19. Kapitel

Jim als Araber – Pastor Alexander Blodgett zieht Erkundigungen ein – Neue Pläne – Familien-Trauer– Die Erbschaft – Rührende Großmut

19. Kapitel

Am nächsten Tag, gegen Abend, erblickten wir an jedem der beiden Ufer ein Städtchen, und wir legten an einer kleinen Weideninsel mitten im Strome an. König und Herzog überlegten schon wieder, wie sie wohl die beiden Orte ausbeuten könnten. Da sagte Jim zum Herzog: »Jim hoffen, ihr sein nix lang fort, sein so viel schlimm, zu liegen ganze Tag gebunden in Zelt.« Wir konnten nämlich nichts anderes tun als ihn binden, denn wenn ihn zufällig jemand frei und allein angetroffen hätte, so wäre er sicher für einen entlaufenen Neger gehalten worden. Der Herzog meinte, es sei allerdings beschwerlich für Jim, und versprach, sich zu besinnen, wie es Jim bequemer gemacht werden könnte.

Er war ganz gescheit, dieser Herzog, und kam bald auf einen Gedanken. Er verkleidete Jim als König Lear. Jim mußte ein langes Gardinen-Kalikogewand, eine weiße Roßhaarperücke und einen Bart tragen. Dann nahm er seine Schminke und färbte Jims Gesicht, Hals, Ohren und Hände in fahles Blau, so daß er aussah wie die Leiche eines Ertrunkenen nach neun Tagen, ganz schauderhaft. Dann machte der Herzog aus einer großen Dachschindel ein Schild und schrieb darauf:

Kranker Araber – aber harmlos wenn bei Sinnen

Nachher nagelte er das Schild an eine Stange und steckte sie vier bis fünf Fuß vor dem Zelte auf. Jim war befriedigt. Er meinte, so wäre es viel besser, als Tag für Tag gebunden dazuliegen und bei jedem Geräusch vor Angst zu zittern. Der Herzog sagte ihm, er dürfe sich’s jetzt bequem machen, und wenn irgend jemand sich unnötig um ihn kümmere, solle er nur aus dem Zelt springen, sich etwas unsinnig gebärden und ein- oder zweimal aufheulen wie eine wilde Bestie, dann würden die Leute schnell ausreißen und ihn in Ruhe lassen.

Die beiden Teufelskerle hätten das Nonplusultra gern noch einmal versucht, weil sie beim erstenmal so viel Geld herausgeschlagen hatten, doch sie fürchteten, die Kunde davon könnte sich bereits bis hierher verbreitet haben. Sie konnten über kein Projekt ganz einig werden; da sagte endlich der Herzog, man solle ihn ein bis zwei Stunden ganz in Ruhe lassen, er wolle sein Gehirn anstrengen und zusehen, ob sich mit dem Arkansas-Städtchen nicht doch etwas anstellen ließe. Der König dagegen wollte ohne besonderen Plan das andere Städtchen besuchen, im Vertrauen darauf, daß ihn die Vorsehung auf einen profitablen Weg führe – damit meinte er den Teufel, glaub‘ ich. In dem Ort, wo wir zuletzt angehalten, hatten wir uns alle neue fertige Anzüge gekauft. Der König zog seinen an und hieß mich auch den meinigen anziehen, was ich auch tat.

Des Königs Anzug war ganz schwarz, und er sah darin steif und fein aus. Nie hatte ich geahnt, wie Kleider einen Menschen verändern können. Vorher hatte er wie ein ganz gewöhnlicher Kerl ausgesehen; aber wenn er jetzt seinen neuen weißen Filzhut lüftete und sich mit einem Lächeln verbeugte, sah er so erhaben und gut und fromm aus, daß man hätte glauben können, er sei eben aus der Arche gestiegen und könne der alte Levitikus selbst sein.

Jim reinigte das Kanu, und ich machte meine Ruder zurecht. Etwa drei Meilen oberhalb des Städtchens lag ein großes Dampfboot, das schon zwei Stunden dalag und Fracht einlud.

Da sagte der König: »Zu meinem neuen Anzug würde es wohl besser passen, wenn ich von St. Louis, Cincinnati oder einer andern großen Stadt angereist käme. Also zum Dampfboot hin, Huckleberry; wir wollen auf ihm das Städtchen besuchen.«

Eine Dampfschiffahrt zu machen, das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich gewann das Ufer eine halbe Meile oberhalb des Städtchens, und dann ging’s leicht hinauf, dicht am Ufer im strömungslosen Wasser. Bald kamen wir zu einem netten, harmlos und sehr ländlich aussehenden jungen Burschen, der auf einem Sägeblock saß und sich den Schweiß von der Stirne wischte, denn es war arg warmes Wetter, und er hatte ein paar große Reisesäcke bei sich.

»Fahr ans Land«, befahl der König. Ich tat’s.

»Wohin, mein junger Freund?« redete er den fremden Burschen an.

»Zum Dampfboot; nach Orleans.«

»Steig ein«, sagte der König. »Wart einen Augenblick, mein Diener wird dir bei den Säcken helfen. Spring ‚raus und hilf dem Herrn, Adolfus«, ich merkte, daß er mich meinte.

Nun, ich tat’s, und wir drei fuhren weiter. Der junge Bursche war sehr dankbar und meinte, es sei eine harte Arbeit, bei solcher Hitze sein Gepäck zu tragen. Er fragte den König, wohin er ginge; der sagte, er sei den Fluß herabgekommen und früh morgens im andern Städtchen gelandet, und nun müsse er einige Meilen hinauf, um einen Freund auf seiner Farm zu besuchen.

Der Junge sagte dann: »Als ich Sie zuerst sah, sagte ich zu mir selbst: ›Das ist sicherlich Mr. Wilks, und er kommt nicht mehr zur rechten Zeit.‹ Dann dachte ich aber: ›Nein, er kann’s nicht sein, er würde nicht hier den Fluß heraufrudern.‹ Sie sind’s doch nicht, was?«

»Nein, mein Name ist Blodgett, Alexander Blodgett, Hochwürden Alexander Blodgett – ein Diener des Herrn. Indessen tut es mir doch aufrichtig leid, daß Herr Wilks nicht zur rechten Zeit eingetroffen ist, wenn er dadurch etwas versäumt hat, was ich nicht hoffen will.«

»Nun, die Erbschaft geht ihm nicht verloren, die bekommt er sicher; aber seinen Bruder Peter wird er nun nicht mehr am Leben finden – für den Fall, daß ihm daran gelegen war, was ich nicht wissen kann. Soviel aber weiß ich gewiß, daß sein Bruder sehr viel darum gegeben hätte, ihn vor seinem Ende noch einmal zu sehen; er sprach von nichts anderem die letzten drei Wochen; seit der Knabenzeit hatten sie sich nicht wieder gesehen. Seinen jüngsten Bruder William – ’s ist der Taubstumme, und jetzt erst dreißig bis fünfunddreißig alt – hat er überhaupt nie gesehen. Peter und George waren die einzigen hierzulande; George war verheiratet, aber er und seine Frau starben beide letztes Jahr. Nur Harry und William sind von den Brüdern noch übrig, und sie sind nun leider nicht zur rechten Zeit eingetroffen.«

»Hat man ihnen denn geschrieben?«

»O ja – vor ein bis zwei Monaten, als Peter erkrankte; denn er ahnte schon damals, daß es diesmal mit ihm zu Ende gehen würde. Wissen Sie, er war ziemlich alt und Georges Töchter waren zu jung, um ihm viel Gesellschaft zu leisten, außer Mary Jane, der Rothaarigen. So fühlte er sich recht einsam, nachdem George und seine Frau gestorben waren, und es lag ihm nichts mehr am Leben. Er sehnte sich schrecklich danach, Harry vor seinem Ende zu sehen und auch den William, denn er war einer von denen, die ungern ein Testament machen. So hinterließ er nur einen Brief für Harry, in dem er sagte, wo sein Geld versteckt sei und daß er den Rest seiner Habe so verteilt wünsche, daß Georges Mädchen ein Auskommen hätten; denn ihr Vater George hatte nichts hinterlassen. Zu einem richtigen Testament konnte man Peter Wilks nicht bringen; dieser Brief ist alles.«

»Was meinst du, mag der Grund sein, daß Harry nicht kommt? Wo wohnt er?«

»Oh, er wohnt in England, in Sheffield, predigt dort; er ist nie in diesem Land gewesen. Er mag wenig Zeit haben – und vielleicht hat er den Brief nicht einmal erhalten.«

»Es ist recht traurig, daß Mr. Wilks nicht mehr erleben durfte, seinen Bruder zu sehen, arme Seele! – Du sagst, du gehst nach Orleans?«

»Ja, aber das ist nur ein Teil der Reise, von dort gehe ich in einem Segelschiff nach Rio de Janeiro, wo mein Onkel wohnt.«

»Das ist eine lange Reise, muß aber recht schön sein; ich wollte, ich könnte sie mitmachen. Ist Mary Jane die älteste? Wie alt sind die andern?«

»Mary Jane ist neunzehn, Susan fünfzehn und Joanna etwa vierzehn; das ist die Wohltätige und hat eine Hasenlippe.«

»Die armen Dinger! Nun müssen sie so allein in der kalten Welt bleiben!«

»Nun, sie könnten schlimmer dran sein. Der alte Peter hatte gute Freunde, und die werden schon dafür sorgen, daß ihnen kein Leid geschieht. Da ist Hobsen, der Baptisten-Prediger, und Vorsteher Lot Hovey, und Ben Rucker, und Abner Shackleford, und Levi Bell, der Advokat, und Dr. Robinson und deren Frauen und die Witwe Bartley, und – nun ja, eine ganze Menge; aber mit den Genannten war Peter am intimsten, er schrieb auch zuweilen von ihnen an seinen Bruder, den Pfarrer, und wenn der noch kommt, wird er wissen, an wen er sich zu wenden hat.«

Der Alte fragte und fragte, bis er den Jungen förmlich ausgepumpt hatte. Verdammt, wenn er sich nicht über jeden und alles in dem ganzen Städtchen erkundigte, über alle Wilkse, über Peters Beruf, der ein Gerber gewesen, über Georges, der ein Schreiner gewesen, über Harrys, der, wie wir schon gehört, ein Geistlicher ist, und dergleichen mehr.

Dann sagte er: »Warum wolltest du denn den ganzen Weg bis zum Dampfboot hinaufgehen?«

»Weil das ein großes Orleans-Boot ist und dort vielleicht nicht gehalten hätte. Wenn schwergeladen, halte sie selbst auf ein Signal nicht immer an. Ein Cincinnati-Boot tut es, aber das ist ein St. Louis-Boot.« – »War Peter Wilks wohlhabend?«

»O ja, ziemlich wohlhabend. Er hatte Häuser und Land, und man glaubt, daß er drei- bis viertausend Dollar in Bargeld irgendwo versteckt hielt.«

»Wann sagtest du, daß er gestorben sei?«

»Ich sagte es nicht, aber es war letzte Nacht.«

»Begräbnis wohl morgen?« – »Ja, gegen Mittag.«

»Ach, das ist recht, recht traurig; aber einmal müssen wir alle sterben, der eine früher, der andere später. Drum sollten wir danach trachten, stets zur letzten Reise vorbereitet zu sein. Dann ist alles gut.«

»Ja, Herr, das ist am besten. – Mutter hat’s auch immer gesagt.«

Als wir das Dampfboot erreichten, war es mit Frachteinladen fertig und stieß bald ab. Der König gebot mir aber, noch eine Meile weiter zu rudern an einen einsamen Ort. Dann stieg er ans Land und sagte: »Jetzt rasch zurück und bring mir den Herzog mit und die neuen Reisetaschen. Sollte er ans andere Ufer gegangen sein, so geh hin und hol ihn. Sag ihm, er soll sich so fein wie möglich machen.«

Ich merkte, was er im Schilde führte, sagte aber natürlich kein Wort. Als ich mit dem Herzog zurückkam versteckten wir das Kanu, und sie setzten sich auf einen Holzblock. Der König erzählte ihm alles, gerade wie’s der Bursche erzählt hatte, nichts ließ er aus. Und die ganze Zeit bemühte er sich, wie ein echter Engländer zu sprechen, und tat’s auch ganz gut für solch einen Kerl.

Dann fragte er: »Kannst du die Taubstummenrolle spielen, Sommerfett?«

»Und ob!« rief der Herzog, »hab’s auf den histrionischen Brettern getan.« Sie warteten jetzt nur noch auf ein Dampfschiff.

Während des Nachmittags sahen wir zwei kleine Dampfer, aber sie kamen nicht von weit her; endlich kam ein großes Dampfboot, und wir riefen es an. Ein Kahn wurde uns zugeschickt, und wir gingen an Bord. Das Dampfboot kam von Cincinnati. Als der Kapitän hörte, daß wir nur vier bis fünf Meilen mitreisen wollten, wurde er sehr ärgerlich, fluchte und sagte, er würde uns dort nicht ans Land setzen. Der König blieb aber ruhig und sagte: »Wenn Herren imstande sind, einen Dollar per Meile à Person zu bezahlen, um in einem Kahn geholt und abgesetzt zu werden, so ist wohl auch ein Dampfboot imstande, sie mitzunehmen, nicht wahr!«

Das besänftigte den Kapitän; er war’s zufrieden, und wir wurden bei der Ankunft am Städtchen wieder mit dem Kahn ans Land gesetzt. Etwa zwei Dutzend Männer kamen herbei, als sie den Kahn kommen sahen, und als der König sagte: »Kann irgendeiner der Herren mir sagen, wo Mr. Peter Wilks wohnt?«, da blickten sie einander an und nickten sich zu, als wollten sie sagen: ›Siehst du, was hab‘ ich dir gesagt?‹

Dann sprach einer mit weicher Stimme: »Es tut mir leid, Herr, aber wir können nicht mehr tun, als Sie an die Stelle zu führen, wo er gestern abend noch lebte.«

Plötzlich schien unsern Alten alle Kraft zu verlassen, er fiel gegen den Mann, sank mit seinem Kinn auf dessen Schulter, und weinte ihm seine Tränen den Rücken hinunter.

»Ach, ach«, stöhnte er, »unser armer Bruder – dahin, und wir durften ihn nicht wiedersehn; oh, das ist zu, zu hart!«

Dann wandte er sich um – immer noch schluchzend – und machte allerlei unsinnige Zeichen, und da ließ auch der Herzog die Reisetasche fallen und brach in Tränen aus. Sie waren das niedergeschlagenste Paar, diese zwei Betrüger, das ich je gesehen habe.

Die Männer umgaben und bemitleideten sie und sagten allerlei freundliche Worte, trugen ihre Reisetaschen den Hügel hinauf und blieben stehen, wenn König und Herzog vor Schluchzen nicht mehr weiterkonnten. Sie erzählten dem König alles über seines Bruders letzte Minuten, und der König wiederholte alles mit seinen Händen dem Herzog.

In zwei Minuten wußte es die ganze Stadt, und das Volk kam herbeigerannt von allen Ecken und Enden. Bald waren wir von einer großen Menge umringt, die uns folgte. Fenster und Türen standen voll Menschen, und alle Augenblicke hörte man jemand über den Zaun rufen: »Sind sie’s?«

»Freilich, darauf könnt‘ ihr wetten!« lautete gewöhnlich die Antwort aus der mitlaufenden Menge.

Als wir zum Hause kamen, war die Straße gedrängt voll Menschen, und die drei Mädchen standen in der Tür. Mary Jane war rothaarig, das schadete ihr aber nichts, denn sie war sonst so hübsch, und ihr Gesicht und ihre Augen waren wie verklärt – sie freute sich so, daß ihre Onkel gekommen waren. Der König breitete die Arme aus, und Mary sprang hinein, und die Hasenlippe sprang zum Herzog, und so hatten sie sich. Fast alle, wenigstens die Frauen, weinten vor Freude über dies Wiedersehn und die Freude der Beteiligten.

Dann gab der König dem Herzog einen geheimen Wink – ich sah es –, schaute sich um und erblickte den Sarg in einer Ecke auf zwei Stühlen; dann legten die beiden je einen Arm einander auf die Schulter, bedeckten mit der andern Hand die Augen und schritten langsam und feierlich hinüber. Alle machten ihnen Platz, Gespräch und Geräusch hörten auf, und einige riefen »Sch!« Alle Männer nahmen die Hüte ab und senkten ihre Köpfe. Man hätte in dieser feierlichen Stille eine Stecknadel fallen hören können. Am Sarge angelangt, beugten sich die beiden darüber, warfen einen Blick hinein und fingen dann an so laut zu jammern, daß man sie fast in Orleans hätte hören können. Dann umarmten sie einander, und jeder hing sein Kinn über des andern Schulter, und drei, vielleicht auch vier Minuten lang ließen ihre Augen Wasser fließen wie ich’s nie von zwei Männern gesehen habe. Und die andern machten es ihnen nach. Dann knieten sie auf den entgegengesetzten Seiten des Sarges nieder, legten ihre Köpfe darauf und taten, als ob sie im stillen beteten. Das alles machte einen mächtigen Eindruck auf die Versammlung, und alles sah sich von dem Schmerz der beiden hingerissen und schluchzte laut – die drei armen Mädchen auch, und fast jede Frau ging zu den Mädchen, ohne ein Wort zu sagen, küßte sie feierlich auf die Stirn, legte ihnen die Hand auf den Kopf, sah gen Himmel mit tränenvollen Augen, brach in lautes Schluchzen aus und trat dann beiseite, um der nächsten dieselbe Gelegenheit zu geben.

Darauf trat der König etwas vorwärts und fing an, eine Rede hervorzuschluchzen, voller Tränen und Beteuerungen, was für eine schwere Prüfung für ihn und seinen armen Bruder der Verlust des Dahingeschiedenen sei, besonders da sie ihn nach der langen Reise von viertausend Meilen nicht mehr lebend finden konnten. Aber es sei eine Prüfung, versüßt und geheiligt durch dies schöne Mitgefühl, diese heiligen Tränen, und so danke er allen Anwesenden aus seinem und seines Bruders Herzen, denn mit ihrem Munde könnten sie es nicht, da Worte zu schwach und kalt wären. Und so jammervoll gings weiter, bis es einen anekeln konnte. Dann grölte er ein Amen heraus, und das Heulen ging wieder los.

Kaum hatte er ausgeredet, so intonierte einer der Anwesenden das Ehre sei Gott in der Höhe, und alle fielen kräftig mit ein; das wärmte einem ordentlich das Herz. Musik ist doch ein herrliches Ding; zumal nach einer solchen Rührszene, wo alles so weich wie geschmolzene Butter wurde, wirkte der kernige und ehrliche Gesang ordentlich auffrischend.

Dann setzte der König wieder seine Kinnlade in Bewegung und sagte, wie sehr er und seine Nichten sich freuen würden, wenn einige der nächsten Freunde der Familie zum Abendessen bleiben und nachher mit bei dem Leichnam des Verstorbenen wachen wollten. »Ja«, sagte er, »wenn unser armer Bruder, der jetzt dort liegt, reden könnte, so weiß ich, wen er nennen würde; die Namen, die ihm so lieb waren und die er oft in seinen Briefen nannte, waren folgende: Pastor Hobsen und Vorsteher Lot Hovey und Herr Ben Rucker und Abner Shackleford und Levi Bell und Dr. Robinson und deren Frauen, und Witwe Bartley.«

Pfarrer Hobsen und Dr. Robinson waren am andern Ende der Stadt zusammen auf der Jagd; das heißt, ich meine, der Doktor expedierte einen Kranken ins Jenseits, und der Pfarrer wies ihm den rechten Weg. Advokat Bell war in Geschäften nach Louisville gereist. Aber die übrigen waren bei der Hand, und so kamen sie denn alle und schüttelten dem König die Hände und dankten ihm. Dann reichten sie auch dem Herzog die Hände und sagten nichts, aber sie lächelten ihn freundlich kopfnickend an, während er mit den Händen allerlei Zeichen machte und die ganze Zeit »Gu-gu-gu-gu-gu« schluchzte wie ein Säugling, der noch kein Wort sprechen kann.

Der König plapperte in einem fort und fragte fast nach jedermann im ganzen Städtchen, nannte viele bei Namen, berührte allerlei Kleinigkeiten, die sich im Städtchen und besonders in Georges Familie und an Peter selbst ereignet hatten, und dabei tat er, als ob ihm Peter alles geschrieben hätte. Dieser freche Lügner! Ich brauche nicht zu wiederholen, daß er all das Zeug aus dem jungen Burschen herausgepumpt, den wir im Kanu aufs Dampfboot expediert hatten.

Nun brachte Mary Jane den Brief, den ihr Onkel zurückgelassen hatte, und der König las ihn vor und weinte darüber. Der Verstorbene vermachte sein Wohnhaus und dreitausend Dollar Gold den Mädchen und schenkte die Gerberei, die ein gutes Geschäft war, nebst andern Gebäulichkeiten und Land, alles im Wert von etwa siebentausend Dollar, dazu noch dreitausend Dollar in Gold, Harry und William. Er bezeichnete auch, wo die sechstausend Dollar im Keller versteckt seien. Drauf sagte der Hauptbetrüger, sie wollten gleich gehen und es heraufbringen, damit es in bester Ordnung besorgt würde, und gebot mir, mit einem Lichte mitzukommen. Sie schlossen die Kellertür hinter sich ab, und als sie den Sack fanden, schütteten sie ihn auf die Diele aus – es war ein herrlicher Anblick, all die Goldstücke. Oh, wie leuchteten da des Königs Augen! Er klopfte dem Herzog auf die Schulter und rief: »Gelt, diesmal hat’s aber eingeschlagen! Wer hätte so viel erwartet! Kerl, das geht über’s Nonplusultra!«

Der Herzog stimmte bei. Sie prüften die Goldstücke und ließen sie durch die Finger gleiten und auf der Diele klingen.

Der König sprach: »Das steht fest: Brüder eines reichen Toten und Vertreter ausländischer Erben zu sein, die zurückgeblieben sind, ist jetzt der richtige Beruf für dich und mich, Sommerfett!«

Jeder andere wäre zufrieden gewesen mit einem solchen Haufen Gold; aber nein, sie mußten ihn zählen. Sie taten’s, und es fehlten vierhundertfünfzehn Dollar.

Der König sagte: »Verdammt! Was hat er mit den vierhundertfünfzehn Dollar gemacht?«

Sie grübelten eine Zeitlang und suchten überall herum.

Dann meinte der Herzog: »Er war ja ein recht kranker Mann und hat wohl einen Irrtum begangen – das wird’s wohl sein. Ich meine, es wird am besten sein, wir lassen die Sache auf sich beruhen und sagen nichts davon. Wir können das schon ablassen.«

»Ach, davon ist ja keine Rede – ich denke an etwas anderes. Wir müssen sehr vorsichtig und genau in dieser Sache sein. Wir müssen das Geld hinaufnehmen und in Gegenwart der Anwesenden zählen, damit ja kein Verdacht geschöpft werden kann. Wenn nun der tote Mann da sagt, es sind sechstausend Dollar, dürfen wir nicht…«

»Halt!« rief der Herzog, »wir wollen das Fehlende dazutun«, und er langte eine Handvoll Goldfüchse aus seiner Tasche heraus.

»Das ist eine famose Idee, Herzog! Du hast einen aufgeweckten Kopf auf deinen Schultern«, rief der König. »Da hilft uns die Nonplusultra-Einnahme gut aus«, und auch er langte nun Goldstücke aus seiner Tasche und stellte sie in gezählten Häufchen auf.

Es erschöpfte fast ihre ganze Barschaft, aber es machte die Sechstausend-Summe voll.

»Hör mal«, rief nun der Herzog, »ich hab‘ noch eine andere Idee. Laß uns hinaufgehen, das Geld vorzählen und dann alles miteinander den Mädchen geben.«

»Herzog! Herzog! Laß dich umarmen! Das ist der brillanteste Gedanke, den ein Mensch haben kann. Du bist das erfinderischste Gehirn, das sich denken läßt. Oh, das ist grandios, wahrhaftig. Jetzt soll noch jemand mit Zweifel oder Argwohn kommen, wenn er will – das überzeugt alle.«

Als wir hinaufkamen, sammelten sich alle um den Tisch. Der König zählte und stellte die Goldstücke auf, dreihundert in jedem Häufchen – zwanzig elegante kleine Türmchen. Jedermann sah hungrig und mundwäßrig daraufhin. Dann wurde alles wieder in den Sack getan, und ich sah, wie der König schon wieder zu einer Rede Atem schöpfte.

Er sprach: »Liebe Freunde! Mein armer Bruder, der dort drüben liegt, hat hochherzig an uns gehandelt, die wir hier im Jammertal zurückgeblieben sind; hochherzig an diesen armen lieben Lämmern, die er geliebt und bewacht hat und die, vater- und mutterlos, ihn jetzt entbehren müssen. Ja, und wir, die ihn kannten, wissen, daß er noch mehr für sie getan, wenn er nicht gefürchtet hätte, dadurch seinen teuren William und mich zu schädigen. Oder glaubt ihr nicht? Ich zweifle nicht im mindesten daran. Nun, schlechte Brüder wären es, die zu solcher Zeit an sich selbst dächten, und schlechte Onkel, die zu solcher Zeit diese armen süßen Lämmer, die er so liebte, berauben könnten – ja, berauben, sag‘ ich. Wenn ich William recht kenne – und ich glaube, ich kenne ihn –, würde er… Nun, ich will ihn gleich fragen.« Er wandte sich und begann mit dem Herzog allerlei Zeichen auszutauschen, und der Herzog sah ihn erst eine Zeitlang dumm und dämlich an, dann, als ob ihm plötzlich etwas einleuchtete, sprang er auf den König zu, vor Freude laut gu-gu-end, und umarmte ihn wohl fünfzehnmal hintereinander. Dann sprach der König: »Wußt‘ ich’s doch. Dies wird wohl alle überzeugen, wie er darüber denkt: Hier Mary Jane, Susan, Joanna, nehmt das Geld, nehmt das Ganze. Es ist ein Geschenk von ihm, der dort liegt, kalt, aber selig.«

Dann sprang Mary Jane zu ihm, Susan und die Hasenlippe zum Herzog; solch Umarmen, Ansherzdrücken und Küssen habe ich niemals gesehen. Alle drängten sich herbei, mit Tränen in den Augen, und die meisten schüttelten den zwei Betrügern die Hände mit Redensarten wie: »Ihr lieben, guten Seelen! Wie lieb! Wie konntet ihr das?!«

Dann sprachen sie alle über den Verstorbenen, wie gut er gewesen, was für ein großer Verlust durch seinen Tod entstanden und dergleichen mehr. Bald drängte sich ein großer Kerl zur Tür herein, der Kinnbacken wie aus Eisen hatte. Er stand, hörte und sah zu und sagte nichts, und es redete auch niemand mit ihm, denn der König sprach, und alle hörten ihm zu.

Der König sagte, indem er in seiner Rede fortfuhr: »Das waren die intimsten Freunde des Verstorbenen, darum sind sie für diesen Abend eingeladen; aber morgen, hoffen wir, werden alle kommen, wir erwarten jeden, denn er ehrte jeden und hatte jeden gern, und darum gehört sich’s, daß seine Begräbnis-Orgien recht öffentlich stattfinden.

Und so ging’s fort, denn er hörte sich gern reden. Gelegentlich brachte er immer wieder die Begräbnis-Orgien mit hinein, bis es dem Herzog zuviel wurde und er auf ein Stück Papier schrieb: »Obsequien, du alter Esel«, es zusammenfaltete und es gu-gu-end dem König über die Köpfe der andern hinüberreichte.

Der König las, steckte es in die Tasche und sagte: »Armer William, obwohl tief gebeugt, ist sein Herz doch stets auf dem rechten Fleck. Er wünscht, daß ich jeden bitte, zum Begräbnis zu kommen; sagt, ich solle alle willkommen heißen. Aber er hätte sich darum nicht zu kümmern brauchen, denn ich war ja gerade dabei.«

Dann fuhr er in größter Seelenruhe fort zu salbadern und brachte wieder seine Begräbnis-Orgien hinein, und nachdem er es zum drittenmal getan hatte, rief er: »Ich sage Orgien, nicht weil es das übliche Wort ist, das ist’s nicht, das ist Obsequien, sondern weil Orgien der richtige Ausdruck ist. Obsequien wird in England nicht mehr gebraucht, das ist veraltet. In England sagen wir jetzt Orgien. Orgien ist besser, denn es bezeichnet genauer, was man dabei meint. Das Wort ist zusammengesetzt aus dem griechischen orgo, draußen, außerhalb, im Freien; und dem hebräischen giene, pflanzen, mit Erde bedecken, also beerdigen. So könnt ihr also sehen, daß Begräbnis-Orgien eine offene oder öffentliche Beerdigung bedeutet.«

Es war der frechste Mensch, der mir je vorgekommen ist. Der Mann mit dem eisenähnlichen Kiefer lachte ihm geradezu ins Gesicht. Das wunderte alle, und sie riefen: »Aber Doktor!«, und Abner Shackleford sagte: »Aber Robinson, hast du die Neuigkeit nicht gehört? Das ist Harry Wilks.«

Der König lächelte lauernd, hielt seine Tatze heraus und sprach: »Ist es meines armen Bruders lieber guter Freund und Arzt? Ich…«

»Laß deine Hände von mir!« rief der Doktor. »Du – und sprechen wie ein Engländer? Du? Es ist die erbärmlichste Nachäffung, die ich je gehört habe. Du Peter Wilks‘ Bruder? Du bist ein Betrüger! Nun weißt du, was du bist!«

Ach, wie alle entsetzt waren! Sie drängten sich um den Doktor und suchten ihn zu beruhigen, ihm auseinanderzusetzen, wie Harry auf allerlei Weise gezeigt habe, daß er Harry sei, wie er jeden Namen kannte und sogar die der Hunde, und baten und beschworen ihn, Harry nicht zu nahe zu treten und das Zartgefühl der Mädchen zu schonen und so weiter. Aber es war umsonst, er brauste auf und meinte, jemand, der sich für einen Engländer ausgebe und Englands Lingo Aussprache nicht besser nachmachen könne, als der da, sei ein Betrüger und Lügner. Die armen Mädchen hingen sich an den König und weinten.

Plötzlich wandte sich der Doktor zu ihnen und sagte: »Ich war eures Vaters Freund und ich bin euer Freund, und ich beschwöre euch als Freund, als ein ehrlicher Freund, der euch zu beschützen und Kummer und Unglück von euch abzuwenden sucht, diesem Gauner den Rücken zu kehren, nichts mit ihm zu tun zu haben, diesem unwissenden Landstreicher mit seinem idiotischen Griechisch und Hebräisch, wie er es nennt. Er ist ein fadenscheiniger Betrüger. Kommt her mit einer Masse leerer Namen, die er sich irgendwo zusammengesucht hat, und ihr nehmt sie für Beweise, und eure betrogenen Freunde hier helfen euch, euch selbst zu betrügen – die sollten doch gescheiter sein. Mary Jane Wilks, du kennst mich als deinen Freund, und als einen uneigennützigen Freund. Laß dir raten und diesen erbärmlichen Gauner hinauswerfen. Ich bitte dich, tu es. Wirst du’s tun?«

Mary Jane erhob sich stolz in ihrer ganzen Größe – oh, wie war sie schön! – und sagte: »Hier ist meine Antwort.« Sie hob den Sack Geld auf und legte ihn in des Königs Hände mit den Worten: »Nimm diese sechstausend Dollar und lege das Geld für mich und meine Schwestern an, wie du es für gut hältst, wir brauchen keinen Empfangsschein darüber.«

Dann umschlang sie den König mit ihrem Arm von einer Seite, und Susan und die Hasenlippe taten dasselbe von der andern Seite. Alles klatschte mit den Händen und trommelte stürmisch mit den Füßen auf die Diele, während der König seinen Kopf hoch hielt und stolz lächelte.

Der Doktor rief: »Wohl denn, ich wasche meine Hände in Unschuld. Aber ich sage euch allen, daß die Zeit kommen wird, wo es euch übel zumute ist.«

»Um so besser, Doktor«, rief der König höhnisch, »dann werden sie Euch wohl rufen lassen müssen« – das machte alle lachen, und sie sagten, das sei ein guter Witz.

1. Kapitel

Huck soll sievilisiert werden – Moses in den Schilfern – Miss Watson – Tom Sawyer wartet

1. Kapitel

Da ihr gewiß schon die Abenteuer von Tom Sawyer gelesen habt, so brauche ich mich euch nicht vorzustellen. Jenes Buch hat ein gewisser Mark Twain geschrieben und was drinsteht ist wahr – wenigstens meistenteils. Hie und da hat er etwas dazugedichtet, aber das tut nichts. Ich kenne niemand, der nicht gelegentlich einmal ein bißchen lügen täte, ausgenommen etwa Tante Polly oder die Witwe Douglas oder Mary. Toms Tante Polly und seine Schwester Mary und die Witwe Douglas kommen alle in dem Buche vom Tom Sawyer vor, das wie gesagt, mit wenigen Ausnahmen eine wahre Geschichte ist. – Am Ende von dieser Geschichte wird erzählt, wie Tom und ich das Geld fanden, das die Räuber in der Höhle verborgen hatten, wodurch wir nachher sehr reich wurden. Jeder von uns bekam sechstausend Dollars, lauter Gold. Es war ein großartiger Anblick, als wir das Geld auf einem Haufen liegen sahen. Kreisrichter Thatcher bewahrte meinen Teil auf und legte ihn auf Zinsen an, die jeden Tag einen Dollar für mich ausmachen. Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich mit dem vielen Geld anfangen soll. Die Witwe Douglas nahm mich als Sohn an und will versuchen, mich zu sievilisieren wie sie sagt. Das schmeckt mir aber schlecht, kann ich euch sagen, das Leben wird mir furchtbar sauer in dem Hause mit der abscheulichen Regelmäßigkeit, wo immer um dieselbe Zeit gegessen und geschlafen werden soll, einen Tag wie den andern. Einmal bin ich auch schon durchgebrannt, bin in meine alten Lumpen gekrochen, und – hast du nicht gesehen, war ich draußen im Wald und in der Freiheit. Tom Sawyer aber, mein alter Freund Tom, spürte mich wieder auf, versprach, er wolle eine Räuberbande gründen und ich solle Mitglied werden, wenn ich noch einmal zu der Witwe zurückkehre und mich weiter ›sievilisieren‹ lasse. Da tat ich’s denn.

Die Witwe vergoß Tränen, als ich mich wieder einstellte, nannte mich ein armes, verirrtes Schaf und sonst noch allerlei, womit sie aber nichts Schlimmes meinte. Sie steckte mich wieder in die neuen Kleider, in denen es mir immer ganz eng und schwül wird. Überhaupt ging’s nun vorwärts im alten Trab. Wenn die Witwe die Glocke läutete, mußte man zum Essen kommen. Saß man dann glücklich am Tisch, so konnte man nicht flott drauflos an die Arbeit gehen, Gott bewahre, da mußte man abwarten bis die Witwe den Kopf zwischen die Schultern gezogen und ein bißchen was vor sich hingemurmelt hatte. Damit wollte sie aber nichts über die Speisen sagen, o nein, die waren ganz gut soweit, nur mißfiel mir, daß alles besonders gekocht war und nicht Fleisch, Gemüse und Suppe alles durcheinander. Eigentlich mag ich das viel lieber, da kriegt man so einen tüchtigen Mund voll Brühe dabei und die hilft alles glatt hinunterspülen. Na, das ist Geschmacksache!

Nach dem Essen zog sie dann ein Buch heraus und las mir von Moses in den Schilfern vor und ich brannte drauf, alles von dem armen kleinen Kerl zu hören. Da, mit einemmal sagte sie, der sei schon eine ganze Weile tot. Na, da war ich aber böse und wollte nichts weiter wissen – was gehen mich tote und begrabene Leute an? Die interessieren mich nicht mehr! –

Dann hätt‘ ich gern einmal wieder geraucht und fragte die Witwe, ob ich’s dürfe. Da kam ich aber gut an! Sie sagte, das gehöre sich nicht für mich und sei überhaupt »eine gemeine und unsaubere Gewohnheit«, an die ich nicht mehr denken dürfe. So sind nun die Menschen! Sprechen über etwas, das sie gar nicht verstehen! Quält mich die Frau mit dem Moses, der sie weiter gar nichts angeht, der nicht einmal verwandt mit ihr war und mit dem jetzt nichts mehr anzufangen ist, und verbietet mir das Rauchen, das doch gewiß gar nicht so übel ist. Na, und dabei schnupft sie, aber das ist natürlich ganz was andres und kein Fehler, weil sie’s eben selbst tut.

Ihre Schwester, Miss Watson, eine ziemlich dürre, alte Jungfer, die gerade zu ihr gezogen war, machte nun einen Angriff auf mich, mit einem Lesebuch bewaffnet. Eine Stunde lang mußte ich ihr standhalten und dann löste sie die Witwe mit ihrem Moses wieder ab, und ich war nun sozusagen zwischen zwei Feuern. Lange konnte das nicht so weitergehen, und es trat denn auch glücklicherweise bald eine Stunde Pause ein. Nun langweilte ich mich aber schrecklich und wurde ganz unruhig. Alsbald begann Miss Watson: »Halt doch die Füße ruhig, Huckleberry«, oder »willst du keinen solchen Buckel machen, Huckleberry, sitz doch gerade!« und dann wieder »so recke dich doch nicht so, Huckleberry, und gähne nicht, als wolltest du die Welt verschlingen, wirst du denn nie Manieren lernen?«, und so schalt sie weiter bis ich ganz wild wurde. Dann fing sie an, mir von dem Ort zu erzählen, an den die bösen Menschen kommen, worauf ich sagte, ich wünschte mich auch dahin. Da wurde sie böse und zeterte gewaltig, so schlimm hatte ich’s aber gar nicht gemeint, ich wäre nur gern fortgewesen von ihr, irgendwo, der Ort war mir ganz einerlei, ich bin überhaupt nie sehr wählerisch. Sie aber lärmte weiter und sagte, ich sei ein böser Junge, wenn ich so etwas sagen könne, sie würde das nicht um die Welt über die Lippen bringen, ihr Leben solle so sein, daß sie dermaleinst mit Freuden in den Himmel fahre. Der Ort, mit ihr zusammen, schien mir nun gar nicht verlockend, und ich beschloß bei mir, das meinige zu tun, um nicht mit ihr zusammenzutreffen. Sagen tat ich aber nichts, das hätte die Sache nur schlimmer gemacht und doch nichts geholfen.

Sie war aber nun einmal am Himmel, dem Ort der Glückseligen, wie sie’s nannte, angelangt und teilte mir alles mit, was sie drüber wußte. Sie sagte, alles was man dort zu tun habe, sei, den ganzen Tag lang mit einer Harfe herumzumarschieren und dazu zu singen immer und ewig. Das leuchtete mir nun gar nicht ein, ich schwieg aber und fragte nur, ob sie meine, mein Freund Tom Sawyer werde auch dort hinkommen, was sie ziemlich bestimmt verneinte. Mich freute das nicht wenig, denn Tom und ich, wir beide müssen beisammen bleiben.

Miss Watson predigte immer weiter, und mir wurde dabei ganz elend zumute. Dann kamen die Nigger herein, es wurde gebetet, und jedermann ging zu Bett. Ich auch. Ich stieg mit meinem Stummel Kerze in mein Zimmer hinauf und stellte das Licht auf den Tisch. Dann setzte ich mich auf einen Stuhl vors Fenster und probierte, an etwas Lustiges zu denken. Das nützte aber wenig. Ich fühlte mich so allein, daß ich wünschte, ich wäre tot. Die Sterne glitzerten und blitzten, und die Blätter rauschten so schaurig auf den Bäumen. Ich hörte aus der Ferne eine Eule, deren Schrei jemandes Tod bedeutete, und dann einen Hund, dessen klägliches Geheul verkündete, daß einer im Sterben liege, und der Wind schien mir etwas klagen zu wollen, was ich nicht verstand, so daß ich bald am ganzen Leibe zitterte und mir der kalte Schweiß auf die Stirne trat. Die ganze Nacht schien von lauter armen, unglücklichen Geistern belebt, die keine Ruhe in ihren Gräbern fanden und nun da draußen herumheulten, jammerten und zähneklapperten. Mir wurde heiß und kalt, und ich hätte alles drum gegeben, wenn jemand bei mir gewesen wäre. Da kroch mir auch noch eine Spinne über die linke Schulter, ich schnellte sie weg und gerade ins Licht, und ehe ich noch zuspringen konnte, war sie verbrannt. Daß das ein schlimmes Zeichen ist, weiß jedes Kind, und mir schlotterten die Knie, als ich nun begann meine Kleider abzuwerfen. Ich drehte mich dreimal um mich selbst und schlug mich dabei jedesmal an die Brust, nahm dann einen Faden und band mir ein Büschel Haare zusammen, um die bösen Geister fernzuhalten; doch hatte ich kein großes Vertrauen zu diesen Mitteln. Sie nützen wohl, wenn man ein gefundenes Hufeisen wieder verliert, anstatt es über der Türe anzunageln, oder bei dergleichen kleineren Fällen; wenn man aber eine Spinne getötet hat, da weiß ich nicht, was man tun kann, um das Unglück fernzuhalten. So setzte ich mich zitternd auf den Bettrand und zündete mir zur Beruhigung mein Pfeifchen an. Das Haus war so still und die Witwe nicht in meiner Nähe. So saß ich lange, lange. Da schlug die Uhr von der Ferne – bum – bum – bum – bum, zwölfmal, und wieder war alles still, stiller als vorher. Plötzlich höre ich etwas unten im Garten unter den Bäumen, ein Rascheln und Knacken, ich halte den Atem an und lausche. Wieder hör‘ ich’s, und dabei, leise wie ein Hauch, das schwächste ›Miau‹ einer Katze. »Miau, miau« tönt’s kläglich und langgezogen. Und »miau, miau« antworte ich ebenso kläglich, ebenso leise, schlüpfe rasch in meine Kleider, lösche das Licht aus und steige durch das Fenster auf das Schuppendach. Dann lasse ich mich zu Boden gleiten, krieche auf allen vieren nach den Schatten der Bäume, und da war richtig und leibhaftig Tom Sawyer, mein alter Tom, und wartete auf mich.

10. Kapitel

Der Fund – Vater Bunker – Verkleidet

10. Kapitel

Nach dem Frühstück hätte ich gern unsere Erlebnisse besprochen und begann von dem Toten, den wir in der schwimmenden Hütte gefunden; Jim aber wollte nicht drauf eingehen, weil das Unglück bringe. Auch meinte er, der Geist des Toten könne uns erscheinen, denn einer, der nicht begraben sei, treibe sich noch viel leichter um als einer, der zufrieden und behaglich in der Erde liege. Das schien mir soweit vernünftig, und so bestand ich nicht weiter drauf, die Sache zu besprechen, zerbrach mir aber im stillen den Kopf, wer wohl den Mann erschossen habe und warum sie es getan.

Dann untersuchten wir die alten Lumpen von Kleidern, die wir uns mitgenommen hatten, und fanden in dem zerrissenen Futter eines alten Überziehers acht Dollar in Silber eingenäht. Jim meinte, die Leute in jenem Hause hätten gewiß den Rock gestohlen, denn wenn sie etwas vom Geld gewußt, hätten sie es wohl nicht so freundlich hinterlassen. Ich dachte mir, der Rock habe gewiß dem Toten gehört, aber da mich Jim gewarnt hatte, wollte ich nicht länger mehr darüber sprechen.

Etwas aber mußte ich ihn doch fragen: »Jim, du sagst, es bringt Unglück, wenn man von den Toten spricht, aber das nämliche hast du auch behauptet, als ich neulich die Schlangenhaut fand und anrührte. Da hast du gemeint, das sei das Schlimmste, was man tun könne. Siehst du nun das furchtbare Unglück, das es uns gebracht hat? Wir haben acht Dollar und dazu diesen ganzen Kram erobert. Hätten wir doch jeden Tag solch ein Unglück, Jim!«

»Du nix sein so sicher, Huck, nix sein so sicher. Dich nix machen mausig. Es schon kommen! Jim dir sagen: Es schon kommen!«

Und es kam wirklich. Am Dienstag war’s, daß wir uns so drüber unterhielten. Am Freitag darauf, nach dem Mittagessen, lagen wir oben auf dem Hügel im Gras und schmauchten unser Pfeifchen. Der Tabak war uns ausgegangen, und ich lief zur Höhle, um welchen zu holen, und entdeckte dort plötzlich eine Klapperschlange. Ich nicht faul, hau‘ ihr eins über den Kopf, daß sie das Aufstehen vergißt, nehm‘ sie dann und lege sie so natürlich wie möglich zusammengerollt unten auf Jims Lager; ich wollt‘ ihn einmal tüchtig erschrecken und ordentlich auslachen hinterher. Am Abend hatte ich jedoch alles wieder vergessen, und als wir zur Höhle kamen und Jim sich auf seine Decke ausstreckte, während ich Licht machte, wurde er von dem Weibchen der toten Schlange, das am Nachmittag herzugekrochen war, gebissen.

Brüllend sprang er auf, und das erste, was wir beim Lichte sahen, war das Schlangenvieh, wie’s den Kopf bedrohlich erhob und sich eben zu einem zweiten Biß anschicken wollte. Im nächsten Moment hatte ich mit einem Knüppel das Biest seinem Kameraden nachgesandt, während Jim meines Alten Branntweinkrug zu fassen kriegte und den Inhalt hastig hinunterzustürzen begann.

Er war barfuß, und die Schlange hatte ihn gerade in die Ferse gebissen. Das war nun ganz allein meine Schuld. Jedes Kind weiß, daß, wo man eine, tote Schlange liegen läßt, sich deren Gefährte unfehlbar nach kurzer Zeit einstellt, um sich um den toten Kameraden zu ringeln, und ich Dummkopf mußte das vergessen. Jim hieß mich der Schlange den Kopf abhacken, denselben wegwerfen, dann die Haut abziehen und ein Stück vom Fleische rösten. Ich tat’s, und er aß es und sagte es werde ihm helfen. Auch die Klappern mußte ich loslösen und sie ihm ums Handgelenk binden, das sei auch ein gutes Mittel, sagte er. Dann schlich ich mich leise hinaus und warf die Schlangen in die Büsche; Jim durfte nicht dahinterkommen, daß ich der Anstifter von all dem Unheil war, wenn ich’s irgendwie verhindern konnte.

Jim saugte und saugte an dem Branntweinkrug wie ein Kind an seiner Milchflasche, hie und da kam’s über ihn, und er tanzte wie besessen auf einem Bein herum und brüllte fürchterlich dazu, jedesmal aber, wenn er wieder zu sich kam, machte er sich aufs neue an den Schnaps. Sein Fuß schwoll dick an, ebenso das Bein, aber allmählich stellte sich ein ordentlicher, regelrechter Rausch ein, und ich dachte, nun sei er gerettet. Ich hätte lieber selbst für den Biß gebüßt, als des Alten Branntwein so herhalten sehen zu müssen.

Vier Tage und vier Nächte mußte Jim auf seinem Lager aushalten, dann war die Geschwulst wieder vergangen, und er war wieder heil und gesund. Ich schwor mir, nie wieder eine Schlangenhaut anzurühren, ich hatte genug an den Folgen vom letztenmal. Jim meinte, ein andermal würde ich wohl gleich auf ihn hören und ihn nicht wieder auslachen. Und das will ich auch, weiß Gott! Dann sagte er, er sei immer noch nicht überzeugt, daß wir ganz über die schlimmen Folgen hinaus seien. Er wolle lieber tausendmal über seine linke Schulter in den Neumond sehen, denn das sei nicht halb so gefährlich, wie die Berührung einer Schlangenhaut. Davon war ich jetzt beinahe selbst überzeugt, obgleich ich bis dahin das erstere für das Schlimmste und das Dümmste gehalten hatte, was der Mensch tun könne. Der alte Vater Bunker, wie er in der Stadt hieß, hatte es einmal getan, und es war ihm schrecklich übel bekommen, denn beinahe zwei Jahre danach war er im Rausch vom Kirchturm gestürzt und war unten beim Auffallen flach wie ein Pfannkuchen geworden, so daß sie ihn, statt im Sarge, zwischen zwei alten Stalltüren begraben mußten – so wurde wenigstens erzählt, ich bin nicht dabeigewesen. Mein Alter hat noch oft davon gesprochen und daß alles nur daher gekommen sei, weil Vater Bunker einmal unvorsichtigerweise über die linke Schulter in den Neumond gesehen. Der alte Narr, der er war!

Die Tage verstrichen, und der Strom trat wieder in seine Ufer zurück. Wir wußten nichts Eiligeres zu tun, als einem Kaninchen die Haut abzuziehen, es als Köder auf einem der großen Fischhaken zu befestigen, die wir mit den andern Sachen im schwimmenden Haus gefunden hatten, und die Leine auszuwerfen. Wir fingen damit auch wirklich einen Katzenfisch, der seinesgleichen suchte. Er war groß und schwer wie ein Mensch, sechs Fuß lang und wog zweihundert Pfund. Wir konnten ihn natürlich nicht ans Ufer ziehen, der hätte uns quer übers Wasser nach Illinois hinübergerissen, und so saßen wir und warteten geduldig, bis er sich zu Tode gezappelt hatte. Es war wohl der größte Fisch, der je im Mississippi gefunden wurde; Jim wenigstens sagte, er habe nie einen größeren gesehen. Was der drüben in der Stadt wert gewesen wäre! Da hätte man das Fleisch pfundweise verkaufen können; es ist so schneeweiß und schmeckt so gut, besonders gebacken.

Am andern Morgen war es mir gar so traurig und langweilig zumute, und ich überlegte mir, was ich anstellen könnte, um mich wieder ein bißchen aufzurappeln. Da fiel mir ein, daß ich ja einmal ein wenig ans Land übersetzen und sehen könnte, was dort los sei. Jim gefiel der Plan, nur riet er, ruhig zu warten, bis es dunkel zu werden beginne, und empfahl mir, überhaupt sehr vorsichtig zu sein. Nach einigem Besinnen meinte er, ob ich mich nicht mit den Frauenkleidern und Hüten, die wir erbeutet, vielleicht als Mädchen, verkleiden könnte. Das war mal wieder eine gute Idee! Wir machten also einen der Röcke kürzer, dann schlug ich meine Hosen übers Knie hinauf und schlüpfte in den Rock hinein. Jim hakte ihn hinten ein, und er paßte wundervoll. Dann nahm ich einen der Hüte, einen alten Kapotthut mit riesigen Scheuledern nach vorn, und band ihn unterm Kinn zusammen. Wer nun mein Gesicht sehen wollte, mußte sich große Mühe geben, um es im Hintergrund der Ofenröhre erblicken zu können. Jim meinte, kein Sterbensmensch könne mich so erkennen, selbst bei Tageslicht nicht. Den ganzen Tag lang übte ich mich in dem ungewohnten Anzug und war am Abend so ziemlich damit vertraut, nur tadelte Jim, daß ich gar nicht zierlich wie ein Mädchen gehe und auch immer den Rock aufhebe, um an meine Hosentaschen zu gelangen. Das ließ ich mir gesagt sein und suchte es besser zu machen.

So nahm ich denn mein Boot und begab mich gegen Abend auf den Weg zur Stadt, kreuzte die Fähre und trieb am Ufer entlang bis zu den ersten Häusern. In einer kleinen Hütte, die ich kannte und die, wie ich wußte, lange leer gestanden hatte, brannte ein Licht. Ich war neugierig, wer sich wohl da einquartiert haben könnte. So schlich ich zum Fenster und spähte hinein. Eine Frau von vielleicht vierzig Jahren saß vor einem Talglicht und strickte. Ihr Gesicht war mir unbekannt, sie mußte fremd sein in der Gegend, denn auf Meilen in die Runde gab’s niemand, den ich nicht gekannt hätte. Das fremde Gesicht war nun ein Glückszufall, denn mir war mittlerweile das Herz in die Stiefel gefallen; ich hatte schon befürchtet, ich könne erkannt werden, und bereute das ganze Abenteuer. Selbst meine Stimme konnte mich verraten und zur Entdeckung führen. Der Fremden gegenüber brauchte ich nun aber gar keine Angst zu haben, und hielt sich die Frau auch nur seit zwei Tagen in dem kleinen Städtchen auf, so konnte sie mir so gut Auskunft geben über alles, was ich zu wissen wünschte, wie sonst jemand. So klopfte ich denn an die Tür und nahm mir fest vor, ja nicht zu vergessen, daß ich ein Mädchen sei.

11. Kapitel

Huck und die Frau – Nachforschungen – Ausflüchte »Ich will nach Goshen!« – »Jim, Jim, sie sind hinter uns her!«

11. Kapitel

»Herein!« rief die Frau, und ich trat hinein.

Sie beginnt: »Nimm ’nen Stuhl!«

Ich tat’s. Sie betrachtet mich aufmerksam von oben bis unten mit ihren kleinen, glänzenden Äuglein und fragt dann: »Wie heißt du denn?«

»Sarah Williams!«

»Wo wohnst du? Hier in der Gegend?«

»O nein, in Hookerville, sieben Meilen von hier. Ich bin den ganzen Weg zu Fuß gegangen und halb tot vor Müdigkeit!«

»Gewiß auch hungrig! Wart, ich hol‘ dir was!«

»Nein, hungrig bin ich nicht, ich war’s aber so schrecklich, daß ich zwei Stunden von hier auf einer Farm die Leute um Essen bat, und deshalb bin ich auch so spät dran. Meine Mutter ist krank und hat kein Geld und nichts, und ich soll zu meinem Onkel Abner Moore und es ihm sagen. Er wohnt am andern Ende der Stadt, sagt Mutter. Ich bin noch nie hier gewesen. Kennen Sie ihn?«

»Nein! Aber ich bin auch erst vierzehn Tage hier und kann noch nicht jedermann kennen. Es ist aber ein weiter Weg bis ans andere Ende der Stadt. Du bleibst am besten die Nacht über bei uns. Nimm doch deinen Hut ab!«

»Nein, danke«, sag‘ ich, »ich will nur ein Weilchen ausruhen und dann wieder weitergehen. Ich fürchte mich nicht im Dunkeln!«

Sie sagte, allein ließe sie mich auf keinen Fall gehen, ihr Mann käme bald nach Hause und der solle mich begleiten. Dann erzählte sie von ihrem Mann und von ihren Verwandten stromauf- und stromabwärts, und wie es ihnen früher so viel besser ergangen und ob es nicht vielleicht eine Torheit gewesen, hierher zu kommen, anstatt zu bleiben wo sie waren, und so weiter und so weiter, bis ich dachte, ich hätte eine Dummheit gemacht, zu ihr zu kommen, um Neues aus der Stadt zu erfahren. Allmählich aber kam sie ins richtige Fahrwasser und fing von meinem Alten und dem Morde an; ich ließ sie weiterschwatzen, solange es ihr behagte. Sie erzählte von mir und von Tom Sawyer, wie wir die sechstausend Dollars gefunden – nur waren’s bei ihr zehntausend geworden –, von meinem Alten, was er für ein Lump sei, und was für ein Lump ich gewesen, und nach und nach war sie bis zu meinem Mord vorgerückt. Da frag‘ ich: »Wer hat’s denn eigentlich getan? Von dem Mord haben wir auch in Hookerville gehört, aber nicht, wer’s getan hat!«

»Na, da geht’s euch gerade wie allen hier! Wie viele würden was drum geben, wenn sie wüßten, wer’s getan hat. Manche glauben, der alte Finn sei’s selbst gewesen!«

»Nein! Wahrhaftig?«

»Fast alle glaubten’s zuerst. Der wird wohl nie erfahren, wie dicht am Galgen er vorbeigestreift ist, der Lump! Noch vor Nacht aber änderte sich die Meinung der Leute, und man hatte nun einen durchgebrannten Nigger namens Jim im Verdacht!«

»Was, der war ja …«

Ich schnappte nach Luft und dachte, ich will lieber still sein. Sie hatte gar nichts gemerkt und fuhr ruhig fort: »Ja, der Nigger war in derselben Nacht durchgebrannt, in der Huck Finn ermordet wurde. Man hat eine Belohnung auf seinen Kopf gesetzt – dreihundert Dollar. Auch für die Auffindung des alten Finn ist eine Belohnung von zweihundert Dollar ausgesetzt worden. Der war am Morgen nach dem Mord in die Stadt gekommen, um Anzeige zu machen, war auch mit den Leuten auf dem Boot, um den Leichnam zu suchen, gleich danach aber war er verschwunden, und als am Abend die Leute sich soweit klar waren, daß sie ihn hängen wollten, war er nirgends mehr zu finden. Am andern Tag kam dann heraus, daß auch der Nigger fehle und daß der gerade in der Mordnacht um zehn Uhr zum letztenmal gesehen worden sei. Jetzt fiel der Verdacht auf den, und am selben Tag kam auch der alte Finn zurück und plagte Kreisrichter Thatcher, ihm Geld zu geben, daß er den Nigger, dem elenden Mörder, nachsetzen könne. Der gab ihm ein paar Dollars, und am Abend hatte er einen tüchtigen Rausch und randalierte in den Straßen herum mit noch zwei anderen Strolchen, die recht gerieben aussahen. Mit denen ging er auch schließlich davon. Seitdem ist er nicht wieder gesehen worden, und niemand sehnt sich nach ihm, denn nun ist wieder alles fest davon überzeugt, daß er seinen Jungen selbst getötet und dann alles so zurechtgemacht hat, als seien es fremde Mörder gewesen, nur um den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Er dachte dadurch viel schneller das Geld seines Sohnes ausgeliefert zu bekommen, als wenn er den langweiligen Prozeß abwarten müßte. Man traut ihm alles zu, dem schlechten Kerl! Oh, der ist schlau! Wenn er sich jetzt ein Jahr lang fern hält, wird alles verblasen sein. Beweisen kann man ihm ja nichts, und er kann dann mit der größten Leichtigkeit Hucks Erbschaft antreten.«

»Natürlich, dann hindert ihn nichts mehr dran, das sag‘ ich auch. Der Schuft! Auf den Nigger hat man also gar keinen Verdacht mehr?«

»Ei freilich, aber so ganz sicher ist man doch nicht. Na, den werden sie bald wieder haben und es dann schon aus ihm herauspressen!«

»Was, sind sie denn hinter ihm her?«

»Na, du bist aber gut! Dreihundert Dollars läßt man doch nicht so mir nichts dir nichts auf der Straße liegen. Weit kann er ja auch noch gar nicht sein. Das sagen viele, und ich gehöre zu denen. Sprech‘ ich da vor ein paar Tagen mit einem alten Pärchen, das gleich da vorn in der kleinen Blockhütte wohnt. Die erzählten mir, die Insel da draußen im Strom sei ganz unbewohnt, da komme nie jemand hin. Denk‘ ich, du willst doch blind werden, wenn du nicht vor ein paar Tagen dort Rauch gesehen hast; wer weiß, ob da nicht der Nigger steckt? Seitdem hatt‘ ich nichts wieder gesehen, vielleicht war er also schon weiter. Sagen tat ich aber nichts, sondern denk‘: Wart’st bis dein Alter kommt. Der war nämlich vor ein paar Tagen mit einem Freunde stromaufwärts gegangen und ist erst vorhin, vor zwei Stunden, wiedergekommen. Da hab‘ ich ihm gesagt, was ich weiß und was ich denke, und nun will er mit noch einem hinüber und nachsehen!«

Mir war’s, als säß‘ ich auf heißen Kohlen. Ich rutschte hin und her und mußte mir was zu schaffen machen. Ich nehm‘ also eine Nadel vom Tisch und probier‘, sie einzufädeln. Aber meine Hände zitterten in einem fort, und ich konnte nicht damit fertig werden. Plötzlich hört die Frau zu reden auf, und als ich aufblicke, bemerke ich, wie sie mir immerfort zusieht und dabei so sonderbar vor sich hingrinst. Ich leg‘ Nadel und Faden weg und tu‘, als hätt‘ ich nur noch Sinn für die Geschichte, die mich auch wirklich interessierte, und frage: »Weiß Gott, dreihundert Dollar ist ein ordentlicher Klumpen Geld. Wollt‘, meine Mutter hätt’s. Geht Euer Mann noch heute nacht hinaus?«

»Versteht sich, so was muß schnell getan werden oder gar nicht. Er ist nur noch in die Stadt, um sich ein Boot und eine Flinte zu leihen! Ich glaub‘, nach Mitternacht wollen sie ausziehen!«

»Könnten sie denn am Tag nicht besser sehen?«

»O du liebe Unschuld, du! Denkst du, der Nigger sei am Tage blind? Nein, nein! Jetzt in der Nacht schläft er sicher, und die Männer können sich um so besser durch den Wald schleichen und ihn bei seinem Lagerfeuer überraschen – wenn er eins hat, heißt das!«

»Ach natürlich! Daran hab‘ ich gar nicht gedacht!«

Ich fühlte, daß die Frau mich immerzu ganz merkwürdig anstarrte, und mir war gar nicht wohl in meiner Haut. Auf einmal fragte sie: »Wie hast du doch gesagt, daß du heißt?«

»M – Mary Williams!«

Mir war’s, als hätt‘ ich vorhin nicht Mary gesagt, ob’s aber Sarah oder sonst ein Name gewesen, das wußte ich nicht mehr genau, und so wagte ich in meiner Verlegenheit kaum aufzublicken. Ich fühlte mich barbarisch in die Enge getrieben und sah sicherlich auch so aus. Hätte doch die Frau in Kuckucks Namen wenigstens etwas gesagt, aber sie saß da und starrte mich an und brachte mich beinahe zur Verzweiflung.

Spricht sie endlich ganz honigsüß: »Ei, ei, Liebchen, ich dachte, du hättest Sarah gesagt, als du vorhin kamst. Wie ist denn das?«

»Ganz recht, natürlich, Sarah Mary Williams. Sarah heiße ich ebenfalls. Man ruft mich einmal Sarah und einmal Mary, mir ist’s ganz einerlei!«

»Ach, so ist’s? Na natürlich!« Sie lachte vor sich hin.

Ich fühlte mich etwas weniger unbehaglich, wünschte aber doch zu Gott, glücklich mit heiler Haut aus der Klemme zu sein. Aufstehen mochte ich noch immer nicht.

Dann fing die Frau an zu klagen, wie schlecht die Zeiten seien und wieviel besser sie’s früher gehabt. Wie sie jetzt so kümmerlich leben müßten und wie die Ratten sie hier plagten, als seien sie Herren im Hause, und so ging’s fort, bis ich wieder ganz beruhigt war. Sie war immer noch an den Ratten. Hie und da konnte man sehen, wie eine ihre Nase aus einem Loch in der Ecke des Zimmers streckte. Die Frau erzählte, wie sie immer etwas zur Hand habe, um’s nach den frechen Geschöpfen zu werfen, wenn sie allein sei, sonst hätte sie keine leibliche Ruhe mehr. Sie zeigte mir einen Klumpen Blei, der in einer Schlinge befestigt war, und damit warf sie nach den Ratten und sagte, sie sei für gewöhnlich ein guter Schütze, habe aber eben ihren Arm verstaucht und wisse nicht, ob sie richtig zielen könne. Sie probierte es zwar, verfehlte aber das Ziel um einen Meter, schrie »autsch«, rieb sich den Arm und bat mich, es das nächstemal zu tun. Ich wäre nun für mein Leben gern weg gewesen, ehe ihr Mann einrückte, wollte mir’s aber nicht merken lassen. So nahm ich denn das Ding und zielte nach der ersten Ratte, die die Schnauze vorstreckte, und wenn sie dort geblieben wäre, wo sie war, hätte man sie keine gesunde Ratte mehr heißen können. Die Frau meinte, für’s erstemal sei’s ein Meisterschuß und die nächste Ratte sei ihres Lebens nicht sicher. Sie ging den Klumpen Blei aufzuheben und brachte einen Strang Garn zum Winden mit, wobei ich ihr helfen sollte. Ich streckte die beiden Arme aus, sie legte das Garn darüber und erzählte immer weiter von sich und ihrem Mann. Auf einmal sagte sie: »Gib nur auf die Ratten acht; da, nimm den Bleiklumpen in deinen Schoß, dann hast du ihn zur Hand!«

Sie ließ den Klumpen richtig in meinen Schoß fallen, und ich preßte die Beine fest zusammen, um ihn zu halten. Sie sprach noch eine Minute weiter, dann hört sie plötzlich auf, sieht mir fest ins Gesicht und sagt, aber gar nicht unfreundlich: »Jetzt komm, gesteh einmal wie du wirklich heißt!« – »W-wieso?«

»Also wie du in Wahrheit heißt«, fährt sie fort und tippt mir mit dem Finger auf den Arm, »heißt du Bill oder Tom oder Jack? He, heraus mit der Sprache!«

Ich zitterte und bebte am ganzen Leib und wußte kaum, was ich tun sollte. Stotter‘ ich endlich: »Das ist nicht schön, wahrhaftig nicht, so ein armes Mädchen, wie ich eins bin, auch noch auszuspotten. Wenn ich Ihnen zur Last falle, will ich –«

»Nichts willst du, still gesessen, ich tu‘ dir nichts und ich verrat dich auch nicht. Sag mir nur, wer du bist und was mit dir los ist, ich sag‘ niemand was und helf‘ dir, das versprech‘ ich dir, und mein Mann soll dir auch helfen, wenn er kann. Du bist ganz gewiß ein Lehrling, der irgendwo durchgebrannt ist; gelt, ich hab’s getroffen? Das ist aber gar kein Unglück, Kind. Man hat dich gewiß schlecht behandelt, und da hast du dich davongemacht. Nicht so? Komm, komm, ich sag‘ nichts, erzähl du mir nur alles, komm, sei ein guter Junge!«

So sagt‘ ich denn, ich sähe schon, es nütze nichts, noch weiter Komödie zu spielen, und ich wolle alles gestehen, wenn sie ihr Versprechen halte und mich nicht angebe. Dann erzählte ich ihr, daß Vater und Mutter tot seien und das Gesetz mich einem Vormund, einem alten Farmer, dreißig Meilen landeinwärts, zugesprochen habe, und wie er mich mißhandle und hungern lasse, so daß ich beschlossen habe, durchzubrennen. Er habe für ein paar Tage verreisen müssen; diese Gelegenheit habe ich benutzt, mir einige nette Kleider seiner Tochter anzueignen und in denselben das Weite zu suchen. Ich sei nun schon drei Nächte unterwegs. Bei Tag habe ich mich versteckt, und nur des Nachts sei ich gewandert. Fleisch und Brot hätt‘ ich auch mitgenommen, und das habe so ziemlich ausgereicht. Aber Moore, mein Onkel, würde sich gewiß meiner annehmen und mich vor dem alten Farmer schützen; deshalb sei ich auch hierher nach Goshen gekommen.

»Goshen, Kind? Aber du bist ja gar nicht in Goshen! Das hier ist ja Petersburg. Goshen liegt ja noch zweieinhalb Stunden flußaufwärts. Wer hat dir denn gesagt, dies sei Goshen?«

»Ei, ein Mann, den ich ganz in der Frühe traf, gerade ehe ich mich im Wald verkriechen wollte, um dort auszuschlafen. Der sagte, wenn ich an einen Kreuzweg komme, solle ich mich rechts wenden, und dann sei ich in einer Stunde in Goshen.«

»Der war sicherlich betrunken, denn er hat dich ganz falsch gewiesen, armes Kind!«

»Ja, er sah beinahe so aus, aber es liegt ja gar nichts dran. Ich mach‘ mich wieder auf die Beine und will schon vor Tag in Goshen sein, da ist mir nicht bange.«

»Wart noch einen Moment, ich hol dir noch etwas zu essen, wer weiß, wie du’s brauchen kannst!«

Und sie stopfte mir schnell allerlei zu. Dann fragte sie: »Sag einmal, mit welchem Ende eine liegende Kuh zuerst aufsteht. Und nun antwort schnell ohne dich lange zu besinnen!«

»Mit dem hinteren! – »Und ein Pferd?«

»Mit dem vorderen!«

»Auf welcher Seite eines Baumes wächst am meisten Moos?«

»Auf der Nordseite!«

»Und wenn fünfzehn Kühe zusammen weiden, wie viele davon kauen dann wohl ihr Futter und sehen nach derselben Richtung?«

»Alle fünfzehn!«

»Gut! Ich glaub’s dir jetzt, du hast auf dem Land gelebt, ich dachte, du wolltest mich am Ende noch einmal anführen. Und wie heißt du nun wirklich?« – »George Peters!«

»Na, vergiß das nur nicht und sag du heißt Alexander, eh du weggehst, und lüg dich dann mit einem George-Alexander heraus, wenn ich dich fange. Und zeig dich keiner Frau mehr in dem alten Kattunrock, du kannst dich da drin für kein Mädchen ausgeben. Männern könntest du’s vielleicht weismachen, aber einer Frau nie. Und Kind, wenn du wieder eine Nadel einfädeln willst, so halt die Nadel fest und steck den Faden durch, und nicht umgekehrt; so machen’s die Männer und ein ganz kleines Mädchen würde dich daran erkennen, wenn du mit der Nadel so in der Luft herumfuchtelst. Und wenn du nach einer Ratte oder irgend etwas werfen willst, so stell dich auf die Fußspitzen und heb den Arm über die Schulter, so ungeschickt du nur kannst, und wirf sechs bis sieben Fuß daneben – wie ein Mädchen, nicht wie ein Junge aus dem Handgelenk und Ellbogen. Und, denk dran, wenn ein Mädchen etwas fangen will, das man ihr in den Schoß wirft, so spreizt sie die Knie auseinander und preßt sie nicht zusammen, wie du’s bei dem Bleiklumpen tatst. Sieh, ich wußte gleich, daß du ein Junge bist, als du die Nadel einfädeln wolltest, und hab‘ dich absichtlich all das andre tun lassen, um meiner Sache sicher zu sein. – Jetzt troll dich zu deinem Onkel, Sarah Mary Williams George Alexander Peters, und wenn du jemand brauchst, der dir in irgend etwas helfen soll, so schick zu Frau Judith Loftus – so heiß‘ ich –, und ich will für dich tun, was ich kann. Halt dich immer am Strom hin, und wenn du wieder durchbrennen willst, nimm Schuh und Strümpfe mit, der Weg ist ordentlich steinig und deine Füße werden gut aussehen, bis du nach Goshen kommst!«

Etwa fünfzig Meter weit ging ich den Strom entlang, dann stahl ich mich wieder zurück, am Hause vorbei bis dahin, wo ich mein Boot gelassen hatte, stieg hinein, und hast du nicht gesehen, ging es fort. Ich ließ mich am Ufer hin treiben, bis ich meiner Berechnung nach etwa der Insel gegenüber war, und legte mich dann ordentlich ins Zeug in der Richtung quer übers Wasser. Den Hut hatte ich abgenommen; Scheuleder brauchte ich keine mehr. Da hör‘ ich die Uhr schlagen, zähle und merke, daß es schon elf ist – elf Uhr! Als ich zur Insel kam, nahm ich mir nicht einmal Zeit, die Nase zu putzen, obgleich ich’s sehr nötig hatte, sondern landete gerade an meinem alten Lagerplatz und zündete ein tüchtiges Feuer dort an.

Dann wieder ins Boot und weiter unserem Höhlenfelsen zu, so schnell sich’s nur irgend tun ließ. Ich legte an, kroch den Felsen hinauf und in die Höhle.

Da lag Jim in süßem Schlaf. Ich schrei‘ ihm in die Ohren: »Auf, Jim, Jim, sie sind hinter uns her!«

Der sagt kein Wort und fragt auch nichts weiter, schnellt nur auf, aber die Art, wie er in der nächsten halben Stunde schuftete, zeigte, wie ihm der Schreck in die Glieder gefahren war. In kürzester Zeit hatten wir unser ganzes Hab und Gut aufs Floß gebracht, das im Weidengebüsch versteckt lag, und alles zur Abfahrt bereit gemacht. Das Feuer in der Höhle hatten wir gleich anfangs ausgelöscht und uns wohl gehütet, Licht sehen zu lassen.

Ich fuhr im Boot zuvor noch eine kleine Strecke ins Wasser hinaus, um Ausschau zu halten; aber wenn sich auch ein Fahrzeug in der Nähe befand, so war es bei der ungünstigen Beleuchtung doch nicht zu erkennen. So zogen wir denn das Floß hinaus, glitten leise im Schatten des Ufers dahin, dann weg von der Insel ins offene Wasser, und keiner redete nur ein Sterbenswörtchen dabei.