Kapitel 17

 

17

 

So nahmen sie Tony Romano mit sich. Auch die beiden Toten wurden ins Polizeiboot getragen. Die Passagiere der ›Ceramia‹ hörten jetzt zum erstenmal etwas von der Tragödie, die sich an Bord abgespielt hatte.

 

Jim ging zur Kabine von Mrs. Markham. Sie war nicht allein. Cecile saß bei ihr und tröstete sie.

 

»Wollen sie mich auch verhaften?« fragte Stella müde.

 

Jim schüttelte den Kopf.

 

Er zögerte noch, ihr die Tat des Italieners zu erzählen, wodurch er die letzte Chance einbüßte, dem elektrischen Stuhl zu entkommen.

 

»Ich hatte nicht nötig, Ihre Anwesenheit auf dem Schiff zu erklären, Mrs. Markham«, sagte er. »Der einzige Mann, der Sie verraten konnte, ist tot.«

 

Sie nickte.

 

»Tony … hat Tony das für mich getan?«

 

Erst als sie sich am Abend in Ceciles Wohnzimmer im Hotel versammelten, erzählte Mrs. Trenton ihre Geschichte.

 

»Es ist ja bekannt, daß ich mit meinem Mann durchbrannte. Er war viel älter als ich. Damals war ich restlos in ihn verliebt – aber diese Leidenschaft verflog bald. Er gehörte einer anderen Gesellschaftsschicht an wie ich, aber sein Mangel an Bildung hätte sich noch entschuldigen lassen. Er hätte es mit seiner Intelligenz weit bringen können, wenn er nur gewollt hätte. Aber John Winter-Trenton war immer ein Verbrecher. Es dauerte sehr lange, bis ich die Wahrheit erfuhr, und dann erschrak ich nicht so sehr, wie es wohl hätte sein sollen. Auf jeden Fall konnte er alles so glänzend darstellen, daß ich mit ihm gemeinsame Sache machte. Ich habe eine passive Rolle bei einer seiner größten Betrügereien gespielt. Lange Zeit ging es gut, aber dann verfolgte uns eine sehr schlaue Detektivin.«

 

Jim lächelte.

 

»Merkwürdig, zuerst hielt ich Sie für diese Detektivin, als ich in die Geschichte eingeweiht wurde.«

 

Stella schüttelte den Kopf.

 

»Nein, sie hat Amerika niemals verlassen. Sie hat uns damals das erstemal überführt. Winter und ich wurden daraufhin verhaftet, und während wir in Untersuchungshaft saßen, habe ich meine Schwester davon verständigt, was aus mir geworden war. Jahrelang hatte Winter nur in kleinem Maßstab gearbeitet, dann kam er mit Talbots Hilfe und durch sonstige Unterstützung vorwärts. Wir fuhren nach Europa, und dann begann diese Serie von Einbrüchen, die Sie ja kennen. Winter hatte sie alle ausgedacht und geplant, Tony und Talbot führten sie aus. Ich hatte weiter nichts zu tun, als die große Dame zu spielen. Wir mieteten sehr teure Landsitze, manchmal im Norden Englands, manchmal im Süden, die den anderen als Operationsbasis dienten. Winter gab sich für meinen Butler aus.«

 

Sie lächelte schwach.

 

»Es liegt eine gewisse Ironie darin, denn ich war seine Sklavin. Nun ist er tot«, sagte sie leidenschaftlich, »und ich bin froh, daß er tot ist. Mit meinen eigenen Hände hätte ich ihn ermorden sollen.« Sie hatte sich erhoben und zitterte vor Leidenschaft. Dann packte sie ein Weinkrampf.

 

»Ich glaube, wir wissen alles, was notwendig ist, Mrs. Cameron«, sagte Jim. »Weiß Ihr Mann davon?«

 

»Ich habe ihm alles mitgeteilt«, erwiderte Cecile.

 

Jim ging aus dem Zimmer und nahm Margot mit sich. Sie fuhren mit dem Lift in die Höhe.

 

»Warum hast du eigentlich ihre Kabine an Bord des Dampfers durchsucht, Jim? Du warst doch dieser geheimnisvolle Matrose oder Heizer, den sie durch das Fenster verschwinden sah? Hast du etwas Bestimmtes gesucht?«

 

»Ich erwartete, zwei verschiedene Dinge zu finden. Eins habe ich allerdings entdeckt – den zweiten Ring mit den Töchtern der Nacht. Du erinnerst dich doch noch, daß Cecile erzählte, ihr Vater hätte zwei Ringe angefertigt und jeder seiner Töchter einen gegeben. Den habe ich nicht entdecken können, es war eine große Enttäuschung für mich. Wir haben das Juwelenhalsband nicht gefunden, das von Mrs. Markham auf der Bank deponiert wurde und heute ihr einziges Vermögen darstellt. Die Bank ist ja dafür verantwortlich und muß ihr die Summe von hundertzwölftausend Pfund zahlen. Sieh her, hier ist der Ring.«

 

Er nahm ihn aus der Westentasche und zeigte ihn ihr. Der Schmuck glich genau, dem Stück, das Mrs. Cameron getragen hatte. Margot nahm ihn in die Hand und bewunderte ihn.

 

»Sanderson hatte eine Photographie von Mrs. Markham mit dem Ring in der Hand. Mein Assistent muß sie einmal kurz gesehen haben. Durch Winters liebenswürdiges Wesen ließ er sich täuschen und lud den vermeintlichen Butler an dem Abend ein, an dem Mrs. Markham Moorfeld verließ. Er wollte ihn als seinen Agenten anstellen und zog ihn ins Vertrauen, damit er seine Herrin in Amerika beobachten sollte. Er hatte Stella in Verdacht, da sie eine große Ähnlichkeit mit der Photographie hatte, die in seinem Besitz war. Ausgerechnet Winter sollte ihm die letzten Beweise für die Identität von Mrs. Trenton und Mrs. Markham bringen! Das würde alle Tatsachen erklären. Gewißheit wird man wohl nie darüber erhalten können, da die Hauptbeteiligten an dieser Tragödie nun tot sind.«

 

»Was ist dann geschehen?«

 

»Winter kam in der Nacht zu der Bank. Mrs. Markham mag vielleicht im Auto gesessen haben, das auf der anderen Seite der Straße hielt. Wahrscheinlich geriet er in große Bestürzung, als er die Photographie in Sandersons Besitz sah. Denn, wenn Stella identifiziert war, würde auch er in kurzer Zeit erkannt sein. In seiner Verzweiflung muß er Sanderson gedroht haben, der sich mit meinem Revolver verteidigte. Die beiden rangen miteinander, das konnte man ja deutlich an den Spuren im Büro sehen. Die Stühle waren umgestoßen. Winter war persönlich muskulös und kräftig. Er brachte den Revolver an sich, schoß Sanderson nieder und riß ihm die Photographie aus der Hand. Er muß gerade in dem Augenblick durch den Gang geflohen sein, als ich in mein Büro trat.«

 

»Aber was ist denn mit dem Juwelenhalsband passiert?«

 

»Während ich in Sandersons Büro stand und auf den Toten niederbückte, hatte ich das bestimmte Gefühl, daß Mrs. Markham in irgendeiner Weise in den Fall verwickelt war. Ich nahm meine Schlüssel, öffnete den Safe und erwartete eigentlich, daß ihr Paket gestohlen war. Sanderson hatte mir erzählt, daß Winter einen Besuch auf der Bank gemacht und sich das Paket angesehen hatte. Ja, er hatte sogar berichtet, wie Winter ihm einen Mann auf der Straße zeigte, den seine Herrin nicht leiden konnte. Ich fand das Paket, nahm es mit zum Tisch und öffnete die Siegel. Und wie ich vermutet hatte, war der Glaskasten leer.«

 

»Was war denn geschehen?«

 

»Winter hatte den ganz gewöhnlichen Trick ausgeführt, zwei gleiche Pakete miteinander auszuwechseln. Er hatte ein ganz ähnliches Paket in braunem Papier zur Bank mitgebracht, das auf gleiche Weise versiegelt war, und während er Sandersons Aufmerksamkeit ablenkte, indem er ihm jemand auf der Straße zeigte, vertauschte er die beiden kleinen Päckchen. Nun wußte ich, daß Winter an dem ganzen Fall beteiligt war, und ich ahnte auch, daß er Sanderson getäuscht hatte. Ich glaubte, daß Mrs. Markham Moorford schon verlassen hätte; wahrscheinlich war Winter mit ihr zusammen auf dem Weg nach Southampton. Ich mußte schnell nachdenken und einen Entschluß fassen. So holte ich zweihundert Pfund aus einer Schublade meines Schreibtisches, eilte nach Hause und nahm meinen Koffer, der bereits für meinen Besuch in London gepackt war. Es gelang mir, den letzten Zug nach Exeter noch zu erreichen. Den Rest der Geschichte kennst du ja.«

 

»Was wolltest du an Bord des Schiffes?«

 

Er lachte.

 

»Ich wußte doch, daß der Mörder an Bord sein mußte, und außerdem warst du doch auf der ›Ceramia‹.

 

»Jim, schäme dich, daß du die beiden Dinge in einem Atemzug nennen kannst. Dabei soll ich dich noch lieben –?«

 

»Gewiß«, erwiderte er ruhig. »Ich sage dir ganz offen, das einzige, was mich damals noch vorwärtstrieb, und warum ich den Mut nicht verlor, war das Bewußtsein, daß du mir nahe warst.«

 

Sie sah ihn mit einem prüfenden Blick von der Seite an. Dreimal hatte sich die Tür des Lifts geöffnet, aber sie hatten es nicht gemerkt.

 

»Meinst du das wirklich?«

 

»Selbstverständlich«, entgegnete er etwas verletzt.

 

Sie dankte ihm mit einem Blick.

 

»Aber du hast mir noch nicht gesagt, was aus dem Halsband geworden ist.«

 

Er zuckte verzweifelt die Schultern.

 

»In den weiten Taschen von Tonys Breeches steckten so viel Juwelen und Brillanten, daß ein Juwelier zehn Jahre lang davon hätte verkaufen können. Aber es war nichts darunter, was dem Juwelenhalsband von Mrs. Markham auch nur im entferntesten ähnlich gesehen hätte. Das ist eine fatale Tatsache für mich. Ich möchte bloß wissen –«

 

»Die arme Mrs. Markham! Was wird nun das Ende sein?«

 

Jim zuckte die Schultern.

 

»Übrigens möchte ich nur wissen, wer ihre Freundin in New York ist, der ich die Konfektschachtel überreichen soll.«

 

»Was, sie hat eine Freundin in New York?« fragte Jim plötzlich interessiert.

 

»Ach, es ist eine Dame, die nach der Schachtel fragen soll –«

 

Jim faßte sie hart an der Schulter.

 

»Wo ist das Päckchen?«

 

»Du meinst doch nicht etwa –«

 

»Wir wollen es sofort untersuchen.«

 

Sie eilten zusammen den Gang entlang, und Jim ging mit ihr in die Kabine. Sie schlossen den Koffer auf, und mit zitternden Händen riß Margot das Packpapier von dem Kasten.

 

Jim öffnete sofort den Deckel und machte ein enttäuschtes Gesicht.

 

»Es ist tatsächlich Konfekt«, sagte er. »Das heißt –« Er fühlte mit den Fingern zwischen die einzelnen Stücke, schob die Schokolade dann beiseite und zog einen Gegenstand heraus, der glänzte und glitzerte.

 

»Margot, unsere Zukunft ist gesichert!«

 

»Sie war schon gesichert, als du vom Ertrinken gerettet wurdest.«

 

Jim nickte.

 

»Jetzt erklärt sich auch alles andere. Tony war doch in deiner Kabine?«

 

»Der Italiener – ja! Ich habe es ihm direkt auf den Kopf zugesagt. Aber was hat das jetzt zu bedeuten?«

 

»Er ist dorthin gegangen, um sich zu überzeugen, daß das Brillanthalsband wirklich dort war. Es ist Stella Markhams Eigentum, und er machte sich Sorge darum. Wahrscheinlich hat er vermutet, daß Stella es dir zur Aufbewahrung übergab, und hat deine Kabine durchsucht, um sich zu beruhigen. Er hat sie über alles geliebt.«

 

»Was, Tony Romano hat Mrs. Markham geliebt?« fragte Margot ungläubig.

 

»Ja, seine Liebe war so groß, daß er die Frau rettete, genau wie du mich gerettet hast, als du in dem hübschen Schwimmanzug ins Wasser sprangst…«

 

Sie sah ihn etwas ärgerlich an, aber er schloß sie mit einem glücklichen Lachen in die Arme.

 

*

 

Ende

 

Kapitel 1

 

1

 

Ungeduldig wartend saß Jim Bartholomew in Stiefeln und Sporen auf der Ecke des großen, schweren Eichentisches und beobachtete die Uhr auf dem Kamin. Er sah noch sehr jung aus, war aber bereits Direktor der wichtigsten Zweigniederlassung der South Devon-Bank. Sein Vater war vor seinem Tod Generaldirektor des ganzen Unternehmens gewesen und hatte wahrscheinlich dafür gesorgt, daß sein Sohn so frühzeitig diese gute Position erhielt.

 

Es gab ja wohl Leute, die in Jim nur den gutgekleideten jungen Mann sahen, der elegante Pferde liebte und ausschließlich Interesse für Fuchsjagden und Vergnügungen hatte. Sie hätten aber ihr Urteil über ihn geändert, wenn sie einmal geschäftlich mit ihm zusammengetroffen wären.

 

Er sah auf seine Taschenuhr und seufzte.

 

Es lag wirklich kein Grund vor, pünktlich bis zum Schluß der Bürostunden zu bleiben, denn gestern war in Moorford Markttag gewesen, und heute morgen hatte er den baren Kassenbestand mit dem Zug nach Exeter gesandt.

 

Aber Jim genierte sich vor seinem Assistenten. Dieser Mann amüsierte und ärgerte ihn zugleich. Einerseits bewunderte er die gewissenhafte Pflichterfüllung Stephen Sandersons, andererseits regte es ihn auf, wenn der Angestellte die Bankvorschriften zu wörtlich und buchstäblich auslegte. Er sah noch einmal auf die Uhr, nahm die Reitpeitsche vom Tisch und trat in das Büro seines Assistenten.

 

Stephen Sanderson schaute auf, als der Direktor eintrat, und warf dann einen Blick auf die laut tickende Uhr über der Tür.

 

»In zwei Minuten schließen wir, Mr. Bartholomew«, sagte er kurz und leicht vorwurfsvoll.

 

Er war zweiundvierzig Jahre alt und arbeitete sehr fleißig und erfolgreich. Die Ernennung Jim Bartholomews zum Direktor hatte eine ehrgeizige Hoffnung seines Lebens zerstört, und er hatte aus diesem Grunde keine besondere Veranlassung, seinen Vorgesetzten zu lieben. Bartholomew war ein Mann, dem mehr das Leben in der freien Natur zusagte. Er hatte den Weltkrieg mitgemacht und sich dabei ausgezeichnet; er liebte Sport, Tanz und Gesellschaft. Sanderson dagegen war unermüdlich tätig. Ihm kam es darauf an, gute Referenzen zu sammeln, und am wohlsten fühlte er sich, wenn er zu Hause in seiner Bibliothek studieren und sich weiterbilden konnte. Außerdem hatte er auch noch eine Schwäche, die Jim Bartholomew zum Entsetzen seines Assistenten entdeckt hatte.

 

»Die Stahlkammern sind schon geschlossen, Mr. Sanderson«, entgegnete Jim lächelnd. »Ich glaube kaum, daß zwei Minuten noch einen großen Unterschied machen.«

 

Mr. Sanderson zog die Nasenwinkel hoch, ohne die Augen vom Schreibtisch zu erheben.

 

»Nun, was machen denn Ihre kriminalistischen Studien?« fragte Jim gutmütig.

 

Der Mann wurde rot und legte ärgerlich die Feder nieder.

 

»Mr. Bartholomew, dagegen muß ich aber protestieren«, erwiderte er hitzig. »Sie spotten über meine Bemühungen, die eines Tages der Bank noch großen Vorteil bringen können.«

 

»Sicher, sicher«, erklärte Jim beruhigend und schämte sich, daß er den anderen gekränkt hatte.

 

»Ich habe kürzlich von einem guten Bekannten, mit dem ich korrespondiere, die Unterlagen eines berühmten Falles erhalten«, fuhr Sanderson fort und nahm einen großen Briefumschlag auf. »Wenn Sie den Inhalt lesen«, sagte er mit Nachdruck, »werden Sie doch erstaunt sein und Ihre skeptischen Bemerkungen unterlassen.«

 

Wenn Mr. Sanderson erregt war, hörte man deutlich seinen nördlichen Akzent. Das war immer ein gefährliches Zeichen, wie Jim Bartholomew wußte.

 

»Aber mein lieber Freund, es ist tatsächlich ein ausgezeichnetes Studium, und ich gratuliere Ihnen nur dazu. Als ich während des Krieges im Marinenachrichtendienst tätig war, dachte ich selbst daran, Detektiv zu werden.«

 

Wieder sah Mr. Sanderson auf die Uhr.

 

»Sie werden jetzt gehen, es ist Zeit zum Aufbruch«, sagte er mit besonderer Betonung, und Jim verließ lachend die Bank.

 

Auf der Straße hielt ein Reitknecht sein Pferd neben dem Gehsteig. Jim stieg in den Sattel, ritt schnell durch die Stadt und den langen Abhang hinauf, der bis zur Ecke des Moores führte. Als er die kleine Villenkolonie hinter sich hatte, kam er schließlich zu einer Art Talsenkung, die der Teufelskessel genannt wurde.

 

Auf der anderen Seite der Schlucht wartete ebenfalls jemand zu Pferde. Deutlich hob sich die Gestalt im Sattel von dem westlichen Himmel ab. Er nahm den kürzesten Weg und ritt den steilen Abhang hinab durch das tiefe Tal, in dem Felsstücke verstreut lagen.

 

Die junge Dame, die ihn drüben erwartete, hatte im Herrensattel gesessen, nahm aber nun ein Bein aus dem Steigbügel, schwang es über den Pferdehals und machte es sich bequemer. Die untergehende Sonne spiegelte sich in ihren blanken Reitstiefeln.

 

Sie hatte die Hände über einem Knie gefaltet und sah lächelnd und belustigt zu Jim hinüber, der sich mühsam mit dem Pferd die Höhe hinaufarbeitete.

 

Margot Cameron hatte ein Gesicht, wie es besonders die französischen Künstler lieben und häufig in ihren Schwarz-weiß-Skizzen festhalten. Ihre roten Lippen zogen die Aufmerksamkeit auf sich, und ihnen gegenüber fiel die leichte Röte der Wangen nicht ins Gewicht.

 

Wenn man sie aus der Nähe betrachtete, bemerkte man, daß dieses feurige Rot natürlich war und nicht durch künstliche Mittel vorgetäuscht wurde. Auch ihre vollen goldbraunen Locken waren ein Naturgeschenk.

 

Jim ritt auf sie zu und schwenkte schon von weitem den Hut zum Gruß.

 

»Wissen Sie auch«, sagte die junge Dame, indem sie mit dem rechten Fuß wieder in den Steigbügel trat, »eben kam mir so recht zum Bewußtsein, daß Sie für Ihren Lebensunterhalt arbeiten.«

 

»Ich halte die Bürostunden ein. Das ist etwas anderes als das, was Sie sagen. Wenn Sie diese ganze lange Zeit in England waren und noch nicht entdeckt haben, daß die englischen Geschäftsleute nicht vor zehn Uhr morgens zu arbeiten anfangen, nachmittags um drei bereits zum Tee gehen und um vier Uhr das Geschäft schließen, dann haben Sie allerdings noch nicht viel gelernt.«

 

Ein Lächeln blitzte in ihren Augen auf. Im allgemeinen war sie ziemlich ernst, aber die Gegenwart Jim Bartholomews stimmte sie fröhlich und heiter.

 

Sie ritten einige Zeit schweigend nebeneinander her, bis Jim sich an sie wandte.

 

»Nach allem glaube ich, daß ich Sie nun nur noch ein einziges Mal sehen werde vor Ihrer Abfahrt nach den Vereinigten Staaten?«

 

Sie nickte.

 

»Und wie lange werden Sie fortbleiben?« fragte er.

 

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Margot kurz. »Meine Pläne für die Zukunft sind noch ziemlich ungewiß. Im Augenblick hängt alles davon ab, was Frank und Cecile entscheiden. Sie sprachen schon davon, daß sie sich in England ankaufen und ein paar Jahre hierbleiben würden. Frank ist gerade nicht sehr davon erbaut, daß ich allein lebe, andererseits –«, sie hörte plötzlich auf und vollendete den Satz nicht.

 

»Nun, was wollten Sie sagen?« fragte Jim interessiert.

 

»Andererseits wäre es ja nicht ausgeschlossen, daß ich auch selbst in England bliebe.«

 

»Ach ja«, erwiderte Jim leise.

 

»Würden Sie es gerne sehen?« fragte sie plötzlich.

 

»Nein«, gab er ruhig zu. »Ich glaube nicht, daß ich einen solchen Schritt ihrerseits gern sehen würde. Aber Ihre Anwesenheit hier ist für mich sehr angenehm. Wenn Sie nicht ein so großes Vermögen besäßen, dann wäre es vielleicht bedeutend leichter, endgültig über Ihre Zukunft zu entscheiden.«

 

Sie wartete, aber er sprach nicht weiter, und sie wollte ihn auch nicht fragen. Sie hatten die wilde Gegend des oberen Moors erreicht. Fern am Horizont erhob sich Hay Tor und sah fast aus wie eine blaugraue Wolke. Unten im Tal zog sich wie ein silbernes Band der Dartfluß durch die grüne Landschaft.

 

»Dies ist der einzige Platz in England, wo man leben kann«, sagte sie und atmete tief.

 

»Sie haben unsere Einwilligung«, entgegnete Jim großartig, hielt sein Pferd an und zeigte mit der Reitpeitsche über das Moor hin. »Sehen Sie drüben das weiße Haus? In Wirklichkeit ist es gar keins. Ich glaube, es ist als Jagdschloß für einen Kaiser oder als Irrenhaus erbaut worden.«

 

»Ja, ich sehe es«, erwiderte sie und hielt die Hand über die Augen, um die Sonnenstrahlen abzublenden.

 

»Es heißt Tor Towers. Haben Sie schon einmal Mrs. Markham getroffen?«

 

»Markham?« fragte die junge Dame und runzelte die Stirn. »Nein, ich glaube nicht.«

 

»Sie stammt auch aus den Vereinigten Staaten und ist eine ungeheuer reiche Dame.«

 

»Ach, eine Amerikanerin?« sagte sie erstaunt. »Merkwürdig, daß wir sie nicht getroffen haben, nachdem wir doch ein ganzes Jahr lang in der Gegend waren.«

 

»Ich habe sie selbst auch nur ein einziges Mal gesehen«, gab Jim zu. »Sie ist eine Kundin unserer Bank. Aber gewöhnlich wird sie von Sanderson bedient, wenn sie irgendwelche Fragen hat.«

 

»Ist sie jung oder alt?«

 

»Oh, noch sehr jung«, entgegnete Jim begeistert. »Und sie ist so schön wie – nun, haben Sie das Gemälde ›Der tote Vogel‹ von Grenze im Louvre gesehen? Sie erinnert mich immer an dieses schöne Bild, und man könnte sich denken, daß Greuze es nach ihr gemalt hätte. Nur die Farbe der Haare stimmt nicht ganz.«

 

Sie sah ihn an und zog die Augenbrauen hoch. Ob Erstaunen oder vielleicht auch Belustigung in ihrem Blick lag, konnte er im Augenblick nicht sagen.

 

»Nun, das ist ja sonderbar«, entgegnete sie mit spöttischem Ernst. »Diese Begeisterung –«

 

»Ach, Margot, so müssen Sie das nicht auffassen«, erwiderte er, wurde aber trotzdem rot. »Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen.«

 

»Nur einmal? Sie hat aber allem Anschein nach einen tiefen Eindruck auf Sie gemacht.«

 

»In gewisser Weise, ja«, entgegnete er ernst. »In mancher Beziehung auch nicht.«

 

»Ich weiß nicht recht, wie ich das verstehen soll.«

 

»Wenn man sie zuerst sieht, muß man sie bewundern. Und doch wird man traurig in ihrer Gegenwart.«

 

Margot lachte kurz auf.

 

»Nun, durch eine gewisse melancholische Stimmung macht man am besten Eindruck auf einen Mann. Wir wollen heimreiten.«

 

Sie lenkte ihr Pferd auf einen Weg, der zum Tal des Dart-Flusses und von dort aus nach Moorford führte.

 

»Warten Sie noch ein wenig.«

 

Jim hielt sein Pferd an. Margot wandte sich um und bemerkte, daß er sie bewundernd ansah. Tiefe Verehrung und Zuneigung lagen in seinem Blick. Ihr Herz schlug schneller.

 

»Margot, ich werde Sie jetzt lange Zeit nicht mehr sehen«, begann er etwas heiser. »Sie gehen von mir fort, und wer weiß, wann Sie zurückkommen werden. Und wenn Sie diesen Platz verlassen haben, den wir beide so schön finden, dann ist er nur noch eine entsetzliche Einöde.«

 

Sie schwieg und sah an ihm vorüber in die Ferne.

 

»Ich muß in der Stadt bleiben und kann nicht von hier fort, denn ich bin an meine Tätigkeit in der Bank gebunden. Und das ist vielleicht die einzige Beschäftigung, die für mich paßt. Womöglich muß ich mein ganzes Leben hier zubringen, bis ich schließlich ein alter Mann von siebzig Jahren bin und einen kahlen Schädel habe. Eigentlich bin ich ja nicht zum Bankdirektor geboren«, sagte er etwas lebhafter, fast sogar schelmisch. »Es stand nicht in den Sternen geschrieben, daß ich in einem Büro an einem grünen Tisch sitzen sollte, um Leuten den Standpunkt klarzumachen, die einen Kredit von tausend Pfund verlangen, wenn ihre Einlage auf der Bank nur fünfhundert Pfund beträgt. Nein, ich sollte zur See gehen«, sagte er halb zu sich selbst, »oder wenn ich schon etwas mit einer Bank zu tun haben müßte, so wäre ich lieber ein Bankräuber. Im Grunde meines Herzens bin ich eigentlich verbrecherisch veranlagt, aber ich habe nicht genug Unternehmungsgeist.«

 

»Wozu erzählen Sie mir das alles?« fragte sie und schaute ihn groß an.

 

»Das alles führt uns zu der großen wichtigen Tatsache«, entgegnete Jim und richtete sich hoch im Sattel auf, »daß ich Sie liebe. Sie sollen das Land nicht verlassen, ohne daß ich Ihnen das gesagt habe. Warten Sie einen Augenblick«, fügte er schnell hinzu, als er glaubte, daß sie ihm antworten wollte. Aber er konnte Frauen schlecht beurteilen; in Wirklichkeit fiel ihr nur das Atmen schwer. »Ich weiß, was Sie mir erwidern wollen. Sie meinen, ich hätte es nicht sagen dürfen. Aber ich fühle mich freier und wohler, wenn ich Ihnen sagen darf, daß ich Sie liebe. Ich mache Ihnen keinen Heiratsantrag, das wäre nicht recht von mir. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich Sie liebe, und daß ich arbeiten werde – ich will diese langweilige, graue Stadt verlassen … eines Tages vielleicht …« Er sprach immer zusammenhangloser.

 

Sie lachte leise und leicht, obwohl sie gegen die Tränen ankämpfte, die ihr in die Augen stiegen.

 

»Jim, Sie sind ein sonderbarer Mann«, erwiderte sie kurz. »Erst machen Sie mir einen Antrag, und dann lehnen Sie ihn selbst ab. Es bleibt mir nichts zu sagen übrig, höchstens, daß ich Ihnen gegenüber niemals die Rolle der schwesterlichen Freundin spielen werde. Und dann habe ich auch Cecile versprochen, Sie zum Tee mitzubringen.«

 

Jim schluckte schwer. Mit einem tiefen Seufzer trieb er sein Pferd an, und gleich darauf war er an ihrer Seite.

 

»Also, das wäre erledigt«, sagte er.

 

»Nun, ich möchte aber nicht erklären, daß Ihre Ansichten immer meine Ansichten sind. Aber jetzt wollen wir noch recht viel über die schöne Mrs. Markham plaudern.«

 

Das taten sie, und sie sprachen auch noch über viele andere Dinge, bis sie durch den großen steinernen Torbogen von Moor House ritten, dem schönen Herrensitz an der Grenze von Moorford, den die Camerons für die Dauer des Sommers gepachtet hatten.

 

Kapitel 11

 

11

 

»Cecile! Das war ihr Ring – und doch –«

 

»Ich konnte mich nicht irren«, fuhr Jim fort. »Als ich an Bord des Schiffes kam, lieh ich von dem Chefingenieur ein Vergrößerungsglas, und so konnte ich alle Einzelheiten erkennen.«

 

Sie schwieg, während sie sich über die Reling lehnten und beobachteten, wie die großen Schaumblasen an der Oberfläche des Wassers vorübereilten.

 

»Willst du mir nicht auch erzählen, was du sonst noch erlebt hast?«

 

»Nur noch das: Ich kam in Southampton bei Tagesanbruch an und ging an Bord. Ich kenne den Chefingenieur Smythe und wußte, daß er an Bord war. Offen erklärte ich ihm, was ich erlebt hatte. Außerdem teilte ich ihm meine Verdachtgründe mit, die ich dir noch nicht sagen konnte. Er holte Stornoway in seine Kabine herunter, und wir besprachen dann die ganze Angelegenheit beim Mittagessen. Das sind wirklich wunderbare Charaktere. Sie nahmen das Risiko auf sich. Ich schlafe in der Kabine des Chefingenieurs, die sich übrigens auf diesem Deck befindet. Der Steward ist eingeweiht, aber auch ihn kannte ich von früher her.«

 

»Was soll denn aber in New York werden?«

 

»Das weiß ich nicht. Es sind Detektive an Bord des Schiffes, aber ich glaube nicht, daß sie hinter mir her sind.«

 

»Warum sind sie denn auf das Schiff gekommen?«

 

»Sie wollen die Bande der ›Vier Großen‹ festnehmen. Habe ich dir damals nicht von Sandersons Theorie erzählt? Er war wirklich ein armer Mann. Die letzten Worte, die er mit mir wechselte, handelten von der hohen Summe, die auf die Verhaftung der Bande ausgesetzt ist.«

 

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte sie nach einer Weile. »Daß der Ring auf der Photographie zu sehen war, ist doch merkwürdig. Frank hat oft gesagt, daß es der einzige Ring dieser Art ist. Aber es ist doch nicht möglich, daß dasselbe Schmuckstück auf der Photographie ist … Glaubst du denn, daß Cecile dieses entsetzliche Verbrechen ausgeführt hat?«

 

»Du meinst, daß sie Sanderson erschossen hat – um Himmels willen – nein!«

 

»Glaubst du, daß sie Sanderson gekannt hat? Ich besinne mich jetzt. Sie war sehr aufgeregt, als sie ihn in der Tür der Bank stehen sah.«

 

Jim antwortete einige Zeit nicht.

 

»An deiner Stelle würde ich die Möglichkeit nicht in Betracht ziehen, daß deine Schwägerin die Täterin sein könnte. Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß sie nicht mehr mit dem Mord zu tun hat als du und ich.«

 

Plötzlich hörten sie hinter sich im Dunkeln einen Schrei, einen halb erschreckten Ruf, dann ein Geräusch, als ob etwas Schweres niederfiele. Beim ersten Laut sprang Jim auf und verschwand in der Dunkelheit. Margot, die ihm nacheilte, wäre beinahe über ihn gefallen. Sie sah jetzt, daß er sich über eine dunkle Gestalt beugte, die am Boden lag. Rasch steckte er ein Streichholz an. »Wer ist denn dieser Mann?« fragte er.

 

Sie sah über die Schulter und schauderte zusammen, als sie Blut aus einer Kopfwunde niederrinnen sah.

 

»Das ist ja der Pfarrer – Mr. Price!«

 

Es schien sonst niemand den Schrei gehört zu haben, denn sie blieben allein an Deck.

 

Jim hob den Verwundeten auf und stützte ihn gegen einen Windfang. Der Mann stöhnte.

 

»Wie geht es Ihnen? Können Sie stehen?« fragte Jim.

 

Zuerst glaubte er, daß Price das Bewußtsein nicht wiedererlangt hätte, denn er erhielt nicht sofort Antwort.

 

»Ich will es versuchen«, hörte er dann eine Stimme von unten. Mühsam erhob sich der Pfarrer, während Jim ihn stützte.

 

»Schrecklich!« sagte er leise. »Schrecklich!«

 

»Geht es Ihnen besser, Mr. Price?« fragte Margot besorgt. »Ja, ich fühle mich schon wohler. Wer ist denn das?«

 

»Ich bin Miss Cameron.«

 

»Ach, es ist ganz merkwürdig, ich bin hier über diese Bolzen gefallen. Es ist dunkel oben an Deck.«

 

»Wer hat Sie denn überfallen?« fragte Jim.

 

»Wieso?«

 

»Wer hat Sie verwundet? Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, daß Sie hier über einen Bolzen gefallen sind. Ich habe deutlich gehört, wie Sie mit einem anderen kämpften.«

 

Wieder steckte er ein Streichholz an. »Jemand hat versucht, Sie zu erwürgen. Ich sehe doch noch deutlich die Male an Ihrem Hals.«

 

»Ich fürchte, Sie haben geträumt«, erwiderte Price.

 

»Aber ich danke Ihnen vielmals für Ihre liebenswürdige Hilfe.« Schwankend ging er zu der Treppe nach unten, und auf dem Weg hielt er sich an den Booten fest, um nicht umzusinken.

 

»Das war ein glücklicher Zufall«, meinte Jim.

 

»Das verstehe ich nicht. Wieso?«

 

»Wirklich ein Segen«, entgegnete Jim erregt. »Wir beide können sehr dankbar sein, auf jeden Fall ich. Es ist bisher schon so vieles gutgegangen.«

 

»Wir wollen einmal sehen, aus welcher Richtung der Schrei kam.«

 

Vorsichtig ging er den engen Weg entlang, dann blieb er stehen.

 

»Es muß ungefähr hier gewesen sein«, sagte er direkt gegenüber der Radiokabine. »Nun wollen wir einmal hier hineinsehen und den Operateur fragen, ob er etwas gehört hat.«

 

Sie stiegen eine kurze Treppe in die Höhe zu dem öffentlichen Schalter, wo die Passagiere ihre Radiotelegramme aufgaben. Sie sahen den Operateur in Hemdsärmeln hinter einem Schalter sitzen.

 

»Hat Mr. Price das Wechselgeld auch eingesteckt?« fragte Jim liebenswürdig.

 

»Ja, ich gab ihm einen Dollar fünfzig. Ich sah deutlich, wie er es einsteckte.«

 

»Er gab Ihnen doch einen Zehndollarschein?« fragte Jim aufs Geratewohl.

 

»Ja, und das Telegramm kostete acht Dollar fünfzig«, erklärte der Operateur geduldig.

 

Jim dankte ihm.

 

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Margot verwundert, als sie auf das Deck herunterkamen.

 

»Ich wollte wissen, wie lang ungefähr das Telegramm war. Und vor allem natürlich, ob er überhaupt eine Radiobotschaft fortgeschickt hatte. Er hat acht Dollar fünfzig bezahlt, infolgedessen hat er ungefähr vierzig Worte telegraphiert. Das ist schon ein recht langes Telegramm. Sie müssen ihn überfallen haben, als er die Treppe herunterkam. Ich kann nur sagen, Mr. Price hatte Glück, daß sie ihn nicht gleich über Bord warfen.«

 

»Jim, ich möchte noch eine Frage an dich richten. Wenn alles so geht, wie wir wünschen, und du deinen guten Namen wiederhergestellt hast, wie lange wird es dauern, bis du –« Es fiel ihr zu schwer, den Satz zu beenden.

 

»Ich werde dich heiraten, so schnell wie möglich, selbst wenn ich mir das Geld von dir leihen sollte, um die Lizenz und den Pfarrer zu bezahlen.«

 

Kapitel 12

 

12

 

Es blieben noch zwei Tage, vielleicht auch noch ein weiterer halber Tag, in dem Jim sein Ziel erreichen würde. Sie zweifelte nicht, daß es ihm gelingen würde, aber sie schwebte doch in beständiger Furcht und Aufregung. Am nächsten Morgen war sie sofort nach dem Frühstück an Deck, und der erste, den sie sah, war Mr. Price, der ruhig in seinem Deckstuhl saß und in einem Buch las. Er legte die Hand an seinen Verband, um zu grüßen.

 

»Schade, daß ich Sie gestern abend so erschreckt habe. Es war wirklich unvorsichtig von mir, daß ich oben auf das Bootsdeck ging.«

 

»Wenn Sie sich mehr zusammengenommen hätten, würden Sie sich wahrscheinlich nicht verletzt haben.«

 

Er lachte, aber dann verzog er das Gesicht, denn die Erschütterung verursachte ihm Schmerzen.

 

»Ihr Freund scheint Sie davon überzeugt zu haben, daß mich jemand angegriffen hat. Aber glauben Sie mir, meine liebe Miss Cameron, das stimmt nicht. Die Schreie, die Sie gehört haben, rührten wahrscheinlich von jungen Leuten her, die sich auf der anderen Seite des Decks einen Scherz machten. Ich habe es selbst schon öfter am Abend gehört und war zuerst auch sehr bestürzt darüber.«

 

»Sie wurden also doch angegriffen, und Mr. – mein Freund hat auch nicht gesagt, daß er hörte, wie Sie einen Schrei ausstießen«, sagte sie hartnäckig und nickte. »Sie wurden niedergeschlagen, nachdem sie ein langes Radiotelegramm nach New York gesandt haben.«

 

Er ließ das Buch, das er in Händen hielt, plötzlich fallen und sah sie mit halbgeschlossenen Augenlidern an.

 

»Sie sind doch nicht Miss Withers?« fragte er leise und bestürzt.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wer ist denn überhaupt Miss Withers?« fragte sie. »Ach, jetzt weiß ich es. Das ist diese Detektivin. Mr. –« sie biß sich auf die Zunge, sonst hätte sie tatsächlich Bartholomews Namen genannt. »Mr. Wilkinson hat mir davon erzählt.«

 

»Ja, Agnes Withers heißt diese Frau«, erwiderte er gleichgültig. »Ich erinnere mich jetzt daran, daß sie in irgendeinem großen Prozeß eine Rolle spielte. Wahrscheinlich hat sie als Detektivin ein Verbrechen aufgeklärt. Nein, ich meinte eine andere Miss Withers, eine alte Freundin von mir – eine Tante.«

 

Major Pietro Visconti kam in diesem Augenblick vorbei und nahm Margot zu einem kurzen Spaziergang mit.

 

»Ich kann den Pfaffen nicht leiden, ich habe ihn noch nie gemocht.« Visconti zwirbelte nachdenklich seinen kleinen Schnurrbart. »Es sind Wölfe in Schafskleidern, und die sind sehr verderblich für die Jugend.«

 

Später traf er sie wieder, als sie in ihrem Stuhl am Promenadendeck saß, und setzte sich neben sie in Mrs. Markhams Sessel. Er sprach von Italien und Mailand, wo er zu Hause war, dann erzählte er von seiner Karriere, die er während des Weltkriegs in der Armee gemacht hatte, und berichtete so viele Einzelheiten von Washington, daß sie ihn fragte, ob er schon dort gewesen wäre.

 

Er nickte.

 

»Mehrmals, aber in untergeordneter Stellung. Jetzt bin ich Attaché der größten kriegerischen Nation der Erde.«

 

Sie lächelte, aber er erinnerte sie daran, daß die Römer die anderen Völker in der Kriegskunst unterrichtet hatten. Dann erhob er sich, denn Stella Markham kam näher. Sie sah immer noch etwas angegriffen aus, obgleich schon zwei Tage seit dem letzten Schwächeanfall vergangen waren. Es sah aus, als ob sie kaum geschlafen hätte, und sie bestätigte das auch mit ihren ersten Worten.

 

»Ich habe heute morgen den Tagesanbruch und den Sonnenaufgang gesehen.«

 

»Mir ist das auch an zwei Morgen passiert«, entgegnete Margot lächelnd. »Leiden Sie an Schlaflosigkeit?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe nicht mehr richtig schlafen können, seitdem ich Tor Towers verlassen habe«, sagte sie und schaute auf. »Warum bin ich nur von dort abgereist?«

 

»Aber Sie kehren doch wieder zurück?«

 

»Es bleibt mir wohl nicht viel anderes übrig«, erwiderte sie nach einer Pause. »Ich muß es vor allem tun, um die Versicherungssumme für meine gestohlenen Juwelen herauszubekommen. Ich habe ein Radiotelegramm an eine Rechtsanwaltsfirma nach London gesandt, die meine Interessen wahrnehmen soll. Ich glaube, es wird mir auch gelingen, meine Ansprüche durchzusetzen – nun, was gibt es?«

 

Die letzten Worte hatten sie an Mr. Winter gerichtet, der nicht mehr so vergnügt und wohlwollend aussah wie gewöhnlich. Immerhin stand er in bescheidener Haltung vor Mrs. Markham.

 

»Es ist eben ein Radiotelegramm für Sie angekommen, es liegt in Ihrer Kabine, Madame.«

 

»Schon gut, Winter«, sagte sie und entließ ihn mit einem Kopfnicken.

 

»Auch er wird allmählich wieder vergnügt«, erklärte sie. »Ich möchte nur wissen, was Mr. Price zugestoßen ist.«

 

Sie war aufgestanden und sah die Reihe der Deckstühle entlang. Von weitem bemerkte sie den weißen Verband des Pfarrers. »Wissen Sie es, Miss Cameron?«

 

»Ja«, entgegnete sie ruhig. »Soviel ich weiß, hatte er gestern abend einen Unglücksfall oben auf dem Bootsdeck.«

 

»Einen Unglücksfall? Davon habe ich bisher noch nichts erfahren.«

 

Sie ging zu Price hinüber und setzte sich einige Zeit neben ihn auf einen Deckstuhl.

 

Margot fühlte sich unruhig und nervös, legte ihr Buch hin und ging an Deck auf und ab. Unterwegs schloß sich ihr der kleine Deutschamerikaner an, der mit ihr zusammen am Tisch des Zahlmeisters saß. Er befand sich auf der Rückreise nach Amerika, um sich dort zu verheiraten. Zuerst war er etwas scheu, bis sie ihn ausfragte.

 

Sie hatte schon zum zweitenmal die Runde auf dem großen Deck gemacht und näherte sich wieder der Stelle, wo sich Mrs. Markham immer noch mit dem Pfarrer unterhielt. Im gleichen Augenblick sah sie, daß Mr. Winter aus dem Innern des Schiffs ins Freie hinaustrat. Er blieb in einiger Entfernung stehen und wartete, bis Mrs. Markham zu ihm hinübersah. Sie stand auf und ging nach unten. Mr. Winter folgte ihr.

 

Es war bereits spät am Nachmittag, als Margot Mrs. Markham wiedersah. Diesmal trafen sie sich in der Gesellschaftshalle, wo Margot Tee trank und der Bordkapelle lauschte. Sie dachte an Jim, der unten im heißen Maschinenraum schwer arbeitete. Jede Umdrehung der Schiffsschraube, die den großen Koloß erzittern ließ, erinnerte sie daran, daß Jims Zukunft und Geschick an einem seidenen Faden hing.

 

Mrs. Markham rauschte herein. Sie trug ein wunderbares Kleid, und die neidischen Blicke vieler Frauen folgten ihr.

 

Vom Steward ließ sie sich einen Armsessel an Margots Tisch rücken.

 

»Wo wohnen Sie in New York?«

 

Margot gab ihre dortige Adresse an.

 

»Ich würde mich freuen, wenn ich Sie dort sehen könnte. Ich fahre weiter nach Richmond, aber in einer Woche oder spätestens in zehn Tagen kehre ich nach New York zurück.«

 

Margot kam zum Bewußtsein, daß sich Stella Markhams Benehmen geändert hatte. Zuerst hatte sie sie etwas von oben herab behandelt, dann hatte sie sie bemuttert, und jetzt sah es so aus, als ob sich ein mehr freundschaftliches Verhältnis anbahnte.

 

Sie sprach von Devonshire, dann versuchte sie, Margot dazu zu bringen, etwas von ihrem Leben in Moor House zu erzählen, und drückte ihr Bedauern darüber aus, daß sie sie während ihres Aufenthalts in England nicht getroffen hatte.

 

»Werden Sie nicht in New York abgeholt?« fragte sie schließlich.

 

»Doch. Wahrscheinlich erwartet mich der Rechtsanwalt meines Bruders. Das ist sogar ganz sicher.«

 

»Wer ist denn sein Rechtsanwalt?« fragte sie interessiert. »Ich wende mich stets an Peak & Jackson.«

 

»John B. Rogers ist Franks Freund. Er ist außerdem Oberstaatsanwalt des Staates.«

 

»Ich kenne ihn«, nickte Stella. »Wenigstens dem Namen nach. Jeder Mann in New York kennt ihn natürlich.«

 

»Ja, ich glaube, er ist sehr populär.«

 

»Ich fahre sofort nach Richmond weiter«, entgegnete Mrs. Markham nachdenklich, »und ich brachte eine Schachtel Konfekt aus Paris mit, die ich einer Freundin bei meiner Ankunft geben wollte.«

 

»Warum schicken Sie denn keinen Boten?«

 

»Weil ich die Adresse meiner Freundin nicht kenne. Ich sagte ihr, sie sollte mich in demselben Hotel aufsuchen, in dem Sie wohnen werden. Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, dieses Päckchen an sich zu nehmen? Sie können ja dem Personal sagen, daß die Betreffende zu Ihnen geschickt werden soll, wenn jemand nach Mrs. Markham fragt. Und dann können Sie ihr das Geschenk übergeben.«

 

»Ich werde Ihnen gern den Gefallen tun«, entgegnete Margot lächelnd.

 

Es war einer dieser kleinen Aufträge, die sie am wenigsten schätzte, aber sie hielt es unter den gegebenen Umständen für rücksichtslos und unfreundlich, ihn abzulehnen.

 

»Ich werde Ihnen das Konfekt übergeben, bevor wir das Schiff verlassen. Vielleicht kommen Sie einmal zu meiner Kabine. Ich habe eine Anzahl entzückender Kleider, die ich Ihnen gern zeigen möchte. Wie wäre es heute nachmittag? Am besten jetzt gleich?«

 

Margot war neugierig, Mrs. Markhams Kabine kennenzulernen, und begleitete sie ohne zu zögern. Die Räume lagen am Ende des A-Decks in der Nähe des Bugs und waren sehr schön, aber lange nicht so luxuriös eingerichtet wie Margots eigene Zimmer. Die Kleider, die Stella Markham ihr zeigte, waren außerordentlich geschmackvoll und elegant, und schon ihretwegen hatte sich der Besuch gelohnt. Margot hatte sich gerade verabschiedet, als Mrs. Markham sie zurückrief.

 

»Es wäre vielleicht ganz gut, wenn Sie das kleine Päckchen gleich mitnähmen.«

 

Sie zog einen Stahlkoffer unter dem Bett hervor. Als sie den Schlüssel ins Schloß steckte, gab es einige Schwierigkeiten; und Mrs. Markham untersuchte daraufhin das Schlüsselloch.

 

»Jemand hat versucht, es zu öffnen«, sagte sie, und wieder sah Margot diesen müden, traurigen Zug in ihrem Gesicht.

 

Nach einiger Zeit gelang es ihr, den Schlüssel herumzudrehen, und nun nahm sie ein Paket heraus. Als sie das Papier abstreifte, bemerkte Margot eine wunderbare ovale Schachtel, die mit kostbarer, schwerer Chinaseide überzogen war. Der Deckel war mit einem handgemalten Bild verziert, und als sie die Schachtel öffnete, zeigte sich eine geschmackvolle, farbenprächtige Packung.

 

Margot nahm das Konfekt zu ihrer Kabine mit und schloß es in einen Koffer ein. Sie wußte nicht recht, was sie von Stella Markham halten sollte. Zuerst glaubte sie, die Frau vollkommen zu durchschauen, aber jeden Tag änderte sich das Bild, und Margot fühlte, daß ihre Menschenkenntnis doch nicht so sicher war, wie sie es bisher angenommen hatte.

 

Als sie mit dem Fahrstuhl an Deck zurückkehrte, wartete Stella Markham oben auf sie.

 

»Ich muß Ihnen noch etwas sagen. Es liegt nämlich ein Zoll auf Süßigkeiten, und ich dachte, daß Sie leicht durch die Zollschranken kommen, wenn Staatsanwalt Rogers Sie abholt. Er ist so bekannt, daß niemand Sie anhalten wird, wenn Sie in seiner Begleitung sind.«

 

Margot lachte.

 

»Daran habe ich auch schon gedacht.«

 

Wie an allen anderen Tagen wartete sie und zählte die Stunden und Minuten, bis der Abend kam. Für sie begann das Leben erst, wenn sie Jim auf dem Bootsdeck traf. Das Leben schien allen Glanz zu verlieren, wenn sie sich von ihm getrennt hatte. Was dazwischenlag, war eine traurige Wartezeit, die sie sich so gut wie möglich vertreiben mußte. Als sie am Nachmittag in ihre Kabine kam, merkte sie, daß dort jemand geraucht haben mußte, und klingelte nach der Stewardeß.

 

»Wer hat hier gequalmt?« fragte sie.

 

»Ich wüßte niemanden«, entgegnete die andere überrascht.

 

Margot ging umher, aber der Geruch war nicht zu verkennen. »Ich würde ja noch nicht einmal so böse sein, wenn der Betreffende wenigstens eine anständige Zigarette geraucht hätte, aber das ist ja ein ganz entsetzliches Zeug.«

 

Sie hatte den bestimmten Eindruck, diese Art Tabak schon irgendwo vorher kennengelernt zu haben. Wieder sah sie sich im Zimmer um, und nach einer Weile fand sie auch, was sie suchte. Es war ein kleines Häufchen grauer Zigarrenasche, das der Raucher abgestreift hatte.

 

Sie betrachtete es sorgfältig und ging nachdenklich zum Promenadendeck zurück.

 

Oben sah sie Major Pietro Visconti allein auf einem Stuhl und trat zu ihm.

 

»Major Visconti, was haben Sie heute nachmittag in meinen Räumen gemacht?«

 

Er sprang auf, als sie ihn anredete.

 

»Was sollte ich denn in Ihren Räumen suchen?« fragte er überrascht. »Ich bin nicht dort gewesen!«

 

Sie zeigte ihm die Zigarrenasche, die sie in einem Briefumschlag untergebracht hatte.

 

Er lachte.

 

»Ach, Sie sind ein kleiner Sherlock Holmes, entdecken Zigarrenasche und ziehen Ihre Schlüsse daraus? Nun, von mir stammt sie nicht. Ich rauche eine besondere Sorte.«

 

»Ja, die kenne ich genau«, erklärte sie mit Nachdruck.

 

»Es ist eine italienische Marke, aber es gibt verschiedene Leute an Bord, die dieselbe rauchen. Ich könnte Ihnen ein paar nennen. Aber warum sollte denn ausgerechnet ich in Ihre Kabine eindringen, Miss Cameron? Ich weiß nicht einmal, wo sie liegt.«

 

Nachdem er die Sache so entschieden abstritt, blieb ihr nichts anderes übrig, als seine Erklärung anzunehmen und sich zu entschuldigen. Es war auch denkbar, daß er zufällig in die Kabine geraten war, und da er geraucht hatte, war er ja wahrscheinlich auch heimlich hineingegangen. Sonst hätte er sich doch nicht auf diese Art und Weise kompromittieren wollen. Als sie später allein war, dachte sie länger darüber nach, und es fiel ihr ein, daß sie ihn noch nie ohne Zigarre gesehen hatte.

 

Aber wenn Visconti in ihren Räumen gewesen war – warum war er gekommen? Dieses Problem wollte sie später mit Jim besprechen.

 

Nach Tisch erinnerte sie sich daran, daß sie doch wenigstens den Namen der Dame wissen mußte, die nach der Schachtel Konfitüren fragen wollte, und sie ging deshalb zu Mrs. Markhams Kabine.

 

Allem Anschein nach war sie in ihren Räumen, denn sie sah an dem oberen vergitterten Teil der Tür, daß drinnen Licht brannte. Auch konnte sie Stimmen hören. Sie klopfte an und drückte im gleichen Augenblick die Klinke nieder. Eben hatte sie Stella Markham noch beim Abendessen gesehen, diese konnte sich also noch nicht ausgekleidet haben. Zu ihrer größten Überraschung fand Margot aber die Tür verschlossen.

 

»Wer ist da?« fragte Mrs. Markham, aber ihre Stimme klang so merkwürdig und fremd, daß sie kaum zu erkennen war.

 

»Ich bin es, Margot Cameron. Ich möchte Sie etwas fragen.«

 

»Einen Augenblick.«

 

Das Licht wurde plötzlich ausgedreht, und die Tür öffnete sich nur einen kleinen Spalt. Selbst bei dieser schwachen Beleuchtung konnte Margot sehen, daß die andere rotgeweinte Augen hatte.

 

»Was wünschen Sie?« fragte Stella ruhig.

 

»Ich möchte den Namen der Dame wissen, die nach dem Konfekt fragen wird.«

 

»Ich sage es Ihnen später. Wollen Sie mich jetzt entschuldigen?«

 

Sie machte die Tür wieder zu, und Margot hörte aufs neue leise Stimmen im Innern. Die andere Person war allem Anschein nach auch eine Frau; die Stewardeß konnte es unmöglich sein, denn Margot traf sie kurz darauf in einem entfernten Teil des Ganges. Wer mochte bloß die Besucherin gewesen sein? Im allgemeinen war Margot nicht neugierig, aber sie hielt es jetzt für ihre Pflicht, alle möglichen Informationen zu sammeln, um Jim Bartholomew zu helfen.

 

Sie ging nicht zum Promenadendeck zurück, sondern trat in den großen Gesellschaftssaal. Von ihrem Platz aus konnte sie die Kabinentür von Mrs. Markham übersehen, und nachdem sie eine halbe Stunde gewartet hatte, wurde ihre Geduld belohnt, denn die andere Dame kam heraus.

 

Diese ging jedoch nicht zu dem Gesellschaftssaal, sondern bog vorher in einen Seitengang ein, der, wie Margot wußte, zu einer kleinen Treppe nach dem unteren Deck führte. Sofort war ihr Entschluß gefaßt. So schnell sie konnte, eilte sie zum C-Deck hinunter. Sie vermutete allerdings nur, wer die Besucherin sein konnte, aber als sie unten ankam, konnte sie gerade noch sehen, wie die Dame in der Kabine von Mrs. Dupreid verschwand.

 

Es mußte also die Freundin Ceciles sein. Margots Gedanken wirbelten durcheinander, und sie gab es auf, weiter darüber nachzudenken. Sie wollte aber Jim alles mitteilen, der würde vielleicht die Zusammenhänge durchschauen. Sie verließ sich auf ihn und glaubte, daß er bereits verschiedenes aufgeklärt haben mußte.

 

Die ganze Gesellschaft aber brachte sie mehr und mehr in Verwirrung. Warum besuchte Mrs. Dupreid Stella Markham, und warum hatte diese geweint? Es war alles so rätselhaft.

 

Schließlich suchte sie die Bibliothek auf und nahm ein Buch von Walter Scott vor. Diese weitentlegenen Geschichten aus dem frühen Mittelalter beruhigten sie.

 

Um elf Uhr wurde das Licht in der Bibliothek teilweise ausgeschaltet, um die Passagiere zum Verlassen des Raumes aufzufordern. Margot wartete noch eine ganze Stunde. Aber vielleicht hatte Jim eher Zeit, so daß sie ihn schon jetzt auf dem Promenadendeck treffen konnte. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihm dies nicht schon früher vorgeschlagen hatte, holte ihren Mantel aus der Kabine und ging nach oben.

 

An diesem Abend lag das Deck vollkommen verlassen, weil unten im Salon getanzt wurde. Alle jungen Leute waren natürlich nach unten gegangen. Vorsichtig stieg sie die Treppe zum Bootsdeck hinauf. Aber oben fühlte sie sich zu einsam, um dort eine ganze Stunde lang auf Jim zu warten. Als sie gerade aufs Promenadendeck hinuntersteigen wollte, sah sie ihn jedoch.

 

Sie blieb stehen. Der Abend war sehr dunkel, aber sie erkannte deutlich die Umrißlinien seiner Gestalt. Er stand an der Reling am Ende eines langen Bootes, und Margot wäre beinahe bewußtlos umgesunken, denn es lag eine Frau in seinen Armen.

 

Wie versteinert starrte Margot auf das Bild, und doch irrte sie sich nicht. Es war Jim Bartholomew. Die Umrißlinien seines Kopfes und seiner Schultern kannte sie zu genau.

 

Es war Jim, und er flüsterte seiner Begleiterin zärtliche Worte zu. Sie stand nahe genug, um den Tonfall seiner Stimme zu hören. Sanft und eindringlich sprach er auf sie ein. Margot hörte auch, daß die Frau schluchzte. Sie faßte sich mit den Händen an den Kopf. War sie wahnsinnig oder träumte sie? Gab es denn überall auf dem Schiff nur weinende Frauen? Sie holte tief Atem. Sollte das etwa auch Mrs. Markham sein?

 

Sie mußte irgendein Geräusch gemacht haben, denn plötzlich fuhren die beiden auseinander, und die Frau verschwand in der Dunkelheit.

 

»Jim!« sagte Margot heiser.

 

»Ja, Liebling? Ich habe dich noch nicht erwartet.«

 

»Das kann ich mir wohl denken«, entgegnete sie mit einer unheimlichen Ruhe. »Wer war diese Frau?«

 

Er schwieg.

 

»Wer war die Frau?«

 

»Das kann ich dir nicht sagen, mein Liebling.«

 

»Nenne mich nicht ›mein Liebling‹«, erwiderte sie in plötzlich aufwallendem Zorn. »Jim, wer war die Frau? Willst du es mir jetzt sagen?«

 

»Das kann ich nicht«, entgegnete er traurig.

 

»Dann werde ich es selbst herausbringen.«

 

Sie drehte sich auf dem Absatz um und eilte das Deck entlang. Gleich darauf stand sie wieder am Eingang des Gesellschaftssaals. Sie war außer Atem, aber fest entschlossen, diese Sache aufzuklären.

 

Die erste Dame, die ihr begegnete, war Mrs. Markham, die sich mit dem Major Visconti unterhielt. Sie bewegte einen großen Straußenfächer und beobachtete die tanzenden Paare durch die geöffnete Tür. Margot eilte den Gang entlang.

 

Da war sie!

 

Sie hatte noch gerade gesehen, wie Mrs. Dupreid in ihrer Kabine verschwand. Gleich darauf klopfte Margot an die Tür.

 

»Wer ist da?« fragte eine dumpfe Stimme.

 

»Margot Cameron.«

 

»Es tut mir leid, ich kann Sie heute abend nicht empfangen. Ich fühle mich nicht wohl.«

 

»Ich werde Sie aber doch sprechen, Mrs. Dupreid«, entgegnete sie fest entschlossen. »Ich bin Margot Cameron, und Cecile ist meine Schwägerin.«

 

»Ich sage Ihnen, Sie können jetzt nicht hereinkommen«, erklärte die Frau aufs neue.

 

Aber Margot drückte die Tür auf, trat hinein und schlug sie heftig hinter sich zu.

 

Aber dann blieb sie wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.

 

»Cecile … wie kommst denn du …?« Es war Cecile Cameron, die ihr mit tränenüberströmtem Gesicht, aber doch trotzig entgegentrat.

 

Kapitel 4

 

4

 

Am nächsten Morgen stand sie sehr früh auf und ging in den Garten, um sich noch einmal alles genau zu überlegen.

 

Es war sechs Uhr. Der Nebel hatte sich verteilt, und man konnte weithin über die Bucht von Borcombe sehen. Das Wasser spiegelte in allen Farben die Strahlen der Sonne wider.

 

Sie saß auf einer rauhen Steinbank und atmete die milde und doch so kräftige Seeluft ein. Das herrliche Bild, das sich ihr bot, machte einen tiefen Eindruck auf sie. Das rote Gestein der Devonshire-Klippen erglühte, weiße Sanddünen und reiche grüne Felder, die unmittelbar an den Klippen begannen, dehnten sich vor ihr aus. Ihre Blicke verfolgten den langen Weg, der sich allmählich in der Landschaft verlor.

 

Sie war versunken in diese Schönheit und vergaß all ihre Schwierigkeiten und ihre Sorgen. Hinter den Fliederbüschen zog sich die weite Wildnis der Fichten und des Ginsters hin. Links erhob sich der Kirchturm von St. Maria. Die Spitze ragte gerade noch über die Häuser oben auf den Klippen. Sie schaute auf den steilen, gewundenen Pfad, der zu dem Hause führte. Von ihrem Sitzplatz aus konnte sie das Tor nicht sehen, aber sie hörte, daß die Klinke herabgedrückt wurde. Da die Luft so klar war, vernahm sie das Geräusch so deutlich, als wäre das Tor dicht neben ihr. Sie schaute auf und war neugierig, welcher Besuch wohl zu so früher Stunde kommen könnte.

 

Zuerst erkannte sie den Herrn in dem grauen Anzug und dem Strohhut nicht wieder. Offensichtlich hatte er sie nicht bemerkt, denn er näherte sich dem Haus mit einer gewissen Vorsicht, als ob er daran zweifelte, hier willkommen zu sein.

 

Er vermied die kiesbedeckten Wege und ging auf dem Rasen, der die Blumenbeete umsäumte. Schritt für Schritt kam er näher und schaute gespannt auf die oberen Fenster. Plötzlich sah er sie, stand einen Augenblick still und trat dann auf sie zu. »Guten Morgen, mein Fräulein«, sagte er mit leiser Stimme. Offenbar wünschte er nicht, daß andere Leute seine Worte hören sollten.

 

»Guten Morgen.«

 

Mr. Whiplow schaute sich wieder nach dem Haus um und schnitt eine Grimasse.

 

»Ist Mrs. Dorban zu Hause? Sie haben ihr wahrscheinlich gesagt, daß Sie mich getroffen haben? An Bord des Schiffs haben Sie mich aber wohl nicht gesehen? Ich möchte fast darauf wetten!«

 

»Mrs. Dorban ist nach London gefahren. Möchten Sie sie gern sehen?« gab Penelope kühl zurück.

 

»Nun, ich kann auch mit Arthur verhandeln. Er ist ein verständiger junger Mann. Aber sie …!« Er blickte Penelope an, und seine ausdruckslosen Augen suchten in ihren Zügen zu lesen. »Hat sie Ihnen nichts gesagt?« Er zeigte mit dem Daumen nach dem Hause. »Reden Sie mir nur nicht vor, daß sie Sie nicht nach mir ausgefragt habe. Sonderbarer Zufall! Zeigt aber nur, wie klein die Welt ist. – Aber gehen Sie doch nicht fort!«

 

»Ich will einen der Dienstboten hinaufschicken, daß er Mr. Dorban ruft«, begann sie eben, als Arthur Dorban plötzlich in der Haustür erschien.

 

Er war vollständig angekleidet und trug ein Gewehr unter dem Arm. Penelope machte sich keine Gedanken darüber, daß er bewaffnet war, denn viele Kaninchen trieben im Garten ihr Unwesen, und manchmal brachte er den ganzen Vormittag damit zu, sie zu jagen. Aber Mr. Whiplow schien anderer Meinung darüber zu sein – für ihn hatte die Waffe eine besondere Bedeutung. In seinem Gesicht zeigten sich Angst und Entsetzen, und er suchte schnell Deckung hinter Penelope. Aufgeregt sprach er über ihre Schulter.

 

»Machen Sie doch keine solchen Geschichten, Arthur! Legen Sie sofort das Gewehr weg!«

 

Mr. Dorban lachte, so daß man seine weißen Zähne sehen konnte. Mit einem Griff hatte er die Waffe geöffnet und zeigte sie ihm.

 

»Ist nicht geladen! Gehen Sie von der Dame fort, Sie beunruhigen sie!«

 

Er stellte die Flinte an die Mauer und ging auf ihn zu. Whiplows Augen folgten jeder seiner Bewegungen.

 

»Sie sind auf demselben Schiff wie meine Frau herübergekommen. Wo waren Sie?«

 

»Auf dem Land. Ich wollte eigentlich nicht kommen, Slic – Arthur, wollte ich sagen –, aber Amerika war mir über.«

 

»Sie hätten schreiben sollen. Wir hätten das beste Fremdenzimmer für Sie in Ordnung gebracht und die Dorfkapelle bestellt, Sie am Bahnhof zu empfangen.«

 

Hinter Slicos höflicher Ironie lag eine geheime Drohung.

 

»Sie kennen Miss Pitt ja schon – in Toronto wollten Sie Eindruck auf sie machen. Sie sind doch ein richtiger Mädchenjäger!«

 

Whiplow war verlegen und antwortete nicht.

 

»Sie werden uns entschuldigen?« wandte sich Arthur mit hochgezogenen Augenbrauen an Penelope.

 

Sie nickte langsam, denn sie fühlte, daß sie hier überflüssig war. Als die beiden ins Haus gegangen waren, setzte sie sich wieder auf ihre Bank und dachte über alles nach. »Wenn Whiplow nicht schweigt …« Sie erinnerte sich wieder an die Worte, die Mrs. Dorban damals im Schlaf gesprochen hatte. Worüber sollte er schweigen? Hatte Arthur Dorban irgendein Verbrechen zu verheimlichen? Das war doch unwahrscheinlich. Er war wohlbekannt in dem Dorf, und die Polizeibeamten, die auf ihren Patrouillen hier vorbeikamen, unterhielten sich oft lange mit ihm. Er machte nicht den geringsten Versuch, sich zu verbergen.

 

Sie ärgerte sich über ihre Verdächtigungen. Der Besuch Mr. Whiplows würde sich wahrscheinlich sehr einfach erklären lassen. Alle Menschen hatten irgend etwas zu verbergen – es mußten ja nicht notwendigerweise immer Verbrechen sein. Wie leicht kam man in unangenehme Situationen, die man nicht gern der Öffentlichkeit preisgeben wollte! Irgendwie war ihr klar, daß El Slicos schlechter Ruf nichts mit Mr. Whiplows Schweigen zu tun hatte. Es mußte sich um etwas anderes handeln.

 

Seufzend erhob sie sich. Draußen auf dem Meer sah sie die Umrisse eines dunklen Schiffes, das in weiter Ferne vorüberzufahren schien. Plötzlich hörte sie ein Geräusch und wandte sich um. Der Gärtner, der einzige Engländer unter den Angestellten, stand vor ihr.

 

»Morgen, mein Fräulein. Na, schauen Sie nach der ›Polyantha‹ aus?«

 

»Meinen Sie das Schiff dort? Kennen Sie es?«

 

»Ja, es lag gestern in der Tor-Bay, dort habe ich es gesehen. Es gehört einem Franzosen, heißt es. In der Nähe von Dartmoor hat es Vorräte an Bord genommen.«

 

»Ist es ein Passagierschiff?«

 

Der Gärtner grinste. »Es ist eine Jacht.«

 

»Was, eine Jacht? Dafür ist es aber sehr groß.«

 

Der Gärtner wollte nicht zugeben, daß ein fremdes Schiff größer und besser sein könne als ein englisches, und erzählte, daß es noch viel größere Jachten gebe.

 

Penelope entfernte sich von dem geschwätzigen Mann und überließ ihn seiner Tätigkeit.

 

Arthur war mit seinem Besuch in das Wohnzimmer gegangen. Sie konnte seine Stimme deutlich hören. Da sie nichts Besseres zu tun wußte, ging sie in das Arbeitszimmer. Später sah sie die beiden Männer an den Fenstern vorbeigehen. Arthur entdeckte sie sofort an ihrem Tisch und führte seinen Begleiter außer Sicht und Hörweite.

 

»Whiplow«, sagte er nun schon zum drittenmal, »Sie sind der erste Mensch, der mich hereingelegt hat.«

 

»Das haben Sie mir vorher auch schon erzählt«, brummte Whiplow. »Was meinen Sie eigentlich damit, daß ich Sie hintergangen haben soll, Arthur? Ich kann es in Amerika einfach nicht mehr aushalten. Es ist zu langweilig für einen Mann wie mich, der an ein lustiges Leben gewöhnt ist. Mein Gott, Sie haben keine Ahnung, wie entsetzlich langweilig die Menschen drüben sind. Wenn Sie in einer Pension beim Frühstück etwas über Butter sagen, dann sind gleich mindestens drei Leute am Tisch, die einem den ganzen Morgen einen Vortrag über Butter halten. Das geht mir auf die Nerven!«

 

»Das scheint mir aber keine genügende Entschuldigung dafür zu sein, daß Sie Ihr feierliches Versprechen einfach brechen«, fuhr ihn Mr. Dorban an, und in seinen brauen Augen blitzte es unheimlich auf. »Sie Lauscher, Sie verdammter, vergnügungssüchtiger Dieb! Sie sind nur zurückgekommen, weil Sie in Mexiko Ihr ganzes Geld verspielt haben! Und Sie sollten doch mindestens zwei Jahre damit auskommen. Jetzt wollen Sie erneut Geld aus mir herauspressen. Aber ich habe nichts übrig, Whip. Ich werde Ihnen genug geben, daß Sie bescheiden leben können; Sie werden wöchentlich eine bestimmte Summe erhalten. Wenn Sie irgendwie unangenehm werden wollen und mir mit Anzeige drohen, werde ich Ihnen den Mund schon stopfen. Haben Sie mich verstanden?«

 

Mr. Whiplow war unruhig. »Ich muß doch auch leben können, nicht wahr, Arthur?«

 

»Ich hoffe, daß Sie leben können«, erwiderte Arthur Dorban bedeutsam. Mr. Whiplow wurde bleich.

 

»Wir wollen die Sache in aller Ruhe besprechen«, fuhr Dorban fort. »Ich muß das Mädchen nach London schicken. Gehen Sie ins Dorf und geben Sie ein Telegramm an Cynthia auf.«

 

Um elf Uhr kam die Rückantwort von Mrs. Dorban: »Sendet Penelope mit Mittagszug zur Stadt. Werde sie am Bahnhof; Paddington abholen.«

 

Penelope war glücklich, fortfahren zu können, und sie verfehlte Cynthia mit voller Absicht.

 

Kapitel 5

 

5

 

Mr. James Xenocrates Orford gab ohne weiteres zu, daß es heiß war. Bisher hatte er nur immer verächtlich gesagt: »Wie, das soll heiß sein? Da sollten Sie erst mal nach New York kommen – da muß man in allen Büros Ventilatoren laufen lassen, um überhaupt leben zu können zu dieser Zeit! Zu Hause sagen wir erst, es ist heiß, wenn das Quecksilber oben zur Röhre herauskommt und die Bäume hochklettert. In New York kann es heiß werden, ja. Das ist etwas ganz anderes, aber schließlich gewöhnt man sich auch daran. Aber hier heiß? In London ist es noch gar nicht wieder heiß gewesen seit dem großen Feuer – und es ist schon sechshundert Jahre her, daß die ganze Stadt abbrannte!«

 

Und doch durfte man ruhig glauben, daß ihm die Hitze sehr zusetzte. Er war über einen Meter achtzig groß, aber in einiger Entfernung sah er kleiner aus, was auf seinen ungeheuren Umfang zurückzuführen war. Sein Gesicht war groß und rot, und im Laufe der Jahre hatten sich viele Falten darin gebildet. Seine klugen, blauen Augen schauten aus diesen Fettpolstern vergnügt und lustig lächelnd hervor. Er hatte ein Doppelkinn. Trotz seiner fünfundfünfzig Jahre hatte sich noch kein Grau in seine dichten schwarzen Haare gemischt. Er war geschmackvoll und sorgfältig gekleidet, trug stets einen tadellos sitzenden Anzug und einen hohen steifen Kragen, dazu eine breite schwarze Krawatte, in der eine große, kostbare Perlennadel glänzte. Er trug niemals eine Weste oder Hosenträger, sondern nur einen schwarzen Ledergürtel mit einer hübschen goldenen Schnalle.

 

Mr. Orfords Büros lagen im vierten Stock eines Gebäudes, das an den Hyde Park grenzte, und von dort aus schaute er vergnügt auf die Welt hinunter, auf die knospenden Bäume, den grünen Rasen, die vielen Blüten der Rhododendren. Wenn er manchmal noch spät arbeitete, drangen die Töne der Kapelle zu ihm herüber, die im Park konzertierte, vor allem die tiefen Klänge des Bombardons. Dann zog er zuweilen seinen Stuhl ans offene Fenster, legte die Hände auf den Gürtel und schaute hinaus, bis die Schatten tiefer und länger wurden, die Laternen aufflammten und die Autos wie große Leuchtkäfer auf den Parkstraßen umherschwirrten.

 

Auf dem Schild am Hauseingang stand nur sein Name: James Orford. Die Art seiner Tätigkeit war nicht näher bezeichnet. Trotzdem beschäftigte er einen verhältnismäßig großen Stab von Angestellten, Sekretären, Stenotypistinnen und Agenten innerhalb und außerhalb seines teuren Büros.

 

Die Inhaber der anderen Geschäftsräume in dem Hause, deren Beruf aber genau bekannt war, nannten ihn nur den ›dicken Amerikaner‹ Sie hatten ihn gern, denn er war lustig und liebenswürdig. Niemand drang näher in seine Verhältnisse ein, und da er Amerikaner war, zeigte man sich etwas zurückhaltender als sonst.

 

Mr. Orford hatte sich in England das Teetrinken angewöhnt.

 

»Setzen Sie das Tablett nur dorthin«, sagte er und zeigte mit seinem dicken Finger auf einen kleinen Tisch in der Nähe des Fensters.

 

Eine seiner Stenotypistinnen hatte ihm Tee gebracht. Aber nicht Tee, wie man ihn in England trinkt, sondern jenes starke Getränk, das heiß auf große Eisstücke gegossen und in Gläsern serviert wird.

 

Keiner von seinen sieben Angestellten hatte übrigens die geringste Ahnung, womit sich Mr. Orford eigentlich beschäftigte. Man wußte nur, daß er sich gern als ›Organisator‹ bezeichnete. Aber ganz gewiß gehörte er nicht zu jenen Leuten, die einem den Gebrauch von Kartotheken, Patentschnellheftern und dergleichen Kram beibringen oder die sich engagieren lassen, um einen Betrieb zu ›rationalisieren‹, und die dann das ganze Büro rebellisch machen.

 

Zuerst dachten alle, sein Geschäft hinge irgendwie mit Schiffen zusammen. In einem großen Zimmer stand nämlich ein gewaltiger Tisch, auf dem eine Weltkarte ausgebreitet war. Hier wurden jeden Tag kleine Schiffsmodelle hin und hergeschoben. Ein Angestellter, der von Mr. Orford besonders geschult wurde, war für die Ordnung auf dem Tisch verantwortlich. Tausende kleiner Schiffe bevölkerten diese Miniaturwelt. Sie fuhren nach allen Himmelsrichtungen, nach Norden, Süden, Osten, Westen. Jede Nachricht über die Position der Schiffe wurde zweimal am Tage in Mr. Orfords Büro bekanntgegeben, und mindestens einmal am Tage erschien James selbst in dem Raum und überschaute die Situation.

 

»Was hat denn die ›Nippon Muru‹ dort zu tun, Stanger, wie? Sie ist doch näher an Yokohama als an Shanghai. Und dieses Schiff der Cunard-Linie ist ja vollständig außer Kurs, der legt doch nicht an den Azoren an! Den haben Sie wieder einmal mit einem Schiff der Union-Castle-Linie verwechselt!«

 

Er schimpfte heftig, aber er schaute doch ganz liebenswürdig drein.

 

Ein junges Mädchen mußte alle Eisenbahnverbindungen in Europa kennen. Sie wurde auch täglich von ihm getestet.

 

»Jemand fährt nach Como, Basel, Genua, Belgrad, Wien. Er will auf der Ausreise einen Geschäftsfreund in Valorbe eine Stunde lang sprechen, einen anderen in Luzern. Hat er dazu Zeit, ohne seinen Anschluß zu versäumen, wie? Sie meinen, er hat Zeit dazu? Da irren Sie sich aber sehr. Der Aufenthalt in Luzern verdirbt ihm die ganze Reise. Sie müssen sich besser informieren, Miss Jay. Sie bilden sich natürlich ein, er könnte eine Stunde dadurch sparen, daß er die Bahnverbindung über den Gotthardtunnel benützt – das ist ganz verkehrt, sehen Sie nur im Kursbuch nach.«

 

In seinem Kartenzimmer hingen große Landkarten von Europa, auf denen alle Verkehrswege, Flughäfen, Tankstationen für Schiffe und Kohlendepots eingezeichnet waren. Er konnte aufs Pfund genau angeben, wieviel Gefrierfleisch ein Kapitän zu irgendeiner Zeit in Vigo, Triest, Dakar, Kapstadt oder Colombo kaufen konnte.

 

Er selbst kaufte jedoch weder Fleisch, noch verkaufte er Schiffe. Er handelte auch nicht mit Eisenbahnaktien. Anscheinend organisierte er nichts weiter als die Arbeiten in seinem Büro und sein eigenes, angenehmes Leben.

 

Während er tief in Gedanken vor seinem Schreibtisch saß, brachte ein Angestellter eine Karte herein. Es war keine Visitenkarte, sondern eines jener kleinen Formulare, die Mr. Orford im Wartezimmer für Leute auflegte, die ihn sprechen wollten.

 

Er setze seine schwarzumrandete Brille auf und sah wohlwollend auf den Namen.

 

»Miss Penelope Pitt«, las er. Unten, wo der Besucher eigentlich den Zweck seines Kommens angeben sollte, standen die Worte: ›Auf Empfehlung des Richters Heron in Edmonton.‹

 

»Führen Sie die Dame herein«, sagte er sofort.

 

Penelope trat ein. Sie war ein wenig nervös und unentschlossen, aber ihre Aufregung und ihre Unsicherheit verwandelten sich zu einem großen Erstaunen, als sie Mr. Orford sah.

 

»Nehmen Sie bitte Platz. Sie kommen aus Edmonton? Einen Brief? Lassen Sie mich einmal sehen.« Er nahm das Schreiben aus ihrer Hand, las es schnell durch, legte es dann sorgfältig beiseite und betrachtete sie liebenswürdig.

 

»Nun, was kann ich für Sie tun, Miss Pitt?«

 

Penelope fiel es schwer, ihre Geschichte zu erzählen. Sie erwähnte keinen Namen und sagte nicht einmal, wo sie augenblicklich wohnte.

 

»Ich fühle mich eigentlich wie eine Gefangene«, erklärte sie ihm. »Und ich habe augenblicklich den unangenehmen Eindruck, daß ich einem meiner Gefängniswärter entsprungen bin. Die Dame erwartete mich am Bahnhof, aber ich bin ihr glücklich entwischt.«

 

Mr. Orford faltete die Hände und zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann, Miss Pitt. Sie kommen auch gerade zu einer sehr ungünstigen Zeit, denn ich fahre Sonnabend nach New York. Und dieser Mr. John – ich weiß wohl, daß er nicht so heißt – benimmt sich gerade so wie ein Chef in New York. Die Menschen sind eigentlich überall dieselben.«

 

»Was raten Sie mir, Mr. Orford? Was soll ich tun?«

 

»Ich würde ihn einfach beim Wort nehmen, Miss Pitt, und mir meine Reise nach Kanada auszahlen lassen. Ich liebe diese offenherzigen Menschen nicht. Hat er denn irgendeine Stellung im öffentlichen Leben?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Seine Frau wohnt bei ihm? Das macht die Sache leichter. Für einen alten Freund tue ich natürlich alles, und einer jungen Dame aus Kanada helfe ich besonders gern. Sie glauben wohl kaum, daß ich auch aus diesem Lande stamme. Möglicherweise will dieser Mensch Sie nur bluffen, und wenn er Ihnen das Geld zur Rückreise nach Montreal oder Toronto nicht gibt, dann kommen Sie nur ruhig wieder hierher. Mein Sekretär wird Ihnen, ohne daß Sie sich weiter zu bemühen brauchen, eine Fahrkarte besorgen. Sie brauchen mir nicht zu danken, das ist nicht nötig.« Er machte eine abwehrende Geste. »Wenn ich nicht gerade von einer sehr wichtigen Sache in Anspruch genommen wäre, würde ich Ihnen mehr helfen können, aber augenblicklich kann ich mir selbst nicht helfen vor Arbeit. Ich fürchte, daß ich nicht einmal alles erledigen kann, bevor ich mit der ›Olympic‹ von Southampton abfahre.«

 

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie etwas für mich tun wollen, Mr. Orford«, entgegnete Penelope froh. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich werde gern wiederkommen und Sie aufsuchen –«

 

»Sie meinen meinen Bürovorsteher«, murmelte Mr. Orford. »Wenn Sie mir den Namen Ihres Chefs und Ihre Adresse geben, bin ich eher in der Lage, etwas zu unternehmen. Aber ich sehe, Sie wollen das nicht tun. Vielleicht haben Sie recht. Manche Menschen brauchen ja keine Hilfe, um aus ihren Schwierigkeiten herauszukommen, und ich glaube, Sie gehören zu denen, die sich selbst helfen können.«

 

Er gab ihr liebenswürdig die Hand. Aber als sie gegangen war, dachte er nicht mehr an sie, denn er war tatsächlich dabei, einen großen Plan durchzuführen, der seine ganze Zeit und alle seine Gedanken in Anspruch nahm. Denn der geringste Irrtum in der Beurteilung der Lage, der kleinste Fehler in der Berechnung der Zeit bedeuteten Leben oder Tod für einen Menschen, an dessen Schicksal er außerordentlich interessiert war.

 

Kapitel 6

 

6

 

»Aber meine liebe Penelope, Sie haben mich furchtbar erschreckt! Wo waren Sie denn nur?« empfing Cynthia ihre Sekretärin, als sie in das Hotel kam. »Ich dachte schon, Sie seien verlorengegangen. Ich habe auch schon in Borcombe angerufen.«

 

»Ich ging durch einen der Tunnel hinaus«, sagte Penelope ruhig. »Ich bin doch wirklich kein so kleines Kind, daß ich mich in London verirren könnte. Ich kannte doch Ihr Hotel.«

 

»Aber was haben Sie denn in der ganzen Zeit gemacht? Der Zug ist doch schon vor einer Stunde angekommen!«

 

Penelope fiel das Lügen schwer. Um Cynthia zu beruhigen, erzählte sie eine Geschichte, die halb wahr und halb falsch war, und erwähnte auch, daß sie durch den Hyde Park gegangen sei.

 

*

 

»Hoffentlich ist Arthurs Unterredung zufriedenstellend verlaufen«, sagte Cynthia am Abend. Als sie merkte, daß sie laut gedacht hatte, setzte sie schnell hinzu: »Arthur hatte nämlich Besuch.«

 

Penelope wußte natürlich, warum man sie fortgeschickt hatte.

 

Als sie am nächsten Morgen nach Stone House zurückkehrten, war Mr. Dorban ernst und in Gedanken versunken. Auch zu ihr war er sehr kurz, als er einige Minuten allein mit ihr im Büro war. Er machte einen sehr zerstreuten Eindruck und schien gar nicht mehr an den Vorfall im Motorboot zu denken, der sich zwischen ihnen abgespielt hatte. Er erwähnte überhaupt nichts davon, und am allerwenigsten rührte er an die Frage ihrer Rückkehr nach Kanada. Freilich hatte sich Penelope schon endgültig dafür entschieden, diesen entscheidenden Schritt im Augenblick nicht zu tun. Seine Offenherzigkeit hatte sie doch in gewisser Weise beruhigt, so daß sie sich etwas sicherer fühlte.

 

Sie sah ihn in den nächsten Tagen nur selten. Arthur Dorban hatte lange Konferenzen mit seiner Frau, und man ließ Penelope viel allein. Es war auch außergewöhnlich, daß die beiden am nächsten Nachmittag allein in dem Motorboot aufs Meer hinausfuhren. Penelope war froh darüber.

 

Sie kletterte zu den Klippen hinauf und pflückte einen Strauß wilder Blumen. Es war ein herrlicher Nachmittag, die Hitze wurde durch eine Brise von der See her gelindert, der Himmel war wolkenlos klar und dunkelblau, und die Bucht dehnte sich grünflimmernd vor ihr aus. Sogar den Möwen, die sonst vom frühen Morgen bis zum späten Abend über Stone Hause kreisten und ihre unmelodischen Schreie ertönen ließen, war es heute zu heiß.

 

Penelope hatte die Höhe erreicht und sich im Schatten eines großen Ginsterbusches niedergelassen, als sie den Duft einer Zigarre wahrnahm. Irgend jemand mußte in ihrer Nähe sein und rauchen. Sie sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Das Ufer von Borcombe lag verlassen da. Wer mochte es nur sein? Die Leute in Borcombe rauchten im allgemeinen keine Zigarren. Arthur Dorban hatte nur türkische Zigaretten im Hause, und außerdem konnte sie das Motorboot von hier aus auf dem Meer sehen und ihn an seiner weißen Wolljacke deutlich erkennen.

 

Sie stand auf. In demselben Augenblick erhob sich auf der anderen Seite des Gebüsches ein junger Mann. Sein Gesicht war rot, die blonden Haare hatte er nach hinten gebürstet.

 

»Ich bitte um Verzeihung«, begann er. »Ich fürchte, der Rauch meiner Zigarre hat Sie belästigt?«

 

Sie fand ihn wenig anziehend, denn er war etwas korpulent, aber sein gutmütiges Lächeln besänftigte sie. Er hatte auch zweifellos eine gute Erziehung genossen.

 

»Ich war neugierig, woher der Rauch kam«, erwiderte sie lächelnd. »Aber bitte, lassen Sie sich durch mich nicht stören.«

 

»Sie sind die amerikanische Dame«, sagte er schnell. »Ich dachte mir gleich, daß Sie es seien, als Sie hier heraufkamen. Es ist merkwürdig, daß ich bis heute noch nicht wußte, daß Sie in dem Hause dort wohnen.«

 

»Sind Sie ein Freund Mr. Dorbans?«

 

Das Lächeln verschwand aus seinen Zügen.

 

»Nein«, sagte er langsam. »Ich bin gerade kein Freund von Mr. Dorban – aber ich kenne ihn sehr gut. Sie wohnen doch dort?«

 

»Ich bin Mr. Dorbans Sekretärin.«

 

Er sah sie erstaunt an.

 

»Seine Sekretärin? So, das erklärt alles. Seine Dienstboten sind alle aus Frankreich«, fügte er hinzu.

 

Sie war verstimmt, und er fühlte das auch sofort.

 

»Entschuldigen Sie bitte mein unverzeihliches Betragen, aber ich interessiere mich sehr für Dorban. Mr. Whiplow ist nicht mehr da?«

 

»Mr. Whiplow?« fragte sie erstaunt.

 

»Ach, Sie werden ihn nicht getroffen haben. Sie waren ja in London. Das hatte ich im Augenblick ganz vergessen.«

 

Er sprach so naiv und jungenhaft, daß sie lächeln mußte.

 

»Mr. Whiplow ist gestern wieder abgefahren«, sagte sie. »Er blieb nur einen Tag hier.«

 

»Haben Sie nicht ein Bild von ihm? Ich habe ihn um zehn Minuten verfehlt, sonst hätte ich selbst schnell eine Aufnahme von ihm gemacht. Es ist natürlich nicht recht, daß ich all diese Fragen an Sie stelle – aber haben Sie nicht doch irgendein Foto, vielleicht ein Gruppenbild im Garten oder so etwas Ähnliches?«

 

Sie schaute ihn verwundert an.

 

»Ich kann doch hier nicht mit Ihnen über Mr. Dorbans Besucher sprechen«, erwiderte sie reserviert.

 

»Nein, natürlich nicht.« Er entschuldigte sich vielmals. »Es tut mir. leid, daß ich Sie so belästigt habe.«

 

Er wandte sich um, als ob er gehen wollte, blieb aber doch wieder stehen. Sie war gespannt, was er ihr noch mitzuteilen habe.

 

»Ich wohne im Hotel zur Krone in Torquay. Es ist wohl töricht von mir, Ihnen das vorzuschlagen, aber für den Fall … Mein Name ist Stamford –«

 

»Mills«, ergänzte sie.

 

Er sah sie verwundert an.

 

»Ja, Stamford Mills – Sie haben also von mir gehört?«

 

Sie antwortete ihm nicht.

 

Das war also der Mann, der nach Cynthias Erzählung der Todfeind Arthurs war! Er sah allerdings nicht so aus, als ob man vor ihm Angst haben müsse.

 

»Ich stehe gerade nicht sehr gut mit den Dorbans«, gab er zu. »Vermutlich hat man Sie schon vor mir gewarnt.« Er blickte auf das Meer hinaus. »Entschuldigen Sie mich«, sagte er dann plötzlich und eilte auf die andere Seite des Gebüsches.

 

Sie wunderte sich, was das alles bedeuten sollte. Aber plötzlich erschien er wieder mit einem großen Fernglas und schaute eine Minute lang auf die See hinaus. Dann ließ er mit einem Seufzer das Glas sinken.

 

»Ich hatte sie schon mit dem bloßen Auge erkannt«, sagte er dann zufrieden und zeigte auf das Wasser.

 

Penelopes Augen folgten der Richtung seines Fingers, und sie sah am Horizont einen kleinen Flecken.

 

»Hiermit können Sie besser sehen.«

 

Er reichte ihr das Fernglas. Sie stellte es ein, es dauerte aber einige Zeit, bis sie das lange schwarze Schiff mit den hohen Aufbauten erkannte. Es schien stillzustehen.

 

»Die hübsche ›Polyantha‹«, murmelte Mr. Stamford Mills.

 

Dann schlug er sich auf den Mund, als ob er eine ungeheure Indiskretion begangen habe.

 

»Ich habe dieses Schiff schon gestern gesehen«, sagte sie ruhig, während sie ihm das Glas zurückgab, »es ist eine Jacht.«

 

Er dachte einige Zeit nach, bevor er antwortete.

 

»Ja, Sie haben recht, es ist eine Jacht. Sie gehört einem guten Freund von mir, dem Herzog von Augille. Ich habe schon verschiedene Reisen auf ihr gemacht – es ist ein schönes Schiff.«

 

Er setzte seinen Hut auf, wandte sich plötzlich um und ging über die Wiesen. Sie hatte fast den Eindruck, daß dieser Mann nicht ganz richtig im Kopf war.

 

*

 

Beim Tee sagte sie noch nichts von ihrer Begegnung, aber später quälte sie ihr Gewissen, und sie erzählte doch von ihrem Erlebnis.

 

»Stamford Mills?« fragte Mr. Dorban heftig. »Was macht denn der hier? Hat er Sie irgend etwas gefragt?«

 

»Ja, er wollte allerhand von mir wissen.«

 

»Du sagtest doch, Mills sei in London«, wandte sich Arthur streng an seine Frau.

 

»Ich habe auch bestimmt gehört, daß er dort sei.«

 

»Was macht er denn hier? Hat er von irgend jemandem gesprochen?«

 

»Er fragte mich, ob Mr. Whiplow noch hier sei.«

 

Arthur wechselte einen kurzen Blick mit Cynthia.

 

»Sie haben ihm natürlich gesagt, daß kein Whiplow hier war?«

 

»Er schien überzeugt zu sein, daß Sie gestern Besuch hatten«, entgegnete Penelope.

 

Mr. Dorban quälte sie noch mit vielen Fragen. Aber je eindringlicher er wurde, desto weniger war sie geneigt, ihm Genaueres über ihre Unterhaltung mit dem Fremden zu erzählen.

 

Die ›Polyantha‹ erwähnte sie überhaupt nicht, denn es erschien ihr vollkommen nebensächlich und zufällig, daß sie diese Jacht gesehen hatte.

 

*

 

»Gehen Sie bitte hinauf und räumen Sie den Koffer oben im Abstellraum aus«, sagte Cynthia am nächsten Nachmittag zu ihr. »Das heißt, es braucht nicht gerade jetzt zu sein. Es liegen viele Sommerkleider von mir darin, die ich im vorigen Jahr getragen habe. Neulich erhielt ich eine Karte von einem Händler in Torquay, der alte Kleider aufkauft – und ich möchte sie doch lieber weggeben als von den Motten zerfressen lassen.«

 

»Ich werde es jetzt gleich tun«, entgegnete Penelope.

 

Ein paar Minuten später kam sie zurück und bat um den Schlüssel.

 

»Wie, der Koffer ist verschlossen?« fragte Cynthia überrascht. »Ich kann mich nicht erinnern, ihn abgeschlossen zu haben.« Sie zog eine Schublade ihres kleinen Sekretärs auf und nahm einen Schlüsselbund heraus. »Einer davon paßt sicherlich«, meinte sie.

 

Penelope ging wieder hinauf, fand auch einen passenden Schlüssel und öffnete das Schloß.

 

Es war ein großer, grüner Koffer. Cynthia hatte ihr am Tage nach ihrer Ankunft das ganze Haus gezeigt und dabei auch erwähnt, daß sie früher zwei gleiche Koffer besessen habe, der eine sei aber auf einer Reise verlorengegangen.

 

Das oberste Fach des Koffers war leer. Sie hob es heraus und legte es auf den Boden. Ein brauner Papierbogen bedeckte den Inhalt der unteren Abteilung. Sie entfernte auch diesen, und ihr Blick fiel auf zwei ungerahmte Radierungen. Die eine stellte den Kopf eines Heiligen dar, die andere eine Landschaft in der Manier von Corot. Mit einer Klammer war ein kleiner Zettel daran befestigt, der auf die Erde fiel, als sie die Radierungen herausnahm.

 

Es war eine Quittung: ›Ich bestätige hiermit den Empfang von siebenhundert Pfund als Zahlung für die beiden Originalradierungen St. Markus und Englische Landschaft.‹ Die Quittung war mit ›John Feltham‹ unterzeichnet und genau vor einem Jahr ausgestellt worden.

 

Sie stellte die beiden Radierungen beiseite und legte die Quittung auf das Fensterbrett. Dann kniete sie wieder nieder und entfernte eine weitere Papierlage. Starr vor Staunen, erblickte sie viele Pakete englischer Banknoten der verschiedensten Werte von fünf bis zu hundert Pfund.

 

Plötzlich hörte sie einen Ausruf hinter sich, wandte sich um und sah in das entsetzte Gesicht Cynthias.

 

»Mein Gott!« stieß die Frau heiser hervor.

 

Bevor Penelope etwas sagen konnte, hatte Cynthia sie beim Arm ergriffen und in den Gang gezogen.

 

»Gehen Sie schnell hinunter und sagen Sie –«

 

Aber es war nicht nötig, Arthur Dorban zu rufen, denn er war seiner Frau gefolgt.

 

»Du Dummkopf!« fuhr ihn Cynthia an. »Du hast den falschen Koffer versenkt!«

 

Kapitel 7

 

7

 

Nach dem schweigsam verlaufenen Abendessen ging Penelope in den Garten, um sich über die Lage klarzuwerden. Sie versuchte, hinter das Geheimnis zu kommen, das über dem Leben der Dorbans lag. Er hatte den falschen Koffer versenkt! War das der Koffer, der auf der Reise verlorengegangen sein sollte? Und warum hatte er einen Koffer mit Banknoten versenken sollen, die einen so fabelhaften Wert darstellten?

 

Sie hatten ihr nicht die geringste Erklärung gegeben – das erschien ihr als schlechtes Zeichen. Die Atmosphäre war geladen. Es drohte ihr Gefahr – sie wußte und fühlte es.

 

Cynthias schrille Stimme rief sie zurück. Sie ging langsam ins Haus, ihr Herz schlug schneller. Auf dem Wege, der am Haus entlangführte, sah sie etwas Weißes liegen. Sie bückte sich und hob es auf. Selbst in dem Zwielicht erkannte sie, daß es die Quittung war, die sie oben in dem Koffer gefunden hatte. Die Zugluft mußte sie aus dem Fenster geweht haben. Sie steckte sie in die Tasche ihrer Strickjacke, um sie Mrs. Dorban zu geben.

 

»Kommen Sie hier herein, Penelope«, sagte Cynthia hart.

 

Sie folgte der Frau in das kleine Wohnzimmer.

 

Arthur Dorban saß an einem kleinen Tisch und hatte das Kinn in seine Hand gestützt. Er schaute nicht auf, als sie eintrat, sondern sah unverwandt auf die Spitzendecke, die auf dem Tisch lag.

 

Penelope hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde, und wußte, daß sie nun gefangen war.

 

»Hier ist sie«, sagte Cynthia barsch.

 

Aber Arthur rührte sich immer noch nicht.

 

»So sag es ihr doch!« Cynthia konnte ihre Ungeduld nicht verbergen.

 

Nun schaute Mr. Dorban auf.

 

»Ich will allein mit ihr sprechen.«

 

Cynthia zuckte die schmalen Schultern.

 

»Das kann ich auch ertragen«, erwiderte sie ironisch, ging dann zwei Schritt auf ihren Mann zu und lehnte sich über den Tisch. »Du weißt, was dies zu bedeuten hat, Slico? Es gibt keine halben Maßnahmen und auch keine Kompromisse. Hast du mich verstanden? Wenn du nicht den Mut hast, ich habe ihn!«

 

Sie sah ihn noch einen Augenblick scharf und eindringlich an, dann verließ sie das Zimmer.

 

Als sie die Tür geschlossen hatte, wandte er sich an Penelope. Aber es fiel ihm schwer, zu sprechen.

 

»Neulich gab ich Ihnen eine Chance, nach Kanada zurückzukehren, und ich wünschte jetzt aufrichtig, Sie hätten von meinem Anerbieten Gebrauch gemacht. Jetzt können Sie nicht mehr nach Kanada oder sonstwohin gehen. Es gibt nur noch eine Möglichkeit für Sie, aber es ist alles andere als die, an die Cynthia denkt. Sie erinnern sich noch daran, was ich Ihnen auf dem Boot sagte?«

 

Sie nickte. Ihr Mund war trocken, und sie konnte kein Wort hervorbringen.

 

»Das ist der Ausweg, der Ihnen bleibt. Aber das bedeutet auch, daß wir irgendwie mit Cynthia fertig werden müssen.«

 

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen – was habe ich denn getan?« fragte sie heiser.

 

»Sie haben etwas gesehen, was Sie nicht hätten sehen dürfen. Wenn Sie mehr darüber wüßten, was sich in diesem Land in den letzten zwölf Monaten ereignet hat, würden Sie nicht solche Fragen stellen. Ich habe Cynthia satt, das habe ich Ihnen schon früher gesagt. Und ich muß zwischen Cynthia und Ihnen wählen. Eine von beiden muß aus dem Wege!«

 

Sie starrte ihn entsetzt an.

 

»Aus dem Wege?«

 

»Ja.« Plötzlich stand er auf und trat dicht an sie heran. Sie war vor Schrecken wie gelähmt. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und seine Hand unter ihr Kinn. »Sieh mich an«, flüsterte er, und seine Augen leuchteten auf. »Ich ginge für dich aufs Schafott, wenn du das erlösende Wort sprechen würdest! Aber du mußt mir helfen – hörst du? Ich habe mich auf dem Boot zusammengenommen, aber du weißt nicht, was es mich gekostet hat, mich damals zu beherrschen. Ich sehne mich nach dir, Penelope!«

 

Als seine heißen Lippen die ihren berührten, brach plötzlich der Bann, der über ihr gelegen hatte. Sie stieß ihn zurück, wandte sich und eilte aus dem Zimmer in den dunklen Korridor. Sie faßte eben das Treppengeländer, als etwas ihr Gesicht berührte. Sie wußte, daß es ein seidenes Tuch war, noch ehe ihre Kehle damit zugeschnürt wurde. Sie versuchte zu schreien, aber der Laut wurde erstickt.

 

Sie war noch niemals ohnmächtig geworden und wußte auch nicht, daß sie das Bewußtsein verloren hatte, bis sie im Wohnzimmer wieder zu sich kam. Ihre Hände waren eng zusammengebunden.

 

»Wenn Sie schreien, soll es Ihnen leid tun«, sagte Cynthia. Ihr Gesicht sah eingefallen und verzerrt aus, ihre Augen schienen eingesunken zu sein. Penelope erkannte sie kaum wieder.

 

Sie sah sich um und entdeckte Arthur Dorban, der mit verschränkten Armen dastand und sie düster anschaute.

 

»Stehen Sie auf«, sagte Cynthia kurz, und Penelope erhob sich schwankend.

 

Cynthia sah auf ihre Armbanduhr, nahm dann das seidene Tuch vom Tisch, drehte es zusammen und steckte es in Penelopes Mund. Das Mädchen wußte, daß es zwecklos war, Widerstand zu leisten. Sie konnte nur warten und ihre Kräfte für den Endkampf sammeln. Sie versuchte vergeblich, ihre Hände aus den Fesseln zu ziehen.

 

Mrs. Dorban mußte ihre Absicht erraten haben, denn sie lächelte verächtlich.

 

»Sie strengen sich umsonst an. Lassen Sie mich einmal sehen.« Sie schaute hinunter. »Nein, die Seide wird keine Eindrücke zurücklassen«, sagte sie erleichtert. Sie nahm Penelope am Arm und führte sie zur Haustür.

 

»Warte!« rief Arthur heiser.

 

Cynthia wandte sich zu ihm um und blickte ihn haßerfüllt an.

 

»Ich werde zurückkommen und dann mit dir sprechen, Slico«, erwiderte sie leise.

 

Sie trat mit Penelope hinaus.

 

»Wenn Sie schwierig werden wollen, mache ich kurzen Prozeß mit Ihnen. Sehen Sie einmal her!«

 

Der Mond wurde durch dunkle Wolken verhüllt, aber es war hell genug, daß sie die schimmernde kleine Pistole in Cynthias Hand sehen konnte. Sie nickte, und sie gingen zusammen den Gartenweg hinunter durch das Tor in der Mauer. Cynthia hielt das Mädchen am Arm fest. Sie stiegen die Stufen hinab und machten erst auf dem flachen Felsen dicht bei dem Bootshaus halt.

 

Cynthia öffnete die Tür, die ins Innere führte. »Steigen Sie ein!«

 

Penelope gehorchte.

 

Es schien ihr alles wie ein böser Traum, und sie glaubte, sie werde jeden Augenblick erwachen. Und doch wußte sie ganz genau, daß es schreckliche Wirklichkeit war. Sie taumelte in das Boot, Cynthia folgte ihr, beugte sich vor, um die Vertäuung zu lösen, und warf den Motor an. Langsam glitt das Boot in die offene Bucht hinaus. Cynthia saß am Steuer, Penelope zu ihren Füßen, starr vor Schrecken.

 

Der Mond trat jetzt hinter den Wolken hervor und überstrahlte alles mit seinem blaßgelben Licht. Penelope konnte entlang der Küste die Leuchttürme sehen. Nur das rhythmische Geräusch des Motors unterbrach das tiefe Schweigen, das dort herrschte.

 

Etwa zwanzig Minuten lang fuhren sie mit größter Geschwindigkeit auf das offene Meer hinaus. Dann brachte Cynthia den Motor zum Stehen, ging nach vorn und kam mit einem Tau zurück, dessen eines Ende sie um Penelopes Taille legte und festknüpfte. Dann bückte sie sich und hob die eisernen Stäbe auf, die als Ballast auf dem Boden des Bootes lagen. Sie legte zwei schwere Stücke zu Penelopes Füßen und band sie daran fest.

 

Nun wurde dem Mädchen plötzlich klar, was die Frau beabsichtigte. Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden, aber sie biß sich auf die Lippen, bis sie bluteten. Sie mußte noch immer träumen, denn das konnte doch nicht wahr sein. Kein Mensch brachte es über sich, ein so teuflisches Verbrechen auszuführen. Und doch kam ihr zum Bewußtsein, daß Jahr für Jahr solche schreckliche Verbrechen begangen wurden. Aber das hier konnte einfach nicht wahr sein; die Gedanken versagten ihr – sie mußte aus diesem Traum erwachen!

 

»Ich werde Sie jetzt über Bord werfen. Wenn Sie ertrunken sind, ziehe ich Sie wieder heraus und nehme die Gewichte von Ihren Füßen.«

 

Penelope schrie auf vor Verzweiflung, aber der seidene Knebel erstickte ihre Stimme. Cynthia packte sie mit scharfem Griff und riß sie hoch. Einen Augenblick standen die beiden, Verbrecherin und ihr Opfer, nebeneinander. Penelope nahm ihre ganzen Kräfte zusammen und warf sich mit voller Gewalt gegen ihre Mörderin. Cynthia taumelte, griff mit der Hand in die Luft, schrie auf und fiel ins Wasser. Gleich darauf erschien ihr Kopf wieder auf der Wasserfläche, und sie streckte die Hände aus, um sich am Boot festzuhalten.

 

Penelope versuchte, sich nach vorne zu bewegen, aber die Eisen hinderten sie daran. Sie packte das Tau mit ihren geschwollenen Händen und zog sich mit aller Kraft daran weiter. Jetzt war sie in Reichweite des Schalthebels. Sie hörte das leise Geräusch des Motors. Mit größter Anstrengung drückte sie auf den Hebel und warf ihn herum – die Kielwelle sprang auf, und das Boot machte wieder Fahrt.

 

Sie schaute zurück – Cynthia schwamm jetzt. Sie erinnerte sich daran, daß Arthur ihr erzählt hatte, daß seine Frau wie ein Fisch schwimmen könne. Sie zog nun mit den Händen das seidene Tuch weg, das ihren Mund bedeckte, und atmete erleichtert in der kühlen Nachtluft auf. Sie zitterte an allen Gliedern, und ihr Kopf schmerzte. Zuerst mußte sie nun die schrecklichen Eisen von den Füßen entfernen. Sie setzte sich nieder und löste die Knoten mit den Fingern. Schließlich gelang es ihr, sich von den Gewichten zu befreien, aber ihre Hände waren noch gefesselt. Sie ließ den Motor mit voller Geschwindigkeit laufen. In einem der Fächer unter den Sitzen befand sich ein kleiner Kasten mit Geschirr, Bestecken und Tischzeug. Sie riß das Fach auf und fand ein Messer. Dann setzte sie sich auf den Boden, hielt das Messer mit den Füßen fest und sägte so den seidenen Strick durch.

 

Als sie zum Steuer zurückging, war ihr erster Gedanke, die gräßlichen Eisen über Bord zu werfen, und sie fühlte sich erleichtert, als sie im Wasser versanken. Cynthia konnte sie nicht mehr sehen, als sie nach der Küste zurückblickte.

 

Wohin kam sie? Aber sie fuhr in das offene Meer hinaus, ohne an Gefahr zu denken. Die große Gefahr lag ja nun hinter ihr. Sie wollte nur fort, weit fort!

 

Vielleicht konnte sie um Portland Hill herumfahren. Weymouth lag dort an der Küste, weit von Borcombe entfernt. Dieser Gedanke tröstete sie.

 

Sie hatte ihre Gedanken wieder gesammelt und durchsuchte nun das Boot nach Vorräten. Sie fand; daß genügend Benzin im Tank war, um einen ganzen Tag lang fahren zu können. Nahrungsmittel waren freilich nicht zu entdecken. Aber sie war ja so nahe am Lande, daß sie sich darüber keine Sorgen machte. Sie vermutete, daß es etwa elf Uhr war. Bei Tagesanbruch konnte sie in Weymouth eintreffen. Bis Mitternacht fühlte sie sich gar nicht müde, aber dann kam die Reaktion in Gestalt einer überwältigenden Erschöpfung, und sie konnte kaum noch die Augen aufhalten. Aber plötzlich wurde sie wieder ganz wach, als sie sah, daß sie sich in einer dichten Nebelbank befand.

 

Wieder durchsuchte sie das Boot, diesmal nach einem Kompaß, aber es war keiner vorhanden. Das beste wäre gewesen, wenn sie gestoppt und Anker geworfen hätte, bis der Nebel sich verzogen hatte. Bevor sie in den Nebel eintauchte, hatte sie jedoch gerade noch gesehen, daß sie etwa auf der Höhe des Leuchtturms von Portland war. Da schien es ihr ziemlich einfach, an der Küste entlangzufahren; sie brauchte ja nur auf die Brandung zu lauschen. Sie brachte den Motor auf halbe Geschwindigkeit und fuhr weiter.

 

Als sie aus der Nebelbank herauskam, war aber kein Land mehr zu sehen. Am östlichen Himmel dämmerte es schon. Direkt rechts vor sich sah sie ein großes Schiff, das anscheinend auch aus einer der Nebelbänke herausgekommen war, die die Schiffahrt im Kanal im Sommer so stark behindern. Ihr Herz schlug schneller, denn sie fühlte, daß sie auf diesem Schiff in Sicherheit sein würde. Sie erhob sich und rief aus vollen Kräften.

 

Sie hörte eine Stimme auf der Kommandobrücke und wurde dann von einem Scheinwerfer geblendet, der das kleine Motorboot mit seinen grellen weißen Strahlen überflutete.

 

»Kommen Sie hinterschiffs an das Fallreep heran!« wurde ihr durch ein Sprachrohr zugerufen.

 

Sie brachte den Motor auf volle Fahrt und hielt auf das Schiff zu. Einige Minuten später legte sie neben einem schnell heruntergelassenen Fallreep an, und ein Matrose zog sie auf die kleine Plattform am Fuß der Treppe.

 

»Bringen Sie die Frau an Bord, aber stoßen Sie das Boot wieder in See!« wurde von oben heruntergerufen.

 

Penelope war halb ohnmächtig, als sie sah, daß der Matrose das Motorboot mit einem Fußtritt wieder ins Meer hinausdirigierte. Ihre Knie zitterten, als sie an Deck geführt wurde. Im Schein einer Lampe stand ein Mann vor ihr. Er war ungewöhnlich groß und trug einen dunkelvioletten Pyjama.

 

»Was ist denn los?« rief er.

 

Plötzlich erkannte Penelope ihn wieder.

 

»Ach, Mr. Orford«, rief sie und fiel schluchzend an seine Brust.

 

»Unglaublich!« murrte James Xenocrates Orford. »Zum Donnerwetter, was haben Sie denn auf meinem schönen Schiff zu suchen?«

 

Kapitel 8

 

8

 

Als Penelope am nächsten Morgen erwachte, lag sie in einer großen, luftigen, schön eingerichteten Kabine. Die Vorhänge waren aus schwerer blauer Seide, und das Bett, auf dem sie ruhte, schien aus Silber zu sein. Auf dem Fußboden lag ein herrlicher blauer Teppich, und der ganze Raum war mit Rosenholz getäfelt. Sie sah einen hübschen, eingelegten Schreibtisch, auf dem eine silberne Leselampe stand, und einen bequemen Armsessel, von dem aus die prachtvollen Lederbände auf dem Bücherbrett leicht zu erreichen waren.

 

Penelope konnte sich nicht darauf besinnen, wie sie ins Bett gekommen war. Sie war noch vollständig angekleidet, aber jemand mußte den Bund ihres Rockes gelockert und ihr die Schuhe ausgezogen haben. Es war so schön, hier zu liegen, dem monotonen Geräusch der Schiffsschrauben zu lauschen und sich leise schaukeln zu lassen, daß sie gar nicht das Bedürfnis empfand, aufzustehen. Sie war also an Bord eines großen Schiffes und wollte eigentlich nicht mehr daran denken, wie sie hierhergekommen war. Aber sie rief sich doch noch einmal furchtlos alle Vorgänge der letzten Nacht ins Gedächtnis zurück. Sie überlegte gerade, wie spät es wohl sein mochte, als über ihr die Glocke anschlug.

 

Es war ein Schlag – ihrer Schätzung nach mußte es halb neun sein.

 

Sie machte noch immer keine Anstrengung, sich zu bewegen, sie zog nicht einmal die seidene Steppdecke beiseite, die über ihr lag, Plötzlich klopfte draußen jemand an die Tür.

 

»Herein«, sagte sie und war erstaunt, wie schwach ihre Stimme klang. Sie erwartete, die Stewardeß zu sehen, aber statt dessen trat ein Matrose in einer blauen Jacke herein, ein großer, schlanker Seemann mit dunkelbraunem Gesicht. Er sah auffallend gut aus, nur sein Benehmen erschien Penelope nicht ganz einwandfrei, denn er nahm seine runde Mütze nicht ab.

 

»Ich bringe Ihnen eine Tasse Tee. Ich weiß allerdings nicht, ob Sie Zucker nehmen. Am besten hätte ich Ihnen natürlich ein Tablett mit allen Zutaten gebracht, aber es ist mir erst eingefallen, als ich schon vor der Tür stand.«

 

Er stellte die Tasse sorgfältig auf den Tisch neben ihrem Bett.

 

Sie hatte noch nie Matrosen gesehen, die sich so gut und vornehm ausdrückten. Seine Hände waren rauh und hart, sein Anzug ein wenig abgenützt, aber er sprach und hielt sich wie ein Gentleman.

 

»Ich danke Ihnen sehr«, sagte sie und stützte sich auf ihren Ellenbogen. »Würden Sie wohl die Stewardeß bitten, einmal zu mir zu kommen?«

 

»Ich bin hier die Stewardeß«, erwiderte er ernst.

 

Trotz ihrer Kopfschmerzen mußte sie lachen.

 

»Wer hat mich denn gestern abend hierhergebracht?«

 

»Das war auch ich. Sie waren so schnell eingeschlafen, daß es unmöglich war, Sie aufzuwecken. Ich habe mir erlaubt, Sie zur Ruhe zu bringen. Wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen jetzt das Bad bereiten.«

 

Er verschwand durch eine Tür, die sie bis jetzt noch nicht bemerkt hatte. Sie hörte, wie das Wässer einlief. Nach einer Weile kam er wieder zurück.

 

»Ich habe Ihre Schuhe geputzt. Es gibt an Bord alles, was Sie nur wünschen können, nur haben wir keine anderen Kleider für Sie. Wir hoffen aber, auch diese Frage später noch zu Ihrer Zufriedenheit lösen zu können.«

 

»Wo bin ich denn eigentlich?«

 

»Sie sind an Bord der Jacht ›Polyantha‹.«

 

»›Polyantha‹!« Das war doch das Schiff, das Mr. Stamford Mills gesehen hatte! Sie erinnerte sich plötzlich daran – welch ein merkwürdiger Zufall!

 

»Wenn Sie mir Nähnadel und Zwirn besorgen wollen, werde ich versuchen, mein Kleid selbst wieder in Ordnung zu bringen. Ich muß doch ein wenig repräsentabel aussehen, wenn wir in den Hafen einlaufen.«

 

»Wir legen in keinem Hafen an. Es ist wohl notwendig, daß Sie das erfahren. Wir befinden uns auf einer sehr langen Reise.«

 

Sie sah ihn verwundert an.

 

»Aber Sie können mich doch an der Küste absetzen?«

 

»Ich fürchte, daß wir nicht einmal das können«, sagte er in seiner nüchternen Art.

 

»Aber ich kann doch nicht auf eine weite Reise gehen, ohne darauf vorbereitet zu sein, und außerdem –«

 

»Sie können an Ihre Freunde ein Telegramm senden, daß Sie in Sicherheit sind.«

 

Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie keine Freunde hatte, die auf Nachrichten von ihr warteten.

 

»Habe ich geträumt, oder war es wirklich Mr. Orford, den ich gestern abend hier an Bord sah?«

 

»Sie haben recht, es war Mr. Orford.«

 

»Geht er denn auf diesem Schiff nach Amerika?« fragte sie erleichtert.

 

»Nein, er geht überhaupt nicht nach Amerika. In diesem Augenblick geht er zum Frühstück.«

 

Mit einer kleinen Verbeugung wandte er sich um und verließ die Kabine. Er schaute aber noch einmal kurz hinein.

 

»Sie können die Tür zuriegeln – merkwürdigerweise ist auch das Kabinenschloß in Ordnung. In der Regel ist es nämlich nicht ganz intakt. Den Schlüssel finden Sie in der obersten rechten Schublade des Schreibtisches.«

 

Ein merkwürdiger junger Mann, dachte Penelope, als sie sich an dem warmen Bad erfreute. Als sie später die Kabinentür öffnete, standen ihre Schuhe draußen. Ihre Kabine führte auf das Oberdeck. Es wehte eine steife Brise, und damit ihre leichten Schuhe nicht über Bord geweht wurden, hatte die ›Stewardeß‹ eine eiserne Stange darüber gelegt. Bei diesem Anblick überlief sie ein Schauer.

 

Zehn Minuten später trat sie auf das Deck hinaus.

 

»Guten Morgen, Miss Pitt.«

 

Sie wandte sich um.

 

Ein etwas starker junger Mann weidete sich an ihrem Erstaunen.

 

»Mr. Stamford Mills!« rief sie überrascht.

 

»Ja, das bin ich. Ich hatte das Vergnügen, Sie schon gestern nachmittag kennenzulernen.«

 

»Aber – wie kommt es denn, daß Sie auch hier sind?« fragte Penelope verwundert.

 

»Darf ich Ihnen unseren Arzt, Dr. Fraser, vorstellen?«

 

Der Schiffsarzt war ein schweigsamer Schotte, der Penelope mißtrauisch betrachtete. Sie fühlte, daß er ihre Anwesenheit auf dem Schiff als etwas Ungehöriges ansah, und sie fragte, ob noch andere Damen an Bord seien.

 

»Nein, leider nicht«, erwiderte Mr. Robert Stamford Mills. »Und wie Sie hierhergekommen sind, ist mir ein Rätsel. Ich hörte erst heute morgen davon, als ich aufwachte. Man sagte mir, daß Sie in einem kleinen Motorboot aufgefischt worden seien. Was hatten Sie denn mitten in der Nacht auf hoher See zu tun?«

 

»Man wollte mich ermorden«, sagte Penelope ruhig.

 

»Ermorden?« fragte er schnell. »Wie meinen Sie denn das?«

 

»Wenn ich es Ihnen erzählte, würden Sie denken, ich hätte den Verstand verloren. Dergleichen passiert nur in schrecklichen Träumen oder verrückten Büchern. Ich will niemandem etwas davon sagen, bis ich wieder an Land bin, auch dann –«

 

»Aber Sie müssen es mir sagen! Oder noch besser Mr. Orford«, sagte er, als er sah, daß sie sich verletzt fühlte.

 

»Kennen Sie denn Mr. Orford?« fragte sie erstaunt. »Warum ist er eigentlich an Bord? Ich dachte, er wollte nach Amerika reisen?«

 

»War es Cynthia oder Arthur, der den Mordanschlag auf Sie verübte?« fragte Bobby Mills hartnäckig. »Und warum ist das geschehen? Hatten Sie irgend etwas über die Leute herausgefunden? Oder –«

 

»Oder?« fragte sie herausfordernd.

 

Er sah sie nachdenklich an.

 

»Cynthia Dorban ist eine sehr eifersüchtige Frau, die vor nichts zurückschreckt und kein Mitleid kennt. Ihr erster Mann starb unter sehr merkwürdigen Umständen. Meiner Meinung nach –«

 

Er hielt plötzlich inne.

 

»Da kommt Mr. Orford«, unterbrach sie ihn, und Bobby ging dem liebenswürdigen, älteren Herrn entgegen. Gleich darauf traten sie zu ihr an die Reling.

 

»Nun, ich muß schon sagen, daß ich nicht auf Sie gerechnet hatte«, begrüßte sie Mr. Orford. »Wissen Sie, was Sie für uns bedeuten, mein Fräulein? Ein wenig Sand in der sonst so gut laufenden Maschine meiner Organisation. Sie sind das fünfte Rad am Wagen und die neunte Dimension. Sie gehören nicht hierher. Sie sind wie ein Stück Papier, das in kein besonderes Fach gehört und das man immer von einer Stelle zur anderen schiebt. Aber irgend etwas müssen wir ja nun mit Ihnen anfangen.«

 

»Bin ich Ihnen denn so sehr im Wege?« fragte sie schuldbewußt.

 

Mr. Orford nahm seine Mütze ab und fuhr erregt mit der Hand durch das Haar.

 

»Es ist möglich, daß Sie unsere ganzen Pläne stören. Im Augenblick hindern Sie uns ebensowenig wie eine schöne Rose, die in den Wüsten Arabiens blüht. Sie kommen mir vor wie jemand, der mit einem roten Hut bei einer Beerdigung erscheint. Außerdem sind Sie sehr verdächtig, und deswegen sorge ich mich.«

 

»Können Sie mich denn nicht irgendwo an der Küste absetzen?«

 

»Nein, das ist unmöglich«, sagte er entschieden. »Wir kommen an keine Küste, wo wir Sie absetzen könnten. Sie sind eben jetzt dazu verdammt, auf den westlichen Meeren umherzufahren. Vielleicht ist es von der Vorsehung so eingerichtet, daß Sie an Bord kommen sollten, und vielleicht machen Sie diese Reise erst glaubwürdig. Aber wir haben keine Kleider für Sie, keinen Puder und keinen Lippenstift und was sonst junge Damen alles zum Leben brauchen. Sie sind in einer absolut männlichen Umgebung, und solange wir nicht in die südlichen Teile des Stillen Ozeans kommen, wüßte ich nicht, was wir für Sie tun könnten.« Er sah Mills an und kniff die Augen zusammen. »Sie können höchstens mit ihm zurückfahren, aber auch die Aussicht ist gering.«

 

Penelope wunderte sich über diese geheimnisvolle Andeutung. Sie konnte ja nicht ahnen, daß Mr. Orford an einen Tanker gedacht hatte, der von ihm gechartert war, um seiner Jacht auf hoher See Betriebsstoff zu liefern.

 

»Und nun, mein liebes Fräulein, erzählen Sie mir einmal, was alles passiert ist und wie Sie hierherkamen.« Er legte väterlich seinen Arm um ihre Schultern und nahm sie mit zu den Deckstühlen.

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihrem Wunsch nicht nachkommen kann. Die Sache ist zu ernst, als daß ich sie irgend jemandem erzählen könnte, ohne auch der Polizei davon Mitteilung zu machen.«

 

»War es so schlimm?« fragte er und schaute sie prüfend an. »Sie haben sich jetzt auch über Mrs. Dorban zu beklagen, wie mir Bobby erzählt. Früher haben Sie sich doch über Mr. Dorban beschwert, weil er unverschämt zu Ihnen wurde. Aber das steht wohl in keinem Zusammenhang. Und Mrs. Dorban wollte Sie töten? Sie brauchen es mir nicht zu bestätigen, ich sehe es. Ich hätte niemals gedacht, daß das möglich wäre. Die Leute gehen gewöhnlich nicht so weit, höchstens einer unter zehntausend ist zum Mörder veranlagt. Und Sie haben nun gerade das Unglück gehabt, mit einem solchen zusammenzukommen. Erzählen Sie mir doch einmal, wie das alles gekommen ist.«

 

»Ich habe schon zuviel gesagt. Ich möchte nicht in einem Skandalprozeß vor Gericht erscheinen; auch wäre es sehr schwer zu beweisen.«

 

Mr. Orford nickte.

 

»Wenn ich Mrs. Dorban richtig beurteile, so hat sie jetzt schon vor der Polizei beschworen, daß Sie versucht hätten, sie zu ermorden. Das ist ihre Art. Hätte ich nur vorher gewußt, daß Sie im Hause der Dorbans wohnten!«

 

»Welchen Unterschied hätte das denn gemacht?«

 

Aber Mr. Orford war ebensowenig bereit, sich frei auszusprechen, wie Penelope.

 

Sie ging in ihre Kabine zurück und fand den netten Matrosen damit beschäftigt, ihr Bett zu machen. Er schien Übung darin zu besitzen. Sie beobachtete ihn, ohne daß er es wußte.

 

»Ich danke Ihnen auch schön«, sagte sie dann.

 

Nur für einen kurzen Augenblick war er ein wenig verwirrt.

 

»Ihre Kabine ist jetzt wieder in Ordnung, Miss Pitt.«

 

»Wie heißen Sie eigentlich?« gab Penelope zurück.

 

»Wie ich heiße?« wiederholte er. »Wenn ich die Wahrheit sagen soll, habe ich darüber überhaupt noch nicht nachgedacht. Wie würde Ihnen John gefallen?«

 

»Gut, ich werde Sie John nennen«, sagte sie vergnügt.

 

Er blieb an der Tür stehen.

 

»Wünschen Sie noch irgend etwas? Es tut mir leid, daß wir keine Blumen an Bord haben. Aber wenn Sie etwas Grünes in der Kabine haben wollen – ein wenig Petersilie haben wir im Kühlschrank. Vielleicht könnten wir Ihnen davon etwas ins Zimmer stellen –«

 

»Danke, ich bin auch ohne Grün zufrieden.« Penelope war ein wenig ärgerlich über die vertrauliche Art, mit der er sie behandelte. Aber gleich nachdem er gegangen war, schämte sie sich schon wieder darüber.

 

Zu ihrem größten Erstaunen wurde ihr die Mittagsmahlzeit in ihrer Kabine serviert. Offensichtlich wollten die anderen Passagiere nicht mit ihr zusammen speisen. John hatte allerdings eine andere Erklärung dafür.

 

»Man glaubt, es wäre Ihnen unangenehm, die einzige Dame bei Tisch zu sein. Nachher werden Sie übrigens den Captain kennenlernen. Er ist ein sehr netter Herr; er hat nur keinen Sinn für Humor, obwohl er aus Schottland stammt!«

 

Sie staunte, wie zwanglos er sich mit ihr unterhielt. Früher hatte sie immer den Eindruck gehabt, daß ein Schiffskapitän eine Respektsperson sei, von der alle Matrosen und Seeleute nur mit größter Hochachtung sprächen. Daher war sie doppelt verwundert, als sie Captain Willit sah. Er war ein streng aussehender älterer Herr, der sie unter buschigen weißen Augenbrauen hervor musterte und die erste beste Gelegenheit wahrnahm, sich wieder zu empfehlen.

 

Sie entdeckte, daß die ›Polyantha‹ ein Motorschiff mit verhältnismäßig kleiner Besatzung war. Verschiedene Einrichtungen und Gebräuche an Bord konnte sie nicht verstehen. Vor allem war sie über das Verhalten der Passagiere und Offiziere ihrem Steward gegenüber erstaunt. Niemand sprach mit ihm, und wenn er, wie es häufig geschah, irgendeine zufällige scherzhafte Bemerkung machte, ignorierten sie ihn. Trotzdem schien ihm die Atmosphäre, in der er sich bewegte, gut zu gefallen. Das zweite merkwürdige Mitglied der Besatzung war ein Matrose, der anscheinend nichts anderes zu tun hatte, als auf dem Vorderdeck zu sitzen und Zigarren zu rauchen. Es war ein breitschulteriger Mann mit einem kugelrunden Kopf und einem brutal wirkenden Gesicht. Seine kurzgeschorenen Haare, seine Stupsnase und sein« dicker Hals gaben ihm das Aussehen eines Profiboxers. Allein seine Trägheit hätte ihn auffällig erscheinen lassen, aber er erregte noch mehr Aufsehen dadurch, daß er einen Ledergürtel trug, an dem zwei schwere Pistolentaschen hingen, eine an jeder Hüfte.

 

Er schaute auf, als sich Penelope über die Reling lehnte und ihn beobachtete. Er verzog das Gesicht zu einer sonderbaren Grimasse, die ein Lächeln sein sollte, ihn aber nur noch abstoßender machte. Dann winkte er ihr zu ihrer größten Entrüstung zu. Sie dachte zuerst, daß diese Geste nicht ihr gelte und nur zufällig gewesen sei, aber als er ihr eine Kußhand zuwarf, wandte sie sich empört ab.

 

»Was gibt es denn?«

 

Der Steward richtete diese Frage an sie.

 

»Der Matrose dort –«, sagte sie ein wenig unzusammenhängend. »Er – er, ach, es war nichts. Matrosen sind wahrscheinlich so.« Sie versuchte zu lächeln, obschon sie sich ärgerte, aber er ließ sich nicht täuschen.

 

»Hat er Sie beleidigt?«

 

»Er war ein wenig frech – er hat mir widerlicherweise eine Kußhand zugeworfen. Ich glaube, er dachte –«

 

Bevor sie den Satz beenden konnte, hatte er sich umgewandt und war die Treppe zum Vorderdeck hinuntergeeilt. Sie sah, wie er schnell auf den großen Mann zuging. Sie sprachen heftig miteinander, dann drehte sich John um und stieg langsam die Treppe wieder herauf. Sein Gesicht war bleich.

 

»Er wird Sie nicht mehr belästigen«, sagte er nur kurz und ging an ihr vorüber.

 

Kapitel 9

 

9

 

Der Matrose, der den ganzen Tag nichts tat, hieß Hollin, wie sie später von Bobby Mills erfuhr. Der junge Mann schien aber nicht gern über ihn und seine Untätigkeit zu sprechen.

 

»Warum trägt er eigentlich die Pistolen?«

 

»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Bobby höflich.

 

Jeden Abend erschien Hollin auf dem oberen Deck. Er hatte eine Zigarre im Mundwinkel und die Hände in den Hosentaschen. So ging er nach hinten und stieg dort die Treppe hinunter.

 

Keiner der Passagiere kümmerte sich auch nur im geringsten um ihn. Der alte Captain, der neben Mr. Orfords Stuhl stand, schaute ihm nach, als er vorbeikam, aber er sagte nichts. Sonst herrschte schärfste Disziplin an Bord. Der Steuermann grüßte militärisch, und alle Matrosen liefen, sobald die Pfeife des wachhabenden Offiziers ertönte. Nur der Steward John und der merkwürdige Hollin schienen sich nicht im mindesten darum zu kümmern. Aber John tat nichts, was man irgendwie als eine Beleidigung oder Ungezogenheit hätte auslegen können. Er mischte sich nur immer gern in die Unterhaltung.

 

Mr. Orford brachte den größten Teil des Tages schlafend in einem der großen, bequemen Deckstühle zu. Ein großer Sonnenschirm war über ihm aufgespannt. Mr. Stamford Mills dagegen beschäftigte sich viel in seiner eigenen Kabine.

 

Orford und Mills waren anscheinend die einzigen Passagiere an Bord der Jacht. Die Besatzung setzte sich aus dem Ersten, Zweiten und Dritten Offizier, dem Chefingenieur und seinem Assistenten, dem Zahlmeister, dem Funker, ungefähr zwölf Matrosen und dem Captain zusammen.

 

Die Ruhe an Bord wurde nur gestört, wenn der Funker einen Funkspruch brachte. Dann kamen schnell alle zusammen, und auch Mr. Orford wachte auf und erhob sich.

 

Einmal wurde nach einer solchen Konferenz der Kurs der ›Polyantha‹ geändert, und das Schiff, das bisher nach Westen gehalten hatte, wandte sich scharf nach Süden. Sie fuhren jetzt auch mit viel größerer Geschwindigkeit, wie Penelope wahrnahm. Der ganze Schiffsrumpf zitterte, und Sturzseen kamen über den scharfgeschnittenen Bug. Dann wurde plötzlich ohne ersichtlichen Grund Kurs nach Osten genommen, dann wieder nach Süden.

 

Früh am Nachmittag wurde ein Matrose in den Mastkorb geschickt, der den ganzen Horizont mit einem scharfen Fernglas absuchen mußte. Am Abend waren alle verdrießlich und schweigsam. Bobby Stamford Mills beantwortete Penelopes Fragen nur kurz. Mr. Orford saß stumm da und hatte die Hände über dem Bauch gefaltet.

 

Der einzige, der ein fröhliches Gesicht machte, war der Steward John. Er servierte ihr das Abendbrot und brachte danach noch Kaffee an Deck. Als sie sich zurückzog, fand sie ihn, wie er auf dem Deck kauerte, den Oberkörper an die Kommandobrücke gelehnt. Als sie erschien, erhob er sich.

 

»Kann ich Ihnen noch etwas bringen, bevor Sie sich zur Ruhe legen, Miss Pitt?«

 

»Nein, ich danke Ihnen, John.«

 

»Ich habe Ihnen etwas Mineralwasser hineingestellt. Und denken Sie daran, daß Sie Ihre Tür abschließen können. Wann wünschen Sie morgen früh den Tee? Ich fürchte allerdings, Sie müssen morgen zur Tür kommen und mir das Tablett abnehmen. Ich bin zwar ein vorzüglicher Steward, aber als Kammermädchen etwas schüchtern. Wie sind denn die anderen Passagiere gestimmt?«

 

»Sie sind sehr schweigsam. John, können Sie mir nicht sagen, wohin wir fahren?«

 

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Vielleicht durch den Panamakanal in die Südsee.«

 

»Wem gehört denn dieses Schiff?«

 

»Ich vergaß den Namen des Eigentümers – es ist ein französischer Herzog. Aber der Herr, der die Jacht gechartert hat, ist der edle Xenocrates.«

 

»Mr. Orford?« fragte sie erstaunt.

 

»Ja.«

 

»Kennen Sie ihn näher?«

 

»Ich kannte ihn nicht, bis ich ihm hier an Bord begegnete. Sie wollen mich noch etwas fragen? Wahrscheinlich möchten Sie erfahren, warum sich ein Mann mit meinen überragenden Talenten und meiner Unterhaltungsgabe in einer so untergeordneten Stellung auf Mr. Orfords Jacht befindet?«

 

»Ja, das kommt mir allerdings sonderbar vor.«

 

»Das ist es auch. Sie wären eine blasierte alte Jungfer, wenn Sie anders darüber dächten. Ich weiß nur nicht recht, wie ich Ihnen meinen Posten hier erklären soll. Aber nehmen Sie einmal an, ich sei ein armer schottischer Student, der sich während der Ferien auf See das nötige Geld verdient, um seine Kolleggelder zu bezahlen. Klingt das nicht ganz glaubhaft?«

 

»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte sie. Aber es schien ihr, als hätte sie sich jetzt lange genug mit ihm unterhalten. Sie sagte ihm gute Nacht und verschwand in ihrer Kabine.

 

Er hörte noch, wie sie zuschloß, als er zum Wellendeck hinunterging. Eine dunkle Gestalt, die im Schatten auf einem Poller gesessen hatte, erhob sich rasch.

 

»Steck die Pistole weg, alter Freund«, sagte John mürrisch. »Mach, daß du zu Bett kommst. Warum hast du dich noch nicht hingelegt?«

 

»Weil ich nicht eher zu Bett gehe, als bis du dich auch gelegt hast«, erwiderte der andere mit rauher und heiserer Stimme. »Hier ist keiner mehr als der andere. Ich kenne meine Stellung hier genau. Ich habe mir die Sache überlegt, und ich werde dir einmal sagen, wie es noch kommt. Die Sache kostet den alten Kerl zwanzigtausend Pfund, keinen Penny weniger. Ich will zwanzigtausend ausgezahlt haben, und ihr sollt mich in Südamerika an Land setzen.«

 

John nahm ein Etui aus seiner Hosentasche und zündete sich eine Zigarette an.

 

»Du bist verrückt!« sagte er dann kurz und wandte sich zum Gehen.

 

»Sag mal, Kollege, wer ist denn eigentlich diese Schürze hier?«

 

»Was willst du wissen?« John drehte sich plötzlich wieder zu ihm um.

 

»Ich meine dies Weib da oben in der Kabine. Ich habe gesehen, wie sie vorige Nacht an Bord kam. Wer ist sie denn? Ein hübsches Mädchen, das muß ich sagen!«

 

»Hollin«, sagte John ruhig, »willst du wirklich nach Südamerika? Wenn das der Fall ist, sprichst du nie wieder über diese Dame. Hör gut zu. Wenn du ihr noch einmal eine Kußhand zuwirfst, dann wirst du mir trotz deiner beiden Pistolen nicht entkommen. Du wirst nicht einmal wissen, woher die Kugel pfeift, die dir den Schädel einschlägt! Denk daran!«

 

»Wozu machst du denn einen solchen Krach mit mir? Habe ich mich nicht die ganze Zeit wie ein Gentleman benommen? Habe ich nicht Crawley kaltgemacht, als er dich fassen wollte?«

 

»Du bist ein Lügner«, erwiderte John gleichmütig. »Es war überhaupt kein Grund vorhanden, Crawley niederzuschlagen.«

 

Penelopes Kabine lag in gleicher Höhe mit dem Boden des Vordecks, und durch zwei Luken konnte man das Wellendeck überschauen, wo die beiden miteinander sprachen. Die Fenster waren offen, und sie stand dort, stützte die Ellenbogen auf und schaute auf das blaugrüne Meer hinaus, das hell vom Mond beschienen wurde. Sie hatte die Stimmen gehört, und plötzlich vernahm sie deutlich die Worte:

 

»Es war überhaupt kein Grund vorhanden, Crawley niederzuschlagen.«

 

Wer mochte dieser unglückliche Mann sein? Und was hatten diese beiden Menschen, die so ganz verschieden waren, miteinander zu schaffen?

 

Kurz darauf war alles ruhig, und nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, daß ihre Tür fest verschlossen war, ging sie zu Bett. Sie schlief gleich ein.

 

In der Nacht wachte sie plötzlich auf. Das Schiff lag so schräg, daß sie aus der Koje gefallen wäre, wenn das silberne Gitter sie nicht daran gehindert hätte. Entsetzt stand sie auf, aber gleich darauf lag die ›Polyantha‹ wieder richtig. Sie schob die Vorhänge zurück, die die Fenster bedeckten, und blickte hinaus. Fern am Horizont sah sie einen Lichtschimmer. Während sie ihn noch betrachtete, hörte sie ein Rasseln und Klingeln. Sie war zuerst darüber bestürzt, bis sie sich daran erinnerte, daß sich die Kommandobrücke über ihrer Kabine befand und daß sie den Schiffstelegrafen gehört hatte.

 

Sie stieß das Fenster auf. Die Stimme des Captains drang zu ihr.

 

»Dort ist das Schiff – wir haben seine Signale seit zwei Stunden aufgefangen. Glauben Sie, daß man uns drüben gesehen hat?«

 

»Nein, der Scheinwerfer hat uns nicht erreicht. Wieviel Uhr ist es?« fragte Mr. Orford.

 

»Fast zwei. Wir haben noch anderthalb Stunden bis Tagesanbruch, und wir fahren jetzt sechsundzwanzig Knoten die Stunde. Wenn sich der Captain drüben nicht in den Kopf setzt, uns zu folgen, werden wir bei Morgengrauen außer Sicht sein.«

 

Ein tiefes Schweigen folgte, und Penelope nahm an, daß die Leute oben ins Kartenzimmer gegangen waren.

 

Aber plötzlich ertönte Mr. Orfords Stimme.

 

»Was war das?«

 

»Ein Flugzeug«, entgegnete der andere kurz. »Ich habe es schon vor einer Stunde gehört. Sind alle Lichter an Bord gelöscht, Simson?«

 

»Die Hauptlichtleitung ist abgeschaltet.«

 

»Sind auch die Navigationslichter aus?«

 

»Jawohl, Sir.«

 

»Schauen Sie auf beiden Decks nach, ob jemand von der Wache raucht.« Dann sprach er plötzlich mit veränderter Stimme: »Maschinenraum – sind Sie da, Ferly? Ist es möglich, daß irgendwelche Funken aus den Kaminen kommen? Ergreifen Sie alle nötigen Maßregeln, um das zu verhüten.«

 

Plötzlich hörte das Geräusch der Schiffsmaschinen auf, und Penelope vernahm einen Laut, ähnlich dem Summen einer Kreissäge, die Hartholz schneidet. Allmählich verstummte dieses Surren wieder, und nach einer weiteren langen Pause hörte sie Schritte über ihrem Kopf.

 

»Dieser Funkspruch der Admiralität ist soeben aufgefangen worden, Sir«, sagte jemand.

 

»Wie lautet er?« fragte der Captain brummig.

 

Der Mann wußte den Inhalt anscheinend auswendig, denn auf der Brücke waren alle Lichter gelöscht.

 

»An alle Schiffe, die über den Ozean fahren, vom Kap Dungeness bis Kap Land’s End. Bitte berichten Sie sofort durch Funk an die Admiralität, ob Sie das Wrack eines Flugzeuges gesichtet haben.«

 

»Dieser verdammte Hollin und seine Kappe! Ich wußte doch, daß dieses Schwein uns alles verderben würde!«

 

Penelope ging zurück und setzte sich auf die Bettkante. Nun wußte sie, warum die Maschinen angehalten hatten. Das Schiff hatte die Richtung wieder gewechselt. Wovor fürchteten sich diese Leute? Warum mußten alle Lichter gelöscht werden?

 

Die ›Polyantha‹ hatte ein Geheimnis – und dieses Geheimnis war mit Hollin und seiner Mütze verknüpft. Sie schüttelte den Kopf und ging dann zu Bett. Als sie gerade wieder am Einschlafen war, rasselte und klingelte oben der Maschinentelegraf aufs neue, und sie merkte, daß das Schiff mit höchster Geschwindigkeit weiterfuhr.

 

Dann schlief sie ein und erwachte erst wieder, als es am nächsten Morgen an ihre Tür klopfte.

 

»Würden Sie heute Kondensmilch nehmen?« fragte Johns Stimme. »Unserer Kuh ist nämlich nicht ganz wohl.«