Kapitel 17

 

17

 

Nachdem Luke mit Edna Gray das Rennen in Newmarket besucht hatte, fuhren sie beide nach London zurück. Sie setzte ihn in der Nähe seiner Wohnung ab und begab sich dann ins Hotel. In der folgenden Woche hatte Luke viel zu tun. Er versuchte Schritt für Schritt, Garcias Aufenthalt festzustellen, aber manche der ausländischen Polizeidienststellen arbeiteten langsam und antworteten nicht immer prompt auf eine dringende Anfrage von Scotland Yard. Aus Deutschland erhielt er innerhalb von drei Tagen eine Mitteilung über die Telegramme, die von Berlin und München im Namen von Alberto Garcia an Edna abgesandt worden waren. Er konnte aber daraus nur ersehen, daß sie mit der Maschine geschrieben und mit ›Alberto‹ unterzeichnet worden waren.

 

Von Punch Markham empfing er viele Meldungen, die ihn nicht interessierten. Nur ab und zu war etwas dabei, das er brauchen konnte. Punch hatte sich mit größter Begeisterung an seine Aufgabe gemacht; er beobachtete nicht nur Goodies Rennpferde, sondern spionierte auch Goodie selbst nach. Er hatte eine persönliche Abneigung gegen den Trainer. Eines Tages besuchte er Luke in London.

 

»Sehen Sie einmal her, Mr. Luke«, sagte er und zeigte auf sein blaues Auge.

 

Punch war über alle Maßen wütend.

 

»Das ist nicht die Art und Weise, wie man andere Leute behandelt. Das hat einer seiner Stallknechte getan. Ich weiß ja, daß es den Leuten nicht gefällt, wenn man ihre Pferde beim Morgengalopp beobachtet, aber deswegen braucht man einen doch nicht gleich halbtot zu schlagen!«

 

Punch hatte sich den Morgengalopp ansehen wollen, nachdem er am Abend zuvor erfahren hatte, daß ›Weiße Lilie‹ geprüft werden sollte. Er war in solchen Dingen beschlagen und hatte sich vorsichtig in einer Bodensenkung versteckt, von der aus er die Arbeit der Pferde beobachten konnte. Bevor aber die Pferde auf dem Platz erschienen, hatten zwei Leute das Gelände abgesucht. Punch war im letzten Augenblick davongelaufen, und dabei hatten sie ihn gefaßt. Markham beschrieb den einen der beiden so deutlich, daß Luke nach der Schilderung Manuel erkannte.

 

»Goodie führt etwas im Schilde, darauf gehe ich die höchste Wette ein«, sagte Punch. »Meiner Meinung nach hat er ›Weiße Lilie‹ anderswohin geschickt, wo sie trainiert wird. Aber ich glaube nicht, daß er mit dem Gaul das Cambridgeshire-Rennen gewinnt. ›Weiße Lilie‹ war zwar ein gutes Pferd, aber es hatte im Alter von einem Jahr einen Leistungsrückgang, und ich habe allerhand anstellen müssen, um den Gaul so weit in die Höhe zu bringen, daß ich ihn verkaufen konnte. Sie können sich todsicher darauf verlassen, Mr. Luke, daß das Tier das Cambridgeshire-Rennen nicht gewinnt. Warum Goodie sich mit dem Pferd soviel Mühe gibt, weiß ich nicht. Aber der Kerl mogelt immerzu, der kann gar nicht anders, selbst wenn er wollte. Wenn ich nur in den Stall hinein könnte!«

 

»Sie würden doch nichts erfahren. Keiner seiner Leute spricht englisch.«

 

Aber Punch wollte sich damit nicht zufriedengeben. Luke tat, was er konnte, um ihn vor allzu kühnen Wagnissen zu warnen. Niemand war gefährlicher als ein übereifriger Amateurdetektiv – das wußte er.

 

*

 

Luke verließ sein Büro an dem Abend kurz vor sechs. Er hatte seinen Schreibtisch abgeschlossen und zog gerade seinen Mantel an, als es an der Tür klopfte. Er war allein im Büro; sein Assistent war schon eine halbe Stunde früher gegangen. Das Klopfen wurde wiederholt; der Betreffende mußte sehr aufgeregt sein und es eilig haben.

 

»Herein.«

 

Die Tür öffnete sich, und Rustem trat ein. Sein Gesicht war aschgrau, und die Hand, die er Luke entgegenstreckte, zitterte. Zum erstenmal sah der frühere Rechtsanwalt in seiner äußeren Erscheinung vernachlässigt aus; er machte fast den Eindruck, als ob er den ganzen Tag in seinen Kleidern geschlafen hätte.

 

»Zum Kuckuck, was ist denn mit Ihnen los?« fragte Luke erstaunt.

 

Rustem zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Es geht mir nicht besonders gut – es sind die Nerven«, erwiderte er ängstlich.

 

»Setzen Sie sich doch. Sind Sie vergiftet worden – oder ist sonst etwas los?«

 

»Na, einen so guten Witz habe ich lange nicht gehört«, sagte Rustem und lachte, aber seine Stimme klang hohl. »Nein, meine Nerven sind kaputt – die Leute verfolgen mich …«

 

»Das klingt ja, als ob Sie an Verfolgungswahn litten«, entgegnete Luke mit einem Lächeln..

 

»Was machen Sie heute abend? Wäre es nicht möglich, daß wir uns einmal unterhielten? Ich sage Ihnen offen, ich bin vollkommen erledigt. Ich dachte, wir könnten einmal zusammen ausgehen und irgendwo zu Abend essen. Ich möchte Sie auch noch wegen einer anderen Sache sprechen. Ich habe gehört, daß das Polizeiwaisenhaus nicht genügend Mittel hat. Vielleicht könnte ich tausend Pfund stiften …«

 

Luke schüttelte den Kopf.

 

»Nehmen Sie das lieber in Ihr Testament auf; da macht es sich ganz gut und ist nicht so peinlich. Nein, im Augenblick braucht das Waisenhaus kein Geld, und ich möchte Sie bitten, diesen Schritt zu unterlassen. – Also, was ist nun mit Ihnen, Rustem – meldet sich etwa Ihr Gewissen?«

 

»Nein«, sagte Rustem laut und sprang auf. »Ich brauche mir keine Vorwürfe zu machen. Natürlich habe ich manches getan, was ich, bei reiflicher Überlegung, besser unterlassen hätte. Wenn ich immer gewußt hätte, wie die Dinge auslaufen würden …«

 

Luke dachte schnell nach.

 

»Also, es ist gut, ich komme mit Ihnen und will Ihnen sogar zugestehen, daß Sie mich einladen.«

 

Irgend etwas stimmte nicht. Rustem klammerte sich geradezu an ihn, als sie am Themseufer entlanggingen, und auf dem Weg nach Soho sprach er dauernd auf seinen Begleiter ein. Aber er sagte ihm nichts Besonderes, und seine Worte waren manchmal etwas zusammenhanglos.

 

Luke paßte auf wie ein Schießhund, aber schon lange vor dem Ende des Essens sah er, daß Rustem ihm nichts Wichtigeres mitteilen wollte oder konnte. Wahrscheinlich hatte der Mann nur wieder die Absicht, sich ein Alibi zu verschaffen.

 

Rustem zog das Essen hinaus, blieb so lange wie möglich bei Tisch sitzen und machte dann Luke den Vorschlag, verschiedene Klubs zu besuchen.

 

»Es wird nicht gerade sehr vorteilhaft für Sie sein, wenn Sie sich in meiner Gesellschaft sehen lassen«, erwiderte Luke offen. »Ihre Freunde werden glauben, daß Sie plötzlich ein Polizeispitzel geworden sind. Und wenn Sie wollten, könnten Sie mir ja auch tatsächlich eine Menge erzählen.«

 

Aber Rustem schien die üble Nachrede nicht zu fürchten.

 

In dem kleinen Klub, in dem sie sich schon früher einmal getroffen hatten, sahen sie Mr. Trigger. Er saß in derselben Nische, in der Luke einmal mit Rustem gesessen hatte, und vor ihm stand ein Glas mit einer hellen Flüssigkeit. Er lächelte Luke liebenswürdig zu, aber Rustem schaute er ärgerlich an.

 

»Nehmen Sie doch bitte Platz. Wollen Sie nicht etwas trinken? Ich selbst halte mich an Limonade. Sie werden wahrscheinlich darüber lachen, aber ich mag keine starken alkoholischen Getränke.«

 

Er warf einen Seitenblick auf Rustem.

 

»Und es wäre auch ganz gut, wenn verschiedene meiner Bekannten meinem Beispiel folgten.«

 

Rustem, der beinahe die Fassung verloren hatte, als sie Trigger hier trafen, hatte nicht den Mut, darauf zu antworten.

 

»Manchmal muß ich etwas ausspannen, dann komme ich hierher. Sonst wird es mir von all den vielen Zahlen ganz wirr im Kopf!«

 

»Ihre Erholung besteht dann darin, Limonade zu trinken«, sagte Luke lächelnd.

 

Er schätzte Trigger, den er in gewisser Weise für vollkommen ehrlich hielt, obwohl der Mann mit übelbeleumundeten Leuten zusammenarbeitete.

 

»Die Limonade ist es nicht allein; man kann hier auch Leute beobachten. Man sieht hier mehr Verbrecher als vor dem Schwurgericht in Old Bailey.«

 

Wieder sah er Rustem von der Seite an.

 

»Sind Sie Mitglied des Klubs, Mr. Luke? Dann sind wir beide die einzigen anständigen Kerle, die hier verkehren. Es ist nicht gerade meine Absicht, Verbrecher zu treffen, wenn ich hierherkomme. Mehrere von der Sorte treffe ich sowieso, wenn wir eine Direktionssitzung abhalten.«

 

Diesmal war die Herausforderung zu stark, als daß Rustem sie überhören konnte.

 

»Wollen Sie damit sagen –«, begann er wütend.

 

»Wenn Sie glauben, daß ich jemand anders meinen könnte als Sie, dann sagen Sie es mir bitte«, entgegnete Trigger ruhig. »Ich erkläre Ihnen, und zwar in Gegenwart von Mr. Luke, daß ich in Zukunft bei den Direktionssitzungen meiner Firma nichts weiter diskutiere, als was zum Geschäft gehört. Und Geschäft bedeutet: Geld, Telegramme, Organisation. Wenn mir von zuverlässiger Stelle ein Pferd genannt wird, das das Rennen gewinnt, dann handle ich dementsprechend. Ich will über das Pferd nichts weiter wissen, als daß es vier Beine und einen Kopf hat und schneller läuft als all die anderen Pferde, die für das Rennen gemeldet worden sind. Warum es gewinnt, geht mich nichts an, und ich dulde auch nicht, daß über solche Dinge in unseren Versammlungen gesprochen wird. Ich will mir nicht nachsagen lassen, daß ich irgendwelche gesetzwidrige Handlungen begehe. Ich habe nichts getan, was irgendwie gegen das Gesetz oder die Rennregeln verstößt.«

 

Luke konnte sich denken, was geschehen war. Die Leute hatten wahrscheinlich eine Versammlung abgehalten, und einer der vier – wahrscheinlich Rustem – hatte da Dinge zur Sprache gebracht, die außerhalb des Geschäftsbereiches lagen. Wahrscheinlich hatte sich Trigger dagegen gewehrt und auch eine Auseinandersetzung mit den anderen gehabt, wobei Blanter den kürzeren zog.

 

»Sie sind ja ein ganz scheinheiliger Kerl«, entgegnete Rustem gehässig.

 

Trigger lächelte.

 

»Ja, ich bin wirklich ehrlich – und mehr als das: Ich bin meiner Sache sicher!«

 

Trigger trank seine Limonade aus, zahlte dem Kellner den doppelten Preis, den er verlangte, und erhob sich.

 

»Ich will Sie beide allein lassen. Vermutlich haben Sie wichtige Angelegenheiten miteinander zu besprechen«, sagte er höflich und ohne Ironie. »Aber, Mr. Luke, ich möchte Ihnen noch eins sagen: Wenn der Mann hier« – er zeigte auf Rustem – »behaupten sollte, daß ich mich auf andere Dinge einlasse als auf ein reines Geschäft, dann lügt er wie gedruckt. Ich brauche mich nicht davor zu fürchten, daß er der Polizei etwas verrät. Mir kann er nichts anhaben, aber er selbst ist nicht ganz harmlos.«

 

Mit dieser geheimnisvollen Andeutung verließ Trigger den Klub. Er hatte den Hut ziemlich kühn aufgesetzt und sich eine dicke Zigarre angezündet.

 

»Das ist ein ganz gemeiner Lump«, erklärte Rustem. »Daß ein solcher Kerl sein ungewaschenes Maul aufmachen darf –«

 

Aber dann unterbrach er sich plötzlich, wie er es mindestens schon ein dutzendmal an dem Abend getan hatte.

 

Mit Mr. Arthur Rustem ging es bergab. Zehn Jahre lang hatte er eine beherrschende Stellung in der Verbrecherwelt eingenommen, doch jetzt zeigte er sich feige und furchtsam. Und er hatte Grund dazu. Während er früher das Kommando führte, mußte er jetzt tun, was andere von ihm verlangten. Er hatte seine Unabhängigkeit aufgegeben und sich einem stärkeren Willen unterstellt. Und er hatte nicht den Mut, mit den anderen zu brechen, weil sie drohten, ihn zu ruinieren.

 

Luke machte verschiedene Versuche, das Gespräch auf Dr. Blanter zu bringen; er hatte keinen Erfolg, obwohl er verschiedene anrüchige Geschichten aus dessen Vergangenheit auskramte. Rustem wußte das alles natürlich selbst viel besser, denn er hatte Blanter einmal verteidigt, als dieser als Angeklagter vor Gericht gestanden hatte.

 

Erst gegen elf Uhr abends konnte Luke Rustem loswerden. Rustem taumelte ein wenig, als er an die frische Luft kam, aber dann riß er sich zusammen und verabschiedete sich korrekt.

 

Er war noch nicht weit gegangen, als ein Wagen an der Bordschwelle neben ihm hielt und jemand seinen Namen rief. Erschrocken drehte er sich um und sah in das rote Gesicht von Blanters Diener, der am Steuer des Wagens saß.

 

»Steigen Sie ein, der Doktor will mit Ihnen sprechen«, sagte der Mann heiser.

 

Rustem zögerte, aber dann folgte er doch der Aufforderung. Der Wagen bog in die Richtung Haymarket ein – und das war nicht der Weg zur Half Moon Street. Die Fahrt ging weiter zur Pall Mall, dann hielt das Auto, und der Chauffeur stieg aus.

 

»Bleiben Sie sitzen, ich will mit Ihnen sprechen.«

 

Rustem lehnte sich aus dem Fenster hinaus.

 

»So, das ist für Sie«, sagte der Chauffeur und schlug Rustem mit einem Gummiknüppel zusammen.

 

Kapitel 18

 

18

 

Luke ging nach Scotland Yard zurück und las die Telegramme, die in seiner Abwesenheit angekommen waren. Am meisten interessierte ihn indessen die telefonische Mitteilung, die Punch aus Longhall durchgegeben hatte:

 

Ich habe den ganzen Schwindel herausgebracht und muß Sie morgen sprechen. Ich werde Sie heute um halb elf in Ihrer Wohnung anrufen.

 

Es war leicht möglich, daß sich Punch durch seinen Eifer auf eine falsche Fährte hatte bringen lassen; andererseits hatte der Mann eine gute Begabung und einen gewissen Instinkt für das Wichtige. Luke glaubte zu wissen, worum es sich handelte. Er telefonierte mit Lane, aber der konnte ihm auch nichts Genaues sagen.

 

»Er ist um neun Uhr fortgegangen. Vermutlich hat er etwas Wichtiges herausbekommen, aber er wollte es mir nicht sagen. Es ist irgendeine Sache mit Goodie.«

 

Die Uhr vom Parlamentsgebäude schlug Mitternacht, als Luke das Büro verließ und langsam seiner Wohnung zuschlenderte. Er hatte auch allen Grund, nicht zu schnell zu gehen, denn es war die erste neblige Nacht in diesem Jahr. Wenn es auch nicht sehr unsichtig war, so konnte man doch nur schwer ein Taxi finden. Am Trafalgar Square traf er einen Wagen, der langsam an der Bordschwelle entlangfuhr. Da Luke sehr müde war, überredete er den Chauffeur und fuhr mit ihm in Richtung Piccadilly. An der Ecke des Hyde Park wurde der Nebel etwas dichter; Luke bezahlte den Chauffeur und ging zu Fuß weiter.

 

In Knightsbridge war es bereits so dunstig, daß die Laternen nur noch hellere Stellen im Nebel waren.

 

Er bog in die kleine Straße ein und tastete sich an dem eisernen Zaun entlang, bis er zu seinem Haus kam. Als er den Schlüssel herausgenommen hatte und die Haustür aufschließen wollte, griff er zu seinem größten Erstaunen ins Leere. Die Tür stand weit offen, und als er sie zumachte und das elektrische Licht anknipste, sah er, daß die Diele mit gelblichgrauem Nebel gefüllt war.

 

Die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand ebenfalls halb offen. Er streckte die Hand aus und machte Licht, aber er hörte kein Geräusch und nahm keine Bewegung wahr. Auch sah er keine verdächtigen Schatten. Schnell zog er die Pistole, stieß die Tür ganz auf und trat ein. Der Raum war vollkommen leer, nur auf dem Diwan in der Nähe des Fensters lag ein Mann, der mit einer Decke zugedeckt war.

 

Luke starrte ihn lange an, bevor er näher trat und die Decke zurückschlug, die auch den Kopf verhüllte. Es war der alte Garcia, den er auf dem Dampfer kennengelernt hatte. Der Mann trug einen Mantel und war vollständig angekleidet, nur die Schuhe fehlten. Ein Blick genügte – Garcia war tot.

 

Luke ging zum Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab, aber die Leitung war stumm. Als er darauf den Apparat untersuchte, fand er, daß die Zuleitungsschnur durchgeschnitten war. Dann untersuchte er den Raum. Auf dem Tisch war nichts angerührt worden; auch die Schubladen waren nicht durchwühlt. Er verließ das Haus, schloß die Tür hinter sich und suchte einen Polizisten und eine Telefonzelle. Nachdem er eine kurze Meldung an die nächste Polizeistation und an Scotland Yard durchgegeben hatte, ging er mit dem Beamten zu seinem Haus zurück.

 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Polizeiarzt und der Inspektor vom Revier kamen. In der Zwischenzeit hatte Luke verschiedene wichtige Entdeckungen gemacht. Zunächst fand er die Schuhe des Toten, die unter den Tisch gestellt worden waren. Dann entdeckte er bei einer oberflächlichen Durchsuchung der Taschen Garcias verschiedene Dinge, die als Anhaltspunkte dienen konnten.

 

Zunächst sah er eine zusammengefaltete Nummer einer Berliner Zeitung mit einem Datum, das zwei oder drei Tage zurücklag, dann einen Kriminalroman. In einer inneren Tasche steckte eine Uhrmacherrechnung einer Münchener Firma. Andere Papiere hatte Garcia nicht bei sich. Luke war sehr erstaunt, als er keine Wunden oder Zeichen von Gewaltanwendung an dem Toten bemerkte.

 

Gegen ein Uhr morgens berichtete der Polizeiarzt auf dem Revier das Resultat seiner Untersuchung. An dem Körper hatte er weiter nichts feststellen können; nur am linken Unterarm hatte er eine Anzahl von Punkten gefunden, die von Spritzen herrührten.

 

»Haben Sie etwas Verdächtiges bei ihm gefunden?« fragte er.

 

Luke schüttelte den Kopf.

 

»Nein.«

 

Der Inhalt der Taschen lag auf dem Schreibtisch des Inspektors der Polizeistation: eine Uhr mit Kette, ein Zigarettenetui, eine Brille mit Hülle und etwa tausend Mark in deutschem Geld.

 

»Er ist seit mindestens sechs Stunden tot, vielleicht noch länger«, meinte der Arzt. »War er eigentlich bei einem Arzt in Behandlung?«

 

Luke erzählte ihm, was er über den Toten wußte. Er hatte eine genaue Durchsuchung seines Hauses vorgenommen und war dabei zu dem Schluß gekommen, daß die Leute, die in das Haus eingedrungen waren, einen Schlüssel benutzt haben mußten. Luke erinnerte sich, daß er zwei weitere Schlüssel in einer Schublade seines Schreibtisches aufbewahrt hatte; sie mußten bei ihrem ersten Einbruch den Eindringlingen in die Hand gefallen sein.

 

Zuerst wollte er Edna anrufen und ihr sofort berichten, was geschehen war. Aber so eilig war es nicht, daß er sie mit dieser traurigen Nachricht aus dem Schlaf wecken mußte. Schließlich entschied er sich dafür, am nächsten Tag selbst nach Longhall zu fahren.

 

*

 

Der Nebel war am Themseufer sehr dicht, und den Polizeistreifen in der City fiel es schwer, ihren Weg zu finden und sich nicht zu verirren. Um zwölf Uhr hörte ein Beamter mehrere Schüsse aus einer Pistole und stellte sofort Nachforschungen an. Er sah allerdings zunächst nichts. Erst als er systematisch die ganze Straße absuchte, fand er einen Mann, der am Boden lag.

 

Luke war nach Scotland Yard gegangen, um genau Bericht zu erstatten.

 

»Kennen Sie einen Mann namens Markham?« fragte ihn unten beim Eingang der Beamte.

 

»Ja.«

 

»Eine Streife in der City hat ihn eben am Themseufer erschossen aufgefunden.«

 

Der arme Punch war aus kurzer Entfernung niedergeknallt worden; sein Rock war an den Rändern der Einschußlöcher versengt. Das einzige, was man in seinen Taschen fand und was einen Anhaltspunkt bot, war ein kleines Notizbuch, in dem auch Lukes Name stand.

 

Luke fuhr eilig in die City, und zum zweitenmal in dieser Nacht sprach er mit dem Polizeiarzt.

 

»Er wurde von drei Schüssen getroffen, die alle tödlich waren«, berichtete ihm dieser.

 

Es meldete sich ein Zeuge. Ein Straßenkehrer hatte einen Mann beobachtet, der an der Stelle, wo der Mord passierte, auf und ab gegangen war. Aber er hatte sich nicht um ihn gekümmert und konnte daher auch keine weiteren Angaben machen. Er wußte nur so viel, daß der Mann häufig auf seine Armbanduhr gesehen und dazu eine kleine Taschenlampe benützt hatte. Der Straßenkehrer hatte geglaubt, daß es sich um einen Kriminalbeamten handelte, der verschiedene Geschäfte beobachtete.

 

Luke ging nach Hause, zog sich um und trank eine Tasse Kaffee.

 

Dann trat er wieder in den nebligen Morgen hinaus. Er ging zunächst in sein Büro und suchte Dr. Blanter in der Half Moon Street auf.

 

Die Dienstboten waren schon aufgestanden.

 

»Der Doktor liegt noch im Bett – ich glaube nicht, daß ich ihn jetzt stören kann«, sagte der Diener.

 

»Nennen Sie nur meinen Namen«, erwiderte Luke kurz angebunden.

 

Der Mann führte ihn in ein kleines Arbeitszimmer, und Luke brauchte nicht lange zu warten. Schon fünf Minuten später erschien der Doktor, und er war durchaus nicht schläfrig.

 

»Was wollen Sie von mir?« fragte er barsch.

 

»Wo waren Sie in der vergangenen Nacht? Sagen Sie mir, wo Sie überall gewesen sind.«

 

Unter gewöhnlichen Umständen hätte ein solches Ansinnen den Arzt in Wut gebracht, aber jetzt beantwortete er die Frage willig.

 

»Ich war den ganzen Abend zu Hause. Am Nachmittag war ich draußen auf dem Land und kam erst spät zurück.«

 

»Wann sind Sie zu Bett gegangen?«

 

Blanter sah erst Luke an, dann blickte er zur Decke empor.

 

»Ungefähr um zehn, vielleicht auch ein wenig später. Wenn ich es mir recht überlege, nehme ich an, daß es nahezu halb elf war. Ich hörte, wie die Uhren in der Nähe schlugen, als ich mich eben hingelegt hatte.«

 

Luke sah ihn scharf an.

 

»Wie kam es dann, daß Ihr Diener sagte, als ich zehn Minuten vor zehn bei Ihnen anrief, Sie seien ausgegangen?«

 

Blanter lächelte, und Luke wußte, daß er einen Fehler gemacht hatte.

 

»Das glauben Sie doch selbst nicht. Mein Diener kann gar nicht so dummes Zeug gesagt haben, der hatte Ausgang. Erst heute morgen ist er wiedergekommen. Ich war ganz allein im Haus; das ist nicht ungewöhnlich.«

 

»Durchaus nicht – ich lebe auch ganz allein. Gelegentlich empfange ich allerdings Besucher. Gestern waren es zwei – ein Lebender und ein Toter.«

 

Der Doktor zog die Augenbrauen hoch.

 

»So?« entgegnete er mit höflichem Interesse. »Ist das wieder ein Bluff, Mr. Luke?«

 

»Nein, nein, Sie wissen ganz genau, daß ich nicht bluffe. Der eine lebte, der andere nicht. Alberto Garcia lag auf dem Diwan in meinem Arbeitszimmer. Er hatte eine deutsche Zeitung und deutsches Geld in den Taschen, um mir vorzutäuschen, daß er in Deutschland gewesen sei und die Telegramme an Miss Gray abgesandt habe, die Ihre Agenten geschickt haben. Kurz darauf fand einer unserer Beamten Punch Markham erschossen am Themseufer auf. Der Täter muß jemand gewesen sein, der eine Verabredung mit ihm hatte. Ich nehme an, daß es derselbe war, der in mein Haus einbrach und Mr. Garcia in mein Zimmer legte. Markham wollte mich um halb elf anrufen; das war dieselbe Zeit, in der in meinem Haus eingebrochen wurde.«

 

»Und zur selben Zeit legte ich mich schlafen«, erwiderte Blanter ironisch. Dann lehnte er sich über den Tisch und runzelte die Stirn. »Also, Luke, sagen Sie es doch geradeheraus: Wollen Sie mich verhaften?«

 

»Ich habe Sie jedenfalls im Verdacht«, entgegnete der Inspektor kühl.

 

»Aber warum sollte ich denn Mr. Garcia und diesen anderen Mann umbringen? Ihrer Meinung nach bin ich gestern abend ja ziemlich tätig gewesen!«

 

»Das Motiv ist mir noch nicht ganz klar. Wenn ich das erst gefunden habe, weiß ich auch, wer der Mörder ist. Erinnern Sie sich daran, Blanter!«

 

Er trat aus dem Haus und winkte dem Polizeibeamten, der auf der gegenüberliegenden Seite der Straße wartete. Dann kehrte er zu Dr. Blanter zurück.

 

»Was wollen Sie denn noch?«

 

»Ich werde jetzt Ihre Wohnung durchsuchen.«

 

»Haben Sie eine Vollmacht?«

 

Luke zeigte den Haussuchungsbefehl vor.

 

Das Haus war nicht größer als das, welches Luke bewohnte. Die Räume im Erdgeschoß waren mehr oder weniger gut aufgeräumt und sauber, die Zimmer im oberen Stockwerk hingegen kaum möbliert. Das Schlafzimmer des Doktors war einigermaßen in Ordnung, aber in allen anderen sah es entsetzlich unordentlich aus. Luke fragte den Diener aus, einen großen, breitschulterigen Mann, der mindestens ebenso stark und kräftig war wie der Arzt selbst. Er roch nach Alkohol und genoß allem Anschein nach allerhand Vorrechte. Luke hatte bereits von ihm gehört und wußte, daß Blanter ihn schon fünf oder sechs Jahre in seinen Diensten hatte.

 

Die Untersuchung verlief ergebnislos.

 

»Es ist wohl schon lange her, daß Sie am Mittwochabend Käse gegessen haben?« fragte Luke den Diener beiläufig.

 

Der Mann sah ihn unsicher an und wurde auffallend bleich.

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, erwiderte er schließlich verlegen.

 

Als sie aus dem Haus gegangen waren, grinste Luke.

 

»Was haben Sie eigentlich mit dem ›Käse am Mittwochabend‹ gemeint?« fragte der Polizeibeamte.

 

»Es ist merkwürdig, wie sich die Leute durch Kleinigkeiten verraten. Als ich den Kerl sah, wußte ich sofort, daß er früher einmal im Gefängnis gesessen hatte. Obwohl ich im Augenblick nicht ahnte, wer, er ist, bin ich doch ganz sicher, daß er nicht nur ein alter Sträfling ist, sondern auch in Dartmoor gesessen hat. Noch vor ein paar Jahren, als der Speisezettel nicht so abwechslungsreich war wie heutzutage, erhielten die Gefangenen am Mittwochabend Käse, und Leute, die einmal gesessen haben, können sich sehr genau auf die Zeit besinnen.«

 

Luke fand keine Zeit, nach Longhall hinauszufahren. Deshalb rief er Edna Gray an und bat sie, in die Stadt zu kommen.

 

Später am Tag besuchte er sie in ihrem Hotel und teilte ihr die traurige Nachricht mit.

 

»Ich kann Ihnen die schmerzliche Pflicht ersparen, den armen Garcia zu identifizieren. Glücklicherweise habe ich ihn so gut gekannt, daß ich es tun konnte.«

 

Sie erschrak sehr und weinte einige Zeit.

 

»Ich verstehe es nicht«, sagte sie, nachdem sie sich wieder gefaßt hatte. »Dann war er also tatsächlich die ganze Zeit über in Deutschland?«

 

»Nein, er ist gar nicht in Deutschland gewesen.«

 

Luke hatte den Auftrag gegeben, nach Rustem zu suchen, aber der wurde weder in seinem Büro noch in seiner Wohnung angetroffen. Es bestand die Möglichkeit, daß er außer Landes gegangen war. Alle Polizeistationen in den Häfen erhielten Befehl, ihn anzuhalten und ihm Schwierigkeiten zu machen – unter dem Vorwand, daß sein Paß nicht in Ordnung sei.

 

Edna hatte Punch nur ein einziges Mal gesehen, seitdem er bei ihr wohnte.

 

»Gestern morgen habe ich ihn noch beobachtet«, sagte sie. »Er ritt an der Stelle vorüber, wo Goodie das Pferd erschoß.«

 

»Welches Pferd ist denn erschossen worden?« fragte Luke schnell.

 

Sie erzählte ihm von dem nächtlichen Abenteuer, und er interessierte sich lebhaft dafür. Auf seine Veranlassung zeichnete sie einen ungefähren Lageplan und markierte darauf die Stelle, wo das Pferd eingescharrt worden war.

 

Er fragte sie auch noch nach dem Datum; und sie klingelte nach ihrem Chauffeur. Es war derselbe Tag, an dem sie ihr Auto nach Reading geschickt hatte, um verschiedene Reparaturen vornehmen zu lassen.

 

Der Chauffeur kam. Es war ein ordentlicher Mann, der alles in sein Notizbuch eintrug, und so gelang es, Tag und Stunde genau festzustellen.

 

»Es muß an dem Tag gewesen sein«, sagte er. »Am nächsten Abend fuhren wir in die Stadt und sahen auf der Chaussee den Unglücksfall.«

 

Luke hatte auch davon nichts gehört und fragte nach weiteren Einzelheiten. Er unterbrach Edna nicht, bis sie alles erzählt hatte, dann ging er im Zimmer auf und ab.

 

»Können Sie mir in Longhall über Nacht ein Zimmer geben? Ich möchte nicht in den ›Roten Löwen‹ gehen. Wenn Sie gestatten, ziehe ich mich dann sofort zurück, ich bin todmüde. Wenn ich nur ein paar Stunden die Augen zumachen kann, habe ich mich so weit erholt, daß ich es wieder einige Zeit aushalte. Vor allem muß ich bei dem Cambridgeshire-Rennen auf der Höhe sein.«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Sie werden doch nicht zu dem Rennen gehen, nachdem alle diese Dinge passiert sind?«

 

»Doch, ich werde gehen. ›Weiße Lilie‹ steht jetzt zehn zu eins, und ich möchte Mr. Goodie im Augenblick seines Triumphes sehen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich verstehe das alles nicht. Ich kann Sie nicht begleiten. Denken Sie doch an den armen Mr. Garcia. Welch ein furchtbares Unglück! Ich darf gar nicht daran denken!«

 

Sie erzählte ihm, daß der alte Mann keine Freunde und Verwandten gehabt habe, aber ziemlich reich gewesen sei.

 

Er fragte sie, wer denn das Vermögen erben würde.

 

»Ich glaube, daß er alles mir vermacht hat. Er sagte es mir schon vor einigen Jahren und erwähnte es auch, als wir zusammen auf dem Dampfer waren. – Ist der arme Mr. Garcia ermordet worden?«

 

Luke zögerte, denn diese Möglichkeit war nicht ausgeschlossen.

 

»Ich glaube es nicht«, sagte er schließlich. »Die Ärzte sagen, daß er eines natürlichen Todes gestorben ist.«

 

Er fragte sie dann noch nach den Gewohnheiten des alten Herrn.

 

Sie fuhren zusammen nach Longhall hinaus, und Luke schlief während der ganzen Fahrt. Als sie ankamen, ging er in ein Fremdenzimmer und legte sich sofort zur Ruhe.

 

Um neun Uhr abends war er aber wieder munter und brachte eine ganze Stunde am Telefon zu. Um elf Uhr meldete sich Lane bei ihm, und beide gingen fort.

 

Als Luke um drei Uhr morgens zurückkam, fand er Edna Gray noch wach. Aber wenn sie erwartet hatte, er würde ihr von seinen Erlebnissen erzählen, dann wurde sie enttäuscht. Er sagte nur, daß er Erfolg gehabt habe, und ging auf keine Einzelheiten ein.

 

*

 

Dr. Blanter suchte Trigger im Büro auf und forderte eine große Summe von ihm.

 

»Aber seien Sie doch vernünftig, Doktor! Ich kann Ihnen doch nicht so einfach zweihunderttausend Pfund besorgen! Sie wissen ebensogut wie ich, daß wir unser Geld immer sofort investieren. Vor Ende November können wir unsere Anteile nicht auszahlen.«

 

»Und ich sage Ihnen, Sie werden mir die Summe beschaffen, Trigger, und zwar in amerikanischem Geld. Ich verlange, daß es für mich bereitliegt, wenn ich wiederkomme.«

 

Trigger lehnte sich in seinem Sessel zurück und begegnete dem Blick des Doktors, ohne mit der Wimper zu zucken.

 

»Wenn die Transaktion durchgeführt ist, macht es mir keine Schwierigkeiten; im anderen Fall müßte ich Wertpapiere mit Verlust verkaufen. Warum haben Sie denn so große Eile?« Blanter gab keine Erklärung. Er war es gewohnt, daß Befehle, die er erteilte, unbedingt ausgeführt wurden. Zuerst wäre er beinahe wütend geworden, als er sah, daß Trigger ihm nicht sofort gehorchen wollte, aber er bewahrte die Ruhe. Die feindselige Haltung dieses Mannes war ihm schon seit einiger Zeit aufgefallen. Wenn er wollte, konnte er sich ausgezeichnet beherrschen. Er steckte sich eine Zigarre an und setzte sich in einen Sessel.

 

»Wir wollen uns nicht unnötig streiten. Wenn Sie es durchaus wissen müssen, will ich es Ihnen sagen. Es ist wegen Mr. Luke. Soweit es mich angeht, hat Ihre Firma das letzte Pferd bekommen. Ihnen tut das ja weiter nicht weh, denn Sie haben eine Menge Geld gemacht. Ich rate Ihnen trotzdem, Ihre Firma aufzulösen, die Büroeinrichtung zu verkaufen und sich ins Privatleben zurückzuziehen.«

 

»Hören Sie einmal zu, Doktor.« Mr. Trigger klopfte mit dem Finger auf die Tischplatte, um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben. »Meine Firma hat schon lange existiert, bevor Sie etwas von ihr gehört haben, schon zu einer Zeit, als ich von Ihnen noch nichts wußte. Damals waren Sie ein kleiner Mann, der in einem Mordprozeß vor Gericht stand. Beinahe wäre es Ihnen seinerzeit schlecht gegangen. Meine Firma kann auch ohne Sie weiterbestehen. Ich habe Sie niemals danach gefragt, wie Sie zu den Pferden kommen, mit denen ich meine Geschäfte mache. Was Sie mit den Tieren anfangen oder wie Sie sie dazu bringen, als erste durchs Ziel zu gehen, interessiert mich nicht. Wenn Sie etwas Gesetzwidriges dabei begangen haben, will ich nichts davon wissen. Soweit mir bekannt ist, wird ›Weiße Lilie‹ am Mittwoch das Cambridgeshire-Rennen gewinnen, und ich habe alle meine Kunden dementsprechend benachrichtigt. Warum das Pferd gewinnt, oder warum es nicht gewinnt, geht mich nichts an. Es gibt auch noch andere Informationsquellen und andere Rennställe als den von Goodie. Wenn Sie sich gegen die Gesetze vergangen haben, so ist das Ihre Sache und nicht die meine. Mr. Luke ist ein guter Charakter, und ich habe nichts von ihm zu fürchten.«

 

Er stand auf, ging auf die andere Seite des Schreibtisches und sah auf Blanter nieder.

 

»Ein Mann namens Garcia wurde heute morgen tot aufgefunden – ich habe es in der Zeitung gelesen. Außerdem wurde ein früherer Jockei, Punch Markham, in der City erschossen.«

 

»Na und?«

 

»Ich frage Sie nur, ob das etwas mit unserem Geschäft zu tun hat?«

 

»Und wenn es etwas damit zu tun hätte?«

 

Trigger schwieg, und Blanter wiederholte die Frage.

 

»Dann würde ich jetzt sofort auf die Straße gehen und einen Polizisten rufen, damit er Sie verhaftet«, entgegnete Trigger langsam. »Wenn ich an Rustems Worte denke und davon überzeugt wäre, daß sie sich auf diesen Mord beziehen, dann würde ich Sie anzeigen, so wahr ich hier stehe.«

 

Dr. Blanter erhob sich langsam. Er sah entsetzlich aus in seiner Wut, aber Trigger ließ sich nicht so leicht einschüchtern.

 

»Denken Sie gar nicht daran, was Ihnen dann passiert?«

 

Trigger lächelte.

 

»Ich müßte dann vielleicht der Mordkommission erklären, warum ich Sie über den Haufen geschossen habe.«

 

Er hatte die Hand in der Rocktasche, und plötzlich entdeckte Blanter, daß er eine Pistole gepackt hatte, mit der er auf ihn zielte.

 

»Ich habe mich immer vor Ihnen in acht genommen, Blanter, und ich weiß auch in dieser Sekunde, was ich von Ihnen zu halten habe. Gehen Sie. Wenn nach dieser Transaktion Geld zur Verfügung steht, werden Sie Ihren Anteil bis auf den letzten Shilling richtig erhalten.«

 

Gleich darauf stand Dr. Blanter auf der Straße. Er wußte kaum, wie ihm geschah. Aber wenn er überhaupt Respekt vor jemand hatte, dann vor Mr. Trigger.

 

Als er in seine Wohnung in der Half Moon Street kam, fand er seinen Diener Stoover am Schreibtisch damit beschäftigt, eine seiner besten Zigarren zu rauchen. Außerdem hatte sich der Mann ein Glas Whisky-Soda eingeschenkt.

 

Stoover erhob sich und reichte auch dem Doktor ein Glas, bevor er sich wieder niederließ. Blanter tadelte dieses Benehmen in keiner Weise.

 

»Haben Sie Goodie getroffen?«

 

»Nein.«

 

Stoover verzog den häßlichen Mund.

 

»Der hat nicht mehr Verstand als ein Kaninchen«, sagte er verächtlich. »Er fragte mich, wozu wir den neuen Kasten brauchten – er sah, wie ich damit auf der Straße fuhr. Dem alten Teufel entgeht doch auch nichts.«

 

»Warum sind Sie denn auch damit auf die Straße hinausgefahren?«

 

»Ich wollte den Motor ausprobieren. Ich hatte das Flugzeug aufgeladen – es ist gestern geliefert worden. Und ich bin auf den Flugplatz gefahren und habe die Tragflächen montiert. – Von wo aus wollen wir denn abfliegen?«

 

»Von Goodies Landsitz aus. Ich wünschte nur, daß sein Haus in Sussex läge, dann hätten wir einen kürzeren Weg. Aber Goodies Wiesen liegen sehr einsam. – Wird denn das Flugzeug zwei Passagiere tragen?«

 

»Wie kann man einen solchen Unsinn fragen! Es gehen auch vier Leute hinein. Eine großartige Maschine!«

 

Die Freundschaft zwischen dem Doktor und diesem ungehobelten Diener hatte ihre besondere Veranlassung. Stoover wußte um manche dunkle Punkte in Blanters Leben und hatte mit ihm gemeinsam manche dunkle Tat begangen. Hätte Luke davon gewußt und Blanters Akten daraufhin noch einmal sorgfältig durchgelesen, so hätte er gemerkt, daß Stoover derselbe war, der damals mit Dr. Blanter zusammen vor Gericht stand. Nur mit knapper Not entging Blanter seinerzeit der Strafe; Stoover wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Aber Luke hatte keine Ahnung, daß es derselbe Mann war, der damals unter dem Namen ›John Ernest‹ verurteilt worden war und jetzt ein bequemes Leben in Blanters Haus führte.

 

Wenn Stoover betrunken war, sagte er gelegentlich dem Doktor, daß er ihm lebenslänglich Zuchthaus verschaffen könne.

 

»Wie steht es denn eigentlich mit dem Cambridgeshire-Rennen? Wird es klappen?« fragte der Diener und goß sich wieder eine Portion Whisky ins Glas.

 

»Goodie meint, es sei alles in Ordnung, seitdem wir diesen unverschämten Rustem an die Kette gelegt haben. Das war allerdings ein gemeingefährlicher Kerl.«

 

»Was wollen Sie denn mit ihm machen?«

 

Blanter hatte nicht die Absicht, allzuviel zu verraten.

 

»Das werden wir ja sehen. – Haben Sie alles für morgen vorbereitet?«

 

Stoover nickte.

 

»Ich habe einen französischen Chauffeur engagiert und auch das Transportauto gemietet. Vielleicht brauchen wir es aber gar nicht.«

 

»Das wird sich alles zeigen«, erwiderte Blanter kurz. »Also, ich verlasse mich auf Sie, Stoover. Sie müssen die Zeit richtig festsetzen. Sorgen Sie dafür, daß alles klappt, denn wenn die Sache schiefgeht …« Er zuckte mit den Schultern.

 

»Sie können sich auf mich verlassen. Soll ich in den Keller gehen und noch eine Flasche holen, oder wollen Sie es tun?«

 

»Da Sie mein Diener sind, wäre es wohl schicklich, daß Sie auch etwas täten für Ihr Geld«, entgegnete der Doktor gutmütig.

 

Dennoch erhob er sich selbst und ging hinunter. In den nächsten vierundzwanzig Stunden mußte er diesem Mann noch vertrauen; es lohnte sich daher, ihn in guter Stimmung zu halten.

 

Kapitel 1

 

1

 

Mr. Luke ging gemächlich die Lower Regent Street entlang und betrachtete den neuen, großen Gebäudeblock, der während seines Aufenthalts in Südamerika hier errichtet worden war.

 

Auf allen Fensterscheiben des ersten und zweiten Stocks waren zwei große lateinische T ineinander verschlungen, und um diese wand sich ein grünes Band, das unten durch einen Knoten zusammengehalten wurde.

 

Langsam ging ein Grinsen über seine Züge. Das sah alles so schön und solide aus; es wirkte nicht als aufdringliche Reklame. Die Leute hatten inzwischen etwas gelernt. Statt schreiender Plakate lenkten nur die beiden goldenen Buchstaben und das grüne Band die Aufmerksamkeit auf den allwissenden Joe Trigger und seine Transaktionen. Die Farbtöne waren vornehm auf die prachtvolle Marmorfassade abgestimmt. Dem Äußeren nach hätte das Geschäft ebensogut eine Bank oder eine Reederei sein können.

 

Luke nahm eine Tagessportzeitung aus der Tasche und schlug sie auf. Eine große Anzeige nahm die ganze vierte Seite ein:

 

 

 

 

 

Triggers Transaktionen Nr. 7 wird zwischen dem 1. und dem 15. September laufen.

 

 

Die eingeschriebenen Mitglieder werden gebeten, ihre Dispositionen vor dem 1. September zu treffen. Die Bücher werden am Nachmittag des 31. August geschlossen und nicht wieder geöffnet vor dem 16. September, mittags 12 Uhr.

 

Gentlemen von tadellosem Ruf, die die Mitgliedschaft zu erwerben wünschen, wollen sich bitte wenden an:

 

Das Sekretariat von Triggers Transaktionen, unter dem Zeichen des grünen Bandes, 704 Lower Regent Street, London W. 1

 

 

 

Luke las die fettgedruckten Worte, die einen so großen Raum einnahmen, faltete die Zeitung wieder zusammen, steckte sie ein und setzte seinen Weg fort. ›Gentlemen von tadellosem Ruf‹ – das war der Grundton und das Fundament von Mr. Triggers Firma. Es war bedeutend leichter, in einen exklusiven Klub im Westend einzutreten, als Mitglied der Triggerschen Organisation zu werden und eine Karteikarte in dessen Kartothek zu erhalten.

 

Luke gelangte zum Piccadilly Circus und überquerte den großen, belebten Platz. Als er auf der anderen Seite ankam, sah er auf die große Uhr eines Juwelierladens. Er war stolz darauf, daß er unbedingt pünktlich war – wohlverstanden mit einem Spielraum von fünf Minuten, der in der Riesenstadt London auch ganz erklärlich war.

 

Er ging zu einem Restaurant in der Wardour Street, das zur Abendzeit viele Gäste hatte, mittags aber verhältnismäßig wenig besucht war. Es gab nicht weniger als drei Eingänge zu diesem Lokal, und Mr. Luke kannte sie alle. Er wußte allerdings nicht genau, in welchen Raum er gehen sollte, aber ein Kellner, der ihn für den vierten erwarteten Teilnehmer einer kleineren Gesellschaft hielt, führte ihn zu der Tür des reservierten Zimmers.

 

Ohne anzuklopfen trat er ein. Die drei Leute, die um den runden Tisch saßen, sahen zu gleicher Zeit zu ihm auf. Der eine war ein Hüne mit rotem Gesicht, breiten Schultern und dichtem, grauem Haar. Der zweite war ebenso groß und machte einen düsteren Eindruck. Der dritte dagegen war klein und korpulent und hatte listige, schwarze Augen.

 

»Guten Tag, und Gott grüße diese edle Versammlung«, sagte Luke und schloß die Tür leise hinter sich. Dann setzte er sich auf den vierten, leeren Stuhl. »Rustem kann leider nicht kommen; sein Dampfer hat wegen des Nebels im Kanal einige Verspätung. Warum er sich nicht ausbooten ließ und auf dem Landweg nach London kam, kann ich allerdings nicht sagen. Wenn ich so viel Geld hätte wie er –«

 

»Zum Teufel, Luke, wer hat denn Sie eingeladen, hierherzukommen?« explodierte der große Mann mit dem roten Gesicht.

 

»Niemand, Doktor.«

 

Luke war hager und sonnengebräunt; er hatte eine schlanke, geschmeidige Gestalt und einen etwas melancholischen Gesichtsausdruck, aber lebhafte, freundliche Augen.

 

»Niemand hat mich eingeladen. – Hallo, Mr. Trigger«, wandte er sich an den kleinen, korpulenten Herrn, »wie geht es mit Ihren Transaktionen? Sie haben Ihr Büro ja in einen wunderbaren Palast verlegt. Beinahe wäre ich versucht gewesen, einzutreten und mich als Gentleman von tadellosem Ruf in Ihrem Sekretariat zu melden. Ich dachte, es könnte Ihnen angenehm sein, zu erfahren, daß ich aus dem goldenen Süden zurückgekehrt bin. Und was machen Sie, Goodie? Fahren Sie auch zum Rennen nach Doncaster? Sie machen ja ein Gesicht, als ob Sie von einer Beerdigung kämen.«

 

Der düstere Mr. Goodie sagte nichts, er sah nur von einem zum anderen, als ob er erwartete, daß seine Gefährten ihm zu Hilfe kämen.

 

»Dies ist ein Privatzimmer«, erklärte Dr. Blanter heftig und laut, während sein Gesicht dunkelrot wurde. »Ich will hier keine verdammten Polizeibeamten in meiner Nähe haben. Machen Sie, daß Sie hinauskommen!«

 

»Hier sitzen ein paar hübsche alte Sünder beisammen. Ich möchte nur wissen, wieviel Jähre Gefängnis oder Zuchthaus dabei herauskämen, wenn die Polizei alles wüßte«, erwiderte er freundlich. »Nun, was für eine wichtige Konferenz halten Sie hier ab? Sie setzen wohl das Rennprogramm von Doncaster auf? Welchen neuen Schwindel haben Sie vor, Trigger? Ich bin eben an Ihrem Büro in der Regent Street vorbeigekommen. Ein großartiges Geschäftszeichen haben Sie sich zugelegt – ein grünes Band und zwei goldene T. Tatsächlich eine gute Idee.«

 

Dr. Blanter, der seiner Haltung und seinem Auftreten nach der Leiter der kleinen Versammlung war, unterdrückte seinen Ärger.

 

»Nun hören Sie mal zu, Sergeant –«

 

»Inspektor, bitte«, unterbrach ihn Luke. »Ich bin inzwischen wegen außerordentlicher Leistungen befördert worden.«

 

»Entschuldigen Sie, Inspektor.« Dr. Blanter schluckte. »Ich will hier kein Aufsehen erregen, und es soll auch keinen Spektakel geben. Sie haben aber kein Recht, bei uns hier einzudringen. Ich möchte nichts mit Ihnen zu tun haben – Polizeibeamte sind ja gut und schön, wenn sie sich in ihren Grenzen halten –«

 

»Sie haben kein Heim, niemand mag sie leiden, und alle Leute wenden sich von ihnen ab«, entgegnete Mr. Luke traurig. »Waren Sie auf Urlaub?« fragte Mr. Trigger, um die Unterhaltung ein wenig liebenswürdiger zu gestalten.

 

»Ja, in Südamerika. Wirklich ein schönes Land, dort sollten Sie einmal hinfahren, Doktor.«

 

»Kann alles noch kommen«, erwiderte Dr. Blanter und zwang sich zu einem Lächeln. »Aber ich habe zuviel zu tun und kann mir solche Ferienreisen nicht leisten. Ich versuche meinen Lebensunterhalt schlecht und recht auf der Rennbahn zu verdienen, ebenso meine Freunde –«

 

»Wenn ich wollte, könnte ich auch von den Rennen leben«, warf Luke ein. »Ich könnte ja von Ihnen im Jahr eine Zahlung von tausend Pfund erhalten, wenn ich mich verpflichtete, ein Auge zuzudrücken.«

 

»Haben Sie beweisen können, daß ich oder einer von uns je in eine dunkle Affäre verwickelt war?« fragte der Doktor jetzt zornig. »Habe ich jemals ein Verbrechen begangen? Also, Luke, allmählich wird es mir aber zuviel, daß Sie hierherkommen und uns nicht nur stören, sondern obendrein noch in der gröbsten Weise beleidigen. Morgen werde ich mich an Ihre Vorgesetzten wenden!«

 

»Was haben Sie denn ausgefressen, daß Sie der Polizei beichten wollen? Wenn Sie in Schwierigkeiten geraten sollten, brauchen Sie nur meinen Namen nennen, dann ist alles in Ordnung.«

 

Dr. Blanter lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

 

»Was wollen Sie denn eigentlich?« fragte er resigniert.

 

Luke schüttelte den Kopf.

 

»Nichts Besonderes. Ich spiele nur zu gern den schwarzen Mann, vor dem sich die unartigen Kinder fürchten. Auf diese Weise führe ich manches schwarze Schaf wieder auf den Pfad der Tugend zurück. Ich dachte, Sie würden sich dafür interessieren, daß ich in London bin und meine Tätigkeit hier wieder aufgenommen habe. – Welches Pferd wird denn das Saint-Leger-Rennen gewinnen, Mr. Trigger?«

 

Der dicke Mann zwang sich zu einem Lächeln. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, aber er wischte sie nicht ab, weil er seine Verwirrung nicht zugeben wollte. Luke hatte ihn jedoch längst durchschaut.

 

»›Almond‹ hat meiner Meinung nach große Chancen«, entgegnete er leichthin. »In Beckhampton hält man sie für sehr aussichtsreich, und die Leute müssen es am besten wissen. Ich werde nicht mitwetten.«

 

»Das ist auch sehr klug von Ihnen. Das viele Wetten bei den Rennen ist tatsächlich ein Laster und ein Fluch. Dadurch sind schön viele Existenzen zugrunde gerichtet worden.«

 

Luke erhob sich von seinem Stuhl. »Was ist denn Transaktion Nummer 7? Ist das vielleicht ein Pferd von Goodie?«

 

Der düstere Mann schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Mr. Luke, wenigstens glaube ich es nicht. Mr. Trigger ist ein zu guter Freund von mir, als daß er Informationen geschäftlich ausnützte, die ich ihm unter der Hand geben kann.«

 

»Ach so, er ist ja auch ein Gentleman von tadellosem Ruf.«

 

Luke lächelte und schlenderte zur Tür. Dort blieb er noch einen Augenblick stehen.

 

»Ich bin also wieder da. Weiter wollte ich nichts sagen.«

 

Damit ging er hinaus und schloß die Tür geräuschlos.

 

Die drei schwiegen eine Weile.

 

»Trigger, sehen Sie doch einmal draußen nach«, bat der Doktor schließlich.

 

Der dicke Mann schaute sich auf dem Korridor um, ob Luke vielleicht stehengeblieben war und lauschte.

 

»Dort geht er eben über die Straße«, rief Mr. Goodie, der aus dem Fenster sah und die Straße unten beobachtete.

 

»Also, schließen Sie die Tür wieder und setzen Sie sich. Ich möchte nur wissen, warum er hergekommen ist!« Blanter war immer noch in großer Aufregung. »Der kann einen tatsächlich krank machen!«

 

»Rustem ist also noch nicht zurückgekommen?« fragte Trigger. »Sein Bürovorsteher sagte, daß er ihn heute morgen erwartete. Nur schade, daß wir ihn nicht vorher angerufen haben.«

 

Dr. Blanter machte eine abwehrende Handbewegung. »Wir wollen jetzt endlich zur Sache kommen. Also, wie steht es mit dem Pferd, Goodie?«

 

Die drei hatten dann noch eine ernste, lange Unterhaltung, bei der sie nicht mehr gestört wurden.

 

Kapitel 10

 

10

 

Dr. Blanter begab sich nach Scotland Yard, um sich zu beschweren, erreichte aber nur, daß Luke ihm unter vier Augen eindeutig die Meinung sagte. Der Inspektor wußte, daß dieser Mann vor nichts zurückschreckte und in mehrere häßliche Verbrechen verwickelt war.

 

Luke erinnerte sich dann plötzlich an etwas, das ihm ein Kollege am Morgen gegeben hatte. Er steckte die Hand in die Westentasche, nahm ein kleines Stück weiße Kreide heraus und legte es auf den Tisch.

 

»Hier haben Sie ein kleines Andenken, ein Maskottchen, wenn Sie wollen.«

 

Blanter sah düster darauf.

 

»Es ist das Stück Kreide, das der Henker heute morgen bei der Hinrichtung des Highbury-Mörders gebraucht hat. Der Henker macht einen Strich, wo der Verurteilte die Füße hinstellen muß, bevor sich der Boden in die Tiefe senkt. Behalten Sie es, vielleicht bringt es Ihnen Glück. Wir finden schon noch ein anderes Stück Kreide, wenn die Reihe an Sie kommt.«

 

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Blanter starrte auf das kleine weiße Ding, und sein Gesicht zuckte vor Furcht und Schrecken. Er erhob sich und schob den Stuhl zurück.

 

»Nehmen Sie es nur ruhig. Ich würde es auch Goodie zeigen, der ist ein genauso gemeiner Schuft wie Sie.« Luke ging zur Tür und öffnete sie. »So, und jetzt machen Sie, daß Sie hinauskommen!«

 

Dr. Blanter sann auf Rache und überlegte, wie er Luke am schwersten treffen könnte. Auch dieser Mann mußte irgendwie verwundbar sein. Mehrfach hatte der Arzt von der Freundschaft des Inspektors mit Miss Gray gehört, und er beschloß, sich einmal genauer zu erkundigen.

 

Kapitel 11

 

11

 

Tommy Dix, ein Veteran unter den Jockeis, war stolz auf seine lange Verbindung mit dem Turf und lebte das typische Leben eines Rennreiters. Er kannte auch Mr. Goodie, und eines Sonntagmorgens kam er nach Berkshire, um ›Weiße Lilie‹ bei der Morgenarbeit zu prüfen. Mr. Goodie war bei der Gelegenheit zugegen. ›Weiße Lilie‹ gewann nur um eine Halslänge vor einem anderen, ziemlich gewöhnlichen Gaul, und als Tommy aus dem Sattel stieg, kam Mr. Goodie zu ihm.

 

»Nun, was meinen Sie? Ist das Pferd gut genug, daß es das Rennen in Cambridgeshire gewinnen kann?«

 

Tommy sah auf ›Weiße Lilie‹, dann auf Mr. Goodie.

 

»Hat der Sattel das Normalgewicht?«

 

Goodie nickte.

 

»Dann haben Sie keine Aussichten«, erklärte Tommy.

 

Er war ein wenig erstaunt. Auf dem Weg zum Start hatte er den Sattel untersucht, aber kein Bleigewicht entdecken können. Es kam häufig vor, daß Trainer die Jockeis nicht ins Vertrauen zogen, und da Tommy Dix den Ruf Goodies kannte, hatte er erwartet, daß Goodie den Sattel schwerer gemacht hätte. Seiner Meinung nach hatte das Pferd keine Aussicht zu gewinnen.

 

Dem Jockei war es ganz gleich, wer das Pferd beim Cambridgeshire-Rennen reiten sollte. Es war nun einmal klar, daß von den vielen Pferden, die bei einem solchen Rennen starteten, nur eins gewinnen konnte. Er machte einen schwachen Versuch, aus dem Vertrag auszusteigen, aber Mr. Goodie erklärte ihm sofort, daß er ihn nicht aus dem Kontrakt entlassen würde. Und die oberste Rennbehörde war in diesem Punkt auch sehr scharf. Wenn ein Jockei einen Vertrag abschloß, mußte er ihn unter allen Umständen einhalten, sonst konnte es ihn die Lizenz kosten.

 

Mr. Goodie wartete, bis der Jockei in seinem Auto fortgefahren war und man in der Ferne nur noch eine Staubwolke sah. Dann gab er Jose den Befehl, den Sattel abzunehmen. Jose war ein starker Mann und konnte infolgedessen leicht den Sattel heben, der auf Anordnung Goodies besonders hergestellt worden war. In den Sitz war eine schwere Bleiplatte eingearbeitet. ›Weiße Lilie‹ hatte bei dem Galopp tatsächlich einen zu schweren Sattel getragen.

 

Tommy fuhr nach London zurück, und als er durch die Vorstädte kam, hielt er vor dem Hause eines bekannten Buchmachers. Es war eine bedauernswerte Tatsache, daß Jockeis und Buchmacher häufig zusammenkamen.

 

»Nun, wie ist ›Weiße Lilie‹ gelaufen?«

 

»Auf das Pferd können Sie ruhig Wetten annehmen, dabei verlieren Sie nichts. Der Gaul gewinnt das Cambridgeshire-Rennen nicht.«

 

Es war Tommys größter Fehler, daß er den Mund nicht halten konnte. In wenigen Tagen wußten alle Leute in Newmarket, die es wissen wollten, ebenso die meisten Berichterstatter in der Fleet Street in London, daß ›Weiße Lilie‹ für einen Sieg beim Cambridgeshire-Rennen nicht in Betracht kam.

 

›Ich hoffe, daß sie noch bedeutend aufholt‹, schrieb Mr. Goodie am nächsten Tag an Tommy Dix. ›Sie wird immer besser, und ich hoffe, daß sie schnelle Fortschritte macht.‹

 

Tommy las den Brief und machte eine unfreundliche Bemerkung.

 

*

 

Auch Edna Gray hatte den Galopp am Sonntag morgen gesehen. Sie hatte einen großen Ritt über die Wiesen und Felder gemacht und war gerade zu dem Trainingsfeld gekommen, als Tommy Dix startete. Sie verstand nicht viel von Rennen, aber sie war doch der Ansicht, daß der Mann im Sattel außerordentlich viel konnte.

 

Schließlich ritt sie weiter und wählte zum Abstieg einen steilen, ziemlich gefährlichen Pfad. Sie kam am Eingang der Perrywig-Höhlen vorbei, ließ ihr Pferd halten und schaute auf die große, düstere Öffnung. Über das schwere Tor hinweg suchte sie mit ihren Blicken die Dunkelheit zu durchdringen, aber sie sah nichts als eine Felswand, die die Höhle in verhältnismäßig kurzer Entfernung abschloß. Sie hatte gehört, daß man durch ein Labyrinth von Gängen meilenweit unter der Erde vordringen könne und die Hügel vollkommen unterminiert seien.

 

Sie trieb das Pferd ein paar Schritte vor, dann hielt sie wieder. Es war deutlich zu sehen, daß hier ein Picknick stattgefunden hatte; die Reste der Mahlzeit – Apfelsinenschalen, Hühnerknochen und ein paar Stück Brot – waren hinter einen Strauch geworfen worden.

 

Luke hatte versprochen, am Sonntag zum Mittagessen zu erscheinen, und als sie nach Hause kam, war sie angenehm überrascht, ihn in einem großen Korbstuhl in der Sonne sitzend bereits anzutreffen.

 

»Sie haben also den Geist auch gehört?« begrüßte er sie und machte nicht einmal Anstalten, sich zu erheben. Er hatte wirklich sehr schlechte Manieren. »Sind Sie jetzt endlich so vernünftig geworden, daß Sie mit mir in die Stadt kommen?«

 

Er erhob sich endlich, als sie näher kam.

 

»Die Ratten sind, wie ich gehört habe, vollkommen verschwunden. Rustem und Goodie haben viel Zeit und Geld nutzlos verschwendet. – Begleiten Sie mich in die Stadt?«

 

»Warum denn?«

 

»Es ist doch ein furchtbar einsames Leben hier für eine hübsche junge Dame. Übrigens – mir ist etwas sehr Dummes passiert.«

 

Er folgte ihr in die Halle und ließ sich dazu herbei, ein Kissen für sie in einen Sessel zu legen.

 

»Es ist ja erstaunlich, daß Sie solche Geständnisse machen. Was haben Sie denn getan?«

 

»Irgendein Unbekannter hat mich gestern angeläutet und gefragt, ob ich Sie kenne. Als ich das bestätigte, sagte er eine Gemeinheit über Sie. Es war natürlich eine grobe Erfindung, die in ganz bestimmter Absicht ausgesprochen wurde, und ich bin auch sofort darauf hereingefallen und habe mich furchtbar aufgeregt. Weiter wollte der Mann nichts. Er legte schon auf, als ich merkte, wie dumm ich mich benommen hatte.«

 

Sie sah ihn groß an.

 

»Das verstehe ich nicht.«

 

»Ist es nicht schlimm, wenn man sich durch einen so einfachen Trick fangen läßt? Ich muß sagen, daß ich mich schäme.«

 

»Aber was bedeutet das alles? Welche Gemeinheit hat er gesagt?«

 

»Darauf kommt es im Augenblick nicht an. Der Mann wollte vor allem wissen, ob ich mich genügend für Sie interessiere, um bei der ersten gemeinen Bemerkung über Sie in Wut zu geraten und er hat tatsächlich sein Ziel erreicht.«

 

Bevor sie etwas erwidern konnte, sprach er weiter.

 

»Wenn ich sage, daß ich mich genügend für Sie interessiere, dann soll das nicht heißen, daß ich mich hoffnungslos in Sie verliebt habe. Es bedeutet nur, daß ich Sie gern habe. Zwischen diesen beiden Zuständen besteht ein großer Unterschied.«

 

»Das hoffe ich auch«, entgegnete sie kühl.

 

»Wenn dieser Mann zum Beispiel glaubt, er könne mich dadurch treffen, daß er Ihnen ein Leid antut, dann ist das für mich sehr wichtig. Ich muß also dafür sorgen, daß er nicht an Sie herankommt. Doktor Blanter ist ein Mann, mit dem Sie nicht zusammentreffen dürfen.«

 

Sie wandte sich schnell zu ihm und verbarg ihren Ärger nicht.

 

»Sie hätten das vielleicht ein wenig taktvoller sagen können, Mr. Luke«, erwiderte sie ungnädig. »Er mag ein unangenehmer Mensch sein, aber ich habe Ihnen doch nicht das Recht eingeräumt, zu bestimmen, mit wem ich zusammentreffen soll oder nicht. Es tut mir leid, daß Sie sich eine ganz falsche Stellung anmaßen. Sie sind zuvorkommend und liebenswürdig zu mir gewesen, das will ich gern anerkennen, aber ich kann nicht dulden, daß Sie so tun, als ob Sie für mich verantwortlich wären. Das ist nicht nur peinlich, sondern geradezu empörend.«

 

Er antwortete nicht gleich, sah sie aber sehr ernst an.

 

»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte er nach einem langen Schweigen. »Sie müssen schon entschuldigen, daß meine Manieren nicht gerade die besten sind. Es tut mir leid.«

 

Sie bereute sofort, daß sie so vorschnell gewesen war, aber sie nahm sich zusammen und ließ sich nichts von ihrer Reue anmerken. Sie hatte einen kleinen Sieg über ihn davongetragen, allerdings nicht ohne Opfer. In gewisser Weise hatte sich seine Haltung ihr gegenüber vollkommen geändert.

 

Während des Essens gab sie sich Mühe, wieder das alte vertrauliche Verhältnis herbeizuführen, das jedenfalls weit erträglicher war als dieses absolut korrekte und respektvolle Benehmen, das er jetzt zeigte. Schließlich machte sie ihm Vorwürfe, daß er in schlechter Stimmung sei.

 

Er lachte.

 

»Hoffentlich haben Sie unrecht. Aber in den Männern kennt man sich nie aus; sie sind eitle Geschöpfe, die sehr leicht etwas übelnehmen. – Haben Sie noch etwas von den großen schwarzen Hunden gesehen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sehen Sie sich die Tiere genauer an, wenn Sie wieder Gelegenheit dazu haben. Fürchten Sie sich nicht vor ihnen?«

 

»Vor Hunden fürchte ich mich nicht.«

 

Er blieb nach Tisch noch eine Stunde, und sie hätte nie geglaubt, daß er ein so guter Gesellschafter sein könnte. Als er gegangen war, blieb sie mit einem Gefühl der Verlassenheit zurück. Sie war mit sich, mit ihm, mit ihrem Haus und ihrem ganzen Leben unzufrieden, und sie fürchtete sich fast vor dem einsamen Abend, der ihr bevorstand.

 

Sie klingelte ihrer Zofe.

 

»Packen Sie meinen Koffer und rufen Sie das Carlton-Hotel an, daß Zimmer für mich reserviert werden. Dann sagen Sie dem Chauffeur, daß ich heute abend noch nach London fahren will.«

 

Zum erstenmal seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft teilte sie Luke nicht mit, daß sie in die Stadt kam.

 

London ist an einem regnerischen Sonntagabend eine langweilige Stadt, selbst wenn man in einem so eleganten Hotel wohnt. Nicht einmal ins Theater konnte sie gehen, und sie legte sich deshalb frühzeitig zur Ruhe, enttäuscht von sich und der ganzen Welt. Am liebsten hätte sie weinen mögen.

 

Kapitel 12

 

12

 

Luke arbeitete am nächsten Morgen in seinem Büro, als sein Assistent ihm meldete, daß ihn ein Mann sprechen wolle.

 

»Er sieht aus wie jemand, der Ihr Mitleid erregen will.«

 

»Bringen Sie ihn herein.«

 

Er wandte sich in seinem Schreibtischsessel um und betrachtete den heruntergekommenen kleinen Mann, der an der Tür stand und seine schmutzige, alte Mütze zwischen den Fingern drehte.

 

»Hallo, Punch! Treten Sie näher.«

 

Er nickte seinem Assistenten zu, daß er gehen solle.

 

Punch sah noch etwas abgerissener aus als bei ihrer letzten Begegnung in Doncaster. Allem Anschein nach hatte er in der letzten Zeit in seinen Kleidern geschlafen.

 

»Mr. Luke, ich bin von Newbury zu Fuß hergekommen. Ich erhielt dort keine Eintrittskarte. Wenn ich auf dem Rennen gewesen wäre und nur ein paar Shilling hätte leihen können, hätte ich gewettet und gewonnen. Der alte Goodie war auch dort. Als ich ihn um etwas Geld bat, schimpfte er furchtbar und sagte, ich solle mich zum Teufel scheren. Trigger hätte mir das Geld gegeben, der ist kein schlechter Kerl. Ich habe ihm schon ein paarmal einen Dienst erwiesen, als er noch nicht so berühmt und reich war, und er hat mich immer gut bezahlt.«

 

»Also, Punch, Sie sind doch sicher nicht hergekommen, um mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Was wollen Sie?«

 

Der Mann feuchtete die trockenen Lippen an.

 

»Ich habe seit gestern nichts mehr zu essen gehabt.«

 

»Und nichts mehr zu trinken seit heute morgen.«

 

Punch schüttelte den Kopf.

 

»Ich bin ganz heruntergekommen, Mr. Luke. Mehr als hunderttausend Pfund sind durch meine Hände gegangen, und ich habe alles vertrunken. Erst vor einem Monat habe ich eingesehen, daß das eine große Dummheit von mir war. Es handelt sich nicht so sehr darum, daß man ein ehrliches Leben führt, als daß man nüchtern bleibt. Und ich weiß, Sie überlegen es sich nicht lange, wenn es sich darum handelt, einem armen Kerl zu helfen, der ein neues Leben anfangen will.«

 

»Sie haben früher schon mehrmals eine Chance gehabt.«

 

Punch nickte.

 

»Gewiß«, entgegnete er bitter. »Deshalb habe ich auch kaum noch Aussicht, in die Höhe zu kommen. Alle Leute sind bereit, mir einmal zu helfen, aber nicht zweimal. Wenn man Gewohnheitstrinker wird, ist man ganz erledigt – dann bekommt man nicht einmal mehr Geld zum Essen. Aber ich mache keinem einen Vorwurf, nur mir selbst. Niemand glaubt mir, wenn ich sage, daß ich jetzt das Trinken aufgegeben habe.«

 

Luke sah ihn nachdenklich an.

 

»Ich möchte nur wissen, ob man Ihnen trauen kann. Auf jeden Fall will ich es noch einmal mit Ihnen versuchen, Punch. Aber wenn Sie diesmal Ihr Wort nicht halten, ist es aus. Dann brauchen Sie nicht mehr zu mir zu kommen.«

 

Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte ihm zwei Fünfpfundnoten.

 

»So, nun baden Sie, kaufen Sie sich anständige Kleidung und verbrennen Sie die Lumpen, in denen Sie herumlaufen. Dann suchen Sie sich ein Zimmer. Heute nachmittag melden Sie sich bei mir, aber sprechen Sie nicht weiter darüber.«

 

Punch war fast sprachlos vor Freude.

 

»Ich wollte Ihnen noch sagen, Mr. Luke, daß ›Weiße Lilie‹ keine Aussichten beim Cambridgeshire-Rennen hat. Tommy Dix hat das Pferd geritten; ich habe heute morgen einen meiner früheren Kollegen getroffen, der hat es mir gesagt. Ich habe auch gar nicht verstanden, warum der Gaul beim Cambridgeshire-Rennen gemeldet wurde.«

 

»Schon gut«, erwiderte Luke ungeduldig. »Melden Sie sich heute nachmittag in meiner Wohnung.«

 

Punch verließ das Zimmer.

 

Nachdem er gegangen war, nahm Luke drei blaue Mappen mit der Aufschrift ›Das grüne Band‹ aus einer Schublade und fügte den Akten ein paar Bemerkungen über Mr. Trigger hinzu. Dann las er, mindestens zum zwanzigsten Male, die wenigen Einzelheiten, die Scotland Yard über diesen Mann bekannt waren.

 

Die Akten über Dr. Blanter waren viel wichtiger; sie enthielten Zeitungsausschnitte über zwei gerichtliche Leichenschauverhandlungen, dann einen Bericht über eine Verhandlung vor der Ärztekammer, ferner eine Anzahl von Briefen, die meistens anonyme Anzeigen waren. Ein fortlaufender Bericht über die Aufenthaltsorte des Doktors lag vor, aber daraus konnte Luke im Augenblick wenig Brauchbares entnehmen. Man glaubte im allgemeinen in Scotland Yard, daß der Arzt mit verschiedenen Verbrecherbanden in Verbindung stand.

 

Dr. Blanter zahlte gut und hatte daher immer Männer und Frauen an der Hand, die bei irgendeiner Gelegenheit Aufträge für ihn ausführten. Dazu gehörten auch die Angestellten von verschiedenen Nachtklubs, die er finanziert hatte. In der Verbrecherwelt kannte man ihn als einen Mann, der das nötige Geld für die Verteidigung aufbrachte, wenn seine Helfer vor Gericht gestellt wurden. Er hatte daher viele Anhänger, auf die er sich im Fall der Not verlassen konnte.

 

Luke unterschätzte die Bedeutung des Mannes in keiner Weise und hatte gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Dr. Blanter hatte keine Ahnung, daß er beobachtet wurde.

 

*

 

Am Montag morgen lief ein langes Telegramm bei Dr. Blanter ein, das ihm ein Agent aus Südamerika gesandt hatte. Er las es durch, lernte es dann Wort für Wort auswendig und vernichtete das Formular. Ein paar Minuten später, nachdem er sich verschiedenes überlegt hatte, rief er eine junge Dame an, die in Bayswater wohnte. Sie antwortete ihm recht unhöflich, denn sie war in ihrem Morgenschlaf gestört worden.

 

»Hier ist der Doktor. Ich brauche Sie, Maggie. Kommen Sie um halb zwölf zu mir, ich muß Sie sprechen.«

 

»Es tut mir unendlich leid, Blanter, ich erkannte Ihre Stimme nicht«, entschuldigte sie sich. »Ich bin sofort bei Ihnen.«

 

Diese junge Dame führte den stolzen Bühnennamen ›Ruby de Vinne‹, obwohl sie nur ab und zu in einer winzigen Rolle auftrat. Aber sie war bildhübsch, jung und temperamentvoll.

 

Pünktlich um halb zwölf Uhr erschien sie.

 

»Ach, Doktor, Sie haben mich heute morgen so erschreckt! Ich dachte, mein Freund wäre aus Deutschland zurückgekommen.« »Maggie, mein Liebling, hören Sie zu. Ich habe einen Auftrag für Sie.«

 

Sie nickte. Sie hatte schon früher Aufträge für ihn erledigt, und er hatte sie jedesmal sehr gut bezahlt. Geizig war er nicht. Leute, die für ihn gearbeitet hatten, wollten gern weiter für ihn tätig sein.

 

»Sie sprechen doch spanisch?«

 

»Wie eine Spanierin«, behauptete sie.

 

»Nun gut, Sie können also ein paar Worte sprechen, das ist alles, was ich brauche. Sie sind in Südamerika als Kabarettsängerin auf Tournee gewesen?«

 

»Ja, ich war für Gastspielreisen engagiert«, entgegnete sie prompt, »oder vielmehr die Truppe, zu der ich gehörte. Ich war die Leiterin.«

 

»Vergessen Sie das alles jetzt einmal und hören Sie gut zu. Sie sind früher einmal mit Ihrem Vater, einem Oberst, nach Buenos Aires gefahren und während Ihres dortigen Aufenthaltes auch Edna Gray vorgestellt worden. Ich werde Ihnen noch alle Einzelheiten darüber geben, wo sie lebte und so weiter. Sie müssen auch das Hotel kennen, in dem sie in Buenos Aires wohnte, ebenso ihre Schneiderin. Das ist übrigens ein guter Gedanke – Sie haben Edna Gray bei ihrer Schneiderin kennengelernt. Alle drei Monate kam sie in die Hauptstadt, und es ist sehr wohl möglich, daß Sie sie dort getroffen haben. Jetzt wohnt sie im Carlton-Hotel. Sie müssen sich mit ihr in Verbindung setzen, aber es muß so arrangiert werden, daß es wie ein Zufall aussieht. Sie speist gewöhnlich dort zu Mittag, wenn sie in London ist, und sie hält sich augenblicklich hier auf. Sie müssen sich mit ihr anfreunden, aber seien Sie nicht zu stürmisch. Laden Sie die Dame ins Theater ein. Ich besorge Ihnen eine Loge für die neue Revue. Sie brauchen mich nur beizeiten telefonisch zu verständigen, für welchen Abend ich Karten beschaffen soll, Haben Sie anständige Kleider?«

 

Miss de Vinne war im Augenblick sehr gut ausgestattet.

 

»Nehmen Sie Miss Gray aber nicht in eins dieser Nachtlokale mit, in denen Sie verkehren. Laden Sie sie ins Ritz oder ins Berkeley-Hotel zum Mittagessen ein. Und nehmen Sie sich zusammen, daß Sie nicht Londoner Dialekt sprechen. Heute nachmittag kommen Sie wieder, dann erörtern wir das Weitere. Hier haben Sie vorläufig einmal fünfzig Pfund für kleine Auslagen. Wenn das Geld aufgebraucht ist, können Sie weitere fünfzig von mir haben.«

 

Miss de Vinne fand sich schnell in die Rolle hinein, die sie zu spielen hatte. Am Nachmittag erschien sie zur festgesetzten Zeit. Dr. Blanter instruierte sie eingehend und war mit ihren Antworten auf seine Fragen sehr zufrieden.

 

»Ich möchte Ihnen noch eine andere wichtige Sache einschärfen«, meinte er schließlich. »Luke von Scotland Yard ist mit ihr befreundet – die beiden kamen auf demselben Dampfer nach England. Dort hat er sie wahrscheinlich auch kennengelernt.«

 

»Luke? Der kennt mich, er hat mich ja in Scotland Yard wegen der Pyrock-Geschichte verhört. Ich hatte natürlich nicht die geringste Ahnung, aber er hat mich sechs Stunden lang kreuz und quer gefragt, bis ich schließlich nicht mehr wußte, ob ich Männlein oder Weiblein war.«

 

»Sie müssen es so einrichten, daß Sie nicht mit ihm zusammenkommen. Wenn Ihnen das gelingt, ist die Sache ziemlich einfach. Sehen Sie vor allem zu, daß Miss Gray Sie in ihr Landhaus Longhall einlädt. Und Sie heißen natürlich nicht ›Ruby de Vinne‹, sondern ›Maggie Higgs‹. Das ist ja auch Ihr richtiger Name.«

 

Damit war sie nicht sehr einverstanden.

 

*

 

Die Bekanntschaft war ziemlich schnell gemacht. Edna ging am Abend ins Theater, und als sie in der Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Akt in die Halle kam, trat plötzlich eine glänzend gekleidete junge Dame auf sie zu, deren Brillantarmbänder schon von weitem in den Strahlen der großen Kronleuchter blitzten.

 

»Ach, sind Sie nicht Miss Edna Gray?« fragte die junge Dame lebhaft. »Aber ganz gewiß, ich habe Sie sofort wiedererkannt!«

 

Edna war erstaunt, aber angenehm berührt.

 

»Ja, so heiße ich.«

 

»Können Sie sich nicht auf mich besinnen? Aber warum sollten Sie auch! Ich habe Sie ja nur ein einziges Mal getroffen. Sie kennen doch Señora Rugatti in Buenos Aires? Sie kamen damals von der Estanzia Ihres Onkels. Erinnern Sie sich nicht? Sie waren so furchtbar müde!«

 

Edna schüttelte den Kopf und lächelte freundlich.

 

»Nein, ich kann mich nicht darauf besinnen, aber ich bin oft nach Buenos Aires gekommen und habe mich müde gefühlt.«

 

»Ach, ich freue mich so, daß ich Sie hier wiedersehe«, erwiderte Maggie Higgs strahlend. »Ich bin für ein bis zwei Monate in London und war schon neugierig, ob ich wohl eine Bekannte hier treffen würde. Ich fühle mich hier sehr einsam. Mein Vater ist nach Afrika zu seinem Regiment zurückgekehrt.«

 

Edna war angenehm überrascht, hier eine Bekannte aus Südamerika zu treffen. Sie plauderten noch ein paar Minuten, bis es klingelte, und kehrten dann zu ihren Plätzen zurück. Nachdem das Stück zu Ende war, fand Edna Miss Higgs in der großen Halle, wo sie auf sie wartete.

 

»Wo wohnen Sie? Darf ich Sie in meinem Wagen mitnehmen? Er wartet hier in der Nähe des Theaters.«

 

Sie speisten in einem eleganten Restaurant zu Abend und verabredeten sich dann für den folgenden Tag.

 

Maggie meldete sich triumphierend bei Dr. Blanter in der Half Moon Street. Stirnrunzelnd hörte er ihr zu und schien von ihrem Bericht nicht gerade sehr angenehm berührt zu sein.

 

»Schade, daß Sie in einem öffentlichen Lokal gespeist haben. Morgen erzählen Sie ihr, daß Sie auch ins ›Carlton‹ ziehen. Mieten Sie dort ein Appartement und nehmen Sie Ihre Mahlzeiten nicht im großen Speisesaal ein.«

 

*

 

Im gleichen Augenblick telefonierte ein junger Mann in Abendkleidung mit Mr. Luke.

 

»Können Sie sich noch auf Ruby besinnen? – Ja, das ist dieselbe wie Maggie – Higgs, ja, das ist ihr eigentlicher Name. Sie hat sich mit Miss Gray angefreundet. Sie waren zusammen im Theater und sind dann zum Abendessen gegangen. Die junge Dame ist darauf sofort zu Doktor Blanters Wohnung gefahren. Dort ist sie noch. Haben Sie weitere Aufträge für mich?«

 

»Holen Sie midi morgen früh hier ab«, entgegnete Luke ruhig. »Wenn Maggie ins ›Carlton‹ ziehen sollte, nehmen Sie dort auch ein Zimmer. Ich komme für die Auslagen auf. Wenn ich mir die Sache recht überlege, ist es am besten, Sie folgen Maggie bis nach Hause.«

 

Um zwei Uhr morgens fuhr Miss Higgs zu ihrer schönen Wohnung in Bayswater, ohne zu wissen, daß sie beobachtet wurde.

 

*

 

Als Dr. Blanter am nächsten Morgen beim Frühstück saß, meldete ihm sein Diener, daß er dringend am Telefon verlangt werde.

 

»Sagen Sie dem Kerl, er soll sich zum Teufel scheren«, brummte der Doktor, der in der Nacht nicht gut geschlafen hatte. »Wer ist es denn?«

 

»Mr. Luke.«

 

Der Doktor legte sofort Messer und Gabel hin und ging in sein Arbeitszimmer.

 

»Sind Sie am Apparat, Blanter? Hier ist Luke.«

 

»Nun, was wünschen Sie?« fragte der Doktor ärgerlich.

 

»Lassen Sie diese Higgs aus dem Spiel und sorgen Sie dafür, daß sie Miss Gray nicht mehr belästigt, sonst erleben Sie eine recht unangenehme Überraschung.«

 

Dr. Blanter atmete schwer.

 

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, sagte er nach einer Pause. »Wer ist denn überhaupt ›Higgs‹?«

 

»Stellen Sie sich doch nicht dumm! Ich gebe Ihnen nur einen guten Rat«, erwiderte Luke eisig und legte auf.

 

Nachdenklich kehrte Blanter zum Frühstückstisch zurück.

 

*

 

Edna wartete umsonst auf Miss Higgs, die sie um elf Uhr abholen wollte, um mit ihr Einkäufe zu machen und dann gemeinsam mit ihr zu Mittag zu speisen. Es wurde halb zwölf und zwölf Uhr, und noch immer zeigte sich Miss Higgs nicht. Edna war erstaunt und nicht wenig enttäuscht. Wenn sie auch gerade keine große Zuneigung zu dieser neuen Freundin gefaßt hatte, die ihr über den Weg gelaufen war, so hatte sie sich doch auf einen angenehmen Tag in der Gesellschaft einer Frau gefreut. Kurz vor dem Essen kam ein Telegramm aus Deutschland. Mr. Garcia hatte sich entschlossen, eine Erholungsreise durch Südeuropa zu machen, und bat sie, ihm unter der Adresse des Argentinischen Konsulates in Istanbul zu schreiben. Hätte er ihr die Reiseroute mitgeteilt oder eine Adresse angegeben, an die sie hätte telegrafieren können, so würde sie sofort ihre Koffer gepackt haben und mit ihm gereist sein. Statt dessen fuhr sie spät am Nachmittag nach Longhall zurück. Sie fand aufs neue, daß der Aufenthalt auf dem Land noch weniger unterhaltend für eine alleinstehende junge Dame war als das Leben in der Stadt, und sie überlegte sich ernsthaft, ob sie nicht nach Argentinien zurückkehren sollte.

 

Kapitel 13

 

13

 

Als Edna Gray eines Morgens von ihrem Ritt zurückkam, hatte sie ein merkwürdiges Erlebnis. Sie hatte durch die Wiesen einen neuen Weg gefunden, der über einen leichten Abhang führte. Er wurde wenig benützt, und sie Bog gerade um einen grünen Hügel herum, als sie zwei Leute entdeckte, die eine Grube aushoben. Die Arbeiter sahen sie düster an, als sie näher heranritt, und beantworteten ihren freundlichen Gruß nur brummend.

 

Die Grube befand sich auf Mr. Goodies Gelände. Edna setzte ihren Weg fort und dachte nicht weiter über die Sache nach. Alles, was mit Bauen zusammenhing, erschien ihr geheimnisvoll.

 

Lane kam am selben Abend zu ihr, weil einige Rechnungen bezahlt werden mußten.

 

»Hat Mr. Goodie Ihnen mitgeteilt, daß er auf Ihrem Besitz einen Bau errichten will, Miss Gray?« fragte er. »Wie ich sehe, sind ein paar Arbeiter damit beschäftigt, auf dem Heideland eine Grube auszuheben. Ich weiß nicht, welche Bedingungen in dem Pachtvertrag stehen, aber ich glaube doch, daß er ohne Ihre Erlaubnis kein Gebäude errichten darf.«

 

»Ich werde mich einmal mit der Sache befassen, Mr. Lane«, sagte sie, obwohl sie nicht ernstlich diese Absicht hatte.

 

Am Abend erhielt sie jedoch eine Erklärung für die seltsame Betriebsamkeit. Es war beinahe dunkel, als sie mit ihrem kleinen Auto noch eine Fahrt durch das Gelände machte. Unglücklicherweise hatte sie einen Weg eingeschlagen, der von den Landleuten nur mit Ackerwagen benützt wurde. Als es ganz finster geworden war, blieb zu ihrer Bestürzung der Motor stehen.

 

Sie stieg aus und hatte bald die Ursache herausgefunden. Unvorsichtigerweise hatte sie vor Beginn der Fahrt den Tank nicht auffüllen lassen. Sie befand sich jedoch nur etwa fünf Kilometer von ihrem Haus entfernt, und da sie einen guten Orientierungssinn hatte, konnte sie den Weg finden, ohne jemanden fragen zu müssen. Sie ließ also den Wagen stehen und setzte ihren Weg zu Fuß fort. Es war vollkommen dunkel, als sie den südlichen Abhang hinunterstieg. Sie bemerkte, daß zwischen der Straße und den Hügeln ein sonderbarer Wagen stand, den sie nach den Scheinwerfern für ein Lastauto hielt.

 

Kaum war ihr diese Tatsache bewußt geworden, als sie jemand kommen hörte. Sie wich in den Schatten eines Gebüsches zurück, obwohl kein Grund vorlag, sich zu fürchten. Sie vernahm auch Hufschlag. Wahrscheinlich war es einer von Goodies Leuten, der ein Pferd des Weges führte. Von Natur aus war sie nicht nervös, aber sie fühlte, wie ihr Herz schneller schlug und ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief.

 

Jetzt erkannte sie die Gestalten – es war Goodie selbst, der ein Pferd führte. In einer Entfernung von sechs Meter kam er an ihr vorüber und ging zu der Stelle, wo die beiden Arbeiter die Grube ausgehoben hatten. Selbst in der Dunkelheit konnte sie die helle, kreidige Erde sehen, die die Leute aufgetürmt hatten. Dort hielt Goodie mit dem Pferd an. Edna strengte ihre Augen an und beobachtete, daß das Pferd direkt am Rand der Grube stand. Goodie nahm einen großen Gegenstand aus der Tasche. Sie interessierte sich jetzt so sehr für den Vorgang, daß sie ihre Nervosität vollständig vergaß.

 

Gleich darauf fiel ein Schuß, der so laut dröhnte, als ob ein schweres Eisentor plötzlich mit aller Wucht ins Schloß geworfen würde. Das Pferd stürzte nieder und verschwand. Ednas Herz schlug wild, als ihr zum Bewußtsein kam, was geschehen war. Goodie hatte das Pferd erschossen; die Arbeiter hatten zu diesem Zweck die tiefe Grube ausgehoben. Sie zitterte und war einer Ohnmacht nahe, überwand aber die Schwäche und schlich auf Zehenspitzen davon. In weitem Bogen ging sie dem Lastauto aus dem Weg, doch kam sie nahe genug daran vorbei, um zu erkennen, daß es ein Transportwagen für Pferde war; im Augenblick war niemand bei dem Gefährt. Sie ging in etwa zwanzig Meter Entfernung daran vorüber und kam dann auf die Straße.

 

In großer Erregung erreichte sie schließlich das Haus und gelangte unbemerkt in ihr Schlafzimmer. Als sie ruhiger geworden war und über alles nachdenken konnte, schämte sie sich, daß sie sich so gefürchtet hatte. Es war zwar dunkel, aber sonst doch nichts Besonderes an dem Vorgang gewesen. Pferdebesitzer waren manchmal durch die Umstände gezwungen, ein Tier zu erschießen. Vielleicht war dies ein besonderes Lieblingspferd von Goodie; so daß er nicht zuließ, daß einer seiner Leute ihm den Gnadenschuß gab.

 

Von dem Fenster ihres Schlafzimmers aus hielt sie Ausschau, ob sie nicht Mr. Goodie auf dem Gelände entdecken konnte, aber damit hatte sie keinen Erfolg. Um neun Uhr stand das Transportauto immer noch an derselben Stelle. Die Scheinwerfer brannten nur trübe.

 

Als sie jedoch am Morgen wieder hinausschaute, war der Wagen verschwunden. Später ritt sie aus und kam an den Arbeitern vorbei, die die Grube wieder zuschaufelten. Sie setzte ihren Weg bis zu den Hügeln fort und mußte dabei über eine Hochfläche reiten. Dort traf sie unerwartet Goodie. Er saß ebenfalls im Sattel und blickte düster in die herrliche Landschaft hinaus. Als sie in der Nähe vorüberkam, wandte er sich ihr zu, und zum erstenmal seit ihrem Aufenthalt in Longhall sprach er sie an.

 

»Guten Morgen, Miss Gray.«

 

Sie erwiderte den Gruß höflich.

 

»Habe ich Sie gestern abend erschreckt?«

 

Sie zuckte zusammen, denn auf diese Anspielung war sie nicht vorbereitet.

 

»Ich selbst habe Sie nicht gesehen, aber einer meiner Leute hat Sie beobachtet. Ich mußte ein altes Pferd erschießen, und ich wollte es tun, wenn niemand in der Nähe war. Es kommen häufig Ausflügler hierher. Ganz abgesehen davon, daß die Leute bei einem solchen Schuß erschrecken, ist es auch mir sehr unangenehm, wenn ich gezwungen bin, ein Tier zu erschießen.«

 

Er sah sie unentwegt an, während er sprach.

 

»Ich hoffe, Sie werden mir in nächster Zeit diese ganzen Ländereien verkaufen, Miss Gray. Ich habe mich so an diese Gegend gewöhnt, daß es mir schwerfiele, sie zu verlassen. – Sie müssen sich einmal meine Pferde bei der Morgenarbeit ansehen. Sie sind zwar nicht sehr berühmt, aber ein oder zwei prächtige Tiere sind doch darunter. Ich habe gehört, daß Sie selbst die Absicht haben, sich Rennpferde zu halten? Ich habe zwar noch niemals Pferde anderer Leute in Pflege genommen, aber wenn Sie wollen, können Sie schon ein paar Tiere bei mir einstellen. Ich werde mich eingehend um sie kümmern. Vielleicht können wir es auch so weit bringen, daß eins Ihrer Pferde gelegentlich ein Rennen gewinnt. Ich habe übrigens ein Pferd, das ich Ihnen verkaufen könnte …«

 

Zu ihrer Bestürzung hörte sie, daß ihm ihre Pläne, die sie doch nur mit Luke besprochen hatte, bekannt waren. »Ja, ich dachte daran, aber ich bin mir noch nicht schlüssig geworden.«

 

»Ich habe ein Pferd, das ich Ihnen für tausend Pfund verkaufen kann. Es ist allerdings bedeutend mehr wert, aber ich glaube, der Eigentümer ist mehr oder weniger zum Verkauf gezwungen. Es handelt sich um ›Weiße Lilie‹. Ich hatte sowieso vor, Ihnen deshalb einen Besuch zu machen. Es ist ein tadelloses Pferd mit einem wundervollen Stammbaum. Die Mutter hat manches Rennen in Irland gewonnen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich verstehe noch zu wenig vom Rennbetrieb –«, begann sie.

 

»Wenn die Trainer warten müßten, bis nur Sachverständige ihnen ihre Pferde anvertrauen, könnten sie verhungern. Dieses Pferd ist für das Cambridgeshire-Rennen gemeldet, und es ist nicht ausgeschlossen, daß es gewinnt. Ich sage nicht, daß es unbedingt gewinnt, aber immerhin besteht die Möglichkeit. Neulich morgen habe ich es daraufhin geprüft. Haben Sie den Galopp nicht auch gesehen? – Na, vielleicht überlegen Sie es sich noch, Miss Gray.«

 

Er schob den Unterkiefer vor, lenkte das Pferd herum und galoppierte zu seinen Pferden, die in einem großen Kreis von seinen Leuten herumgeführt wurden.

 

Edna war erstaunt, und doch sagte sie sich auf dem Heimritt, daß nichts Außergewöhnliches darin lag, wenn ihr ein Trainer ein Rennpferd zum Kauf anbot.

 

Sie hatte an diesem Tag Gelegenheit, mit Luke telefonisch zu sprechen, und sie erwähnte, auch ihre Unterhaltung mit Goodie, wofür er sich sehr interessierte.

 

»Wenn er Ihnen ›Weiße Lilie‹ für tausend Pfund angeboten hat, so wäre das sicher ein sehr gutes Geschäft für Sie. Aber ich bin froh, daß Sie nicht zugegriffen haben. Nominell gehört das Pferd einem Mann in Mittelengland, einem Gasthausbesitzer ich glaube jedoch, der ist nur vorgeschoben. Ich kann mir schon denken, warum Goodie daran liegt, Ihnen das Pferd zu überlassen.«

 

»Dann sagen Sie es mir doch bitte.«

 

Aber Luke ging nicht darauf ein.

 

Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, erinnerte sie sich daran, daß sie ihm nichts von der Erschießung des anderen Pferdes gesagt hatte. Aber dann vergaß sie die ganze Angelegenheit.

 

*

 

In den folgenden Tagen setzte sich Luke weder brieflich noch anderswie mit ihr in Verbindung, und sie ärgerte sich, daß er so unaufmerksam war. Ende der Woche erschien er dann plötzlich unangemeldet. Sie empfing ihn ziemlich kühl, und er hatte es nicht anders erwartet. Geradezu eisig wurde sie, als sie erfuhr, daß er nicht einmal ihretwegen gekommen war, sondern eigentlich Mr. Lane sprechen wollte. Er kam auch nicht ins Haus, bis sie ihn direkt dazu aufforderte.

 

»Diese geheimnisvollen Besuche sind mir unangenehm, Mr. Luke. Wäre ich nicht unten auf der Wiese gewesen, so hätte ich überhaupt nicht erfahren, daß Sie gekommen sind.«

 

»Bitte seien Sie mir nicht böse«, sagte er mit seiner üblichen Unbekümmertheit. »Ich mußte Lane in einer dringenden Angelegenheit sprechen, die nichts mit Ihnen zu tun hat.«

 

Sie wollte ihm schon eine entsprechende Antwort geben, aber schließlich faßte sie die Sache von der humoristischen Seite auf und lachte.

 

»Sie haben wirklich nicht die besten Manieren. Man hat immer wieder aufs neue Grund, sich über Sie zu ärgern. Sie hätten doch zuerst ins Haus kommen und mich begrüßen können. Bleiben Sie über Nacht hier? Dann werde ich dafür sorgen, daß –«

 

»Es ist hier ein sehr schönes Gasthaus in der Nähe – der ›Rote Löwe‹. Ich habe mein Gepäck schon dort hingebracht.«

 

»Aber Sie hätten doch hier im Haus wohnen können.«

 

»Ich ziehe den ›Roten Löwen‹ vor. Die Wirtin macht mir keine Vorwürfe, und außerdem werden Sie wahrscheinlich sehr böse auf mich sein, wenn Sie erfahren, daß ich Ihnen eine Freundin genommen habe.«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte sie bestürzt.

 

»Es handelt sich um Maggie Higgs. Sie ist eine drittklassige Schauspielerin; das ist das Beste, was man von ihr sagen kann. Blanter hat sie zu Ihnen geschickt, damit sie sich mit Ihnen anfreunden sollte.«

 

Plötzlich verstand sie.

 

»Ach, deshalb ist sie nicht wiedergekommen?«

 

Er nickte.

 

Merkwürdigerweise zürnte sie ihm nicht wegen dieser Einmischung und glaubte sofort, was er über die junge Dame sagte.

 

»Das ist aber sehr merkwürdig. Warum hat denn Doktor Blanter sie zu mir geschickt?«

 

Er antwortete nicht darauf, und es wäre ihm wahrscheinlich auch schwergefallen, ihr seine Theorie auseinanderzusetzen. Immerhin hatte er sich bereits eine Erklärung zurechtgelegt.

 

»Ich möchte gern einmal Ihre ganzen Ländereien kennenlernen. Es ist schon sehr lange her, seit ich mich das letztemal hier in der Gegend umgesehen habe.«

 

Er hatte eigentlich die Absicht, zu Fuß zu gehen, aber sie ließ die Pferde satteln und ritt mit ihm zusammen ins Gelände hinaus. Nachdem sie an dem Drahtzaun vorbeigekommen waren, den Mr. Goodie um sein Haus gezogen hatte, folgten sie einem unebenen Feldweg, der in die Hügel führte. Das Haus Mr. Goodies konnten sie im Augenblick nicht sehen, da es von den Nußbäumen verdeckt wurde. Desto besser waren die neuen Stallanlagen zu erkennen, die auf einem sanften Abhang errichtet waren. Im Augenblick war niemand in Sicht; gewöhnlich waren zum Wochenende Ausflügler in der Gegend. Im Sommer kamen sogar sehr viele Leute, die sich in den Tälern unter den schattigen Bäumen erholten.

 

Sie erwähnte beiläufig, daß sie die Überreste von einem Picknick bei dem Eingang zu den Perrywig-Höhlen gesehen habe, und war erstaunt, daß er sich lebhaft dafür interessierte.

 

»Dorthin sind Sie geritten? Sie liegen doch auf dem Land, das Goodie von Ihnen gepachtet hat.«

 

»Warum sind die Höhlen eigentlich verschlossen?« fragte sie.

 

»Sie meinen, warum ein Tor vor jedem Eingang ist? Das sieht etwas düster aus, finden Sie nicht auch? Aber die größte der Höhlen ist seit vielen Hunderten von Jahren schon immer als Lagerraum benutzt worden. Es gibt eine Straße, die direkt zu den Eingängen der Höhlen führt. Soviel ich weiß, benützt Goodie die große Höhle auch als Vorratsraum für Heu und Pferdefutter. Ich bin noch niemals im Innern gewesen, aber ich glaube, die Haupthöhle reicht sehr weit ins Innere des Berges.«

 

Er kannte die Gegend bedeutend besser als sie, und in einem großen Halbkreis kamen sie zu der Straße, die zu den Eingängen der Höhlen führte. Es waren zwei Öffnungen, und einen Kilometer entfernt lag noch eine dritte. Man glaubte, daß alle diese Eingänge nur zu einer Höhle führten, aber man wußte dies nicht genau. Luke und Edna stiegen aus dem Sattel, banden ihre Pferde an einen Baum und gingen den Rest des Weges zu Fuß.

 

Am ersten Eingang nahm Luke eine sorgfältige Untersuchung des Tores vor, das aus schweren Eisenstangen gefertigt war; die Angeln waren in die Felsen eingelassen. Er betrachtete das große Schloß genau. Das Tor war so stark, daß man nicht daran denken konnte, es mit Gewalt zu öffnen. Der Fußboden der Höhle bestand, soweit er sehen konnte, aus Erde und zeigte Spuren einer Harke.

 

»Das ist merkwürdig«, sagte Luke. Dann versuchte er, das dunkle Innere mit seinen Blicken zu durchdringen.

 

»Sehen Sie, da hinten steht auch die Harke.«

 

Er wandte sich ab und sah den steileren Teil des Abhangs hinunter zu der Stelle, wo sie abgestiegen waren.

 

»Wo haben Sie die Reste von dem Picknick gefunden?«

 

Sie sah sich vergeblich danach um. Inzwischen hatte es mehrmals heftig geregnet, und jetzt konnte sie nichts mehr entdecken. Damals hatte sie deutlich Knochen und Apfelsinenschalen gesehen. Vermutlich waren die Überreste von den Angestellten Goodies entfernt worden.

 

»Jemand hat hier Ordnung geschaffen«, sagte er gleichgültig.

 

Sie gingen zu ihren Pferden und ritten die Anhöhe hinab. Es wurde dunkel, und schwere Wolken zogen von Südwesten heran. Die beiden kamen gerade noch zur rechten Zeit nach Longhall zurück, bevor es in Strömen zu regnen begann.

 

Kapitel 14

 

14

 

Kurz nach zehn Uhr, bevor Luke fortging, wurde telefonisch von London ein Telegramm für Edna durchgegeben. Es kam von Garcia aus Istanbul. Er teilte ihr darin mit, daß er im Auto durch Kleinasien reisen wolle.

 

Es regnete heftig, und sie bestand darauf, Luke mit dem Wagen zum ›Roten Löwen‹ zu bringen. Im ganzen war es ein schöner Abend gewesen, und doch war sie nicht ganz zufrieden, denn sie konnte sich über Luke einfach nicht richtig klarwerden.

 

Sie hörte die Türglocke nicht, die mitten in der Nacht läutete. Erst als Penton, der Butler, an ihre Tür klopfte, wachte sie auf.

 

»Was gibt es denn?« fragte sie.

 

»Mr. Luke ist gekommen und möchte Sie dringend sprechen.«

 

Sie machte Licht, kleidete sich schnell an und ging zu ihm hinunter ins Speisezimmer. Er trug einen Regenmantel, und sein Hut war durchnäßt, da er den vier Kilometer langen Weg im strömenden Regen zurückgelegt hatte.

 

»Ist etwas passiert?« fragte sie ängstlich.

 

Er schloß die Tür des Speisezimmers.

 

»Kennen Sie dies?«

 

Er nahm ein kleines Buch aus der Tasche, das in weiches Leder gebunden war.

 

Es kam ihr merkwürdig bekannt vor. Sie nahm es in die Hand und betrachtete es von allen Seiten. Als sie das erste Blatt aufschlug, fand sie darauf die spanischen Worte: ›Meinem lieben Freund Alberto Garcia zu seinem dreiundsechzigsten Geburtstag.‹

 

Es war ein Band spanischer Gedichte, den sie in Buenos Aires gekauft hatte; die Widmung hatte sie eigenhändig geschrieben.

 

Bestürzt sah sie ihn an.

 

»Dieses Buch habe ich Mr. Garcia früher einmal geschenkt.«

 

»Wie kommt es dann aber auf das Bücherregal in meinem Zimmer? Hat Garcia jemals im ›Roten Löwen‹ gewohnt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nicht, daß ich wüßte.«

 

»Ich habe mich in dem Gasthaus sehr unangenehm bemerkbar gemacht«, sagte er grimmig. »Alle möglichen Leute habe ich mitten in der Nacht aufgeweckt, die etwas davon wissen konnten. Der Gastwirt und seine Frau sind auf einer Ferienreise, und die meisten Angestellten sind noch nicht lange dort.«

 

Nun erzählte er ihr, daß er nicht habe einschlafen können und deshalb wieder aufgestanden sei. Auf dem kleinen Bücherbrett habe er einen interessanten Lesestoff gesucht, aber nur alte Kalender und langweilige Romane gefunden. Schließlich habe er dann zu seinem größten Erstaunen dieses ledergebundene Buch mit der spanischen Widmung entdeckt.

 

»Ich wußte, daß Garcia nicht in dem Gasthaus gewohnt haben konnte, seitdem Sie das Haus hier eingerichtet haben, denn er war doch seit der Zeit immer im Ausland.«

 

Sie lachte.

 

»Aber ist die Sache denn so furchtbar dringend, daß Sie alle möglichen Dienstboten mitten in der Nacht aus dem Schlaf wecken müssen?«

 

Sie klingelte.

 

»Wir wollen eine Tasse Kaffee trinken. Legen Sie vor allem Ihren nassen Mantel ab. Ganz abgesehen davon, daß Sie meinen schönen neuen Teppich ruinieren, sehen Sie auch nicht gerade sehr vorteilhaft in dem Kleidungsstück aus.«

 

Luke gab dem eintretenden Butler Hut und Mantel.

 

»Die Sache ist trotzdem sehr dringend«, sagte er dann ernst. »Haben Sie vielleicht zufällig Garcias Adresse in Istanbul?«

 

Sie überlegte. »Nein, er ist nur über das dortige argentinische Konsulat zu erreichen.«

 

»Vielleicht sind die Leute imstande, mich mit ihm in Verbindung zu bringen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich telefonisch ein Telegramm dorthin aufgebe?«

 

Er schrieb den Text auf die Rückseite eines Briefumschlages, ging dann in die Halle hinaus und gab das Telegramm auf. Edna begab sich nach oben, um sich vollständig anzukleiden. Sie war ganz wach und fühlte sich durch Lukes Fund doch auch stark beunruhigt. Als sie fertig angezogen war, machte sie das Licht aus und zog die Vorhänge vor den Fenstern zurück. Dabei bemerkte sie in weiter Entfernung ein Licht, das sich von den Höhenzügen aus über die Wiesen auf das Haus zubewegte. Es mußte jemand sein, der mit einer Laterne oder einer Taschenlampe durch den Regen wanderte. Das kam ihr unheimlich vor. Sie ging auf den Treppenabsatz und rief leise nach Luke. Er hatte gerade sein Telefongespräch beendet und kam rasch zu ihr herauf.

 

»Was gibt es denn?« fragte er.

 

Sie erzählte es ihm, und er trat mit ihr ins Schlafzimmer. Das Licht erschien jetzt bedeutend näher. An der Ecke des Drahtzaunes machte es halt. Sie hörten, wie das Tor zugeschlagen wurde; es war aber zu dunkel, um den Mann erkennen zu können, der die Lampe trug. Als er jedoch noch näher kam, war er deutlich zu sehen.

 

»Das ist Goodie, und er hat seine großen schwarzen Hunde bei sich!«

 

Goodie ging auf sein Haus zu, und sie hörten, wie sich die Tür schloß. Das Licht war verschwunden.

 

»Ich möchte wissen, was drüben los ist«, sagte Luke nachdenklich und sah auf seine Armbanduhr, die Viertel nach drei zeigte. »Wo schläft denn eigentlich Lane?«

 

»In dem kleinen Haus an der Straße.«

 

»Können Sie ihn nicht telefonisch erreichen?«

 

»Doch. Ich habe eine Leitung dorthin legen lassen und werde ihn sofort herrufen.«

 

Aber Luke nahm ihr diese Aufgabe ab. Sie gingen zusammen nach unten, und nach kurzer Zeit hörte sie im Speisezimmer, daß er mit Lane sprach. Als er kam, hatte sie den Kaffee eingegossen.

 

»Was ist denn geschehen?« fragte sie.

 

»Das möchte ich auch gern wissen.«

 

Luke nahm den kleinen Lederband, betrachtete noch einmal die Widmung und legte das Buch dann auf den Tisch zurück. Er fragte sie, wie weit Lanes Haus vom Eingang der Gillywood-Farm entfernt liege. Als er hörte, daß es keine hundert Meter seien, war er befriedigt.

 

»Was haben Sie Lane denn gesagt?«

 

Er gab eine ausweichende Antwort.

 

»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie mitten in der Nacht aufgeweckt habe. Vielleicht war es nicht der Mühe wert. Ich bin im Augenblick etwas nervös, aber das wird man bei meinem Beruf manchmal.« Dann fügte er mit einem Lächeln hinzu: »Erzählen Sir mir doch einmal von Ihrem Plan. Sie wollen also Rennpferde kaufen. Haben Sie schon damit angefangen?«

 

Das Telefon klingelte; aber bevor sie sich erheben konnte, war Luke bereits aus dem Zimmer geeilt. Als er zurückkehrte, runzelte er die Stirn.

 

»Es war Lane. Während er sich ankleidete, sah er zwei Leute an seinem Haus vorbeigaloppieren. Den einen erkannte er; es war Goodie. Der andere war wahrscheinlich sein Diener Manuel. Lane sagte, daß sie aus der Richtung von Goodies Haus kamen und es sehr eilig hatten. Goodie trug eine Taschenlampe, die er gerade bei Lanes Haus anknipste. Der Gurt von Manuels Sattel hatte sich verschoben, denn sie stiegen beide ab und zogen ihn fester. Danach ritten sie in scharfem Galopp die Straße nach Gareham zu.«

 

Eine Viertelstunde darauf kam Lane ins Haupthaus und wurde von dem Butler sofort ins Speisezimmer geführt.

 

»Ich habe Goodie deutlich erkannt. Wer der andere war, weiß ich nicht genau, aber er schien ziemlich kräftig zu sein. Goodies Pferd habe ich im Dunkeln sogar erkennen können; es war ein graues Basutopony.«

 

Luke nickte.

 

»Gehen Sie zurück und passen Sie auf, wann die beiden heimkommen. Aber lassen Sie sich unter keinen Umständen sehen.«

 

»Es ist alles so aufregend und geheimnisvoll. Was hat es zu bedeuten?« fragte Edna.

 

»Das möchte ich auch wissen.«

 

Luke sah sie besorgt an. Oben auf dem Dachboden war ein Giebelzimmer, von dem aus man die lange Straße nach Gareham überblicken konnte. Man hatte dort auch einen sehr guten Überblick über das hügelige Gelände. Das Zimmer war leer, und Luke stieg hinauf und hielt dort Wache. Er hatte sich einen Feldstecher von Edna geborgt, doch der nützte nicht viel, da die Nacht vollkommen dunkel war.

 

Eine Viertelstunde hatte er oben am Fenster gestanden, als Edna zu ihm kam und ihm frischen Kaffee brachte.

 

»Haben Sie etwas entdecken können?«

 

»Nein.«

 

Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, als in weiter Ferne ein Licht auftauchte. Es leuchtete eine Minute lang, dann erlosch es.

 

»Was ist denn das? Ein Auto kann es doch wohl nicht sein, denn dort führt keine Straße entlang.«

 

»Sie scheinen sich ja hier gründlich auszukennen. An welcher Stelle haben Sie es denn gesehen?«

 

»Es muß in der Nähe der östlichen Höhle gewesen sein. Der Eingang ist nur schmal und klein und auf Veranlassung der Kreisbehörde mit einem leichten Holzgatter verschlossen. Früher sind Schafe dort hineingelaufen und haben sich in den Höhlen verirrt. – Sehen Sie doch einmal!«

 

Das Licht war wieder aufgeflammt, und er richtete sein Glas darauf. Er konnte aber nur feststellen, daß es sich nicht mehr bewegte. Wahrscheinlich war die Lampe auf einen Stein gelegt worden. Eine menschliche Gestalt war auf diese Entfernung nicht zu erkennen, obwohl das Glas sehr scharf war. Plötzlich ging das Licht wieder aus, und als es dann von neuem aufleuchtete, war es etwas von der Stelle entfernt, wo sie es zuerst gesehen hatten.

 

»Es bewegt sich auf die Straße zu; ich nehme an, daß die beiden zurückkommen.«

 

Es war lange nach vier Uhr, als sie Hufschlag auf der Straße hörten. Luke war so weit ins Zimmer zurückgetreten, daß man ihn von draußen nicht sehen konnte. Das Getrappel wurde lauter und lauter, und endlich kamen die Reiter im Schritt am Haus vorbei. Goodie, der etwas vorausritt, hielt wie gewöhnlich den Kopf gesenkt. An dieser charakteristischen Haltung konnte man ihn schon von weitem erkennen.

 

Luke kehrte ins Speisezimmer zurück.

 

»Ich werde noch bis Tagesanbruch hier warten, dann möchte ich Sie um ein Reitpferd bitten, damit ich mich einmal in der Gegend umsehen kann. Es mag etwas Wichtiges vorgefallen sein. Vielleicht ist auch nur ein Pferd aus dem Stall ausgebrochen. Das müssen wir erst einmal feststellen.«

 

»Der Gedanke ist mir auch gekommen. Vorige Woche ist eins von Mr. Goodies Pferden fortgelaufen, und sie haben einen ganzen Tag gebraucht, bis sie es wieder einfangen konnten.«

 

Er riet ihr, sich noch einmal zu Bett zu legen, aber davon wollte sie nichts hören.

 

Eine Viertelstunde später kam Lane und erstattete Bericht. Goodies großes Auto war in der Richtung nach London fortgefahren. Er selbst hatte am Steuer gesessen.

 

Lane hatte gesehen, wie Manuel die Tore hinter seinem Herrn schloß.

 

»Dann kann es sich doch nicht um ein Pferd handeln – es muß etwas viel Wichtigeres passiert sein«, meinte Luke.

 

»Werden Sie nach London zurückkehren?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, hier ist der Mittelpunkt meiner Tätigkeit, und zwar noch für mehrere Stunden.«

 

Kurz vor sechs Uhr morgens wurden die gesattelten Pferde vorgeführt. Edna sagte, daß sie ihn auf dem Erkundungsritt begleiten wolle. Es hatte aufgehört zu regnen, so daß er ihr die Bitte nicht abschlagen konnte. Sie folgten der großen Straße, bis Edna plötzlich auf eine Lücke in der Hecke zeigte, die am Straßengraben entlanglief. Schon früher waren Pferde durch diese Öffnung gegangen; man konnte deutlich die Hufspuren sehen, die in beide Richtungen wiesen. Goodie mußte ebenfalls hier entlanggeritten sein. Die frischen Spuren waren zu verfolgen, bis sie sich auf der Wiese verloren.

 

Goodie und sein Begleiter hatten den Weg nach der kleinen Höhle eingeschlagen. Edna zeigte mit der Reitpeitsche dorthin, und bald hatten sie auch einen weiteren Beweis dafür, daß sie auf Goodies Fährte waren. Auf einem gepflügten Feld sahen sie wieder die frischen Hufspuren.

 

Der Eingang der Höhle war nicht zu sehen, obgleich es schon bedeutend heller geworden war. Eine kleine Bodenerhebung verdeckte das Loch im Felsen, und als sie näher kamen, mußten sie erst danach suchen, so klein war die Öffnung. Ein Mensch konnte nicht aufrecht hineingehen, außerdem war sie kaum einen Meter breit.

 

»Das Gatter ist niedergerissen«, sagte Edna.

 

Es bestand aus dünnen, durch Draht zusammengehaltenen Latten und war gewaltsam niedergebrochen worden. Allem Anschein nach hatte man überhaupt nicht die Absicht, diese Öffnung als Tor zu benützen. Luke sah sich die zerbrochenen Latten genauer an.

 

Dann ging er einige Schritte in die Höhle hinein und betrachtete den felsigen Boden genau. Er nahm einen großen Stein nach dem anderen auf, bis er schließlich ein Stück fand, das er mit nach draußen ans Licht nahm. Mit einer Taschenlampe untersuchte er dann die Höhle oberflächlich. Je weiter er kam, desto mehr senkte sich die Decke. Schließlich mußte er auf Händen und Knien weiterkriechen. Aber es fiel ihm nach einer Weile so schwer, daß er wieder umkehrte.

 

Als er zurückkam, fand er Edna in ängstlicher Ungeduld. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß er länger in der Höhle gewesen, war, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Mit vieler Mühe gelang es ihm, den Eingang wieder zu schließen und das beschädigte Gatter zu reparieren.

 

Nachher ritten sie zum Haus zurück. Luke war so in Gedanken versunken, daß er unterwegs kaum ein Wort sprach. Später schickte er Ednas Chauffeur nach dem Gasthaus, um sein Auto zu holen.

 

»Haben Sie noch einen Telefonapparat im Haus außer dem Hauptanschluß in der Halle?«

 

Sie sagte ihm, daß es noch einen Nebenanschluß im Wohnzimmer gebe. Er ging dorthin, schloß die Tür und telefonierte lange Zeit.

 

Als er wieder herauskam, fand er sie in der Halle. Sie stand in der offenen Haustür und sah in den Garten hinaus.

 

»Was gibt es denn Neues?« fragte sie. »Irgend etwas muß doch nicht stimmen. Können Sie mir nicht wenigstens eine Andeutung machen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich kann nur etwas vermuten, und vielleicht irre ich mich. Ich werde Ihnen noch einen Mann herschicken, der im Haus von Mr. Lane wohnen soll. Der Betreffende sieht nicht sehr einnehmend aus – Sie können sich doch noch auf den kleinen Mann besinnen, der mich in Doncaster ansprach? Er sah damals ziemlich abgerissen aus. Punch Markham heißt er.«

 

Sie nickte.

 

»Er soll hierbleiben und Goodie und seine Pferde genau, beobachten. Etwas geschwätzig ist er ja, und ich habe ihm deshalb Anweisung gegeben, sich möglichst von Ihnen fernzuhalten und Sie nicht mit seinen ewigen Redereien zu langweilen. Ich möchte Sie aber bitten, ihn ab und zu einmal mit mir telefonieren zu lassen. Es ist sonst kein Telefon in der Nähe, und es wird wahrscheinlich notwendig sein, daß er sich manchmal schnell mit mir in Verbindung setzt.«

 

Er zog seinen Regenmantel an, den der Butter inzwischen in der Küche getrocknet hatte, ging dann ins Speisezimmer und nahm den Gedichtband wieder an sich.

 

»Ich werde das Buch wieder einstecken, wenn Sie nichts dagegen haben. Übrigens nahmen Sie doch einmal Mr. Garcia auf einer Autofahrt mit hierher. Hatte er damals das Buch in der Tasche?« Sie dachte nach.

 

»Das wäre nicht ausgeschlossen. Er hatte es sehr gern.« »Noch eine Frage: Könnten Sie Punch ein Pferd überlassen?« Sie hatte genügend Reittiere, so daß sie dies ohne weiteres zusagen konnte.

 

»Er kann sich auf die Weise recht nützlich machen; er versteht es, mit Pferden umzugehen, und er kann Ihre Pferde bewegen, damit sie nicht zu üppig werden. Geben Sie ihm in der Beziehung nur ordentlich zu tun. Meiner Meinung nach ist das eine gute Idee. Besprechen Sie die Sache in dem Sinn mit Ihrem Verwalter.«

 

*

 

Noch vor dem Mittagessen kam Luke in London an und begab sich sofort in sein Büro. Er fand dort die beiden Kriminalbeamten, die er bestellt hatte, und gab ihnen neue Instruktionen.

 

Um drei Uhr hatte er bereits Nachricht von Longhall House. Goodie war im Auto von London zurückgekehrt, und eine Stunde nach seiner Ankunft war ein geschlossener Wagen auf sein Grundstück gefahren. Lane hatte auch feststellen können, daß Dr. Blanter darin saß. Nach zweistündigem Aufenthalt fuhr der Besucher wieder ab. Gegen Mittag bog in die Zufahrt ein zweiter Wagen ein, dessen Insassen Lane gleichfalls erkannt hatte. Diesmal handelte es sich um Mr. Rustem. Er blieb nicht so lange, und als er abfuhr, sah er sehr besorgt aus. Irgend etwas mußte die Bande in Unruhe versetzt haben. Aber allem Anschein nach berührte die Aufregung nicht den auch sonst so ruhigen Mr. Trigger. Für Luke war dies wieder eine Bestätigung dafür, daß Trigger nur die Organisation der Rennwetten leitete.

 

Der Inspektor beobachtete die Gesellschaft genau und mußte feststellen, daß sie in der letzten Zeit immer mehr von ihren Traditionen abgewichen war. Ein eiliges Rundschreiben war an alle Mitglieder gesandt worden; ein Exemplar war in Lukes Besitz gekommen. Die Mitteilung lautete:

 

Es hat sich bei unserer Gesellschaft die Gewohnheit herausgebildet, daß nur wenige Transaktionen Mr. Triggers durchgeführt werden, und zwar in verhältnismäßig großen Zwischenräumen. Im Lauf eines Jahres haben wir nicht mehr als acht bis neun siegreiche Pferde bei den Rennen mitgeteilt. Nun haben sich aber Umstände ergeben, die es nötig machen, im Interesse unserer Klienten die Anzahl der Transaktionen zu steigern. Wir haben sichere Nachrichten über ungefähr ein halbes Dutzend Rennpferde erhalten, die unbedingt gewinnen werden. Auch diesmal müssen wir es unseren Kunden nahelegen, sich mit einer größeren Anzahl von Buchmachern in Verbindung zu setzen. Es handelt sich um eine Wette für das Cambridgeshire-Rennen. Wir möchten besonders betonen, daß selbst Buchmacher, die bereits ihre Wetten abgeschlossen haben, noch zwei oder drei Tage vor dem Rennen Wetten dafür annehmen. Die nächste Transaktion von Mr. Trigger wird in der allernächsten Zeit erfolgen; die Kunden, die ihre Telegrammformulare noch nicht eingeschickt haben, werden ersucht, dies sofort nachzuholen.

 

Luke dachte intensiv nach. Aus welchem Grund überstürzte die Gesellschaft die Transaktionen? Es konnte nur eine Erklärung dafür geben: Blanter und seine Freunde hatten die Absicht, noch so viele Abschlüsse wie möglich in dieser Rennsaison durchzuführen, weil sie Angst bekommen hatten. Sie ahnten, daß es mit ihren Unternehmungen zu Ende gehen konnte.

 

Kapitel 6

 

6

 

Margot Cameron stand an der Reling der großen ›Ceramia‹. Ängstlich beobachtete sie den Kai, ob sich nicht Jim irgendwo zeigte. Er hatte ihr versprochen, sich an Bord des Dampfers von ihr zu verabschieden, und sie wußte; daß etwas Außergewöhnliches passiert sein mußte, wenn er nicht kam. Sie hatte ihm noch so viel zu sagen; sie hatte alles vergessen, als sie sich von ihm trennte. Am liebsten hätte sie weinen mögen, und die Tränen waren ihr sehr nahe, als die Schiffsglocke schlug, damit die Nichtfahrenden von Bord gehen sollten.

 

Margot stand immer noch oben an der Reling des Bootsdecks, von dem aus sie den größten Fernblick hatte, als der Dampfer langsam ins Meer hinausfuhr. Immer noch hoffte sie, ihn doch noch an Land zu sehen. Erst als die ›Ceramia‹ Netley passierte, ging sie mit einem schweren Seufzer nach unten in die Luxuskabinen, die ihr Bruder hatte reservieren lassen.

 

Die Geräumigkeit der Zimmer ließ sie ihre Einsamkeit noch mehr fühlen, und zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie Heimweh. Aber sie faßte sich bald wieder, kleidete sich um, nahm ein Buch und ging ans Promenadendeck, wo sie ihren Liegestuhl aufsuchte.

 

Frank hatte alle nötigen Vorbereitungen mit größter Sorgfalt getroffen, und drei Stühle waren mitschiffs für die Reisegesellschaft reserviert. Der Steward brachte ihr Decken und ein Kissen aus der Kabine, und sie versuchte, sich so gut wie möglich die Zeit zu vertreiben.

 

Der Anhängezettel des Nachbarstuhls flatterte im Winde. Margot wurde darauf aufmerksam und faßte ihn mit der Hand.

 

»Mrs. Dupreid«, las sie, und nun erinnerte sie sich daran, daß ja Ceciles Freundin an Bord sein mußte.

 

Sie legte ihr Buch auf den Stuhl und ging zum Büro des Zahlmeisters.

 

»Mrs. Dupreid?« wiederholte der Assistent. »Ja, die Dame ist an Bord. Sie hat die Staatskabine 209 auf Deck C.«

 

Margot bedankte sich, fuhr mit dem Lift nach dem C-Deck und suchte nach der Kabine.

 

Nr. 209 lag in der Mitte des Schiffs. Auf Margots Klopfen zeigte sich eine Zofe in der Türöffnung.

 

»Ist Mrs. Dupreid in ihrer Kabine?«

 

»Jawohl, Madame. Aber sie möchte niemanden sehen.«

 

»Sagen Sie ihr doch bitte, daß Miss Cameron hier ist.«

 

»Sie weiß, daß Sie an Bord sind, Madame«, erklärte das junge Mädchen, »und sie bat mich, sie bei Ihnen zu entschuldigen. Sie fühlt sich nicht wohl und kann niemanden empfangen.«

 

Margot empfand diesen wenig freundlichen Empfang etwas kränkend, drückte ihr Bedauern aus und ging dann wieder auf das Promenadendeck, um sich durch Lesen die Zeit zu vertreiben.

 

Inzwischen waren die Passagiere aus dem Speisesaal heraufgekommen, und es kam ihr erst jetzt zum Bewußtsein, daß sie gar nicht daran gedacht hatte, am Essen teilzunehmen, weil sie auf Jim gewartet hatte. Das Promenadendeck war belebt; die Passagiere suchten ihre Deckstühle auf. Der Steward legte Kissen und Decken auf den Liegestuhl neben ihr, und eine große schlanke Dame beobachtete gleichgültig den Vorgang.

 

Margot sah sie neugierig an. Frauen interessieren sich immer füreinander, und sie ahnte irgendwie, wer diese Nachbarin sein könnte. Die Dame war sehr schön, mochte etwa achtundzwanzig Jahre alt sein und hatte geistvolle Züge. Vor allem fielen ihre großen, tiefdunklen Augen auf. Eine Sekunde lang sah sie Margot an, und diese hatte das Gefühl, als ob die Blicke durch sie hindurchgingen.

 

Der Steward richtete sich auf. Die Dame dankte ihn kurz und ließ sich nieder.

 

Margot sah, daß sie ein elegantes Kleid trug und ein Buch in der Hand hielt. Die andere las aber nicht, sondern wandte sich zu Margots Überraschung plötzlich an sie.

 

»Sind Sie nicht Miss Cameron?«

 

»Ja«, entgegnete Margot lächelnd und legte ihr Buch nieder.

 

»Ich hörte, daß Sie mit Ihrem Bruder und Ihrer Schwägerin an Bord sein sollten. Ich bin eine Nachbarin von Ihnen, mein Name ist Stella Markham.«

 

»Ach ja, ich habe Ihr Haus gesehen. Es wurde mir noch vor ein paar Tagen gezeigt.«

 

Sie erinnerte sich im Augenblick, daß Jim es ihr gezeigt hatte, und sie ärgerte sich über ihn. Bestimmt hatte sie darauf gerechnet, daß er sich an Bord des Dampfers von ihr verabschieden würde, und er hatte sie warten lassen. Nicht einmal ein Telegramm hatte er ihr geschickt.

 

»Sind Ihr Bruder und Ihre Schwägerin auch in der Nähe?«

 

»Mr. und Mrs. Cameron sind überhaupt nicht an Bord«, entgegnete Margot. »Sie haben im letzten Augenblick ihre Pläne geändert.«

 

»Nun, dann wird es eine recht einsame Fahrt für Sie werden«, meinte Stella Markham und lächelte ein wenig.

 

»Das ist mir auch ganz lieb.«

 

Hier stockte die Unterhaltung, und beide nahmen ihre Bücher auf.

 

Aber nach einiger Zeit brach Stella Markham das Schweigen aufs neue.

 

»Gerade Ihre Schwägerin hätte ich gern an Bord getroffen. Es waren eigentlich nur zwei Leute, die ich hier zu sehen wünschte, das heißt drei, wenn ich Sie einschließe«, fügte sie halb entschuldigend hinzu.

 

Margot lachte.

 

»Wer war denn die dritte Person?« fragte sie und schrak zusammen, als sie die Antwort hörte.

 

»Ich hoffte, einen gewissen Bankdirektor Bartholomew hier zu treffen.«

 

»Aber warum denn?« fragte Margot erstaunt und hoffte, daß Mrs. Stella Markham mit ihren durchdringenden Blicken nicht sehen konnte, daß sie errötete.

 

»Er soll ein sehr guter Gesellschafter sein.«

 

Margot ärgerte sich über diese Worte.

 

»Ich sitze am Tisch des Kapitäns Mr. Stornoway; er sprach über Mr. Bartholomew, als er hörte, daß ich von Moorford kam.«

 

Margot erinnerte sich im Augenblick daran, daß Jim ihr Stornoways Namen genannt hatte.

 

»Er wurde ganz lebhaft, als ich seinen Namen erwähnte«, fuhr Mrs. Markham fort, »obwohl er zuerst meiner Meinung nach etwas verlegen war. Er erzählte dann, daß er im Krieg mit Mr. Bartholomew zusammen an Bord eines Torpedobootzerstörers war, der durch den Feind versenkt wurde. Zwölf Stunden waren sie zusammen im Wasser, und wenn Mr. Bartholomew nicht gewesen wäre, wären sie beide ertrunken – es war auch noch ein dritter dabei, der sich ebenfalls an Bord des Dampfers befindet.«

 

»Ich habe davon gehört.« – »Kennen Sie ihn?«

 

»Meinen Sie Mr. Bartholomew? Ja, den kenne ich allerdings sehr gut.«

 

»Ist er wirklich so interessant?«

 

»Meinen Sie damit, daß er Purzelbäume schlägt und interessante Schlager singt?« fragte Margot kühl.

 

»Nein, ich meine, ob er interessant ist?«

 

»Ja, natürlich«, erwiderte Margot kurz.

 

Wieder sahen beide in ihre Bücher, aber Mrs. Markham schien das ihre nicht sehr unterhaltsam zu finden, denn nach kurzer Zeit wandte sie sich wieder an Margot.

 

»Ich bin die langweiligste Person, die es überhaupt gibt«, sagte sie. »Das ganze Leben erscheint mir so entsetzlich öde. Ich kann England nicht leiden, und ebenso geht es mir mit Amerika. In Paris, das die anderen Leute doch für so amüsant halten, finde ich es schrecklich.«

 

»Haben Sie es schon einmal mit Coney Island versucht?« fragte Margot, die Mrs. Markham nicht leiden konnte. »Ich habe mir sagen lassen, daß man sich dort die Zeit ganz gut vertreiben kann.«

 

Stella richtete sich auf und sah Margot gerade nicht sehr freundlich an.

 

»Ich kenne niemand, der jemals in Coney Island gewesen wäre«, entgegnete sie und schaute wieder in ihr Buch.

 

Margot erhob sich unruhig und ging auf dem Promenadendeck auf und ab. Schließlich fuhr sie mit dem Lift zum F-Deck, wo das Büro des Zahlmeisters lag. Die Unterhaltung mit Mrs. Markham hatte sie daran erinnert, daß immer noch ein Telegramm von Jim eintreffen könnte. Auf jeden Fall erwartete sie eines von ihrem Bruder und ihrer Schwägerin.

 

Tatsächlich erhielt sie auch ein Formular ausgehändigt, das Frank geschickt hatte, aber von Jim war nichts angekommen, ebensowenig von Cecile. Margot fiel es ein, daß sich Cecile auf der Reise nach Schottland befand, und unterwegs war es natürlich schwierig, ein Telegramm zu senden.

 

Sie wanderte ziellos im Schiff umher, bis es Zeit zum Tee war. Niemand ihrer Bekannten war an Bord, und aus reiner Langeweile kehrte sie zu ihrer Kabine zurück und legte sich nieder. Sie wurde gestört durch ihre Zofe, die ihr Abendkleid zurechtlegte.

 

»Wie spät ist es?«

 

»Es ist halb sieben, Madame«, entgegnete Jenny, die blaß und krank aussah.

 

»Geht es Ihnen nicht gut?«

 

»Ich spüre die Seekrankheit.«

 

»Das ist aber doch nicht schlimm«, sagte Margot.

 

»Die See ist glatt wie ein Spiegel. Wo sind wir denn jetzt?«

 

»In der Nähe von Cherbourg. In einer Stunde kommen wir dort an und bleiben mehrere Stunden.«

 

Nachdem sich Margot angekleidet hatte, ging sie in den Speisesaal und ließ sich einen Tisch geben, der nur für eine Person gedeckt war. Frank hatte natürlich vorsorglich einen guten Tisch mit drei Plätzen bestellt. An der anderen Seite des Speisesaals sah sie Mrs. Stella Markham, die ein wundervolles Abendkleid in Schwarz und Blau trug. Auch sie saß an einem Tisch für sich.

 

Später ließ sich Margot den Kaffee in die große Gesellschaftshalle bringen. Der Raum war prachtvoll ausgestattet. Die Kapelle spielte, und Margot lauschte der Musik. Als um elf Uhr abends die ›Ceramia‹ den Hafen von Cherbourg verließ, begab sich Margot in die Kabinen, um sich zur Ruhe zu legen.

 

Sie konnte Seereisen außerordentlich gut vertragen und brauchte die Seekrankheit nicht zu fürchten. Trotzdem es im Kanal etwas unruhiger wurde, schlief sie vorzüglich, bis Jenny ihr am nächsten Morgen eine Tasse Tee und eine Apfelsine ans Bett brachte.

 

»Ist irgendeine Nachricht für mich gekommen?«

 

»Nein.«

 

»Auch kein Radiotelegramm?«

 

»Leider nicht.«.

 

»Gut, dann machen Sie mein Bad fertig.«

 

Sie war bitter enttäuscht. Wenn Jim nicht die Möglichkeit hatte, sich an Bord von ihr zu verabschieden, hätte er ihr doch wenigstens noch eine Nachricht schicken können. Er war doch auch schon an Bord großer Schiffe gewesen und hatte Seereisen gemacht. Er mußte doch wissen, daß man den Leuten unterwegs drahtlose Telegramme schicken konnte.

 

Als sie sich angekleidet hatte, suchte sie den Zahlmeister auf, den sie schon von früheren Reisen her kannte, und fragte ihn aus.

 

»O ja, wir sind schon weit genug vom Land entfernt, um Telegramme aufzunehmen. Es sind auch während der Nacht schon eine ganze Anzahl Radiotelegramme eingelaufen.«

 

Er sah sich um und sprach dann vorsichtig und leise.

 

»Es war sogar eine Nachfrage von dem Justizministerium oder der Polizei dabei. Sie erkundigten sich, ob ein Mann an Bord wäre, der im Verdacht steht, jemand ermordet zu haben.«

 

Kapitel 7

 

7

 

Margot schauderte.

 

»Ist er denn an Bord?« fragte sie schnell.

 

Der Zahlmeister lachte.

 

»Nein, das nicht, aber mich hat man in der Nacht um drei Uhr aus dem Bett geholt, damit ich die telegraphischen Anfragen beantworten sollte. Das war keine Kleinigkeit. Ich mußte über tausend verschiedene Reisepässe durchsehen, und das ist natürlich etwas langweilig.«

 

Margot lachte und fühlte Mitleid mit ihm.

 

»Sind eigentlich viele Passagiere an Bord?«

 

»Ja, wir sind besetzt bis auf den letzten Platz. Ohne Durchsicht der ganzen Pässe hätte ich keine Antwort geben können. Ich durfte doch nicht die Passagiere mitten in der Nacht aus den Kabinen zusammentrommeln. Glücklicherweise war ich in der Lage, die Frage zu verneinen. Wenn er England auf einem Dampfer verlassen hat, was sehr unwahrscheinlich ist, mußte er nicht gerade die ›Ceramia‹ nehmen. Gestern sind ein Dutzend großer Passagierdampfer aus englischen Häfen ausgelaufen. Miss Cameron, seien Sie versichert, ich werde Ihnen sofort das Telegramm zusenden, wenn etwas für Sie ankommen sollte.«

 

Damit mußte sie sich zufriedengeben. Es war Sonntagvormittag, und sie ging zu dem Gottesdienst, der im Salon der ersten Klasse abgehalten wurde. Nachher brachte sie den Tag mit Lesen zu, aber die Stunden zogen sich endlos hin. Gegen Abend sah sie Mrs. Stella Markham wieder. Es war schwer, ihr an Bord aus dem Weg zu gehen, da ihr Deckstuhl direkt neben dem Margots stand und die Passagiere auf den Fahrten über den Atlantik denselben Stuhl für die ganze Reise behalten. Sie saßen nebeneinander, als plötzlich ein unglücklicher Passagier vorüberwankte. Mrs. Markham lachte leicht auf.

 

»Das ist mein armer Butler. Er wird so leicht seekrank.«

 

»Reist er denn auch erster Klasse?« fragte Margot überrascht, denn Dienstboten reisten gewöhnlich in einer tieferen Klasse.

 

Mrs. Markham nickte.

 

»Ja, warum auch nicht?« entgegnete sie gelassen. »Wenn ich einen Hund hätte, würde er auch erster Klasse fahren. Ich kann die Passagiere niederer Klassen nicht leiden.«

 

»Sie scheinen ja eine überzeugte Demokratin zu sein«, entgegnete Margot lächelnd.

 

Mrs. Markham sah sie einen Augenblick erstaunt an.

 

»Ich hasse Leute, die ironisch oder sarkastisch werden.«

 

»Dann müssen Sie mich ja ganz besonders gern haben«, lachte Margot.

 

Stella Markham lächelte.

 

»Ich hasse Sie nicht. Sie sind so jung und erfrischend, daß man gern mit Ihnen spricht. Ich würde viele Millionen dafür geben, wenn ich mit Ihnen tauschen könnte.«

 

»Wer soll denn die Millionen bekommen?«

 

»Ach, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich kümmere mich nicht viel um Geld. Sie sind wirklich glücklich zu nennen.«

 

Als Margot hinunterging, um sich für den Abend umzukleiden, fiel ihr plötzlich ein, daß sie Mrs. Dupreid ganz vergessen hatte. Sie benützte die Gelegenheit, bei ihr vorzusprechen. Wieder erschien dasselbe Mädchen mit den harten Gesichtszügen.

 

»Mrs. Dupreid fühlt sich wohler, aber sie schläft jetzt. Gegen Abend werde ich sie an Deck bringen, damit sie einen kurzen Spaziergang macht.«

 

Margot hatte die Beruhigung, wenigstens ihre Pflicht getan zu haben. Der Tag schien überhaupt kein Ende nehmen zu wollen. Margot seufzte erleichtert auf, als sie in ihren Pyjama schlüpfte und den Sonntag in ihrem Kalender ausstrich.

 

Montag ging es nicht anders, nur war es wärmer geworden, und die Passagiere hatten die Mäntel abgelegt. Viele lehnten an der Reling oder streckten sich behaglich in ihren Deckstühlen im Sonnenschein.

 

Mrs. Stella Markham war die erste, die eine Andeutung darüber machte, daß irgend etwas an Bord nicht stimmte.

 

»Ich hatte gestern abend ein aufregendes Abenteuer«, erzählte sie, als sie neben Margot Platz nahm.

 

»Das klingt ganz unterhaltend«, erwiderte Margot. »Gerade im Augenblick kann ich ein wenig Zerstreuung gut gebrauchen.«

 

»Meine Kabine liegt auf dem A-Deck, auf dem wir uns jetzt befinden; meine Fenster sind direkt unter der Kommandobrücke. Es ist geradezu gefährlich, wenn man vergißt, die Vorhänge vor die Luken zu ziehen, und noch unangenehmer, wenn draußen Liebespärchen an der Reling stehen, nachdem die Lichter abgedreht sind. Man hört alles so genau. Diese Unterhaltungen von Verliebten sind doch wirklich albern, meinen Sie nicht auch?«

 

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Margot ruhig. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, andere Leute dabei zu belauschen.«

 

Mrs. Markham sah sie lächelnd an.

 

»Also, das erste Abenteuer erlebte ich, als ich gleich nach dem Abendessen an Deck kam. Mein Mädchen ging auf dem vorderen Deck spazieren, und ich muß sagen, daß ich eine gewisse Verantwortung für sie fühle, besonders da sie gern Herrenbekanntschaften macht. Sie lehnte sich an die Reling und schaute auf die Leute im Zwischendeck hinunter. Zufällig drehte sie sich um und sah, daß sich jemand in meinen Räumen befand. Sie konnte direkt durch das Fenster in mein Schlafzimmer sehen. Von dort aus führt eine Tür in den Tagesraum, eine andere in das Badezimmer. Sie sah sich an Deck um, und zu ihrem Erstaunen bemerkte sie eine Dame, die ängstlich in meine Kabine schaute.«

 

»Wie sah sie denn aus?«

 

»Das kann mein Mädchen leider nicht genau sagen. Sie behauptet, daß sie dicht verschleiert war. Das klingt ja sehr romantisch, aber man hat keinen weiteren Anhaltspunkt dadurch. Ich habe noch keine dichtverschleierten Passagiere an Bord des Schiffes gesehen, obwohl manche Damen wirklich gut daran täten, ihr Gesicht zu verschleiern, damit man ihre unangenehmen Züge nicht den ganzen Tag sehen müßte.«

 

»Nun, und was geschah weiter?«

 

»Die Dame sah mein Mädchen und entfernte sich schnell. Inzwischen eilte meine Zofe so schnell wie möglich nach dem Saloneingang. Aber sie konnte in dem langen Korridor keine verschleierte Dame entdecken. Und als sie dann zu meinen Räumen kam, waren sie leer.«

 

»Wahrscheinlich hat sich die Dame in der Tür geirrt.«

 

»Daran dachte ich auch zuerst, aber das Merkwürdigste kommt noch. Etwa um halb zwölf Uhr in der Nacht ging ich noch mit Mr. Winter ein paarmal an Deck auf und ab – so heißt mein Butler. Er ist ein sehr achtbarer Mann. Der Geistliche, Mr. Price von Texas, begleitete uns, und wir sprachen über verschiedene Kleinigkeiten. Sie wissen ja, man redet die albernsten Dinge, nur damit die Unterhaltung nicht einschläft. Und so ein Pfarrer ist die einzig mögliche Person, die einem Gesellschaft leisten kann, wenn man mit seinem Butler zusammen ist. Wir gingen zusammen auf und ab, bis es zwölf war und von der Kommandobrücke die Glocke zur Ablösung ertönte. Dann verabschiedete ich mich von Mr. Price und ging zu meiner Kabine. Winter hatte den Auftrag, mich bis zur Tür zu begleiten.

 

Als ich öffnete, brannte das Licht. Ich wollte gerade eine Bemerkung zu Winter machen, als ich eine schmutzige Hand und einen blauen Ärmel sah, der plötzlich aus dem anderen Zimmer um die Ecke tastete und das Licht abdrehte. Mr. Winter ist sehr mutig, er eilte sofort in mein Schlafzimmer, drehte das Licht an und kam gerade noch zur rechten Zeit, um zu sehen, wie ein Mann wie ein Aal durch die Kabinenluke auf das Deck kletterte. Er verschwand über die Reling nach unten.«

 

Margot sah sie bestürzt an.

 

»Wer war das denn?«

 

»Es muß ein Matrose gewesen sein. Natürlich habe ich mich beim Kapitän beschwert.«

 

»Weshalb ist der Mann in Ihre Kabine eingedrungen? Wollte er Sie bestehlen?«

 

Mrs. Markham schüttelte den Kopf.

 

»Ich bin ziemlich sorglos mit meinen Schmucksachen. Es. lagen verschiedene wertvolle Stücke in der Kabine umher, aber wir müssen ihn wahrscheinlich bei der Arbeit gestört haben, denn es fehlte nichts.«

 

»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«

 

»Das war unmöglich, aber Mr. Winter sagte, daß es vermutlich ein Heizer gewesen ist. Sein Gesicht und seine Hände waren schmutzig, und er trug einen dunkelblauen Kittel, wie ihn gewöhnlich die Heizer im Dienst anhaben.«

 

Der Kapitän nahm die Sache offenbar sehr ernst, denn am Nachmittag ließ er alle Heizer am hinteren Deck antreten. Mr. Winter begleitete Mrs. Markham, um den Schuldigen herauszufinden.

 

Aber er hatte keinen Erfolg, er erkannte den Mann nicht wieder. Jedenfalls war der Gesuchte nicht unter den Heizern, die angetreten waren.

 

Am Abend erhielten die Passagiere je ein Exemplar der Schiffszeitung, die an Bord gedruckt wurde. Darin standen die wichtigsten Funknachrichten. Margot war gespannt, ob etwas von dem Erlebnis von Mrs. Markham erwähnt wurde.

 

Sie las die Zeitung von Anfang bis zu Ende sorgfältig durch, aber meistens wurden Auszüge aus Vorträgen und Reden gegeben, die irgendwelche politische Persönlichkeiten gehalten hatten. Dafür interessierte sie sich nicht im mindesten. Sie las von dem letzten Stand der Tennisturniere an der Riviera, dann kamen Börsenberichte; das war alles.

 

Margot sprach den Zahlmeister an, als er am Abend auf dem Promenadendeck erschien.

 

»Ihre Zeitung ist gerade nicht sehr interessant.«

 

»So interessant, wie wir sie eben machen können«, entgegnete er lächelnd. »Wir können doch nur das drucken, was uns gesandt wird.«

 

»Haben Sie denn nichts unterschlagen?«

 

»Nein, bestimmt nicht, Madame. Erwarteten Sie etwas Besonderes in der Zeitung zu finden?«

 

»Nein, nein, das gerade nicht«, sagte sie und zuckte die Schultern. »Aber ich hoffte, etwas Anregenderes zu entdecken als die langweiligen Reden des Ministerpräsidenten.«

 

Den letzten Teil der Unterredung hatte Mrs. Markham mit angehört. Sie ging jedoch fort, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen.

 

»Hat Ihnen Mrs. Markham erzählt, was gestern abend passierte?«

 

Margot nickte.

 

»Ich wünschte, es wäre nicht vorgekommen«, sagte der Zahlmeister beunruhigt. »Ich habe schon an und für sich sehr viel zu tun. Aber es vergeht kaum eine Reise ohne einen solchen Zwischenfall. Wenn sich dreitausend Leute an Bord eines Schiffes aufhalten, sind immer auch einige Verbrecher dabei. Unsere eigenen Leute sind vollkommen ehrlich, sie sind meistens schon lange Jahre im Dienst, und wir haben nie eine Klage über sie bekommen. Früher, als die Schiffe noch Kohlenfeuerung hatten, war es allerdings schlecht mit den Heizern. Damals mußten wir froh sein, wenn wir den Abschaum der ganzen Menschheit anheuern konnten. Aber bei der modernen Ölfeuerung können wir uns die Leute aussuchen, und gewöhnlich sind sie dem Chefingenieur persönlich bekannt.«

 

»Ist das Mr. Smythe?«

 

»Ja. Kennen Sie ihn?«

 

»Ich habe von ihm gehört. Er ist der Freund eines guten Bekannten von mir.«

 

Margot war merkwürdigerweise wach an dem Abend, saß noch lange an Deck, nachdem die Mehrzahl der Passagiere nach unten gegangen war, und las bei einer Lampe.

 

Sie sah, wie Mrs. Markham vorbeikam und sich auf den Arm ihres Butlers stützte. Kurz darauf verschwanden die beiden. Die meisten Lichter an Bord waren gelöscht, und die Decks lagen verhältnismäßig einsam und verlassen. Nur noch ein paar verspätete Passagiere gingen auf und ab.

 

Margot wollte gerade in ihre Kabine gehen, als sie plötzlich einen Mann bemerkte, der langsam vom hinteren Ende des Schiffes näher kam. Er trug Abendkleidung, blieb aber immer nahe an der Reling und sah meistens nach der dunklen Wasserfläche hinaus auf die See. Erst als er mit ihrem Stuhl in gleicher Höhe kam, drehte er sich um. Mit einem lauten Ausruf sprang sie auf.

 

Es war Jim Bartholomew!

 

»Jim!« rief sie atemlos und streckte beide Hände aus. »Warum – wieso –«

 

»Pst!« flüsterte er leise. »Nenne mich nur nicht Jim.«

 

»Aber ich verstehe nicht, was das zu bedeuten hat.«

 

»Nenne mich John Wilkinson, das ist auch ein ganz guter Name.«

 

»Aber, Jim, was ist denn passiert? Was hat das alles zu bedeuten? Warum bist du an Bord des Schiffes? Ich freue mich ja so! Ich habe mir schon so große Sorgen gemacht, daß du bei der Abfahrt des Schiffes nicht da warst.«

 

Er sah sich vorsichtig um.

 

»Geh zur Reling und tue so, als ob du aufs Meer hinausschaust. Dann komme ich zu dir, und wir können miteinander sprechen, Margot –«, sagte er, und seine Stimme klang ernst und leise – »ich möchte, daß wir wirkliche Freunde werden.«

 

»Danach brauchst du nicht erst zu fragen«, erwiderte sie ebenso.

 

»Ich werde deine Geduld auf eine größere Probe stellen, als es im allgemeinen von einer Frau verlangt wird. Zunächst einmal bitte ich dich, mich jeden Abend hier zu erwarten.«

 

»Aber warum kann ich dich nicht am Tag treffen?«

 

»Es gibt Gründe dafür, die du glücklicherweise nicht kennst.«

 

Ihr Herz schlug heftig. Sie fürchtete, daß ihm etwas geschehen könnte, und wilde Vermutungen stiegen in ihr auf. Aber dadurch kam sie der Lösung des Geheimnisses nicht näher.

 

»Ich verstehe es nicht.« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Aber ich traue dir, und bin so glücklich, daß du an Bord des Schiffes bist. Unter welchem Namen bist du hier?«

 

»John Wilkinson. Es ist gerade keine originelle Idee, nur der erste Name, der mir eingefallen ist.«

 

»Wo ist deine Kabine?«

 

Er lachte leise.

 

»Eine Kabine habe ich nicht, wenigstens nicht für mich allein.«

 

»Aber, Jim.«

 

Er drückte ihre Hand.

 

»Mein Liebling, vor vier Tagen hatte ich die Möglichkeit, dich darum zu bitten, meine Frau zu werden. Ich hätte dich in die Arme schließen können, und du wärst mein gewesen. Aber diese Gelegenheit habe ich versäumt. Es war eine Art Eitelkeit – die Männer nennen es Stolz –, die mich davon abschreckte, weil du sehr reich bist. Und heute bin ich nicht nur in Gefahr, dich ganz und gar zu verlieren, sondern dir auch so großen Kummer zu bereiten, daß darüber dein Herz bricht. Du mußt den Kopf oben behalten, die Zähne zusammenbeißen und an mich glauben, dann hoffe ich, in vier Tagen das schwere Unheil abgewandt zu haben.«

 

»In den nächsten vier Tagen?« fragte sie besorgt.

 

Er nickte.

 

»Es klingt so seltsam, besonders da ich vorher davon sprach, daß ich Jahre darauf warten wollte, um dich zu gewinnen. Ich muß in vier Tagen mein Ziel erreichen, oder ich gehe vollkommen unter. Liebste Margot, willst du mir soviel Vertrauen schenken? Kannst du an mich glauben?«

 

Sie nickte und schmiegte sich an ihn.

 

»So, nun mußt du nach unten gehen. Ich werde hier an die Reling gelehnt bleiben. Gerade im Augenblick kommt so ein schiefäugiger Schiffsinspektor, der soll keine Unterhaltung mit mir anfangen. Gute Nacht.«

 

Er zog eine ihrer Hände unter den Arm und küßte ihre Fingerspitzen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, Freude und Furcht rissen sie hin und her. Sie fürchtete für den Mann, den sie liebte, denn sie fühlte, daß er in großer Gefahr schwebte.

 

Am nächsten Morgen hatte sie eine Unterredung mit dem Obersteward. Sie gab ihren einzelnen Tisch auf und ließ sich einen Platz am Tisch des Zahlmeisters anweisen. Vier andere Passagiere hatten dort Plätze belegt. Zwei von ihnen erschienen während der ganzen Reise nicht bei den Mahlzeiten; der dritte war ein Deutschamerikaner, der immer sehr pünktlich und zeitig kam und gewöhnlich seinen Platz schon verlassen hatte, ehe Margot sich setzte.

 

»Ich habe noch niemals eine so unangenehme Tischgesellschaft gehabt«, sagte der Zahlmeister zu Margot. »Und ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie meinen Tisch mit mir teilen wollen. Da wird doch das Leben erst lebenswert. In Zukunft werde ich von jedem Passagier, der einen Platz an meinem Tisch haben will, eine schriftliche Garantie dafür verlangen, daß er zu den Mahlzeiten richtig erscheint. Übrigens speist gewöhnlich noch ein italienischer Offizier mit mir zusammen, haben Sie ihn vielleicht schon gesehen?«

 

»Ach, ist das der Herr mit den großen grauen Breeches?«

 

»Ja, den meine ich.«

 

Sie hatte den distinguierten italienischen Stabsoffizier in seiner feldgrauen Uniform, den vielen Goldtressen und den blankpolierten Reitstiefeln schon gesehen. Vor allem war er ihr aufgefallen durch seine Breeches und den breiten, eleganten Schnitt seines Waffenrocks.

 

»Er heißt Pietro Visconti, ist ein großer Patriot und geht als Attaché an die Italienische Botschaft in Washington. Jedenfalls reist er auf diplomatischem Paß.«

 

Kurz darauf erschien der Italiener. Er war verhältnismäßig klein, hatte scharf geschnittene, intelligente Gesichtszüge und sprach sehr viel und sehr lebhaft. Sein Benehmen war tadellos, und er bewegte sich etwas eckig militärisch, besonders wenn er sich aus dem Hüftgelenk heraus verbeugte. Englisch sprach er fließend, und er war äußerst unterhaltend, sogar humoristisch.

 

Margot brauchte seine Komplimente nicht allzusehr abzuweisen. Er war ihr nicht gefährlich, denn er vertraute ihr noch am selben Nachmittag an, daß er sich leidenschaftlich in eine andere Dame verliebt hätte. Margot seufzte erleichtert auf, als sie dies hörte. Es handelte sich um niemand anders als Mrs. Markham. Er sprach über ihre schönen Augen, ihre anmutige Gestalt, ihren zarten, reinen Teint und ihre vornehme Haltung. Gewöhnlich redete er, wenn er bei diesem Thema angekommen war, ohne Komma und Punkt eine halbe Stunde lang.

 

Margot war froh über die Zerstreuung, denn wenn ihr die Tage vorher schon lang vorgekommen waren, so schien dieser Tag überhaupt kein Ende zu nehmen. Sie versuchte, am Nachmittag etwas auszuruhen und zu schlafen, um frisch und munter für die Unterhaltung mit Jim zu sein, aber sie konnte nicht einschlafen. Und als sie dann an Deck zurückkehrte, traf sie Major Visconti, der sie gleich wieder in eine Unterhaltung verwickelte.

 

Am Abend stellte Mrs. Markham ihr den Pfarrer Charles Price vor. Nach kurzem Gespräch schon war sie angenehm überrascht, denn sie hatte es mit einem liebenswürdigen, klugen Mann zu tun, der sich sehr taktvoll mit ihr unterhielt und in seinen Ansichten großzügig war. Er erzählte ihr, daß er aus Gesundheitsrücksichten eine Reise nach Europa gemacht hätte.

 

»War es wegen Ihrer Nerven?« fragte Margot.

 

Er sah sie überrascht an.

 

»Ja. Wie kommen Sie darauf?«

 

»Sie sind noch etwas aufgeregt. Seit Sie mit mir sprechen, sehen Sie sich dauernd um, und bei dem geringsten Geräusch fahren Sie zusammen.«

 

Er nickte.

 

»Das stimmt. Das Abenteuer von Mrs. Markham ist mir auf die Nerven gefallen. Es tut mir wirklich leid, daß sie solche Aufregung gehabt hat, und ich muß sagen, daß sie ziemlich mutig ist.«

 

Der Decksteward brachte den Tee, den er auf kleinen, geflochtenen Tabletts servierte.

 

»Gehen Sie zu Bekannten nach Amerika?« fragte Mr. Price, indem er die Teetasse entgegennahm.

 

»In gewisser Weise ja, aber hauptsächlich ist es ein geschäftlicher Besuch. Dann kann ich hoffentlich nach England zurückkommen.«

 

Im selben Augenblick fiel ihr allerdings ein, daß sie nicht sofort umkehren mußte, da Jim ja auch nach Amerika reiste. Was er in New York vorhatte, konnte sie nicht ahnen. Die nächsten vier Tage sollten eine wichtige Entscheidung für ihn bringen. Wo mochte er sich nur aufhalten? Warum kam er nicht aufs Promenadendeck zu den anderen Passagieren?

 

Schließlich zuckte sie die Schultern und gab es auf, das Geheimnis lösen zu wollen. Mr. Price, der sie dauernd durch seine große Brille scharf beobachtet hatte, reichte ihr die leere Tasse zurück.

 

»Meiner Meinung nach sind Sie selbst nervös, Miss Cameron«, sagte er.

 

Als sie zum Abendessen kam, fand sie außer der Bordzeitung auch noch eine Passagierliste. Darauf hatte sie schon sehr gewartet, aber nicht gewagt, danach zu fragen. Sorgfältig durchsuchte sie die langen Spalten, und als sie alles durchgelesen hatte, war sie enttäuscht.

 

Jim stand nicht darauf, weder unter seinem eigenen Namen noch als John Wilkinson. Sie faltete die Liste nachdenklich wieder zusammen und legte sie neben ihren Teller.

 

»Haben Sie nach jemanden gesucht?« fragte der Zahlmeister.

 

»Ja«, erwiderte sie so gleichgültig wie möglich. »Ein Freund von mir wollte eventuell mit diesem Dampfer reisen – ein Mr. John Wilkinson.«

 

Der Zahlmeister schüttelte den Kopf.

 

»Wir haben keinen Wilkinson an Bord, weder in der ersten noch in der zweiten oder dritten Klasse. Ich weiß es ganz genau, weil ich heute die Landungsausweise durchgesehen und mit der Passagierliste verglichen habe.«

 

»Nicht an Bord?« fragte sie ungläubig.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, wir haben diesmal keinen Passagier, der Wilkinson heißt. Das ist etwas ungewöhnlich, denn der Name kommt ziemlich häufig vor. Aber es sind schon andere Dinge passiert – einmal habe ich drei Überfahrten hintereinander gemacht, ohne daß wir einen Smith an Bord hatten!«

 

Er mußte früh vom Tisch aufstehen, denn infolge der Erkrankung eines Assistenten ruhte die ganze Last der Arbeit auf ihm.

 

»Übrigens, Miss Cameron«, sagte er, als er ging, »wenn Sie einmal etwas Interessantes sehen wollen und solange aufbleiben können, würde ich Ihnen ganz gern einmal unsere Radiostation zeigen.«

 

Ihre Augen glänzten.

 

»Die würde ich sehr gern sehen – aber haben Sie nicht zuviel zu tun?«

 

»Selbst Zahlmeister dürfen sich ausruhen. Würden Sie um halb eins auf dem obersten Deck auf mich warten? Dann zeige ich Ihnen unsere Radioanlage.«

 

Jim wollte sie um zwölf Uhr treffen. Lange konnte er doch nicht bleiben, also durfte sie ruhig diese Verabredung eingehen. Sie nickte.

 

Es war erst halb zwölf, als sie aufs Deck hinausging. Fünf Minuten vor zwölf kam Jim langsam die Reling entlang. An diesem Abend blieb er häufiger stehen, um aufs Meer hinauszuschauen. Es war herrliches Wetter, und das Schiff lag vollkommen ruhig auf dem Wasser. Es waren auch sonst viel mehr Passagiere draußen, um die frische Luft zu genießen.

 

Sie ging ebenfalls zur Reling. Er hatte gerade zwischen zwei Decklampen haltgemacht und sich über das Geländer gelehnt. Äußerlich war er vollkommen korrekt gekleidet, aber sie fand, daß er müde und bleicher aussah.

 

»Es war heute sehr heiß«, sagte er, als sie sich nach seinem Befinden erkundigte. »Und ich war – in meiner Kabine.«

 

»Hast du eigentlich Frank noch vor deiner Abfahrt gesprochen?«

 

»Nein, dazu hatte ich keine Zeit. Ich bin erst Freitag abend gefahren.«

 

Sie fragte ihn nicht nach dem Grund, denn sie fühlte, daß er darauf keine Antwort geben könnte.

 

»Margot«, fragte er plötzlich, »willst du mir nicht etwas von deiner Schwägerin erzählen?«

 

»Von Cecile?« erwiderte sie überrascht.

 

Er nickte.

 

»Aber, Jim, du weißt doch alles, was man von ihr erzählen könnte. Vor sieben Jahren heiratete sie Frank.«

 

»Was war sie denn vor ihrer Heirat?«

 

»Wie meinst du das? Sie lebte doch in äußerst guten Verhältnissen, denn sie war die Tochter von Henrick Benson. Sicher hast du doch von diesem reichen Künstler gehört? Und bestimmt besinnst du dich noch darauf, daß er den Ring mit den Töchtern der Nacht anfertigte.«

 

Er nickte.

 

»Weißt du etwas über die Familie?«

 

»Nein. Nur, daß ihre Schwester im Alter von achtzehn Jahren heiratete und in ihrer Ehe unglücklich wurde. Ich habe nicht viel darüber erfahren, Cecile spricht nicht gern über diesen Punkt. Ihre Schwester lief, als sie noch zur Schule ging, mit einem Chauffeur davon. Es ist doch ganz selbstverständlich, daß sie das gerade nicht an die große Glocke hängen möchte. Und auf jeden Fall ist die arme Frau ja später gestorben.«

 

»Das habe ich auch erfahren. Weißt du denn, was aus ihrem Mann geworden ist?«

 

Margot zögerte.

 

»Selbst darüber bin ich nicht ganz sicher. Aber er muß ein sehr schlechter Charakter gewesen sein – er ist dann längere Zeit ins Gefängnis gekommen. Ich habe mir selbst einen Vers daraus gemacht. Aber warum fragst du mich nach all diesen Dingen, Jim? Ach, ich habe mich schon wieder vergessen. Ich sollte dich doch nicht so ausfragen.«

 

Er lehnte sich zu ihr hinüber, sah sich erst noch einmal nach allen Seiten um und küßte sie dann aufs Ohr.

 

»Margot, denke an mich und halte den Daumen. Die nächsten drei Tage kommt es darauf an. Ich bin in einer sehr schwierigen Lage.«

 

Sie drückte liebkosend seinen Arm.

 

»Ja, ich will es tun. Ich werde immer an dich denken«, entgegnete sie ruhig.

 

»Und du mußt an mich glauben, was du auch immer hören magst.«

 

Sie nickte.

 

»So, nun geh wieder nach unten, Liebes. Ich muß mich leise zu meinem Versteck schleichen.«

 

Sie wollte schon gehen, als er sie am Arm faßte und wieder zur Reling zog. Zwei junge Passagiere kamen das Deck entlang und unterhielten sich angeregt. Den einen hatte sie schon vorher gesehen, der andere war ihr fremd. Äußerlich schienen es gewöhnliche Passagiere erster Klasse zu sein, aber auf Jim hatte ihr Erscheinen einen sonderbaren Einfluß.

 

»Was stimmt denn nicht?« fragte sie leise, als die beiden vorübergingen. »Kennst du die beiden?«

 

»Einen von ihnen«, entgegnete Jim grimmig. »Den Mann, der uns am nächsten ist!«

 

»Wer ist es denn?«

 

»Das kann ich nur vermuten. Als ich ihn das letztemal sah, war er nackt bis zum Gürtel und hieß Nosey. Jetzt müssen wir uns aber trennen, ich muß fort.«

 

Als sie kurz darauf wieder zum Deck zurückkehrte, war er verschwunden. Auch von dem geheimnisvollen Nosey konnte sie nichts mehr entdecken.

 

Kurz nach zwölf kam der Zahlmeister und zeigte ihr die enge Treppe, die zur drahtlosen Kabine führte und zwischen den beiden großen Schornsteinen der ›Ceramia‹ lag. Es war sehr heiß, aber der Raum war taghell erleuchtet. Die kleinen Lampen auf dem Schaltbrett trugen das ihre dazu bei. Der Radiotelegraphist erklärte ihr die Funktion der einzelnen Instrumente, und es dauerte nicht lang, bis sie auch einen Kopfhörer angelegt hatte und lauschte.

 

»Das ist die ›Campania‹«, erklärte der Telegraphist. »Sie liegt dreihundert Meilen weiter zurück.«

 

»Großartig«, sagte sie. »Und was ist das für ein anderes Geräusch?«

 

Er stellte eine längere Welle ein, was natürlich in den Apparaten allerhand unangenehme Geräusche verursachte.

 

»Das ist Aberdeen, die letzte Station, die wir von England hören können. Morgen haben wir keine Verbindung mehr mit dem Lande.« Einer der Operateure sah zu ihr hinüber. »Ich glaube, das sind die Nachrichten, die jetzt durchgegeben werden. Entschuldigen Sie, ich brauche jetzt den Kopfhörer selbst.«

 

Er befestigte ihn und setzte sich nieder, dann legte er einen großen Schreibblock vor sich hin.

 

Gleich darauf begann er zu notieren und sah sich nach dem Zahlmeister um.

 

»Ich weiß nicht, ob es Zweck hat, diese Nachrichten aufzufangen. Der Erste Offizier hat doch ausdrücklich Anweisung gegeben, daß nichts von dem Mord in Moorford in die Bordzeitung kommen soll.«

 

»Was hat es denn für eine Bewandtnis mit dem Mord in Moorford?« fragte sie ängstlich. »Um was handelt es sich denn?«

 

»Alle Nachrichten darüber hat der Erste Offizier aus der Bordzeitung gestrichen«, erklärte der Zahlmeister. »Ich glaube, er tat es, damit der Verbrecher nicht gewarnt wird, wenn er sich zufällig an Bord dieses Schiffes befinden sollte. Die Sache ist in einer Bank passiert.«

 

Margot hatte sich an eine Kabinenwand gelehnt; sie war furchtbar blaß geworden, aber bei dem unheimlich hellen Licht der elektrischen Lampen konnten die anderen es nicht sehen.

 

»Der zweite Direktor, ein Mann namens Stephenson oder Sanderson, wurde erschossen, und der erste Direktor, Mr. Bartholomew, wurde mit einem Revolver in der Hand angetroffen. Das hätte an und für sich nichts zu bedeuten gehabt, denn das ließe sich ja erklären. Bartholomew hatte sich erst wenige Minuten vorher von dem Polizeiinspektor getrennt. Aber in der darauffolgenden Nacht verschwand er und nahm ein Diamanthalsband im Wert von hundertzwölftausend Pfund mit. Zufällig befindet sich die Dame, der der Schmuck gehört, an Bord dieses Schiffes. Es ist eben ein Radiotelegramm angekommen, das den Verlust meldet. Ich werde ihr die Nachricht morgen in aller Frühe zustellen lassen.«

 

»Was – was ist denn mit Bartholomew geschehen?« fragte sie leise.

 

»Er ist entkommen«, erklärte der Zahlmeister mit einem Achselzucken. »Es ist allerdings möglich, daß sie ihn erwischt haben, seit wir die letzte Mitteilung darüber erhielten. Haben Sie heute nacht weitere Nachrichten gehört?« wandte er sich an den Operateur.

 

»Nein, es ist nicht der Rede wert. In Frankreich haben sie einen Mann verhaftet, aber es stellt sich jetzt heraus, daß es nicht Bartholomew ist.«

 

Margot machte einen Schritt vorwärts und wäre gestürzt, wenn der Zahlmeister sie nicht aufgefangen hätte.