür. Besonders traurige Musik, und dazu ist die Mundharmonika grad recht. Das interessiert sie, und sie kommen zum Vorschein, um zu sehen, was los ist. Du setzt dich also abends vor dem Schlafengehen auf dein Bett, ebenso frühmorgens, und spielst auf deiner Harmonika. Spiel letzte Rose oder sonst etwas Trübseliges, und du wirst sehen, nach zwei Minuten kriechen die Ratten und die Schlangen und die Spinnen und sonst alles Getier heraus und kommen zu dir und sind zutraulich; wart, die tanzen nur so um dich herum!«

»Ja, die werden’s, das Jim glauben, Massa Tom, aber arme Jim! Der sich nix fühlen wohl. Können nix sehen Gutes drin, können nix sehen Nutzen! Jim aber wollen’s tun, natürlich, wenn’s müssen sein. Wollen machen Tierzeug zufrieden mit Musik, dann er nix haben Plag von Biester!«

Tom schien noch über etwas nachzusinnen, vielleicht fiel ihm noch ein Tier ein für Jims Menagerie. Bald aber sagt er: »Oh, da hab‘ ich noch was vergessen! Glaubst du, daß du hier eine Blume ziehen könntest, Jim?«

»Weiß nix, aber vielleicht. Dunkel sein’s freilich hier, un Jim auch nix brauchen Blum‘, sein viel Arbeit, un Jim nix von verstehen.«

»Na, probieren kannst du’s aber doch, andre Gefangene haben’s auch getan.«

»So ’ne alte, stachelige Distel oder gelbe Kuhblum‘ können wachsen hier, Massa Tom, aber die sein nix wert die Arbeit, wo sie machen!«

»Sag das nicht, Jim, sag das nicht. Wir holen dir eine kleine Kuhblume, und du pflanzt sie dort in die Ecke und ziehst sie groß, und du darfst auch nicht Kuhblume sagen, sondern Picciola, so heißen alle Blumen im Gefängnis, und du mußt sie mit deinen Tränen begießen.«

»Oh, Jim haben Wasser genug dort im Krug!«

»Wasser tut’s nicht, Tränen müssen’s sein, so machen’s alle Eingekerkerten!«

»Aber, Massa Tom, Jim können großziehen zwanzig Kuhblum mit Wasser, eh die ein auch nur wird angehen mit Tränen!«

»Darauf kommt’s gar nicht an, die Hauptsache sind die Tränen!«

»Dann Kuhblum welken gleich, Massa Tom, Jim nie nix weinen – beinah‘ nie nix!«

Das schlug denn Tom, aber er grübelte ein bißchen nach und sagte dann, Jim müsse eben sein Bestes tun und Zwiebeln zu Hilfe nehmen. Er versprach, einige bei den Niggern auszuführen und sie in Jims Kaffeetopf zu stecken. Jim meinte, er wolle dann gleich Tabak im Kaffee haben, und rebellierte dermaßen dagegen, wie auch gegen alles übrige: die Zucht der Kuhblume, das Musizieren für die Ratten, das Zähmen von Schlangen und Spinnen und besonders gegen die verrückte Plage, wie er sich ausdrückte, mit den Federn, Inschriften, Tagebüchern und so weiter, wovon er mehr Geschäft und Verantwortung als Gefangener habe, als je zuvor in seinem ganzen Leben, so daß Tom sehr ungeduldig und böse auf ihn wurde und sagte, er solle sich schämen, er habe doch gewiß allen Grund, dankbar zu sein; mehr Gelegenheit als er, sich einen berühmten Namen zu machen, habe noch gar kein Gefangener in der weiten Welt gehabt, und er wisse das nicht besser zu schätzen und zu würdigen, als wenn er ein unvernünftiges Tier wäre: es sei alles an ihm verschwendet. Und Jim ging in sich, sah’s ein, und es tat ihm leid, und er sagte, er wolle nie wieder so sein. Dann schlichen wir uns befriedigt zu Bett.

3. Kapitel

Eine ordentliche Strafpredigt – Die Gnade triumphiert – Die Räuber Die Geister – ›Eine von Toms Lügen!‹

3. Kapitel

Das setzte am andern Morgen eine ordentliche Strafpredigt für mich von Miss Watson über meine schmutzigen Kleider! Die Witwe aber, die zankte gar nicht, sondern putzte nur den Schmutz und Lehm weg und sah so traurig dabei aus, daß ich dachte, ich wolle eine Weile brav sein, wenn ich’s fertigbrächte. Dann nahm mich Miss Watson mit in ihr Zimmer und betete für mich, aber ich spürte nichts davon. Sie sagte mir, ich solle jeden Tag ordentlich beten, und um was ich bete, das bekäme ich. Das glaub ein anderer! Ich nicht. Ich hab’s probiert, aber was kam dabei heraus! Einmal kriegte ich wohl eine Angelrute, aber keine Haken dazu, und ich betete und betete drei- oder viermal, aber die Haken kamen nicht. Da bat ich Miss Watson, es für mich zu tun, die wurde aber böse und schimpfte mich einen Narren. Warum weiß ich nicht, sie sagte es mir nicht, und ich selbst konnt’s nicht herausfinden.

Ich hab‘ dann lange im Wald gesessen und darüber nachgedacht. Sag‘ ich zu mir selber: Wenn einer alles bekommen kann, um was er betet, warum bekommt dann der Nachbar Winn sein Geld nicht zurück, das er an seinen Schweinen verloren hat? Und die Witwe ihre silberne Schnupftabaksdose, die ihr gestohlen wurde? Und warum wird die dürre Miss Watson nicht dick? Nein, sag‘ ich zu mir, da ist nichts dran, das ist Dunst. Und ich ging zur Witwe und sagte ihr’s, und die belehrte mich, man könne nur um geistliche Gaben beten! Da das viel zu hoch für mich war, so suchte sie mir’s deutlich zu machen: Ich müsse brav und gut sein und den andern helfen, wo ich könne, und nicht an mich, sondern immer nur an die andern denken. Damit war auch Miss Watson gemeint, wie mir’s schien. Ich ging hinaus in den Wald und überlegte mir die Sache noch einmal. Aber, meiner Seel‘, dabei kommt nur was für die andern heraus und gar nichts für mich, und so ließ ich denn das Denken sein und quälte mich nicht länger damit. Zuweilen nahm mich die Witwe vor und erzählte mir von der gütigen, milden Vorsehung, die’s so gut mit dem Menschen meine und wie sie sich meiner in Gnaden erbarmen wolle, bis mir der Mund wässerte und die Augen naß wurden. Nachher kam wieder Miss Watson und ließ ihre Vorsehung donnern und blitzen, daß ich mich ordentlich duckte und den Kopf einzog. Es muß zwei Vorsehungen geben, dachte ich mir, und ein armer Kerl wie ich hat’s sicher bei der Witwe ihrer besser, denn bei Miss Watson’s ihrer ist er verloren. So dachte und dachte ich und nahm mir vor, zu der Witwe ihrer Vorsehung zu beten, wenn die sich überhaupt aus so einem armen, unwissenden und elenden Kerl, wie ich einer bin, etwas macht und sich nicht viel wohler befindet ohne mich.

Mein Alter war nun schon seit einem Jahre nicht mehr gesehen worden, was für mich nur eine Wohltat war; ich hatte wahrhaftig kein Heimweh nach ihm. Gewöhnlich walkte er mich durch, wenn er nüchtern war und mich erwischen konnte; ich versteckte mich deshalb meistens im Wald, sobald er wieder auftauchte. Eines Tages sagten die Leute, man habe meinen Vater im Flusse, etwas oberhalb der Stadt, ertrunken gefunden. Sie meinten wenigstens, er müsse es sein. Sie sagten, der Ertrunkene sei gerade so groß, so zerlumpt gewesen und habe so ungewöhnlich langes Haar gehabt, genau wie mein Alter, das Gesicht war nicht zu erkennen gewesen, es hatte zu lange im Wasser gelegen. Sie verscharrten ihn am Ufer, aber ich war nicht ruhig, glaubte nicht an den Tod des alten Mannes und dachte, der würde schon mal wieder irgendwo auftauchen, um mich zu quälen und zu hauen.

Wir spielten hie und da einmal Räuber, vielleicht einen Monat lang, und dann verzichtete ich auf das Vergnügen – die anderen auch. Wir hatten keinen einzigen Menschen beraubt, keinen getötet, sondern immer nur so getan. Wir sprangen aus dem Wald, und jagten Sautreibern nach oder hinter Frauen her, die Gemüse in Karren zum Markte führten, nahmen aber nie irgend etwas oder irgend jemand in unsre Höhle mit. Tom Sawyer nannte das Zeug, das auf den Karren lag, Goldbarren und Edelsteine und ’s waren doch nur Rüben und Kartoffeln, und wir gingen dann zur Höhle zurück und nahmen den Mund voll und prahlten, was wir alles getan hätten, wieviel Kostbarkeiten geraubt und Leute getötet und Kreuze in die Brust geritzt. Aber allmählich fing die Sache an langweilig zu werden.

Eines Tages sandte Tom einen Jungen mit einem brennenden Kienspan, einem Feuerbrand, wie er es nannte, durch die Straßen der Stadt, das war das Zeichen für die Bande, sich zu versammeln. Als wir alle beieinander waren, teilte er uns mit, er habe gehört, daß anderntags ein ganzer Haufen spanischer Kaufleute und reicher Ah-raber, wie er sagte, samt zweihundert Elefanten und sechshundert Kamelen und über tausend Saumtieren – was das für Tiere waren, wußte er selber nicht –, alle schwer mit Diamanten beladen im Höhlen-Grunde lagern wollten. Da nur eine kleine Bewachung von vielleicht vierhundert Soldaten dabei sei, sollten wir uns in Hinterhalt legen, die Mannschaft töten und die Diamanten rauben. Er gebot uns unsere Schwerter zu wetzen, die Flinten zu laden und uns bereitzuhalten. Er konnte niemals auch nur hinter einem alten Rübenkarren hersetzen, ohne daß die Schwerter und Flinten, die doch nur Holzlatten und Besenstiele waren, mit dabei sein mußten. Ich für meinen Teil glaubte nun nicht, daß wir es mit einem solchen Haufen Spanier und Ah-raber aufnehmen könnten, hatte aber große Lust, die Kamele und Elefanten zu sehen. Ich stellte mich also am Sonnabend zur bestimmten Stunde ein und legte mich mit in Hinterhalt. Tom kommandierte und wir brachen los, stürmten aus dem Wald und rannten den Hügel hinunter. Mit den Spaniern, den Ah-rabern, Kamelen, Elefanten aber war’s Essig. Nur eine Sonntags-Schulklasse hatte einen Ausflug gemacht und sich im Gras gelagert und noch dazu nichts als die allerkleinsten Mädchen. Wir jagten sie auf und rannten hinter den Kindern her, eroberten aber nur etwas Eingemachtes und ein paar Stückchen Kuchen, Ben griff nach einer Puppe und Joe nach einem Gesangbuch, aber als die Lehrerin kam, warfen wir die Sachen weg und rannten davon. Diamanten hatte ich ebensowenig gesehen und sagte das Tom auch. Es seien doch massenhaft dagewesen, erwiderte er, desgleichen Ah-raber und Kamele und alles. Warum haben wir’s dann aber nicht gesehen? fragte ich. Er sagte, wenn ich kein solcher Dummkopf wäre und ein Buch gelesen hätte, das Domkuischote oder ähnlich hieß, so wüßte ich warum, ohne ihn zu fragen. Er sagte, es sei alles nur Zauberei gewesen. Es wären Hunderte von Soldaten und Elefanten und Schätze dort gewesen, aber wir hätten mächtige Feinde, Zauberer, die uns zum Trotz alles in eine Kleinkinder-Sonntagsschule verwandelt hätten. Darauf meinte ich, das sei alles ganz schön, dann wollten wir einmal ordentlich gegen die Zauberer losgehen. Tom Sawyer sagte, ich sei ein Esel.

»So ein Zauberer«, sagte er, »würde ein ganzes Heer von Geistern zur Hilfe rufen, und die würden dich in Stücke hauen, ehe du Amen sagen könntest. Die sind so groß wie Bäume und so dick wie Kirchtürme.«

»Gut«, sagte ich, »laß uns doch ein paar Geister nehmen, die uns helfen, dann wollen wir die andern schon zwingen.«

»Wie willst du sie denn bekommen?«

»Das weiß ich nicht. Wie kriegen die sie denn?«

»Die? Oh, ganz einfach. Die reiben eine alte Blechlampe oder einen eisernen Ring, und dann kommen die Geister angesaust mit Donner und Blitz und Rauch, und was man ihnen befiehlt, das tun sie. Es ist ihnen eine Kleinigkeit, einen Kirchturm aus der Erde zu reißen und ihn dem nächsten besten um den Kopf zu hauen.«

»Wer befiehlt ihnen denn?«

»Nun, der Zauberer, der die Lampe oder den Ring reibt, und sie müssen tun, was er sagt. Wenn er ihnen sagt, sie sollen einen Palast bauen, vierzig Meilen lang und ganz aus Diamanten und ihn mit Brustzucker oder Hustenleder oder irgend etwas füllen und dann die Tochter vom Kaiser von China holen zum Heiraten und – Gott weiß was noch – sie müssen alles tun. Und wenn man den Palast woanders hingestellt haben will, müssen sie ihn rings im Lande herumschleppen, bis er an der rechten Stelle ist und …«

»Aber«, sag‘ ich, »warum sind sie denn solche Esel und behalten den Palast nicht für sich selber, anstatt damit herum zukutschieren für andre. Wegen mir könnte, wer wollte, eine alte Blechlampe oder einen eisernen Ring reiben, bis er schwarz würde, mir fiel’s gar nicht ein, deswegen zu ihm zu laufen und mir befehlen zu lassen.«

»Wie du jetzt wieder redest, Huck Finn, du müßtest eben kommen, wenn du ein Geist wärst und einer riebe den Ring, ob du wolltest oder nicht.«

»Was? Und dabei war‘ ich so groß wie ein Baum und so dick wie ein Turm? Gut, ich käme, aber der riefe mich nicht zum zweitenmal, das kannst du mir glauben.«

»Pah, mit dir ist nicht zu reden, Huck Finn, du weißt und verstehst nicht» – du bist der vollkommenste Hohlkopf!«

Zwei oder drei Tage lang überlegte ich mir nun die Sache, und dann beschloß ich zu probieren, ob wirklich etwas dran sei. Ich verschaffte mir eine alte Blechlampe und einen eisernen Ring, ging hinaus in den Wald und rieb und rieb bis ich schwitzte wie ein Dampfkessel – ich hätte so gerne einen Palast zum Verkaufen gehabt. Aber es war alles umsonst, es kam kein Donner und kein Blitz und kein Dampf und kein Rauch und am allerwenigsten ein Geist. Da begriff ich denn, daß all‘ der Unsinn wieder einmal eine von Toms Lügen gewesen war. Er glaubt vielleicht an die Ah-raber und die Elefanten, ich aber denke anders – es schmeckte alles zu sehr nach der Sonntagsschule.

30. Kapitel

Ratten – Lebhafte Bettgenossen – Die Strohpuppe

30. Kapitel

Am Morgen schlichen wir uns ins nächste Dorf und erhandelten eine große Rattenfalle, trugen sie in den Keller, öffneten das größte Rattenloch und hatten in vielleicht einer halben Stunde fünfzehn der fettesten, prächtigsten Ratten gefangen. Im Nu schleppten wir, der Sicherheit halber, die ganze Ladung in der Falle unter Tante Sallys Bett, was der unnahbarste und geheiligtste Ort im ganzen Hause war, dem sich so leicht keine der kleinen Rangen zu nahen wagte, und machten uns auf die Spinnenjagd. Während wir weg waren, muß das Unglück den kleinen Thomas Franklin Benjamin Jeffersohn Alexander Phelps in die Nähe des Rattenverstecks führen! Die Bescherung entdecken und die Falle öffnen, war bei ihm natürlich eins; und als wir zurückkamen, um unser mühsam erworbenes Eigentum an uns zu nehmen, stand Tante Sally auf dem Bett und schrie Mord und Totschlag, Diebe, Räuber, Feuer, und die Ratten führten den tollsten Kriegstanz vor ihr auf, tobten, pfiffen und rasten über Bett, Tische und Stühle, daß einem Hören und Sehen verging. Als sich die wilde Jagd durch die von uns offengelassene Tür etwas verzogen hatte, kriegte die arme abgehetzte Frau einen Rohrstock her und klopfte uns, ohne viel zu fragen, die Kleider am Leibe tüchtig aus, und wir brauchten dann zwei volle Stunden, um weitere fünfzehn oder sechzehn Ratten zu fangen, die den andern an Größe und Schönheit aber lange nicht gleichkamen. Es waren eben auserlesen schöne Exemplare, wie ich sie nie wieder gesehen habe.

Wir legten uns außerdem einen tüchtigen Vorrat von verschiedenen Spinnen, Käfern, Fröschen, Raupen und sonst noch allerlei an und hätten gerne noch ein Hornissen-Nest gehabt, aber daraus wurde nichts. Dann ging’s auf die Schlangenjagd, und wir hatten bald einige Dutzend Blindschleichen und Ringelnattern beisammen, die wir in einem zugebundenen Sack auf unser Zimmer legten. Mittlerweile war die Zeit zum Abendessen gekommen. Ein ordentliches Tagewerk lag hinter uns, und wir hatten riesigen Hunger. So hieben wir denn tüchtig ein, und als wir wieder auf unser Zimmer kamen, da – da war keine einzige Schlange mehr zu sehen, alle weg, wie weggeblasen. Wir hatten den Sack nicht fest genug zugebunden, und die Racker hatten sich durchgeringelt. Das focht uns aber nicht viel an, denn wir dachten, weit könnten sie doch nicht sein, und sie würden sich schon wieder einfangen lassen. Wahrhaftig, in der nächsten Zeit konnte man sich über Schlangenmangel im Hause nicht beklagen. Immer ab und zu fiel mal eine von irgendwo herunter und immer gerade in die Schüssel, vor der man eben saß, oder auf den Teller oder hinten auf den Nacken, wenn man den Kopf neigte, kurz, immer dahin, wo man sie am wenigsten brauchen konnte. Schön waren sie aber alle und fein gestreift, und mich hätte eine Million davon nicht geniert. Tante Sally aber dachte anders, die haßte alle ohn‘ Ansehen der Person und Familie, ob gestreift oder gefleckt: sie konnte sie nicht ausstehen. Und jedesmal, wenn ihr eine in den Weg kam, ob von oben oder von unten, ließ sie alles liegen und stehen und lief mit Windeseile davon, und ihr Geschrei konnte man in Jericho hören. Nicht einmal mit der Feuerzange getraute sie sich eine anzufassen. Und wenn sie sich nachts im Bett umdrehte und zufällig ein solch armes, unschuldiges Tierchen berührte, schlug sie ein Geheul an, als ob das Haus in Flammen stünde. Ich konnte die Frau gar nicht begreifen! Ihren alten Mann regte sie so auf mit der Sache, daß er einmal sagte, er wollte, unser Herrgott hätte die Schlangen zu erschaffen vergessen. Nachdem schon eine ganze Woche lang die letzte Schlange spurlos aus dem Haus verschwunden war, hatte Tante Sally die Angst vor ihnen noch nicht verloren, noch nicht halb verloren. Wenn sie so still dasaß und an nichts dachte, brauchte man sie nur mit einer Feder auf den Hals zu tippen, und sie fuhr erschrocken herum und beinahe aus ihrer Haut heraus. Es war zu komisch! Tom sagte aber, alle Frauen seien so; er sagte, die seien so erschaffen, aus irgendeiner besonderen Ursache, warum, wisse er. selber nicht, aber so sei’s.

Wir bekamen jedesmal eine Tracht ab, wenn ihr eine Schlange über den Weg kroch, und sie bedeutete uns, es würde noch was ganz anderes setzen, wenn wir das Haus wieder damit bevölkerten. Daß wir’s gewesen, ließ sie sich trotz allen Zuredens nicht nehmen, ja, sie. war eine kluge Frau, die Tante Sally! Die Prügel genierten mich weiter nicht, ich war Besseres dieser Art gewöhnt, aber die Mühe, die wir hatten, um zu einem neuen Vorrat von Schlangen zu kommen, war verdrießlich. Na, uns gelang es doch, wieder eine Partie zusammenzubringen, und wir schafften sie nebst allem andern in Jims Hütte. Die hätte noch einmal so groß sein dürfen, um alle die‘ Einwohner bequem zu fassen. Das war ein Gewimmel! Aber lustig war’s, wenn sie bei der Musik alle um Jim herumschwärmten und ihm zu Leibe rückten. Die Spinnen machten ihm besonders heiß, die konnte er nicht leiden und sie ihn auch nicht, und so lag er mit ihnen immer im Kampfe. Er sagte, wegen all der Ratten und Schlangen und dem Mühlstein habe er gar keinen Platz mehr im Bett. Schlafen könne er ohnehin nicht mehr, selbst wenn er Platz hätte, so lebhaft gehe es bei ihm zu, und das immerwährend, ohne alle Unterbrechung, denn das Viehzeug schlafe nie zu gleicher Zeit; wenn die einen schliefen, wachten die andern. Seien die Schlangen einmal ruhig, dann machten’s die Ratten um so toller, und Spinnen und Käfer und das andre Getier ließen ihn überhaupt nie in Ruhe; kurz, er meinte, wenn er diesmal freikäme, wirklich und wahrhaftig frei, dann wolle er nie, nie mehr in seinem Leben Gefangener sein, und wenn ers’s bezahlt bekäme – lieber gleich auf einmal sterben! Na, nach Verlauf von drei Wochen war dann alles in bester Ordnung. Das Hemd war ebenfalls in einer Pastete hineingeschmuggelt worden, und wenn nun des Nachts Jim von einer Ratte gebissen wurde, benutzte er die Blutstropfen, um geschwind etwas in sein Tagebuch zu kritzeln, solange die Tinte noch frisch war. Die Federn waren gemacht, die Inschriften und was dazugehörte waren auf den Mühlstein geritzt, der Bettpfosten war durchsägt und das Sägmehl von uns aufgeleckt worden, wogegen unser Magen erstaunlich rebellierte, so daß wir meinten, alle sterben zu müssen, aber es ging noch gnädig vorüber. Wahrhaftig, das war das unverdaulichste Sägmehl, was mir je vorgekommen, und Tom meinte das auch. Also, wie gesagt, endlich war alles fertig; die Arbeit und Plage hatten uns freilich ziemlich mitgenommen, namentlich Jim, aber das tat nichts, wir waren stolz darauf! Onkel Silas hatte ein paarmal nach New Orleans geschrieben wegen des durchgebrannten Niggers, aber natürlich keine Antwort erhalten. Nun sprach er davon, Jim in den Zeitungen von St. Louis und New Orleans auszuschreiben. Als er die von St. Louis nannte, lief mir ein kalter Schauder über den Leib, und selbst Tom gab zu, daß nun keine Zeit mehr zu verlieren sei. Jetzt müssen die onnaniemen Briefe dran, sagte er.

»Die was?« fragte ich.

»Die onnaniemen Briefe!« wiederholte er, »das sind Warnungen an die Leute, daß etwas los sei. Einmal wird’s so gemacht und einmal anders. Aber einer muß immer herumspionieren und den Befehlshaber des Schlosses von allem in Kenntnis setzen. Als Ludwig XIV. von den Twillerieen durchbrennen wollte, hat’s ein Dienstmädchen besorgt. So kann man’s auch machen, aber ein onnaniemer Brief ist ebensogut. Wir können ja beides benützen. Und gewöhnlich wechselt die Mutter des Gefangenen die Kleider mit ihm und bleibt im Kerker zurück, während er wegschleicht. Das müssen wir auch tun!«

»Aber, Tom, das ist doch Unsinn; wozu sollen wir die Leute warnen, daß etwas los ist? Das ist doch ihre Sache; sie sollen selber aufpassen!«

»Das ist freilich wahr, aber ich traue denen hier nicht, die sind zu dickfellig, haben uns ja von Anfang an alles allein tun lassen. Die sind so blind und vertrauensselig, daß man ihnen erst alles unter die Nase reiben muß. Wenn wir sie also nicht warnen, lassen sie uns ganz ruhig und still abziehen, und all unsre viele Last und Arbeit ist umsonst – rein umsonst. Jims Befreiung geht dann ohne Sang und Klang vor sich, wir könnten ihm einfach ebensogut die Tür aufschließen und ihn bei hellem Tage bitten, doch gefälligst herauszuspazieren. Kein Hahn krähte danach!«

»Na, mir wär’s schon lieber, wir kämen still durch, aber…«

»Natürlich!« wirft er verächtlich hin.

»Aber«, fahr‘ ich fort, ohne mich unterbrechen zu lassen, »ich will nichts gesagt haben; was dir recht ist, ist mir auch recht. Wie machen wir’s also mit dem Dienstmädchen, das uns verraten soll?«

»Das mußt du sein! Du schleichst dich in der Nacht hin und nimmst dir das Kleid von dem gelben, halbwüchsigen Ding in der Küche!«

»Na, aber Tom! Das wird einen ordentlichen Lärm am andern Morgen geben, denn die hat wahrscheinlich nicht mehr als eins!«

»Ich weiß, ich weiß. Aber du brauchst ja auch nicht länger als fünfzehn Minuten, um den onnaniemen Brief unter der großen Haustür durchzuschieben!« – »Gut, ich bin bereit, aber ich könnt’s gerad‘ so gut in meinen eignen Kleidern tun!«

»Würdest du dann vielleicht wie ein Dienstmädchen aussehen, Huck Finn, he?«

»Nein! Aber ’s ist ja auch keiner da, der mich sieht, dann ist’s doch gleich, ob ich so oder so aussehe.«

»Das hat gar nichts damit zu tun, Huck, gar nichts. Für uns handelt sich’s nur darum, unsere Schuldigkeit zu tun, ob’s einer sieht oder nicht. Hast du denn gar keine Moral in dir?«

»Schon gut, schon gut, ich sag‘ ja nichts weiter. Also, ich bin das Dienstmädchen – wer ist Jims Mutter?«

»Die will ich sein. Ich leih‘ mir eins von Tante Sallys Kleidern, das soll ’ne flotte Mutter werden!«

»Aber, dann mußt du ja in der Hütte bleiben, wenn Jim und ich durchgehen!«

»Lang aber nicht, das sag‘ ich dir. Ich stopfe Jims Kleider mit Stroh aus und leg‘ die Puppe aufs Bett, die mag dann die Mutter darstellen, und Jim zieht Tante Sallys Kleider von mir an, und wir entweichen alle zusammen. Wenn nämlich irgendein Gefangener von Rang und Stand durchbrennt, ein König zum Beispiel, so nennt man es eine Entweichung

Tom schrieb also den onnaniemen Brief, und ich krippste das Kleid von dem kleinen Küchenmädel in der folgenden Nacht, warf’s über und schob den Brief unter die Tür, ganz wie mich’s Tom geheißen hatte.

Im Brief stand:

»Hütet euch! Unheil naht! Seid auf der Wacht!
Ein unbekannter Freund.«

In der nächsten Nacht befestigten wir eine von Tom mit Blut verfertigte Zeichnung, die einen Totenschädel über gekreuzten Gebeinen darstellte, an der Haupttüre und in der darauffolgenden Nacht die eines Sarges an der Hintertür.

Nie sah ich eine Familie in solcher Aufregung. Sie hätten nicht mehr in Angst sein können, wenn das ganze Haus voller Geister gewesen wäre und hinter jedem Schrank, hinter jeder Tür ein Totengerippe geklappert und geisterhaftes Seufzen und Stöhnen beständig durch die Luft gezittert hätte. Wurde eine Tür irgendwo zugeschlagen, so fuhr Tante Sally mit einem Wehruf in die Höhe, fiel etwas zu Boden, sprang sie wie von einer Feder geschnellt auf und schrie: »Herrje!« Kam man ihr zufällig nahe, ohne daß sie’s merkte, geschah dasselbe. Nie konnte sie ruhig bleiben, immer fuhr der Kopf nach hinten, um zu sehen, ob da alles in Ordnung sei. So drehte sie sich beständig um sich selbst und stieß ihr »Herrje« heraus, und ehe sie halbwegs mit einer Drehung fertig war, so fuhr sie schon wie besessen nach der anderen Seite herum. Sie fürchtete sich, zu Bett zu gehen, und hatte Angst aufzubleiben. Unser Schreckschuß hatte also seine Wirkung getan, Tom meinte, er habe noch nie eine befriedigendere erzielt. Er sagte, man sähe daraus, wie richtig wir gehandelt hatten.

»Jetzt zur letzten Bombe!« rief er. Die Zeit zum Haupt- und Schlußakt sei gekommen! Vor Anbruch des nächsten Tages hatten wir also einen zweiten Brief fertig und überlegten, was wir damit beginnen sollten, denn wir hatten sie beim Abendessen sagen hören, daß diese Nacht ein Nigger die Türen bewachen müsse. Tom ließ sich dann am Blitzableiter hinunter und spähte umher, und da er den Nigger an der Hintertüre schlafend fand, steckte er ihm den Brief hinten in seinen Halskragen.

Der Brief lautete:

»Verratet mich nicht, ich möchte Euer Freund sein! Eine mordgierige Räuberbande drüben aus den Indianergebieten plant diese Nacht, Euren gefangenen Nigger zu befreien, und sie haben versucht, Euch einzuschüchtern, damit sich niemand aus dem Hause wagt und ihnen so freie Hand bleibt. Ich selbst gehöre der Bande an, mein edler Sinn aber erlaubt mir nicht, dieser Schandtat beizuwohnen, ohne wenigstens den Versuch einer Warnung zu wagen. Mein heißester Wunsch ist, die Räuber und Mörder zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. So verrat‘ ich denn den höllischen Plan! Sie werden von Norden her einbrechen und mit einem falschen Schlüssel die Tür der Hütte öffnen, um den Nigger zu befreien. Ich selbst bin als Wache ausgestellt und soll auf einem Horn blasen, sobald Gefahr im Anzug ist. Statt dessen werde ich wie ein Schaf blöken, sobald sie in die Hütte eindringen. Dann – während sie die Ketten lösen – könnt Ihr die Türe schließen und sie nach Belieben töten. Tut genau, wie ich Euch sage, sonst riechen sie Lunte, und alles ist Essig! Belohnung verlange ich keine; das Bewußtsein, meine Pflicht getan zu haben, genügt mir.

Ein unbekannter Freund.«

31. Kapitel

Das Floß – Sicherheitskomitee – Ein Dauerlauf – Jim rät zum Arzt

31. Kapitel

Eins hätt‘ ich fast vergessen zu erwähnen, nämlich daß wir bei all den Vorbereitungen nicht versäumt hatten, uns die Mittel zur Flucht auf dem Strom zu verschaffen. Nach und nach hatten wir angetriebenes Holz, Stämme aus der Sägmühle, Bretter, und was uns sonst in die Hände kam, gesammelt und damit allmählich ein ganz stattliches Floß gebaut. So fest und schön wie unser altes war’s freilich nicht geworden, konnte sich aber trotzdem sehen lassen, und wir dachten, es werde wohl einen Stoß vertragen können. Dieses Floß hatten wir an einer kleinen Insel im Fluß draußen im Binsendickicht in Sicherheit gebracht, und da lag’s zur Flucht bereit. Heute galt’s noch, letzte Hand anzulegen, und so ruderten wir auf Onkels Boot, das immer am Ufer lag, hinaus. Tante hatte uns ein Frühstück mitgegeben, und nachdem wir unser Werk vollendet, vertrieben wir uns die Zeit mit Fischen. Als wir spät am Abend nach Hause kamen, fanden wir alles in der größten Aufregung. Niemand schien mehr zu wissen, wo ihm der Kopf stand. Wir mußten denn auch sofort nach dem Essen hinauf in unser Zimmer und zu Bett, aber niemand sagte auch nur ein Wörtchen von dem neuen Brief oder von der Ursache des Wirrwarrs überhaupt. Es war auch nicht nötig, denn wir wußten alles so gut wie nur irgend jemand. Sobald wir die Treppe halb oben waren und niemand mehr um den Weg war, schlichen wir uns in den Keller zum Speiseschrank und packten uns gehörig Eßvorräte ein, die uns eine Woche reichen konnten, und dann ging’s hinauf und ins Bett. Wir schliefen bis halb zwölf Uhr und standen dann flink auf. Tom warf Tante Sallys Rock über und packte die Eßwaren zusammen. Auf einmal fuhr er mich scharf an: »Wo ist die Butter?«

»Na«, sagte ich, »ich hab‘ ein großes Stück abgeschnitten und auf ein Maisblatt gelegt.«

»Na, dann mußt du’s druntengelassen haben, hier ist’s nicht.«

»Dann tun wir’s eben ohne«, sag‘ ich.

»Nee, wir tun’s ganz schön mit und nicht ohne«, weist er mich zurecht; »du schleichst dich einfach noch einmal in den Keller und holst sie herauf, das ist schnell getan! Dann fährst du am Blitzableiter hinunter und kommst mir nach. Ich mach‘ mich jetzt gleich in die Hütte und stopfe Jims Kleider mit Stroh aus, das muß dann die Mutter vorstellen und sobald du da bist, blök‘ ich wie ein Schaf, und dann auf und davon, hast du nicht gesehen!«

Er also am Blitzableiter hinunter und ich zum Keller geschlichen. Richtig fand ich den Klumpen Butter, wo ich ihn gelassen, faßte ihn samt dem Blatt, auf dem er lag, blies mein Licht aus und schlich die Treppe leise wieder hinauf. Ich war glücklich über den Vorplatz gelangt, bis zur Treppe ins obere Stockwerk, wo ich in Sicherheit gewesen wäre, da muß der Kuckuck Tante Sally mit einer Kerze in der Hand herbeiführen. Ich nicht faul, werf die Butter in meine Mütze und stülp‘ sie auf den Kopf. Im nächsten Augenblick erblickte sie mich und stellt mich zur Rede.

»Du warst im Keller!«

»Ja-a!«

»Was hast du dort zu tun?«

»Nichts!«

»Nichts?«

»Nein!«

»Na, was in aller Welt treibt dich denn zur Nachtzeit, wenn alles schläft, da hinunter?«

»Ich weiß nicht!«

»Du weißt’s nicht! Jetzt verbitt ich mir diese Antworten, Tom, ich will wissen, was du drunten getan hast!«

»Ich hab‘ nichts, rein gar nichts getan, Tante Sally, gewiß und wahrhaftig – nichts!«

Unter anderen Umständen hätte sie mich darauf wohl laufen lassen, aber heut‘ ging alles so drunter und drüber, daß sie jedes bißchen reizte, was nicht ganz fadengrad war. Deshalb sagte sie sehr entschieden: »Da hinein mit dir ins Wohnzimmer, und daß du mir dort bleibst, bis ich komme. Du führst irgend etwas im Schild, was ich nicht wissen soll, aber ich schwör‘ dir, ich find’s heraus, ehe wir zwei uns gute Nacht sagen. Marsch!«

Sie schob mich zur Tür hinein und verschwand. Aber waren da viele Leute! An die fünfzehn Farmer aus der Umgegend und jeder mit einer Flinte bewaffnet. Mir wurde ordentlich schwach, und ich schlich mich zu einem Stuhl und setzte mich. Da saßen sie und standen sie im Zimmer herum, unterhielten sich mit leiser Stimme und sahen dabei ängstlich und unruhig aus; taten aber, als wäre nichts passiert. Aber ich merkt’s gleich, weil sie beständig ihre Hüte auf und ab nahmen, sich hinter den Ohren oder am Kopfe kratzten, immer die Sitze wechselten und mit ihren Knöpfen spielten. Mir war auch nicht wohl zumute, aber meine Mütze ließ ich trotzdem fest sitzen.

Ach, wie wünschte ich, die Tante käm‘ herbei und prügelte mich meinetwegen durch, ließe mich dann aber laufen, so daß ich Tom sagen könnte, in welch greuliches Wespennest wir gestochen und daß wir am besten täten, den Unsinn zu lassen und uns mit Jim schleunigst auf die Socken zu machen, bevor die bewaffnete Macht sich in Bewegung setzte. Ich saß wie auf Kohlen.

Endlich erschien Tante und begann ein Kreuzverhör mit mir anzustellen, ich aber konnte keine Frage beantworten, denn ich wußte kaum mehr, was ich sagte, da ich merkte, daß die Leute unruhig zu werden begannen und zum Aufbruch rüsteten. Ein Teil wallte sofort weg und den Räubern auflauern, da nur noch wenig bis Mitternacht fehle. Die andern mahnten zur Geduld und wollten auf das versprochene Signal warten. Und immer noch hackte Tante mit Fragen auf mich ein, und ich zitterte und bebte nur so an allen Gliedern und war dem Umsinken nahe vor Angst und Entsetzen, und das Zimmer wurde heißer und heißer, und die Butter auf meinem Kopf begann zu schmelzen und rieselte sanft an meinen Ohren und meinem Hals hinunter. Als bald darauf einer sagte: ›ich bin dafür, daß wir sofort direkt zur Hütte gehen und die Bande festnehmen, sobald sie kommt‹, fiel ich beinahe um. Ein kleiner Butterstrom beginnt jetzt leise an meiner Stirn niederzusickern, und wie Tante das sieht, wird sie so blaß wie ein Leintuch und schreit: »Herr, Gott des Himmels und der Erden, was fehlt dem Kind? Barmherziger Gott, er hat gewiß eine Gehirnerweichung, und sein armes Hirn fließt aus! Was fang ich an?«

Und alles rennt auf mich los und will sehen. Sie reißt mir den Hut vom Kopf und heraus fällt das Blatt mit dem Rest der Butter, worauf sie mich herzt und küßt und unter Tränen seufzt: »Ach, wie du mich erschreckt hast! Und wie dankbar und froh ich bin, daß es nichts andres ist; denn wir sind nun einmal im Unglück, und eins kommt selten allein! Als ich die Brühe sah, dacht‘ ich bestimmt, du seist verloren, denn in bezug auf Farbe und Durchsichtigkeit würde dein Gehirn gewiß gerade so aussehen, wenn… Gott, Gott, warum hast du mir’s nicht gleich gesagt, was hätte mir an der Butter gelegen! Jetzt mach‘ dich aber fort ins Bett und laß dich vor morgen früh nicht mehr blicken, merk dir’s, Bengel!«

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen! In einer Sekunde war ich oben, in der nächsten den Blitzableiter hinunter und rannte im Dunkeln dem Schuppen zu. Ich brachte vor Aufregung kaum ein Wort heraus; ich sagte Tom nur so geschwind wie möglich, wir müßten auf und davon, es sei keine Zeit übrig; das Haus sei voller Männer mit Flinten, mindestens fünfzehn!

Toms Augen strahlten förmlich, und entzückt ruft er aus: »Nein, wahrhaftig? Herr Gott, ist das ein Spaß! Ich glaub‘, wenn ich’s noch einmal zu tun hätte, Huck, brächt‘ ich hundert zur Stelle! Wollen wir’s aufschieben und…«

»Eil dich, eil dich«, unterbrech ich ihn, »wo ist Jim?«

»Dicht neben dir, du berührst ihn beinahe. Er ist angezogen, die Mutter ebenfalls, und alles ist bereit. Nun wollen wir uns leise hinausmachen und das Signal geben!«

Aber gerad‘ in diesem Augenblick kommt das Geräusch von vielen Fußtritten auf die Türe zu; man hört sie am Schloß hantieren, und eine Stimme spricht: »Ich sagt’s euch ja, daß wir zu früh dran sind. Sie sind noch gar nicht da, die Türe ist geschlossen. Ich mach‘ auf, da können ein paar von euch hineinkriechen und im Dunkeln auf die Kerle warten und sie dann niedermachen. Wir andern halten draußen Wacht und geben euch ein Zeichen, wenn sie nahen!«

Gesagt, getan! Und ehe wir uns noch besinnen konnten, waren sie schon in der Hütte, sahen uns aber glücklicherweise im Dunkeln nicht und stolperten beinahe über uns hinweg, während wir unters Bett und ins Loch krochen. Wir kamen gut durch; leise und schnell, Jim zuerst, dann ich, Tom zuletzt: So lautete die Order. Jetzt waren wir im Schuppen und hörten draußen ganz in der Nähe Fußtritte. Wir krochen leise der Türe zu, Tom gebot uns Halt und legte sein Auge an eine Spalte, konnte aber nichts entdecken, so dunkel war es, und flüsterte uns zu, er wolle horchen und warten, bis sich die Schritte da draußen entfernten, und wenn er uns stoße, solle zuerst Jim und dann ich ganz leise hinausschleichen und er komme hinterdrein. So legte er denn sein Ohr an die Spalte und horchte und horchte, und die Schritte tönten immer gleich nahe. Mit einemmal aber stößt er uns an, und wir öffnen leise die Tür, gleiten hindurch, bücken uns, wobei wir kaum zu atmen wagen, und schlüpfen ohne jedes Geräusch, einer hinter dem andern, dem Zaun zu, kommen dort sicher an, setzen drüber, das heißt Jim und ich, Tom aber bleibt mit den Hosen an einem Splitter hängen, und wie er sich losreißen will, kracht es, und Schritte nähern sich; er reißt sich nun mit Gewalt los und setzt hinter uns her, aber da hören wir auch schon: »Wer ist da? Steht, oder ich schieße!«

Wir aber standen nicht, sondern rannten drauflos wie toll. Dann kam ein sonderbares Geräusch und bum, bum, bum! sausten die Kugeln um unsere Köpfe. Noch hörten wir, wie sie riefen: »Da sind sie, da sind sie! Dem Strom zu! Ihnen nach, die Hunde los!«

Dann kam eine atemlose Pause, und dann setzte die ganze Bande hinter uns her. Wir hörten sie, weil sie dicke Stiefel trugen und gehörig kreischten, wir aber waren barfuß und gaben keinen Laut von uns. Wir befanden uns auf dem Pfad zur Mühle, und als uns die Verfolger nahe kamen, schlugen wir uns seitwärts in den Wald, und ließen sie vorüberrasen, um dann gemächlich hinter ihnen dreinzukommen. Die Hunde hatten sie schlauerweise alle eingesperrt, und bis sie einer losgelassen, verging ein gut Teil Zeit. Jetzt aber kamen sie einhergehetzt mit Gebell und Geheul, genug für dreitausend. Es waren aber gottlob unsre Hunde, und als sie herankamen und merkten, daß nur wir es waren und alles so still und friedlich bei uns zuging, da umschnoberten sie uns nur kurz und setzten dann mit erneuter Kraft hinter dem schreienden, stampfenden Haufen unserer Verfolger drein. Wir aber weiter, immer hinterher bis zur Mühle, und dann rechts hinunter dem Strom zu, da, wo wir des Onkels Boot am Abend befestigt hatten. Im Nu war es losgemacht und wir hineingesprungen. Dann ruderten wir bis zur Mitte des Stromes, als gelte es unser Leben, immer mit möglichst wenig Geräusch. Von da an hielten wir gemächlich auf die Insel zu, wo das Floß verborgen lag, und wir konnten unsere Verfolger fortwährend schreien und johlen und die Vierfüßler dazwischen bellen hören, am ganzen Ufer entlang, bis wir schließlich so weit weg waren, daß die Töne in der Entfernung erstarben.

Da waren wir auch schon am Floß angelangt, und ich sage: »Jim, jetzt bist du wieder ein freier Mann, und ich wette, von nun an für immer und immer!«

»Un schön seins gewesen, un schön seins gegangen, Huck! Alte Jim nie nix haben gesehen so schöne, gute Plan für zu machen frei arme Nigger! Sein gewesen beste Plan, den man können erfinden. So viel Arbeit und so schwer und so lang Zeit un so durchnander! Sein aber auch gewesen Massa Tom, gute Massa Tom seine Plan!«

Wir waren alle so froh und vergnügt, wie wir nur sein konnten, und Tom war der Glückseligste von uns, denn er hatte eine Kugel, eine wirkliche und wahrhaftige Kugel in den Schenkel gekriegt.

Als Jim und ich das hörten, fühlten wir uns nicht mehr halb so wohl wie vorher. Es tat ihm ziemlich weh und blutete, und wir legten, ihn unter das kleine Bretterhäuschen, das wir zum Schutt gegen Regen errichtet hatten. Ich riß mein Hemd herunter, teilte es in Streifen und schickte mich an, die Wunde zu verbinden.

Er aber stößt mich weg und sagt: »Nein, gib mir die Lumpen, ich besorg‘ das selbst. Steht doch nicht so herum. Die Ruder her und abgestoßen! – Aber gelt, das haben wir fein gemacht, Jungens, fein, kolossal fein, sag‘ ich euch! Na, ich wollt nur, wir hätten die Flucht von Ludwig XVI. zu beaufsichtigen gehabt; alles war‘ anders gekommen und kein Kopfabhauen und keine Guillotine und nichts dergleichen hätt’s gegeben! Nein, nichts davon! Den hätten wir flott beiseite geschafft, elegant, sag‘ ich euch! Aber nun alle Mann an Bord, vorwärts! Los!«

Jim und ich aber berieten uns und überlegten, was wir zu tun hätten, und nach ein paar Minuten sag‘ ich: »Jim«, sag‘ ich, »sprich du!«

Und Jim sagt: »Du, Huck, alte Jim nur eins wollen sagen. Wenn junge Mr. Tom wären worden gerettet und befreit vom Jim un Huck, un Jim hätten gekriegt Kugel in Bein, Tom Sawyer hätten nie gesagt: Kugel nix machen für alte Jim sein Bein – nur vorwärts, weiter, Jim nix brauchen Doktor, Tom wollen erst sein frei. Nein, junge Mr. Tom nie nix würde sagen so! Un alte Jim auch wissen, was er haben zu tun. Alte Jim nix gehen von die Fleck, eh‘ Doktor sein da, zu sehen nach Kugel, alte Jim nie nix gehen eine Schritt weiter, und wenn er müssen warten vierzig Jahr!«

Ich wußt’s ja, inwendig war Jim ein Weißer, so weiß wie irgendeiner, wenn auch von außen nichts davon zu sehen war. Ich wußt’s, daß er so sprechen würde, und nun war alles gut und mir selbst eine Last vom Herzen genommen. Wir teilten nun Tom unsern Entschluß mit, der natürlich nichts davon wissen wollte und schalt und tobte und schließlich selbst probierte, herauszukriechen aus dem Bretterverschlag und das Floß flott zu machen, was wir ihn aber nicht tun ließen. Als er sah, daß wir fest blieben und daß ich das Boot zur Fahrt ins Städtchen fertig machte, meinte er: »Na, wenn ihr denn durchaus so dickköpfig sein wollt, so ist’s am Ende besser, ich sag‘ dir, Huck, was du tun mußt, wenn du zum Doktor kommst. Du verriegelst die Tür hinter dir, fesselst den Mann und verbindest ihm gut die Augen. Dann läßt du ihn schwören, daß er stumm sein will wie das Grab, steckst ihm einen Beutel mit Geld in die Hand und führst ihn dann durch lauter Hintertüren und Seitenwege, immer im Dunkeln, bis zum Boot, ruderst die kreuz und quer um alle Inseln herum, um ihn irre zu führen, durchsuchst ihm dann die Taschen nach Kreide, nimmst ihm die weg und gibst sie ihm erst wieder, wenn du mit ihm ins Städtchen zurückkommst, denn sonst macht er sich mit der Kreide ein Zeichen an unser Floß, um’s später wiederzufinden. – Das tun sie nämlich alle.«

Ich versprach’s, genauso zu machen, und Jim wollte sich im Wald verstecken, wenn er mich mit dem Doktor kommen sehe, und warten bis er wieder weg wäre, und so stieß ich denn ab und ruderte flink dem Städtchen zu.

24. Kapitel

Ein Nigger-Dieb – Südliche Gastfreundschaft – »Er unverschämter junger Flegel!« – Ein dauerhaftes Gebet

24. Kapitel

Ich also auf und mit dem Wagen der Stadt zugerast. Wie ich halbwegs dort bin, sehe ich ein andres Gefährt von der Stadt her auf mich zukommen, und wer sitzt drin, Tom Sawyer, der alte Tom, wie er leibt und lebt, und da halt‘ ich meinen Wagen an und warte, bis er dicht bei mir ist. Dann schrei ich: »Halt!«, und er hält, und wie er mich sieht, klappt sein Mund auf wie ein Scheunentor, bleibt auch so stehen, und er schluckt zwei- oder dreimal, als habe er einen ziemlich trockenen Hals gekriegt, und beginnt dann zu flehen: »Ich hab‘ dir ja nie was zuleid getan, Huck Finn, und das weißt du auch. Und ich war immer dein guter Kamerad, all mein Lebtag, und du, du kommst und spukst hier oben ‚rum ohne alle Ursache und willst mir Angst mach eh – mir, deinem alten Tom?«

Sag‘ ich: »Alter Narr! Wie kann ich spuken, wenn ich doch nie weggewesen bin vom Sonnenlicht?«

Meine Stimme schien ihn etwas zu beruhigen, aber ganz beruhigt war er noch nicht.

»Mach mir keinen Unsinn vor, Huck, gewiß und wahrhaftig, ich tät’s auch nicht an deiner Stelle. Also, Hand aufs Herz, du bist wirklich nicht dein Geist?«

»Hand aufs Herz, der bin ich nicht!«

»Na, ich – ich – ich sollte dir jetzt freilich glauben, aber siehst du, ich – ich kann’s nicht begreifen. Bist du denn damals überhaupt gar nicht ermordet worden?«

»Nee, das ist mir, Gott sei Dank, noch nie passiert! Tom, Dummerjan, merkst du’s denn nicht? Ich hab‘ ja nur so getan, um den Alten und alle loszuwerden. Na, glaubst du’s noch nicht? Steig mal ‚rüber zu mir und visitier mich, da wirst du schon fühlen, daß ich Fleisch und Knochen habe!«

Das tat er dann und gab sich danach zufrieden. Er schien furchtbar froh zu sein, daß er mich wiedersah, und wußte gar nicht, wie er es mir genug zeigen könnte. Dann wollte er genau den ganzen Hergang wissen. Es war ein geheimnisvolles Abenteuer, so recht nach seinem Geschmack. Ich aber vertröstete ihn auf später, nahm ihn erst einige Schritte weit beiseite, daß uns sein Kutscher nicht hören konnte, erzählte ihm von der Klemme, in der ich mich befand, und bat ihn, sich zu überlegen, wie wir uns heraushelfen könnten. Er sagte, ich solle mal ein bißchen still sein und ihn nachdenken lassen; er dachte und dachte und dann meinte er: »Jetzt hab‘ ich’s! Ich hab’s! So muß es gehen! Du nimmst meinen Koffer auf deinen Wagen und sagst, es sei deiner, und dann fährst du recht langsam zurück, so daß du nicht früher ankommst, als sie dich erwarten können. Ich fahr‘ wieder ein Stück zurück und komm‘ dann erst wieder, so etwa eine halbe Stunde nach dir, und das Weitere wirst du schon sehen, du brauchst zuerst gar nicht zu tun, als ob du mich kenntest.«

Sag‘ ich: »Ganz recht! Aber wart einmal, da ist noch etwas zu bedenken – etwas, das kein Mensch weiß, außer mir. Da ist nämlich noch ein Nigger gefangen dort bei deinen Verwandten, den ich gerne befreien möchte – es ist Jim, Miss Watsons Jim, weißt du?«

»Was? Jim ist ja …«

Er hält ein und sinnt nach, ich aber sage schnell: »Ich weiß, was du denkst, Tom! Du denkst, das sei ein recht gemeiner, elender Plan, und das ist’s auch! Aber was liegt mir dran? Ich bin auch gemein und elend, und ich will ihn freimachen und ihm helfen, und du darfst mich nicht verraten, gelt, das versprichst du mir, Tom?«

Seine Augen blitzten auf: »Ich – dich verraten? Helfen will ich dir!«

Mir fielen die Arme am Leib nieder, als hätte ich einen Schuß bekommen. Das war das Erstaunlichste, was ich je in meinem Leben gehört hatte, und, so leid es mir tut, ich muß sagen, Tom Sawyer sank dadurch ziemlich in meiner Achtung. Ich traute meinen Ohren kaum: Tom Sawyer, der Sohn ehrbarer Leute, ein Nigger-Dieb. Das war mehr, als ich fassen konnte!

»Unsinn«, ruf ich, »du willst mir was weismachen!«

»Nein, ganz im vollen Ernst, Huck, ich mach‘ dir nichts vor!«

»Na, gut«, sag‘ ich, »vormachen oder nicht vormachen, auf jeden Fall vergiß nicht, wenn du dort von einem durchgebrannten Nigger hören solltest, daß wir beide, weder du noch ich, etwas davon wissen!«

Das war denn abgemacht, und nun nahmen wir den Koffer und stellten ihn in meinen Wagen. Er fuhr seinen, ich meinen Weg, und sooft ich mich umdrehte, sah ich Toms verwundertes, noch halb und halb ungläubiges Gesicht mir nachstarren. Natürlich vergaß ich darüber ganz, daß ich langsam fahren sollte, um nicht zu früh wieder einzutreffen, fuhr in Gedanken immer drauflos und kam selbstverständlich etwa in der Hälfte der Zeit zurück, die ich für die Länge des Weges hätte brauchen müssen.

Der alte Mann stand am Tor und rief mir entgegen: »Nein, das ist wunderbar! Wer hätte je gedacht, daß die alte Mähre das leisten könnte. Die hab‘ ich tüchtig unterschätzt. Die geb‘ ich nun nicht für hundert Dollar her. Vorher hab‘ ich fünfzehn verlangt und gedacht, damit sei sie bis in die alte Haut hinein bezahlt. Sieh, sieh, wer hätte das gedacht. Und dabei ist ihr kein Haar naß geworden – nein, es ist wunderbar!«

Dabei half er mir kopfschüttelnd beim Ausschirren; es war die beste und argloseste Seele von der Welt! Das wunderte mich aber gar nicht, denn er war nicht nur Farmer, sondern auch Prediger. Er hatte seine kleine hölzerne Kirche, die zugleich Schulhaus war und an der Grenze der Plantage lag, selber und auf eigene Kosten errichtet; und auch für seine Predigten rechnete er nichts an. Da drunten im Süden gibt’s viele Prediger-Farmer oder Farmer-Prediger dieser Art.

Nach ungefähr einer Stunde kam Toms Wagen in Sicht. Tante Sally entdeckte ihn zuerst vom Fenster aus, als er noch etwa fünfzig Meter weit entfernt war.

»Ach, da kommt ja jemand! Wer das wohl sein mag? Ach herrje, das ist ein Fremder! Jimmy (das war eins von den Kindern), lauf mal schnell und sag der Liese, daß sie noch einen Teller mehr auf den Tisch stellt!«

Alles stürzte nun der Türe zu, denn ein Fremder zeigt sich hier nicht alle Jahre, und wenn mal einer kommt, interessiert man sich für ihn sogar noch mehr als für das gelbe Fieber! Tom war inzwischen vom Wagen gesprungen und befand sich schon auf halbem Weg zur Türe, während der Wagen wieder der Stadt entgegenrasselte. Wir drückten uns in der Türöffnung zusammen wie eine Herde Schafe, und eins suchte immer das andere zu verdrängen. Tom hatte seine besten Kleider an und ein Auditorium vor sich, und da fühlte er sich allemal ganz mächtig. Auch jetzt trug er sich mit der ganzen großen Würde, über die er verfügte. Er schlich sich nicht linkisch und verschämt heran, nein, stolz und aufrecht schritt er einher, wie ein Kalkutta-Hahn. Bei uns angelangt, lüftet er anmutig seinen Hut, als wäre es der Deckel einer Schachtel, in der ein seltener Schmetterling sitzt, und fragt: »Herrn Archibald Nichols habe ich wohl die Ehre vor mir zu sehen?«

»Nein, mein Junge«, erwiderte der alte Herr, »der bin ich nicht, das tut mir leid. Der Kutscher muß sich wohl geirrt haben. Nichols‘ Farm ist noch etwa drei Meilen weiter. Aber nur herein, nur herein!«

Tom blickte über die Schulter zurück dem Wagen nach, der eben dem Auge entschwand, und sagt: »Das ist zu spät – den hol‘ ich nicht mehr ein!«

»Ja, der ist fort, mein Sohn, und du mußt nun eben mit uns vorliebnehmen. Nach dem Essen spann‘ ich dann an, und fahr‘ dich zu Nichols hinüber.«

»Ach, das kann ich aber doch kaum annehmen, mein Herr, ich kann Ihnen unmöglich diese Mühe machen. Könnte ich denn nicht gehen? Ich bin gut zu Fuß, und drei Meilen sind keine so große Entfernung!«

»Wir lassen dich nicht gehen! Das wäre mir eine schöne Gastfreundschaft. Wir im Süden halten da was drauf! Nur immer herein!«

»Oh, bitte«, sagte nun auch Tante Sally, »es ist uns gar keine Mühe, nur Freude. Du mußt bleiben! Wir können dich den langen, staubigen Weg nicht machen lassen. Als ich den Wagen kommen sah, habe ich gleich in der Küche gesagt, daß man einen Teller mehr hinstellt, es ist also alles in Ordnung. Bitte also hereinzukommen und sich’s bequem zu machen!«

Tom ließ sich erbitten, dankte den guten Leuten sehr höflich und schön und trat ein. Als er im Zimmer war, sagte er mit einer Verbeugung, er komme von Hicksville in Ohio, sein Name sei William Thomson, zum Schluß dienerte er nochmals.

Man setzte sich zusammen, und er erzählte über Hicksville, über die Leute dort, über sich, seine Reise; der Mund stand ihm keinen Augenblick still, und der Stoff schien ihm nur so zuzuströmen. Denk‘ ich bei mir, das ist alles recht und gut und schön, wie es mir aber aus der Patsche helfen soll, begreif ich doch nicht recht. Da plötzlich, mitten im Reden, beugt er sich vor und küßt Tante Sally, neben der er saß, herzhaft, so recht saftig auf den Mund, lehnt sich dann behaglich in seinen Stuhl zurück, als ob nichts geschehen sei, und schwatzt weiter. Entrüstet springt die gute Frau auf, wischt sich mit dem Rücken der Hand ein paarmal kräftig über den Mund und fährt Tom an: »Er unverschämter, junger Flegel!«

Der sieht beleidigt aus und sagt nur: »Ich bin wahrhaftig ganz erstaunt, liebe Frau!«

»Du? Erstaunt? Da hört denn doch alles auf! Ei, was soll man dazu sagen? Ich hätte gute Lust, einen Stock zu nehmen und doch, wie kommst du dazu, mich zu küssen? Heraus damit, ich will’s wissen! Was hast du dir dabei gedacht?«

Ganz demütig erwiderte er: »Gedacht? Gar nichts! Ich dachte nichts Schlimmes, ich, ich dachte, es wäre Ihnen angenehm!«

»Na – jetzt aber, verrückter Bursche, wart!« Sie griff nach einem Spazierstock ihres Mannes, und es sah beinahe so aus, als wolle der Stock durchaus auf Toms Rücken tanzen und sie könne ihn nur mit Mühe zurückhalten. »Was hat dich denn auf den tollen Gedanken gebracht, es könne mir angenehm sein?«

»Ich – ich weiß nicht. Man hatte mir so gesagt!«

»Man hatte dir so gesagt? Wer dir das gesagt hat, ist auch ein Narr wie du, ein Tollhäusler, ein, ein – wer ist denn dieser man?«

»Ach, jedermann! Alle haben das gesagt!«

Sie konnte kaum mehr an sich halten, ihre Augen sprühten Funken, und ihre Finger krümmten sich, als wolle sie ihm die Augen auskratzen. Ganz heiser stößt sie heraus: »Wer sind alle? Heraus mit den Namen, oder ich werde noch verrückt!«

Tom sprang auf und schien sehr bekümmert. Halb weinend stottert er: »Das tut mir leid, aber das hätt‘ ich nicht erwartet! Sie haben mir’s aufgetragen, alle! Alle sagten: Gib ihr einen herzhaften Kuß, das wird sie freuen, wird ihr angenehm sein. Alle sagten das jeder einzelne! Aber jetzt tut mir’s leid, gute Frau, daß ich’s getan, gewiß und wahrhaftig, und ich will’s nie, nie wieder tun!«

»Nie wieder tun? Nun, das will ich doch meinen!«

»Nein, gewiß und wahrhaftig, nie wieder, bis ich drum gebeten werde! Bis Ihr mich drum bittet!«

»Bis ich dich drum bitte? Hat man je so etwas gehört? Junger Mensch, ich sag‘ dir, du kannst so alt werden wie ein Methusalem, ehe ich dich oder deinesgleichen um so etwas bitte!«

Tom schüttelt zweifelnd den Kopf und sagt vor sich hin: »Mich wundert’s, wundert’s grenzenlos, ich kann gar nicht klug daraus werden! Sie haben mir’s doch alle gesagt, und ich hab’s auch selbst gedacht! Aber –«, er hielt ein und sah sich langsam rings nach allen Gesichtern um, als wolle er irgendwo eine Zustimmung entdecken. Am Auge des alten Mannes blieb sein Blick hängen, und er fragte nun ihn: »Haben auch Sie nicht gedacht, es wäre ihr lieb, wenn ich sie küßte?«

»Ich – ich? Nein, der Gedanke ist mir wirklich nicht gekommen!«

Tom forscht nun weiter in den Gesichtern, und bei mir angelangt, fragt er: »Und du, Tom, hast du nicht auch geglaubt, Tante Sally werde die Arme öffnen und rufen: ›Sid Sawyer‹!«

»Herr des Himmels!« schreit diese und fährt auf ihn zu, »du Taugenichts, du Schlingel du! So seine arme, alte Tante anzuführen, wart!«

Sie will ihn an sich ziehen, er aber wehrt sie ab: »Nicht, erst wenn du mich drum bittest, Tante Sally«, neckte er.

Und sie verliert keine Zeit und bittet und umarmt und küßt ihn wieder und wieder, und dann liefert sie ihn dem alten Manne aus, und der nimmt auch sein Teil. Dann, als die guten Leutchen wieder ruhig geworden, sagte sie: »Ei, du lieber Himmel, nein, diese Überraschung! Wir haben nur Tom erwartet! Tante Polly schrieb nie von dir, Sid, nur immer von Tom. Wie kam denn nur alles so?«

»Ja, es war auch immer nur von Tom die Rede. Da habe ich aber gebettelt und gefleht bis zur letzten Minute, ich wolle mit, und endlich bekam ich’s auch erlaubt. Auf dem Boot nun haben wir ausgemacht – Tom und ich –, es würde ein Kapitalspaß sein, wenn er erst allein käme und ich hintennach als Fremder ins Haus fiele und euch überraschte. Darin haben wir uns aber verrechnet, Tantchen; denn für Fremde ist der Ort nicht geschaffen.«

»Nein, nicht für unverschämte Flegel, Sid. Ich sollte dir jetzt noch die Ohren zausen! So geärgert habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht wie vorhin! Aber was liegt daran! Ich will mich gerne ärgern, wenn ich nur euch beiden Bengels bei mir habe, dafür kann ich tausend solcher Scherze vertragen. Na, es war ja die reine Komödie! Ich muß sagen, ich war wie versteinert, als ich den Schmatz abkriegte!«

Die Mahlzeit wurde draußen im breiten offenen Gang zwischen dem Haus und der Küche aufgetragen, und es stand so viel auf dem Tisch, daß es für sieben Familien gereicht hätte; und alles schön heiß, kein solch elendes Zeug von Fleisch, das zuerst drei Tage im dumpfen Keller gelegen hat und dann wie der Schenkel eines alten gerösteten Kannibalen schmeckt. Onkel Silas sprach ein kräftiges Gebet darüber; das Essen war’s auch wahrhaftig wert, es wurde nicht einmal kalt davon, wie ich’s schon so manchmal bei dieser Art von Aufenthalt erlebt habe.

Nach dem Essen wurde immerzu geschwatzt und erzählt, und Tom und ich waren immer auf der Hut, um uns nicht zu verplappern. Von einem durchgebrannten Nigger aber war nie die Rede, soviel wir auch aufpaßten, und wir selbst scheuten uns, davon zu beginnen.

Tom und ich brannten vor Begierde, nun einmal ein paar Stunden ungestört plaudern zu können. Wir sagten daher, wir seien müde, was uns die guten Leute gerne glaubten und uns mit dem herzlichsten Gute Nacht entließen. In Wahrheit aber sehnten wir uns danach, einmal ungestört zusammen reden zu können über unsre gegenseitigen Erlebnisse, von meiner Ermordung von damals an bis jetzt, und dann auch, um uns unsern Plan, Jims wegen, zurechtzulegen.

25. Kapitel

Die einzelstehende Hütte – Schändlich! –Der Blitzableiter als Beförderungsmittel – Eine ganz einfache Sache – Wieder die Hexen und Geister

25. Kapitel

Oben in unserem Zimmer angelangt, setzten wir uns auf die Betten, baumelten uns was mit den Beinen vor und erzählten uns unsere Erlebnisse von der Zeit meiner Ermordung an bis heute. Dann, als alles und jedes durchgenommen war und wir nichts mehr zu erzählen wußten, beschäftigten wir uns in Gedanken mit Jim.

Mit einemmal sagt Tom: »Huck, sind wir aber Narren, daß wir nicht früher daran dachten. Ich wett‘ meinen Kopf, ich weiß, wo Jim steckt!«

»Nein, wirklich?«

»Ei, doch natürlich in jener einzelnstehenden Hütte da drüben am Zaun, das ist doch klar! Erinnerst du dich nicht, daß ein Nigger etwas in einer Schüssel hineintrug, als wir beim Essen saßen? Was hast du dir dabei gedacht?«

»Ich, oh, weiter nichts, ich meinte, es sei für einen Hund!«

»Na, eben! So ging mir’s auch. Aber das war doch für keinen Hund!«

»Warum?«

»Weil ein Stück Melone dabei lag, die frißt doch kein Hundevieh. Na, siehst du?«

»Wahrhaftig, daran hab‘ ich gar nicht gedacht. Ja, es lag eine Melone dabei, das sah ich auch. Wie doch ein Mensch etwas sehen und doch wieder nicht sehen kann! So ein Maulwurf zu sein!«

»Und der Nigger, Huck, der schloß die Tür auffallend sorgfältig hinter sich zu, als er wieder herauskam, und lieferte Onkel nach Tisch einen Schlüssel ab, ganz gewiß den Hüttenschlüssel, Huck. Melone beweist Mensch, Schlüssel beweist Gefangenen, und zwei solche Vögel wird’s wohl kaum auf der kleinen Farm geben, wo alle Menschen so gutherzig sind, daß sie kein Wässerchen trüben können. Folglich ist also Jim jener Gefangene, das hätten wir heraus, Huck, wie der schlaueste Detektiv. Jetzt streng dich an und mach dir einen Plan, wie wir Jim befreien wollen, ich mach‘ auch einen, und dann nehmen wir den, der uns am besten gefällt.«

Großer Gott, was hatte der Junge für einen Kopf auf seinen Schultern! Wenn ich den hätte, ich gäbe ihn nicht her, und wenn ich dafür Herzog oder Steuermann oder Clown in einem Zirkus oder sonst was Großes werden sollte! Ich machte mich also dran, einen Plan auszuhecken, oder tat doch wenigstens so, nur um etwas zu tun, ich wußte ja doch, wer den besten liefern würde. Richtig fängt auch Tom bald drauf an: »Fertig?«

»Ja«, sag‘ ich.

»Gut, also los!«

»Na, ich würd‘ erst mal sehen, ob’s wirklich Jim ist, dann würd‘ ich irgendwo ein Floß zu kriegen oder zu machen suchen, in der ersten dunklen Nacht dem alten Onkel den Schlüssel aus den Hosen wegstibitzen, wenn er sich gelegt hat, Jim die Tür aufschließen, zum Fluß hinunterrennen aufs Floß, nachts fahren, tags schlafen, gerad‘ wie wir’s vorher auch getan haben. Das war‘ doch gewiß ein Plan, der sich ausführen ließe, nicht?«

»Ausführen?« dehnte Tom verächtlich, »ausführen, ja, so einfach und simpel, wie wenn man ein Butterbrot schluckt. Herr, du mein Himmel, hast du denn gar kein bißchen Phantasie, Huck? Das wäre ja so leicht wie Amen sagen oder Wasser trinken. Da krähte kein Hahn danach – nein, das muß anders gemacht werden!«

Ich sagte kein Wort, hatt’s ja vorher gewußt, daß es mir mit meinem Plan so gehen würde. Daß sein Plan, wenn er erst ans Licht käme, nicht so stümperhaft wäre, das war mir klar.

So war’s auch. Tom rückte damit heraus, und ich sah im Augenblick ein, daß sein Plan zehnmal mehr wert war als meiner. Er machte Jim ebenso zum freien Mann wie der meine und hatte außerdem das Gute für sich, daß wir beide dabei Gefahr liefen, samt Jim das Lebenslicht ausgeblasen zu kriegen. Ich war’s zufrieden und sagte nur: immer rein ins Vergnügen! Wie der Plan eigentlich war, will ich lieber gar nicht erzählen, denn ich wußte vorher, daß jede Stunde neue Änderungen bringen würde, und so war’s auch. Wo Tom konnte, brachte er mit Wonne noch neue Schwierigkeiten an, zur weiteren Ausschmückung.

Eins aber stand jetzt bombenfest, nämlich, daß Tom Sawyer, Tante Pollys und Tante Sallys Tom Sawyer, der immer in einem Hause wohnte, in einem Bette schlief, zur Schule, zur Kirche ging, kurz, daß Tom Sawyer wirklich und wahrhaftig daran dachte, einen Nigger befreien zu helfen! Das war zu hoch für mich! Er war doch ein anständiger, wohlerzogener Junge, der einen guten Namen zu verlieren hatte, und seine Leute waren angesehen daheim. Und er war gescheit und kein Dummkopf, hatte was gelernt, war dabei kein Duckmäuser, sondern freundlich und gutmütig, und doch besaß er jetzt nicht für einen Pfennig Stolz und Verständnis oder Gefühl für die Strafbarkeit der Handlung, die er eben im Begriff war zu begehen und die doch mir armem, elendem Teufel schon soviel Kopfzerbrechen und Herzweh bereitet hatte, mir, dem Huck Finn! Ich konnt’s nicht verstehen, auf keine Weise. Es war einfach schmählich, schändlich! Und ich hätt’s ihm sagen müssen, es ihm klarmachen, das weiß ich, als sein treuer Freund ihn bewahren vor der Schande, die er damit über sich und die Seinen bringen würde. Ich fang‘ auch an, was davon herzustottern, er aber hält mir den Mund zu und ruft: »Meinst du, ich weiß nicht, was ich zu tun habe? Weiß ich’s für gewöhnlich vielleicht nicht?«

»Ja, doch, aber …«

»Hab‘ ich dir nicht gesagt, ich helf‘ dir den Nigger frei machen, Huck Finn?«

»Freilich, aber –«

»Also damit basta!«

Mehr sagte er nicht, und mehr sagte auch ich nicht. Es hätte auch gar nichts mehr genützt, denn was er wollte, das wollte er! Ich kümmerte mich also nicht weiter drum und ließ ihm seinen Willen.

Im Hause war mittlerweile alles still und dunkel geworden. Wir öffneten das Fenster und suchten eine Gelegenheit, hinunterzukommen. Glücklicherweise war der Blitzableiter ganz in der Nähe, der diente uns zum Beförderungsmittel, so leicht und bequem wie eine breite Treppe von Marmor. Wir also hinuntergerutscht, schneller als der Blitz, und hin zur Hütte, um zu untersuchen, ob Tom recht gehabt mit seinen Vermutungen. Die Hunde hielten sich still, die kannten uns schon. Bei der Hütte angelangt, inspizierten wir zuerst die uns noch unbekannte Nordseite und fanden da etwa in Manneshöhe eine viereckige Öffnung, vor die ein leichtes Brett genagelt war.

»Hallo, Tom«, frohlocke ich, »da haben wir’s schon, das Brett weg, Jim kriecht durch, und frei ist er!«

»Ja, das ist simpel genug nach deinem Geschmack«, höhnt Tom, »so simpel wie: ›eins, zwei, drei, hicke hacke Heu‹, oder wie Kreiselschlagen. Nein, ich denk‘, wir finden schon was andres heraus, das sich mehr der Mühe lohnt als das!«

»Na, laß uns ihn heraussägen«, schlug ich vor, »so wie ich’s damals vor meinem Tod gemacht habe!«

»Das ging‘ schon eher«, stimmt er bei, »da ist doch was Geheimnisvolles und Umständliches dabei. Aber ich wette, wir finden noch etwas viel, viel Abenteuerlicheres heraus. Wir haben ja gar keine Eile. Laß uns nur mal weitersehen!«

Zwischen der Hütte und dem Zaun befand sich eine Art Schuppen, aus rohen Brettern zusammengenagelt, so lang wie die Hütte selbst, aber viel schmäler, nur etwa fünf bis sechs Fuß breit. Dieser Schuppen stieß mit dem einen Ende an die Hütte und die Tür dazu war mit einem Vorlegeschloß verwahrt. Tom fand eine alte Eisenstange und zog damit einen der eisernen Krampen heraus; die Tür ging auf, und wir krochen in den Schuppen, langsam und vorsichtig. Beim Schein eines Schwefelhölzchens sahen wir, daß der Raum nur mit alten Schippen, Spaten, Hacken und einem wackligen, ausgedienten Pflug gefüllt war. Eine Verbindung zur Hütte gab’s nicht, und der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Die Flamme des Zündhölzchens empfahl sich, wir taten desgleichen und drückten den herausgezogenen Krampen wieder hinein, so daß der Verschluß aussah wie vorher. Tom frohlockte.

Kaum waren wir heraus, so rief er: »Jetzt ist alles gut! Jetzt weiß ich, was wir zu tun haben: Wir graben ihn heraus! Dazu brauchen wir mindestens eine Woche!«

Soweit war’s also abgemacht, und wir wandten uns wieder dem Hause zu. Ich ging direkt auf die Hintertür zu, die nur mit einem Lederriemen befestigt war. Mir schien es der einfachste Weg, aber dem Tom war’s lang nicht romantisch genug. Das mußte abenteuerlicher gemacht werden, und er bestand darauf, am Blitzableiter in die Höhe zu klettern. Na, mir war’s recht. Einstweilen aber wollte ich mir das Ding erst einmal ansehen, ehe ich mich zur Nachfolge entschloß. Dreimal war Tom halbwegs oben und dreimal kam er blitzschnell wieder unten an. Das letztemal hätte er sich beinahe den Schädel entzweigeschlagen. Tom ließ sich aber durch so eine Kleinigkeit nicht abschrecken. Er probierte es ein viertes Mal, nachdem er sich vorher ausgeruht, und diesmal blieb er Sieger und kletterte triumphierend durchs Fenster. Ich aber machte mich ganz behaglich zur Treppe hinauf, ich bin einmal kein solcher Held wie Tom und habe auch gar keine Lust dazu, einer zu werden, das Ding kommt mir gar zu mühsam vor.

Am Morgen waren wir mit der Sonne auf und sprangen in den Hof, um uns mit den Niggern und Hunden zu befreunden. Hauptsächlich lag uns dran, den Nigger kennenzulernen, der Jim sein Futter brachte, wenn es wirklich Jim war, der da gefüttert wurde. Sie waren gerade alle beim Frühstück und brachen dann zur Arbeit auf, und Jims Nigger häufte Brot und Fleisch und sonst allerlei auf eine Zinnschüssel. Und da, während die andern weggingen, wurde auch der Schlüssel zur Hütte gebracht.

Jims Nigger hatte ein gutmütiges, rundes Gesicht, und seine Wolle auf dem Kopf war in lauter kleine Bündelchen zusammengebunden, um die Hexen und Geister fernzuhalten, wie er uns erzählte. Nie in seinem Leben sei er von den Unholden so gequält worden wie eben in den letzten Nächten. Er sehe und höre ganz furchtbare Dinge, die gar nicht da seien, Geräusche, Stimmen, kurz, er wisse sich kaum mehr zu helfen. Dabei wurde er so aufgeregt bei der Erzählung seiner Leiden, daß er ganz vergaß, was er im Begriff gewesen war zu tun.

Sagt Tom: »Wozu steht denn das viele Essen da, sollen’s die Hunde kriegen?«

Der Nigger grinste ein wenig, dann allmählich mit dem ganzen Gesicht, so wie wenn der Mond ganz langsam Stückchen für Stückchen hinter einer Wolke hervorkommt, und antwortet: »Ja, junger Herr, sein eine Hund, un sein ganz merkwürdige Hund das! Du ihr wollen sehen?« – »Ja, natürlich!«

Ich stieß Tom in die Rippen und flüstre ihm zu: »Du willst hin, am hellen Tag? So war’s aber doch nicht ausgemacht!«

»Meinetwegen – dann ist’s jetzt!«

So trotteten wir also wahrhaftig hinter dem Nigger her, direkt auf die Hütte los. Mir war’s gar nicht behaglich dabei. Als wir hineinkamen, war alles stockfinster, und wir konnten zuerst gar nichts sehen. Jim aber sah uns und platzte heraus: »Warraftig, da sein Huck! Un, gute, gnädige Himmelsherr, sein das nicht Herr Tom, junge Herr Tom?«

Da hatten wir’s! Ich wußte ja, wie’s kommen würde, ich hatt’s vorher gewußt, nun war’s verraten! Und was jetzt tun? Mir fiel nichts ein, ich stand mit offenem Munde da, und wenn ich auch etwas hätte sagen wollen, ich hätt‘ gar keine Zeit dazu gehabt, denn der Nigger drehte sich ganz starr nach uns um und rief: »Was, gute Gott, junge Herrn kennen alte Nigger?«

Inzwischen hatten sich unsere Augen an das Dunkle gewöhnt, und wir konnten nun die Gegenstände erkennen. Tom starrt den Nigger wieder an, unverwandt und furchtbar verwundert, und fragt: »Kennen wir wen?«

»Ei, alte durchgebrannte Nigger hier vor uns!«

»Woher sollten wir den kennen? Wie kommst du darauf, Alter?«

»Wie kommen Sam drauf? Sein Sam taub? Haben alte Nigger nix eben Namen gesagt von junge Herrn?«

»Na, das ist aber doch merkwürdig! Wer hat was gesagt? Wann hat er’s gesagt? Was hat er gesagt?« Ganz ruhig wendet Tom sich jetzt zu mir: »Hast du jemanden was sagen hören?«

»Ich? Nee, ich hab‘ gar nichts gehört!«

Dann wendet er sich zu Jim, mustert ihn erst eine Weile, als habe er ihn nie gesehen, und fragte dann: »Hast du was gesagt?« »Jim, Herr?« fragt dieser ganz unschuldig, »nein, Jim haben gar nix gesagt!«

Und er schüttelt den dicken Kopf, daß er nur so hin und her fliegt.

»Kein Wort?« fragt Tom noch einmal.

»Kein eine Wort, junge Herr!« beteuert Jim.

»Hast du uns jemals vorher gesehen?«

»Kann nix sein, Herr, Jim haben junge Herrn nie nix gesehen nie nix!«

Jetzt wendet sich Tom zum Nigger, der ganz verwirrt und eingeschüchtert dabei steht, blickt ihn streng an und fragt: »Was ist denn mit dir eigentlich los, Alter? Rappelt’s bei dir? Wie kommst du drauf, der Nigger dort habe was gesagt, habe uns gekannt?«

»Oh, das sein nur alte, schreckliche Geister, junge Herr. Sam wünschen, er wären tot! Geister ihn immerfort so grausam plagen. Ach, junge Herr, junge Herr, ihr nix sagen Master Silas, alte Sam sonst soviel zanken. Er sagen, sein keine Geister nix, sein keine Hexen nix auf der Welt, un alte Sam sie doch immer hören un sehen. Wenn er nur gewesen jetzt hier, er müssen glauben. Aber das sein immer so. Leute, was wollen nix glauben dran, glauben nix. Wollen nix sehen un hören und wenn’s annre Leute ihnen sagen, sie nix wollen wissen.«

Tom gab ihm einen Cent und sagte zu ihm, wir würden ihn nicht verraten, er solle sich für das Geld noch mehr Bindfaden kaufen, um seine Wolle besser zusammenzubinden, es sei offenbar so noch nicht genug.

Dann blickt er Jim noch einmal fest an und sagt: »Ich möchte nur wissen, ob Onkel Silas den Kerl nicht baumeln läßt! Ich tät’s an seiner Stelle. So ’nen undankbaren Hund, der seinem Herrn durchbrennt!« Und während der Nigger mit seinem Geldstückchen zur Tür schleicht, um’s zu betasten und auf seine Echtheit hin zu prüfen, nähert sich Tom Jim und flüstert ihm leise zu: »Verrat ja nie, daß du uns kennst. Und wenn du bei Nacht graben hörst, so sind wir es, wir wollen dich befreien!«

Jim hatte nur Zeit, nach unsern Händen zu fassen und sie zu drücken, dann kam der behexte Nigger wieder auf uns zu, und wir versprachen, bald wieder mit ihm herzukommen, wenn er es wolle; er meinte, es sei ihm sehr lieb, besonders im Dunkeln, wo ihn die Geister am meisten plagten, je mehr Menschen da seien, desto besser. So schieden wir von Jim, dem Wiedergefundenen!

26. Kapitel

Gut durchgeschlüpft! – Schwarze Pläne – Gewandtheit im Stehlen – Ein tiefes Loch

26. Kapitel

Noch war’s fast eine Stunde bis zum Frühstück. Wir gingen dem Wald zu, denn Tom wollte etwas Licht haben, um in der Nacht in dem dunkeln Schuppen graben zu können. Eine Laterne, meinte er, sei zu hell, und so wollten wir uns altes verfaultes Holz suchen, das im Dunkeln leuchtet, freilich nicht stark, aber für unsere Arbeit doch gerade genug. Wir suchen also, finden auch ziemlich viel, verstecken’s im Gebüsch, und Tom fährt ganz unzufrieden heraus: »Verdammt, alles wickelt sich so glatt und leicht ab. Es ist doch infam schwer, einen schwierigen Plan ins Werk zu setzen, bei dem’s der Mühe wert ist, sich anzustrengen. Nicht einmal ein Wächter kommt uns in den Weg, den man einschläfern müßte – ein Wächter gehört doch wenigstens dazu! Kein Hund, der einen Schlaftrunk oder Gift haben muß, nichts, nichts! Dem Jim haben sie eine Kette, so dünn wie mein kleiner Finger, ums Bein getan und ihn damit ans Bett gebunden. Nun frag‘ ich eins! Ist das ’ne Art? Da muß man nur das Bett aufheben, die Kette abstreifen, und Jim ist frei. Und Onkel Silas, der traut jedem! Überläßt den Schlüssel dem Kürbisschädel von Nigger und bestellt niemand, der auf ihn aufpaßt. Jim hätt‘ schon längst aus dem Loch herausgekonnt, wenn er nur gewollt hätte, der ist aber zu klug und weiß, daß er mit der Kette am Fuß nicht weit käme. Hol’s der Henker, Huck, es ist die dümmste Geschichte, die ich je erlebt hab‘! Da heißt’s alle Schwierigkeiten selbst erfinden. Na, das können wir nun nicht ändern, wir müssen eben versuchen, das beste aus der Sache zu machen. Eines tröstet mich, und das ist, daß es noch viel, viel glorreicher und rühmlicher sein wird, Jim durch einen Haufen von Gefahren und Abenteuern durchzubringen, wo nicht eine Schwierigkeit existierte, gar keine in den Weg gelegt wurde von denen, deren Pflicht es gewesen wäre, sie zu liefern, und wir sie alle, alle in unsrem eigenen Hirn ersinnen mußten. Das nenn‘ ich groß, und das tröstet mich auch und macht mir Mut! Nimm nur einmal bloß die eine Laterne an, Huck. Schon, dabei müssen wir nur so tun, als sei’s gefährlich, was? Ich glaube, wir könnten bei Fackelzugbeleuchtung graben, es kümmerte sich noch keine Seele drum! Inzwischen müssen wir aber ausschauen, ob wir nichts finden, aus dem sich eine Säge machen läßt.« – »Was sollen wir damit?«

»Was wir damit sollen? Ei, müssen wir nicht das Bein von Jims Bett absägen, um die Kette loszukriegen?«

»Du hast ja eben selbst gesagt, daß man das nur zu heben brauche, um die Kette abzustreifen!«

»Na, das ist auch wieder ganz und gar nach deiner Art, Huck Finn. Du willst immer alles in der Klein-Kinderschul-Manier tun! Nur recht einfach, nur recht simpel! Hast du denn nie was gelesen? Kein Räuberbuch, keine Heldengeschichte? Baron Trenck oder Casanova oder Benvenuto Cellini oder Heinrich IV., kennst du keinen einzigen von diesen Helden? Wer hat je gehört, daß man einen Gefangenen auf so zimperliche Art befreit wie eine alte Jungfer? Nein, wir machen’s, wie es die besten Autoritäten vor uns gemacht haben. Man sägt also das Bein des Bettes entzwei und läßt es dann so, leckt das Sägmehl auf und verschluckt es, so daß niemand es finden kann, dann wird Fett und Schmutz um die durchsägte Stelle gerieben, und das Auge des tapfersten, wachsamsten Seneschalls, oder wie sie die Kerle heißen, kann nichts davon entdecken, und er meint, das Bein sei vollständig heil. Dann, in der Nacht der Flucht, gibt man dem Bett einen Tritt – und ab fliegt das Bein, die Kette wird abgestreift und frei bist du! Nun hast du nichts weiter zu tun, als deine Strickleiter zu nehmen, sie am Fenstergitter zu befestigen, hinunterzusteigen, dein Bein beim letzten Sprung in den Festungsgraben zu brechen – denn eine Strickleiter ist immer neunzehn Fuß zu kurz, weißt du –, und dann kommen deine treuen Vasallen, die unten stehen, heben dich auf dein Roß, und fort geht’s, wie der Wind, deinen heimatlichen Fluren in Languedoc oder Navarra, oder wie sie heißen, zu. Das ist herrlich, Huck, großartig! Ich wollte, wir hätten auch einen Festungsgraben um die Hütte! Wenn wir noch Zeit haben in der Nacht vor der Flucht, graben wir uns einen!«

Drauf sag‘ ich: »Was sollen wir denn mit einem Festungsgraben anfangen, wenn wir Jim doch unter dem Schuppen herausbohren wollen?«

Er aber hört mich nicht, hat mich und alles um uns her vergessen. In sich versunken sitzt er da, das Kinn in die Hand gestützt. Dann seufzt er auf, schüttelt den Kopf und seufzt wieder. Darauf sagt er: »Nein, das ginge am Ende doch nicht gut, es muß nicht gerade sein.« – »Was denn?« frag‘ ich.

»Ei, Jims Bein abzusägen«, sagt er.

»Herr, du mein Gott«, ruf ich, »nein, das ist allerdings gar nicht nötig. Zu was wolltest du ihm denn das Bein absägen?«

»Na, dafür gibt’s genug berühmte Vorbilder. Genug haben’s schon getan. Wenn sie die Kette nicht anders loskriegen konnten, hackten sie sich einfach die Hand oder den Fuß ab und waren frei. Ein Bein ab wäre noch besser! Das können wir aber am Ende sein lassen; es ist, wie gesagt, nicht gerade notwendig, und Jim ist überdies so ein dickköpfiger Nigger, der’s nie begreifen würde, warum es sein sollte und daß es die Mode in Europa ist, es so zu machen, na also – wir lassen’s bleiben! (Schwerer Seufzer.) Eins aber kann und muß er haben, und das ist eine Strickleiter. Wir zerreißen unsere Bettücher und machen ihm eine, es ist kinderleicht. Die schicken wir ihm dann in einem Laib Brot; so wird’s beinahe immer gemacht.«

»Na, aber Tom Sawyer«, warf ich ein, »wie du wieder schwatzt. Wozu soll denn Jim eine Strickleiter brauchen? Der weiß ja gar nicht, was er damit anfangen soll.«

»Er braucht eine, Huck Finn, sag‘ ich dir. Du sprichst gerade wie der Blinde von der Farbe. Weißt und verstehst nichts davon. Er muß einfach eine Strickleiter haben, ob er sie braucht oder nicht, er muß, denn alle haben eine!«

»Was, in der Welt, soll er aber damit tun?«

»Damit tun? Er versteckt sie in seinem Bett. Kann er das nicht? Das geschieht meistens, und er muß es auch. Huck, du willst eben nie etwas der Ordnung und Regel nach tun, da hast du kein Verständnis dafür, immer willst du’s anders machen als die andern. Und selbst wenn er auch nichts mit der Strickleiter anfängt, dann findet man sie doch nachher in seinem Bett als ein wichtiges Indicinium, oder wie sie’s heißen. Nein, Huck, du weißt und verstehst gar nichts. Glaubst du denn, man braucht keine Indiciniums, wenn einer durchgegangen ist? Natürlich muß man die haben! Du natürlich denkst nichts und sorgst für nichts! Du würdest’s nett machen, wenn du’s zu tun hättest, das muß ich sagen – alle Achtung!«

»Na«, sag‘ ich, »braucht er’s, so braucht er’s und soll’s haben, ich will nicht gegen die Regel sündigen – Gott bewahre! Aber eins weiß ich: Wenn wir nun unsre Bettücher nehmen und zerreißen, um dem alten Kerl eine Strickleiter zu machen, dann kriegen wir’s mit Tante Sally zu tun, die steigt mit dem Strick ohne Leiter hinter uns, soviel ist gewiß. Na, mir soll’s recht sein, mein Buckel ist nicht verwöhnt, der kennt die Kost. Sag mal, Tom, tät’s nicht auch ’ne Leiter von Bast geflochten? Der ist leichter zu beschaffen und tut dieselben Dienste. Dann brauchen wir nicht erst was zu zerreißen und in den Brotlaib läßt sich’s auch stecken, und was Jim betrifft, so hat der keine Erfahrung in den Sachen, dem ist’s einerlei, ob die Leiter von Bast oder von Bett…«

»Dummheiten und kein Ende! Wenn ich solch‘ ein Dickkopf wäre, Huck Finn, dann hielt ich mein M…, das würd‘ ich tun, gewiß und wahrhaftig? Wer in der Welt hat je gehört, daß ein Staatsgefangener auf einer Bastleiter entwichen wäre, ’s ist rein zum Totlachen!«

»Na gut, Tom, nur ruhig, mach’s, wie du Lust hast, ich rat‘ aber, wir nehmen lieber ein Tuch draußen von der Leine anstatt aus unserem Bett!«

Das leuchtete ihm ein und gab ihm einen neuen Gedanken. Sagt er: »Weißt du was, Huck, wir nehmen auch gleich ein Hemd!«

»Ein Hemd? Wozu?«

»Für Jim, um ein Tagebuch darauf zu schreiben.«

»Sei doch nicht so närrisch! Jim kann ja nicht schreiben.«

»Na, wenn er nicht schreiben kann, so kann er doch wenigstens Zeichen darauf malen, wenn wir ihm eine Feder aus einem alten Zinnlöffel oder einem dicken eisernen Nagel machen.«

»Ja, aber Tom, das hätten wir wieder viel einfacher und besser, wenn wir einer Gans ’ne Feder ausrissen!«

»Gefangene haben keine Gänse, die im Kerker herumlaufen und sich Federn ausreißen lassen, du Dummbart! Die Gefangenen machen ihre Federn immer aus dem härtesten verrostetsten, und ältesten Stück Eisen, das ihnen unter die Finger kommt, und dazu brauchen sie Wochen und Wochen, Monate und Monate, bis sie soweit sind und es abgefeilt haben, denn sie können’s nur an der Mauer abreiben. Die nähmen keinen Federkiel, selbst wenn sie ihn haben könnten, es wäre ganz gegen die Regel.«

»Und die Tinte? Woraus sollen wir die machen? Aus Lakritzensaft?«

»Dummkopf! – Viele nehmen Rost mit Tränen gemischt, aber das ist schon mehr etwas für Weiber, die’s Heulen verstehen. Die besten Vorbilder, die ich kenne, haben ihr eigenes Blut dazu benutzt, das mag Jim auch tun. Wenn er aber nur eine kleine und gewöhnliche Nachricht von sich geben will, dann kann er sie auch mit einer Gabel auf einen Zinnteller schreiben und ihn dann zum Fenster hinauswerfen. So hat’s die Eiserne Maske gemacht, und die hat’s verstanden.«

»Jim hat aber keine Zinnteller. Sie schicken ihm das Essen in einer Blechschüssel.«

»Das tut nichts, die verschaffen wir ihm.«

»Wird aber jemand seine Tellerschrift lesen können?«

»Darauf kommt’s nicht an, Huck! Er hat nur die Teller zu bekritzeln und dann wegzuwerfen. Das Lesen ist Nebensache, gehört nicht dazu! Neunundneunzigmal unter hundert bist du nicht imstande herauszukriegen, was ein Gefangener auf einen Teller oder sonstwohin kritzelt, darauf kommt’s gar nicht an!«

»Ja, aber warum denn die vielen Teller so verderben?«

»Warum? Schwerenot, bist du dumm! Die gehören ja den Gefangenen gar nicht!«

»Aber irgend jemandem gehören sie doch, nicht?«

»Na und wenn! Was liegt dem Gefangenen dran, wem…«

Hier brach er ab, denn man hörte das Horn blasen, das uns zum Frühstück rufen sollte, und wir rannten dem Hause zu.

Im Laufe des Morgens nahm ich also ein Leintuch und ein Hemd von der Wäscheleine auf dem Trockenplatz und steckte beides in einen alten Sack, den ich gefunden hatte; das verfaulte Holz kam auch mit hinein. Ich nannte das borgen, wie mein Alter immer sagte, Tom aber meinte, das sei gestohlen. Er sagte aber, wir stellten jetzt eben Gefangene vor, und Gefangene nähmen alles, was sie kriegen könnten, und niemand sehe sie deshalb schief an und nehme es ihnen übel. Bei einem Gefangenen ist’s keine Sünde, wenn er die Dinge stiehlt, die er zu seiner Befreiung braucht, sagte Tom, das ist sein Recht, und solange wir hier Gefangene sind, hätten wir das Recht, alles und jedes Ding zu stehlen, das wir zu unserer Befreiung brauchen. Er sagte, wenn wir keine Gefangenen wären, wäre es was ganz anderes, nur ein ganz gemeiner, erbärmlicher Kerl stehle, wenn er nicht gefangen sei. Wir beschlossen also, alles zu nehmen, was wir nur irgend brauchen könnten und was uns unter die Finger käme. Mir war das ganz recht, und doch fing Tom furchtbar an zu schimpfen, als ich einmal den Niggern eine Melone von ihrem Feld nahm und sie aß. Er zwang mich, hinzugehen und den Kerlen Geld dafür zu bringen, und sagte, das sei ganz was anderes und so hätte er’s nicht gemeint, das sei gestohlen – gemein gestohlen, wir dürften nur nehmen, was wir wirklich brauchten. Das begriff ich nun nicht.

Sag‘ ich: »Tom, ich hab‘ die Melone wirklich gebraucht.«

Er aber sagte, nein, ich hätte sie nicht genommen, um damit frei zu werden! Das sei der Unterschied! Ja, wenn ich sie gebraucht hätte, um ein Messer drin zu verbergen, sie Jim zuzuschmuggeln, der dann den Senneschaal, oder wie der Kerl heißt, damit habe töten können, das wäre ein ander Ding gewesen. Ich ließ es gut sein, dachte aber bei mir, ich könne den Vorteil, ein Gefangener zu sein, nicht so recht einsehen, wenn man soviel Federlesens machen müsse, sooft man sich einmal eine Wassermelone zu Gemüt führen wolle.

Na, wie ich schon vorher gesagt habe, wir warteten also an jenem Morgen, bis alles im Hause an der Arbeit und niemand mehr im Hof war, um uns zu beobachten. Dann schleppte Tom den Sack in den Schuppen, während ich Wache stand. Als er wieder herauskam, setzten wir uns auf einen Holzstoß und plauderten.

Sagt‘ er: »Jetzt ist alles in Ordnung, nur noch Handwerkszeug brauchen wir, und das ist leicht zu haben.«

»Handwerkszeug?« frag‘ ich.

»Ja!«

»Handwerkszeug für was?«

»Na, um damit zu graben! Du wirst ihn doch wohl nicht mit den Nägeln herauskratzen?«

»Sind denn die alten Hacken und sonstigen Dinger da drinnen nicht gut genug, um einen Nigger herauszugraben?«

Darauf sieht er mich aber so traurig an, als sei ich seine Großmutter und als wolle er eben den Geist aufgeben.

»Huck Finn«, sagt er, »mit dir ist nichts anzufangen! Hast du je von Gefangenen gehört, die nur so nach Hacken und Spaten greifen konnten, um sich damit herauszugraben? Ich frag‘ dich auf dein Gewissen, Huck Finn, wenn du eins hast und ein Fünkchen Verstand dazu. Welch ein Anrecht auf Heldentum hätte ein Gefangener in diesem Fall? Ebensogut könnte man ihm geschwind den Schlüssel zum Kerker leihen, und damit fertig! Spaten und Hacken! Wahrhaftig! – Nicht einmal ein König würde sie kriegen!«

»Na«, frag‘ ich, »wenn wir also die Spaten und Hacken da drin nicht brauchen, was brauchen wir dann?«

»Ein paar richtige, ordentliche Taschenmesser!«

»Was? Um damit den Boden bis zur Hütte zu untergraben?«

»Ja!«

»Na, laß dich begraben, Tom, das ist verrückt!«

»Das ist ganz einerlei! Verrückt oder nicht, so muß es geschehen, so ist’s der Regel nach. Ich hab’s nie anders gehört oder gelesen, und ich kenne alle Bücher, in denen so etwas vorkommt. Immer graben sie sich mit einem Taschenmesser heraus! Und gewöhnlich nicht durch Lehm und Schmutz wie hier, merk dir’s, sondern durch harten, festen Felsgrund. Und dazu brauchen sie Wochen und Monate, und manchmal dauert es noch viel länger. Da war mal einer in dem Schlosse Dief, im Hafen von Marseille, der saß ganz unten im untersten Kerker und grub sich durch, und wie lange glaubst du, hat er dazu gebraucht?« – »Was weiß ich! Anderthalb Monate?«

»Siebenunddreißig Jahre! Und kam in China heraus! So, da siehst du; so muß man’s machen. Ich wollte nur, der Grund dieser Festung hier wäre aus Fels, aus hartem, solidem Fels!«

»Aber Jim kennt ja gar niemand in China! Der wird sich nicht dorthin sehnen!«

»Was hat das damit zu tun? Der andre Kerl in Dief kannte auch niemand dort. Aber du kommst immer vom Hauptpunkt ab und gerätst auf Seitenwege!«

»Gut! Was liegt mir dran, wo er herauskommt, meinethalben im Mond, ich meine, die Hauptsache ist, daß er herauskommt, und ich glaube, Jim denkt geradeso. Aber etwas müssen wir doch bedenken. Jim ist zu alt, um ‚mit dem Taschenmesser ausgegraben zu werden, so lange lebt der gar nicht mehr!«

»Das wird sich zeigen! Du denkst doch nicht, daß wir hier siebenunddreißig Jahre brauchen, um ein Loch in den Dreck zu wühlen?«

»Wie lang werden wir denn wohl brauchen, Tom?«

»Na, so lang, wie wir eigentlich regelrecht brauchen sollten, können wir gar nicht wagen zu brauchen, denn Onkel Silas wird bald genug Wind bekommen, wer und woher Jim ist. Wer kann’s wissen, wie bald Jim forttransportiert werden soll? Bei so unsicheren Umständen halt‘ ich fürs gescheiteste, wir graben so schnell wie möglich und tun nachher, als wären es siebenunddreißig Jahre gewesen. Dann können wir ruhig sein und alles abwarten, und sobald sich die erste Gefahr zeigt, ihn herausholen und schleunig fortspedieren. So, denk‘ ich, wird’s am besten sein!«

»Da liegt doch mal wirklich Verstand drin, den ich auch begreifen kann«, sag‘ ich, »so tun kostet nichts, so tun ist Kinderspiel, und meinetwegen können wir tun, als seien’s hundertundfünfzig Jahre gewesen. Na, will mal sehen, ob ich irgendwo ein paar tüchtige Taschenmesser erwischen kann.«

»Nimm gleich drei«, rät Tom, »wir brauchen eins, um eine Säge draus zu machen.«

»Tom«, wag‘ ich noch einmal einzuwenden, »dahinten unter dem Schuppendach habe ich eine alte rostige Säge liegen sehen, wenn’s nicht unchristlich und gegen die Regel ist, so…«

Aber er sah mich so trostlos und entmutigt an, daß ich nicht fortzufahren wagte.

»Du lernst nichts, Huck!« seufzt er, »lauf und verschaff uns die Messer – drei, hörst du?«

Ich tat’s!

27. Kapitel

Der Blitzableiter – Sein Bestes – Ein Vermächtnis an die Nachwelt – Löffel stehlen – Unter den Hunden – Eine hohe Summe!

27. Kapitel

Alles ging früh zu Bett, wie wir es erwartet hatten, und das ganze Haus lag bald in tiefster Ruhe. Wir also am Blitzableiter hinunter, leise in den Schuppen geschlichen, unser Bündel faules Holz als brillante Beleuchtung vorgekriegt und nun los an die Arbeit! Erst räumten wir alles aus dem Weg, was auf dem Boden lag, gerade in der Richtung auf Jims Bett zu. Tom meinte, es sei gut, wenn der Gang, den wir graben wollten, unter dem Bett münde, da könne man die Öffnung doch nicht so leicht bemerken, denn Jims Decke hinge ziemlich auf den Boden herunter und es verfiele keiner so leicht darauf, diese aufzuheben und darunter nachzusehen. Na also! Wir gruben und gruben, stocherten und wühlten mit unsern Taschenmessern bis beinahe gegen Mitternacht. Dann waren wir hundemüde und unsre Hände voller Blasen, und doch konnte man kaum sehen, daß wir vorwärtsgekommen waren.

Endlich sag‘ ich: »Na, Tom, mir scheint’s, mit den siebenunddreißig Jahren, die wir nach der Regel zu der Arbeit brauchen sollen, kommen wir nicht aus; wenn da nicht mindestens achtunddreißig drauf gehen, will ich Hans heißen!«

Er sagte kein Wort, seufzte aber tief und hörte mit einemmal auf zu stochern. Da wußte ich, daß er jetzt nachdenke, und ließ ihn gewähren.

Plötzlich sagt‘ er: »Huck, so kann’s nicht weitergehen. Ja, wenn wir wirklich eingekerkert wären und so viele Jahre vor uns hätten, wie wir hierzu brauchen, und hätten keine Eile, sondern brauchten jeden Tag nur ein paar Minuten zu graben, während der Ablösung der Wachen, und bekämen dabei keine Blasen an die Hände, dann könnten wir’s so weitertreiben – jahrein, jahraus – und alles der Regel nach tun, wie’s sein müßte. So aber! Wir können nicht so zaudern, wir müssen flink zugreifen, haben gar kein bißchen Zeit zu verlieren. Wenn wir morgen noch einmal ein paar Stunden so weitermachen wollen, müssen wir gewiß eine Woche lang warten, bis unsere Hände wieder so sind, daß man ein Taschenmesser anrühren und weitergraben kann.«

»Was sollen wir nun tun, Tom?«

»Das will ich dir sagen, das ist ganz einfach! Schön ist’s nicht und recht auch nicht und nicht moralisch, und es darf’s nie einer erfahren. Wir haben aber keine Wahl. Herausgraben müssen wir ihn und schnell dazu, und so müssen wir eben die Hacken und Schaufeln nehmen und tun, als seien’s nur Taschenmesser!«

»Das nenn‘ ich doch endlich einmal vernünftig gesprochen, Tom, bravo, bravo! Dein Kopf wird klarer und klarer, scheint mir, tut sein bestes, übertrifft sich nächstens selbst«, frohlock ich. »Schaufeln ist die Losung, moralisch oder nicht moralisch! Ich für mein Teil kümmere mich einen Pfifferling um die Moralischkeit. Wenn ich ’nen Nigger stehlen will oder ’ne Wassermelone oder ein Sonntagsschulbuch, kommt mir’s gar nicht drauf an, wie ich’s mache, wenn ich’s nur kriege. Was ich will, ist mein Nigger oder meine Melone oder mein Buch, und wenn ich eine Schaufel brauche, um’s herauszugraben, muß eben eine Schaufel her, mögen die Autoritäten davon denken, was sie wollen, die können mir gestohlen werden!«

»Na«, meint er, »in unserm Fall sind wir allerdings entschuldigt, wenn wir Schaufeln nehmen und so tun, sonst tät‘ ich’s wahrhaftig nicht, denn Recht bleibt Recht und Unrecht bleibt Unrecht, und keiner soll’s Unrechte tun, wenn er’s besser weiß! Du kannst meinethalben Jim mit der Schaufel ausgraben, ohne zu tun, als sei’s ein Messer, bei mir aber ist das anders, ich weiß, was recht ist und wie es sein muß, also – gib mir ein Messer!«

Er hatte seins bei sich, doch reich‘ ich ihm das meine, ohne mir’s weiter zu überlegen.

Er wirft’s weit weg und wiederholt ungeduldig: »Gib mir ein Taschenmesser, Huck Finn!«

Erst starrt‘ ich ihn verblüfft an, dann dacht‘ ich nach: Und da ging mir ein Licht auf! Ich such‘ und kram‘ unter dem alten Werkzeug am Boden herum, find‘ ’ne Hacke und reich‘ sie ihm, und er nimmt sie und macht sich an die Arbeit, ohne weiter ein Wort zu sagen. So war er immer, stets voller Grundsätze!

Ich bewaffnete mich mit einer Schaufel, und nun ging’s lustig drauflos, daß die Brocken nur so kollerten und flogen. Eine halbe Stunde lang gruben wir fleißig, dann fielen wir beinahe um vor Schlaf, aber wir konnten doch auch ein Stück Arbeit aufweisen mit unsern Taschenmessern! Alsdann machte ich mich davon und eilte die Hintertreppe hinauf, ich dachte, Tom sei hinter mir her. Als er aber nicht kommt, seh‘ ich zu unserm Fenster hinaus und erblicke ihn am Blitzableiter, an dem er herauf klettern will. Er bringt es aber nicht fertig, da ihm seine blasigen Hände zu weh tun, und ruft mir ganz jämmerlich zu: »Ich kann’s nicht, Huck, es geht nicht! Was soll ich nun anfangen? So rat mir doch, Huck, denk nach! Weißt du gar nichts?«

»Ja«, sag‘ ich, »aber das wäre nicht moralisch und nicht nach der Regel. Komm eben einfach die Treppe herauf und tu, als sei’s der Blitzableiter!«

Schweigend schlich er davon und tat’s, aber gesprochen hat er an dem Abend kein Wort mehr.

Am andern Morgen entlehnte Tom einen Zinnlöffel und einen Messingleuchter im Hause, um Schreibfedern für Jim draus zu machen, sechs Talgkerzen ließ er außerdem noch mitgehen. Ich trieb mich bei den Negerhütten herum, wartete auf eine Gelegenheit und führte drei Zinnteller aus. Tom meinte, das sei lange nicht genug, ich aber sagte, wenn Jim die Teller herauswerfe, würden sie in dem Buschwerk vor dem Fensterloch von niemandem gesehen, und da könnten wir sie wieder herausholen und noch einmal benutzen.

Da war er denn auch zufrieden und sagte: »Jetzt müssen wir aber noch herauskriegen, wie wir all das Zeug dem Jim zustecken!«

»Na, durchs Loch natürlich, wenn wir es fertig haben!«

Er sah mich nur an, aber wie! Ich wußte, was er dachte, fast besser, als wenn er’s gesagt hätte, dabei brummte er etwas wie verrückt oder so, ich untersucht‘ es nicht weiter. Dann legte er sich aufs Nachsinnen, sagte auch nach einiger Zeit, er habe drei oder vier verschiedene Arten herausgefunden, es habe aber keine Eile mit der Entscheidung, wir müßten Jim doch zuerst alles klarzumachen suchen, wofür er die Sachen zu benutzen habe.

An dem Abend rutschten wir etwas nach zehn Uhr am Blitzableiter hinunter, nahmen eine von den Talgkerzen mit, horchten unter Jims Guckloch – Fenster konnte man das Ding nicht nennen –, hörten ihn schnarchen und warfen die Kerze hinein, wodurch er gar nicht einmal wach wurde. Jetzt ging’s frisch drauflos mit Hacke und Schaufel, und in vielleicht zwei Stunden oder etwas mehr waren wir fertig. Wir krochen durch das Loch unter Jims Bett in die Hütte, tappten auf dem Boden herum, fanden die Kerze, zündeten sie an und stellten uns ein Weilchen vor Jim hin, der immerzu schnarchte, dann weckten wir ihn allmählich. War der aber glücklich, uns zu sehen! Er nannte uns Herzchen und Zuckerpüppchen und gab uns sonst noch alle Schmeichelnamen, die sich nur erdenken lassen, und bat uns, sofort eine alte Feile zu holen und seine Kette abzufeilen und dann ohne viel Zeitverlust mit ihm auf und davon zu gehen. Das war nun ganz und gar nicht Toms Absicht, und der zeigte ihm denn auch bald, wie ganz gegen alle Regeln das wäre, und setzte ihm unsern Plan auseinander und wie wir ihn auch jeden Moment ändern könnten, wenn wirklich Gefahr in Verzug wäre, er brauche sich kein bißchen zu fürchten, denn wir würden dafür sorgen, daß er sicher frei würde. Jim sagte dann auch schließlich, ihm sei alles recht, und wir saßen und plauderten von alten Zeiten; Tom stellte eine Menge Fragen, und als Jim erzählte, Onkel Silas käme jeden Tag, um mit ihm zu beten, und Tante Sally, um nachzusehen, ob er genug zu essen habe, und daß beide so gut und freundlich seien, da sagte Tom: »So, nun weiß ich auch, was ich zu tun habe. Die müssen dir selbst die Sachen zutragen, die du brauchst, Jim!«

Sag‘ ich: »Das wirst du doch nicht tun, Tom, das ist ja das Tollste, was du bis jetzt ausgedacht hast!«

Er aber hörte gar nicht auf mich, sondern machte immer weiter, wie er’s zu tun pflegte, wenn ihm ein neuer Gedanke kam.

So sagte er denn Jim, daß wir ihm die Strickleiter in einem Brotlaib zuschmuggeln wollten, und andre größere Sachen durch den Nigger, der ihm das Essen bringe, er dürfe sich aber nichts merken lassen und müsse immer aufpassen und niemals etwas verraten. Die kleineren Sachen würden wir in des Onkels Rocktaschen stecken oder an der Tante Schürzenbänder befestigen, wo er sie dann unbemerkt wegnehmen müsse. Wir sagten ihm auch, zu was er jedes einzelne benutzen solle und wie er ein Tagebuch führen müsse auf dem Hemd mit seinem eignen Blut und dergleichen mehr. Tom unterrichtete ihn von allem. Jim konnte freilich nicht recht klug draus werden, meinte aber, wir seien doch kluge Weiße und müßten’s eben besser verstehen als so ein armer, dummer Nigger. Er war’s denn auch zufrieden und versprach, alles genau so zu machen, wie’s Tom angegeben.

Jim holte ein paar Pfeifen und Tabak heraus, und so waren wir lustig und guter Dinge. Dann krochen wir wieder zum Loch hinaus und gingen zu Bett, mit Händen, die aussahen, als seien sie mal von Ratten angenagt worden: So langes Graben ist doch kein Spaß! Tom war in der besten Laune. Er sagte, das sei das Schönste, Interessanteste, was er je erlebt hätte, und meinte, den Spaß könnten wir unser ganzes Leben lang fortsetzen, wenn wir nur erst wüßten wie, und es unsern Kindern einmal überlassen, Jim zu befreien, der ganz sicher mit der Zeit immer mehr Geschmack an seiner Gefangenschaft finden werde. Tom meinte auch, bei sorgfältiger Behandlung könne man Jim gewiß bis hoch in die Achtzig bringen und die Erzählung seiner Abenteuer dann als wertvolles Vermächtnis der Nachwelt überlassen, und alle, die damit zu tun gehabt hatten, würden Ruhm und Lorbeeren und einen gefeierten, hochgepriesenen Namen ernten. Na, mir soll’s recht sein!

Am Morgen gingen wir zum Holzplatz hin und zerlegten den Messingleuchter in handliche Stücke, die Tom samt dem Zinnlöffel in seine Tasche steckte. Dann schlenderten wir zu den Niggerhütten, und während ich Sam – das war der Nigger, der Jim das Essen brachte – anderweit beschäftigte, bohrte Tom ein Stück von dem Messingleuchter in ein großes Stück Brot, das auf Jims Schüssel lag, und wir trotteten nachher hinter Sam her, um zu sehen, was es für eine Wirkung habe. Die war nun über alle Beschreibung, denn Jim biß sich beinahe alle Zähne an dem Messing aus; das war ein Hauptspaß. Jim aber ließ sich nichts merken und tat, als wäre es ein Stein oder so etwas gewesen, das sich leicht einmal ins Brot verirrt; nachher aber biß er nie wieder in etwas hinein, ohne vorher mit seiner Gabel an drei oder vier Stellen probiert zu haben, ob alles mit rechten Dingen zugehe.

Und während wir noch dastehen, springen auf einmal zwei Hunde ganz seelenvergnügt unter Jims Bett hervor und andere drängen nach, mehr und immer mehr tauchen auf, bis vielleicht zwölf oder gar fünfzehn herumwimmeln und wir kaum Platz zum Atmen haben! Na, das war ein Schreck! Zum Henker, wir mußten ja wahrhaftig vergessen haben, die Schuppentüre zuzumachen. Unser Sam aber brachte vor Schrecken nur das Wort Geister heraus und fiel, so lang er war, auf den Boden, zwischen die Hunde, und wälzte sich und schlug um sich, als habe er Krämpfe. Tom riß geschwind die Tür auf, ergriff einen Fetzen Fleisch von Jims Schüssel, warf ihn hinaus, und die Hunde sausten wie toll hinterher, er selbst auch mit, und eh‘ ich noch Amen sagen konnte, war er leise wieder da. Ich wußte, er hatte flink die Schuppentür geschlossen, zog die Tür zur Hütte hinter sich zu und kauerte sich auf den Boden zu dem noch immer stöhnenden Sam. Er streichelte und schmeichelte an ihm herum, fragte, ob er denn wieder etwas gesehen habe und ob ihm die Geister noch immer keine Ruhe ließen. Sam kam wieder etwas zu sich, richtete sich auf und blinzelte scheu in alle Ecken.

»Massa Sid«, flüsterte er ängstlich, »du sagen, Sam sein Narr, aber Sam sehen ganze Million Hund oder Deibel oder so was, er wollen sterben, wenn er’s nix sehen ganz deutlich! Massa Sid, Sam sie riechen, sie fühlen! Sein gesprungen über arme, alte Sam! Das sein zuviel, zuviel! Sam nur einmal sollten fangen Geister, nur ein – einemal! Geister sollten bleiben weg dann nächstemal von arme, alte Sam! Sam das schwören!«

Sagt Tom: »Sam, ich will dir sagen, was ich glaube. Weißt du, warum die jedesmal kommen, wenn du dem Durchbrenner hier sein Frühstück bringst? Die sind hungrig, ganz sicher hungrig! Weißt du, was du tun mußt? Du mußt ihnen eine Zauberpastete machen, das allein kann dir helfen!«

»Aber, große Gott, Massa Sid, wie sollen alte Sam machen Zauberpastete? Er gar nix nicht wissen davon! Er nie nix haben gehört von solcher Pastet!«

»Na, da muß ich’s wohl für dich tun, he?«

»Massa Sid das wollen tun? Oh, sein so gut, so gut! Sam wollen küssen die Boden, wo Massa Sid gehen!«

»Na, schon gut, Alter, schon gut. Ich tu’s, weil du freundlich und gefällig warst und uns den Durchbrenner, den schlechten Kerl dort, gezeigt hast. Aber vorsichtig mußt du sein, hörst du? Du darfst nicht hören und nicht sehen, nicht merken und nicht merken wollen, was ich in die Pastete stecke, sonst ist alles umsonst, und die Geister packen dich beim Wickel, und wer weiß, ob sie dann das nächstemal so schnell verschwinden und dich nicht mit fortschleppen. Ich rat‘ dir auch, nicht danach zu schielen, wenn der Kerl dort die Pastete aufmacht, noch weniger, danach zu fassen.«

»Massa Sid, was du denken? Sam nix rühren dran mit kleinste Spitz von kleinste Finger, nix für zehnmalhunderttausend Dollahs!«

2. Kapitel

Die Jungen entwischen Jim! –Tom Sawyers Räuberbande – Finstre Pläne!

2. Kapitel

Wir schlichen auf den Fußspitzen den kleinen Pfad hinab, der unter den Bäumen hin zur Rückseite des Gartens führt, wobei wir den Kopf ständig bücken mußten, um nicht von den Zweigen getroffen zu werden. Gerade als wir an der Küchentür vorüber wollen, muß ich natürlich über eine Wurzel stolpern und hinfallen, wodurch ein kleines Geräusch entstand. Jetzt hieß es still liegen und den Atem anhalten! Miss Watsons Nigger Jim saß an der Tür; wir konnten ihn ganz gut sehen, weil das Licht gerade hinter ihm stand. Er steht auf, streckt den Kopf heraus, horcht eine Minute lang und sagt dann: »Wer’s da?«

Dann horcht er wieder, und – jetzt schleicht er sich auf den Zehenspitzen heraus und steht gerade zwischen uns, ich hätte ihn zwicken können, wenn ich gewollt hätte. Er steht, und wir liegen still wie die Mäuse, und so vergehen Minuten auf Minuten. An meinem Fuß fängt’s an mich zu jucken, und ich kann mich nicht kratzen. Jetzt juckt’s am Ohr, dann am Rücken, gerade zwischen den Schultern, es ist zum Tollwerden! Warum’s einen nur immer juckt, wenn man nicht kratzen kann oder darf! Darüber hab‘ ich oft nachgedacht seitdem. Entweder wenn man bei feinen Leuten ist, oder bei einem Begräbnis, oder wenn einen der Lehrer was fragt, oder in der Kirche, oder wenn man im Bett liegt und will schlafen und kann nicht, kurz, wenn man irgendwo ist, wo man nicht kratzen kann und darf, da juckt’s einen gerade erst recht an hundert verschiedenen Stellen.

Endlich sagt Jim: »He da, wer ’s da? Ich mich lassen tothauen, ich haben was gehört! Aber Jim sein nicht so dumm! Jim sitzen hier hin und warten!«

Und damit pflanzt er sich gerade zwischen mich und Tom auf den Boden, lehnt den Rücken an einen Baum und streckt die Beine aus, daß das eine mich beinahe berührt. Jetzt beginnt mein Juck-Elend von neuem. Erst die Nase, bis mir die Tränen in den Augen stehen, ich wage nicht zu kratzen, dann allmählich jeder Körperteil, bis ich nicht weiß, wie ich stillhalten soll. Fünf, sechs Minuten geht das Elend so weiter, mir scheinen’s Stunden. Ich zähle schon elf verschiedene Orte, an denen ’s mich juckt. Gerade als ich denke, nun kannst du’s aber nicht mehr aushalten, höre ich Jim tief aufatmen, dann schnarchen und – ich bin gerettet.

Tom gab mir jetzt ein Zeichen, er schnalzte leise mit den Lippen, und wir krochen auf allen vieren davon. Vielleicht zehn Fuß weit entfernt hielt Tom an und flüsterte mir zu, er wolle Jim zum Spaß am Baum festbinden. Ich sagte nein, ich wolle nicht, daß er aufwache, Lärm schlüge und man dann entdecken würde, daß ich nicht im Bett sei. Dann sagte Tom, er habe nicht genug Lichter und wolle sich deshalb in der Küche ein paar mitnehmen. Das wollte ich aus Angst vor Jim auch nicht erlauben, aber Tom bestand darauf, und so schlichen wir uns in die Küche, fanden die Lichter, und Tom legte fünf Cents zur Bezahlung auf den Tisch. Ich schwitzte nun förmlich vor Angst, fortzukommen, Tom aber ließ sich nicht halten und kroch zu Jim zurück, um ihm einen Streich zu spielen. Ich wartete, und die Zeit wurde mir sehr lang; alles war so still und unheimlich um mich herum.

Endlich kam Tom, und nun rannten wir eilig den Pfad hinunter und kletterten den steilen Hügel hinter dem Haus hinauf. Tom erzählte, daß er Jim mit einem Strick an den Baum gebunden und seinen Hut oben an einen Ast gehängt habe, der Kerl habe aber immer weitergeschlafen und sich nicht gerührt. Später behauptete Jim, die Hexen hätten ihn verzaubert und seien auf ihm über den ganzen Staat geritten. Dann hätten sie ihn wieder unter dem Baum niedergelassen und zum Zeichen, wer es getan, seinen Hut auf den Ast gehängt. Als Jim seine Geschichte das nächste Mal erzählte, waren die Hexen bis New Orleans auf ihm geritten, und jedesmal, sooft er es wieder erzählte, war der Ausflug weiter gewesen, bis er schließlich behauptete, daß der Ritt um die ganze Erde gegangen und sein Rücken ganz zerschunden worden sei. Jim war riesig stolz darauf und sah auf die anderen Nigger nur noch vornehm herab. Aus meilenweiter Ferne kamen Nigger herbei, um Jims Geschichte zu hören. Es gab keinen angeseheneren Neger in der Gegend, und die fremden Gäste glotzten ihn mit offenem Munde an wie ein Meerwunder. Die Nigger unterhalten sich gern im Dunkeln beim Herdfeuer über Hexen, sooft aber einer darüber seine Weisheit auskramte und Jim dazukam, dann rief er: »Ach, was wißt ihr von Hexen«, worauf jener Nigger beschämt in den Hintergrund schlich. Jim trug jenes Fünf-Cent Stück stets an einer Schnur um den Hals und behauptete, es sei ein Zaubermittel, das ihm der Teufel eigenhändig gegeben habe mit der Bemerkung, er könne damit jedermann heilen und Hexen herbeizaubern, soviel er wolle, wenn er einen gewissen Spruch dabei hersage. Auch das trug nicht wenig zur Erhöhung der Berühmtheit Jims bei.

Als Tom und ich oben auf dem Hügel ankamen, konnten wir gerade ins Dorf hinuntersehen, und da blinkten noch drei oder vier Lichter, wahrscheinlich bei Kranken. Über uns blitzten die Sterne, und drunten zog der Mississippi dahin, so breit und ohne Laut, es war großartig. Wir rannten dann auf der andern Seite den Hügel hinunter und fanden Joe Harper und Ben Rogers und noch ein paar Jungens, die auf uns warteten. Ein Boot wurde losgemacht, und wir ruderten den Fluß hinunter, bis dahin, wo der große Einschnitt im Ufer ist. Dort legten wir an.

Wir kletterten auf ein dichtes Buschwerk zu, und nun ließ Tom uns alle schwören, das Geheimnis nicht zu verraten, und zeigte uns ein Loch im Hügel. Wir steckten die Lichter an und krochen auf Händen und Knien hinein. So ging es ungefähr zweihundert Meter in einem engen Gange fort, bis sich die Höhle auftat. Tom tastete an den Wänden der Höhle umher und verschwand auf einmal unter einem Felsen, wo niemand eine Öffnung vermutet hatte. Wir folgten ihm durch einen schmalen Gang, bis wir in einen Raum gelangten, ungefähr wie ein Zimmer, nur etwas kalt, feucht und dumpfig, und da blieben wir dann.

Tom hielt nun eine feierliche Ansprache und sagte: »Hier wollen wir also eine Räuberbande gründen und sie Tom Sawyers Bande nennen. Jedermann, der beitreten will, muß einen Eid schwören und seinen Namen mit Blut unterschreiben!«

Alle waren dazu bereit, und so zog Tom einen Bogen Papier aus der Tasche, auf den er einen furchtbaren Eid geschrieben hatte, den er uns jetzt vorlas. Darin stand, daß jeder Junge treu zur Bande halten müsse und niemals deren Geheimnisse verraten dürfe bei Todesstrafe. Wenn irgend jemand irgendeinem von uns irgend etwas zuleid täte, müsse einer das Racheamt übernehmen, den man dazu erwähle, und er dürfe nicht essen und nicht schlafen, ehe er den Beleidiger und seine ganze Familie getötet und allen ein blutiges Kreuz in die Brust geritzt habe, was das Zeichen der Bande sein solle. Und niemand außer uns dürfe dies Zeichen benutzen, und wenn er es doch täte, solle er gerichtlich belangt, und wenn dies nichts helfe, einfach getötet werden. Wenn aber einer aus der Bande die Geheimnisse verrate, werde ihm der Hals abgeschnitten, der Körper verbrannt und die Asche in alle vier Winde zerstreut, sein Name dann dick mit Blut von der Liste gestrichen, ihn auszusprechen bei Strafe verboten und er selbst solle vergessen sein für immer und ewig. Wir alle fanden den Eidschwur prächtig und fragten Tom, ob er ihn ganz allein aus seinem eignen Kopf gemacht habe. Er sagte ja, zum größten Teil, einiges habe er auch in alten Piraten- und Räuberbüchern gefunden; jede ordentliche Bande schwöre einen solchen Eid.

Jetzt meinte einer, man solle doch auch die Familie töten von den Jungens, die das Geheimnis verrieten. Tom sagte, das sei eine gute Idee, nahm einen Bleistift und korrigierte es noch hinein in den Eidschwurbogen.

Da meinte Ben Rogers: »Ja, aber, hört einmal, wie ist denn das? Der da« – dabei zeigte er auf mich – »hat doch gar keine Familie nicht, wen sollen wir denn da töten?«

»Er hat doch auch einen Vater«, sagte Tom Sawyer.

»Den hat er wohl, aber wo ihn finden? Früher lag er manchmal betrunken in der Straße, aber seit einem Jahr hat ihn niemand hier herum gesehen!«

Nun berieten sie hin und her und hätten mich beinahe ausgestoßen, denn jeder, so sagten sie, müsse jemanden zum Töten haben, was dem einen recht, sei dem andern billig, und so saßen sie und überlegten, und ich heulte beinahe, so schämte ich mich. Da fiel mir plötzlich Miss Watson ein, und ich bot ihnen die zum Töten an, das leuchtete ihnen ein und alle riefen: »Das geht, die ist recht dazu, Huck kann eintreten!«

Dann nahmen wir Stecknadeln, stachen uns in die Finger und unterzeichneten unsern Namen mit unsrem Herzblut, wie Tom sagte.

»Nun«, meinte jetzt Ben Rogers, »auf was soll unsere Bande sich hauptsächlich verlegen?«

»Auf weiter nichts«, versetzte Tom, »als Raub und Mord und Totschlag!«

»Wen sollen wir denn berauben? Häuser – oder Vieh – oder –«

»Unsinn!« schrie Tom, »das nennt man diebsen und stehlen, nicht rauben und plündern! Wir wollen keine Diebe sein, sondern Räuber! Das ist viel vornehmer! Räuber und Wegelagerer! Wir überfallen die Postkutschen und Wagen auf der Landstraße, mit Masken vor dem Gesicht, und schlagen die Leute tot und nehmen ihnen Uhren und Geld ab!«

»Müssen« wir immer alle tothauen?« »Gewiß, das ist am einfachsten. Ich hab’s auch schon anders gelesen, aber gewöhnlich machen sie’s so. Nur einige schleppt man hie und da in die Höhle und wartet, bis sie ranzioniert Durch Lösegeld befreit, losgekauft. werden!«

»Ranzioniert? Was ist denn das?«

»Das weiß ich selber nicht, aber so hab‘ ich’s gelesen, und so müssen wir’s machen!«

»Ho, ho, das können wir ja nicht, wenn wir nicht wissen, was es ist!«

»Ei zum Henker, wir müssen’s eben! Hab‘ ich dir nicht gesagt, daß ich’s gelesen habe? Willst du’s anders machen, als es in den Büchern steht, und alles untereinanderbringen?«

»Oh, du hast gut reden, Tom Sawyer, aber wie in der Welt sollten wir die Burschen ranzionieren, wenn wir nicht wissen, wie man’s macht? Das möcht‘ ich wissen! Wie zum Beispiel, denkst du dir’s eigentlich?«

»Ich – ich weiß nicht, aber ich denke, wenn wir sie behalten, bis sie ranzioniert sind, so wird das heißen, bis sie tot sind!«

»Das läßt sich hören, das begreife ich, aber warum hast du das nicht gleich gesagt? Natürlich behalten wir sie, bis sie zu Tode ranzioniert sind. Sie werden uns aber genug zu schaffen machen, uns alles wegfressen und dabei immer auskneifen wollen!«

»Wie du schwatzest, Ben! Wie können sie auskneifen, wenn einer immer Wache steht, der bereit ist, sie niederzuschießen, wenn einer nur den Finger krumm macht?«

»Einer, der Wache steht? Das ist gut! Das freut mich! Also soll einer die ganze Nacht dastehen, ohne zu schlafen, und sie bewachen! Das ist eine gräßliche Dummheit. Warum nimmt man da nicht sofort einen Knüttel und ranzioniert sie, sobald sie hierherkommen?«

»Weil’s so nicht in den Büchern steht, darum! Ich frag‘ dich, Ben Rogers, willst du alles den Regeln nach tun oder nicht? Darauf kommt’s an! Ich glaube, die Leute, die die Bücher schreiben, wissen besser, wie man’s macht, als du! Denkst du, sie könnten von dir etwas lernen? Noch lange nicht! Und drum wollen wir die Burschen genauso ranzionieren, wie’s da angegeben ist, und nicht ein bißchen anders!«

»Schon recht, mir liegt nichts dran, ich sage aber, es ist gräßlich dumm so. Sollen wir die Weiber auch töten?«

»Ben Rogers, wenn ich so dumm wäre wie du, hielt ich lieber den Mund! Die Weiber töten! Wer hat je so etwas gehört oder gelesen! Nein, die werden in die Höhle geschleppt, und man ist so höflich und rücksichtsvoll zu ihnen wie man kann. Nach einer Weile verlieben sie sich dann in einen und wollen gar nicht wieder fort.«

»Gut, damit bin ich einverstanden! Ich für mein Teil aber danke. Bald werden wir die ganze Höhle voll Weiber haben und voll Kerle, die auf’s Ranzionieren warten, so daß am Ende kein Platz mehr für die Räuber da sein wird. Ich seh’s schon kommen! Aber mach nur weiter, Tom, ich bin schon still!«

Der kleine Tommy Barnes war inzwischen eingeschlafen, und als sie ihn weckten, fürchtete er sich und weinte und wollte zu seiner Mama und gar kein Räuber mehr sein.

Da neckten sie ihn alle und hießen ihn Mamakind; das machte ihn ganz wild, und er schrie, nun wolle er auch alles sagen und alle Geheimnisse verraten. Da gab ihm Tom fünf Cents, um ihn stille zu machen, und sagte, nun gingen wir alle nach Hause und kämen nächste Woche wieder zusammen und dann wollten wir ein paar Leute berauben und töten.

Ben Rogers sagte, er könne nicht viel loskommen, nur an Sonntagen, und wollte deshalb gleich nächsten Sonntag anfangen. Aber die anderen Jungens meinten, am Sonntag schicke sich so etwas gar nicht, und so ließen wir’s sein. Sie machten aus, so bald wie möglich wieder zusammenzukommen und dann einen Tag zu bestimmen. Hierauf wählten wir noch Tom Sawyer zum Hauptmann und Joe Harper zum Unterhauptmann der Bande und brachen dann nach Hause auf.

Ich kletterte wieder auf’s Schuppendach und von da in meine Kammer, gerade als es anfing Tag zu werden. Meine neuen Kleider waren furchtbar schmutzig und voller Lehm, und ich war hundemüde.

20. Kapitel

Huck bringt das Geld beiseite – Seltsames Versteck – Trauerfeierlichkeiten – Zur Erde bestattet

20. Kapitel

Als nun alle fortgegangen waren, fragte der König Mary Jane, ob sie auch Platz im Hause hätte. Sie antwortete, sie habe ein Fremdenzimmer, das wohl Onkel William benutzen könnte; ihr eigenes Zimmer, das etwas größer sei, würde sie gern ihm überlassen, sie selbst könne ja im Zimmer der Schwester auf einem Feldbett schlafen; oben auf dem Boden sei auch ein kleiner Verschlag mit einer Pritsche darin. Der König meinte, der Verschlag sei gerade recht für seinen Diener – womit er mich meinte.

Mary Jane führte uns hinauf und zeigte allen die Zimmer, die einfach und nett waren. Sie wollte ihre Kleider und andere Sachen aus dem Zimmer räumen, falls sie Onkel Harry im Wege wären, aber er sagte, das sei nicht der Fall. Die Kleider hingen längs der Wand, von einem Kalikovorhang bedeckt, der auf den Boden reichte. Ein alter haariger Koffer stand in einer Ecke, ein Gitarrenkasten in der anderen, und allerlei Kleinigkeiten und Zierat, womit junge Mädchen ihre Zimmer schmücken, lagen und hingen umher. Der König sagte, es sei so viel hübscher und heimischer und sie solle nur nichts verändern.

Am Abend hatten sie ein großes Essen, und viele Männer und Frauen waren dabei. Ich stand hinter den Stühlen des Königs und des Herzogs und wartete den beiden auf; die andern wurden von den Negern bedient. Mary Jane saß oben am Tisch, mit Susan neben sich, und sagte, wie schlecht die Semmeln geraten, und wie die eingemachten Früchte auch nicht ganz nach Wunsch seien, und wie zäh die gebratenen Hühner seien – wie Frauen es gewöhnlich tun, um Komplimente zu fischen. Die Anwesenden wußten wohl, wie ausgezeichnet gut alles war, und wunderten sich und sagten: »Wie fangen Sie es nur an, daß Sie die Semmeln so schön gebräunt bekommen?« und »Wo haben Sie diese herrlichen Früchte her?« und ähnliches Gerede, wie es bei dergleichen Gelegenheiten vorkommt.

Als alles vorbei war, soupierten ich und die Hasenlippe in der Küche von dem, was übrig war, während die andern den Negern aufräumen halfen.

Sobald ich allein war, fing ich an, über die Sache nachzudenken. Ich sagte zu mir: Soll ich heimlich zum Doktor gehen und diese Betrüger entlarven? Nein – das geht nicht. Er könnte verraten, wer’s ihm gesagt, und dann würden mir König und Herzog die Hölle heiß machen. Soll ich insgeheim zu Mary Jane gehen und es ihr sagen? Nein, das wag‘ ich nicht. Ihr Gesicht, ein Blick könnte es ihnen verraten; sie haben das Geld und könnten damit entwischen. Und wenn sie Hilfe herbeiholte, würde ich leicht hineinverwickelt werden. Nein, der einzige Ausweg ist: Ich muß das Geld irgendwie stehlen, und zwar so, daß sie keinen Verdacht auf mich haben. Ich will es stehlen und verstecken, und nach einiger Zeit, wenn ich weit stromab bin, Mary Jane in einem Briefe verraten, wo es versteckt ist. Aber ich muß das heute nacht tun, wenn möglich, denn der Doktor hält sich vielleicht nicht so still, wie’s jetzt scheint, und das könnte die beiden zur schnellen Flucht veranlassen.

Ich hielt es für das beste, die Zimmer gleich zu durchsuchen. Oben war’s dunkel, doch ich fand des Herzogs Zimmer und fing an, mit den Händen herumzufühlen. Da fiel mir jedoch ein, daß es dem König nicht ähnlich sieht, das Geld einem andern anzuvertrauen; also ging ich in sein Zimmer und begann herumzutasten. Doch bald, fand ich, daß ohne Licht nichts auszurichten sei; allein ich wagte nicht, eins anzuzünden. Auf einmal hörte ich Schritte und wollte schnell unters Bett kriechen. Dabei berührte ich den Vorhang, der Mary Janes Kleider bedeckte; dahinter sprang ich und versteckte mich zwischen den Gewändern.

Sie kamen herein und schlossen die Tür. Das erste, was der Herzog tat, war, daß er unters Bett guckte! Dann setzten sie sich, und der König sprach:

»Nun, was ist’s? Mach’s kurz, denn es ist besser, wenn wir da unten mit heulen und trauern, statt hier oben zu bleiben und Gelegenheit zu geben, daß man über uns redet.«

»Dauphin, so höre denn! Mir ist nicht ganz wohl; ich habe keine Ruhe. Der Doktor liegt mir im Kopf. Was hast du für einen Plan? Ich habe eine Idee, und ich glaube, eine gute.«

»Heraus damit, Herzog!«

»Daß wir uns vor drei Uhr morgens hier aus dem Staub machen und stromab gleiten mit dem, was wir haben. Ich bin dafür, uns zu begnügen und zu verschwinden.«

»Was! Nicht den Rest der Erbschaft hier verkaufen? Abzumarschieren wie ein paar Narren und Eigentum im Wert von acht- bis neuntausend Dollar zurücklassen, das mit Schmerzen darauf wartet, eingesackt zu werden? – Und noch dazu gut verkäufliches Zeug!«

Der Herzog murrte und meinte, der Sack Geld sei genug, er wolle nicht noch weiter gehen – und wolle nicht die drei Waisen um alles, was sie hätten, berauben.

»Was du für Zeug redest!« rief der König. »Denen rauben wir doch nichts als das Geld. Die Leute, die das Eigentum kaufen, sind die Verlierenden; denn sobald sich’s zeigt, daß es uns nicht gehörte – was nicht lange dauern wird –, ist der Verkauf ungültig, und das Eigentum fällt an die Erben zurück. Diese Waisen hier erhalten das Haus zurück, und das ist genug für sie; sie sind jung und tüchtig und können sich leicht ihr Brot verdienen. Denen wird’s nicht schlecht gehen. Denk doch nur, es gibt Tausende und Tausende, die es lange nicht so gut haben. Die hier können sich doch wahrhaftig über nichts beklagen.«

Der König schwatzte drauflos, bis der Herzog endlich nachgab; doch er blieb dabei, daß es eine große Torheit sei, um so mehr, als der Doktor mit Entlarvung drohe.

Der König entgegnete: »Doktor oder Teufel! Was scheren wir uns um die? Haben wir nicht alle Toren der Stadt auf unserer Seite? Und ist das nicht genug Majorität?«

Sie wollten eben hinuntergehen, als der Herzog sagte: »Ich glaube nicht, daß wir das Geld an einen guten Ort getan haben.«

Jetzt horchte ich auf, denn ich hatte schon gefürchtet, daß ich keinen Wink bekommen würde.

Da fragte der König: »Warum?«

»Weil Mary Jane von nun an in Trauer gehen wird; der erste Befehl, den die Negerin, die das Zimmer aufräumt, erhält, wird sein, all diese Kleider fortzuschaffen; und meinst du, solch schwarzes Gesindel könne Geld finden, ohne etwas davon beiseite zu schaffen?«

»Hast wieder einmal recht, Herzog«, rief der König; und er kam und krabbelte unter dem Vorhang herum, nur zwei bis drei Fuß von der Stelle, wo ich stand. Ich drückte mich fest an die Wand und hielt still, obgleich ich zitterte. Ich dachte, was wohl die Kerls tun würden, wenn sie mich hier fänden, und versuchte zu überlegen, was ich tun könnte, wenn sie mich entdeckten. Aber der König hatte bereits den Sack und argwöhnte nichts. Nun steckten sie ihn in den Strohsack, der unterm Federbett lag, und schoben ihn tüchtig ins Stroh hinein und sagten, da sei er gut aufgehoben, denn die Schwarzen pufften ja nur das Federbett auf und wendeten den Strohsack nicht öfter als höchstens zweimal im Jahr. Bevor die beiden die Treppe halb hinab waren, hatte ich den Geldsack hervorgezogen. Ich kletterte in meinen Verschlag und versteckte ihn einstweilen dort. Ich nahm mir aber vor, ihn draußen irgendwo zu verbergen, denn, wenn sie ihn vermißten, würden sie ja das ganze Haus durchstöbern. Das wußte ich wohl. Dann legte ich mich in meinen Kleidern auf mein Lager; doch ich konnte nicht schlafen, selbst wenn ich’s gewollt hätte, denn es ließ mir keine Ruhe, meine Arbeit zu beenden. Bald hörte ich König und Herzog kommen, da stand ich flink auf und lauschte, den Kopf an der Leiter, ob was passieren würde. Aber es ereignete sich nichts.

Ich wartete nun lange, bis alles im Hause ganz ruhig war, und schlüpfte dann die Leiter hinab.

Zuerst kroch ich an ihre Türen und horchte; alles schnarchte.

So schlich ich denn auf den Zehen fort und kam glücklich unten an. Nirgends war ein Laut zu hören.

Ich guckte durch eine Spalte der Speisezimmertür und sah, daß die Männer, die die Leichenwacht hielten, alle auf ihren Stühlen eingeschlafen waren. Die Tür, die zum Salon führte, wo der Tote lag, stand offen, und eine Kerze brannte in jedem Zimmer. Ich ging auf dem Vorplatz weiter und fand die andere Salontür ebenfalls offen. Ein Blick überzeugte mich, daß außer Peters Leiche niemand drin war. Ich ging vorüber, fand aber die Haustür verschlossen, und der Schlüssel steckte nicht. In diesem Augenblick hörte ich jemand hinter mir die Treppe herabkommen. Ich sprang in den Salon, sah mich rasch um, und der einzige Platz, wo ich das Säckchen verbergen konnte, war der Sarg. Der Deckel war etwas verschoben, so daß das Gesicht des Toten sichtbar war. Ich steckte das Säckchen flink unter den Deckel, gerade unterhalb der gekreuzten Hände des Toten, bei deren Berührung ich schauderte. Dann huschte ich flink hinter die Tür.

Es war Mary Jane. Sie ging leise zum Sarg, sah hinein und kniete nieder; dann führte sie ihr Schnupftuch an die Augen, und ich sah, daß sie weinte, obwohl ich’s nicht hören konnte und ihr Rücken mir zugewendet war. Ich entwischte. Am Speisezimmer guckte ich wieder durch die Spalten, ob die Wächter mich nicht gesehen hatten. Alles war in Ordnung, sie hatten mich nicht bemerkt.

Ich schlüpfte hinauf ins Bett und fühlte mich sehr niedergeschlagen, weil die Sache, obwohl ich mir soviel Mühe gegeben und soviel Gefahr gelaufen war, so mißlich stand. Ich sagte mir, wenn der Sack nur bliebe, wo er ist, so war‘ schon alles gut; denn sobald wir ein- bis zweihundert Meilen stromab wären, könnte ich Mary schreiben und sie könnte den Sarg wieder ausgraben lassen. So wird’s aber schwerlich kommen, denn vor dem Zuschrauben des Deckels werden sie das Geld finden. Dann kriegt es der König wieder, und man wird es ihm nicht wieder fortschmuggeln. Gern wär‘ ich hinuntergegangen, um den Sack herauszunehmen – doch ich wagte es nicht.

Als ich des Morgens hinunterkam, war das Gastzimmer verschlossen, und die Wächter waren fortgegangen. Niemand war im Hause außer der Familie, Witwe Bartley und unsere Bande. Ich beobachtete ihre Gesichter, um zu sehen, ob sie etwas gemerkt hätten, konnte aber nichts wahrnehmen.

Gegen Mittag kam der Leichenbestatter mit seinen Leuten. Sie setzten den Sarg in die Mitte des Zimmers auf zwei Stühle, stellten die andern Stühle in zwei Reihen auf, wozu sie von den Nachbarn einige borgten, so daß Vorplatz, Salon und Speisezimmer damit voll waren. Ich sah, daß der Sargdeckel wie zuvor lag, doch wagte ich nicht, solange Menschen da waren, ihn aufzuheben.

Allmählich versammelte sich das Volk. Die falschen Onkel und die Mädchen nahmen die Sitze zu Häupten des Sarges ein, und vor Ablauf einer halben Stunde waren die Geladenen gekommen und hatten Platz genommen. Alles war still und feierlich, nur die Mädchen und die zwei Betrüger schluchzten dann und wann, gebeugten Hauptes, ihre Taschentücher vor den Augen.

Sie hatten eine Zimmerorgel geborgt, die ziemlich schadhaft war. Als alles bereit war, setzte sich ein junges Frauenzimmer davor und fing an, daran zu arbeiten. Es klang ziemlich kreischend und verstimmt. Dann fiel die Gemeinde mit Gesang ein. Hierauf erhob sich Pastor Hobsen langsam und feierlich und begann zu reden. Plötzlich brach der furchtbarste Lärm im Keller los, den man sich denken konnte! Es war nur ein Hund, aber er machte einen Heidenlärm und wollte gar nicht enden. Der Pfarrer mußte aufhören zu predigen. Es war sehr störend, und niemand wußte sich zu helfen. Bald jedoch machte der langbeinige Leichenbestatter dem Pfarrer ein Zeichen, als wollte er sagen: Ich werde schon Ruhe schaffen. Dann ging er hinaus, während das Gebell und der Lärm immer ärger wurden. Bald darauf hörten wir einen tüchtigen Krach, der Hund stieß ein schauerliches Geheul aus, dann wurde alles totenstill, und der Pfarrer fuhr in seiner Predigt fort, wo er aufgehört hatte. Nach einer Weile erschien der Leichenbestatter wieder, schlich leise an der Wand entlang, bis er beim Pfarrer war, und rief mit heiserem Ton zu ihm hinüber, indem er den Hals vorstreckte und die Hand über den Mund hielt: »Er hatte eine Ratte!« Diese Auskunft verbreitete unter den Anwesenden sichtlich Befriedigung.

Die Predigt war zweifellos sehr gut, aber heillos lang und ermüdend, und zum Überfluß mußte der König noch etwas von seinem Senf dazutun. Endlich war auch das überstanden, und der Leichenbestatter näherte sich mit einem Schraubenzieher dem Sarg. Mir wurde ganz heiß dabei. Aber er hob den Deckel nicht, schob ihn nur zurecht und schraubte ihn fest. Wissen konnte ich freilich nicht, ob das Geld noch drin war oder nicht. Wie, wenn jemand den Sack insgeheim herausgenommen hatte? Wie sollte ich jetzt wissen, ob ich Mary Jane schreiben mußte oder nicht? Angenommen, sie gräbt den Sarg aus und findet nichts – was würde sie von mir denken? Sie könnten mich vielleicht verfolgen und einsperren; lieber schreibe ich nicht.

Sie begruben ihn, wir kamen heim, und ich beobachtete wieder die Gesichter – ich konnte nicht anders, ich hatte keine Ruhe. Es kam aber nichts dabei heraus.

Der König machte am Abend Besuche, war gegen jedermann sehr liebenswürdig und wurde dadurch noch beliebter. Er deutete an, daß ihn seine Gemeinde in England nicht lange entbehren könne und er sich darum mit der Ordnung der Hinterlassenschaft beeilen müsse, um bald heimreisen zu können. Er bedauerte, daß er solche Eile habe, und den andern tat es auch leid; sie wünschten, er hätte länger bleiben können, doch sahen sie wohl ein, daß das nicht anging. Auch sagte er, daß er und William die Mädchen natürlich mit sich heimnehmen würden; das freute alle, denn die Mädchen würden bei ihren eigenen Verwandten gut aufgehoben sein. Den Mädchen gefiel es auch und freute sie so sehr, daß sie ihren Kummer ganz vergaßen. Sie baten den König, so schnell wie möglich alles zu verkaufen. Die armen Dinger waren so froh und glücklich; mir tat das Herz weh, sie so betört und belogen zu sehen, aber ich konnte nicht helfen.

In der Tat ließ der König sofort das Haus, die Neger und alles Eigentum zur Versteigerung anzeigen; doch konnte auch vorher jedermann aus freier Hand kaufen, was er wünschte.