Kapitel 10

 

10

 

Mit schnellen Schritten gingen die Leute an Margot vorüber, und sie sah ihnen sprachlos nach. Der Steuermann sprach noch über die ungleiche Verteilung der Güter im Leben; er hatte ihre Aufregung nicht bemerkt.

 

»Ja, so ist es. Einige von uns arbeiten unten im Maschinenraum, die anderen schlafen oben in den Luxuskabinen. Aber die Heizer, die sich unten so plagen müssen, haben auch Vergnügen, von denen die reichen Leute da oben nichts ahnen. Unter den Heizern findet man ebenso feine Herren wie in der ersten Klasse, auch das sind schließlich Menschen genau wie Sie und ich.«

 

»Ach, malen Sie diese Schrecken nicht noch weiter aus«, sagte Margot und legte ihre Hand auf seinen Arm.

 

»Ach, verzeihen Sie«, erwiderte er erstaunt, und doch fühlte er sich geschmeichelt, daß seine beredte Schilderung sie so bewegt hatte.

 

»Wollen Sie so liebenswürdig sein, mir noch eine Tasse Kaffee zu besorgen? Es tut mir leid, ich habe diese umgestoßen.«

 

Der Steuermann verschwand.

 

Das also war die Erklärung. Jim Bartholomew fuhr als Heizer. Plötzlich durchschaute sie nun alles. Der Chefingenieur und der Kapitän des Schiffes waren seine Freunde. Sie hatten dafür gesorgt, daß die Nachrichten von dem Mord in der Bank unterdrückt wurden, und hatten alles Risiko auf sich genommen. Jim hatte ihnen doch früher auch das Leben gerettet. Und nun war er da unten in der heißen Hölle des Maschinenraums. Sie dachte wieder daran, daß einer der Heizer unten bewußtlos umgefallen war, und fuhr schaudernd zusammen. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick war er unten und mußte die furchtbaren Hitzequalen ertragen. Jedenfalls war es am frühen Morgen aber noch kühler als während der heißen Tageszeit.

 

Plötzlich erinnerte sie sich auch an den geheimnisvollen ›Nosey‹. »Als ich ihn das letztemal sah, war er nackt bis zum Gürtel«, hatte Jim gesagt. Er schien also auch ein Heizer zu sein.

 

Margot machte eine kurze Kalkulation. Wenn er um fünf Uhr in den Maschinenraum ging, mußte er um neun wieder abgelöst werden, und er brauchte dann erst am Nachmittag wieder Dienst zu tun. Aber am Nachmittag war gerade die heißeste Zeit. Der Zahlmeister hatte gesagt, daß es im Innern des Schiffes heiß wäre, da sie jetzt den Golfstrom durchquerten.

 

Sie wünschte, daß er es ihr nicht gesagt hätte, aber dann bedauerte sie diesen Gedanken wieder. Wahrscheinlich war Jim auch aus diesem Grund in der vorigen Nacht nicht zu ihr nach oben gekommen.

 

Mit dieser Vermutung hatte sie ziemlich recht. Er war auf Wache gewesen, hatte im tiefen Innern des Dampfers gearbeitet, und zwar in einer Hitze, die jeder Beschreibung spottete. Sie war davon überzeugt, daß er dieses aus einem ganz bestimmten Grund tat, und nicht für sich selbst, sondern für sie.

 

Als der Steuermann ihr eine neue Tasse Kaffee brachte, lächelte sie, und sie lächelte noch, als sie sich eine Stunde später in ihrer Kabine zur Ruhe legte. Später wachte sie steif und verkrampft auf, denn sie hatte sich nicht entkleidet. Um drei Uhr nachmittags galt ihr erster Gedanke Jim Bartholomew, der vor der Verfolgung durch die Gerichte floh und tief unten in der Hitze des Maschinenraums arbeitete.

 

Und sie war stolz, daß sie wußte, in welch schrecklicher Gefahr er schwebte.

 

Und dann erinnerte sie sich, daß sie am frühen Morgen die Kabine von Mrs. Dupreid aufgesucht hatte. Sobald sie sich umgekleidet hatte, ging sie zum C-Deck und klopfte an die Tür von Ceciles Freundin.

 

Das Mädchen, das Margot auch sonst schon dort gesehen hatte, und die anscheinend ihre ganze Zeit in der Kabine zubrachte, öffnete.

 

»Mrs. Dupreid schläft«, flüsterte sie leise. »Sie hatte eine sehr schlechte Nacht.«

 

»Das ist schade«, entgegnete Margot höflich. »Wann ist sie denn zu Bett gegangen?«

 

Das ging sie eigentlich nichts an, und es war sehr unhöflich, diese Frage zu stellen.

 

»Ach, sie hat sich kurz vor Mitternacht gelegt.«

 

Margot ging verwundert zum Promenadendeck.

 

Auch um Mrs. Dupreid schwebte irgendein Geheimnis. Stella Markham gegenüber war sie etwas höflicher. Die Dame hatte ihr hochfahrendes Wesen mehr und mehr abgelegt und war bedeutend menschlicher und liebenswürdiger geworden.

 

»Ich danke Ihnen für Ihre Nachfrage, aber ich hatte eine sehr schlechte Nacht. Oh, ich hasse dieses Schiff – ja, es gibt Augenblicke, in denen ich wünschte, daß der ganze große Kasten unterginge!«

 

»Ich würde Ihnen raten, dem Kapitän das zu sagen. Vielleicht versenkt er die ›Ceramia‹, weil Sie es wünschen«, entgegnete Margot ruhig. »Er steht in dem Ruf, die Wünsche der Passagiere möglichst weitgehend zu berücksichtigen.«

 

Mrs. Markham sah sie schnell von der Seite an, aber ihr Ärger verflog wieder, und sie lächelte.

 

»Es ist auch nicht recht von mir, mich so gehenzulassen«, sagte sie. »Ach, es ist doch furchtbar heiß.« Sie fächelte sich.

 

Es war wirklich heiß, die See lag glatt wie die Oberfläche eines Spiegels, das Versprechen des Steuermanns hatte sich tatsächlich erfüllt. Lückenlos blau spannte sich der Himmel über die weite Meeresfläche. Die See selbst zeigte dasselbe Blau wie der Himmel, nur war er einige Töne tiefer.

 

»Wenn es hier oben schon heiß ist, dann möchte ich nur wissen, welche Temperatur im Kesselraum herrscht«, bemerkte Mrs. Markham. »Ich habe gehört, daß einen der Heizer der Schlag getroffen hat. Ich fragte den Schiffsarzt, als er zum Mittagessen herunterkam, aber der hat es natürlich abgestritten. An Bord eines so großen Dampfers erfahren die Passagiere doch niemals, was wirklich vorgeht.«

 

»Ich glaube, mich bringt diese Reise auch noch um«, entgegnete Margot, erhob sich unsicher und ging zur Reling.

 

Mrs. Markham glaubte nur, daß sie unruhig war wie viele andere Passagiere. Sie nahm ihre feine Stickerei wieder auf, die sie bei Margots Ankunft niedergelegt hatte.

 

Nach einiger Zeit kam das junge Mädchen zurück. Sie war im Innersten überzeugt, daß nicht Jim der Heizer sein konnte, der gestorben war.

 

»Wie geht es Ihrem Butler?« fragte sie. »Hat der etwa auch einen Schlaganfall bekommen?«

 

Mrs. Markham stickte ruhig weiter, während sie den Blick auf die Arbeit gesenkt hielt.

 

»Nein«, sagte sie nach einer kleinen Pause. »Mein Butler stirbt nicht. Es scheint so, als ob er ewig lebt.«

 

Es lag etwas Merkwürdiges in ihrem Ton, so daß Margot sich nach ihr umsah.

 

»Wieso meinen Sie das?«

 

»Mein Butler stirbt nicht«, erklärte Mrs. Markham wieder und schüttelte den Kopf.

 

Margot schaute das Deck auf und ab.

 

»Ich habe ihn in den letzten Tagen überhaupt nicht gesehen.«

 

»Nein, wenn es ihm einigermaßen gutgeht, sitzt er die ganze Zeit im Rauchsalon. Aber hier kommt ein Freund von Ihnen.«

 

»Er ist nicht mein Freund«, entgegnete Margot schnell, als Major Pietro Visconti in seiner glänzenden Uniform das Deck entlangkam.

 

»Ein merkwürdiger kleiner Herr«, meinte Mrs. Markham, wahrend sie eifrig weiterstickte.

 

»Ja«, pflichtete Margot bei. »Er sieht immer so schmuck und adrett aus, als ob die Uniform eben vom Schneider geliefert worden wäre.«

 

Mrs. Markham mußte lachen.

 

Der Italiener hielt vorschriftsmäßig in der genauen Entfernung vor den Damen an, salutierte vor ihnen beiden und schüttelte dann Margot die Hand.

 

»Sie sind heute mittag nicht zum Essen gekommen, das tat mir furchtbar leid. Ich promenierte diese Seite des Dampfers entlang, ich promenierte die andere Seite entlang, aber ich entdeckte sie nicht. Ich kletterte zum Bootsdeck hinauf und promenierte auch dort entlang. Ich suchte in der großen Gesellschaftshalle und im Palmengarten, aber nein! Ich fand Sie nicht, Sie waren nicht da.«

 

Margot drückte sich und ließ den Major mit der von ihm verehrten Mrs. Markham allein. Sie eilte die Treppe hinunter zu ihrem Freund, dem Zahlmeister.

 

»Sie müssen heute recht lieb und nett zu mir sein«, sagte sie, als sie ihn allein in seinem Büro fand. Auch er wurde von der Hitze sehr geplagt, obwohl zwei bewegliche elektrische Fächer auf seinem Schreibtisch aufgestellt waren.

 

»Sie können versichert sein, daß ich dem leisesten Ihrer Wünsche sofort nachkomme, Miss Cameron«, entgegnete er höflich.

 

»Ich möchte, daß Sie eins der wichtigsten Gesetze brechen, die an Bord eines Schiffes gelten.«

 

»Um was für ein Gesetz handelt es sich denn?«

 

»Daß Sie niemals ein Geheimnis verraten dürfen. Sie sagen niemals, wieviel Knoten wir laufen, und Sie sagen auch nichts, wenn der Kapitän mit geringerer Geschwindigkeit fährt und warum er das tut.«

 

Er lächelte.

 

»Das wissen wir manchmal hier unten auch nicht.«

 

»Nun gut, dann werde ich Sie jetzt fragen.« Es kostete sie einige Anstrengung, und sie mußte erst schlucken, bevor sie etwas sagte. »Ist es wahr, daß ein – Heizer heute gestorben ist?«

 

Er sah sie ernst an.

 

»Dann scheint die Geschichte doch herausgekommen zu sein? Ja, das stimmt. Was erzählen sich die Passagiere? Woran soll er denn gestorben sein?«

 

»Sie sagen, daß er einen Schlaganfall bekommen hat.« Sie mußte sich sehr zusammennehmen. Ihre Beine zitterten.

 

»Das ist nicht wahr. Der arme Kerl kam durch eine kleine Explosion ums Leben. Es tut mir furchtbar leid um ihn, er war schon fünfzehn Jahre hier an Bord des Schiffes.«

 

Margot atmete erleichtert auf. Es klang fast wie ein Schluchzen. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir das gesagt haben«, entgegnete sie mit heiserer Stimme. »Ich mußte unter allen Umständen etwas Genaueres erfahren.«

 

»Aber, Miss Cameron, man sollte fast denken, daß Sie einen Freund unter den Heizern hätten«, meinte er lachend, als er die Tür für sie öffnete.

 

»Sie sind alle meine Freunde dort unten im Maschinenraum. Ich lerne jetzt überhaupt erst etwas von dem Leben dieser Leute kennen.«

 

Der Zahlmeister schwieg.

 

Der Tag war nicht ohne Abenteuer für Jim Bartholomew abgelaufen. Als die Wache der Heizer abgelöst wurde, ging er durch den engen Verbindungsgang, der die unzureichenden Quartiere der Heizer im Vorderdeck mit dem Maschinenraum verband. Plötzlich klopfte ihm jemand auf die Schulter, und als er sich umsah, bemerkte er das schmutzige Gesicht des Mannes, der den ganzen Morgen neben ihm gearbeitet hatte.

 

»Ich möchte einmal ein Wort mit Ihnen reden, Wilkinson. Wir wollen zum Bad gehen.«

 

Jim folgte dem anderen in einen einfachen, schmucklosen Raum, in dem eine lange Reihe von Duschen angebracht war.

 

»Was haben Sie gestern abend auf dem Promenadendeck gemacht?« fragte der andere. Es war Nosey, und seine Stimme klang befehlend.

 

»Dieselbe Frage könnte ich auch an Sie richten.«

 

Nosey sah ihn nachdenklich an, dann sagte er plötzlich: »Ja, es stimmt schon – Sie sind Bartholomew!«

 

»Ein ganz netter Name«, erklärte Jim. »Aber deshalb brauche ich doch nicht so zu heißen.«

 

»Wir wollen uns nicht streiten. Setzen Sie sich hin, ich bin hundemüde, aber ich muß die Sache einmal mit Ihnen ins reine bringen.«

 

Sie ließen sich auf zwei Stühlen nieder.

 

»Also, ich kann Ihnen nur das eine sagen«, erklärte Nosey. »Ich bin ein Beamter von Scotland Yard, und obwohl ich nicht direkt hinter Ihnen her bin, habe ich doch genügend Amtsgewalt, um Sie zu verhaften. Und wahrscheinlich wird es auch so kommen, obwohl die Leute in Scotland Yard nicht glauben, daß Sie den Mord begangen oder das Diamanthalsband gestohlen haben.

 

Mein Kamerad hier an Bord hat übrigens einen ganz ausführlichen drahtlosen Bericht erhalten. Sie können nichts Besseres tun, Mr. Bartholomew, als mir alles sagen, was Sie wissen. Sie haben nicht mehr lang Gelegenheit dazu, denn morgen komme ich nicht mehr in den Maschinenraum hinunter. Ich habe mich vollkommen davon überzeugt, daß sich keiner der Verbrecher, die wir verfolgen, unter der Schiffsbesatzung befindet.«

 

Jim konnte nichts gewinnen oder erreichen dadurch, daß er schwieg oder Ausflüchte machte. Deshalb erzählte er alles bis zu den letzten Einzelheiten. Eine ganze Stunde saßen die beiden beisammen. Gelegentlich unterbrach der Detektiv ihn mit einer Frage, und als sie sich zum Schluß erhoben, klopfte er dem anderen auf die Schulter.

 

»Es wird jemand verhaltet, bevor der Dampfer den Hudson River erreicht – möglicherweise sind Sie es.«

 

»Nun, es würde mir auch leid tun, wenn Sie ohne Erfolg nach Hause zurückkehren müßten.«

 

Das ewige Einerlei des Schiffslebens fiel Margot Cameron auf die Nerven. Sie wartete ungeduldig auf die Stunde, in der sie Jim treffen konnte.

 

Wieder ging sie zum dunkelsten Teil des Promenadendecks und lehnte sich an die Reling. Gleich darauf kam Jim, wie gewöhnlich im Abendanzug. »Nun, wie geht es dir?« fragte sie atemlos, indem sie sich an ihn lehnte. »Wie geht es mit deiner Arbeit? Ich meine, mit der Aufklärung all der Geheimnisse?«

 

»Meiner Meinung nach gut.«

 

Er sah sich um.

 

»Dieser verdammte Obersteward wird mich hier sehen. Er ist der letzte, den ich treffen möchte, denn er kennt mich unglücklicherweise. Komm doch bitte mit mir die Treppe herauf, wir wollen auf das Bootsdeck gehen.«

 

Sie antwortete nicht, aber sie legte den Arm in den seinen.

 

Der Weg nach oben führte über eine enge, steile Treppe, und er stieg zuerst hinauf. Oben gingen einige Paare an ihnen vorüber.

 

Zwischen zwei Booten war eine enge Plattform, von der aus das Herablassen dirigiert werden konnte. Dort traten sie ans äußere Geländer.

 

»Erzähle mir alles, was. sich ereignet hat«, sagte sie, und er berichtete ihr wahrheitsgetreu alles bis zur Entdeckung der Leiche Sandersons.

 

»Eins kann ich nicht verstehen. Warum mag wohl Cecile dicht an der Eisenbahnstation ausgestiegen und in ihrem Auto fortgefahren sein? Warum hast du das Frank nicht erzählt?«

 

»Ich war eigentlich davon überzeugt, daß er es wußte«, erklärte Jim. »Es kam mir selbst so sonderbar vor. Hat sie denn etwas davon gesagt, daß sie nach Schottland fahren wollte, bevor sie plötzlich ihren Entschluß änderte?«

 

»Nein, das kam alles bei der Unterredung heraus, die sie mit Frank in seinem Arbeitszimmer hatte. Es muß sich um sehr ernste Dinge gehandelt haben, denn Frank sah angegriffen und müde aus, als er herauskam, und die arme Cecile war bleich und verstört. Aber du hast mir noch nicht alles erzählt.«

 

»Nein«, gab er zu. Aber es dauerte einige Zeit, bis er wieder zu sprechen begann.

 

»Es handelt sich um zwei verschiedene Dinge. Das eine will ich dir berichten, aber das andere halte ich für später zurück. Ich will noch nicht sagen, was sich alles ereignete, nachdem der Polizeiinspektor mich mit dem Toten zurückließ, aber etwas anderes will ich dir mitteilen. Und ich bitte dich, mir bei Lösung des Geheimnisses zu helfen.

 

Als ich mich über den Mann neigte, sah ich, daß er ein Stück Papier in der Hand hielt. Ich öffnete seine Hand gewaltsam und entdeckte die Ecke einer Photographie. Ein anderer muß den oberen Teil abgerissen haben.«

 

»Was war das denn für eine Photographie?« fragte sie schnell.

 

»Das kann ich nicht sagen. Es war nur eine Ecke, auf der eine Frauenhand zu sehen war.«

 

»Kannst du sie nicht genauer beschreiben?«

 

»Es war eine Frauenhand, an der sich ein Ring befand.«

 

Margot faßte seinen Arm.

 

»Doch nicht etwa die ›Töchter der Nacht‹?«

 

»Ja, dieser Ring war es.«

 

Kapitel 6

 

6

 

Margot Cameron stand an der Reling der großen ›Ceramia‹. Ängstlich beobachtete sie den Kai, ob sich nicht Jim irgendwo zeigte. Er hatte ihr versprochen, sich an Bord des Dampfers von ihr zu verabschieden, und sie wußte; daß etwas Außergewöhnliches passiert sein mußte, wenn er nicht kam. Sie hatte ihm noch so viel zu sagen; sie hatte alles vergessen, als sie sich von ihm trennte. Am liebsten hätte sie weinen mögen, und die Tränen waren ihr sehr nahe, als die Schiffsglocke schlug, damit die Nichtfahrenden von Bord gehen sollten.

 

Margot stand immer noch oben an der Reling des Bootsdecks, von dem aus sie den größten Fernblick hatte, als der Dampfer langsam ins Meer hinausfuhr. Immer noch hoffte sie, ihn doch noch an Land zu sehen. Erst als die ›Ceramia‹ Netley passierte, ging sie mit einem schweren Seufzer nach unten in die Luxuskabinen, die ihr Bruder hatte reservieren lassen.

 

Die Geräumigkeit der Zimmer ließ sie ihre Einsamkeit noch mehr fühlen, und zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie Heimweh. Aber sie faßte sich bald wieder, kleidete sich um, nahm ein Buch und ging ans Promenadendeck, wo sie ihren Liegestuhl aufsuchte.

 

Frank hatte alle nötigen Vorbereitungen mit größter Sorgfalt getroffen, und drei Stühle waren mitschiffs für die Reisegesellschaft reserviert. Der Steward brachte ihr Decken und ein Kissen aus der Kabine, und sie versuchte, sich so gut wie möglich die Zeit zu vertreiben.

 

Der Anhängezettel des Nachbarstuhls flatterte im Winde. Margot wurde darauf aufmerksam und faßte ihn mit der Hand.

 

»Mrs. Dupreid«, las sie, und nun erinnerte sie sich daran, daß ja Ceciles Freundin an Bord sein mußte.

 

Sie legte ihr Buch auf den Stuhl und ging zum Büro des Zahlmeisters.

 

»Mrs. Dupreid?« wiederholte der Assistent. »Ja, die Dame ist an Bord. Sie hat die Staatskabine 209 auf Deck C.«

 

Margot bedankte sich, fuhr mit dem Lift nach dem C-Deck und suchte nach der Kabine.

 

Nr. 209 lag in der Mitte des Schiffs. Auf Margots Klopfen zeigte sich eine Zofe in der Türöffnung.

 

»Ist Mrs. Dupreid in ihrer Kabine?«

 

»Jawohl, Madame. Aber sie möchte niemanden sehen.«

 

»Sagen Sie ihr doch bitte, daß Miss Cameron hier ist.«

 

»Sie weiß, daß Sie an Bord sind, Madame«, erklärte das junge Mädchen, »und sie bat mich, sie bei Ihnen zu entschuldigen. Sie fühlt sich nicht wohl und kann niemanden empfangen.«

 

Margot empfand diesen wenig freundlichen Empfang etwas kränkend, drückte ihr Bedauern aus und ging dann wieder auf das Promenadendeck, um sich durch Lesen die Zeit zu vertreiben.

 

Inzwischen waren die Passagiere aus dem Speisesaal heraufgekommen, und es kam ihr erst jetzt zum Bewußtsein, daß sie gar nicht daran gedacht hatte, am Essen teilzunehmen, weil sie auf Jim gewartet hatte. Das Promenadendeck war belebt; die Passagiere suchten ihre Deckstühle auf. Der Steward legte Kissen und Decken auf den Liegestuhl neben ihr, und eine große schlanke Dame beobachtete gleichgültig den Vorgang.

 

Margot sah sie neugierig an. Frauen interessieren sich immer füreinander, und sie ahnte irgendwie, wer diese Nachbarin sein könnte. Die Dame war sehr schön, mochte etwa achtundzwanzig Jahre alt sein und hatte geistvolle Züge. Vor allem fielen ihre großen, tiefdunklen Augen auf. Eine Sekunde lang sah sie Margot an, und diese hatte das Gefühl, als ob die Blicke durch sie hindurchgingen.

 

Der Steward richtete sich auf. Die Dame dankte ihn kurz und ließ sich nieder.

 

Margot sah, daß sie ein elegantes Kleid trug und ein Buch in der Hand hielt. Die andere las aber nicht, sondern wandte sich zu Margots Überraschung plötzlich an sie.

 

»Sind Sie nicht Miss Cameron?«

 

»Ja«, entgegnete Margot lächelnd und legte ihr Buch nieder.

 

»Ich hörte, daß Sie mit Ihrem Bruder und Ihrer Schwägerin an Bord sein sollten. Ich bin eine Nachbarin von Ihnen, mein Name ist Stella Markham.«

 

»Ach ja, ich habe Ihr Haus gesehen. Es wurde mir noch vor ein paar Tagen gezeigt.«

 

Sie erinnerte sich im Augenblick, daß Jim es ihr gezeigt hatte, und sie ärgerte sich über ihn. Bestimmt hatte sie darauf gerechnet, daß er sich an Bord des Dampfers von ihr verabschieden würde, und er hatte sie warten lassen. Nicht einmal ein Telegramm hatte er ihr geschickt.

 

»Sind Ihr Bruder und Ihre Schwägerin auch in der Nähe?«

 

»Mr. und Mrs. Cameron sind überhaupt nicht an Bord«, entgegnete Margot. »Sie haben im letzten Augenblick ihre Pläne geändert.«

 

»Nun, dann wird es eine recht einsame Fahrt für Sie werden«, meinte Stella Markham und lächelte ein wenig.

 

»Das ist mir auch ganz lieb.«

 

Hier stockte die Unterhaltung, und beide nahmen ihre Bücher auf.

 

Aber nach einiger Zeit brach Stella Markham das Schweigen aufs neue.

 

»Gerade Ihre Schwägerin hätte ich gern an Bord getroffen. Es waren eigentlich nur zwei Leute, die ich hier zu sehen wünschte, das heißt drei, wenn ich Sie einschließe«, fügte sie halb entschuldigend hinzu.

 

Margot lachte.

 

»Wer war denn die dritte Person?« fragte sie und schrak zusammen, als sie die Antwort hörte.

 

»Ich hoffte, einen gewissen Bankdirektor Bartholomew hier zu treffen.«

 

»Aber warum denn?« fragte Margot erstaunt und hoffte, daß Mrs. Stella Markham mit ihren durchdringenden Blicken nicht sehen konnte, daß sie errötete.

 

»Er soll ein sehr guter Gesellschafter sein.«

 

Margot ärgerte sich über diese Worte.

 

»Ich sitze am Tisch des Kapitäns Mr. Stornoway; er sprach über Mr. Bartholomew, als er hörte, daß ich von Moorford kam.«

 

Margot erinnerte sich im Augenblick daran, daß Jim ihr Stornoways Namen genannt hatte.

 

»Er wurde ganz lebhaft, als ich seinen Namen erwähnte«, fuhr Mrs. Markham fort, »obwohl er zuerst meiner Meinung nach etwas verlegen war. Er erzählte dann, daß er im Krieg mit Mr. Bartholomew zusammen an Bord eines Torpedobootzerstörers war, der durch den Feind versenkt wurde. Zwölf Stunden waren sie zusammen im Wasser, und wenn Mr. Bartholomew nicht gewesen wäre, wären sie beide ertrunken – es war auch noch ein dritter dabei, der sich ebenfalls an Bord des Dampfers befindet.«

 

»Ich habe davon gehört.« – »Kennen Sie ihn?«

 

»Meinen Sie Mr. Bartholomew? Ja, den kenne ich allerdings sehr gut.«

 

»Ist er wirklich so interessant?«

 

»Meinen Sie damit, daß er Purzelbäume schlägt und interessante Schlager singt?« fragte Margot kühl.

 

»Nein, ich meine, ob er interessant ist?«

 

»Ja, natürlich«, erwiderte Margot kurz.

 

Wieder sahen beide in ihre Bücher, aber Mrs. Markham schien das ihre nicht sehr unterhaltsam zu finden, denn nach kurzer Zeit wandte sie sich wieder an Margot.

 

»Ich bin die langweiligste Person, die es überhaupt gibt«, sagte sie. »Das ganze Leben erscheint mir so entsetzlich öde. Ich kann England nicht leiden, und ebenso geht es mir mit Amerika. In Paris, das die anderen Leute doch für so amüsant halten, finde ich es schrecklich.«

 

»Haben Sie es schon einmal mit Coney Island versucht?« fragte Margot, die Mrs. Markham nicht leiden konnte. »Ich habe mir sagen lassen, daß man sich dort die Zeit ganz gut vertreiben kann.«

 

Stella richtete sich auf und sah Margot gerade nicht sehr freundlich an.

 

»Ich kenne niemand, der jemals in Coney Island gewesen wäre«, entgegnete sie und schaute wieder in ihr Buch.

 

Margot erhob sich unruhig und ging auf dem Promenadendeck auf und ab. Schließlich fuhr sie mit dem Lift zum F-Deck, wo das Büro des Zahlmeisters lag. Die Unterhaltung mit Mrs. Markham hatte sie daran erinnert, daß immer noch ein Telegramm von Jim eintreffen könnte. Auf jeden Fall erwartete sie eines von ihrem Bruder und ihrer Schwägerin.

 

Tatsächlich erhielt sie auch ein Formular ausgehändigt, das Frank geschickt hatte, aber von Jim war nichts angekommen, ebensowenig von Cecile. Margot fiel es ein, daß sich Cecile auf der Reise nach Schottland befand, und unterwegs war es natürlich schwierig, ein Telegramm zu senden.

 

Sie wanderte ziellos im Schiff umher, bis es Zeit zum Tee war. Niemand ihrer Bekannten war an Bord, und aus reiner Langeweile kehrte sie zu ihrer Kabine zurück und legte sich nieder. Sie wurde gestört durch ihre Zofe, die ihr Abendkleid zurechtlegte.

 

»Wie spät ist es?«

 

»Es ist halb sieben, Madame«, entgegnete Jenny, die blaß und krank aussah.

 

»Geht es Ihnen nicht gut?«

 

»Ich spüre die Seekrankheit.«

 

»Das ist aber doch nicht schlimm«, sagte Margot.

 

»Die See ist glatt wie ein Spiegel. Wo sind wir denn jetzt?«

 

»In der Nähe von Cherbourg. In einer Stunde kommen wir dort an und bleiben mehrere Stunden.«

 

Nachdem sich Margot angekleidet hatte, ging sie in den Speisesaal und ließ sich einen Tisch geben, der nur für eine Person gedeckt war. Frank hatte natürlich vorsorglich einen guten Tisch mit drei Plätzen bestellt. An der anderen Seite des Speisesaals sah sie Mrs. Stella Markham, die ein wundervolles Abendkleid in Schwarz und Blau trug. Auch sie saß an einem Tisch für sich.

 

Später ließ sich Margot den Kaffee in die große Gesellschaftshalle bringen. Der Raum war prachtvoll ausgestattet. Die Kapelle spielte, und Margot lauschte der Musik. Als um elf Uhr abends die ›Ceramia‹ den Hafen von Cherbourg verließ, begab sich Margot in die Kabinen, um sich zur Ruhe zu legen.

 

Sie konnte Seereisen außerordentlich gut vertragen und brauchte die Seekrankheit nicht zu fürchten. Trotzdem es im Kanal etwas unruhiger wurde, schlief sie vorzüglich, bis Jenny ihr am nächsten Morgen eine Tasse Tee und eine Apfelsine ans Bett brachte.

 

»Ist irgendeine Nachricht für mich gekommen?«

 

»Nein.«

 

»Auch kein Radiotelegramm?«

 

»Leider nicht.«.

 

»Gut, dann machen Sie mein Bad fertig.«

 

Sie war bitter enttäuscht. Wenn Jim nicht die Möglichkeit hatte, sich an Bord von ihr zu verabschieden, hätte er ihr doch wenigstens noch eine Nachricht schicken können. Er war doch auch schon an Bord großer Schiffe gewesen und hatte Seereisen gemacht. Er mußte doch wissen, daß man den Leuten unterwegs drahtlose Telegramme schicken konnte.

 

Als sie sich angekleidet hatte, suchte sie den Zahlmeister auf, den sie schon von früheren Reisen her kannte, und fragte ihn aus.

 

»O ja, wir sind schon weit genug vom Land entfernt, um Telegramme aufzunehmen. Es sind auch während der Nacht schon eine ganze Anzahl Radiotelegramme eingelaufen.«

 

Er sah sich um und sprach dann vorsichtig und leise.

 

»Es war sogar eine Nachfrage von dem Justizministerium oder der Polizei dabei. Sie erkundigten sich, ob ein Mann an Bord wäre, der im Verdacht steht, jemand ermordet zu haben.«

 

Kapitel 2

 

2

 

Frank Cameron war ein großer, hübscher Amerikaner von fünfunddreißig Jahren. Als die beiden näher kamen, kehrte er gerade vom Tennisplatz zurück und grüßte Jim und seine Schwester von weitem.

 

»Ich hatte Besuch von Ihrem Assistenten«, sagte er, nachdem der Reitknecht die Pferde fortgeführt hatte und Margot ins Haus gegangen war.

 

»Von Sanderson?« fragte Jim erstaunt. »Zum Teufel, was hat der denn hier gewollt? Haben Sie Ihr Konto überzogen?«

 

Frank grinste.

 

»Nein, um so prosaische Dinge handelte es sich nicht. Er kam in einer viel interessanteren Angelegenheit. Übrigens ist er ein Amateurdetektiv, das wissen Sie doch wahrscheinlich?«

 

Jim seufzte.

 

»Er ist doch nicht etwa hiergewesen, um irgendein Verbrechen aufzuklären?«

 

Frank lachte.

 

»Das gerade nicht, aber vor einem Monat bat er mich, ihm ein Empfehlungsschreiben an einen persönlichen Freund von mir zu geben. Zufällig habe ich nämlich, als ich einmal auf der Bank war, erwähnt, daß ich den berühmten Staatsanwalt John Rogers besonders gut kenne. Er ist als Kriminalist bekannt und hat eine umfangreiche Kenntnis von Verbrechern. Er besitzt auch die beste Bibliothek über Kriminologie in den Vereinigten Staaten. Schließlich gab ich Sanderson ein Empfehlungsschreiben an John Rogers, und heute machte er mir nun einen Besuch. Allem Anschein nach hat John ihm eine Anzahl interessanter Angaben mitgeteilt, und Sanderson ließ sich von mir verschiedenes erklären. Vor allem wollte er über die Stellung der Gouverneure in den einzelnen Bundesstaaten und über ihre Vollmachten orientiert sein, ebenso über ihr Begnadigungsrecht.«

 

»Wozu braucht er denn das alles?« fragte Jim erstaunt. »Mir erzählt er so etwas nicht, mir schenkt er in dieser Beziehung kein Vertrauen. Ich habe ihn ja auch schon oft genug wegen dieser Liebhaberei aufgezogen, und infolgedessen sind wir nicht gerade die besten Freunde.«

 

Während sie miteinander sprachen, führte Frank Jim zu seinem Arbeitszimmer, nahm ein Blatt Papier in die Hand und überflog den Inhalt.

 

»Ich habe mir ein paar Notizen gemacht, nachdem er gegangen war, und ich möchte wirklich sagen, Bartholomew, Ihr Mr. Sanderson ist nicht so verdreht, wie es den Anschein hat. Es handelt sich um folgendes. Hier in England arbeitet augenblicklich eine Verbrecherbande, die den romantischen Namen ›Die vier Großen‹ führt. Drei von ihnen sind Amerikaner, der vierte stammt aus Spanien, gibt sich aber für einen Italiener namens Romano aus. Die Tatsache, daß Romano der Verbrecherwelt angehört, ist bewiesen. Die anderen drei, der Polizei in verschiedenen Ländern bekannt, sind Mr. und Mrs. Trenton und Talbot, ein alter, erfahrener Fälscher. Unter diesen Namen treten sie gewöhnlich auf. In Wirklichkeit können sie ganz anders heißen.«

 

»Aber was hat denn das mit uns zu tun?«

 

»Warten Sie einen Augenblick, ich möchte Ihnen die Sache eben etwas genauer erklären. Ich glaube, daß Ihr Assistent auf der rechten Spur ist. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß diese vier Verbrecher sich hier in England aufhalten und auch sehr tätig sind. Die Polizeidirektionen von fast allen europäischen Ländern suchen diese vier, besonders die Behörden in Amerika. Sanderson hat nun mit viel Mühe und Fleiß den Nachweis geführt, daß diese vier tatsächlich mit der Bande identisch sind, die im letzten Jahr eine ganze Reihe von Juwelendiebstählen in Paris und London ausführte.«

 

Bartholomew nickte.

 

»Oh, ich kenne sie sehr wohl. Fast jede Nummer unserer Fachschrift enthält irgendeine Warnung vor diesen Leuten. Und ich glaube, daß Sanderson seine Kenntnis hauptsächlich aus den Aufsätzen unserer Fachzeitschrift geschöpft hat. Dazu kommen noch die vertraulichen Mitteilungen, die die Bankiers erhalten, nicht nur von den Bankiervereinigungen aller Länder, sondern vor allem von den Polizeidirektionen.«

 

»Das hat er mir auch erzählt. Aber er hat nun weitergearbeitet, sich brieflich an die großen Polizeidirektionen gewandt und Beschreibungen der bekanntesten Juwelen- und Bankdiebe erhalten. In vielen Fällen hat man ihm auch die Photographien dieser Verbrecher geschickt. Die Empfehlung an meinen Freund John Rogers hat ihm besonders genützt, denn dieser hat ihm einen ganzen Stoß solcher Photographien und Nachrichten über bekannte Verbrecher geschickt. Wenigstens hat er diese Sendung in einem Brief angekündigt. Sie war noch nicht angekommen, als Sanderson mich besuchte, aber die amerikanische Post trifft ja immer erst spät ein.«

 

»Welche Zukunftspläne hat Sanderson denn?« fragte Jim erstaunt. »Will er zur Polizei gehen? Hat er Ihnen das vielleicht auch im Vertrauen mitgeteilt?«

 

Frank lachte.

 

»Ja. Und da er mir weiter keine Schweigepflicht auferlegt hat, kann ich es Ihnen ja ruhig erzählen. Aber ich möchte Sie doch bitten, Bartholomew, ihn nicht damit aufzuziehen.«

 

»Natürlich werde ich das nicht tun«, protestierte Jim. »Hätte ich gewußt, daß er die Sache so ernst nimmt, und daß er so gewissenhaft und auch erfolgreich arbeitet, dann hätte ich ihm jede Unterstützung gegeben.«

 

»Sanderson hat eine Idee, und sein Hauptehrgeiz besteht darin, eine Gesellschaft zum Schutz der Banken zu bilden«, fuhr Frank fort. »Und ich muß sagen, daß es ein ganz gesunder Plan ist. Er hat die Absicht, die geeignetsten Leute unter den Bankbeamten auszusuchen, einfache Angestellte, Kassierer und so weiter. Die will er ausbilden in der Entdeckung von Bankverbrechen – aber da kommt Johnson und will uns zum Tee holen.«

 

Er erhob sich, und Jim verließ mit ihm das Zimmer. In der Halle sprach Frank Cameron dann nicht mehr über das Thema.

 

»Ich werde Sie in Zukunft sehr vermissen«, sagte er. »Und ich hoffe nur, daß wir bald zu dieser schönen Gegend zurückkehren können.«

 

Auch Jim erhoffte das sehnlichst, aber er machte nur eine konventionelle Bemerkung.

 

»Die Seereise wird meiner Frau sicher sehr guttun. Sie hat sich noch nicht recht erholen können seit dem Tode ihrer Schwester.«

 

Zum erstenmal erwähnte Frank Cameron die Krankheit seiner Frau. Jim hatte sich allerdings schon öfter mit Margot darüber unterhalten.

 

»Sie ist doch plötzlich drüben in den Vereinigten Staaten gestorben?«

 

Frank nickte.

 

»Ja. Wir waren damals in Paris. Eines Morgens erhielten wir ein dringendes Telegramm, und Cecile fuhr am nächsten Tag nach New York zurück. Sie bestand darauf, allein zu reisen, und sie kam gerade noch zur rechten Zeit. Von der Aufregung hat sie sich noch nicht erholt. Es wirft direkt einen Schatten auf ihr Leben. Übrigens möchte ich Sie bitten, niemals mit Cecile über ihre Schwester zu sprechen.«

 

Jim schüttelte den Kopf.

 

»Das hätte ich selbstverständlich unterlassen.«

 

Frank nickte.

 

Margot hatte ihr Reitkleid ausgezogen und saß mit ihrer Schwägerin im Wohnzimmer. Mrs. Cameron erhob sich und kam mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. Sie war eine stattliche, schöne Frau von dreißig Jahren, mit feinen Gesichtszügen und dunklen Augen. Frank hatte sofort bemerkt, daß sie irgendeinen stillen Kummer haben mußte.

 

»Gott sei Dank, mit dem Packen bin ich fertig«, sagte sie und atmete erleichtert auf.

 

»Wann werden Sie denn Moorford verlassen?« fragte Jim. »Schon morgen?«

 

»Nein, am Sonnabendmorgen«, entgegnete Cecile und reichte ihm eine Tasse Tee. »Wir fahren im Auto nach Southampton; das Gepäck geht schon am Abend vorher ab. Ich möchte bis zum letzten Augenblick hierbleiben, und eine Autofahrt ist in der Morgenfrühe am schönsten.«

 

»Ich habe große Summen für morgen zu Ihrer Verfügung bereitgestellt«, erklärte Jim lachend. »Ich weiß nicht, was unser Generaldirektor sagen wird, wenn er erfährt, daß die Bank vier gute Kunden verloren hat.«

 

»Gleich vier?« fragte Mrs. Cameron. »Wer verläßt denn außer uns dreien noch die Stadt?«

 

»Mrs. Markham von Tor Towers benützt den gleichen Dampfer wie Sie. Übrigens ist sie auch Amerikanerin.«

 

»Markham? Kennst du sie?« wandte sie sich an ihren Mann.

 

Frank schüttelte den Kopf.

 

»Sie ist nicht aus New York«, erklärte Jim. »Ich glaube, sie ist in Virginia zu Hause und kommt regelmäßig hierher. Es ist sogar gewiß, daß sie wieder in diese Gegend kommt, denn sie hat ihre Juwelen bei uns deponiert – ich wünschte, sie hätte es nicht getan. Ich hasse die Verantwortung, Diamanten im Wert von hunderttausend Pfund in unserer Stahlkammer aufzubewahren. Sobald die Dame unterwegs ist, schicke ich die Schmucksachen nach London, damit man sie dort aufbewahrt.«

 

»Mrs. Markham«, sagte Frank nachdenklich. »Es ist doch merkwürdig, daß wir sie nie getroffen haben. Ist sie jung oder alt?«

 

»Jung«, erwiderte Jim. »Ich selbst habe sie nie gesehen, höchstens aus einiger Entfernung. Sie überläßt die Verwaltung ihrer Vermögensangelegenheiten ganz ihrem Butler, einem etwas selbstbewußten Herrn. Er nennt sich Winter und ist ein typischer Vertreter dieser etwas anmaßenden Bedientenklasse. Sanderson hat alle geschäftlichen Dinge erledigt, soweit sie Mrs. Markham betreffen, daher weiß ich wenig über sie. Nur habe ich gehört, daß sie eine sehr liebenswürdige Dame und ungeheuer reich sein soll. Sie ist Witwe und bringt fast ihre ganze Zeit damit zu, Landschaftsbilder von dieser Gegend zu malen. Aber ich glaube ja nicht, daß Sie drei noch andere Gesellschaft brauchen. Wahrscheinlich werden Sie sowieso viele Bekannte treffen. Haben Sie eine Reihe von Zimmern belegt?«

 

Frank nickte.

 

»Ja, wir haben die Flucht B der Staatskabinen, die besten Passagierräume auf dem Schiff. Eine gute Freundin von Cecile fährt auch mit, Mrs. Dupreid. Jane fährt doch mit uns?« wandte er sich an seine Frau.

 

»Ja, ich habe heute morgen noch einen Brief von ihr bekommen. Sie haben vollkommen recht, Mr. Bartholomew, man braucht nicht viele Bekannte an Bord des Schiffes. Seereisen deprimieren mich immer so schrecklich. Ich glaube, daß meine Freundin gerade keine große Errungenschaft ist, wenn sie uns auf der Reise begleitet.« Sie lächelte ein wenig. »Jane wird leicht seekrank und hält sich gewöhnlich in ihrer Kabine auf, bis das Schiff Sandy Hook erreicht.«

 

Das Gespräch drehte sich jetzt um Schiffe und Passagiere und wurde hauptsächlich von Frank Cameron und Jim geführt.

 

Margot war außerordentlich ruhig und nachdenklich, so daß es Cecile schließlich auffiel.

 

»Aber Margot, du beteiligst dich ja gar nicht an der Unterhaltung – was ist denn los?«

 

Margot schrak aus ihren Träumen auf.

 

»Ach, es ist doch schlimm, daß du auch alles gleich merkst«, entgegnete sie lachend. »Es ist fast wie mit den Schiffsmaschinen. Wenn die auf der Fahrt plötzlich anhalten, wacht man auch auf. Wenn ich offen sein soll, bin ich ein wenig traurig gestimmt, daß ich diese Gegend hier verlassen soll.«

 

Frank sah von seiner Schwester zu Jim hinüber und lächelte.

 

»O ja, das verstehe ich schon«, sagte er dann.

 

»Ich glaube, ich werde vor der Zeit alt«, meinte Margot. »Seit einiger Zeit mag ich nicht mehr sooft meinen Aufenthaltsort wechseln.«

 

»So geht es mir auch«, erklärte Frank. »Aber einer von uns beiden muß nach den Staaten hinüberfahren, Margot. Wir müssen die Angelegenheit mit dem Landsitz von Tante Martha regeln.«

 

Er sah, daß Jims Augen aufleuchteten und grinste.

 

»Das klingt, als ob wir nur kurze Zeit drüben bleiben und bald wiederkehren würden. Aber wenn ich einmal nach den Staaten hinüberfahre, dann muß ich auch die Minen besuchen, für die ich mich interessiere. Und den Winter muß ich in Kalifornien zubringen.«

 

Jim seufzte.

 

»Nun, Sie werden mich, wenn Sie zurückkommen, wieder hier finden mit allem, was zur Stadt gehört. Und wenn Sie dann zurückkehren, habe ich inzwischen Tafeln an all den verschiedenen Gebäuden angebracht zur Erinnerung an Ihren Aufenthalt hier. Ich werde eine recht traurige und einsame Zeit erleben.«

 

»Vielleicht kommt ein Zirkus und bringt Ihnen ein wenig Zerstreuung«, neckte ihn Margot.

 

»Mir bleibt nur zweierlei übrig«, sagte Jim feierlich. »Entweder eröffne ich eine Farm für Schafe oder ich werde ein Räuber, plündere die Depots unserer Bank und knalle alle Leute nieder, die mir in den Weg treten. Zur Zeit lohnt es sich schließlich auch noch, einen solchen Einbruch zu versuchen«, sagte er und nickte nachdenklich. »Die schöne Mrs. Markham hat ja ihre Diamanten bei uns deponiert.«

 

»Warum sagen Sie immer ›die schöne Mrs. Markham‹? fragte Margot ein wenig gereizt.

 

»Weil mir nichts Besseres einfällt.«

 

»Nun, ich würde Ihnen aber den Rat geben, nicht eher mit Ihrer verbrecherischen Laufbahn zu beginnen, als bis wir die Stadt verlassen haben«, sagte Frank und reichte Cecile die leere Tasse zurück.

 

»Ach, was für ein wundervoller Ring«, bemerkte Jim plötzlich und sah auf die Hand von Mrs. Cameron, die errötete.

 

»Ist er nicht schön?« fragte Frank. »Ich möchte ihn Bartholomew einmal zeigen.«

 

Sie zögerte einen Augenblick, zog ihn dann vom Finger und gab ihn dem Gast. Es war ein breiter, goldener Reifen, gehämmert und handmodelliert. Die besondere Form hatte Bartholomews Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Er trug den Ring zum Fenster und prüfte ihn aufmerksam. Es waren drei Schlangen mit Frauenköpfen, herrlich ausgearbeitet, obwohl die Gesichter kaum drei bis vier Millimeter groß waren.

 

Bewundernd betrachtete er, wie sich die Schlangenleiber ineinander verflochten. Dann brachte er den Ring Mrs. Cameron zurück.

 

»Die Töchter der Nacht«, sagte er. »Ein wundervolles Stück Goldschmiedearbeit!«

 

»Die Töchter der Nacht?« Mrs. Cameron runzelte die Stirn. »Ja, es sind die drei Furien, die römischen Göttinnen, die die Verbrecher bestrafen.«

 

»Ich habe noch nie gehört, daß man sie die ›Töchter der Nacht‹ nennt«, sagte Cecile Cameron langsam, während sie den Ring wieder an den Finger steckte.

 

»Die Töchter der Nacht!«

 

»Meine mythologischen Kenntnisse sind auch nicht die besten.« Jim lächelte. »Auf die Bezeichnung kann ich mich jedoch noch sehr genau besinnen. Aber ganz abgesehen davon, es ist ein wirklich ausgezeichnetes, prachtvolles Stück.«

 

»Sie haben Glück, daß Sie den Ring sehen«, meinte Frank. »Meine Frau trägt ihn nur an einem Tag im Jahr, und zwar an dem Datum, an dem ihr Vater starb. Stimmt das nicht, Liebling?«

 

Mrs. Cameron nickte.

 

»Mein Vater hatte zwei gleiche Ringe, einen gab er meiner Schwester, einen mir. Er war ein großer Spezialist und Kenner in diesen Dingen und hat den Ring nach einem Original kopiert, das sich jetzt im Louvre befindet. An den Ring selbst knüpfen sich unangenehme Erinnerungen, aber mein Vater war sehr stolz darauf. Einmal im Jahr, an seinem Todestag, trage ich ihn zur Erinnerung.«

 

Sie erwähnte ihre verstorbene Schwester nicht, aber Jim vermutete, daß das die unglückliche Erinnerung bedeutete.

 

»Der Ring ist wertvoll«, bemerkte er, »denn Sie werden wohl erfahren haben, daß das Original im Jahre 1908 aus dem Museum gestohlen wurde. Und dann wären dies die einzigen Kopien, die davon existieren.«

 

Margot hatte sich erhoben, ging zu dem Flügel und spielte leise. Jim war regelmäßig ein andächtiger Zuhörer, und auch jetzt nahm er seinen Stuhl und setzte sich neben sie.

 

»Spielen Sie doch etwas, damit meine aufgepeitschten Nerven zur Ruhe kommen«, sagte er.

 

»Sie haben gar kein Recht, hier aufgepeitschte Nerven zu haben. So ein junger Mann wie Sie!« erwiderte sie und schwieg dann plötzlich. »Wo werden wir nur nächste Woche alle sein?« fragte sie nach einer Weile nachdenklich.

 

»Mit welchem Dampfer fahren Sie denn?«

 

»Mit der ›Ceramia‹.«

 

»Ach so, mit dem modernen, schönen Dampfer. Das ist ja ein merkwürdiger Zufall! Der alte Stornoway ist der Kapitän, und der alte Smythe der Chefingenieur an Bord.«

 

Sie drehte sich in dem Stuhl um.

 

»Was mögen das für alte Herren sein, Frank!« rief sie über die Schulter. »Komm doch einmal her und höre, welche alten Tapergreise Mr. Bartholomew zu Freunden hat.«

 

»Sie müssen nicht denken, daß das alte Männer sind«, erklärte Jim. »Im Gegenteil, es sind Freunde von mir. Während des Krieges habe ich bei der Marine gedient und alle möglichen Posten bekleidet, ich habe sowohl Heizer gespielt als auch Offizier des Nachrichtendienstes. Stornoway war damals Kommandant von B 75, einem Torpedobootszerstörer für besondere Zwecke, und ich war Nachrichtenoffizier an Bord. Wir fuhren Patrouille an der Küste bis zur äußersten Nordspitze von Schottland. Smythe war damals unser Chefingenieur, und so lernten wir uns sehr gut kennen. Und als wir dann aufgefischt wurden –«

 

»Was meinen Sie denn damit?« fragte Margot.

 

»Nun sehen Sie, wir wurden an einem kalten Februartag torpediert, und da waren wir drei zwölf Stunden lang im Wasser, und unter solchen Umständen wird man wirklich gut miteinander bekannt. Da lernt man sich gegenseitig kennen.«

 

Margot lachte.

 

»Haben Sie Ihre Freunde aus dem Wellengrab gerettet?« fragte sie etwas ironisch. »Oder wurden Sie von ihnen gerettet?«

 

»Das kann man nicht so genau sagen. Wir haben uns wohl gegenseitig gerettet.«

 

Sie vermutete gleich hinter diesen etwas zögernden und schüchternen Erklärungen eine Heldentat und nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Stornoway auszufragen.

 

Jim wäre zum Abendessen geblieben, aber er mußte einen langen Bericht schreiben, den er am nächsten Morgen abgeben sollte, und so verabschiedete er sich. Margot begleitete ihn bis zum Parktor.

 

»Sie werden also unter die Bankräuber und Verbrecher gehen, wenn ich jetzt abreise?« fragte sie.

 

»Warum denn nicht?« protestierte er energisch. »Die Sache ist furchtbar leicht, und Sie wissen doch, Margot, daß ich eine kriminalistische Veranlagung habe.«

 

»Ich habe Sie im Verdacht, eine gewisse Schwäche und Zurückhaltung zu besitzen. Von einer verbrecherischen Veranlagung habe ich noch nichts bemerkt. Aber ich vermute, daß –«

 

»Aber wieso haben Sie denn Schwäche bei mir feststellen können?«

 

»Ich glaube, Sie sind nicht tatkräftig genug, und Sie haben nicht genügend Selbstvertrauen.«

 

»Ich dachte, ich wäre sehr energisch und wüßte ganz genau, was ich wollte.«

 

»In mancher Beziehung mag das ja zutreffen. Manchmal sind Sie sogar etwas zu sehr von sich überzeugt, aber in anderer Beziehung –«

 

Er sah sie groß an und unterbrach sie.

 

»Aber jetzt müssen Sie mir wirklich sagen, wieso ich mich vergangen habe. Lassen Sie mich nicht in England, in diesem gesegneten Landstrich, zurück – denn heilig ist das Land, das Ihre Füße berührt haben – ohne mir zu sagen, inwiefern ich gefehlt habe.«

 

»Nun, ich meine, Sie sind eben zu sehr Engländer und zu schüchtern?«

 

»Wollen Sie damit sagen, daß ich verschroben bin? Sie werden mir doch keinen Vorwurf daraus machen, daß ich Engländer bin? Ich gebe ja gern zu, daß die nicht so smart sind wie die Amerikaner.«

 

Sie lachte.

 

»Ich glaube nur, daß Sie zu verschlossen und zu zurückhaltend sind, das ist alles.«

 

»Ach, ist es das?« fragte er ironisch, aber dann wurde er ernst. »Vielleicht ist es meine Absicht, so zu sein. Glauben Sie, ich wüßte nicht, daß der größte Schatz, den die Welt bieten kann, in meiner Reichweite ist?« Seine Stimme zitterte leicht. »Wenn ich nun tatsächlich wüßte, daß jemand so großzügig und so unendlich gut ist, daß er sich mir schenken möchte – mir, der gerade nur Geld genug hat, um zu fühlen, wie arm er ist?! Wenn ich das alles überschaute und in meinem Herzen den Entschluß faßte, um Ihres und meines Glückes willen mich erst weiter in der Welt hinaufzuarbeiten, würden Sie dann auch noch sagen, daß ich nicht genügend Selbstvertrauen hätte?«

 

Sie erwiderte nichts darauf und legte nur ihre Hand in die seine. Schweigend gingen sie bis zum Tor.

 

»Ich sehe Sie morgen noch«, sagte sie schließlich, ohne ihn anzuschauen. »Wollen Sie nicht nach Southampton an den Dampfer kommen und Abschied von mir nehmen?«

 

»Eine glänzende Idee. Es wird mir zwar sehr schmerzlich sein, aber – ja, ich komme bestimmt. Ich fahre mit dem Zug hin.«

 

»Warum wollen Sie uns nicht im Auto begleiten?« .

 

»Das ist mir leider nicht möglich. Ich muß Sonnabend morgen in London sein. Aber ich fahre noch mit dem Zug um Mitternacht zur Hauptstadt, sehe dann ganz früh unseren Generaldirektor und nehme den Spezialzug zur Abfahrt des Dampfers. Gute Nacht.«

 

Er reichte ihr die Hand, und sie sah sich um.

 

Hinter ihnen stand der Reitknecht, der Jims Pferd am Zaum führte.

 

»Gute Nacht«, sagte sie dann. »Aber bringen Sie morgen nicht Ihr Pferd mit.«

 

»Kommen Sie mit Ihrer Schwägerin in die Stadt?« fragte er.

 

»Das wäre möglich.«

 

Er schwang sich in den Sattel, und Margot rieb die Nase seines Pferdes.

 

»Jim«, sagte sie plötzlich, »wenn – wenn Sie ein großes Vermögen verdienen … dann wollen Sie wohl irgend etwas Plötzliches, Unvorhergesehenes unternehmen?«

 

Er neigte sich vor und legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie schaute zu ihm auf.

 

»Ja, es wird irgend etwas sein, woran kein Mensch denkt.«

 

Kapitel 3

 

3

 

Mr. Stephen Sanderson hatte einen dicken, umfangreichen Brief mit der amerikanischen Post erhalten und die halbe Nacht darüber gesessen und geschrieben. Er hatte die einzelnen Notizen verglichen, die er von Frank Camerons Freund erhalten hatte, und trug nun die einzelnen Daten in die Tabellen ein, die schon recht stattlich waren.

 

Eine lange, mühselige Arbeit, aber es war nun einmal seine Liebhaberei. Er hatte Tausende von Zeitungen durchgelesen und Ausschnitte gesammelt, die sich mit Verbrechen befaßten, sowohl in England und Frankreich als auch in anderen Ländern. Vor allem kam es ihm darauf an, die Einbruchsmethoden der einzelnen Leute mit Verbrechen zu vergleichen, die noch nicht aufgeklärt waren, und nun hatte er eine Fülle neuen Materials aus New York erhalten. Er hatte so lange gearbeitet, bis der Morgen graute. Vor ihm lagen etwa ein Dutzend Photographien von Männern und Frauen auf dem Schreibtisch ausgebreitet, und er suchte alle möglichen Einzelheiten zusammen, um die große Reihe von Verbrechen aufzuklären, die miteinander in Zusammenhang standen. Nur eine oder zwei Tatsachen fügten sich noch nicht ins Ganze ein.

 

Nachdem er vier Stunden geschlafen hatte, erhob er sich mit der Zuversicht, daß es ihm in Zukunft doch gelingen würde, die Sache ganz aufzuklären. Jim kam um zehn Uhr ins Büro und fand seinen Assistenten etwas übernächtig und bleich am Schreibtisch. Aber Sandersons Augen leuchteten, und er war so munter, wie ihn Jim noch nie gesehen hatte.

 

Nach der Begrüßung wollte Jim ihn schon etwas fragen, aber er unterließ es, denn er betrachtete seinen Assistenten jetzt mit mehr Achtung.

 

»Gibt es heute morgen etwas Besonderes?« erkundigte er sich, als er seinen Hut ablegte und seinen Mantel aufhing.

 

»Nein, nichts. Das Geld für Mrs. Cameron und Mrs. Markham habe ich bereitgelegt.«

 

»Gut. Aber sie hebt doch nicht etwa ihr ganzes Konto ab?«

 

»Doch, aber ihr Guthaben ist gerade nicht sehr groß. Etwa zweitausend Pfund. Eine Kleinigkeit läßt sie stehen, weil sie wiederkommt. Ich erwarte Mr. Winter jeden Augenblick. Wollen Sie ihn auch sprechen?«

 

»Wer ist denn das? – Ach, richtig, der Butler. Nein, ich möchte ihn nicht sprechen«, erwiderte Jim gleichgültig. »Wenn er mich sehen will, bin ich ja in meinem Büro.«

 

Er ging in sein Zimmer, und Sanderson fuhr mit seiner Arbeit fort.

 

Gleich darauf klopfte es.

 

»Mr. Winter ist da«, meldete ein Angestellter.

 

»Bitten Sie ihn herein.«

 

Ein untersetzter, schwarzhaariger Herr mit freundlichem Blick trat ein, reichte dem Bankbeamten die Hand und setzte sich Sanderson gegenüber. Dann nahm er ein rotes Formular aus seiner Brieftasche und gab es Sanderson. Dieser prüfte es eingehend.

 

»Nun, Mr. Winter, ich glaube, Ihre Lady ist in ziemlicher Aufregung wegen dieser Reise nach Amerika?«

 

»Nein«, entgegnete Winter lächelnd, »deswegen regen wir uns in Tor Towers nicht besonderes auf. Das Leben hier war gerade nicht sehr kurzweilig. Soweit war ja alles in Ordnung, ich meine mit dem Essen und der Bequemlichkeit, aber man bekam nichts zu sehen, es war furchtbar tot.«

 

»Wann werden Sie aufbrechen?«

 

»Heute abend fahren wir im Auto bis Bournemouth und gehen dann morgen früh an Bord.«

 

»Nun, Sie haben jedenfalls eine sehr interessante Reise vor sich, Mr. Winter.«

 

Der Butler rieb nachdenklich sein Kinn.

 

»Das ist möglich, es kann aber auch anders kommen«, erwiderte er vorsichtig. »Ich bin noch niemals außerhalb Englands gewesen, und ich weiß nicht, wie ich mich mit diesen Amerikanern vertragen werde. Natürlich ist Mrs. Markham sehr gut; wenn sie alle so wären, ginge es vorzüglich. Aber ich bin noch niemals an Bord eines Schiffes gewesen – und da weiß man doch noch nicht so recht Bescheid wegen des Seegangs und so – ich bin ein wenig nervös.«

 

»Ach, daran werden Sie sich bald gewöhnen.«

 

Sanderson klingelte und reichte dem Angestellten den Scheck von Mrs. Markham. »Bringen Sie bitte den Betrag herein und zahlen Sie ihn in meinem Büro aus.«

 

»Ich möchte Sie noch um einen Gefallen bitten«, sagte Mr. Winter mit leiser Stimme und lehnte sich über den Tisch vor. »Mrs. Markham ist ein wenig nervös und ängstlich wegen der Juwelen, die sie Ihnen zur Aufbewahrung übergab, und sie bat mich, daß ich mich überzeugen sollte, ob sie auch richtig eingepackt sind. Ich kann Ihnen gegenüber ja ganz offen sein – sie möchte wissen, ob sie tatsächlich noch hier auf der Bank sind.«

 

Sanderson mußte lächeln.

 

»Darüber braucht sie sich wirklich keine Sorgen zu machen. Die Juwelendiebstähle in der letzten Zeit haben sie wahrscheinlich ängstlich gemacht.«

 

»Ja, das stimmt. Mylady sagt, daß sie schon einmal bestohlen wurde, während sie sich in den Vereinigten Staaten aufhielt, und das hat sie vorsichtig gemacht.«

 

»Nun, da kann sie sich beruhigen.« Sanderson erhob sich und ging zur Stahltür an dem einen Ende seines Zimmers.

 

Er machte sich mit zwei Schlüsseln daran zu schaffen; gleich darauf sprang die große, schwere Safetür auf, und er verschwand in der Stahlkammer.

 

Wenige Augenblicke später kam er mit einem kleinen Paket in braunem Papier zurück.

 

»Wollen Sie, daß ich es vor Ihren Augen öffne?« fragte er und zeigte auf die unverletzten Siegel.

 

»Nein, das nicht. Sie läßt Sie bitten, das Papier ein wenig aufzureißen, so daß ich hineinsehen und mich überzeugen kann, ob die Juwelen noch in dem Glaskasten sind.«

 

»Der Glaskasten war übrigens eine gute Idee von Mrs. Markham.«

 

Sanderson riß eine Ecke des Papiers vorsichtig ein, so daß man den länglichen Glaskasten sehen konnte. »Hier sind sie.«

 

Mr. Winter beugte sich vor und sah respektvoll auf die Lücke, in der ein kleiner Teil des Diamanthalsbandes sichtbar wurde. Die Steine glänzten in den Lichtstrahlen, die darauf fielen.

 

»Das wäre also alles in Ordnung«, sagte der Butler.

 

»Hier ist ein neues Siegel von Mrs. Markham.«

 

Er reichte ihm eine gummierte, runde Papierscheibe, auf der mit Tinte das Datum und ›Stella Markham‹ geschrieben war.

 

»Wozu soll das sein?« fragte Sanderson überrascht.

 

»Sie ist geradezu großartig, sie denkt auch an alles. ›Winter‹, sagte sie zu mir, ›wenn Mr. Sanderson das Packpapier eingerissen hat, dann kleben Sie dieses Siegel auf die beschädigte Stelle damit man deutlich sehen kann, daß die Hülle nach der Inspektion wieder geschlossen worden ist.‹« Er feuchtete das runde Papier an, indem er sich bei Sanderson entschuldigte, und drückte es auf die eingerissene Stelle.

 

»Da unten geht gerade ein Herr vorbei, den Mrs. Markham nicht leiden mag«, sagte er dann und zeigte mit dem Kopf nach dem Fenster, durch das man auf die High Street sehen konnte.

 

Sanderson folgte mit den Blicken der angegebenen Richtung und sah den Rücken einer untersetzten Gestalt. »Wer ist denn das?« fragte er.

 

»Der Farmer Gold, ein sehr unangenehmer Mensch. Er hat Mylady neulich von seinen Feldern verwiesen, als sie eine kleine Landschaftsskizze machte.«

 

»Das wundert mich. Er ist für gewöhnlich sehr nett. Also, ich werde das Päckchen wieder in die Stahlkammer bringen, und Sie können Mrs. Markham die Versicherung geben, daß ihre Juwelen vollkommen in Sicherheit sind.«

 

In dem Augenblick kam der Angestellte mit dem Geld. Mr. Winter zählte es vorsichtig nicht ein-, sondern dreimal nach, bevor er es einsteckte, dann erhob er sich, um zu gehen. Aber Sanderson hielt ihn zurück.

 

»Ich möchte Sie noch in einer besonderen Angelegenheit sprechen, Mr. Winter, wenn Sie fünf Minuten für mich Zeit haben. Sie reisen nach Amerika. Sind Sie in der Lage, einige Informationen für mich zu sammeln, besonders während Sie an Bord des Dampfers sind?«

 

»Wenn ich nicht seekrank werde. Davor habe ich jetzt schon Angst.«

 

»Ach, so schlimm wird das nicht gleich werden. Auf jeden Fall können Sie umhergehen«, protestierte Sanderson lachend. »Mr. und Mrs. Cameron werden mit Ihnen zusammen an Bord sein.«

 

»Cameron?« fragte Winter erstaunt.

 

»Ja.«

 

»Sind das Leute vom Lande? Kenne ich sie?«

 

»Ich weiß nicht, ob Sie mit ihnen bekannt sind, aber sie wohnen hier in dieser Stadt.«

 

»Ach ja, die Amerikaner!« Winter nickte. »Jetzt weiß ich, wen Sie meinen.«

 

Und nun sprach Sanderson längere Zeit vertraulich mit ihm. Es dauerte auch länger als fünf Minuten, denn er mußte den Butler, um alles erklären zu können, ins Vertrauen ziehen. Jim hörte, daß sich Sanderson lange mit jemand eifrig unterhielt; als er durch die Glastür sah, bemerkte er das ernste Gesicht seines Assistenten und lächelte.

 

Er schloß den Brief, den er eben geschrieben hatte, und ging in die äußeren Büroräume.

 

»Ist Mrs. Cameron schon hiergewesen?«

 

»Nein«, entgegnete der Angestellte. »Mr. Winter, der Butler von Mrs. Markham, ist drüben in dem anderen Büro.«

 

»Dann bestellen Sie Sanderson, daß ich in zehn Minuten wieder hier bin«, sagte Jim und ging auf die High Street hinaus.

 

Er war unruhig und ungeduldig, denn er sehnte sich so sehr danach, noch einmal in Margots Gesicht zu schauen, die sobald abreisen wollte, und die er vielleicht nie wiedersehen würde. Er ging in der Richtung auf Camerons Haus durch die Stadt und war auf sich selbst ärgerlich, daß er so unvernünftig war. Als er die Hälfte des Weges nach Moor Hill zurückgelegt hatte, sah er ein großes Auto, das ihm langsam entgegenkam. Er hob den Arm, und der Wagen hielt.

 

Cecile Cameron winkte ihn heran.

 

»Wohin gehen Sie denn schon so früh?« fragte sie.

 

Neben ihr saß Margot, die wohl ahnte, warum Jim den Hügel hinaufstieg. Sie war sehr gespannt, welche Ausrede er gebrauchen würde.

 

»Ich kam, um Sie zu sehen«, entgegnete Jim, öffnete die Tür des Wagens und ließ sich auf einem der hinteren Sitze nieder.

 

»Und Margot wollten Sie nicht besuchen?« fragte Cecile leichthin.

 

»Ja, Margot auch«, erwiderte er ohne Verlegenheit. »Ich weiß, daß es recht dumm von mir ist, was ich sage, aber ich bin ganz traurig und niedergeschlagen, daß Sie wegreisen.«

 

»Ich glaube, wir würden alle sehr gern bleiben«, sagte Cecile, »selbst Margot.«

 

»Ja, selbst Margot«, wiederholte die Schwägerin gerade nicht sehr freundlich.

 

»Können Sie denn nicht einen Vorwand finden, daß Sie uns nach drüben begleiten? Kommen Sie doch mit uns«, sagte Cecile scherzend.

 

»Einen Grund wüßte ich schon seit langem«, erklärte Jim.

 

Margot sah starr in die Gegend; allem Anschein nach interessierte sie sich für alles andere mehr als für den jungen Mann, der neben ihr saß und heimlich und leise seinen Fuß neben ihren gesetzt hatte.

 

»Es ist möglich, daß ich eines guten Tages dort auftauche, wenn Sie nicht schnell zurückkommen«, scherzte Jim. »Eines guten Tages, wenn Sie in Ihren fürstlichen Zimmern im neunundzwanzigsten Stock des Goldrox-Hotels sitzen und nach dem Kellner klingeln, tut sich die Tür auf und unversehens tritt herein – Jim Bartholomew. Aber ich hatte keine Ahnung, daß ich erst einen so kurzen Weg gegangen war.«

 

In diesem Augenblick hielt der Wagen vor der Bank. Sanderson stand in der Tür und sprach noch eifrig mit Winter.

 

»So, und jetzt wollen wir auch einmal die Angelegenheiten auf der Bank erledigen«, sagte Jim.

 

»Ich –«

 

Er brach plötzlich ab, als er das Gesicht von Mrs. Cameron sah. Sie war bestürzt und erschreckt.

 

Als Jim der Richtung ihrer Blicke folgte, sah er Sanderson im Eingang, der sich eben von Mr. Winter verabschiedet und sich weiter nicht um die Ankunft des Wagens gekümmert hatte. Jim schaute erstaunt wieder zu Cecile hinüber, die zitterte, als ob sie einem Zusammenbruch nahe wäre.

 

Sanderson war wieder in die Bank zurückgegangen.

 

»Was ist dir, liebe Cecile? Um Himmels willen, was ist geschehen?« fragte Margot und stützte ihre Schwägerin.

 

»Nichts, nichts.«

 

Jim wußte nicht, was das alles zu bedeuten hatte, und war selbst betroffen.

 

Sanderson! Wie kam es, daß diese sonst so weltgewandte Dame vor diesem Mann derartig erschrak? Daß es sich um seinen Assistenten handelte, bezweifelte er keinen Augenblick. Er sprang aus dem Wagen und half Mrs. Cameron beim Aussteigen.

 

»Ach, es ist nichts. Es ist dumm von mir, daß ich mich so gehenlasse«, sagte sie mit schwacher Stimme, während Jim sie in sein Büro geleitete.

 

»Es ist irgendein Ohnmachtsanfall – ich habe das öfter –, verzeihen Sie bitte, Mr. Bartholomew.«

 

»Aber was hast du nur«, fragte Margot ängstlich.

 

»Nichts, es ist wirklich nichts.« Mrs. Cameron zwang sich zu einem Lächeln. »Margot, du kannst dich darauf verlassen, es ist schon vorüber. Ich hatte einen Schwächeanfall. Wollen Sie bitte meine Angelegenheit erledigen, Mr. Bartholomew, ich –«

 

Jim war nur zu gern bereit, selbst die Sache in Ordnung zu bringen. Er trat in Sandersons Zimmer. Sein Assistent schien selbst kaum zu wissen, welchen Eindruck er auf Cecile gemacht hatte.

 

»Ich werde die Sache mit dem Konto von Mrs. Cameron selbst ordnen, Sanderson.«

 

»Sehr wohl«, entgegnete der andere, ohne aufzuschauen. »Ich habe eben das Guthaben von Mrs. Markham ausgezahlt.«

 

In wenigen Minuten kehrte Jim schon mit dem baren Betrage in sein Büro zurück; inzwischen hatte sich Cecile wieder vollkommen erholt und war ruhig geworden.

 

»Heute ist ja geradezu ein Run auf die Bank«, sagte Jim. »Mrs. Markhams Butler hat eben zweitausend Pfund für diese Dame abgeholt.«

 

Alle schwiegen, während er das Geld auf den Tisch zählte.

 

»Ach, Mrs. Markam ist die Dame, die nach Amerika reist?« fragte Cecile.

 

»Ja, ich glaube, sie fährt heute oder morgen, ich werde mich danach erkundigen.«

 

Er trat in Sandersons Büro, denn er glaubte, daß Ceciles Interesse für Mrs. Markham nur ein Vorwand war, um ihn auf kurze Zeit aus dem Büro zu entfernen. Sie wollte allem Anschein nach noch etwas mehr Zeit haben, um wieder zu sich zu kommen, und er verzögerte seine Rückkehr deshalb solange wie möglich.

 

Er war ganz überrascht, Sanderson in so guter Stimmung zu finden.

 

»Ja«, erklärte Jim, als er in sein Zimmer zurückkehrte, »sie fährt morgen, und ihr Butler hat auch Sanderson erzählt, daß er die Seekrankheit fürchtet. Sie fahren aber heute schon von hier mit dem Auto fort.«

 

Jim begleitete die beiden Damen zum Wagen und verabschiedete sich von ihnen. Lange sah er noch dem Wagen nach, bis er vollkommen verschwunden war, dann ging er langsam in sein Büro zurück. Er drückte auf die Klingel, die in Sandersons Zimmer führte, und gleich darauf trat sein Assistent ein.

 

»Sanderson, ich muß mich bei Ihnen entschuldigen.«

 

»Wieso?« fragte der andere überrascht.

 

»Ich bin eigentlich recht unhöflich gewesen und habe einige unangenehme Bemerkungen über Ihre Liebhaberei gemacht. Mir ist gar nicht zum Bewußtsein gekommen, wie wichtig Ihre Arbeit in der Beziehung sein kann.«

 

Sanderson betrachtete ihn argwöhnisch.

 

»Mr. Bartholomew, wenn Sie allerdings wieder zu spotten anfangen –«

 

»Nein, ich spotte durchaus nicht, nehmen Sie doch bitte Platz. Ich hatte gestern nachmittag eine lange Unterhaltung mit Mr. Cameron. Er hat keines Ihrer Geheimnisse mir gegenüber verraten, aber er sagte mir, daß Sie systematisch arbeiten, um diese gefürchtete Bande der vier großen Juwelendiebe zu fassen, die auch in letzter Zeit verschiedene Bankeinbrüche begangen hat.«

 

»Ja, das stimmt«, sagte Sanderson und setzte sich. »Ich freue mich, daß ich auf der Spur dieser Leute bin. Und ich bin auch nicht der einzige, der nach ihnen Ausschau hält. Ich erhielt gestern einen Brief von einem Freund Mr. Camerons, einem Staatsanwalt in Amerika. Der hat mir sehr interessante Einzelheiten mitgeteilt. Der größte Feind der vier ist eine Frau eine Detektivin, die von dem Justizministerium in Amerika engagiert wurde. Seit einigen Jahren ist es ihre Aufgabe, die vier zu fassen. Den Namen der Dame weiß ich noch nicht, und auch diese Sache ist mir unter der Hand mitgeteilt worden.«

 

»ich bin erstaunt, daß es ausgerechnet eine Detektivin ist«, meinte Jim. »Meinen Sie, daß es gelingt, die Bande zu fassen?«

 

Sanderson schüttelte den Kopf.

 

»Das ist eine sehr schwierige Frage. Die Dame, die auf ihrer Spur ist, hat natürlich viel mehr Aussichten, als ich jemals haben werde. Ihr stehen unbegrenzte Hilfsmittel zur Verfügung, und sie hat die Regierung der Vereinigten Staaten hinter sich. Sie kann in allen möglichen Rollen auftreten und ihre ganze Zeit auf die Lösung dieser Aufgabe verwenden.«

 

Jim glaubte, daß Sanderson im Augenblick eine viel größere Abneigung gegen diese Detektivin mit ihren unbegrenzten Hilfsmitteln hatte als gegen die Verbrecher selbst, die sie zu Fall bringen sollte.

 

»Übrigens möchte ich noch kurz erwähnen, Mr. Winter wollte die Juwelen von Mrs. Markham sehen, bevor er abreiste.« Der Assistent erzählte kurz, was sich abgespielt hatte.

 

Aber die Unterhaltung, die er dann noch mit dem Butler gehabt hatte, erwähnte er mit keinem Wort.

 

»Diese verdammten Juwelen«, sagte Jim. »Ich wünschte tatsächlich, sie hätte sie irgendwo in London untergebracht. Sobald Mrs. Markham fort ist, schicke ich dieses Halsband nach der Stadt. Schreiben Sie doch bitte an unser Stammhaus, daß sie die Juwelen am nächsten Dienstag erhalten werden. Sie können sie ja persönlich hinbringen. Eine Reise nach London wird Ihnen schließlich auch nicht unangenehm sein, da können Sie sich einmal in der Hauptstadt umsehen.«

 

Sanderson nickte dankbar.

 

»Ja, ich hatte sowieso die Absicht, nach Scotland Yard zu gehen und Inspektor M’Ginty zu besuchen. Ich habe schon öfter mit ihm korrespondiert, er scheint ein sehr intelligenter Mann zu sein.«

 

»Ja, das glaube ich auch«, bemerkte Jim sachlich. »Detektive brauchen nun einmal Verstand zur Ausübung ihres Berufes.«

 

Kapitel 4

 

4

 

Jim hatte die Wahl, ob er nach Hause gehen und einsam zu Mittag essen oder ob er im Büro bleiben und sich dort die Zeit vertreiben sollte. Allein und einsam zu essen hatte keine große Anziehungskraft auf ihn, und er war noch unentschlossen, als er sah, daß das große, elegante Auto der Camerons auf der Straße anhielt und Frank ausstieg.

 

Jim eilte hinaus, um ihn zu begrüßen.

 

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Jim.«

 

Es war das erstemal, daß er Bartholomew mit Vornamen genannt hatte, und Jim glaubte das als gutes Vorzeichen deuten zu können.

 

»Ich weiß wirklich nicht, was Cecile passiert ist«, sagte Frank, als die beiden die breite Straße hinuntergingen, die um die Mittagszeit vollkommen verlassen war. »Heute morgen war sie in bester Stimmung, ja, sie machte sogar einen Scherz über diesen sonderbaren Ring, den sie doch sonst in so hohem Ansehen hält. Wie nannten Sie ihn doch gleich?«

 

»›Die Töchter der Nacht‹. Es klingt romantisch, aber der Name ist sonst gebräuchlich für die drei Furien.«

 

»Sie ging fröhlich und vergnügt von zu Hause fort, aber als sie von der Bank zurückkehrte, war sie ganz erledigt. Was ist nur geschehen?«

 

»Das mag der Himmel wissen. Ich saß mit ihr im Wagen, als ich plötzlich bemerkte, daß sie bleich wurde. Ich glaubte schon, sie würde ohnmächtig werden.«

 

»Können Sie mir irgendeinen Grund dafür angeben?«

 

»Nein.« Jim hielt es für klüger, die Tatsache zu verschweigen, daß allem Anschein nach Sandersons Anblick Cecile Cameron in solche Bestürzung versetzt hatte.

 

»Nun, auf jeden Fall hat sie sich entschlossen, morgen nicht nach Amerika zu reisen.«

 

Jim freute sich, als er das hörte.

 

»Unter diesen Umständen kann ich natürlich auch nicht fortfahren«, sagte Frank. »Aber Margot muß abreisen, denn es müssen Schriftstücke und Dokumente durch die Erben unterzeichnet werden. Ich komme dann später mit meiner Frau nach.«

 

»Soll Margot tatsächlich allein fahren?«

 

»Ich fürchte, es geht nicht anders. Sie hat dann sehr viel Platz, denn ich habe drei Kabinen für uns belegt.«

 

»Was sagt sie denn dazu?«

 

»Ach, sie ist sehr traurig darüber. Es wäre mir lieb, wenn Sie sie heute noch besuchten. Sie ist wirklich ein sehr netter Kerl und ein so liebenswürdiger Charakter. Morgen fährt sie nach Southampton. Ich wünschte, Sie könnten zum Dampfer gehen, damit sie nicht einen so traurigen, einsamen Abschied hat. Ich kann Cecile in ihrem jetzigen Zustand nicht allein lassen.«

 

»Nun, das tue ich selbstverständlich sehr gern«, erklärte Jim prompt. »Haben Sie keine Ahnung, aus welchem Grund Ihre Frau die Reise so plötzlich aufgibt? Ich dachte, sie freute sich so sehr darauf, wieder nach den Vereinigten Staaten zu kommen.«

 

»Nein, sie war nie sehr begeistert von der Reise. Aber sie hatte auch nichts dagegen. Ihre Freundin, Mrs. Dupreid, fährt mit dem Dampfer, und so glaubte sie, daß in ihrer Gesellschaft der Aufenthalt auf dem Dampfer sehr angenehm verlaufen würde. Ich bin wirklich sehr niedergeschlagen. Wie sie zu der Entscheidung gekommen ist, ihre Meinung zu ändern, mag der Himmel wissen. Ich habe mir zum Prinzip gemacht, niemals in meine Frau zu dringen, und infolgedessen führe ich eine glückliche Ehe.«

 

Jim lachte.

 

»Haben Sie Zeit, jetzt mit mir zu kommen? Ich möchte Sie gern in meinem Wagen mitnehmen.«

 

Jim zögerte.

 

»Warten Sie bitte einen Augenblick.« Er ging in die Bank zurück und suchte Sanderson auf.

 

»Ich gehe auf ungefähr eine Stunde aus. Wenn ich dringend gebraucht werde, telephonieren Sie nach dem Haus von Mr. Cameron.«

 

Der Assistent nickte. Er war in bester Stimmung.

 

»Ich glaube nicht, daß Ihre Anwesenheit heute nachmittag benötigt wird, Mr. Bartholomew. Ich habe den Streitfall wegen der Rechnung von Jackson & Wales in Ordnung gebracht; Sie werden die Schlußabrechnung heute abend um fünf unterschreiben können.«

 

Auf dem Wege nach Moor House zog Frank Bartholomew mehr ins Vertrauen, als er es jemals während ihrer zwölfmonatigen Bekanntschaft getan hatte.

 

»Cecile ist seit dem Tod ihrer Schwester nie wieder vollkommen hergestellt worden. Die starb damals in New York an Typhus. Ich sagte Ihnen doch schon früher, daß Cecile gerade noch zur rechten Zeit kam, um sie noch einmal zu sehen. Die Mitglieder ihrer Familie hielten sehr zueinander, und manchmal fürchtete ich schon, daß diese Aufregung ihrem Gemütszustand geschadet hätte. Ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein, Jim. Manchmal bin ich wirklich sehr besorgt um sie. Ich habe damals darauf bestanden, daß sie einen Spezialisten aufsuchte. Als wir das letztemal in New York waren, habe ich ihm alle meine Befürchtungen anvertraut, aber er konnte keine ernstliche Störung feststellen. Er sagte nur, ihr jetziger Zustand wäre die Folge eines schweren Schocks. Sie sei übernervös, aber das ließe sich ohne weiteres heilen. Margot war natürlich eine sehr gute Stütze für uns in dieser schweren Zeit, wie sie es auch immer gewesen ist. Wie stehen Sie eigentlich mit Margot?« fragte er plötzlich.

 

Jim wurde rot.

 

»Ich liebe sie«, erwiderte er etwas heiser.

 

»Das dachte ich mir«, entgegnete Frank ruhig.

 

»Nun, und was wollen Sie in der Angelegenheit weiter unternehmen?«

 

Frank unterdrückte ein Lächeln, als er diese Frage stellte. »Ich will sie fragen, ob sie mich heiraten will, aber das kann ich nicht, solange ich nur ein Bankdirektor mit einem verhältnismäßig kleinen Einkommen bin –«

 

»Sie wissen doch, daß Margot eigenes Vermögen besitzt«, unterbrach ihn Frank.

 

»Das ist ja gerade der Grund. Ich habe großes Zutrauen zu meinem – meinem Glück, wenn man es so nennen kann, und bin fest davon überzeugt, daß es mir gelingen wird, das Schicksal zu meistern. Sobald Margot abgefahren ist, gebe ich meine Stellung bei der Bank auf und fange etwas anderes an, das mir größere Chancen gibt. Ich weiß schon, was Sie sagen wollen.« Jim legte seine Hand auf Franks Knie. »Sie wollen mir eine Stellung anbieten – Sie sind ein sehr reicher Mann, und ich weiß wohl, daß Sie mir eine Position verschaffen können, in der ich leicht Geld verdienen kann. Aber das genügt mir nicht. Und Sie würden auch keine große Achtung vor mir haben, wenn ich auf Ihr Angebot einginge.«

 

»Da haben Sie recht«, entgegnete Frank nach einer kurzen Pause. »Und ich schätze Sie deshalb, Jim. Ich zweifle nicht daran, daß es Ihnen gelingt, sich durchzusetzen. Und ich bin davon überzeugt, daß Margot ebenso denkt wie ich.«

 

Als sie ankamen, war das Essen schon aufgetragen. Cecile Cameron hatte sich bereits etwas erholt und war wieder gefaßt. Als Jim eintrat, kam sie ihm mit einem sonderbaren Lächeln entgegen.

 

»Nun, Mr. Bartholomew, was halten Sie von meinem letzten sonderbaren Entschluß?«

 

»Sie werden jetzt jedenfalls Ihr Konto bei meiner Bank nicht abheben, und das tröstet mich in gewisser Weise«, erwiderte Jim scherzend. »Aber im Ernst, jeder muß doch das tun, was er für richtig hält. Ich halte es nicht für ratsam, sich zu etwas zu zwingen, wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist.« Er sah zu Margot hinüber, die seinen Blick erwiderte, ohne zu erröten. »Man kann eben das nicht aufgeben, was man am meisten in der Welt erstrebt.«

 

Margot pflichtete ihm bei. »Sie haben vollkommen recht.« Jim verneigte sich kurz und ein wenig steif.

 

»Ich kann mich jetzt noch nicht von diesem friedlichen Leben trennen«, erklärte Mrs. Cameron.

 

»Daraus kann man mir doch schließlich keinen Vorwurf machen.«

 

»Das tut auch niemand, mein Liebling«, entgegnete Frank. »Möchtest du nicht vielleicht auf einige Zeit nach Frankreich gehen?«

 

»Nein, ich möchte am liebsten hierbleiben«, antwortete sie schnell. »Hier in diesem kleinen, weltabgelegenen Ort, wo man niemanden sehen muß.«

 

»So, jetzt können Sie wieder eine Verbeugung machen, Jim«, sagte Margot.

 

»Ach, nennst du ihn schon beim Vornamen?« fragte Frank.

 

»Ja, gelegentlich, wenn ich gerade gut aufgelegt bin«, erwiderte sie kühl.

 

Jim ärgerte sich darüber, trotzdem war aber die Stimmung beim Essen gegen alle Erwartungen sehr vergnügt.

 

Als Jim zur Bank zurückkehrte, schaute er hoffnungsvoll in die Zukunft. Erstens würde Margot auf jeden Fall zurückkehren, wenn die Camerons hierbleiben. Zweitens wußte er, daß er sie nicht wieder gehen lassen würde, wenn sie noch einmal wiederkam.

 

Margot ging am Nachmittag zur Bank, um sich von ihm zu verabschieden. Sie hatte diese Örtlichkeit gewählt, weil sie ihrer selbst nicht ganz sicher war. Wären sie beide allein gewesen, hätte sie vielleicht ihre Gefühle ihm gegenüber nicht verbergen können.

 

»Cecile hat die Absicht, nach Schottland zu gehen. Sie hatte heute nachmittag eine sehr lange Unterredung mit Frank. Als mein Bruder nachher aus seinem Arbeitszimmer trat, war er sehr ernst. Auf jeden Fall ist Cecile schon abgereist. Ich habe sie zur Bahn gebracht.«

 

»Sie ist schon abgefahren?« fragte Jim aufs höchste erstaunt. »Hat denn Frank –«

 

Margot schüttelte den Kopf.

 

»Nein, sie ist allein gereist. Sie hat gute Freunde dort oben.« »Sie tut mir wirklich leid. Ich möchte nur wissen, was ihr eigentlich fehlt?«

 

Margot sah ihn gerade an.

 

»Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Haben Sie gesehen, wie sie Mr. Sanderson anstarrte, als sie den Zusammenbruch hatte?«

 

Er nickte.

 

»Das habe ich wohl bemerkt. Soviel ich weiß, hat sie aber meinen Assistenten früher niemals getroffen.«

 

»Ich weiß es. Wir haben vor drei Tagen noch über die Bank gesprochen, und ich erzählte ihr von dem Steckenpferd von Mr. Sanderson. Sie lachte noch darüber. Bei der Gelegenheit bemerkte sie, daß sie Ihren Assistenten überhaupt nicht kennengelernt hätte.«

 

Sie reichte ihm die Hand.

 

»Also, leben Sie wohl, Jim. Ich glaube, ich werde bald wieder hier sein.«

 

Er nahm ihre Hand in die seine und drückte sie. Das Sprechen fiel ihm schwer.

 

»Sie verstehen, was ich Ihnen alles sagen möchte und was vorläufig doch ungesagt bleiben muß.«

 

Sie nickte.

 

»Ich verstehe es vollkommen. Wollen Sie mir nicht einen Kuß geben?«

 

Sie hob den Kopf, und er drückte die Lippen auf ihren Mund.

 

Kapitel 5

 

5

 

Mit schwerem Herzen kehrte Jim Bartholomew vom Bahnhof zurück. Frank hatte ihm angeboten, ihn zur Bank zurückzufahren, aber er hatte es abgelehnt. Frank bestand jedoch darauf, daß Jim am Abend mit ihm speisen sollte. Die Tatsache, daß Sanderson in besonders gehobener Stimmung war, vertiefte das Gefühl der Verlassenheit, das Jim spürte, noch mehr. Er ärgerte sich, daß der andere ein paar fröhliche Schlagermelodien vor sich hinpfiff, während er arbeitete, und schließlich konnte er es nicht mehr aushalten.

 

»Was zum Teufel machen Sie da wieder für ein Konzert?« fragte Jim, während er die Tür zu dem anderen Büro öffnete.

 

»Ach, ich bin nur vergnügt, weiter nichts. Wissen Sie, was die ›Vier Großen‹ –«

 

»Ach, lassen Sie mich mit Ihren ›Vier Großen‹ in Ruhe«, sagte Jim gereizt und war erstaunt, daß sein Assistent lachte. Er wandte sich von der Tür ab.

 

»Nun, was ist denn mit Ihnen los?« Schließlich war ihm jede Gelegenheit willkommen, die ihm Zerstreuung brachte.

 

»Ich habe mir einmal die Mühe gemacht und alle Belohnungen zusammengestellt, die auf ihre Ergreifung ausgesetzt sind. Was meinen Sie, auf welche Höhe sich die Summe beläuft?«

 

»Keine Ahnung.«

 

»Hundertzwanzigtausend Pfund! Die italienische Regierung hat allein fünfzigtausend Pfund für die Wiederbeschaffung der Negretti-Diamanten ausgesetzt. Sie mußten über kurz oder lang doch an den Staat fallen, der Herzog von –«

 

»Ach, hören Sie doch von Geld auf«, sagte Jim müde. »Müssen Sie denn nicht schon den ganzen Tag mit Pfund, Dollars, Mark und Francs rechnen –«

 

»Ach nein, das wird mir nie zuviel«, entgegnete der Assistent offen.

 

Jim ging in sein Zimmer zurück, und Sanderson folgte ihm.

 

»Ich möchte Sie einmal etwas fragen, Mr. Bartholomew.«

 

»Nun, was denn?«

 

»Schreiben Sie doch bitte an die Generaldirektion in London und beantragen Sie noch einen zweiten Dienstrevolver für uns. Wir haben nur einen, und der ist in Ihrem Schreibtisch. Sie wissen ja, daß ich hier oben über den Büroräumen wohne und überhaupt keine Waffe habe.«

 

»Nehmen Sie meine. Was sind Sie doch für ein blutdürstiger Mensch! Wahrscheinlich gehen Sie zu oft ins Kino.«

 

»Ins Kino? Ich?« Sanderson war in seiner Ehre gekränkt. »Sie glauben doch nicht, daß ich mein wohlverdientes Geld für solchen Unsinn ausgebe? Der einzige Film, den ich mir angesehen habe, war ein Kulturfilm, der das Leben der Bienen zeigte. Wenn diese verdammten Kinos tatsächlich mehr Derartiges bringen würden, ginge ich auch regelmäßig in die Vorstellungen.«

 

»Hier ist der Revolver«, sagte Jim, schloß eine Schublade auf und nahm eine ziemlich große Schußwaffe heraus. »Seien Sie aber vorsichtig, das Ding ist geladen.«

 

»Legen Sie ihn ruhig wieder zurück. Schließen Sie aber bitte nicht zu, damit ich die Waffe heute abend herausnehmen kann.«

 

»Warum brauchen Sie denn überhaupt einen Revolver?« fragte Jim neugierig.

 

»Ich habe das ungewisse Gefühl, daß wir früher oder später irgendwie mit den ›Vier Großen‹ zu tun bekommen werden«, erklärte Sanderson ernst, fast feierlich.

 

»Ach, reden Sie doch nicht solchen Unsinn!« Jim schüttelte den Kopf. »Was sollten die denn in einem so kleinen Nest suchen? Was könnten die denn auf der Bank hier finden? Meinetwegen sollen sie ruhig all die überzogenen Konten unserer kleinen Kunden stehlen.«

 

»Vergessen Sie nicht, daß wir Diamanten im Wert von hunderttausend Pfund in unserer Stahlkammer haben«, entgegnete Sanderson.

 

Jim wurde ernst.

 

»Ja, da haben Sie recht. Die müssen am Dienstag nach London geschafft werden.«

 

In diesem Augenblick kam Sturgeon, ein reicher Farmer, in die Bank, der ein Gut von eintausendfünfhundert Morgen in der Gegend besaß. Er warf einen schnellen Blick auf die große Uhr, als er hereintrat.

 

»Nun, das habe ich ja noch einmal geschafft«, meinte er und legte sein Bankbuch mit einem größeren Scheck zur Einzahlung auf den Zahltisch.

 

Jim, der in der Tür seines Büros stand, nickte ihm zu.

 

»Wenn es sich darum handelt, Einzahlungen entgegenzunehmen, machen wir Überstunden, aber wenn es sich um Auszahlungen handelt, sind wir sehr peinlich auf Einhaltung der Bürozeit bedacht«, meinte er.

 

»Hallo, Bartholomew!« rief Sturgeon. »Ich sah, wie eine gute Bekannte von Ihnen vor einer halben Stunde an der Haltestelle beim Stadtwald ausstieg.«

 

Es handelte sich um eine kleine Station außerhalb der Stadt, wo Züge gelegentlich hielten und Passagiere aus- und einstiegen, die aus den Dörfern jenseits des Waldes kamen.

 

»Ich habe so viele Bekannte, daß ich nicht weiß, wen Sie meinen.«

 

»Mrs. Cameron.«

 

»Ach, da haben Sie aber Traumbilder gesehen. Das kann nicht stimmen. Mrs. Cameron ist nämlich heute nachmittag gleich nach Tisch nach London gefahren.«

 

»Vielleicht doch nicht. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen aus dem Zug kommen sehen. Dann stieg sie in ihr Auto, das vor dem Bahnhof wartete.«

 

»Am Ende haben Sie doch recht gesehen«, sagte er.

 

»Ja, ich irre mich nicht. Meine Augen sind noch sehr gut.« Sturgeon nahm sein Bankbuch und ging lächelnd zur Tür. »Also, auf Wiedersehen!«

 

Jim kehrte in sein Zimmer zurück und schloß die Tür.

 

Mrs. Cameron war mit dem Dreiuhrzug fortgefahren, der in Bristol Anschluß an den Schnellzug nach Schottland hatte. Eine Stunde vor Margot war sie abgefahren, die den Zug nach Exeter nahm, um später in Yeovil den Zug nach Southampton zu erreichen.

 

Einen Augenblick hatte Jim zu hoffen gewagt, daß es Margot gewesen wäre.

 

Er mußte mit Frank darüber sprechen, der konnte ihm alles erklären. Er ging zum Telefon, aber dann überlegte er es sich anders. Mrs. Cameron würde kaum ihren Plan ändern, ohne vorher mit ihrem Mann darüber gesprochen zu haben. Aber er erinnerte sich genau, daß Frank ziemlich gleichgültig geäußert hatte, seine Frau wollte einen Besuch in Schottland machen. Sonst hatte er kaum etwas über ihren neuen Entschluß gesagt. Es war merkwürdig.

 

Als er am Abend zum Essen nach Moor House kam, glaubte er schon Cecile Cameron im Wohnzimmer zu treffen, aber sie war nicht dort, und Frank erwähnte sie auch nicht. Das war ein außergewöhnlicher Umstand, denn er war sehr um sie besorgt und wurde sonst nicht müde, über sie zu sprechen. Die Unterhaltung stockte dauernd, und Jim fühlte sich sehr einsam, weil ihm Margot fehlte. Er sprach ganz offen über sie, und Frank ermutigte ihn hierbei. Es schien Jim fast so, als ob Frank Mrs. Cameron nicht erwähnen wollte. Als Jim einmal andeutete, Cecile könnte vielleicht Schwierigkeiten gehabt haben, um den Expreßzug nach Schottland zu erreichen, änderte er sofort das Gesprächsthema.

 

Jim ging ein wenig niedergeschlagen nach Hause. Er fühlte sich einsam und verlassen. Ein leichter Sprühregen fiel, aber Jim hatte seinen Regenmantel im Büro zurückgelassen. Auf dem Rückweg kam er an der Bank vorbei und tastete in der Tasche nach dem Büroschlüssel. Zu seiner Beruhigung fühlte er den Bund. Er beschleunigte seine Schritte und überholte dabei den Polizeiinspektor.

 

»Eine häßliche Nacht, Mr. Bartholomew«, sagte der Beamte, als er ihn erkannte. »War das das Auto von Mr. Cameron, das ich vor einer halben Stunde in der High Street sah? Es steht jetzt dort.«

 

Er zeigte auf das rote Schlußlicht eines großen Wagens auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.

 

»Nein, das kann nicht das Auto von Mr. Cameron sein. Steht der Wagen schon lange dort?«

 

»Etwa eine halbe Stunde. Dann gehört er wahrscheinlich einem der Gutsbesitzer aus der Gegend. Heute abend findet nämlich ein Schülerkonzert in der Church Hall statt.«

 

Die Stadt Moorford war sehr sparsam veranlagt, und die Verwaltung hatte beschlossen, die Bogenlampen an hellen Mondnächten nicht brennen zu lassen. Da nun nach dem Kalender an diesem Abend der Mond scheinen sollte, brannten die Laternen nicht, obwohl schwere Wolken den Himmel bedeckten und der Regen dauernd niederging. Jim konnte unmöglich die Umrißlinien des Wagens auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkennen.

 

Als die beiden zur Bank kamen, nahm er seinen Schlüssel heraus, der die Tür zum Seiteneingang öffnete.

 

»Wollen Sie noch arbeiten?«

 

»Nein, ich will nur meinen Regenmantel mitnehmen. Sicher werde ich Sie bald wieder einholen.«

 

Der Inspektor ging weiter; Jim trat in die Bank und schloß die Tür.

 

Als der Inspektor an dem großen Gebäude vorüberging, sah er Licht in den Fenstern der Räume über der Bank, die Mr. Stephen Sanderson bewohnte. Außerdem sah er auch Licht in dem Büro des zweiten Direktors.

 

Er war kaum ein Dutzend Schritte weitergegangen, als er plötzlich einen Schuß hörte und sich umwandte. Er lauschte, hörte aber keinen Schrei oder sonstige Geräusche. Trotzdem mußte es unweigerlich ein Schuß gewesen sein. Der Inspektor war ein alter Soldat und irrte sich in der Beziehung nicht. Schnell ging er zur Bank zurück und sah durch das große Fenster. Er entdeckte eine Gestalt an der Glastür, die zu Sandersons Büro führte, und klopfte.

 

Dann eilte er zu dem Seiteneingang. Die Tür war nur angelehnt, obwohl er sich deutlich erinnern konnte, daß Bartholomew sie verschlossen hatte.

 

Mit der Taschenlampe leuchtete er in den Eingang und trat dann selbst ins Haus. An der linken Seite des Ganges befand sich eine Tür; er drückte die Klinke nieder und stand gleich darauf im Privatbüro Jim Bartholomews. Auch das Zimmer war leer; der Schlüssel steckte noch im Schloß.

 

»Wer ist da?« rief eine Stimme.

 

»Polizeiinspektor Brown – ist etwas nicht in Ordnung?«

 

»Treten Sie doch näher, Inspektor.«

 

Der Beamte ging quer durch das Zimmer, öffnete die Glastür, die in Sandersons Raum führte, und blieb wie angewurzelt stehen.

 

Jim Bartholomew sah in kniender Haltung auf einen Mann, der bewegungslos neben dem Schreibtisch lag.

 

»Um Himmels willen, was ist denn mit Mr. Sanderson geschehen?«

 

»Er ist tot«, entgegnete Jim düster und schaute auf den Revolver in seiner Hand. »Ein Schuß aus meiner Waffe muß ihn getötet haben.«

 

*

 

»Ich hörte den Schuß, als ich meine Tür aufschloß«, erklärte Jim, »und eilte hinein. Aber ich fand niemand in den Büroräumen.«

 

Er erhob sich und ging zur Tür, die in den Gang führte. Sie war nicht verschlossen.

 

»Der Täter muß diesen Weg genommen haben. Gehen Sie doch hinaus auf die Straße, Brown. Ich will das Haus durchsuchen. Der Täter kann nicht weit entfernt sein.«

 

Aber allem Anschein nach war der Mörder auf dem Weg entkommen, auf dem sowohl Jim als auch Inspektor Brown das Haus betreten hatten. Vermutlich befand er sich in nächster Nähe, als der Inspektor durch die angelehnte Tür in die Bank ging. Als der Beamte aber wieder auf die Straße hinaustrat, war niemand mehr zu sehen. Weiter unten die Straße entlang leuchtete ein kleines rotes Schlußlicht. Es mußte das Auto sein, das sie auf der anderen Seite der Straße bemerkt hatten, und das sich jetzt in schneller Fahrt entfernte.

 

Jim durchsuchte alle Ecken und Winkel, fand aber nichts. Nur so viel konnte er feststellen, daß sich zwei Personen in dem Zimmer aufgehalten hatten. Sanderson mußte also Besuch gehabt haben. Zwei leere Kaffeetassen standen in der Wohnung auf dem Tisch, und im Aschenbecher lag das Ende einer Zigarette. Jim sah, daß es die Marke war, die sein Assistent gewöhnlich rauchte.

 

Andere Anhaltspunkte fand er nicht. Er ging wieder zum Büro zurück und beugte sich über den Toten. Sanderson war aus kürzester Entfernung erschossen worden; er mußte einen schmerzlosen Tod gehabt haben, denn seine Züge waren heiter. Sein Gesicht zeigte noch einen Schimmer der frohen Stimmung, in der er am Nachmittag gewesen war.

 

Die eine Hand des Ermordeten lag flach und offen auf dem Boden, die andere war zusammengekrampft. Jim hob sie auf und entdeckte zwischen den Fingern ein kleines Stück Papier. Er brach sie auf und nahm es heraus. Als er es am Tisch beim Licht der Lampe genauer betrachtete, war es ein Stück einer Photographie, das gewaltsam abgerissen war. Das Gesicht war nicht zu sehen, aber eine Hand, die einer Frau gehören mußte. Als Jim auf den kleinen Fetzen starrte, schien sich plötzlich der ganze Raum um ihn zu drehen. Er hielt sich an der Tischecke fest, um nicht umzusinken, denn er erkannte den Ring: Es waren die drei Töchter der Nacht.

 

Was hatte diese Photographie von Mrs. Cameron hier zu suchen?

 

Der Mörder hatte Sanderson umgebracht, um sich in den Besitz dieser Photographie zu setzen. Woher hatte Sanderson sie nur? Jim erinnerte sich plötzlich an den Stoß Photographien, die der Staatsanwalt von New York seinem Assistenten geschickt hatte.

 

Und nun fiel ihm auch wieder ein, wie sehr Mrs. Cameron erschrak, als sie Sanderson sah. Und daraufhin hatte sie ihre Pläne geändert… Was hatte es zu bedeuten, daß sie auf der Station dicht bei der Stadt ausstieg, während doch alle Leute annehmen mußten, daß sie auf dem Weg nach Schottland war? Er sank schwer in einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände. Jim wußte nicht, was er tun sollte, zitterte vor Erregung und fühlte sich körperlich krank.

 

In dem Augenblick hörte er laute Schritte draußen im Gang. Sofort steckte er mechanisch die abgerissene Ecke der Photographie in seine Westentasche, erhob sich und ging dem Inspektor entgegen, der allein zurückkehrte.

 

»Ich muß den Arzt holen, Mr. Bartholomew. Der Polizeiarzt ist unglücklicherweise nicht in der Stadt anwesend, deswegen rufe ich Dr. Grey von Oldshot. Wollen Sie solange warten?«

 

Jim nickte. Ihm war es nur recht, wenn er etwas Zeit zum Nachdenken hatte.

 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Inspektor mit dem Arzt und einem Polizisten zurückkam, den er unterwegs in der Stadt getroffen hatte. Der Inspektor war überrascht. Die Tür stand angelehnt, aber Jim Bartholomew war nicht mehr da. Auf dem Schreibtisch lagen ein Zettel und ein Schlüssel. Auf dem Papier standen die Worte: »Telegraphieren Sie an unsere Bank in Tiverton, daß man einen neuen Direktor hierhersenden soll, der die Geschäfte weiterführt, und geben Sie ihm diesen Schlüssel.«

 

Der Beamte sah bestürzt von dem Doktor zu dem Polizisten.

 

»Ich verstehe nicht, was das zu bedeuten hat«, sagte er verwirrt. »Warum ist Mr. Bartholomew nur fortgegangen, und wohin hat er sich gewandt?«

 

Diese beiden Fragen wurden verhältnismäßig bald beantwortet. Um zwei Uhr nachts wurde dem Inspektor berichtet, daß Mr. Bartholomew mit dem letzten Zug nach Exeter gefahren war, gerade als die letzten Wagen aus dem Bahnhof fuhren. Um zehn Uhr am nächsten Morgen kam ein Bankbeamter, der in aller Eile den Inhalt der Stahlkammer untersuchte.

 

Mit einem Stoß von Papieren in der Hand kam er wieder zurück, legte sie auf den Tisch seines Büros und nahm dann Einsicht in das Buch für Depositen.

 

»Depot Nr. 64«, las er langsam, »ein Halsband, mit Diamanten besetzt, Eigentum von Mrs. Stella Markham auf Tor Towers. Deponiert am 19. September. Wert 112 000 Pfund und versichert bei der Bank. Prämie bezahlt.«

 

Er sah von dem Buch auf das geöffnete Paket. Die Siegel waren aufgerissen, die Schnüre zerbrochen. Das braune Papier hing in Fetzen herunter, und der Glaskasten – war leer.

 

Am selben Nachmittag wurde ein Steckbrief hinter Jim Bartholomew erlassen, den man wegen Mordes und Einbruchs anklagte. Seine Personalbeschreibung wurde telegraphisch im ganzen Land verbreitet, etwas später ebenfalls durch Radio. Dringende Anfragen wurden an alle Dampfer gesandt, die an dem Tag England verlassen hatten. Aber von allen kam die Antwort zurück: »Nicht an Bord.«

 

Kapitel 13

 

13

 

»Willst du mir jetzt vielleicht sagen, was all diese Geheimnistuerei zu bedeuten hat?« begann Margot und setzte sich auf das Sofa. »Ich weiß, daß ich sehr heftig bin, aber alles hat seine Grenzen. Willst du mir dein Verhalten jetzt erklären?«

 

»Das kann ich nicht«, entgegnete Cecile traurig. »Ich möchte dir nur sagen, daß Frank weiß, warum ich diese Reise unternommen habe.«

 

»Das ist wenigstens etwas. Aber wie bist du hierhergekommen?«

 

»Ich entschloß mich, doch noch mit dem Dampfer zu fahren. Meine Freundin, Mrs. Dupreid, hielt sich in North Devon auf, ganz in unserer Nähe. Wir wollten sie ja, wie du dich wohl entsinnen kannst, auf unserem Wege zum Dampfer abholen.«

 

Margot nickte.

 

»Ich hatte eine Unterredung mit Frank und erzählte ihm gewisse Dinge. Er sah dann ein, daß es das beste wäre, wenn ich mit der ›Ceramia‹ führe. Aus gewissen Gründen aber konnte ich nicht unter meinem eigenen Namen reisen, denn ich wollte vor allem allein und ungestört sein, damit ich Handlungsfreiheit hatte und tun und lassen konnte, was ich wollte. Ich besuchte Mrs. Dupreid, und sie war so liebenswürdig, daß sie auf meinen Plan einging. Ich reiste also auf ihren Namen und Paß und nahm ihre Kabine. Sie wollte mit einem späteren Dampfer nachkommen, wenn ich ihr den Paß zurückgeschickt hatte.«

 

»Soweit kann ich ja alles verstehen, aber warum bist du denn hier? Und warum hast du Mrs. Markham in ihrer Kabine besucht?«

 

Cecile schüttelte den Kopf.

 

»Du mußt mir trauen.«

 

»Ich will dir ja auch trauen«, entgegnete Margot hoffnungslos. »Ich habe Jim vertraut, und ich traue dir, aber heute abend sah ich dich in seinen Armen, Cecile.«

 

»Ich war so verzweifelt, daß ich mich bei irgend jemand ausweinen mußte«, sagte die Schwägerin. »Ich war sehr erstaunt, ihn an Bord des Dampfers zu treffen. Wenn ich mich erhole, gehe ich nur auf dem Bootsdeck spazieren. Ich mußte mich vor allem von den anderen Passagieren getrennt halten. Ich mußte auch dir aus dem Weg gehen. Gestern abend traf ich ihn zufällig, und wir haben miteinander gesprochen –« sie zögerte.

 

»Das glaube ich sofort«, entgegnete Margot trocken und ironisch. »Ich muß schon sagen, es ist eine ganz besondere Art, sich zu unterhalten, wenn man sich von einem anderen Mann als dem eigenen umarmen läßt –« Aber dann wurde Margot milder. »Nun, ich habe ja nichts dagegen, wenn Jim dir mitfühlend zuhört und dich ein wenig tröstet. Hat er dir denn nicht gesagt, daß er selbst in einer sehr schweren Lage ist?«

 

»Ja. Er tut mir furchtbar leid.«

 

»Da hast du ihn wohl auch getröstet?«

 

Cecile antwortete nicht.

 

»Und er hat sich wohl auch an deiner Brust ausweinen müssen?« fragte Margot wieder gereizt. »Eine Liebe ist natürlich der anderen wert.«

 

»Margot, du bist herzlos, aber ich bin doch froh, daß ich dich hier sehe. Es war ein furchtbares Leben so allein –«

 

»Nun wollen wir einmal vernünftig miteinander reden. Wann soll ich nun in den Skandal hineingezogen werden?«

 

Cecile sah sie traurig und nachdenklich an.

 

»Vielleicht an dem Tag unserer Ankunft in New York, wenn – wenn –«

 

»Wenn?«

 

»Wenn sich alles nach Wunsch entwickelt«, begann Cecile vorsichtig.

 

»Weißt du auch von der Photographie?« fragte Margot zögernd.

 

Cecile nickte.

 

»Jim hat mir alles gesagt.«

 

»Hast du Mr. Sanderson schon früher getroffen?«

 

Cecile hatte sich von ihrer Schwägerin abgewandt und schüttelte den Kopf.

 

»Laß die Sache, bis wir in New York ankommen. Bitte, erfülle mir den Wunsch.«

 

»Schön, ich will warten. Ich möchte nur wissen, ob Jim oben auf mich gewartet hat?« sagte sie und eilte aus der Kabine.

 

Mit dem nächsten Fahrstuhl fuhr sie nach oben und sah gerade noch, daß er fortgehen wollte. Sie pfiff leise.

 

»Ach, du bist es«, sagte er. »Nun, hast du die Dame erschlagen oder erdolcht?«

 

Margot zitterte.

 

»Sprich nicht so. Cecile habe ich immer gern gehabt, aber ich muß sagen, diese Geheimnistuerei und diese zärtliche Umarmung waren doch etwas zuviel für mich. Jim, war es denn wirklich notwendig, daß sie sich an deiner Brust ausweinte?«

 

Er zog sie fest an sich und küßte sie, und sie schmiegte sich auch wieder an ihn.

 

»Wann gehst du wieder in den Heizraum?« fragte sie.

 

»Darüber wollen wir lieber nicht sprechen, Margot. Ich möchte dich weiter ins Vertrauen ziehen, aber wenn ich dir etwas sage, dann mußt du auch nicht in mich dringen. Versprichst du das?«

 

»Ja, ich verspreche es.«

 

»Erstens möchte ich dir noch einmal versichern, daß ich Mrs. Markhams Juwelen nicht gestohlen habe. Das Schmuckstück wurde von den ›Vier Großen‹ erbeutet. Es steht außer jedem Zweifel, daß es eine solche Bande gibt. Es sind vier Leute, die schon immer zusammengearbeitet haben. Ihnen müssen auch die großen Juwelendiebstähle zur Last gelegt werden, die in der letzten Zeit soviel Aufsehen in Europa erregt haben. Ein Mitglied dieser Bande hat sich auch Mrs. Markhams Juwelen angeeignet.«

 

»Wer sind denn die Leute? Ach Verzeihung, das ist wohl eine Frage, die ich nicht stellen darf.«

 

»Teils, teils. Sie ist deshalb verboten, weil ich sie nicht leicht beantworten kann, und ich möchte auch nichts darüber sagen, weil ich meiner Sache nicht sicher bin. Wir wissen, daß die beiden Trentons zu der Bande gehören, die in den Vereinigten Staaten schon mehrere Gefängnisstrafen abgesessen haben. Sanderson hat mir das mitgeteilt. Es ist ein Mann und eine Frau. Wir haben hier zwei Detektive von Scotland Yard an Bord, die sehr eifrig unter den Passagieren der zweiten und dritten Klasse nach ihnen suchen. Der dritte ist ein Spanier namens Antonio Romano und der vierte der gerissenste und schlaueste von allen, ein gewisser Mr. Talbot, ein Meisterfälscher und Einbrecher, Spezialist für Brillanten und Schmucksachen. Aber nicht er, sondern Trenton ist der Führer der Bande. Es ist sicher, daß sich zwei von ihnen an Bord des Schiffes befinden. Scotland Yard hat darüber genaue Mitteilungen erhalten.«

 

»Woher weißt du das alles?«

 

»Weil einer der Detektive von Scotland Yard mit mir in derselben Wache im Kesselraum arbeitet.«

 

»Ist er denn auch Heizer?« fragte sie erstaunt. »Ist das etwa der Mann, den du Nosey nennst?«

 

»Ja. Ich vermutete schon, wer er war, als wir ihn damals zusammen sahen. Und als er mich fragte, ob ich Jim Bartholomew wäre, der wegen Mordes gesucht wird –«

 

Margot wurde bleich.

 

»Das hast du ihm doch nicht gesagt?« protestierte sie leise. »Sage mir doch, daß es nicht wahr ist.«

 

»Doch, er weiß es«, erklärte Jim. »Aber rege dich deswegen nicht auf, Liebling. Du nimmst doch nicht an, daß ich mich von jetzt ab mein ganzes Leben lang verstecken will? Wenn ich das Geheimnis, das über diesem Fall schwebt, auf dieser Reise nicht aufklären kann, gehe ich nach England zurück und stelle mich dem Gericht. Die Verhandlung wird dann ja ergeben, daß ich weder Sanderson erschossen noch die Juwelen gestohlen habe.«

 

Er küßte sie zärtlich, und für einen Augenblick wichen alle Sorgen von ihr.

 

Aber dann faßte sie ihn wieder hart am Arm. »Ich fürchte, daß ich noch graue Haare bekomme, ehe wir in New York sind.«

 

»Und ich bin ganz rotgebrannt von der Hitze im Kesselraum. Soll ich weitererzählen?«

 

»Ja, bitte.«

 

»Hätte ich nicht mit Sergeant Rawson von Scotland Yard gesprochen, so hätte ich nicht die Möglichkeit, in New York an Land zu gehen. Wenn wir in Ellis Island Anker werfen, wird eine ganze Schar amerikanischer Detektive an Bord kommen, um die Mitglieder der Bande auszukundschaften, und ich halte es für sicher, daß sie die Leute finden.«

 

»Wieso?«

 

»Einer von ihnen hat sich telegraphisch als Kronzeuge angeboten. Er schickte ein Radiotelegramm; an dem Abend wäre er beinahe umgebracht worden.«

 

Margot sah ihn verwundert an.

 

»Mr. Price«, sagte sie leise.

 

»Price oder Talbot, das ist derselbe. Ich hätte viel darum gegeben, wenn ich den Inhalt des Telegramms hätte lesen können. Talbot ist der Mann, auf den es im Augenblick ankommt, und durch ihn wird auch Mrs. Markham das gestohlene Diamantenhalsband wiederbekommen.«

 

»Nachdem ich das alles weiß, kann ich auch wieder aufatmen. Daß ich auf dieser Reise mit dir zusammensein darf, ist wunderbar.«

 

»Wenn du nur sehen könntest, wie braungebrannt ich von den Hüften an aufwärts bin. Aber trotz aller Hitze und aller Arbeit – die Stunden, die ich mit dir verbringen durfte, waren es wert.« Aber plötzlich änderte er seinen Ton. »Wir wollen auf das Promenadendeck gehen.«

 

Unten waren kaum noch Leute, und die beiden gingen auf und ab. Sie sprachen von Devonshire, von Amerika, nur nicht von den Sorgen, die sie hatten. Als sie sich umwandten, sahen sie Mr. Price, der an der Reling lehnte und nachdenklich aufs Meer hinausschaute. Etwa zwanzig Schritte von ihm entfernt saß ein gutgekleideter Mann in einem Deckstuhl. Margot erkannte ihn als den Passagier, den Jim Nosey genannt hatte.

 

»Siehst du den Herrn dort?« fragte Jim, als sie an ihm vorübergingen.

 

»Ja.«

 

»Das ist der andere Detektiv. Seine Aufgabe ist es, Price oder Talbot zu bewachen, damit die Mitglieder der Bande ihm nichts zu leide tun. Neulich abends hätten sie ihn beinahe erledigt.«

 

»Aber der Detektiv hat es sicher gut im Vergleich zu dem armen Rawson, der sich unten im Heizraum abquälen muß«, meinte sie.

 

Jim lachte.

 

»Sie haben darum gewürfelt, wer erster Klasse fahren dürfte, und mein Freund hat verloren.«

 

Dreimal gingen sie um das Promenadendeck herum, und immer noch lehnte Mr. Price an der Reling. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und er stützte sich mit den Ellbogen auf das Geländer. Als sie zum viertenmal vorbeikamen, blieb Jim vor dem Detektiv stehen.

 

»Unser Freund drüben ist schon ziemlich lange Zeit dort.«

 

Der Detektiv warf die Zigarette weg und sah das Deck entlang.

 

»Ja, ich beobachte ihn schon die letzte halbe Stunde.«

 

»Ist jemand in seiner Nähe gewesen?«

 

Allem Anschein nach kannte der Detektiv Jim. Später erfuhr Margot, daß die beiden Beamten mit Jim kurz vorher eine Konferenz in der Kabine des Chefingenieurs abgehalten hatten.

 

»Nein, es ist ihm niemand zu nahe gekommen. Natürlich sind mehrere Leute an ihm vorbeigegangen, genau wie Sie und ich.«

 

»Ich möchte nur wissen, worüber er solange nachgrübelt«, sagte Jim.

 

»Der arme Mann«, meinte Margot.

 

»Nun, Price kann sich glücklich schätzen«, entgegnete der Detektiv lachend. »Er hat heute ein Radiotelegramm erhalten, daß er wegen seiner Verbrechen begnadigt ist, und daß sein Zeugnis vom Staat angenommen wird.«

 

Langsam ging er auf Mr. Price zu und legte die Hand auf seine Schulter.

 

»Mr. Price, an Ihrer Stelle würde ich jetzt zu Bett gehen.«

 

Der Pfarrer antwortete nicht.

 

Der Detektiv neigte sich über ihn und sah ihn genauer an. Dann drehte er sich um und kehrte mit den Händen in den Taschen zurück.

 

»Miss Cameron, es wäre wohl am besten, wenn Sie sich zur Ruhe legten.«

 

Jim sah ihn an. Margot wechselte einen Blick mit ihm und nickte dann.

 

»Ist er – verletzt?« fragte sie leise.

 

»Das nicht, aber manchmal hat er solche Anfälle und wird ohnmächtig«, erklärte der Detektiv, »und es ist besser, daß er nicht von anderen Leuten in diesem Zustand gesehen wird.«

 

Sie glaubte, was er ihr sagte, lächelte Jim noch einmal an, verabschiedete sich und ging nach unten.

 

Jim und der Detektiv aber legten den Toten auf das Deck; dann zog der Beamte das Dolchmesser aus seiner Seite.

 

Kapitel 14

 

14

 

Nirgends wird ein Geheimnis getreuer bewahrt als an Bord eines Schiffes, denn die ganze Besatzung, vom Kapitän bis zum letzten Pagen, sind geborene Verschwörer, wenn es sich darum handelt, daß die Passagiere gewisse Dinge nicht erfahren sollen. Niemand, mit Ausnahme der Leute, die es direkt anging, wußte beim nächsten Frühstück, welche Tragödie sich in der Nacht abgespielt hatte.

 

Der Platz von Price war gedeckt; seine Serviette lag zusammengefaltet links neben dem Teller, und die frisch gebackenen Brötchen, die heißen Toastschnitten und der Kaffee warteten um halb neun auf ihn. Um diese Zeit pflegte er zu frühstücken.

 

Der Decksteward setzte den Sessel zurecht, ordnete die Kissen und legte das Buch, in dem der Pfarrer gelesen hatte, bequem zur Hand, obwohl er wußte, daß Mr. Price unten in einem abgeschlossenen Raum als Toter aufgebahrt lag.

 

Margot ahnte so wenig, daß sie den Steward in Mr. Prices Kabine schickte und sich nach seinem Befinden erkundigen ließ. Er kam mit der Nachricht zurück, daß Mr. Price sich nicht wohl fühlte und wahrscheinlich kaum an Bord erscheinen könnte.

 

Mr. Winter erkundigte sich bei dem Steward im Rauchsalon nach dem Pfarrer. Auch dieser wußte sehr genau, daß Mr. Price tot war, denn er hatte selbst geholfen, die Leiche unter Deck zu schaffen. Er erwiderte, daß Mr. Price vor ein paar Minuten noch im Rauchsalon gewesen sei und wohl eben nach unten gegangen sein müsse.

 

Der Morgen war sonnig und klar, aber gegen Mittag kam das Schiff in eine dichte, weiße Nebelbank, und für den Rest des Tages konnte die ›Ceramia‹ nur mit der geringen Geschwindigkeit von zehn Knoten die Stunde fahren. Dauernd schrillten die Dampfpfeifen in kurzen Zwischenräumen. Auf dem Promenadendeck war es feucht und kalt. Die Deckplanken waren naß und glatt, so daß selbst das Spazierengehen nicht anzuraten war. Aber Margot ließ sich dadurch nicht stören. Sie saß in ihrem Deckstuhl, in Decken eingewickelt, denn sie zog den Aufenthalt in der freien Luft vor. Stella Markham dagegen hatte sich in ihre Räume zurückgezogen.

 

Margot hatte den größten Teil des Vormittags mit ihrer Schwägerin verbracht, die fest entschlossen war, sich bis zum Ende der Reise nicht zu zeigen. Aber sie gab schließlich Margot nach und zog in die größere und bequemere Kabine, die Frank von Anfang an für sie belegt hatte.

 

»Auf jeden Fall bist du dann in meiner Nähe«, sagte Margot. »Die Zimmer haben zwei Ausgänge nach dem äußeren Korridor, so daß du ungehindert aus und ein gehen kannst. Nur auf einer Forderung muß ich bestehen. Wenn du mit Jim sprechen willst, möchte ich dazu eingeladen sein.«

 

Cecile lächelte.

 

»Hast du mir noch nicht verziehen, Margot?«

 

»Wenn ich nicht so christlich mild dächte, wäre ich dir noch böse. Aber ich glaube nicht, daß das eine Gewohnheit zwischen dir und Jim werden wird. Wenn du durchaus weinen mußt, dann komme zu mir und vertraue dich mir an.«

 

Der Nebel hielt den ganzen Tag an, erst gegen Abend lichtete er sich. Nach dem Essen wurde er jedoch wieder dichter.

 

Margot kannte genau die Zeiten, wann Jim unten im Heizraum Wache hatte. Heute lagen seine Stunden früher, und es war daher Aussicht vorhanden, daß er eher aufs Bootsdeck hinaufkommen konnte. Sie saß und las krampfhaft in ihrem Buch, um die Zeit totzuschlagen. Mrs. Markham, die vorüberkam, schüttelte nur den Kopf über solchen Unverstand.

 

»Ach, es ist entsetzlich kalt. Man könnte fast denken, wir wären in die Nähe eines Eisberges geraten.«

 

»Sie können weiter auch nichts als Unglück prophezeien. Sind Sie eigentlich jemals schon zufrieden und glücklich gewesen?«

 

Mrs. Markham wandte sich ärgerlich zu ihr.

 

»Sie wissen überhaupt nicht, was Sie sagen. Sie sind noch zu jung, um zu wissen, was Glück oder Unglück bedeuten. Ich bin niemals glücklich gewesen, und ich werde auch niemals glücklich sein.«

 

Margot schwieg. Sie sah, daß Mrs. Markham aufgeregt und schnell atmete.

 

»Es tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht weh tun«, sagte sie freundlich.

 

Langsam beruhigte sich Mrs. Markham. Dann legte sie die Hand auf die Schulter des jungen Mädchens.

 

»Ich bin so entsetzlich nervös heute abend. Ich gehe jetzt in meine Kabine, um mir die Zeit zu vertreiben.«

 

Sie ging auch nach unten, und vor der Tür fand sie Mr. Winter, der auf sie wartete.

 

»Sie haben den Schlüssel, Madame.«

 

Sie nahm ihn aus ihrem Täschchen und öffnete die Tür. Die Kabine war vollkommen dunkel, ebenso das Schlafzimmer. Sie drehte das Licht an und ging nach der offenen Schlafzimmertür. Im selben Augenblick hörte sie ein Geräusch und erkannte einen Mann, der die Hand auf das offene Fenster gelegt hatte und gerade fliehen wollte. Er war in Abendkleidung, aber der untere Teil seines Gesichtes von den Augen ab war durch ein vorgebundenes Taschentuch verdeckt.

 

»Winter!« rief Mrs. Markham laut, und der Hausmeister kam herein.

 

Der maskierte Mann sah sich einem Revolver gegenüber.

 

»Was machen Sie hier?« fragte sie.

 

Die Frage war überflüssig. Zwei Schubladen waren herausgezogen, der Inhalt lag auf dem Sofa und den beiden Sesseln zerstreut. Der Eindringling hatte nicht den Versuch gemacht, seine Anwesenheit zu verbergen.

 

Das Bett war in Unordnung, die Matratzen waren herausgezogen und untersucht. Der Kleiderschrank stand offen, und der Mann hielt eine elektrische Taschenlampe in der Hand.

 

»Hände hoch!« sagte Mr. Winter scharf. »Nun, wird es bald?«

 

Mit einer schnellen Bewegung riß Mrs. Markham das Taschentuch von dem Gesicht des anderen.

 

Jim Bartholomew stand vor ihr.

 

Sie nickte.

 

»Ich kenne Sie – Sie sind ein Freund Margots.«

 

»Sie haben recht«, entgegnete Jim.

 

Zuerst hatte er die Hände vor dem drohenden Revolver gehoben, nun steckte er sie in die Taschen.

 

»Was machen Sie denn hier?«

 

Jims Blicke wanderten von einer Schublade zur anderen, dann lächelte er befriedigt.

 

»Merkwürdige Frage. Es muß Ihnen doch klar sein, daß ich hier nicht Staub gewischt oder Ordnung gemacht habe.«

 

»Sie haben hier nach etwas gesucht.«

 

»Gut geraten, Mr. Winter, Sie können ruhig den Revolver wegstecken, Sie werden hier nicht schießen.«

 

»Ich bringe Sie sofort zum Kapitän!« sagte der Butler. Er war bleich, ob aus Wut oder Furcht, konnte Jim im Augenblick nicht entscheiden.

 

»Ich glaube nicht, daß Sie das tun werden. Vom Schiff kann ich doch nicht fortlaufen. Es besteht keine dringende Notwendigkeit, den Kapitän zu dieser Stunde im Schlaf zu stören. Sie kennen mich doch, und Sie können mich an Bord finden, wenn Sie wollen.«

 

»Wenn wir Sie aber nicht finden können, Mr. Bartholomew – so heißen Sie doch?«

 

»Ja, das ist mein Name.«

 

Eine unangenehme Pause trat ein.

 

»Sie können gehen«, sagte Stella Markham schließlich.

 

»Wollen Sie mich nicht durchsuchen, bevor ich gehe?« fragte Jim.

 

»Sie können gehen«, wiederholte sie und machte eine Handbewegung zur Tür. Sie war noch bleicher als Winter.

 

»Warten Sie«, sagte der Butler plötzlich und versperrte ihm den Ausgang. »Ich glaube nicht, daß das die richtige Art ist, unser Zusammentreffen zu beenden, Mrs. Markham.«

 

Er war ein kräftiger, starker Mann, aber Jim stieß ihn zur Seite, als ob er ein Kind wäre, und ging an ihm vorüber auf das A-Deck.

 

Jim konnte Margot unten auf dem Promenadendeck nicht sehen und stieg daher gleich zum Bootsdeck hinauf, wo er sie auch fand. Vorher war sie zu ihrer Kabine gegangen und hatte ein Sportkostüm angelegt, das besser für eine so neblige Nacht geeignet war.

 

»Morgen werde ich meine Unschuld bewiesen haben, mit anderen Worten, ich werde als Passagier erster Klasse mit meinem Freund von Scotland Yard fahren. Er hat die Sache ebenso satt wie ich.«

 

»Was wird denn geschehen?«

 

»Morgen abend passieren wir Fire Island Light, und einige Zeit später werfen wir in der Höhe von Sandy Hook Anker. Am nächsten Morgen kommen die Beamten der Vereinigten Staaten an Bord, und dann werden wir ja sehen, was passiert.«

 

Der Nebel wurde dünner, aber der große Dampfer behielt die Geschwindigkeit von zehn Knoten in der Stunde bei.

 

»Bist du nicht ein wenig müde?« fragte sie. »Du sprichst so wenig?«

 

»Ich habe ein aufregendes Abenteuer hinter mir. An einem der nächsten Tage erzähle ich es dir, und ich bin tatsächlich auch ein wenig müde. Dieser Nebel bedeutet Überstunden für uns unten im Heizraum. Alle Leute sind auf dem Posten, und die Wachen sind verdoppelt.«

 

»Dann will ich dich nicht länger aufhalten«, erwiderte sie.

 

Er schloß sie in die Arme.

 

»Hoffentlich ist bald alles vorüber.«

 

»Ja. Es ist doch wohl am besten, wenn ich hinuntergehe und mich zur Ruhe lege. Gute Nacht, Jim.«

 

Er küßte sie wieder und schaute ihr nach, als sie zur Treppe ging. Dann wandte er sich um und schlenderte in entgegengesetzter Richtung davon.

 

Sie hatte schon die Treppe erreicht, als ihr einfiel, daß sie nichts über ihre nächste Zusammenkunft mit ihm verabredet hatte. Rasch kehrte sie um und sah, wie er sich über die Reling lehnte, und zwar an derselben Stelle, wo sie ihn mit Cecile gesehen hatte. Sie konnte ihn jetzt deutlich erkennen, weil der Nebel einen hellen Hintergrund bildete. Einen Augenblick stand sie still und beobachtete ihn.

 

Währenddessen sah sie, daß eine dunkle Gestalt hinter einem der Boote hervorkam. Der Betreffende hob den Arm und schlug von hinten auf Jim ein, der in sich zusammensank und bewußtlos auf die Reling fiel. Margot versuchte zu schreien, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie war wie gelähmt. Der Mann, der Jim hinterrücks angegriffen hatte, bückte sich und packte Jim an den Beinen, um ihn über die Reling ins Wasser zu werfen.

 

In höchster Angst schrie Margot gellend auf, aber es war zu spät. Die dunkle Gestalt eilte in den Schatten zurück, während Jim in die Tiefe stürzte. Gleich darauf hörte sie, wie der Körper ins Wasser schlug. Wieder schrie sie auf und eilte dann die Treppe hinunter zum hinteren Teil des Schiffes. Ihr Entschluß war gefaßt. Als sie an das Ende des Decks kam, sprang sie auf die Reling und hielt sich an einer Stange fest, die das Sonnensegel trug. Im Nu hatte sie das Kleid abgestreift und sprang ins Wasser.

 

Es war nicht so kalt, wie sie erwartet hatte; bald darauf kam sie wieder an die Oberfläche und sah sich um. Sie entdeckte die dunklen Schultern Jims und schwamm direkt auf ihn zu. Als der hintere Teil des Schiffes vorüberkam, hatte sie den Arm um ihn gelegt. Plötzlich klatschte etwas auf das Wasser, und eine hellgrüne Flamme leuchtete etwa zwanzig Meter von ihr entfernt auf. Sie wandte sich um und sah den weißroten Rettungsring mit dem hellen Kalklicht. Mit großer Mühe hielt sie darauf zu. Man hatte sie von Bord des Schiffes gesehen; das große Schiff wendete kurz, bog nach Steuerbord ab, und plötzlich hörte das Geräusch der Schrauben auf.

 

Sie hörte Stimmen an Deck und das Ächzen der Krane, als ein Rettungsboot heruntergelassen wurde. Jim regte sich wieder. Nach und nach kam er zum Bewußtsein, aber er war zu erschöpft, um sich selbst bewegen zu können. Sie hatte den Arm in den Rettungsring eingehängt und trat Wasser. Wenn nun das Kalklicht ausging und man sie im Dunkeln nicht finden konnte? Das Schiff schien unendlich weit entfernt zu sein. Sie konnte das Rettungsboot nicht sehen. Aber das Kalklicht brannte in unverminderter Stärke weiter, und nach einiger Zeit hörte sie das Geräusch von Rudern. Von unten sah das Rettungsboot ungeheuerlich groß aus.

 

Kapitel 15

 

15

 

Die Matrosen hoben Jim ins Boot, und Margot folgte. Sie war nur noch wenig bekleidet, aber das fiel ihr weiter nicht auf, bis das Boot an Deck heraufgezogen war. Dann war sie allerdings dankbar, daß es oben dunkel war. Gleich darauf legte auch jemand einen warmen Mantel um ihre Schultern, und sie ging in ihre Kabine.

 

Nach einem heißen Bad kleidete sie sich um und ging trotz der Warnungen Ceciles sofort wieder an Bord, um nachzusehen, was aus Jim geworden war. Auch er hatte sich umgekleidet und war von einer Menge neugieriger Passagiere umringt, die wissen wollten, was passiert war. Er log das Blaue vom Himmel herunter.

 

»Ich bin oben auf dem Bootsdeck eingeschlafen, habe das Gleichgewicht verloren und bin ins Wasser gefallen. Miss Cameron sah mich – weiter kann ich mich auf nichts besinnen, bis ich wieder das Bewußtsein erlangte. Ich sah ein helles Kalklicht auf dem Rettungsgürtel brennen. Der Schein blendete mich, und Miss Cameron hielt mich an den Ohren über Wasser.«

 

Der Steuermann, der auf Wache war, hatte den ganzen Vorgang beobachtet und den Rettungsring so gut und sicher geworfen. Jim erfuhr das erst später. Der Schiffsarzt hatte die Kopfwunde verbunden, die zu Margots Beruhigung nicht schwer war. Der Mann, der von hinten angriff, mußte selbst sehr nervös gewesen sein, denn der Schlag hatte nicht richtig getroffen, so daß die Wunde mit ein paar Nadeln wieder geschlossen werden konnte.

 

»Ich verdanke dir mein Leben«, sagte Jim, als er mit Margot allein war.

 

»Ich werde dir in den nächsten Tagen auch eine Rechnung dafür schicken«, unterbrach sie ihn schnell. »Jetzt gehe ich in meine Kabine zurück. Du scheinst dich ja einigermaßen erholt zu haben, denn du sprichst wie der reinste Radioapparat.«

 

Sie drückte seinen Arm und verschwand.

 

Als er am nächsten Morgen aufwachte, mußte er sich erst besinnen, wo er war, denn man hatte ihm eine Kabine auf dem F-Deck gegeben. Die beiden Detektive von Scotland Yard besuchten ihn, später kam der Schiffsarzt und wechselte den Verband. Nachdem Jim einige Zeit geruht und vom Doktor noch ein Stärkungsmittel erhalten hatte, kam er nach und nach wieder zu Kräften.

 

Zur selben Zeit suchte Mr. Winter um ein Gespräch mit dem Kapitän nach und erhob Klage gegen Mr. Bartholomew. Der Kapitän hörte alles an, was der Mann zu sagen hatte, und erklärte dann, daß die Sache bereits von zuständigen Stellen untersucht würde. Aber damit war Mr. Winter nicht zufrieden.

 

»Wahrscheinlich wissen Sie auch, daß dieser Mr. Bartholomew ein Flüchtling ist. Die Polizei hat einen Steckbrief hinter ihm erlassen, weil er unter dem Verdacht steht, einen Mord begangen zu haben.«

 

»Das ist mir alles bekannt. Sind Sie denn ein Polizeibeamter?«

 

»Nein, das nicht«, erklärte Winter.

 

»Nun, dann kann ich Sie ja beruhigen. Es sind nämlich Beamte von Scotland Yard an Bord, die sich mit der Angelegenheit beschäftigen, und Sie können versichert sein, daß die Leute ihre Pflicht tun und den Schuldigen schon verhaften werden.«

 

Mrs. Markham hatte die Abwesenheit Winters dazu benützt, eine Unterredung mit Major Visconti herbeizuführen. Der Italiener ging an Deck auf und ab, als er sah, wie Stella Markham ihm von der Türe zum Salon winkte.

 

»Wollen Sie so liebenswürdig sein, zu meiner Kabine mitzukommen?« fragte sie ihn.

 

»Madame«, sagte er und verneigte sich formvollendet, »ich freue mich, Ihrem Wunsch nachkommen zu dürfen.«

 

»Ich wollte Ihnen die Tanagrafiguren zeigen, die ich voriges Jahr in Italien gekauft habe«, erklärte sie gleichgültig.

 

Er folgte ihr bis zum Ende des Ganges, wo ihre Kabine lag. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, lud Stella ihn durch eine Handbewegung ein, in einem Sessel Platz zu nehmen.

 

»Tony«, sagte sie vorwurfsvoll, »was ist denn geschehen? Warum habt ihr Talbot umgebracht?«

 

Der Italiener nahm seine Mütze ab, legte sie auf den Teppich neben sich und sah zu Boden.

 

»Hat er –?« begann sie wieder.

 

»Er hat uns verraten wollen.«

 

»Aber wie – wann?«

 

Er zuckte die Schultern.

 

»Er war während des letzten Monats in dauernder Angst. Das wissen wir doch, Madonna. Ich mußte immer an seiner Seite bleiben, als wir in Paris waren, und durfte ihn auch in London nicht aus den Augen lassen. Als er erfuhr, daß Detektive an Bord des Dampfers sind, hat er den Verstand vollends verloren, denn nachdem wir zwei Tage auf See waren, schickte er ein Telegramm nach Washington, ob sich die Behörden darauf einlassen würden, wenn eins der Mitglieder der Bande aus freien Stücken alles gestehen würde. Auch wollte er wissen, auf welches Entgegenkommen er dann rechnen könnte. Er erhielt darauf eine befriedigende Antwort und schickte noch ein längeres Telegramm ab. Winter sah, wie er es schrieb, und vermutete den Zusammenhang. Talbot hatte dummerweise Abschriften seiner Telegramme zurückbehalten, und als Winter seine Kabine durchsuchte, fand er sie.«

 

Mrs. Markham schwieg.

 

»Wer sind denn die Detektive? Kennen Sie die Leute?«

 

Er nickte.

 

»Ja, der eine hat unten im Heizraum mit Bartholomew gearbeitet, der andere fährt als Passagier erster Klasse.«

 

»Sind sie hinter uns her?«

 

Er lächelte.

 

»Das kann ich nicht genau sagen. Meiner Meinung nach nicht. Talbot hat in seinen Telegrammen nicht angedeutet, daß Sie an Bord sind.«

 

»Aber das werden sie erfahren.« Sie rückte ihr Kleid zurecht. Er erhob sieb langsam, ging zu ihr und legte seine Hände auf ihre Schultern.

 

»Madonna«, sagte er ernst, »es gibt einen Ausweg für Sie. Das heißt, wenn nicht Winter –« Er sprach nicht weiter und biß sich nachdenklich auf die Lippen.

 

»Was meinen Sie?« fragte sie und sah schnell zu ihm auf.

 

»Ich meine, man kann Ihnen in keinem Fall nachweisen, daß Sie an irgendeiner unserer Unternehmungen teilgenommen haben. Dieses Diamantenhalsband in Moorford – so hieß doch wohl das Nest –«

 

Sie nickte.

 

»Auch das kann Ihnen nicht zur Last gelegt werden. Das hat Winter getan. Ich möchte nur wissen, warum. Ich nahm immer an, daß das Schmuckstück Ihnen gehörte.«

 

Sie nickte wieder.

 

»Das ist das einzig ehrlich verdiente Wertstück, das ich in meinem Leben erhalten habe«, erwiderte sie bitter. »Jemand, der mich schätzte, hat mir Petroleumaktien geschenkt. Die sind kolossal im Wert gestiegen; das Halsband ist von dem Erlös gekauft. Auf Winters Rat hin legte ich das Geld in Diamanten an.«

 

»Das war nicht klug von Ihnen. Ich sehe jetzt den Zusammenhang deutlich. Winter wollte nicht haben, daß Sie eigenes, unabhängiges Vermögen besäßen, deshalb legte er das Geld so fest, daß Sie es nicht jeden Augenblick benützen konnten. Ich habe mich für das Schicksal dieser Halskette interessiert – und ich muß sagen, daß ich zufrieden bin.«

 

Er sah sie nachdenklich an.

 

»Darf ich Ihnen etwas sagen, Madonna?« fragte er dann leise und mit sanfter Stimme.

 

Sie blickte bestürzt zu ihm auf.

 

»Nein, bitte, tun Sie es nicht.«

 

Er machte eine kleine Handbewegung und schaute sie zärtlich an.

 

»Ich liebe Sie, Madonna. Ich weiß, daß Sie das nicht hören dürfen, denn ich bin ein Mensch, der viele Verbrechen begangen hat. Aber ich verehre Sie, wie kaum ein Mann eine Frau verehren kann.«

 

Er machte eine Pause und sprach dann langsam weiter.

 

»Ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um Sie zu beschützen, so daß Sie nicht in die Sache hineingezogen werden können, wenn diese Reise schlecht enden sollte.«

 

»Aber Winter wird das nicht zulassen«, meinte sie.

 

Der Italiener lächelte böse und zeigte seine weißen Zähne.

 

»Ich bereue nicht, daß ich Talbot beiseite geschafft habe«, fuhr er fort, als ob er Gedanken laut äußerte. »Ich kannte ihn, er war ein schlechter Charakter. Wenn ich Blut an meinen Händen habe, so auch er. Sie wissen wohl nichts davon, daß er die kleine Chinesin Hien –«

 

In dem Augenblick öffnete sich die Tür heftig, und Winter trat wütend herein.

 

»Nun, was gibt es hier?« wandte er sich ärgerlich an Tony. »Was wollen Sie?«

 

Tony lächelte.

 

»Vor allem, daß du dich mir gegenüber etwas höflicher benimmst«, sagte er leichthin. »Mach nicht ein so brummiges Gesicht.«

 

»Höflich? Du scheinst wohl nicht zu wissen, daß Fire Island dicht vor uns liegt?«

 

»Das interessiert mich wenig«, erwiderte Tony in bester Stimmung. »Bei so nebligem Wetter könnte es höchstens angenehm sein, zu erfahren, daß ein Leuchtschiff in der Nähe ist.«

 

»Riskiere nur nicht so eine Lippe mir gegenüber. Du scheinst vergessen zu haben, welche Bedeutung das Leuchtschiff für uns beide hat.«

 

Winters Benehmen hatte sich vollkommen geändert. Er hatte nicht mehr die vornehme, wohlüberlegte Aussprache, und er sah den anderen mit zusammengekniffenen Augen an. »Warum soll ich dir nicht auch mal die Meinung sagen können?« fragte Tony.

 

Er war vollkommen ruhig und stand in nachlässiger Haltung da. Jeder andere wäre getäuscht worden, aber Winter wußte genau, daß er in seinen Taschen den Handgriff des Stiletts hielt. Er selbst hatte nicht mehr die Möglichkeit, seinen Revolver zu ziehen und zwang sich deshalb zu einem Grinsen.

 

»Nun, du kannst dich amüsieren, wenn es dir so paßt. Ich wüßte nicht, warum du das nicht tun solltest.«

 

»Was hat der Kapitän gesagt?« fragte Mrs. Markham.

 

»Was glaubst du wohl? Er hat mit mir gespielt wie die Katze mit der Maus. Du hast alles bei dir, Tony, und gut verwahrt?«

 

Der Italiener nickte.

 

»Das Diamantenhalsband?«

 

Tony nickte aufs neue.

 

»Wann hast du ihm das gegeben?« fragte Winter argwöhnisch.

 

»Ach, es war gestern«, entgegnete sie.

 

Winter sah argwöhnisch von einem zum anderen.

 

»Das ist eine gemeine Lüge«, platzte er heraus.

 

»Wo ist das Halsband?«

 

Er trat einen Schritt vor.

 

»Du kannst dir alle Mühe sparen«, erklärte Stella kühl. »Das Halsband ist an einer sicheren Stelle.«

 

Winter wurde furchtbar wütend und drehte sich plötzlich nach ihr um, aber bevor er sie anrühren oder Tony sich zwischen sie werfen konnte, klopfte es schüchtern an der Tür.

 

»Wer ist da?« fragte Winter.

 

Mrs. Markham war leise an den Eingang getreten, aber er stieß sie roh zur Seite und riß die Tür auf. Cecile Cameron stand draußen, und die Blicke der beiden trafen sich einen Augenblick. Der wütende Ausdruck wich aus seinen Zügen, und ein verschmitztes Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

 

»Kommen Sie doch näher, Mrs. Cameron«, sagte er höflich. Sie sah aber nur Stella an und ging auf sie zu.

 

»Nun«, fragte Winter, »was wollen Sie tun, um Ihre Schwester aus der unangenehmen Lage zu befreien?«

 

Cecile wandte sich um.

 

»Ist sie – in Gefahr?« fragte sie leise.

 

»Wir sind alle in Gefahr, sehen Sie das nicht?«

 

»Ich will tun, was in meinen Kräften steht«, erwiderte Cecile Cameron müde.

 

»Da müssen Sie sich aber verdammt Mühe geben und sich vor allem beeilen«, entgegnete Winter brutal. »Sie können Ihre Schwester nicht retten, ohne nicht auch ihren Mann aus dem Schlamassel zu ziehen.«

 

Ohne mit der Wimper zu zucken, schaute sie ihn an.

 

»Ich glaube, ich kann etwas tun. Gegen sie ist keine Anklage erhoben, und die Detektive an Bord ahnen nicht, daß sie auf dem Schiff ist.«

 

»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Winter schnell.

 

Tony hatte während der letzten Unterhaltung geschwiegen. Jetzt lächelte er.

 

»Sie hat eben Bartholomew danach gefragt. Was sie uns eben gesagt hat, ist eine Bestätigung meiner Hoffnung.«

 

»Was, deiner Hoffnung?« fragte Winter und drehte sich wütend nach dem Spanier um.

 

»Ja, ich wünsche dringend, daß Madame nicht in diese Sache hineingezogen wird, wenn die Sache vor die Polizei kommt.«

 

Winter starrte ihn an.

 

»Ach so, darum handelt es sich!« sagte er leise. »Aus diesem Grund hast du deine Schwester hier jede Nacht getroffen! Und dabei hast du doch gesagt, daß sie nur versuche, dich von diesem Leben abzubringen. Belogen hast du mich also auch. Wahrscheinlich hast du die ganze Sache so gedreht, daß mich die Polizei fassen soll, nachdem Talbot tot ist. Und Tony ist auch an diesem Verrat beteiligt.«

 

»Laß doch das blöde Geschwätz«, entgegnete Tony ruhig.

 

»Ich muß doch alle Konsequenzen tragen, wenn die Sache vor Gericht kommt, und ich glaube, diesmal wird es eine recht böse Sache werden.«

 

Winter wandte sich langsam seiner Frau zu.

 

Stella hatte den Kopf an die Schulter ihrer Schwester gelegt und die Augen geschlossen. Sie sah müde und bleich aus; schwere, schwarze Schatten lagen unter ihren Augen, aber Mr. Winter kümmerte sich nicht darum.

 

»Wenn Sie glauben, daß Sie Ihre Schwester aus dem Skandal herausschmuggeln können, und daß ich als Sündenbock ins Gefängnis wandern soll, während meine teure Gattin in New York oder England die große Dame spielt, dann habt ihr euch aber mächtig in die Finger geschnitten«, sagte er und atmete schwer. »Stella, du hast genau dieselbe Schuld wie ich oder Magda oder was für blöde Namen du dir sonst noch gegeben hast. Wenn die Sache vor Gericht kommt, kannst du dich bombensicher darauf verlassen, daß ich als Zeuge auftrete und den Leuten beweise, wie sehr du an all den Geschichten beteiligt warst, die wir in Europa ausgefressen haben –«

 

»Und dann werde ich als Zeuge auftreten und beweisen, daß das nicht der Fall ist«, entgegnete der kleine Spanier.

 

»Das hätte gerade noch gefehlt.«

 

»Warum nicht? Die Leute werden mindestens ebenso auf mich hören wie auf dich.«

 

»Nun gut.« Winter wandte sich zur Tür.

 

Im nächsten Augenblick aber packte ihn wieder helle Wut, er drehte sich um und sprang mit einem Fluch auf seine Frau los. Gerade wollte er ihr die Kehle zudrücken, als er einen intensiven Schmerz unter der linken Schulter fühlte. Er schrie laut auf und fuhr herum.

 

»Das ist eine Warnung«, erklärte Tony ruhig. »Noch einen halben Zentimeter weiter wäre es ins Herz gegangen.«

 

John Winter sah auf die lange, blitzende Klinge in der Hand des Spaniers.

 

Winter sagte nichts. Er riß die Tür auf und stürzte hinaus. Als Stella wieder auf Tony sah, hatte er nichts mehr in der Hand. Auf geheimnisvolle Weise war der Dolch verschwunden.

 

Kapitel 16

 

16

 

»So, jetzt sind wir am Ende der Reise angekommen«, meinte Jim Bartholomew.

 

»Wieso?« fragte Margot und sah sich erstaunt um. Ein leichter Dunst lag auf dem Wasser, aber die ›Ceramia‹ fuhr mit höchster Geschwindigkeit.

 

»Wenn du genau aufpaßt, kannst du die laute Sirene hören, die jede Minute ertönt. Das ist Fire Island.«

 

»Du scheinst dich sehr gut auszukennen, obwohl du die Reise noch niemals gemacht hast.«

 

»Ich bin noch nicht in den Vereinigten Staaten selbst gewesen, aber beim Leuchtschiff von Fire Island war ich schon einmal. Im Krieg habe ich einmal flüchtige Unterseeboote bis hierher verfolgt.«

 

Gleich darauf hörten sie deutlich die Sirene. Sie standen beide auf dem Vorderdeck unter der Kabine des Kapitäns und hörten den Maschinentelegraphen. Kurz darauf verringerte sich das Geräusch der Schiffsmaschinen.

 

»Wir fahren langsamer«, sagte er.

 

Margot legte ihren Arm in den seinen.

 

»Ich möchte dich etwas fragen.«

 

Er wußte, was das sein würde und schwieg.

 

»Was passiert mit Mrs. Markham?«

 

Er sah sie scharf an.

 

»Was weißt du denn von ihr?«

 

»Sage mir doch, was mit ihr passiert.«

 

»Weißt du denn, wer sie ist?«

 

Sie nickte.

 

»Cecile hat es mir heute morgen gesagt. Mrs. Markham ist ihre Schwester, die gestorben sein sollte. Sie ist mit diesem Mann verheiratet, den sie als ihren Butler ausgibt.«

 

Er sah nachdenklich zur Seite, bevor er antwortete.

 

»Weiß Frank davon?«

 

»Ja. Sie hat Frank alles gebeichtet an dem Tag, an dem sie angeblich nach Schottland fuhr. Frank hat sich während der ganzen Zeit sehr vornehm und anständig ihr gegenüber benommen. Aber nun sage mir doch, was droht Mrs. Markham?«

 

»Nichts. Sanderson hat zwar die Bande die ›Großen Vier‹ genannt, aber unter diesem Namen sind sie weder in England noch in Amerika der Polizei bekannt. Die Leute, hinter denen sie her waren, sind Talbot, Trenton und Romano.«

 

Sie runzelte die Stirn.

 

»Romano? Du meinst doch nicht etwa diesen eleganten Offizier?«

 

»Ja, das ist er. Aber der Name von Mrs. Trenton ist niemals erwähnt worden. In Scotland Yard weiß man von ihrer Existenz, aber man hält sie mehr oder weniger für ein Opfer dieses Trenton. Ich habe mit den Detektiven eingehend darüber gesprochen. Die amerikanische Polizei denkt ebenso. Einer der Beamten hat deshalb gestern noch in Washington durch ein Radiotelegramm angefragt und eine Antwort erhalten, die zugunsten von Mrs. Trenton ausgefallen ist. Die einzige Gefahr besteht natürlich darin, daß Trenton aus reiner Gemeinheit seine Frau in die Sache hineinzieht. Der Mann hat einen entsetzlichen Charakter.«

 

Margot zitterte.

 

»Es ist schrecklich, wenn man daran denkt. Sie ist mit ihm durchgebrannt, als sie noch auf die Schule ging, aber sie ist entsetzlich für ihren Leichtsinn gestraft worden.«

 

»Ich hoffe, daß ihre Sorgen jetzt zu Ende sein werden«, erwiderte Jim, und seine Worte hatten weit mehr zu bedeuten, als Margot im Augenblick ahnen konnte.

 

Winter war zur Kabine seiner Frau zurückgekehrt und mit Packen beschäftigt, als der Maschinentelegraph die Geschwindigkeit des Schiffes verminderte.

 

»Warum fährt das Schiff langsamer?« fragte Stella müde.

 

»Zum Donnerwetter, woher soll ich das wissen? Geh doch zum Kapitän und frag den.«

 

Mrs. Markham zuckte die Schultern.

 

»Winter, du wirst ganz unmöglich. Während der ganzen Reise habe ich versucht, dir zu helfen, aber durch dein Benehmen hast du alle meine Versuche nutzlos gemacht.«

 

»Wenn ich deinen Rat will, frage ich danach, und wenn ich den Wunsch habe, daß du den Schnabel auf- und zumachst und wie eine Gans schnatterst, will ich dir in Zukunft eine schriftliche Erlaubnis erteilen. Jetzt machst du aber auf jeden Fall die Klappe zu und bist ruhig. Ich habe auch noch ein Hühnchen mit dir und Tony zu rupfen.«

 

Er war damit beschäftigt, einen Koffer zuzuschnallen. Mrs. Markham saß mit gefalteten Händen und starrte ins Leere.

 

»Wo wir auch bleiben, westlich oder östlich des Atlantik, immer ist das Leben mit dir eine Hölle.«

 

»Willst du wohl das Maul halten?« fuhr er sie hart an und hob drohend die Faust. »An einem der nächsten Tage –« er sah sie wütend an. »An einem der nächsten Tage, meine Liebe –«

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»An einem der nächsten Tage soll mir vermutlich dasselbe passieren wie Talbot. Jim Bartholomew hast du ja auch um die Ecke bringen wollen!«

 

Er ging zum Fenster ihres Schlafzimmers und sah hinaus.

 

Der Mast eines kleinen Bootes schwankte neben der Reling und verschwand nach hinten. Er wurde bleich.

 

»Das war ein Polizeiboot«, sagte er heiser.

 

Sie zuckte die Schultern aufs neue und verließ die Kabine.

 

»Wohin gehst du?«

 

»An Deck, um zuzusehen.«

 

»Komm sofort zurück«, rief er ihr zu, und als sie seiner Aufforderung nicht folgte, argwöhnte er, was sie im Sinn hatte. Er stieß einen Wutschrei aus und eilte hinter ihr her.

 

In langen Sätzen raste er den Gang zwischen den Kabinen entlang, trat aufs Deck hinaus und sah sich nach ihr um. Aber er konnte sie nicht entdecken. Gleich darauf beobachtete er eine Szene, die ihn vollständig aus der Fassung brachte.

 

Tony stand ein paar Schritte vom Saloneingang entfernt und war von drei Männern umringt, die allem Anschein nach mit dem Polizeiboot vom Land gekommen waren. Winter konnte wieder den Mast sehen, der über die Reling hinausragte. Und obwohl sich Tony lächelnd mit den Leuten unterhielt, wurde er doch von einem der Fremden fest am Arm gepackt.

 

Er versuchte, zu seiner Kabine zurückzugehen, aber jetzt trat ein vierter in den Gang, und hinter ihm erschien Jim Bartholomew.

 

»Ich verhafte Sie, Trenton«, sagte der Mann, »und wenn Sie vernünftig sind, machen Sie keinen Spektakel. Strecken Sie die Hände aus.«

 

Das Spiel war verloren, Flucht unmöglich. Trentons Gesicht sah eingefallen und aschgrau aus, als die Handschellen über seinen Gelenken einschnappten. Der Fremde packte ihn am Arm und führte ihn zu den anderen, die Tony Romano umringt hatten. In der kurzen Zeit hatte Trenton einen Entschluß gefaßt.

 

»Guten Morgen, Chefinspektor«, sagte er, als er einen der Beamten erkannte.

 

»Guten Morgen, Trenton«, erwiderte dieser kühl. »Der dritte Mann ist also tot, wie Sie sagen«, wandte er sich dann an einen der Detektive von Scotland Yard.

 

»Ja, der ist erledigt«, entgegnete Romano heiter. »Diese Tatsache kann ich bezeugen, denn ich habe ihn selbst umgebracht. Nun, mein lieber Winter«, fuhr er fort und sah seinen Komplicen lächelnd an, »wir wollen machen, daß wir weiterkommen und von Bord gehen.«

 

»Einen Augenblick«, sagte Trenton heiser. »Sie suchen doch drei Personen – oder irre ich mich?«

 

»Ja, zwei Lebende und einen Toten«, erklärte einer der Polizeibeamten.

 

»Nun gut, Sie sollen drei Lebende gefangennehmen.«

 

Tony Romano hatten sie keine Handschellen angelegt, und er stand in seiner gewöhnlichen, nachlässigen Haltung da. Ein Lächeln spielte um seine Lippen.

 

»Mein Freund«, sagte er, »du hast eben gehört, daß der Chefinspektor nur drei braucht, zwei Lebende und einen Toten. Willst du noch mehr?«

 

»Ja«, fuhr Trenton ihn wütend an.

 

»Du bist eben ein gemeiner Lump«, erwiderte Tony. »Aber du sollst haben, was du wünschst.«

 

Er hatte vollkommen ruhig gesprochen, und keiner der Anwesenden ahnte etwas von seiner Absicht. Nur seine Armmuskeln schienen sich zusammenzuziehen, dann sprang er vorwärts. Die Umstehenden glaubten, daß er Trenton umarmte.

 

»Können Sie sich denn gar nicht ruhig benehmen?« sagte der Chefinspektor scharf. »Legen Sie ihm Handschellen an, Riley«, wandte er sich an einen seiner Leute.

 

Dann sah er Trentons starres Gesicht: das Kinn war auf die Schulter des Spaniers gesunken.

 

»Das genügt«, meinte Romano.

 

Als er Trenton losließ, sank dieser zu Boden.

 

»So, meine Herren, hier ist das Messer«, erklärte der Spanier und ließ die lange Dolchklinge zu Boden fallen.

 

Sie legten ihm die Handschellen an.

 

»Mit Trenton brauchen Sie sich keine Mühe zu machen«, sagte er, als sich die Beamten über den Mann am Boden beugten und die Wunde zu verbinden suchten. »Der ist mausetot und sagt keinen Ton mehr, er starb auf dieselbe Weise wie mein Freund Talbot, und es ist besser so. Ich möchte nicht mit solchen Lumpen vor Gericht stehen.«

 

Sie brachten ihn schleunigst zum F-Deck hinunter, wo sie ihn in aller Eile durchsuchten.

 

»Meiner Meinung nach finden Sie fast alle Juwelen, die die Leute von ihrer Raubfahrt nach Europa mitbringen, in den Breeches von Romano«, sagte Jim ruhig.

 

Der Spanier lächelte.

 

»Sie haben vollkommen recht, sonst hätte dieses Kleidungsstück ja auch keinen Zweck gehabt«, entgegnete er kühl und schlug mit den gefesselten Händen gegen das Beinkleid. »Es ist drei Millionen Dollar wert.«

 

Vom F-Deck führte ein Fallreep direkt zum Polizeiboot. Als sie Romano fortführten, wandte er sich noch einmal an Jim.

 

»Meine respektvollen Empfehlungen an alle, die liebenswürdig zu mir waren.« Er sah Bartholomew direkt in die Augen, und dieser wußte, daß das ein letzter Gruß an Stella Markham war. »Bitte, entschuldigen Sie mich auch bei Miss Cameron. Ich bin in ihre Kabine gegangen, um mich zu vergewissern und zu beruhigen. Es war etwas dort, was ich zu finden hoffte, und es ist auch noch dort.«