Kapitel 4

 

4

 

»Das hätten wir also herausbekommen«, sagte Luke grimmig. »Das Datum in der Zeitungsanzeige war nicht ganz richtig angegeben, um die Leute irrezuführen. Wir wollen jetzt einmal zur Versteigerung des Siegers gehen.«

 

Es war ein nicht allzu bestechend aussehender Brauner, der einem Rennstallbesitzer im Norden Englands gehörte. Luke sah in seinem Rennbuch nach und stellte fest, daß das Pferd nur ein Rennen mitgemacht hatte, und zwar als Zweijähriger.

 

Die Angebote stiegen bis auf zwölfhundert Pfund, bevor das Pferd von dem früheren Eigentümer wiedererworben wurde.

 

»Das war ja nun auch wieder ein richtiges Theater«, sagte Luke geheimnisvoll. »Der Mann, dem das Tier gehören soll, hat in seinem Leben überhaupt nie zwölfhundert Pfund besessen. Sehen Sie, dort steht der richtige Eigentümer!«

 

Er zeigte auf den korpulenten Mr. Trigger, der selbstzufrieden quer über den Sattelplatz ging, eine dicke Zigarre rauchte und allem Anschein nach mit sich und der Welt zufrieden war. Blanter und Goodie standen in der Nähe der Barriere und sprachen eifrig miteinander. Gleich darauf trat Trigger zu ihnen.

 

»Sie haben diese Transaktion für einen Zeitraum nach dem nächsten Donnerstag angekündigt«, erklärte Luke. »Die Anzeige war vollkommen überflüssig. Trigger will ja auch keine neuen Kunden durch die Zeitung werben; er nimmt sie doch nur auf Empfehlungen hin an. Aber es ist tatsächlich schwer, diesen Kerlen auf die Finger zu sehen. Trigger und seine Partner haben das eine große Geheimnis des Erfolges auf dem Rennplatz erfaßt, und das ist Geduld, Geduld und nochmals Geduld!«

 

Als Edna zu der Gruppe hinübersah, trennten sich die drei voneinander. Trigger und der Doktor gingen langsam nach dem Rennbüro, und Goodie blieb allein. Er sah düster drein, während er sich mit dem Rücken an die Barriere lehnte. Die Daumen hatte er in die Westentaschen gesteckt und den Blick auf den Boden gesenkt.

 

»Ich möchte ihn gern einmal sprechen«, sagte Edna. »Wollen Sie so freundlich sein und mich mit ihm bekannt machen?«

 

Luke zögerte zunächst.

 

»Ja, selbstverständlich«, sagte er dann. »Es fragt sich nur, ob es empfehlenswert ist, daß ich mich in der Rolle Ihres Beschützers und Freundes zeige. Aber die haben uns wahrscheinlich schon gesehen, und wissen können sie auch ruhig, daß Sie mit der Polizei in Verbindung stehen.«

 

Er ging mit ihr auf Goodie zu, der auch dann nicht aufsah, als sie bereits vor ihm standen. Aber Edna wußte instinktiv, daß er sie unter seinen gesenkten Augenlidern hervor den ganzen Weg quer über den Sattelplatz beobachtet hatte.

 

»Guten Tag, Mr. Goodie. Miss Gray möchte Sie kennenlernen.«

 

Goodie schaute langsam auf, zog einen seiner Daumen aus der Westentasche und reichte ihr gleichgültig die Hand. Sein Anblick aus nächster Nähe war noch weniger anziehend, als sie gedacht hatte. Viele Linien und Furchen durchzogen sein gelbes Gesicht, das an einen vertrockneten Apfel erinnerte. Sein Alter konnte man nur schwer schätzen.

 

Zuerst glaubte Edna, der böse Blick des Mannes gelte Mr. Luke, aber später sah sie, daß sich der abstoßende Ausdruck in Goodies Augen kaum änderte.

 

»Wie geht es Ihnen, Miss Gray?«

 

Er sprach langsam und sah sie mit seinen blaßblauen Augen durchdringend an, als ob er ihre Gedanken lesen wollte.

 

»Ich hörte, daß Sie die Absicht haben, in Ihre Heimat zurückzukehren und in Longhall House zu wohnen. Zu dem Zweck wollten Sie doch wohl auch den Schlüssel haben? Ich habe an Mr. Rustem telegrafiert, daß er sie Ihnen schicken soll. Er wohnt diese Woche vorübergehend in meinem Hause. Es tut mir leid, daß Sie sich auf Longhall niederlassen wollen, denn das ganze Haus ist mit Ratten verseucht. Es ist schwer, die Tiere niederzuhalten, wenn die Ställe in der Nähe sind, Miss Gray. Sie werden finden, daß sie eine große Plage für Sie sind.«

 

Er machte eine Pause und feuchtete die blutleeren Lippen mit der Zunge an, behielt Edna aber im Auge.

 

»Hinzu kommt, daß die Sorte, die wir draußen bei uns haben, besonders wild ist. Einer meiner Angestellten wurde neulich sogar von einem ganzen Rudel Ratten angegriffen.«

 

Sie nickte nur.

 

»Ich habe Ratten ganz gern«, entgegnete sie ruhig.

 

Luke, der sich im allgemeinen nicht leicht verblüffen ließ, hielt vor Überraschung den Atem an. Einen Augenblick war auch Goodie erstaunt.

 

»Nun, dann haben Sie ja reichlich Gelegenheit, sie zu beobachten und sich mit ihnen zu beschäftigen.«

 

Die Zigarre, die er im Mund hatte, brannte nicht; er machte sich auch nicht die Mühe, sie herauszunehmen, als er mit ihr sprach.

 

»Mein Angestellter hat mir gesagt, daß Sie mit Ihrem Auto da waren. Es hat mir leid getan, daß ich nicht zu Hause war. Haben Sie auch meine Pferde gesehen?«

 

Es war außergewöhnlich, daß Goodie auf derartige Dinge einging. Luke war nicht wenig verwundert. Aber er kannte den Mann sehr gut und wußte, daß Goodie mit jedem Wort, das er sagte, einen bestimmten Zweck verfolgte.

 

»Wir konnten sie einen Augenblick sehen, als sie vom Trainingsgelände zurückkehrten«, sagte Edna und fügte dann harmlos hinzu: »Ich nahm Mr. Garcia mit nach dort. Er ist auch ein großer Pferdezüchter und freute sich, daß er eine ganze Anzahl englischer Rennpferde zu sehen bekam.«

 

Mr. Goodie nickte langsam.

 

»Mr. Garcia ist Besitzer eines Gestütes? Nun, ich freue mich das zu hören. Ich lasse es bei meinen Pferden an nichts fehlen und sehe vor allem darauf, daß sie reichlich Futter und gesunde Ställe haben. – Ich hoffe, daß Sie Ihre Schlüssel bald bekommen. Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann, Miss Gray, dann brauchen Sie es mir nur mitzuteilen. Aber – wie gesagt, die Ratten …«

 

»Ich freue mich geradezu auf sie«, erwiderte Edna guten Mutes und verabschiedete sich.

 

*

 

»Sie haben doch nicht etwa wirklich Ratten gern?« fragte Luke, als sie durch die Menge weitergingen.

 

»Ich verabscheue sie«, erklärte sie mit einem schnellen Lächeln, »aber ich wollte mich von ihm nicht einschüchtern lassen. Er möchte doch anscheinend unter allen Umständen verhindern, daß ich nach Longhall ziehe. Ich habe mich aber fest entschlossen, dort zu wohnen.«

 

Er blieb stehen und sah sie groß an.

 

»Was – Sie wollen dort wohnen? In der Nähe von Goodie?«

 

Sie nickte.

 

»Aber doch nicht ganz allein?«

 

»Natürlich stelle ich einige Dienstboten ein.«

 

Zum erstenmal war es ihr unangenehm, daß er sich in ihre Angelegenheiten einmischte; aber ihr Unmut ging sofort vorüber.

 

»Warum sollte ich es denn nicht tun, Mr. Luke?«

 

»Weil es nicht gut ist«, entgegnete er mit Nachdruck. »Ich glaubte, Sie wollten das Haus nur aus Neugierde besuchen und dann verpachten. Es ist mir nicht im Traum eingefallen, daß Sie sich tatsächlich dauernd dort aufhalten wollen. Wissen Sie auch, was Goodie war, bevor er Rennpferde trainierte?«

 

Ehe sie antworten konnte, hörten sie einen Schrei hinter sich und drehten sich sofort um.

 

Auf irgendeine Weise hatte sich ein hagerer, hochbeiniger Wolfshund auf den Rennplatz eingeschlichen.

 

Eins der Pferde wurde von einem Stallknecht hin und her geführt, damit es sich abkühlen sollte, und dieses Tier sprang der Hund plötzlich an. Erschreckt schlug das Pferd aus, und es mußte den Hund an der Schulter gestreift haben, denn der packte es nun wild an der Kehle. Das Tier stieß einen Schreckensschrei aus, richtete sich auf den Hinterbeinen auf und schlug mit den Vorderhufen um sich, ohne den Hund abschütteln zu können.

 

Im selben Augenblick sprang Goodie über die Barriere. Mit ein paar langen Sätzen hatte er die beiden Tiere erreicht, packte den großen, schweren Hund mit einer Hand und den Zügel des Pferdes mit der anderen. Mit einer starken Bewegung seines Armes schleuderte er den Hund in die Mitte des Platzes, wo er bewegungslos liegenblieb. Das Pferd blutete am Hals und wollte erschreckt davonstürmen. Es wieherte wild und schlug aus, aber Goodie hielt es fest am Zügel. Gleich darauf sprang auch der Trainer des Pferdes hinzu. Der Hund rührte sich immer noch nicht.

 

»Der scheint tot zu sein«, sagte Luke. »Goodie hat ihm mit dem einen Griff das Genick gebrochen. Der Mann hat die Stärke eines Büffels.«

 

Edna sah auf Goodie, der jetzt unter der Barriere durchschlüpfte und in der Menge verschwand.

 

»Das war aber erstaunlich mutig«, sagte sie.

 

»Ja, bevor er Pferde trainierte, hat er wilde Tiere dressiert er hat sogar im Löwenkäfig gestanden. Schließlich besaß er selbst eine reisende Menagerie. Das wäre ein weiterer Grund für Sie, nicht in Longhall zu wohnen.«

 

In diesem Augenblick ärgerte sie sich wirklich über ihn.

 

»Sie tun so, als ob Sie einfach über mich zu verfügen hätten«, erwiderte sie kurz und kühl.

 

»Ja, das ist meine spezielle Schwäche. Aber kommen Sie jetzt mit auf die Tribüne.«

 

Sie hatte sich entschlossen, Doncaster am folgenden Morgen zu verlassen. Es hatte deshalb keinen Zweck, sich mit dem Mann zu streiten, der sonst immer so liebenswürdig zu ihr gewesen war und den sie wahrscheinlich doch nicht wiedersehen würde.

 

Schweigend stiegen sie die vielen Treppen hinauf und mischten sich unter die Leute, die in der obersten Reihe standen.

 

Das zweite Rennen wurde angekündigt, und die Pferde kamen mit ihren Reitern zum Start. Edna konnte über die Rückwand hinab auf die Straße sehen, die tief unter ihr lag. Als sie gleichgültig nach links blickte, entdeckte sie einen großen Wagen, der aus der Richtung von London kam und vor dem Eingang zu den Tribünen anhielt. Er war grauweiß von Staub. Die beiden Insassen trugen Ledermäntel und waren nicht zu erkennen. Sie stiegen, etwas steif nach der langen Fahrt, aus dem Wagen. Als der eine den Mantel öffnete und Lederkappe und Schutzbrille abstreifte, bemerkte sie zu ihrem Erstaunen, daß es der tadellos gekleidete Mr. Arthur Rüstern war. Er sah aber nicht so gut aus wie sonst.

 

Sein Begleiter war der etwas aufdringliche junge Mann aus seinem Büro. Der frühere Anwalt wandte sich zum Eingang und verschwand. Sie trat zu Luke zurück und erzählte ihm, was sie gesehen hatte.

 

»Was – Rustem ist hier? Der geht doch für gewöhnlich nicht zum Rennen.«

 

Er hob den Feldstecher an die Augen, suchte unten den Sattelplatz ab und entdeckte in der Menge Mr. Rustem, der noch den Ledermantel trug. Dr. Blanter, Goodie und der kleine Mr. Trigger, die Rustem suchte, hielten sich in der äußeren Ecke des Sattelplatzes auf. Gleich darauf standen sie im Kreis und steckten die Köpfe zusammen. Es mußte eine besonders wichtige Veranlassung vorliegen, daß Rustem zum Rennen kam, um sich mit den anderen in Verbindung zu setzen. Luke konnte durch den Feldstecher auch erkennen, daß Dr. Blanter ein ärgerliches Gesicht machte.

 

Trigger, der allem Anschein nach aufpaßte, daß sie von niemandem belauscht wurden, sah sich häufig um. Als eine Gruppe von Leuten in ihre Nähe kam, gingen sie ein wenig zur Seite. Einmal gewahrte Luke auch, daß Goodie auf die Tribüne zeigte und irgend etwas sagte.

 

»Ich habe das Gefühl, daß sie über uns sprechen«, meinte er. »Können Sie sie sehen?«

 

Edna nickte.

 

»Ich möchte nur wissen, ob er meine Schlüssel mitgebracht hat«, sagte sie dann.

 

»Ihre Schlüssel! Meinen Sie, Rustem wäre aus London nach Yorkshire gekommen, um –«

 

Er brach unvermittelt ab. Drei der Leute gingen plötzlich schnell über den Sattelplatz und kamen außer Sicht. Luke eilte zum höchsten Punkt der Tribüne und schaute über die Mauer nach unten. Der große, staubbedeckte Wagen stand noch vor dem Eingang; Pilcher ging unten auf und ab und rauchte eine Zigarette. Die drei kamen zum Ausgang heraus und hielten noch eine kleine Besprechung auf der Straße ab. Dann langte Pilcher in den Wagen und holte einen kleinen Handkoffer heraus. Im selben Augenblick stiegen zwei der anderen ein, das Auto wendete und fuhr den Weg zurück, den es gekommen war.

 

»Warum die wohl nach London fahren?« meinte Luke nachdenklich. »Und warum haben sie Pilcher hier in Doncaster zurückgelassen?«

 

»Kennen Sie den auch?« fragte sie überrascht.

 

»Ich kenne alle Leute.«

 

Als er wieder über die Mauer spähte, war Pilcher verschwunden.

 

»Wahrscheinlich hat er eine Straßenbahn erwischt und ist in die Stadt gefahren.«

 

Edna zerbrach sich den Kopf, was Luke in Doncaster wohl zu tun hätte. Es war doch sehr unwahrscheinlich, daß Scotland Yard, das immer zuwenig Leute hatte, einen so wichtigen Beamten aussandte, um die Durchführung von einer der Triggerschen Transaktionen zu beobachten.

 

»Es ist möglich, daß sie morgen zurückkommen. Allem Anschein nach ist etwas mit Triggers Transaktionen passiert. Was es auch sein mag – wichtig ist es auf jeden Fall.«

 

Luke fuhr Edna vor dem letzten Rennen nach Hause, und als er ihr anbot, sie abends zum Essen auszuführen und ihr die Stadt zu zeigen, konnte sie im Augenblick keinen triftigen Entschuldigungsgrund finden.

 

Sie trank Tee in ihrem Wohnzimmer, und ihre Wirtin erzählte mit offensichtlichem Stolz, daß sie einen zweiten Mieter bekommen habe, der das untere Schlafzimmer und auch das Wohnzimmer gemietet habe.

 

Edna interessierte sich wenig dafür. Sie hatte Möbelkataloge aus London mitgenommen, ebenso Preislisten von Teppichen, Gardinen und Vorhängen, und sie brachte nun eine Stunde damit zu, Pläne für die Einrichtung und Ausstattung ihres Hauses zu machen.

 

Edna Gray war früher Stenotypistin gewesen. Als sie siebzehn Jahre alt war, starb ihre Mutter, und sie hatte sich mit einem kleinen Gehalt ziemlich mühselig durchschlagen müssen. Sie wußte wohl, daß sie irgendwo in Südamerika einen Onkel hatte, aber er existierte kaum wirklich für sie, bis eines Tages zu ihrem größten Erstaunen ein langer Brief von ihm eintraf. Er bat sie darin, zu ihm zu kommen. Dann hatte sie sechs glückliche Jahre mit ihm verlebt. Jeden Tag hatte sie im Sattel sitzen dürfen und war Herrin eines großen, luxuriös ausgestatteten Hauses gewesen. Als ihr Onkel starb, wurde sie seine Universalerbin und konnte ihr Leben einrichten, wie es ihr paßte.

 

Longhall hatte sie als Kind einmal aufgesucht. Die Erinnerung daran war nicht allzu angenehm. Das Haus war düster, wenn auch sehr repräsentativ und groß – ein schöner, alter Landsitz aus der Zeit der Tudors, zu dem tausend Morgen Land gehörten. Es war der Wunsch ihres alten Onkels Donald gewesen, daß sie nach seinem Tod nach England zurückkehren sollte. In gewisser Weise war dieser Wunsch leicht zu erfüllen, denn sie hatte nur wenige Freunde in Südamerika. Ihr Onkel hatte ziemlich zurückgezogen gelebt, und sie war nur selten nach Buenos Aires gekommen, höchstens, wenn sie sich Kleider anfertigen ließ oder einmal ins Theater ging.

 

Mr. Garcia war nahezu ihr einziger Freund gewesen, und es fiel ihr daher nicht schwer, sich von dem einsamen Leben zu trennen, das sie auf der Estanzia ihres Onkels geführt hatte. In England hatte sie noch verschiedene alte Bekannte, die sie wieder aufsuchen konnte.

 

Als sie am Abend mit Luke zusammen speiste, erzählte sie ihm von ihren Plänen.

 

»Ach, haben Sie wirklich die Absicht, sich auch einen eigenen Rennstall einzurichten?« sagte dieser. »Nun, Sie können schließlich noch schlimmere Dinge tun. Ich habe es mir ja bisher versagt, Sie danach zu fragen, wieviel Geld Sie haben. Außerdem weiß ich zufällig, daß Sie eine Viertelmillion besitzen und dreizehntausend Pfund im Jahr – nach einiger Zeit wahrscheinlich noch bedeutend mehr – verbrauchen können. Aber Sie werden doch nicht im Ernst in Longhall wohnen wollen?«

 

»Warum denn nicht?« fragte sie trotzig.

 

»Weil mir das nicht lieb ist. Das mag ja kein stichhaltiger Grund sein, aber es ist der einzige, den ich dafür anführen kann. Was ich dagegen habe, beruht auf einer Theorie, die bis jetzt noch nicht zu beweisen ist, wenn ich auch von ihrer Richtigkeit überzeugt bin. Sie sind doch schon einmal dort gewesen. Haben Sie nicht die Eisenstangen vor den Fenstern gesehen und die großen Parktore, die mit Maschendraht bespannt sind? Und wissen Sie auch, warum die neuen Ställe, die Goodie errichten ließ, nicht benützt werden? Er hat nämlich andere Ställe ein paar hundert Meter vom Haus entfernt gebaut. Sie liegen direkt auf den Abhängen der Hügelkette. Und waren Sie vor allem schon in den Perrywig-Höhlen? Die liegen auch auf dem Gelände, das er von Ihnen gepachtet hat. Die Haupthöhle hat zwei eiserne Tore, und man nimmt in der Gegend allgemein an, daß da eine Frau umgeht, die vor zwanzig Jahren dort ermordet wurde.«

 

Er sah sie fest und herausfordernd an, zuckte mit keiner Wimper und lächelte auch nicht.

 

»Ich habe das alles im Ernst gesagt. An bestimmten Abenden soll man die unglückliche Frau schreien hören, daß einem die Haare zu Berge stehen.«

 

Er machte eine Pause.

 

»Haben Sie die Schreie dieser unglücklichen Frau etwa auch gehört?« fragte Edna.

 

»Ja. Es war ein sehr unangenehmes Erlebnis.«

 

Sie lachte leise.

 

»Sie werden mir doch keine Gespenstergeschichten erzählen wollen«, sagte sie ärgerlich. »Ich weiß nicht, was Sie eigentlich vorhaben. Goodie erzählt mir von Ratten, und Sie – aber ich möchte nicht unhöflich sein. Ich glaube nicht an die Ratten in Longhall House, und ich glaube auch nicht an Ihren Geist, der so fürchterlich schreit. Wollen Sie mich nur aus diesem Grund nicht nach Longhall lassen?«

 

Luke strich Butter auf ein Stück Toast.

 

»Ja, zum Teil.«

 

»Nun, ich gehe aber trotzdem. Ich glaube nicht an Ratten, Gespenster oder ähnlichen Spuk, und ich werde in Longhall House wohnen, weil mein Großvater und dessen Vater und viele Generationen von Gillywoods dort gelebt und gewohnt haben.«

 

Er sah sie lange an, ohne ein Wort zu sagen.

 

»Wenn Sie sich tatsächlich nicht davon abbringen lassen, dann wäre es besser, wenn ich erst einmal hinführe und das Haus untersuchte, bevor Sie einziehen. Ich bin ein großer Rattenjäger. Und Sie gestatten sicher auch, daß ich Ihnen einen Rat wegen der Dienstboten gebe. Sie brauchen einen Butler und einen Diener, besser sogar zwei Diener, ganz gleich, welches Personal Sie sonst noch engagieren wollen. Es ist ein schrecklich einsamer Ort, und vor allem muß die männliche Dienerschaft sorgfältig ausgewählt werden. Gerade in letzter Zeit ist es vorgekommen, daß sich Verbrecher mit gefälschten Ausweisen in Vertrauensstellungen einschlichen.«

 

Er brachte sie dann nach Hause, und sie kamen zu gleicher Zeit mit einem Telegrafenboten an.

 

»Sind Sie Miss Gray?«

 

Sie merkte, daß Luke zusammenfuhr.

 

»Wer kennt Sie denn hier?« fragte er.

 

»Der Geschäftsführer des Carlton-Hotels. Ich habe ihm ein Telegramm geschickt und ihm mitgeteilt, daß ich morgen zurückkehren werde. Ich habe auch angefragt, ob Mr. Garcia nach London zurückgekommen ist. Aber warum fragen Sie?«

 

»Ich interessiere mich dafür.«

 

Viele seiner Angewohnheiten gefielen ihr nicht, und doch wußte sie nicht, was sie eigentlich daran auszusetzen hatte. Er reichte ihr die Hand und klopfte ihr freundlich auf die Schulter, als er sich von ihr trennte.

 

»Gute Nacht. Ich werde Ihnen morgen den Sieger nennen.«

 

»Es ist möglich, daß ich morgen früh abreise. Wo kann ich Sie finden?»

 

Er logierte im ersten Hotel der Stadt.

 

Kapitel 5

 

5

 

Ednas Wirtin öffnete die Tür und führte sie ins Wohnzimmer. Dort war ein kleines Feuer im Kamin angezündet worden, das den Raum sehr behaglich machte, denn an dem Abend war es empfindlich kalt.

 

Edna las das Telegramm. Mr. Garcia war nicht ins Hotel zurückgekehrt. Vielleicht war er nach Deutschland gereist und hatte bereits seine ›Vendina‹ wiedergefunden.

 

Lange Zeit saß sie vor dem Feuer und ließ im Geist noch einmal alles an sich vorüberziehen, was sich im Laufe des Tages zugetragen hatte.

 

Sie war todmüde, als sie sich um elf Uhr niederlegte, und fiel sofort in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte, daß sie über weite Pampas ritt. Ein großer Hund mit einem häßlichen, gelben Gesicht lief ihr nach und schnappte nach ihren Füßen.

 

Plötzlich wachte sie auf. Sie knipste das Licht an. Es war halb drei. Als sie ein schwaches Geräusch im Nebenzimmer hörte, richtete sie sich im Bett auf und lauschte. Ein Stuhl mußte auf dem Fußboden bewegt worden sein. Sie überlegte. Es konnte noch nicht halb drei sein, die Uhr mußte falsch gehen. Sie sah sich nach ihrer Handtasche um, in die sie ihre kleine brillantenbesetzte Uhr gesteckt hatte, konnte sie aber nicht finden. Schließlich erinnerte sie sich, daß sie sie auf dem Tisch im Wohnzimmer zurückgelassen hatte, schlüpfte in Pantoffeln und Morgenrock und ging zur Tür. Im selben Augenblick hörte sie nebenan eilige Schritte, und als sie die Tür öffnete, wurde die gegenüberliegende Tür zugeschlagen. Vorsichtig und ängstlich ging Edna ins Wohnzimmer und knipste auch hier das Licht an. Ihre Handtasche lag dort, wo sie sie zurückgelassen hatte, aber jemand hatte sie geöffnet und den Inhalt auf den Tisch gestreut. Edna sah die brillantengeschmückte Uhr, die der Dieb anscheinend übersehen hatte.

 

Sie glaubte schon, daß der Einbrecher nichts mitgenommen hätte, aber dann besann sie sich, daß sie das Telegramm aus London in die Handtasche gesteckt hatte. Es war verschwunden. Sie sah zwar den Umschlag, aber er war leer.

 

Sie ging zur Tür, die auf den Flur führte, und schloß sie ab. Das Feuer im Kamin war fast ausgegangen, und sie brachte es wieder zum Brennen, indem sie von dem Holz auflegte, das für den nächsten Morgen vorgesehen war. Dann setzte sie sich. Sie war nun vollkommen wach geworden und dachte über dieses merkwürdige Vorkommnis nach.

 

Träumte sie noch? Hatte sie sich alles nur eingebildet? Aber plötzlich sah sie etwas unter dem Tisch liegen; sie bückte sich und hob es auf. Es war der abgetragene Wildlederhandschuh eines Mannes.

 

Dann war es also doch kein Traum! Sie zuckte die Schultern. Doncaster war ja wahrscheinlich das Ziel vieler Diebe in diesen Tagen. Aber warum sollte ein Dieb so unvernünftig sein und eine brillantenbesetzte Uhr zurücklassen, die fast zweihundert Pfund wert war? Auch ein mit Saphiren verziertes Zigarettenetui hatte sie in ihrer Handtasche, das mindestens hundert Pfund gekostet hatte. Warum stahl der Mann nur ein Telegramm aus ihrer Handtasche?

 

Bei seinem Einbruch war er nicht gestört worden. Er hatte reichlich Zeit gehabt, den Inhalt der Handtasche auszuräumen und durchzusehen. Geld und Schmuckstücke mitzunehmen hätte ihn nicht viel Zeit gekostet.

 

Die Wärme des Kaminfeuers machte sie aufs neue müde, und sie ging wieder zu Bett.

 

Als sie am nächsten Morgen gebadet und eine Tasse heißen Tee getrunken hatte, war sie in anderer Stimmung. Sie hätte über dieses merkwürdige Erlebnis in der Nacht lachen können.

 

Luke sprach bei ihr vor, während sie noch beim Frühstück war, und nahm ihre Einladung an, ihr dabei Gesellschaft zu leisten.

 

Sie erzählte ihm, was sich zugetragen hatte, und er war wenig erfreut über ihren Bericht.

 

»Können Sie sich darauf besinnen, was genau in dem Telegramm stand?«

 

Sie wiederholte den kurzen Text Wort für Wort.

 

»Es ist aber doch erstaunlich, daß der Einbrecher weder das Geld noch, die Uhr genommen hat. Wohnt sonst noch jemand hier im Haus? Ein anderer Mieter?«

 

Sie erinnerte sich an den jungen Mann, der so plötzlich erschienen war.

 

Luke ging hinunter zu der Wirtin und fragte sie.

 

Fünf Minuten später kehrte er zurück und berichtete, daß der Mann früh am Morgen das Haus verlassen habe, obwohl er der Inhaberin des Hauses für vier Tage Miete bezahlt hatte.

 

»Um sechs Uhr fünfundvierzig geht bereits ein Zug nach London, und den hat Mr. Pilcher sicher benützt.«

 

»Pilcher?«

 

Er nickte. »Die Wirtin hat ihn genau beschrieben, und danach habe ich ihn erkannt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß er es war.«

 

»Meinen Sie, der Mann, der hier in mein Wohnzimmer eingedrungen ist –«

 

»Es war kein anderer als Pilcher. Er hatte die vorderen Zimmer und war noch wach, als Sie gestern abend nach Hause kamen. Durch das Fenster muß er gesehen haben, daß Sie ein Telegramm erhielten. Wenn der Bote früher gekommen wäre, hätte er es natürlich schon vor Ihnen gelesen, und Ihnen wäre die unangenehme Überraschung in der Nacht erspart geblieben. Ich habe sogar den Eindruck, daß er auf den Telegrafenboten wartete.«

 

»Warum hat er das aber getan? Es stand doch gar nichts drin. Hätte er mich darum gebeten, so hätte ich es ihm sogar gegeben.«

 

»Ich möchte nur wissen, warum Rustem diese eilige Reise von London im Auto hierher machte«, sagte Luke, ohne vom Teller aufzusehen. »Er konnte doch nicht die Absicht haben, seinen Angestellten hier im Hause logieren zu lassen, denn er wußte gar nicht, wo Sie wohnten. Und außerdem hätte Pilcher ja auch mit der Bahn nach Doncaster fahren können. Und dann ist es mir schleierhaft, warum sie nach London zurückgefahren sind. Auf keinen Fall, um ihre Gewinne zu zählen, denn Trigger ist ja noch hier. Er hat im Hotel das Zimmer neben mir, und weder in seinem Koffer noch in seiner Aktentasche oder in seinen Taschen hat er etwas, das mir als Anhaltspunkt dienen könnte.«

 

»Woher wissen Sie das?« fragte sie.

 

»Nun, er ist ein angenehmer Mitmensch, der viel und gern ißt und nachher tief schläft. – Wohin ist denn Mr. Garcia gefahren?« fragte er plötzlich.

 

Sie erzählte ihm alles, was sie wußte.

 

»Wahrscheinlich ist er nach Deutschland gereist. Er hatte solche Sehnsucht nach ›Vendina‹, seitdem er hier in England ankam«, fügte sie hinzu.

 

»War denn ›Vendina‹ wirklich ein so ausgezeichnetes Pferd?«

 

Sie sprach von ›Vendina‹ ebenso begeistert wie Garcia.

 

»Meiner Meinung nach hat sie nie an einem Rennen teilgenommen, aber sowohl Mr. Garcia als auch der Trainer haben mir gesagt, daß es das beste Vollblut war, das jemals in Südamerika auf die Welt kam. Die Deutschen haben eine ungeheure Summe dafür gezahlt. Zehntausend Pfund. Mein Onkel sagte immer, es sei das schönste Fohlen gewesen, das er jemals gesehen habe, und der arme Mr. Garcia war schrecklich vernarrt in das Tier. Er duldete nicht, daß es mit der Peitsche angetrieben wurde, deshalb ist es auch nie zum Rennen trainiert worden. Alberto Garcia vertrug es nicht, wenn Pferde scharf angefaßt wurden. Aus diesem Grund ist er auch niemals zu einem Rennen gegangen.«

 

Es war Ednas Absicht, an diesem Morgen nach London zurückzukehren.

 

»Versprechen Sie mir eins«, bat er. »Gehen Sie nicht allein nach Longhall.«

 

Ihre Lippen zuckten.

 

»Ich will nicht gerade theatralisch werden, ich bitte Sie nur als Ihr Freund. Außerdem sollen Sie mir noch einen großen Gefallen tun. Wollen Sie mich in Scotland Yard anläuten? Ich bin morgen in der Stadt, und wenn Sie Ihren Landsitz besichtigen wollen, möchte ich Sie begleiten.«

 

»Stehe ich denn unter Polizeiaufsicht?« fragte sie lächelnd.

 

»In gewisser Weise, ja. Sie sind im Augenblick nicht von einer besonderen Gefahr bedroht, deshalb brauchen Sie eigentlich keinen dringenden Schutz, aber ich möchte doch einen Mann mitbringen, der das Haus erst einmal säubern soll. Er ist Spezialist in diesen Dingen, und vielleicht können wir beide zusammen Ihnen helfen. Wegen Ihrer Rückreise nach London möchte ich Ihnen doch den Rat geben, sich noch das Hauptrennen anzusehen. Das Saint-Leger ist eins der größten Rennen des ganzen Jahres, und Sie wissen jetzt genug über die Gepflogenheiten auf dem Rennplatz, daß Sie sich auch ohne mich dort zurechtfinden. Ich werde dafür sorgen, daß Sie ein reserviertes Abteil nach London haben, und vielleicht fahre ich selbst mit Ihnen dorthin zurück.«

 

»Sie könnten wenigstens erst fragen, ob es mir angenehm ist, daß Sie mit mir fahren. Aber ich habe schon gesehen, daß Sie sich nicht an das Konventionelle halten. Nun gut, ich werde mir das Saint-Leger ansehen. Dann kann ich Mr. Garcia davon erzählen.«

 

*

 

Die Menschenmenge, die am Nachmittag auf dem Rennplatz zusammenströmte, war die größte, die Edna jemals gesehen hatte. Es war ein schöner Tag, und ganz England schien hierhergekommen zu sein. Die Erregung war noch weit größer als am vorigen Tag. Edna hatte einen sehr schönen, freien Blick von der Tribüne aus. Luke konnte nicht zu ihr heraufkommen; er sah sich das Rennen von unten an. Das seltene Ereignis trat ein, daß ein Außenseiter mit einer Quote von fünfzig zu eins gewann. Luke ging gerade auf die Tribüne zu, um Edna zu treffen, als ihn jemand am Arm berührte. Er drehte sich um; ein kleiner Mann grinste ihn freundlich an, allem Anschein nach ein früherer Jockei, der aber ziemlich abgerissen aussah.

 

»Können Sie sich noch an mich erinnern, Mr. Luke? Ich bin Punch Markham.«

 

Luke kannte den Mann sehr gut, der wegen Betruges einmal zu drei Monaten verurteilt worden war.

 

»Ich bin jetzt ganz ehrlich geworden, Mr. Luke, aber ich muß sagen, dabei kommt man auf den Hund. – Ein Herr, bei dem ich früher in Stellung war, hat mir in Erinnerung an alte Zeiten eine Freikarte für die Rennen geschenkt. Er hat nicht vergessen, daß ich früher eins der besten Pferde zum Sieg geritten habe. Ist eigentlich der alte Goodie hier? Ich habe mich schon auf dem ganzen Rennplatz nach ihm umgetan. Den wollte ich nämlich um ein Pfund anpumpen – ich darf wohl sagen, daß ich dazu berechtigt bin.«

 

»Kann ich vielleicht erfahren, weshalb Sie das glauben? Ist Ihnen der berühmte Trainer irgendwie zu so großem Dank verpflichtet?«

 

Luke hoffte, etwas Neues, Interessantes über den Mann zu erfahren, mit dem er sich so intensiv beschäftigte.

 

»Berühmter Trainer! Hat sich was!« entgegnete der kleine Mann zornig. »Ich könnte ihm noch viel beibringen! Mit Löwen und Tigern kann er umgehen, aber Pferde trainieren – nein, davon hat er keinen blassen Dunst! Allerdings muß ich zugeben, daß er direkt Wunder gewirkt hat an dem Fohlen, das ich ihm verkaufte. Es ist das Blandford-Fohlen gewesen, Mr. Luke. Sie kennen es doch? Neulich hat es ein Rennen in Stockholm gewonnen.«

 

Luke wollte sich nicht lange aufhalten lassen; er griff in die Tasche und holte einen Zehnshillingschein heraus.

 

»Ich weiß, daß ich das zum Fenster hinauswerfe, Punch, denn Sie jagen ja doch alles durch die Gurgel.«

 

»Nein – ich schwöre Ihnen, jetzt trinke ich überhaupt nicht mehr! Das kann ich mir nicht leisten. Ich bin froh, wenn ich zu essen habe. Mr. Luke, Sie sind immer gut zu mir gewesen. Ich sage immer, daß die von der Polizei nicht alle schwarze Schafe sind. Es gibt auch viele gute Burschen darunter, wenn man näher mit ihnen bekannt wird.«

 

Luke blieb nicht stehen, um diese Lobreden anzuhören. Er hatte Edna Gray gesehen; die von der Tribüne herunterstieg, und er ging zu ihr.

 

»Es war ein wunderbares Rennen! Trigger hätte sich gefreut, wenn das eine Transaktion von ihm gewesen wäre – es kommt selten genug vor, daß ein Pferd mit einer Quote von fünfzig zu eins gewinnt.–Ich bin jetzt bereit, Sie nach London zu begleiten. Wir haben einen schönen Schnellzug von Leeds nach London. Er hält in Doncaster, und ich habe ein Abteil für uns reserviert.«

 

»Wer war denn der kleine Mann, mit dem Sie gesprochen haben?«

 

Sie war schon so gut Freund mit ihm, daß sie derartige neugierige Fragen ohne weiteres stellen konnte.

 

Auf dem Weg zum Bahnhof erzählte er ihr kurz die Geschichte von Punch Markham, der früher ein guter Jockei und erfolgreicher Trainer gewesen war, aber zu viele Freunde gehabt hatte. Eines Tages hatte die Rennbehörde herausgefunden, daß er sich an einer Schiebung beteiligt hatte. Er wurde vorgeladen, und die Lizenz wurde ihm für immer entzogen. Von da an verdiente er sich seinen Lebensunterhalt durch Pferdehandel. Außerdem verstand er, gut mit Rennpferden umzugehen, und wußte, wie man sie vor dem Rennen behandeln mußte. Er war auch in einige der größten Schwindelaffären bei den Rennen verwickelt gewesen, aber er spielte nur eine untergeordnete Rolle dabei. Im allgemeinen trauten ihm selbst die Leute nicht, die seine Dienste in Anspruch nahmen.

 

Kapitel 6

 

6

 

Auf der Rückreise nach London fand Edna genug Gelegenheit, Luke zu studieren, der plötzlich eine Rolle in ihrem Leben zu spielen begann. Er sah ganz und gar nicht so aus, wie sie sich einen Polizeibeamten vorgestellt hatte. Er sprach ein tadelloses Englisch, und seine Stimme klang vornehm und kultiviert. Als sie noch Stenotypistin war, hatte sie die verschiedensten Leute kennengelernt und sich eine gewisse Menschenkenntnis angeeignet, aber über diesen Mann war sie sich tatsächlich im unklaren. Hübsch war er gerade nicht, aber er hatte ein anziehendes, interessantes Gesicht, das trotz der angegrauten Schläfen frisch und jugendlich wirkte.

 

Während der Reise erwähnte er nebenbei, daß auch er spanisch spreche, und da sie glaubte, er wollte sie zum besten halten, stellte sie sofort eine Frage in dieser Sprache. Er beantwortete sie in bestem Spanisch und fügte hinzu, daß er ein ziemlich großes Sprachtalent besitze.

 

Eine Weile später kam die Unterhaltung wieder auf Rustem.

 

»Diesem Menschen dürfen Sie auf keinen Fall trauen …«

 

Er zögerte.

 

»Nun, was wollten Sie sagen?«

 

»Ich möchte Sie besonders vor ihm warnen, weil er den Frauen nachstellt. Ich will nicht gerade sagen, daß er …«

 

»Sie meinen, daß er sich in mich verliebt oder hinter mir her sei? Aber warum sollte er das nicht tun, Mr. Luke? Ich glaube, Sie sind ein wenig zu ängstlich.«

 

Er lächelte verlegen und wurde rot, worüber sie lachen mußte. Auf dem King’s-Cross-Bahnhof trennte er sich von ihr. Aber vorher hatte er ihr das Versprechen abgenommen, daß sie ihn benachrichtigen würde, wenn sie einen Besuch in Longhall machen sollte.

 

Als sie das Hotel erreicht hatte, fand sie ein langes Telegramm vor, das inzwischen für sie angekommen war. Es war in Berlin aufgegeben worden.

 

Bitte zahlen Sie meine Hotelrechnung und senden Sie meine Koffer an die Speditionsfirma Friedmann & Co., Friedrich-Wilhelm-Straße 19, Berlin. Ich fahre auf kurze Zeit zur Erholung nach Bayern. Mein wunderbares Pferd ›Vendina‹ ist in bester Form. Saludos. Alberto

 

Mr. Garcia hatte die Angewohnheit, Telegramme nur mit seinem Vornamen zu unterzeichnen.

 

Dann war ihr Freund also nach Berlin gefahren! Sie fühlte sich erleichtert, daß sie nun wenigstens wußte, wo er sich befand.

 

Am Abend ging sie ohne große Freude ins Theater. Sie fühlte sich wieder sehr einsam und vermißte ihren Begleiter von Doncaster sehr.

 

Aber als am nächsten Morgen die Sonne schien, kam sie wieder in bessere Stimmung. Sie frühstückte in ihrem Wohnzimmer und überlegte sich, in welchem großen Möbelgeschäft sie mit ihren Einkäufen beginnen sollte. Als sie gerade ausgehen wollte, brachte ein Page ihr eine Karte.

 

»Mr. Arthur Rustem? Ich lasse bitten.«

 

Mit einem strahlenden Lächeln erschien der elegante Anwalt und verbeugte sich, als er ins Zimmer trat.

 

»Sie waren in Doncaster – leugnen Sie es nicht, Miss Gray, denn ich habe Sie gesehen«, begann er in einschmeichelndem Ton.

 

»Dann müssen Sie aber ungewöhnlich gute Augen haben, Mr. Rustem«, entgegnete sie kühl. »Ich habe Sie auch gesehen, allerdings nur durch mein Glas, und ich möchte bezweifeln, daß Sie mich unter den vielen Tausenden von Zuschauern herausfinden konnten, die sich von der Tribüne aus das Rennen ansahen.«

 

Er ging nicht weiter darauf ein.

 

»Jedenfalls weiß ich, daß Sie in Doncaster waren. Ich habe Ihren guten Freund, Mr. Goodie, getroffen. Ich muß sagen, das ist ein Mann, der hart arbeitet und im Begriff ist, in die Höhe zu kommen. In letzter Zeit hatte er ohnehin Glück und konnte etwas auf die Seite legen. Es freut mich immer, wenn ein tüchtiger Mann im Leben vorwärtskommt.«

 

»Haben Sie die Schlüssel mitgebracht, Mr. Rüstern?« Sie hatte keine Lust, mit ihm über die Vorzüge Mr. Goodies zu sprechen.

 

»Selbstverständlich.«

 

Er rückte einen Stuhl näher, ohne aufgefordert zu sein, und nahm Platz. Dann zog er einen flachen Kasten aus der Tasche.

 

»Hier sind die Schlüssel Ihres väterlichen Besitztums«, sagte er vergnügt. »Es ist nur die Frage, ob Sie tatsächlich vorhaben, in diesem feuchten, einsamen Gebäude zu wohnen. Ich wüßte kein Haus, das abgelegener wäre, und ich würde Ihnen doch raten, das schöne Angebot anzunehmen, das ich durch eine Fügung des Schicksals heute morgen von einem meiner Klienten erhalten habe. Er ist bereit, Ihren ganzen Landbesitz für die Summe von« – er machte eine Pause, um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben – »von zwanzigtausend Pfund zu kaufen! Ich halte ihn übrigens für nicht ganz normal, weil er ein so außergewöhnlich hohes Angebot macht –«

 

»Wer ist denn Ihr Klient?« unterbrach sie ihn. »Mr. Goodie oder Mr. Trigger? Öder sollte es etwa Doktor Blanter sein?«

 

Mr. Rustem blinzelte, denn auf diesen plötzlichen Angriff war er nicht vorbereitet. Dann schüttelte er traurig den Kopf.

 

»Ich fürchte, Miss Gray, Sie haben auf Leute gehört, die mich verleumden wollen. Ich will keine Namen nennen, aber es gibt Menschen, die rachsüchtig sind …«

 

»Meinen Sie damit vielleicht Inspektor Luke?«

 

»Nein, durchaus nicht«, entgegnete er hastig. »Ich wollte nichts gegen den Inspektor sagen, er ist ein sehr intelligenter, gebildeter Mann mit vielen Vorzügen. Aber es gibt –«

 

»Ich verkaufe meinen Landbesitz nicht, Mr. Rustem«, erklärte sie ruhig, »und ich glaube, wir sparen uns viele Worte, wenn ich Ihnen das von Anfang an sage.«

 

»Aber das Angebot übersteigt den Wert der Besitzung um das Doppelte!«

 

»Und wenn ich viermal soviel erhalten würde, machte das doch keinen Unterschied für mich aus. Ich werde in Longhall House wohnen und nach Ablauf des Vertrages wahrscheinlich auch Gillywood Cottage übernehmen mit allen Ländereien, die dazu gehören.«

 

Er starrte sie betroffen an und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Schließlich zwang er sich zu einem Lächeln.

 

»Wenn Sie so fest entschlossen sind, wäre es töricht von mir, Ihnen einen weiteren Rat geben zu wollen. Vielleicht haben Sie recht. Ich muß sagen, ich habe großes Zutrauen zu dem, was ich den Instinkt der Frauen nennen möchte. Soweit ich dazu imstande bin, werde ich Ihnen natürlich behilflich sein. Vor allem werde ich Sie begleiten, wenn Sie das Haus besichtigen wollen.«

 

»Das ist nicht notwendig, ich habe in der Beziehung bereits meine Dispositionen getroffen.« Nun sah sie ihn etwas schadenfroh an. »Mr. Luke kennt die Gegend sehr genau und hat mir versprochen, mir alles zu zeigen. – Das sind also die Schlüssel?«

 

Sie nahm den kleinen Kasten und öffnete ihn. Er beobachtete sie gespannt. Sie war sehr schön und ungewöhnlich schlagfertig. Er hatte übrigens noch eine andere dringende Sache mit ihr zu besprechen.

 

»Ich freue mich, daß Sie die Frage der Weiterverpachtung angeschnitten haben, Miss Gray. Ich habe Ihrem Rechtsanwalt alle Akten übergeben, und er hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß der Pachtvertrag von Mr. Goodie mit diesem Jahr abläuft und nicht, wie ich glaubte, erst in einigen Jahren. Das heißt mit anderen Worten: Sie können den Pachtvertrag mit diesem Jahre enden lassen, sonst läuft er fünfzehn Jahre weiter. Ich habe leider persönlich Mr. Goodie die Zusicherung gegeben, daß man ihn nicht auf die Straße setzen würde. Ich sagte ihm auch, Sie seien die letzte, die einen Mann auf der Höhe seines Lebens ruinieren und ihm den Lebensabend verbittern würde. In Anbetracht dieser Lage habe ich zunächst einmal ein neues Schriftstück aufgesetzt, wodurch Sie den Vertrag verlängern, sagen wir zunächst um ein Jahr, so daß er die Möglichkeit hat, sich nach einem anderen Platz umzusehen. Es ist nur eine Formsache.«

 

Während er sprach, zog er das Dokument aus der Tasche und legte es vor sie auf den Tisch. Dann schraubte er seinen Füllfederhalter auf und schob ihr das Papier zur Unterschrift hin.

 

»Sie sehen, ich habe schon die Stelle markiert, wo Sie Ihren Namen hinsetzen können.«

 

Als sie lachte, schaute er auf.

 

»Aber Mr. Rustem!« sagte sie vorwurfsvoll. »Sie erwarten doch nicht etwa von mir, daß ich ohne weiteres alle möglichen Schriftstücke unterzeichne, die mir vorgelegt werden? Ich muß schließlich Bedenkzeit haben. Oder glauben Sie, daß ich ein Waisenkind bin, das in der Unschuld seines Herzens auf jeden Rat hört? Schicken Sie das Schriftstück bitte meinem Rechtsanwalt.«

 

Ihre Worte berührten ihn peinlich. Er faltete das Schriftstück zusammen und steckte es wieder ein, ebenso den Füllfederhalter. Dann erhob er sich und nahm Hut und Handschuhe.

 

»Sie verhalten sich wirklich verletzend mir gegenüber«, sagte er, und seine Stimme zitterte leicht. »Während meiner ganzen Praxis hat noch niemand eine Andeutung gemacht, daß ich die Unwissenheit meiner Klienten ausgenutzt hätte …«

 

»Aber Mr. Rustem, so etwas habe ich doch gar nicht gesagt! Von anderer Seite ist allerdings behauptet worden, daß Sie das Geld Ihrer Klienten für Ihre eigenen Unternehmungen benützt hätten. Allerdings habe ich mich jeder Stellungnahme dazu enthalten.«

 

Das war eine Kriegserklärung. Er richtete sich auf und sah sie an. Im Grunde hatte er ja schließlich nichts anderes erwartet, aber sie hatte ihm doch sehr schnell ihre wahre Ansicht über ihn gesagt, und das versetzte ihm einen Schock. Er wußte nicht, daß sie drei Jahre lang als Stenotypistin im harten Kampf ums Dasein gestanden hatte, bevor das große Wunder sich ereignete und der alte Donald Gray sie zu sich holte. Mr. Rustem sah in Edna Gray nur eine sehr schöne und reiche junge Dame, die erstaunlich selbstsicher und geschäftstüchtig war.

 

»Sehr wohl. Wie Sie wünschen«, sagte er, und seine Stimme klang hart. »Ich sehe, daß Sie gegen mich und meine – Klienten hoffnungslos voreingenommen sind. Das ist unendlich schade. Nun, jedenfalls habe ich Ihnen den Rat gegeben, nicht nach Longhall zu ziehen –«

 

»Den Rat habe ich ihr auch gegeben, aber aus einem ganz anderen Grund.«

 

Es sah Luke ähnlich, daß er eintrat, ohne anzuklopfen. Er war so leise gekommen, daß weder Rustem noch Miss Gray ihn gehört hatten.

 

Sie sah sich ein wenig erschrocken um.

 

»Aber sie scheint nun einmal fest entschlossen zu sein, doch hinzugehen«, fuhr Luke fort. »Und ich hoffe, sie wird dort in Frieden mit ihren Nachbarn leben können – mit ihrem früheren Rechtsanwalt, Mr. Trigger und den anderen. Es wird mir eine Freude sein, Miss Gray zu helfen, und ich werde dafür sorgen, daß sie es so bequem und schön in Longhall hat wie nur irgend möglich. Vielleicht muß ich dabei gegen verschiedene Leute vorgehen und sie an einen Ort bringen, wo die Hunde sie nicht beißen. Es sind manche angesehene Männer darunter, Mr. Rustem, die glauben, daß sie sicher seien und ihnen niemand etwas anhaben könne.«

 

Rustem wurde bleich. Diese Drohung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Auch Edna wußte, daß sich hinter seinem Lächeln Haß und Wut verbargen.

 

Ohne noch ein Wort zu verlieren, ging Rustem zur Tür, und es war charakteristisch für ihn, daß er sie leise hinter sich schloß.

 

»Sagen Sie einmal, Mr. Luke, klopfen Sie überhaupt jemals an, bevor Sie in das Zimmer einer Dame eintreten?«

 

Er überhörte die Frage vollkommen.

 

»Was wollte er von Ihnen, abgesehen davon, daß er Ihnen die Schlüssel gebracht hat? Heute morgen hat er sie von Goodie erhalten; der hat sie selbst in die Stadt gebracht.«

 

»Er wollte mich überreden, meinen Landbesitz zu verkaufen.«

 

Er nickte, als er dies hörte.

 

»Hat er Ihnen ein hohes Angebot gemacht?«

 

Als sie ihm den Betrag nannte, pfiff er leise vor sich hin.

 

»Die sind ja mächtig scharf darauf – ich möchte nur wissen, warum. Die Ländereien sind nicht gerade die besten, aber sie liegen ziemlich abseits, so daß man dort nicht ohne weiteres beobachtet Werden kann. Für einen Trainer hat das immer seine Vorzüge.« Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn. »Haben Sie etwas von Mr. Garcia gehört?«

 

Sie zeigte ihm das Telegramm. Er las es, machte aber keine Bemerkung darüber.

 

»Die haben irgend etwas vor, ich weiß nur nicht, um was es sich handelt. Mr. Trigger hat ein Rundschreiben an alle Mitglieder seiner Organisation gerichtet, in dem er sie auffordert, im nächsten Monat mit möglichst vielen neuen Buchmachern in Geschäftsverbindung zu treten. Der Mann ist so gerissen, daß die Behörden und die Polizei ihn nicht fassen können!«

 

Er nahm mehrere Briefe aus seiner Tasche und wählte zwei davon aus.

 

»Sehen Sie, hier habe ich das Rundschreiben. Und hier ist eine vertrauliche Liste, aus der die Kunden ersehen können, in welcher finanziellen Lage sich die großen Buchmacher in England befinden und wie man am besten mit ihnen in Geschäftsverbindung treten kann. Dann wird noch eine Anweisung gegeben, wie die Kunden unter anderen Namen Konten eröffnen können. Alle diese Vorbereitungen scheinen doch darauf hinzudeuten, daß die Gesellschaft einen großen Schlag vorhat.«

 

Er sah Edna an, seine Gedanken schienen aber in weiter Ferne zu weilen. –

 

»Die werden Ihnen noch ein Angebot von fünfzigtausend Pfund machen«, meinte er dann.

 

Damit hatte er auch tatsächlich recht. Er war kaum zehn Minuten fort, als das Telefon läutete und Rustem sich meldete.

 

»Sind Sie allein, oder ist Ihr Freund immer noch bei Ihnen? – Mein Klient hat sein Angebot für Ihren Landbesitz erhöht. Er hat eine besondere Vorliebe für Gebäude im Tudorstil und ist deshalb bereit, eine ungeheure Summe zu zahlen. Er will sogar bis fünfzigtausend Pfund gehen.«

 

»Longhall ist nicht verkäuflich«, erwiderte sie und legte den Hörer auf.

 

Kapitel 7

 

7

 

Luke saß in seinem Zimmer und überdachte die Lage. Vor drei Monaten hatte sich Goodie, wie er wußte, bei der Grafschaftsverwaltung über Wassermangel beklagt und Unterhandlungen aufgenommen, um einen Landsitz in Wiltshire zu kaufen. Dorthin wollte er dann seinen Rennstall verlegen. Mehrmals hatte er Leute bemerkt, die die Morgengaloppe seiner Pferde beobachteten, und er wollte in einer möglichst abgelegenen Gegend Land erwerben oder pachten, um solchen Unannehmlichkeiten nicht ausgesetzt zu sein.

 

Warum waren Gillywood und das Heideland, das man doch leichter übersehen konnte als Ländereien in Wiltshire, plötzlich so wertvoll für ihn geworden, daß er ein Angebot von fünfzigtausend Pfund dafür machte? Tat er es etwa, weil Edna Gray seine Nachbarin werden würde? Barg Longhall oder die Gillywood-Farm und das dazugehörige Land ein Geheimnis, das er nicht preisgeben konnte?

 

Für Luke war es kein Geheimnis; er hatte es durchschaut. In allernächster Nähe hatte er Erkundigungen eingezogen und dabei eine Entdeckung gemacht, über die er nicht wenig erschrak. Er war zwar ein tapferer Mann, aber unter den gegebenen Umständen würde er niemals den Versuch machen, nachts gewaltsam in dieses Haus einzudringen. Luke wußte, warum Goodie die Ställe nicht benützte und neue Gebäude in einer ziemlichen Entfernung von seinem Haus gebaut hatte. Mußte er das nicht Edna Gray mitteilen? Über dieses Problem war er sich noch nicht klar.

 

Auf jeden Fall konnte die Sache warten, bis er sich persönlich in Longhall umgesehen und alle Möglichkeiten erkannt hatte, die Edna Gefahr bringen konnten. Früher oder später mußte es unvermeidlich zu einem Zusammenstoß mit Goodie kommen, und Luke wollte sie vor allen Gefahren und allen Unannehmlichkeiten schützen.

 

Wenn er auch sein Büro in Scotland Yard hatte, so standen ihm doch außerdem noch Arbeitsräume in einem großen Geschäftshaus zur Verfügung, das kaum fünfzig Meter von Scotland Yard entfernt lag. Dazu gehörte auch eine eigene Registratur. Ein ganzer Stab von Beamten war nur für ihn allein tätig. Scotland Yard hatte Luke auf drei Jahre an die oberste Rennbehörde ausgeliehen. Infolgedessen hatte er spezielle Nachforschungen angestellt, die zu auffallenden und interessanten Resultaten führten.

 

Früher hatte er geglaubt, die Verbrecherwelt könnte ihm nichts Neues mehr bieten, aber jetzt erfuhr er von dunklen Machenschaften, mit denen der durchschnittliche Kriminalbeamte niemals in Berührung kam. In seinen Geheimakten erschienen die Namen harmloser Stalljungen neben denen hervorragender und berühmter Persönlichkeiten, und er lernte gefährliche Verbrecherbanden kennen, die nicht das große Publikum, sondern die Buchmacher ausplünderten. Auch die Namen nicht weniger Polizeibeamter standen in seinen Aufzeichnungen.

 

In Inspektor Lukes Kartothek waren die Namen sämtlicher Angestellten der Firma Trigger registriert, die der Beauftragten, der Stenotypistinnen, ja selbst der Putzfrauen, die abends nach Büroschluß die Räume säuberten. Und seine Beamten hatten diese Leute fast alle mehr oder weniger ausgefragt. Diese waren allerdings nur die Glieder des großen Unternehmens; das Gehirn dieses Organismus bildete der kleine, korpulente Mann, der in seinem mit Rosenholz getäfelten Büro saß. Hinter ihm war ein großer Safe in die Wand eingelassen, den Stahltüren von ganz beträchtlicher Stärke schützten.

 

Die Stenotypistinnen kannten nicht einmal die Namen der Mitglieder. Trigger beschäftigte nur junge Damen und zahlte jeder ein Gehalt, das selbst für eine Privatsekretärin ziemlich hoch gewesen wäre. Er wählte sie mit der allergrößten Sorgfalt aus.

 

Jedes junge Mädchen hatte seinen Schreibtisch und seine Kartei. Aber die Karten trugen statt Namen nur Nummern. Diese wurden auf jeden Briefumschlag gestempelt, und all die vielen Kuverts wurden dann in Triggers Büro gebracht.

 

Er allein wußte, welche der vielen mit Namen und Adresse versehenen Matrizen einer Nummer entsprach. Er selbst schob sie in die Adressiermaschine, die er auch allein bediente. Außerdem brachte er die Briefe in seinem eigenen Auto fort. Er verteilte sie geschickt; in jeden Briefkasten, an dem er unterwegs vorbeikam, warf er einen Stoß davon. Es dauerte Stunden, bis er auf diese Weise seine Post aufgegeben hatte, aber das hing mit seinen Geschäftsprinzipien zusammen. Diese Arbeit durfte er keinem anderen übertragen.

 

Die Mitglieder seiner Organisation waren, wie Luke sagte, siebenmal gesiebt und erprobt. Die Hälfte der Gewinne, die diese Leute machten, wurde ihm spätestens eine Woche, nachdem das betreffende Pferd das Rennen gewonnen hatte, in starken Leinenkuverts von graugrüner Farbe als eingeschriebene Wertbriefe zugesandt. Jeder seiner Kunden erhielt eine ganze Anzahl dieser besonderen Umschläge, und diese wurden alle in sein Privatbüro gebracht. Er selbst kontrollierte die Eingänge und verbuchte sie nach einem Geheimschema. Kurz vor und kurz nach einer Transaktion arbeitete er nahezu achtzehn Stunden am Tag und schlief während dieser Zeit im Büro. Alle Anteile an Renngewinnen ließ er sich in barem Geld auszahlen. Was damit geschah, hatte Luke noch nicht herausbringen können. Große Summen wurden auf Triggers Bankkonto eingezahlt, um die ungewöhnlich hohen laufenden Ausgaben zu decken. Luke war fest davon überzeugt, daß die Geschäftsbücher, die Trigger führte und gegebenenfalls der Steuerbehörde zur Revision vorlegte, gefälscht waren. Die richtige Höhe seiner Gewinne konnte niemals festgestellt werden. Sobald eine Transaktion zur Ausführung kam, stempelte Mr. Trigger den Namen des Pferdes selbst auf jedes Telegramm. Zwanzig bis dreißig solcher Formulare wurden in Briefumschläge gesteckt, versiegelt und blieben in Bereitschaft bis zum Morgen des Tages, an dem das Rennen stattfand. Die Beauftragten brachten sie dann nach den verschiedensten Orten Englands. Erst auf dem Postamt erbrachen sie die Siegel, mitunter in Gegenwart eines zweiten Beauftragten, dann wurden die Telegramme aufgegeben. Diese zweiten Beauftragten, die die ersten kontrollierten, führten den Titel ›Inspektor‹. Sie hatten ein besonderes Büro in London und kamen mit den anderen Angestellten der Firma Trigger nur zusammen, wenn sie die Aufgabe der Telegramme kontrollierten.

 

Mr. Trigger war in seiner Art ein Feldherr, der seine Truppen umsichtig und geschickt leitete. Nichts überließ er dem Zufall und der Entscheidung seiner Untergebenen, er arbeitete alles bis ins letzte aus.

 

*

 

Im Lauf der nächsten Tage traf Luke Edna Gray zweimal, und zwar jedesmal zufällig. Obgleich sie ihr neues Haus noch nicht gesehen hatte, kaufte sie bereits Möbel dafür ein. Sie wollte seiner Meinung nach dadurch ihre Entschlossenheit zum Ausdruck bringen, Longhall House als Wohnsitz zu wählen.

 

Eines Morgens rief sie ihn an und teilte ihm mit, daß sie die Absicht habe, ihr Landgut zu besuchen. Sie holte ihn in ihrem Wagen ab, und die beiden fuhren nach Berkshire hinaus.

 

»Ich dachte, Sie wollten einen Freund mitbringen?« fragte sie.

 

Er nickte.

 

»Ich habe ihm telefoniert, daß er uns dort erwarten soll. Er wohnt in Reading und hat nur einen verhältnismäßig kurzen Weg dorthin.«

 

»Ist er auch Kriminalbeamter?«

 

Er zögerte mit der Antwort.

 

»In gewisser Weise, ja.«

 

Sie hatte wieder von Garcia gehört; in einem Telegramm aus München hatte er sie eingeladen, ihn auf einer längeren Reise durch Europa zu begleiten.

 

»Der alte Herr wird ja recht vergnügungssüchtig«, bemerkte Luke. »Haben Sie in letzter Zeit eigentlich Rustem einmal gesehen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Auch keinen seiner Freunde?«

 

»Doktor Blanter sah ich. Er hat in meinem Hotel zu Mittag gegessen, und er schien sich sehr für mich zu interessieren.«

 

»Darauf können Sie sich verlassen. Das ist der eigentliche Bösewicht«, sagte Luke sehr ernst. »Es ist ihm bis jetzt immer gelungen, alles so zu schieben, daß man ihn nicht von der Liste der Ärzte gestrichen hat. Blanter ist immer noch approbierter Arzt. Er war allerdings in mehrere unangenehme Fälle verwickelt und hielt es für besser, seine Praxis zu verkaufen. Vor allem ist er Spezialist für Gifte; darüber weiß er mehr als sonst jemand in England. Wenn er nicht auf dem Rennplatz ist, bringt er seine Zeit im Laboratorium zu. Er hat ein wunderbar eingerichtetes Landhaus in der Nähe von Maidenhead.«

 

Sie erzählte ihm, daß sie bereits einige vorzügliche Dienstboten engagiert habe.

 

»Ist es nicht merkwürdig, wie geklatscht wird? Ich habe meiner Meinung nach nicht mehr als zwei Leuten gesagt, daß ich aufs Land ziehe, und doch haben sich bereits eine Menge Dienstboten bei mir gemeldet. Ich habe eine großartige Haushälterin, eine Köchin und zwei hübsche Stubenmädchen. Ich habe ihnen gesagt, daß sie heute dort sein sollen, um sich das Haus einmal anzusehen. Außerdem wollte ich mit der Haushälterin darüber sprechen, was sie zu tun hat.«

 

»Glänzend. In bezug auf Organisationstalent stellen Sie ja Trigger in den Schatten!«

 

Sie fuhren langsam durch das Dorf, hinter dem die Gillywood-Farm lag, und kamen dann an der düsteren Einfahrt zu Mr. Goodies Haus vorüber.

 

»Sieht es nicht wie ein Gefängnis aus?«

 

»Ja, es ist sehr düster«, gab sie zu. »Aber gerade dieses geheimnisvolle Haus interessiert mich.«

 

»Hoffentlich werden Sie nicht eines Tages enttäuscht«, erwiderte er grimmig.

 

Die eisernen Tore von Longhall waren offen, und in der Nähe der Haustür standen mehrere Leute – vier Frauen und ein hagerer Mann.

 

Luke ging mit ihr zu den wartenden Dienstboten. Die älteste von den Frauen machte einen etwas altmodischen Knicks. Edna merkte, daß nicht sie, sondern ihr Begleiter das Hauptinteresse der anderen erregte. Sie sahen ihn scharf an und beobachteten jede seiner Bewegungen.

 

Luke ging zu dem hageren Mann hinüber, wechselte ein paar Worte mit ihm und brachte ihn dann zu Edna.

 

»Mr. Lane«, stellte er ihn vor. »Wenn Sie nichts dagegen haben, wollen wir erst einmal einen kleinen Rundgang durch das Haus machen. Die Dienstboten bleiben besser draußen im Freien, bis Sie es von innen gesehen haben. Ich glaube auch nicht, daß sie großes Verlangen haben, ins Innere zu gehen.«

 

»Erwarten Sie, daß eine Bombe explodiert oder etwas Ähnliches?« fragte sie ärgerlich.

 

»Nein, aber wir werden viele Ratten sehen.«

 

Sie schauderte zusammen. Die Äußerung Goodies über die Ratten hatte sie vergessen.

 

Luke öffnete die Haustür mit dem Schlüssel.

 

»Wenn Sie gestatten, werden Mr. Lane und ich vorausgehen.«

 

Er trat einen Schritt ins Innere und blieb dann auf der Schwelle stehen. Sie bemerkte, daß im selben Augenblick die vier Dienstboten furchtsam zurücktraten. Zwei verängstigte Tiere eilten aus der Tür die Treppe hinunter; und als sie auch dort keinen Ausgang fanden, stürzten sie nach der offenen Tür. Edna wurde bleich. Sie haßte Ratten, und hier schien es eine Unmenge zu geben.

 

Luke grinste seine Begleiterin an.

 

»Es stimmt schon, Lane. Bringen Sie die Hunde.«

 

Der Mann ging aus dem Haus und kam nach kurzer Zeit mit drei Terriern wieder, die zusammengekoppelt waren. In der Zwischenzeit hatte Luke alle Fenster im Erdgeschoß geöffnet.

 

»Warten Sie ruhig hier; ich werde erst die Ratten aus dem Hause vertreiben.«

 

Edna stand vor der Tür und hörte das erregte Bellen der Hunde. Eine halbe Stunde später kam Luke wieder zu ihr.

 

»Treten Sie ein, ich glaube, die meisten Ratten sind erledigt.«

 

»Aber sie sind doch noch im Haus?« entgegnete sie ängstlich.

 

»Einige mögen noch dort sein, aber selbst das ist unwahrscheinlich. Die Ratten sind erst heute morgen hier eingesperrt worden, damit Sie eine Freude haben sollten. Goodie muß sich viel Mühe gemacht haben, um so viele zusammenzubringen. Lane hat Erfahrung als Rattenfänger, deshalb habe ich ihn hierhergebracht. Er wird einige Tage im Haus bleiben. Er hat mir gesagt, daß die Tiere ursprünglich gar nicht hier waren, sondern von außen hereingebracht wurden. Das geht schon daraus hervor, daß auch Feldratten darunter waren.«

 

Als sie von einem Zimmer ins andere ging, sah sie die toten Ratten, die die Terrier erlegt hatten. In dem Raum, den sie sich als Schlafzimmer ausgesucht hatte, fand sie Lane, der die Hunde wieder zusammenkoppelte.

 

»Ich will das Haus noch gründlich durchsuchen, Miss Gray, aber ich glaube nicht, daß ich irgendwo Rattennester finden werde. Das ist kein Platz, an dem sie sich aufhalten. Sie haben doch hier nichts zu fressen. Ja, drüben in den Ställen gibt es sehr viele, aber hier im Hause …«

 

Es fiel Edna schwer, die vier Dienstboten zu überreden, ins Haus zu kommen. Die beiden Mädchen weigerten sich glatt. Luke, der interessiert und belustigt zugehört hatte, winkte die Haushälterin zu sich.

 

»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß Ratten im Haus seien?«

 

Die Frau sah ihn unsicher an.

 

»Ich dachte mir gleich, daß hier Ratten sein müßten. Es sah schon von außen so aus.«

 

»Also, wer hat Ihnen das gesagt?« fragte Luke aufs neue. »Wer hat Ihnen allen gesagt, daß das Haus von Ratten wimmelt und daß Sie besser draußen blieben?«

 

»Niemand.«

 

Die Köchin antwortete für alle.

 

»Wie heißen Sie denn?« fragte der Inspektor die Haushälterin.

 

»Linton.«

 

»Früher hießen Sie doch Carr. – Und wie ist Ihr Name?« wandte er sich an die Köchin.

 

»Mrs. Keeler.«

 

»Früher hießen Sie Wheeler. Ihnen scheint ja auch ein Name ebensogut zu sein wie der andere. – Und von den beiden Mädchen dahinten ist bereits eine wegen Ladendiebstahls bestraft worden. – Das sind Sie.«

 

Er zeigte auf die hübschere von den beiden, die erst rot, dann bleich wurde.

 

»Und Sie waren doch seinerzeit in diese Hallam-Street-Geschichte verwickelt – stimmt das nicht?«

 

Die andere wechselte ebenfalls die Farbe. Sprechen konnte sie nicht, sie nickte nur.

 

Edna hörte bestürzt dieser Unterhaltung zu.

 

»Sie können alle nach Hause gehen«, sagte Luke freundlich. »Die Fahrt müssen Sie schon allein bezahlen. Und belästigen Sie Miss Gray nicht wieder, sonst bekommen Sie es mit mir zu tun. Ich werde mich auch einmal etwas genauer darum kümmern, woher Sie alle die guten Zeugnisse haben, die Sie Miss Gray gezeigt haben. Sagen Sie nur dem Herrn, der Sie geschickt hat – ich glaube, es war Mr. Rustem –, daß er sich keine Mühe mehr zu geben braucht, die anderen vier oder fünf Dienstboten herzuschicken, mit denen er gesprochen hat. Sie sind alle beobachtet worden, wie Sie in sein Büro gingen, bevor Sie Miss Gray aufsuchten. Einer meiner Beamten hat das genau kontrolliert. Guten Morgen.«

 

Wie begossene Pudel gingen die vier davon.

 

»Aber warum sagen Sie das alles? Was sind das für Leute?« fragte Edna verwirrt. »Warum haben Sie denn –«

 

»Die waren besonders für Sie ausgesucht. Das war ein sehr ungeschickter Schachzug von Mr. Rustem, da sie sich alle ganz entsetzlich vor den Ratten fürchteten.«

 

»Aber woher wußten Sie das alles? Sie haben mich doch nicht etwa beobachten lassen?«

 

»Ach, man muß doch ein Auge auf seine Freunde haben«, sagte er leichthin. »London ist im allgemeinen eine sehr gefährliche Stadt. Ich habe das alles herausbekommen, weil ich Rustem beobachten ließ. Also, was werden Sie jetzt tun, Miss Gray? Sind Sie noch immer entschlossen, in diese alte, verfallene Ruine zu ziehen, oder werden Sie vernünftig sein und sich irgendwo in Mayfair ein Haus kaufen oder eine Wohnung in der Piccadilly mieten und dort ein angenehmes Leben führen?«

 

»Ich werde hier wohnen«, entgegnete sie entschlossen. »Je mehr ich von dem Haus sehe, desto besser gefällt es mir.«

 

»Dann wollen wir einmal die Runde machen.«

 

Sie gingen durch das hohe Gras an der Rückseite des Hauses und kamen auf einen Hof. Die Mauer, die Longhall von der Gillywood-Farm trennte, war nur fünfzig Meter entfernt. Longhall House war in der einen Ecke des großen Grundbesitzes errichtet worden. Luke ging an der Mauer entlang und untersuchte sie genau. In der Mitte war ein schweres hölzernes Tor in der Mauer angebracht. Er sah sofort, daß das Schloß geölt worden war; allem Anschein nach war dieses Verbindungstor in letzter Zeit benutzt worden.

 

»Schließt einer Ihrer Schlüssel hier?«

 

Sie nahm sie aus ihrer Handtasche, und er versuchte sie alle der Reihe nach, ohne jedoch Erfolg zu haben. Dann machte er eine kurze Eintragung in sein Notizbuch.

 

»Das Schloß des Tores muß geändert werden.«

 

In der Nähe von Mr. Goodies Wohnhaus schloß sich an die Mauer ein hoher Drahtzaun an.

 

Luke fand eine alte Leiter, stellte sie an die Mauer und überblickte von oben das Grundstück auf der anderen Seite. In nicht allzugroßer Entfernung lagen rechts die zur Zeit leeren Ställe. Links erstreckte sich der Drahtzaun etwa drei- bis vierhundert Meter weiter nach Süden, bog dann ab und zog sich weiter an dem Grundstück entlang, auf dem das Wohnhaus Mr. Goodies stand. In einer Entfernung von etwa fünfzig Meter sah Luke eine Vertiefung im Boden, die von Betonmauern eingeschlossen war. Er konnte nicht erkennen, welchem Zweck sie diente, aber jedenfalls trug sie nicht zur Verschönerung des Gartens bei. Weiter in der Ferne sah er zwei dunkle Öffnungen in den felsigen Hügeln; es waren die Eingänge zu den Perrywig-Höhlen, die in der Geschichte eine Rolle gespielt hatten. Schmuggler hatten sie benützt, und es war sogar ein Mord dort geschehen. Zwischen den Höhlen und dem Haus lag eine große, nicht sehr ordentlich gehaltene Schonung, und rechts davon erhob sich ein neues, rotes Gebäude, in dem Mr. Goodies Pferde untergebracht waren.

 

Luke kannte die ganze Gegend; er hatte sie früher schon häufig durchstreift. Eines Tages wollte er auch in die Höhlen eindringen, die jetzt durch schwere Tore verschlossen waren. Er wollte erfahren, welches Geheimnis sie bargen. Goodies Vergangenheit war nicht einwandfrei und noch wenig aufgeklärt. Selbst Scotland Yard mit seinem glänzenden Nachrichtendienst und all seinen Hilfsmitteln hatte das nicht fertiggebracht. So nahm Luke sich vor, die Sache zu klären. Goodies Name tauchte öfter im Zusammenhang mit schweren Verbrechen auf, ohne daß man dem Mann die Teilnahme daran nachweisen konnte. Luke wußte, daß es sich um einen starken, rücksichtslosen Menschen handelte, aber er wußte nichts von Goodies Ehrgeiz, und er hatte keine Ahnung von dem Bibliothekszimmer, das fast den ganzen oberen Stock von Gillywood Cottage einnahm. Dort saß Goodie in den stillen Nachtstunden an seiner Schreibmaschine und arbeitete an seinem großen Werk. Luke vermutete, daß der Trainer jeden Abend von Doncaster hierherkam und in den frühen Morgenstunden wieder zurückkehrte.

 

»Nun, was sehen Sie denn?« fragte Edna ungeduldig, denn er stand schon lange Zeit oben auf der Leiter.

 

»Ländereien, Zäune, neue Stallgebäude und eine Grube, die von Betonmauern eingefaßt ist. Ich kann aber nicht daraus schlau werden. Und hier wollen Sie also nun wirklich bleiben?«

 

»Heute nacht noch nicht. Aber daß ich später hierherziehe, ist ganz gewiß.«

 

»Gut, dann werde ich dafür sorgen, daß Sie wenigstens gute Dienstboten bekommen.«

 

*

 

Er hielt Wort und schickte in den nächsten Tagen sechs weibliche Dienstboten, einen Butler, einen Diener und ebenso Mr. Lane, den Rattenfänger, in ihr Hotel. Telefonisch bat er sie, Mr. Lane zu engagieren.

 

»Er hat große Erfahrung als Gutsverwalter. Außerdem hat er beim Militär gedient und kann Sie im Fall einer Gefahr beschützen.«

 

»Mit wem soll er denn kämpfen?«

 

»Das wird sich schon noch zeigen. Man kann nie wissen, was geschieht. In allem Ernst würde ich Ihnen empfehlen, ihn anzustellen. Übrigens ist der Butler, den ich Ihnen geschickt habe, ein früherer Polizeibeamter.«

 

»Sie wollen wohl mein Haus zu einer Polizeistation machen?«

 

»Ich könnte mir keinen schöneren Platz dafür denken.«

 

Kapitel 8

 

8

 

Die Leute, die Luke geschickt hatte, bewährten sich vorzüglich, und Edna Gray war ihm sehr dankbar für die gute Auswahl.

 

In den nächsten beiden Wochen wurden Haus und Garten gründlich in Ordnung gebracht, und als alles hübsch und behaglich eingerichtet war, hielt Edna eines Tages mit ihrer Zofe Einzug in Longhall House. An der Einweihungsfeier nahm nur ein Gast teil.

 

Sie fühlte sich etwas unbehaglich, als ihr zum Bewußtsein kam, wie abhängig sie von Mr. Luke geworden war. Er spielte bereits eine große Rolle in ihrem Leben. Stets blieb er ihr gegenüber gleich freundlich und liebenswürdig und wurde niemals auch nur im geringsten aufdringlich.

 

Eines Tages sagte er ihr, daß er sie wie einen jüngeren Bruder betrachte. Sie wußte nicht recht, ob sie sich über den Verwandtschaftsgrad, den er ihr zuteilte, freuen oder ärgern sollte.

 

Wenn sie nach London fuhr, traf sie ihn gelegentlich beim Mittagessen. Es war ihr sehr angenehm, öfter mit ihm zusammenzukommen. Er erzählte ihr immer viel Neues und berichtete auch über die Organisation Mr. Triggers.

 

Als sie wieder einmal mittags im Carlton-Hotel zusammensaßen, sagte er, daß er am Nachmittag eine Verabredung mit Trigger habe.

 

Edna machte sich eigentlich Vorwürfe, denn sie wußte sehr gut, daß Polizeibeamte nicht übermäßig hoch bezahlt wurden. Er lud sie immer in die teuersten Restaurants ein, und als sie einmal das Essen bezahlen wollte, hatte er es entschieden abgelehnt.

 

Er erwähnte später, daß er außer seinem Beamtengehalt Vermögen besitze.

 

Er hätte den Dienst längst quittiert, wenn er nicht den äußerst interessanten Auftrag erhalten hätte, die Firma Trigger genauer zu beobachten und das Geheimnis zu klären, das hinter den Transaktionen steckte.

 

Nach dem Essen brachte er Edna zu ihrem Hotel zurück und schlenderte dann die Lower Regent Street entlang, um seine Verabredung einzuhalten.

 

Ein Portier in glänzender Uniform führte ihn in den prachtvoll ausgestatteten Warteraum, erschien jedoch bald wieder und brachte ihn zu Mr. Triggers Büro, einem großen, luxuriös eingerichteten Zimmer, von dem aus man auf die Regent Street hinabschauen konnte. Obwohl der Tag nicht besonders heiß war, saß Mr. Trigger in Hemdsärmeln hinter seinem kostbaren Schreibtisch aus Rosenholz, auf dem Diktiergeräte, Telefone und andere Apparate standen.

 

»Nehmen Sie bitte Platz, Mr. Luke«, sagte der kleine Mann freundlich, erhob sich und schob seinem Besucher einen mit Maroquin bezogenen Sessel hin. Der Inhaber der Rennwettfirma war so höflich, daß er erst wieder Platz nahm, als sein Besucher sich gesetzt hatte. »Ich bin so stark beschäftigt, daß ich nicht recht weiß, wo ich mit der Arbeit anfangen soll.«

 

Trigger zeigte ein offenes, freies Wesen. Luke hatte diesen freundlichen, jovialen Mann im Grunde ganz gern.

 

»Ich weiß, warum Sie mich sprechen wollen – es handelt sich um Kalamu.« Das war der Name des Außenseiters, der in Newmarket gewonnen hatte. »Mr. Luke, ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein. Ich verstehe überhaupt nichts von Pferden, und ich würde kaum eins vom anderen unterscheiden können. Für mich sind es nur Pferde, und wenn sie vorne Hörner haben, sind es Ochsen oder Kühe!«

 

Er lachte vergnügt und schob Luke eine Kiste Zigarren zu.

 

»Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Mr. Luke. Ich weiß niemals, ob ein Pferd eine Gewinnchance hat oder nicht. Noch nie in meinem Leben habe ich mir ein Buch über Pferdezucht angesehen, und selbst wenn ich versuchte, es zu lesen, würde ich es doch nicht begreifen. Ich halte mich genau an die Rennregeln, gegen die ich in keiner Weise verstoßen habe. Das weiß ich genau, denn die habe ich gründlich studiert. Ich setze mich nicht mit Stalljungen, Jockeis oder gar Trainern in Verbindung, ich betreibe diese ganze Sache hier rein kaufmännisch.«

 

»Aber ein anderer weiß sehr gut mit Pferden Bescheid – ich meine einen Ihrer Freunde.«

 

Mr. Trigger zuckte die Schultern.

 

»Selbstverständlich! Ich wende mich doch nicht an irgendwen, wenn ich mir ein Pferd nennen lasse. Mr. Luke, Sie wissen ebensogut wie ich, daß der Doktor und Mr. Goodie an dem Geschäft beteiligt sind. Auch Mr. Rüstern hat einen Anteil. Die drei kümmern sich um das Fachliche, das ist ein offenes Geheimnis. Sie haben ihr ganzes Leben dem Rennsport gewidmet und wissen alles, was sich darauf bezieht. Ich selbst will nichts damit zu tun haben. Ich bringe das Geld auf die Bank –«

 

»Alles Geld?«

 

Mr. Trigger lächelte vorwurfsvoll.

 

»Aber Inspektor, wie können Sie einen Geschäftsmann dergleichen fragen! Ich bringe das Geld auf die Bank, dann hebe ich die Summen wieder ab, die ich für Ausgaben brauche. Das ist das Ende des Geschäfts, soweit ich dafür in Frage komme.«

 

»Haben Sie jemals den Eigentümer von ›Kalamu‹kennengelernt?«

 

»Nein, ich komme niemals mit Besitzern von Rennpferden zusammen«, entgegnete Mr. Trigger vergnügt. »Ich darf wohl sagen, daß verschiedene meiner Klienten Besitzer von Rennpferden sind, aber ich komme nicht mit ihnen zusammen. Es ist meine Aufgabe, die Angestellten der Firma zu beaufsichtigen und dafür zu sorgen, daß sie ihre Arbeit tun. Übrigens bekommen die Leute sehr gute Gehälter. Sie haben von morgens neun bis nachmittags fünf Uhr Dienst. Ich habe einen großen Speisesaal für sie eingerichtet, und auf dem Dachgarten stehen Liegestühle für sie. – Vielleicht sehen Sie sich einmal meine Büroräume an?«

 

Er erhob sich, zog den Rock über und ging mit seinem Besucher in den großen Saal, wo Reihen von jungen Damen an ihren Schreibtischen saßen. Auf jedem der Arbeitsplätze standen eine Uhr und ein Kalender.

 

Luke ging die langen Reihen von Schreibtischen entlang. Die Angestellten sahen kaum auf und nahmen keine Notiz von ihm. Der Inspektor hatte bisher noch niemals das Büro der Organisation aufgesucht. Er bewunderte Mr. Trigger, der sich eine einzigartige Stellung geschaffen hatte, selbst nichts von irgendwelchen Schiebungen wußte und auch nichts davon wissen wollte. Selbstverständlich ahnte er, daß seine Partner dem Glück auf der Rennbahn gewaltig nachhalfen.

 

Trigger nahm Luke mit in seine privaten Räume, und der Inspektor war erstaunt über die einfache Ausstattung.

 

»Ich empfange keine Besuche und schlafe nur hier, wenn ich sehr viel zu tun habe. Was sagen Sie zu meinen jungen Damen? Finden Sie nicht auch, daß sie einen sehr guten Eindruck machen? Aber ich habe noch nie eine von ihnen eingeladen, mit mir zu speisen, und nur ein einziges Mal hat eine versucht, mit mir zu flirten. Die habe ich sofort vor die Tür gesetzt. Geschäft ist Geschäft, und Liebe ist Liebe. Ich dulde auch nicht, daß Mr. Goodie oder der Doktor oder Mr. Rustem hierherkommen.«

 

Luke verließ das Büro, ohne viel mehr erfahren zu haben, als er bereits wußte. Er hatte auch nicht erwartet, daß er bedeutende Aufschlüsse erhalten würde. Aber Mr. Trigger gefiel ihm als Mensch und als Organisator. Er war der einzige Mann in der ganzen Firma, dem man nichts anhaben konnte und der vom Gericht auch sicherlich nicht verurteilt werden würde. Das war für Luke eine wichtige Schlußfolgerung, denn er konnte es sich nun leisten, die polizeiliche Überwachung seines Büros fallenzulassen. Dadurch wurde es ihm möglich, sich den beiden anderen Leuten um so mehr zu widmen, auf deren Angaben hin Mr. Trigger derartig viel Geld verdiente. Rustem schloß er aus; er betrachtete ihn mehr als eine Art Agenten und als Werkzeug. Wahrscheinlich kannte der Mann die letzten Geheimnisse seiner Partner nicht und hatte nur dafür zu sorgen, daß sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt gerieten.

 

*

 

Dr. Blanter trank unmäßig viel und verkehrte in gewissen Nachtklubs, die nicht gerade im besten Ruf standen. An jenem Abend kehrte er in einem der verrufensten Lokale ein. Zehn Minuten nach zwölf Uhr hielt die Polizei dort eine Razzia ab und schaffte alle Leute, die sie antraf, zur Polizeistation. Gewöhnlich wurden die Damen und Herren in solchen Fällen mit der größten Zuvorkommenheit behandelt. Man durchsuchte sie nicht, und man ließ ihnen auch eine gewisse Freiheit in den Wartezimmern, bis ihre Freunde kamen und eine Kaution stellten.

 

Dr. Blanter protestierte heftig, und gerade er wurde sehr genau durchsucht. Man nahm ihm Wertsachen und Schlüssel ab und sperrte ihn in einen besonderen Raum. Es war drei Uhr morgens, als man ihn endlich entließ und ihm zurückgab, was man in seinen Taschen gefunden hatte. Um diese Zeit hatte er sich einigermaßen beruhigt und machte keinen Spektakel mehr. Die drei Stunden Gefangenschaft waren aber die unglücklichsten seines ganzen Lebens gewesen, denn er durchschaute den Plan der Polizei. Er wußte, daß diese Razzia und seine Festnahme durchaus nicht erfolgt waren, weil der Klub die Polizeistunde für den Ausschank alkoholischer Getränke überschritten hatte.

 

Um vier Uhr kam er nach Hause. Äußerlich verriet seine Wohnung nichts davon, daß vier tüchtige Kriminalbeamte alle Winkel und alle Schubladen durchsucht hatten. Kein Schriftstück war ihnen entgangen, sie hatten alle Briefe gelesen.

 

Luke war dennoch sehr enttäuscht, denn er hatte nicht gefunden, was er erwartet hatte.

 

Kapitel 20

 

20

 

Edna war es, als ob sie aus einem bösen Traum erwachte. Sie versuchte, sich auf der Couch, auf der sie lag, aufzurichten. Alles drehte sich um sie, und sie fühlte sich merkwürdig schwach. Jemand rieb ihre Stirn und ihren Nacken mit Eau de Cologne ein.

 

»Bleiben Sie ruhig liegen«, sagte Luke.

 

Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie, daß er auf einem Stuhl neben ihrem Lager saß. Er sah müde und übernächtigt aus. Das war auch nicht verwunderlich, denn er war im Augenblick höchster Not dazugekommen und hatte im Dunkeln den zweiten Panther durch zwei Schüsse niedergestreckt. Seine Aufregung war zu verzeihen; er hatte ja nicht gewußt, ob das Geschoß die Bestie oder ihr Opfer treffen würde. Und das Opfer konnte die Frau sein, die er über alles liebte. Es war zwei Uhr morgens, als sie wieder vollkommen zu sich kam und wissen wollte, wie sieh alles zugetragen hatte.

 

»Aber Sie müssen auch vollkommen ruhig bleiben.«

 

»Das verspreche ich Ihnen.«

 

»Also, ich kam hierher – ich hatte eine Ahnung, daß hier nicht alles in Ordnung war. Allerdings wußte ich nicht, daß ich einen Panther erschießen müßte und daß ich Sie hier in solcher Gefahr finden würde.«

 

Er versuchte gleichgültig zu sprechen, aber sie hörte doch am Ton seiner Stimme, daß er schreckliche Augenblicke durchlebt haben mußte.

 

»Es waren Goodies Panther, die er in dem unterirdischen Käfig eingesperrt hielt. Er hatte sie früher großgezogen, und er ließ sie während der Nacht frei auf dem Grundstück umherlaufen. Tagsüber waren sie in einem unterirdischen Gewölbe eingesperrt. Deshalb habe ich die Polizei gewarnt, das Grundstück zu betreten, bis ich die beiden Tiere erledigt hätte. Bei Tage ließen sie sich nicht sehen, aber nachts schweiften sie auf dem Gelände umher. Sie waren der beste Schutz gegen Einbrecher, den sich dieser Kerl nur wünschen konnte! Aber er hatte nicht vorausgesehen, welche Folgen das haben würde. Die Pferde konnten den Geruch der Raubtiere nicht vertragen. Deshalb mußte er sie in neue Ställe überführen.

 

Goodie bewahrte viele Geheimnisse in seinem Haus, darunter auch eine selbstverfaßte Lebensbeschreibung, die ich mit großem Interesse gelesen habe. Er sagte zwar, daß nichts darin steht, woraus wir ihm einen Strick drehen könnten, aber das wird sich ja zeigen.«

 

Sie erzählte ihm dann alles, was sich in der Höhle zugetragen hatte, doch das hatte ihm Rustem schon alles mitgeteilt, bevor er ins Krankenhaus geschafft worden war.

 

»Ja, ich weiß, das ist auch der Ort, an dem sie den armen alten Garcia gefangenhielten. Er hat sein Pferd erkannt, als er damals mit Ihnen herkam, wollte sich aber noch genauer davon überzeugen. Er reiste deshalb hierher und logierte im ›Roten Löwen‹. Rustem hat ihn wahrscheinlich beobachten lassen, und als sie erfuhren, daß ihr Betrug herausgekommen war, berieten sie sich.

 

Sie entsinnen sich doch noch, daß Rustem damals so eilig auf den Rennplatz von Doncaster kam? Damals erzählte er den anderen, daß Garcia im Gasthaus wohne und sein früheres Pferd wiedererkannt habe. Er hat mir das alles eingestanden. In derselben Nacht gelang es ihnen, Garcia gefangenzusetzen und in die Höhle zu bringen. Allem Anschein nach hat er mehrmals den Versuch gemacht zu entkommen; deshalb legten sie ihn in Ketten.

 

Sie scheinen ihn, soweit sie konnten, gut behandelt zu haben. Sie können sich doch noch auf die Speisereste besinnen, die Sie vor dem Höhleneingang entdeckten? Garcia gelang es, sich von den Fesseln zu befreien, und er suchte einen Ausweg aus der Höhle. Wie durch ein Wunder fand er den Verbindungsgang, der zu der kleineren Höhle führt, zerbrach den hölzernen Zaun mit einem starken Felsblock und versteckte sich tagelang. Seine Flucht brachte die drei in furchtbare Aufregung, zumal er wußte, daß sie ›Vendina‹ unter falschem Namen für das Rennen gemeldet hatten. Wie es ihnen gelang, ihn wieder einzufangen, weiß ich nicht. Und dann brachten sie ihn in ein kleines Haus, das Goodie gehört.

 

Ich glaube nicht, daß sie ihm etwas zuleide getan haben; wahrscheinlich ist er durch die vielen Anstrengungen so schwach geworden, daß er starb. Vielleicht hat er auch die vielen Spritzen nicht vertragen, die sie ihm gaben, um ihn ruhig zu halten. Rustem sagte mir, daß sie die Absicht hatten, ihn aus England hinauszuschmuggeln.

 

Er war es auch, der durch seine Agenten die Telegramme an Sie senden ließ. Vor Ihnen hatten sie am meisten Angst.«

 

»Vor mir?« fragte sie erstaunt.

 

Er nickte.

 

»Zuerst wollten sie überhaupt verhindern, daß Sie hierherzogen, damit Sie nicht das Gelände übersehen konnten. Goodie fürchtete auch, daß Sie die Panther entdecken und sich bei der Polizei beschweren würden. Und schließlich waren Sie wichtig, weil sie die einzige Person in England waren, die genau über Garcia Bescheid wußte. Zu allem Überfluß tauchte dann noch Punch Markham auf.

 

Er muß das Pferd gesehen und dabei erkannt haben, daß es nicht das Tier war, das er früher an Goodie verkauft hatte. Er konnte es leicht identifizieren, denn ein Huf war kleiner als die anderen. In derselben Nacht, in der diese Entdeckung gemacht wurde, erschoß Goodie ›Weiße Lilie‹ und ließ sie begraben. Beim Cambridgeshire-Rennen wollten sie ihren letzten großen Triumph feiern. Ich habe herausbekommen, daß sie mindestens eine halbe Million Pfund dabei verdient hätten. Punch Markham stand ihnen im Weg, deshalb mußte er sterben. Es war eine Idee Dr. Blanters, den toten Garcia in meine Wohnung zu bringen. Rustem wußte nichts von der Sache, und Blanter fiel es ja leicht, in meine Wohnung einzudringen, weil er einen Schlüssel hatte. Der Nebel während jener Nacht begünstigte obendrein die Ausführung seines Planes. Während er in meiner Wohnung war, rief zufällig Punch an. Er hatte versprochen, mich um halb elf Uhr anzurufen. Dadurch erfuhr der Doktor, daß das Spiel verloren war. Punch hinderte ihn daran, ein großes Vermögen zu erwerben. Blanter verabredete sich mit ihm und bestellte ihn ans Embankment. Er wußte ja, daß abends der Nebel dort dichter ist als an irgendeiner anderen Stelle in London. Punch hatte ihn nicht von Ansehen gekannt und wurde dann an der verabredeten Stelle aus nächster Nähe erschossen.«

 

»Haben Sie Doktor Blanter auch schon verhaftet, oder ist er entkommen?«

 

»Er lebt nicht mehr. Der eine Panther hat ihn vollkommen zerfleischt.«

 

Kapitel 15

 

15

 

Diesem Rundschreiben war das Folgende vorausgegangen.

 

Dr. Blanter traf Mr. Trigger eines Tages in ihrem Stammlokal in der Wardour Street.

 

»Die Sache wird nicht so glatt gehen, Doktor. Wir können nicht jede Woche ein Pferd laufen lassen, auch nicht alle vierzehn Tage. Wenn wir nicht vorsichtig sind, geht das Ganze in die Binsen.«

 

»Aber wir müssen es jetzt machen«, brummte Blanter. »Ich muß Geld einnehmen, und ich habe auch alle Pferde, die dazu nötig sind.« Der kleine Mann schüttelte düster den Kopf.

 

»Es gibt nur einen Weg, viel Geld zu verdienen, Doktor, und dazu müssen wir vor allem Geduld haben. Ich verstehe ja nicht viel von den Rennen, aber soviel ich gehört habe, ruinieren sich viele andere Leute und haben große Verluste, weil sie nicht warten können. Es geht auch gar nicht, daß wir jede Woche ein Pferd laufen lassen; das macht viel zuviel Arbeit. Dann müßten meine Angestellten ja Tag und Nacht arbeiten.«

 

»Gut, dann lassen Sie doch die Mädels Tag und Nacht arbeiten«, erwiderte Blanter ärgerlich. »Und versuchen Sie ja nicht, mir Angst einzujagen, denn ich habe schon genug Schwierigkeiten, ohne daß Sie mir obendrein noch den Kopf vollmachen mit Ihren Sorgen.«

 

Mr. Trigger lächelte.

 

»Ich habe keine Sorgen. Ich habe bereits mehr Geld, als ich jemals in meinem Leben ausgeben kann. Sie können mich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen, was Sie auch unternehmen mögen. Ich habe Luke neulich gesagt –«

 

»Wie, der ist in Ihrem Büro gewesen?« fragte Blanter schnell. »Zum Teufel, warum haben Sie mir das nicht mitgeteilt?«

 

»Weil es gar keinen Wert hat, über dergleichen zu sprechen«, entgegnete Trigger kühl.

 

Er berichtete kurz von Lukes Besuch, und Blanter sah ihn argwöhnisch an.

 

»Ist sonst nichts geschehen? Sie verheimlichen mir doch nichts? Ich traue Ihnen nicht mehr ganz, Trigger.«

 

Der kleine Mann lächelte wieder.

 

»Sie vertrauen mir doch aber Ihr Geld an, Doktor. Nein, ich versuche nicht im mindesten, Sie hinters Licht zu führen. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich mit ihm sprach. Ich habe ihm die ganze Einrichtung der Büros gezeigt, und wenn er es verlangen sollte, bin ich bereit, ihm die Geschäftsbücher vorzulegen. Nichts verstößt gegen irgendwelche Gesetze oder Vorschriften.«

 

Blanter sah ihn düster an.

 

»Sie glauben also, daß Sie nichts zu fürchten hätten, wenn es hart auf hart kommt? Nun, das können Sie sich aus dem Kopf schlagen. Sie haben aus allem, was wir getan haben, pekuniären Vorteil gezogen. Wir haben Ihnen so weit vertraut, daß wir Ihnen unser Geld gegeben haben, und Sie haben uns Ihr Ehrenwort geben müssen, daß Sie uns ehrlich am Gewinn beteiligen. Wenn es irgendwie Unannehmlichkeiten geben sollte, Trigger, dann sind Sie auch daran beteiligt. Ich werde schon dafür sorgen! Setzen Sie sich also keine Flausen in den Kopf, daß Sie sicher wären und daß man Ihnen nichts vorwerfen könnte!«

 

Trigger sah ihn interessiert und mit großen Augen an, aber er sagte nichts. Er war sowohl über die Beleidigungen als auch über den Argwohn Blanters erhaben. Seine früheren Erfahrungen schienen ihn das gelehrt zu haben. Auf jeden Fall zeigte er nicht die geringste Feindseligkeit im Lauf der Unterhaltung.

 

Dann verhandelten die beiden rein geschäftlich miteinander.

 

»Ich benötige dreißigtausend Pfund. Lord Lethfields berühmtes Rennpferd steht zum Verkauf. Ich glaube, wir können einen guten Zug damit machen.«

 

Zu seinem größten Erstaunen schüttelte Trigger den Kopf.

 

»Also hören Sie, Doktor, wir haben unser Geschäft nach gewissen Prinzipien organisiert. Sie und die anderen heben so viel Geld ab, wie Sie brauchen, aber wir haben immer darauf gedrungen, daß vor Saisonende keine größeren Summen ausgezahlt werden sollen, sondern nur das, was im Augenblick benötigt wird.«

 

Der Doktor wurde rot vor Ärger.

 

»Wenn ich eine Regel aufstelle, dann kann ich sie doch schließlich auch umstoßen.«

 

»Sie haben die Regel nicht allein aufgestellt«, erwiderte Trigger gelassen. »Das haben wir alle zusammen getan. Und zwar haben wir diesen Beschluß auf Rustems Anregung gefaßt. Goodie hat auch zugestimmt. Wenn Sie wünschen, können wir eine Sitzung einberufen, aber ich zahle Ihnen auf keinen Fall dreißigtausend Pfund auf eigene Verantwortung aus, ganz gleich, ob Sie das Rennpferd kaufen wollen oder nicht.«

 

Trigger trank sein Glas aus und erhob sich.

 

»Ich habe jetzt zu arbeiten«, sagte er und verließ plötzlich das Lokal.

 

Das war das erste Anzeichen, daß Trigger aufsässig wurde, und der Doktor wurde plötzlich nüchtern. Er ging nach Hause und rief Mr. Rustem an.

 

Der Rechtsanwalt folgte seiner Aufforderung, zu ihm zu kommen, nur widerwillig. Er kam dann in schlechter Stimmung in sein Büro zurück.

 

Blanter war sehr großzügig in seinen Dispositionen. Rustem war vorsichtiger und wollte alles genau überlegt und ausgearbeitet wissen. Er hatte einen gewissen Sinn für drohende Gefahren und sah sie bereits, wenn die anderen sie noch nicht entdecken konnten. Der Doktor hatte ihm eine unmögliche, ja lächerliche Aufgabe übertragen. Rustem hatte ihm das zur Genüge gesagt, ohne daß Blanter zur Vernunft gekommen wäre.

 

Rustem ließ Pilcher gehen und meldete ein Telefongespräch nach Berlin an. Als der Mann, mit dem er sich in Verbindung setzen wollte, sich meldete, unterhielt er sich zwölf Minuten lang mit ihm in französischer Sprache. Als er das Telefongespräch beendet hatte, ging er nach Hause.

 

Um halb zwölf Uhr nachts rief er Edna Gray an, und trotz der späten Stunde meldete sie sich sofort. Ihre Stimme klang besorgt. Daraus schloß er, daß sie das Telegramm, das er ihr hatte senden lassen, erhalten haben mußte.

 

»Ist dort Miss Gray?« fragte er mit verstellter Stimme und sprach wie ein Deutscher, der das Englische nicht vollkommen beherrscht. »Ich bin Doktor Thaler. Eben aus Berlin eingetroffen. Haben Sie von meinem armen Freund Garcia gehört?«

 

»Ja, ich habe gerade ein Telegramm von ihm bekommen. Ist er sehr schwer krank?«

 

»Ich fürchte, es ist ein hoffnungsloser Fall.« Dann sagte er ein paar deutsche Worte, die Edna nicht verstand. »Ich möchte gern mit Ihnen sprechen, aber leider muß ich heute nacht noch nach Irland weiterfahren. Es kommt ihm vor allem darauf an, daß niemand außer Ihnen etwas von seiner Erkrankung erfährt.«

 

»Besteht denn keine Hoffnung mehr, daß er wieder gesund wird?« fragte sie und unterdrückte nur mühsam ein Schluchzen.

 

»Leider nicht. Es kann noch eine Woche, vielleicht zwei Wochen dauern … Bei seinem Alter ist der Fall sehr bedenklich.«

 

»Ich fahre morgen früh mit dem ersten Zug«, erklärte sie.

 

Als Rustem den Hörer auflegte, war er sehr zufrieden mit sich und fuhr sofort zu Dr. Blanter, um ihm den Erfolg mitzuteilen. Als er aber vor dessen Haus ankam, hörte er, daß der Doktor in größter Eile aufs Land gefahren war.

 

*

 

Edna las das Telegramm noch einmal durch; es war tatsächlich in Berlin aufgegeben.

 

Bin schwer krank. Dr. Thaler, der eben nach London abgeflogen ist, wird Sie anrufen. Bitte kommen Sie so bald wie möglich zu mir, teilen Sie aber anderen Leuten nicht mit, daß Sie nach Deutschland reisen. Das vor allem ist wichtig. Ich muß Ihnen ein großes Geheimnis mitteilen. Alberto, Hotel Esplanade.

 

Sie war traurig und wußte nicht recht, was das alles zu bedeuten hatte. Seinem letzten Telegramm nach müßte er jetzt eigentlich in Kleinasien sein; andererseits war es auch möglich, daß er Istanbul überhaupt nicht verlassen hatte. Vielleicht war er krank geworden und hatte sich zur Behandlung nach Berlin begeben.

 

Sie traf alle Vorbereitungen, um am nächsten Morgen in aller Frühe abzureisen. Als sie ihren Chauffeur gerufen hatte, um ihm Instruktionen zu geben, änderte sie plötzlich ihre Absicht. Sie wollte noch am selben Abend nach London fahren, dann konnte sie in der Stadt schlafen und am nächsten Morgen die Reise antreten. Das war auf jeden Fall weniger anstrengend.

 

Ihr Mädchen packte schnell einen Koffer, während der Butler das Hotel anrief und ein Zimmer reservieren ließ.

 

Um ein Uhr in der Nacht fuhr sie fort. Kaum hatten sie fünfzehn Kilometer zurückgelegt, als der Chauffeur bremste. Die Nacht war dunkel, und es fiel ein leichter Sprühregen. Sehen konnte sie nichts, selbst als sie das Fenster herunterdrehte und hinausschaute.

 

»Was gibt es denn?« fragte sie.

 

»Zwei Wagen versperren die Straße.«

 

Das rote Schlußlicht des einen Autos war zu erkennen; plötzlich wurden auch die Scheinwerfer des zweiten eingeschaltet, aber nur für einen kurzen Augenblick, dann wurde es wieder dunkel. Sie hörte das Geräusch des Motors, als der Wagen rückwärts fuhr. Undeutlich konnte sie ein kleines Haus hinter einer Hecke erkennen, und als der eine Wagen dicht neben dem anderen stand, erkannte sie oben auf der Böschung die Gestalten zweier Männer. Die beiden hatten ihr den Rücken zugekehrt und standen nicht, sondern knieten auf dem Boden.

 

»Es sieht fast so aus, als ob hier ein Unglück passiert wäre«, meinte der Chauffeur, »aber sie scheinen keine weitere Hilfe zu brauchen.«

 

Sie fuhren weiter, und bald dachte Edna nicht mehr an den Vorfall. An einer Tankstelle machten sie halt, und bei der Gelegenheit unterhielt sich der Chauffeur mit ihr über das Erlebnis auf der Straße.

 

»Einer der beiden Leute sah so aus, als ob es Goodie gewesen sein könnte. Er trägt immer einen grauen Regenmantel mit einer Kapuze. Ich habe nachher, als wir vorbeifuhren, auch nichts von einem Zusammenstoß oder einer Beschädigung entdecken können.«

 

Sie selbst hatte wenig gesehen; das plötzliche Aufflammen der Scheinwerfer an dem einen Wägen hatte sie geblendet.

 

Sie erreichten London in den frühen Morgenstunden, und Edna war froh, als sie sich zur Ruhe legen konnte. Der Nachtportier hatte bereits ihre Fahrkarte nach Berlin besorgt, und um halb elf Uhr war sie auf dem Victoria-Bahnhof.

 

»Wohin wollen Sie denn?«

 

Sie erkannte sofort Lukes Stimme und drehte sich um. Der Inspektor sah sie düster an. Er war sehr müde, denn er hatte in der vergangenen Nacht kaum drei Stunden Schlaf gehabt.

 

»Nach Berlin.«

 

»Das habe ich bereits an Ihren Kofferzetteln gesehen«, entgegnete er höflich. »Diese Reise kommt wohl sehr unerwartet?«

 

Sie zögerte. »Ja, ich handle manchmal etwas impulsiv. Ich dachte, das wäre Ihnen schon bekannt.«

 

»Hat Mr. Garcia Sie gebeten, zu ihm zu kommen?« fragte er.

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Ja.«

 

»Ist er krank? Ich meine, handelt es sich um eine ernste Angelegenheit?«

 

Sie seufzte ungeduldig.

 

»Sie fragen mich so dringend, daß ich tatsächlich in Versuchung komme, mein Wort zu brechen.«

 

»Ach, Sie sind gebeten worden, niemand etwas von Ihrer Abreise mitzuteilen?« fragte er scharf. »Ärgern Sie sich bitte nicht über mich, Miss Gray, aber ich bin sehr daran interessiert, alle Einzelheiten über Ihre Reise nach Deutschland zu erfahren.«

 

»Stehe ich denn unter Polizeiaufsicht?«

 

»Im Augenblick, ja«, entgegnete er brüsk.

 

Warum sie ihm das nicht übelnahm, konnte sie sich selbst nicht erklären.

 

»Gestern abend erhielt ich ein Telegramm von Mr. Garcia. Er ist sehr krank und bat mich, ihn aufzusuchen. Er wohnt im ›Hotel Esplanade‹. Der deutsche Arzt, der gestern abend nach London kam, rief mich an – «

 

»Wann war das?«

 

»Um halb zwölf.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Um die Zeit kommt kein Flugzeug vom Kontinent an. Sie treffen entweder am Morgen oder am Nachmittag ein. Können Sie mir noch sagen, was in dem Telegramm stand?«

 

Sie sagte es ihm so genau wie möglich.

 

Ein Gepäckträger wollte das Gepäck zum Zug bringen, aber Luke hielt ihn zurück. Dann führte er Edna außer Hörweite.

 

»Ich möchte Sie um einen sehr großen Gefallen bitten: Fahren Sie nicht nach Deutschland.«

 

»Warum denn nicht?«

 

»Ich habe im Augenblick nicht die nötige Zeit, Sie auf dieser Reise zu begleiten, und ich habe auch keinen anderen Beamten, den ich mitschicken könnte. Sagen Sie mir nur nicht, es sei nicht notwendig, Sie zu begleiten. Noch einmal, ich bitte Sie dringend und inständig, nicht dorthin zu fahren.«

 

»Aber Mr. Garcia – «

 

»Ich verspreche Ihnen, daß Mr. Garcia alle Pflege haben soll, die er braucht. Und wenn es tatsächlich notwendig sein sollte, können Sie heute abend immer noch reisen. Das macht nur ein paar Stunden Unterschied aus.«

 

Er sprach so dringend und ernst, daß sie es ihm nicht abschlagen konnte. Er fuhr mit ihr zum Hotel zurück und sagte ihr, wie er sich die ganze Sache erklärte. Als er ihr dann noch obendrein vorschlug, mit ihm nach Kempton zum Rennen zu fahren, schien das die Höhe der Unverschämtheit zu sein.

 

»Aus verschiedenen Gründen bitte ich Sie, mich dorthin zu begleiten«, unterbrach er ihre ablehnenden Worte. »Erstens einmal ist es nötig, daß Sie heute in meiner Gesellschaft gesehen werden, zweitens muß ich feststellen, ob zwei unserer Freunde zugegen sind, und drittens möchte ich gern diesen Tag mit Ihnen verbringen.«

 

Sie lächelte.

 

»Diese letzten Worte fasse ich lieber nicht als ein Kompliment auf.«

 

»Nein, tun Sie das besser nicht.«

 

Als er sie später im Hotel abholte, brachte er sein Gepäck mit. Er war in der besten Stimmung. Es hatte aufgehört zu regnen, und es war ein herrlicher Herbsttag geworden.

 

Edna vergaß sehr bald die Sorge, die sie sich um Garcia gemacht hatte. Sie hatte den alten Mann wirklich gern, aber seine Gesellschaft war doch etwas anderes als das Zusammensein mit Mr. Luke.

 

Sie hielten vor dem Eingang zur Rennbahn an, und er führte sie hinein. Bald darauf entdeckte er die Männer, die er suchte. Goodie und Dr. Blanter standen dicht zusammen und sprachen eifrig miteinander; Rustem hielt sich etwas abseits. Luke selbst stand an einem geschützten Platz, so daß sie ihn nicht sehen konnten, und beobachtete die drei durch den Feldstecher. Goodie und Blanter schienen eine sehr ernste Unterhaltung zu führen.

 

Rustem ging ruhelos auf und ab. Einmal steckte er die Hände in die Taschen, dann nahm er sie wieder heraus und legte sie auf den Rücken.

 

»Sie sind also schon gestern abend in die Stadt gekommen«, sagte Luke zu Edna. »Ich erfuhr es erst, als ich Sie heute früh in Longhall anrufen wollte.«

 

»Ich mache mir doch noch große Sorgen um Mr. Garcia. Wenn er tatsächlich meine Hilfe brauchen sollte – «

 

»Die braucht er nicht. Er ist auch gar nicht in Berlin. Ich habe mich an die dortige Polizei gewandt, und die hat bei dem präzisen Meldewesen einen genauen Überblick, welche Fremden sich in der Stadt aufhalten. Übrigens ist auch das Gepäck Mr. Garcias, das Sie nach der Friedrich-Wilhelm-Straße geschickt haben, von dort noch nicht abgeholt worden.«

 

»Aber Doktor Thaler hat mich doch angerufen!«

 

Luke schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube nicht an die Echtheit dieses Doktor Thaler. Aus irgendeinem Grund wollte die Bande, daß Sie nach Berlin reisten, und ich kann vermuten, welcher Grund das war. Ich weiß nicht, ob Mr. Garcia krank ist oder nicht; ich habe auch keine Ahnung, ob er sich in Istanbul oder in Wien aufhält, aber auf keinen Fall ist er in Berlin.«

 

»Er war aber dort«, entgegnete sie hartnäckig.

 

»Das weiß ich nicht. Es gibt verschiedene Punkte bei der Sache, die mich beunruhigen. – Sehen Sie, da kommt das erste Pferd auf die Bahn: Sie sollten eigentlich darauf setzen.«

 

Er zeigte auf einen großen Braunen, der ruhig hinter dem Mann herging, der ihn umherführte, und sah dann auf seine Rennkarte.

 

» ›Ginny‹ – wer mag das bloß sein? Ein Trainer, dessen Name ich bisher noch nie gehört habe.«

 

Ein Bekannter, der vorüberkam, klärte ihn auf.

 

Mr. Ginny war ein Ire. Es gab zwei Brüder dieses Namens; der eine hatte einen Rennstall in Irland, der andere einen im Norden Englands.

 

Luke sah sich das große Pferd etwas genauer an. Es war ein Dreijähriger, und Trigger führte seine Transaktionen meistens mit dreijährigen Pferden durch. Er ließ Edna allein und suchte sich neue Informationen zu verschaffen. Als die Jockeis aufsaßen, kam er zurück.

 

»Wollen Sie nicht wetten?« fragte er. »Wenn Sie keinen Buchmacher kennen, werde ich Sie mit einigen bekannt machen. Sie können im Augenblick viel Geld verdienen. Ich würde Ihnen nicht dazu raten, wenn ich nicht wüßte, daß Sie wohlhabend sind und auch einen eventuellen Verlust verschmerzen könnten.«

 

Auf seinen Rat hin setzte sie fünfhundert Pfund auf ›Rote Dahlie‹.

 

»Welches Pferd ist denn das?« fragte sie erstaunt.

 

Er erklärte ihr, daß es der Braune sei, den sie eben gesehen hatten.

 

»Ich bin ziemlich sicher, daß es sich hierbei um eine Transaktion handelt, und ich werde jetzt die Sache bekanntmachen; bin gespannt, was dann geschieht. Dieses Pferd ist noch nie vorher in einem Rennen gestartet; es ist ein kräftiger Dreijähriger. Niemand weiß, wo das Pferd eigentlich trainiert worden ist.«

 

Als die Jockeis zum Start ritten, sagte Luke verschiedenen Bekannten, daß es sich um eine Transaktion Triggers handele, und in zwei Minuten fielen die Quoten der Wetten von zehn zu eins auf sechs zu eins. Luke war hochbefriedigt, als er sah, daß Dr. Blanter auf den Rennplatz kam. Der Mann ließ sich nichts anmerken; allem Anschein nach machte die Bekanntgabe keinen Eindruck auf ihn. Er wandte sich an den nächsten Buchmacher, und Luke trat näher, um zu hören, was die beiden sprachen.

 

»Nun, was hat es eben gegeben?« fragte Blanter. »›Rote Dahlie‹ ist sehr gefallen?« Er machte nun doch ein bedrücktes Gesicht. »Stimmt es, daß die Wetten sechs zu eins stehen?« fragte er ungläubig.

 

Dann wandte er sich um und sah Luke hinter sich.

 

»Ist das Ihr Werk?« fragte er den Inspektor.

 

»Richtig geraten, Doktor. Aber ich sehe, daß Sie die Nerven verlieren. Zum erstenmal zeigen Sie, daß Sie an Triggers Transaktionen beteiligt sind. ›Rote Dahlie‹ ist also auch ein Pferd, das für Mr. Trigger läuft?«

 

Blanter zitterte vor Wut. Er war plötzlich so aufgeregt, daß er im Augenblick keine Worte fand. Mit einem Fluch drehte er sich um und bahnte sich einen Weg durch die Menge.

 

»Sie haben Glück«, sagte Luke, als er wieder neben Edna auf dem Rasen stand. »Sie haben noch eine Wette von zehn zu eins auf ein Pferd abschließen können, für das jetzt gleich überhaupt keine Wetten mehr angenommen werden.«

 

Luke war kein schlechter Prophet. Bevor die Pferde starteten, war es unmöglich, noch eine Wette auf ›Rote Dahlie‹ abzuschließen. Das Pferd kam nicht gerade sehr gut beim Start ab, aber der Jockei trieb es auch nicht zu scharf an. Schließlich lag es an dritter Stelle. Der Jockei ritt sehr vorsichtig; obwohl sich verschiedenemal eine Lücke zwischen den Pferden zeigte, nützte er die Gelegenheit nicht aus. Er kannte die Tricks bei den Rennen sehr genau und suchte seinen Platz an der Außenseite. Zwanzig Meter vor dem Ziel setzte er sich dann an die Spitze des Feldes und gewann das Rennen in großem Stil.

 

Nach den Regeln des Rennens mußte der Gewinner verauktioniert werden. Luke drängte sich auch sofort zu dem Verkaufsstand. Er erwartete, daß das Pferd einen hohen Preis bringen würde, und er war erstaunt, als er hörte, welche Summe gezahlt wurde. Erst als Goodie dem Auktionator zunickte, fiel der Hammer, und das Pferd wurde um zweitausendachthundert Pfund zugeschlagen.

 

»Nun, da habe ich ihm einmal gründlich Wasser in den Wein gegossen«, meinte Luke zu Edna. »Ich will vor allem die Bande in Schrecken setzen. Das Pferd ist wahrscheinlich fünftausend Pfund wert.«

 

Kapitel 16

 

16

 

Als sie die Rennbahn verließen, sähen sie den großen französischen Wagen des Doktors in entgegengesetzter Richtung abfahren. Blanter saß allein darin. Goodie hatte sich wahrscheinlich schon vorher entfernt, denn er hatte es sich zur Regel gemacht, zu gehen, wenn das Pferd, für das er sich interessierte, gelaufen war.

 

»Nun weiß ich nicht, was ich mit Ihnen machen soll, Miss Gray«, sagte Luke.

 

»Ich werde nach Longhall zurückkehren.«

 

Er war damit einverstanden.

 

»Es ist leichter, Sie dort zu bewachen als in London.«

 

Erstaunt sah sie ihn an.

 

»Warum ist es denn überhaupt notwendig, mich zu bewachen? Glauben Sie wirklich, daß mir etwas zustoßen könnte?«

 

Er rieb sich erregt das Kinn.

 

»Das weiß ich selbst nicht. Ich habe versucht, alle Geheimnisse dieses Falles aufzudecken, aber warum Trigger, der Doktor und die anderen sich soviel Mühe geben, Sie von Longhall wegzubringen, ist mir ein vollkommenes Geheimnis. Natürlich wünscht Goodie nicht, daß die Morgenarbeit seiner Pferde beobachtet wird. Ich denke aber außerdem immer an das Buch von Mr. Garcia. Dann an diese verschiedenen Telegramme – ich glaube nicht, daß sie echt sind.«

 

»Sie sind aber sehr argwöhnisch.«

 

Er nickte.

 

»Sie meinen, daß ich immer das Schlechteste denke?«

 

»Was ist denn das Schlechteste, das Sie von mir denken?« fragte sie herausfordernd.

 

Er schaute sie ruhig an.

 

»Das will ich Ihnen sagen. Sie machen sich Sorgen, daß ich eines Tages doch einmal die Grenze zwischen uns überschreiten und Ihnen eine Liebeserklärung machen könnte. Aber manchmal denken Sie auch, die Tatsache, daß Sie eine Viertelmillion besitzen, könnte mich davon abhalten.« Er sah, daß sie errötete, und lachte. »Ich hab’s getroffen, was?«

 

»Es tut mir leid, daß ich mit Ihnen zurückgefahren bin«, entgegnete sie trotzig. »Sie sind einfach unausstehlich.«

 

»Entweder müssen Sie mich in Ihrem Wagen mitnehmen, oder ich muß zu Fuß gehen«, sagte er gut gelaunt. Aber dann änderte er das Thema. »Ich bewache Sie, weil ich Sie für eine wichtige Persönlichkeit halte. Es ist der Versuch gemacht worden, Sie nach Deutschland zu schicken. Die Sache war sehr gut ausgedacht. Doktor Thaler, der Sie angerufen hat, ist vermutlich unser guter alter Freund Rustem – der spricht deutsch wie ein Deutscher. Ich habe telegrafisch veranlaßt, daß Nachforschungen wegen des in Berlin aufgegebenen Telegramms angestellt werden.«

 

Er war erstaunt, daß sie die polizeiliche Bewachung ohne weiteren Protest zuließ. Er selbst wäre auch niemals auf diesen Gedanken gekommen, wenn nicht das Telegramm aus Berlin eingetroffen wäre. Danach war es vollkommen klar, daß die Leute Miss Edna Gray aus dem Weg haben wollten. Vielleicht verfolgten sie noch einen Weiteren, verbrecherischen Plan, aber daran wagte er nicht zu denken.

 

Er verabschiedete sich von Edna bei ihrer Abfahrt vom Hotel und verabredete sich mit ihr zum Theaterbesuch am folgenden Mittwoch. Vorher hatte er dafür gesorgt, daß ihr ein Beamter von Scotland Yard als Schutz mitgegeben wurde.

 

*

 

Luke hatte am Abend noch sehr viel zu tun. Es gelang ihm der eindeutige Nachweis, daß ›Rote Dahlie‹ tatsächlich eine Transaktion Triggers gewesen war. Als er abends an Triggers Büro in der Lower Regent Street vorbeikam, sah er, daß alle Büroräume taghell erleuchtet waren.

 

Luke hatte den Eindruck, daß Trigger nicht vollständig von Goodie, Blanter und Rüstern abhängig war, sondern auch andere Verbindungen zur Rennwelt unterhielt. Der Mann war klug und weitsichtig und wußte, daß eines Tages Goodie und Blanter zur Rechenschaft gezogen werden würden. Deshalb sah er sich beizeiten nach Ersatz für sie um.

 

Luke machte die Runde in verschiedenen Nachtklubs, die nicht gerade erstklassig waren, und hörte verschiedenes. Zuletzt besuchte er ein Lokal in der Wardour Street, das er schon seit einiger Zeit beobachten ließ. Es war einer der exklusivsten kleinen Klubs, sehr gut und luxuriös ausgestattet.

 

Hier traf er in einem stillen Winkel Mr. Rustem. Die Augen des Mannes glänzten, seine Stimme war etwas heiser und seine Zunge schwer. Er saß allein an einem kleinen Tisch und trank Whisky. Das war außergewöhnlich, da man ihn sonst stets in Damenbegleitung sah. Beim Anblick des Inspektors sprang er erregt auf und sah diesen unsicher an.

 

»Was gibt es? Was wollen Sie von mir?« fragte er. Überreichlicher Whiskygenuß mochte die Ursache für Rustems ungewöhnliche Nervosität sein. Luke hatte ihn schon öfter unter ähnlichen Umständen getroffen, aber noch nie war der Mann so aufgeregt gewesen wie heute.

 

Der Inspektor zog einen Stuhl an den Tisch und ließ sich nieder. Die Umsitzenden beobachteten die beiden interessiert, denn Luke war in diesem Klub als Beamter von Scotland Yard bekannt, und viele Anwesende atmeten auf, als er sich Rüstern zuwandte.

 

»Was ist denn mit Ihnen? Sie sind ja so erregt? Hat Doktor Blanter Ihnen einen bösen Streich gespielt?«

 

Rustem zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Ausgerechnet Blanter!« sagte er ärgerlich. »Um Himmels willen, es gibt überhaupt niemand in der Welt, der mir einen bösen Streich spielen könnte. Sie in Scotland Yard glauben, Sie wüßten alles ganz genau, aber es gibt genug Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen Sie sich nichts träumen lassen. Es wagt so leicht keiner, mir einen bösen Streich zu spielen! Im Gegenteil, die kommen alle zu mir gekrochen und bitten mich händeringend, daß ich sie aus der Patsche ziehe.«

 

Luke war davon überzeugt, daß etwas geschehen war, das Rustem so erschüttert hatte.

 

»Wollen Sie auch etwas trinken, Luke? Ich sah Sie heute in Kempton – haben Sie eigentlich gewettet? Ach, ich vergaß, Sie wetten ja nie. Das ist wirklich ein nettes, hübsches Mädchen, das Sie bei sich hatten. Ich meine die Dame aus Argentinien – wie heißt sie doch gleich?«

 

»Was macht denn der Doktor?« fragte Luke, ohne darauf einzugehen.

 

»Der Doktor? – Ach der!« Mr. Rustem schnipste mit den Fingern. »Hinter dem alten Prahlhans steckt doch nichts.« Er lehnte sich vertraulich über den Tisch zu Luke hinüber. »Ich bin so gut wie fertig mit der ganzen Gesellschaft. Die Leute sind mir doch zu scharf. Verstehen Sie, was ich meine? Ich bin immer für Gesetz und Ordnung. – Aber damit will ich nicht sagen«, fügte er hastig hinzu, »daß sie die Gesetze übertreten. Nein, das nicht. Aber sie nehmen es nicht allzu genau, und da mache ich nicht mit.«

 

Luke winkte dem Kellner und ließ sich auch ein Getränk bringen. Rustem war im Augenblick in einer seltsamen Stimmung, die ausgenützt werden mußte.

 

»Triggers Transaktion ging heute nicht in Ordnung, was?«

 

Rustem zuckte die Schultern.

 

»Ach, das ist ein ganz gemeines Geschäft, den Leuten die Tips für die Rennen zu geben. Da kann man auch gleich Buchmacher werden. Dagegen habe ich mich immer gesträubt. Die Transaktion ist durchgeführt worden, nur die Quote war hundsmiserabel. Das haben wir Ihnen zu verdanken, Sie verdammter alter Teufel!«

 

Luke betrachtete die Flasche Whisky, die allem Anschein nach erst an diesem Abend angebrochen worden und nahezu leer war.

 

»Hören Sie«, sagte Rustem und sah sich vorsichtig um. »Sie wetten nicht, das ist dumm von Ihnen. ›Weiße Lilie‹ wird das Cambridgeshire-Rennen todsicher gewinnen. Das ist Geld, das Sie so nebenbei einstecken können. Ich wette ja persönlich im allgemeinen auch nicht, aber ich sage Ihnen, diesmal können Sie ein Vermögen dabei gewinnen. Aber, um Himmels willen, sagen Sie Blanter nicht, daß ich Ihnen das zugeflüstert habe.«

 

»Ist das die nächste Transaktion?«

 

»In gewisser Weise, ja. Es ist nicht eine gewöhnliche Sache, die wir schon lange im Programm hatten; es wurde unseren Kunden in aller Eile mitgeteilt. Man kann jetzt nur noch eine gute Quote bekommen, und es gehört eine Menge Geld dazu, um ein Pferd von dreiunddreißig zu eins auf zehn zu eins zu bringen. Augenblicklich können Sie noch bequem fünfundzwanzig zu eins bekommen und ein Vermögen machen. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen das gesagt habe.«

 

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah den Inspektor unsicher an. Dann zog er verlegen die Uhr.

 

»Viertel vor zwölf. Wissen Sie, wohin ich jetzt gehe?« fragte er mit Nachdruck. »In ein türkisches Bad. Und dort bleibe ich bis morgen früh sieben Uhr. Ich ärgere mich über diese modernen Folterkammern, aber ich muß hingehen. Morgen früh fahre ich dann nach Edinburgh, um eine Klientin zu besuchen. Sie ist eigentlich nicht direkt meine Klientin, sondern ein nettes, liebes Mädel, das in der Revue ›Rosy Rosy‹ auftritt. – Wollen Sie mir einen großen Gefallen tun? Kommen Sie mit und nehmen Sie auch ein Bad!«

 

Luke schüttelte lächelnd den Kopf, aber Rustem ließ sich nicht abweisen.

 

»Dann begleiten Sie mich wenigstens bis zum Eingang. Ich kann es Ihnen schließlich nicht verdenken, daß Sie die Prozedur nicht mitmachen wollen …«

 

Er erhob sich unsicher, legte eine Fünfpfundnote auf den Marmortisch und wartete nicht, daß der Kellner ihm herausgab. Rustem war sehr freigebig gegen Nachtklubkellner.

 

Luke erfüllte ihm tatsächlich seinen Wunsch – einmal, um ihn in gute Stimmung zu bringen, zweitens, um noch mehr von ihm zu erfahren. Sie fuhren also zu einem bekannten türkischen Bad und trennten sich vor der Tür. Rustem war ein wenig unsicher auf den Beinen, und es fiel ihm schwer, ohne die Hilfe seines Begleiters weiterzugehen. Aber so betrunken er auch war, er zog doch noch die Uhr und hielt sie dicht an die Augen.

 

»Es ist jetzt zwölf Minuten nach zwölf – vergessen Sie das nicht!«

 

Luke beobachtete ihn, bis er außer Sicht kam. Was war denn wieder im Gang? Warum hatte Rustem soviel Gewicht darauf gelegt, die Zeit festzustellen, als sie sich trennten? Warum besuchte er ein türkisches Bad, wenn er die Prozedur nicht leiden mochte? Allem Anschein nach, weil er sich für die Zukunft ein einwandfreies Alibi verschaffen wollte. Aus demselben Grund reiste er auch nach Edinburgh.

 

*

 

Als Rustem wieder nüchtern geworden war, führte er tatsächlich die Pläne aus, die er sich in der Nacht überlegt hatte. Um zehn Uhr verließ er das türkische Bad und nahm den ersten Zug nach Edinburgh. Luke hatte allerdings festgestellt, daß die Revue ›Rosy Rosy‹ nicht dort, sondern in Blackpool gespielt wurde.

 

Luke dachte an diesem Tag viel an Mr. Garcia und seine geliebte ›Vendina‹. Aus einem Rennbüro in der Pall Mall beschaffte er sich eine Liste aller wichtigen Rennställe in Deutschland und sandte gleichlautende Briefe an sie.

 

Es zeigte sich auch, daß die Vorsichtsmaßnahme, die er in bezug auf Edna getroffen hatte, sehr nützlich war. Der Kriminalbeamte, den er nach Longhall mitgeschickt hatte, rief ihn an und berichtete, daß in der Nähe von Longhall eine Menge fremder, verdächtiger Männer gesehen worden seien. Einen hatte er erkannt; es war ein auf Bewährung entlassener Strafgefangener, der sich bei der Polizei nicht mehr gemeldet hatte und infolgedessen gleich wieder verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde. Die anderen waren dem Beamten von Scotland Yard unbekannt. Zwei der Leute hatten sich im ›Roten Löwen‹ einquartiert.

 

Luke wurde unruhig. Es war allerdings nicht gesagt, daß die Fremden böse Absichten hatten; vielleicht wollten sie nur die Morgenarbeit von Goodies Pferden beobachten. Es wurde bereits über ›Weiße Lilie‹ gesprochen, und Rustem hatte recht, als er sagte, daß die Quote von dreiunddreißig auf fünfundzwanzig zu eins gefallen war. In solchen Fällen schickten Leute, die von den Rennwetten lebten, sachverständige Beobachter oder kamen selbst, um die Pferde beim Morgengalopp zu beobachten.

 

Luke besaß ein Haus in einer kleinen Straße in Knightsbridge. Dienstboten beschäftigte er nicht; er hatte das Haus so gut mit allen möglichen elektrischen Geräten ausgestattet, daß er sich selbst versorgen konnte. Er hatte auf die Innenausstattung mehr verwandt, als das ganze Haus kostete. Eine Aufwartefrau machte täglich sauber.

 

Als er an diesem Abend nach Hause kam, merkte er, daß etwas nicht in Ordnung war.

 

Er drückte auf den Lichtschalter in der Diele, aber es blieb dunkel. Beim Schein seiner Taschenlampe sah er, daß die Birne ausgeschraubt war. Die Türen standen offen, alle Schubladen seines Schreibtisches waren herausgezogen; der Inhalt lag auf dem Schreibtisch verstreut. Jeder Brief, jedes Notizbuch war durchgesehen und gelesen. Die Einbrecher mußten genau gewußt haben, wo er war, denn sie hatten in aller Ruhe gearbeitet. Hatte ihn Rustem mitgenommen, weil er von diesem Überfall wußte? Aber das erschien Luke doch unwahrscheinlich. Rustem konnte man viel zutrauen, aber ein Einbrecher war er nicht.

 

Er hielt den früheren Rechtsanwalt in diesem Fall für unschuldig. Es mußten übrigens ganz gerissene Leute gewesen sein, die in die Wohnung eingedrungen waren. Nicht die geringste Spur hatten sie hinterlassen, nicht einmal einen Fingerabdruck.

 

Luke ging von einem Raum zum anderen; Schlaf- und Arbeitszimmer waren systematisch durchsucht worden. Mehrere Wertsachen fehlten, Stücke im Wert von etwa zehn Pfund, die er in einer Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte.

 

Luke ärgerte sich. Er sah darin Dr. Blanters Antwort darauf, daß er dessen Wohnung durchsucht hatte.

 

Er setzte sich an den Schreibtisch, sah die Dokumente durch und suchte sich zu vergegenwärtigen, was in den einzelnen Fächern gelegen hatte.

 

Mechanisch benachrichtigte er die Polizeistation, und als der Inspektor mit seinen Assistenten eintraf, durchsuchten sie die Wohnung eingehend.

 

»Sie haben gerade keine wertvollen Sachen gestohlen«, erklärte Luke, »und ich glaube auch nicht, daß sie irgendwelche wichtigen Unterlagen gefunden haben.«

 

Er räumte nur sein Schlafzimmer einigermaßen auf und gab sich nicht einmal die Mühe, das Fenster in Ordnung zu bringen, durch das sich die Einbrecher Eintritt in die Wohnung verschafft hatten. Dann legte er sich zur Ruhe.

 

Kapitel 17

 

17

 

Nachdem Luke mit Edna Gray das Rennen in Newmarket besucht hatte, fuhren sie beide nach London zurück. Sie setzte ihn in der Nähe seiner Wohnung ab und begab sich dann ins Hotel. In der folgenden Woche hatte Luke viel zu tun. Er versuchte Schritt für Schritt, Garcias Aufenthalt festzustellen, aber manche der ausländischen Polizeidienststellen arbeiteten langsam und antworteten nicht immer prompt auf eine dringende Anfrage von Scotland Yard. Aus Deutschland erhielt er innerhalb von drei Tagen eine Mitteilung über die Telegramme, die von Berlin und München im Namen von Alberto Garcia an Edna abgesandt worden waren. Er konnte aber daraus nur ersehen, daß sie mit der Maschine geschrieben und mit ›Alberto‹ unterzeichnet worden waren.

 

Von Punch Markham empfing er viele Meldungen, die ihn nicht interessierten. Nur ab und zu war etwas dabei, das er brauchen konnte. Punch hatte sich mit größter Begeisterung an seine Aufgabe gemacht; er beobachtete nicht nur Goodies Rennpferde, sondern spionierte auch Goodie selbst nach. Er hatte eine persönliche Abneigung gegen den Trainer. Eines Tages besuchte er Luke in London.

 

»Sehen Sie einmal her, Mr. Luke«, sagte er und zeigte auf sein blaues Auge.

 

Punch war über alle Maßen wütend.

 

»Das ist nicht die Art und Weise, wie man andere Leute behandelt. Das hat einer seiner Stallknechte getan. Ich weiß ja, daß es den Leuten nicht gefällt, wenn man ihre Pferde beim Morgengalopp beobachtet, aber deswegen braucht man einen doch nicht gleich halbtot zu schlagen!«

 

Punch hatte sich den Morgengalopp ansehen wollen, nachdem er am Abend zuvor erfahren hatte, daß ›Weiße Lilie‹ geprüft werden sollte. Er war in solchen Dingen beschlagen und hatte sich vorsichtig in einer Bodensenkung versteckt, von der aus er die Arbeit der Pferde beobachten konnte. Bevor aber die Pferde auf dem Platz erschienen, hatten zwei Leute das Gelände abgesucht. Punch war im letzten Augenblick davongelaufen, und dabei hatten sie ihn gefaßt. Markham beschrieb den einen der beiden so deutlich, daß Luke nach der Schilderung Manuel erkannte.

 

»Goodie führt etwas im Schilde, darauf gehe ich die höchste Wette ein«, sagte Punch. »Meiner Meinung nach hat er ›Weiße Lilie‹ anderswohin geschickt, wo sie trainiert wird. Aber ich glaube nicht, daß er mit dem Gaul das Cambridgeshire-Rennen gewinnt. ›Weiße Lilie‹ war zwar ein gutes Pferd, aber es hatte im Alter von einem Jahr einen Leistungsrückgang, und ich habe allerhand anstellen müssen, um den Gaul so weit in die Höhe zu bringen, daß ich ihn verkaufen konnte. Sie können sich todsicher darauf verlassen, Mr. Luke, daß das Tier das Cambridgeshire-Rennen nicht gewinnt. Warum Goodie sich mit dem Pferd soviel Mühe gibt, weiß ich nicht. Aber der Kerl mogelt immerzu, der kann gar nicht anders, selbst wenn er wollte. Wenn ich nur in den Stall hinein könnte!«

 

»Sie würden doch nichts erfahren. Keiner seiner Leute spricht englisch.«

 

Aber Punch wollte sich damit nicht zufriedengeben. Luke tat, was er konnte, um ihn vor allzu kühnen Wagnissen zu warnen. Niemand war gefährlicher als ein übereifriger Amateurdetektiv – das wußte er.

 

*

 

Luke verließ sein Büro an dem Abend kurz vor sechs. Er hatte seinen Schreibtisch abgeschlossen und zog gerade seinen Mantel an, als es an der Tür klopfte. Er war allein im Büro; sein Assistent war schon eine halbe Stunde früher gegangen. Das Klopfen wurde wiederholt; der Betreffende mußte sehr aufgeregt sein und es eilig haben.

 

»Herein.«

 

Die Tür öffnete sich, und Rustem trat ein. Sein Gesicht war aschgrau, und die Hand, die er Luke entgegenstreckte, zitterte. Zum erstenmal sah der frühere Rechtsanwalt in seiner äußeren Erscheinung vernachlässigt aus; er machte fast den Eindruck, als ob er den ganzen Tag in seinen Kleidern geschlafen hätte.

 

»Zum Kuckuck, was ist denn mit Ihnen los?« fragte Luke erstaunt.

 

Rustem zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Es geht mir nicht besonders gut – es sind die Nerven«, erwiderte er ängstlich.

 

»Setzen Sie sich doch. Sind Sie vergiftet worden – oder ist sonst etwas los?«

 

»Na, einen so guten Witz habe ich lange nicht gehört«, sagte Rustem und lachte, aber seine Stimme klang hohl. »Nein, meine Nerven sind kaputt – die Leute verfolgen mich …«

 

»Das klingt ja, als ob Sie an Verfolgungswahn litten«, entgegnete Luke mit einem Lächeln..

 

»Was machen Sie heute abend? Wäre es nicht möglich, daß wir uns einmal unterhielten? Ich sage Ihnen offen, ich bin vollkommen erledigt. Ich dachte, wir könnten einmal zusammen ausgehen und irgendwo zu Abend essen. Ich möchte Sie auch noch wegen einer anderen Sache sprechen. Ich habe gehört, daß das Polizeiwaisenhaus nicht genügend Mittel hat. Vielleicht könnte ich tausend Pfund stiften …«

 

Luke schüttelte den Kopf.

 

»Nehmen Sie das lieber in Ihr Testament auf; da macht es sich ganz gut und ist nicht so peinlich. Nein, im Augenblick braucht das Waisenhaus kein Geld, und ich möchte Sie bitten, diesen Schritt zu unterlassen. – Also, was ist nun mit Ihnen, Rustem – meldet sich etwa Ihr Gewissen?«

 

»Nein«, sagte Rustem laut und sprang auf. »Ich brauche mir keine Vorwürfe zu machen. Natürlich habe ich manches getan, was ich, bei reiflicher Überlegung, besser unterlassen hätte. Wenn ich immer gewußt hätte, wie die Dinge auslaufen würden …«

 

Luke dachte schnell nach.

 

»Also, es ist gut, ich komme mit Ihnen und will Ihnen sogar zugestehen, daß Sie mich einladen.«

 

Irgend etwas stimmte nicht. Rustem klammerte sich geradezu an ihn, als sie am Themseufer entlanggingen, und auf dem Weg nach Soho sprach er dauernd auf seinen Begleiter ein. Aber er sagte ihm nichts Besonderes, und seine Worte waren manchmal etwas zusammenhanglos.

 

Luke paßte auf wie ein Schießhund, aber schon lange vor dem Ende des Essens sah er, daß Rustem ihm nichts Wichtigeres mitteilen wollte oder konnte. Wahrscheinlich hatte der Mann nur wieder die Absicht, sich ein Alibi zu verschaffen.

 

Rustem zog das Essen hinaus, blieb so lange wie möglich bei Tisch sitzen und machte dann Luke den Vorschlag, verschiedene Klubs zu besuchen.

 

»Es wird nicht gerade sehr vorteilhaft für Sie sein, wenn Sie sich in meiner Gesellschaft sehen lassen«, erwiderte Luke offen. »Ihre Freunde werden glauben, daß Sie plötzlich ein Polizeispitzel geworden sind. Und wenn Sie wollten, könnten Sie mir ja auch tatsächlich eine Menge erzählen.«

 

Aber Rustem schien die üble Nachrede nicht zu fürchten.

 

In dem kleinen Klub, in dem sie sich schon früher einmal getroffen hatten, sahen sie Mr. Trigger. Er saß in derselben Nische, in der Luke einmal mit Rustem gesessen hatte, und vor ihm stand ein Glas mit einer hellen Flüssigkeit. Er lächelte Luke liebenswürdig zu, aber Rustem schaute er ärgerlich an.

 

»Nehmen Sie doch bitte Platz. Wollen Sie nicht etwas trinken? Ich selbst halte mich an Limonade. Sie werden wahrscheinlich darüber lachen, aber ich mag keine starken alkoholischen Getränke.«

 

Er warf einen Seitenblick auf Rustem.

 

»Und es wäre auch ganz gut, wenn verschiedene meiner Bekannten meinem Beispiel folgten.«

 

Rustem, der beinahe die Fassung verloren hatte, als sie Trigger hier trafen, hatte nicht den Mut, darauf zu antworten.

 

»Manchmal muß ich etwas ausspannen, dann komme ich hierher. Sonst wird es mir von all den vielen Zahlen ganz wirr im Kopf!«

 

»Ihre Erholung besteht dann darin, Limonade zu trinken«, sagte Luke lächelnd.

 

Er schätzte Trigger, den er in gewisser Weise für vollkommen ehrlich hielt, obwohl der Mann mit übelbeleumundeten Leuten zusammenarbeitete.

 

»Die Limonade ist es nicht allein; man kann hier auch Leute beobachten. Man sieht hier mehr Verbrecher als vor dem Schwurgericht in Old Bailey.«

 

Wieder sah er Rustem von der Seite an.

 

»Sind Sie Mitglied des Klubs, Mr. Luke? Dann sind wir beide die einzigen anständigen Kerle, die hier verkehren. Es ist nicht gerade meine Absicht, Verbrecher zu treffen, wenn ich hierherkomme. Mehrere von der Sorte treffe ich sowieso, wenn wir eine Direktionssitzung abhalten.«

 

Diesmal war die Herausforderung zu stark, als daß Rustem sie überhören konnte.

 

»Wollen Sie damit sagen –«, begann er wütend.

 

»Wenn Sie glauben, daß ich jemand anders meinen könnte als Sie, dann sagen Sie es mir bitte«, entgegnete Trigger ruhig. »Ich erkläre Ihnen, und zwar in Gegenwart von Mr. Luke, daß ich in Zukunft bei den Direktionssitzungen meiner Firma nichts weiter diskutiere, als was zum Geschäft gehört. Und Geschäft bedeutet: Geld, Telegramme, Organisation. Wenn mir von zuverlässiger Stelle ein Pferd genannt wird, das das Rennen gewinnt, dann handle ich dementsprechend. Ich will über das Pferd nichts weiter wissen, als daß es vier Beine und einen Kopf hat und schneller läuft als all die anderen Pferde, die für das Rennen gemeldet worden sind. Warum es gewinnt, geht mich nichts an, und ich dulde auch nicht, daß über solche Dinge in unseren Versammlungen gesprochen wird. Ich will mir nicht nachsagen lassen, daß ich irgendwelche gesetzwidrige Handlungen begehe. Ich habe nichts getan, was irgendwie gegen das Gesetz oder die Rennregeln verstößt.«

 

Luke konnte sich denken, was geschehen war. Die Leute hatten wahrscheinlich eine Versammlung abgehalten, und einer der vier – wahrscheinlich Rustem – hatte da Dinge zur Sprache gebracht, die außerhalb des Geschäftsbereiches lagen. Wahrscheinlich hatte sich Trigger dagegen gewehrt und auch eine Auseinandersetzung mit den anderen gehabt, wobei Blanter den kürzeren zog.

 

»Sie sind ja ein ganz scheinheiliger Kerl«, entgegnete Rustem gehässig.

 

Trigger lächelte.

 

»Ja, ich bin wirklich ehrlich – und mehr als das: Ich bin meiner Sache sicher!«

 

Trigger trank seine Limonade aus, zahlte dem Kellner den doppelten Preis, den er verlangte, und erhob sich.

 

»Ich will Sie beide allein lassen. Vermutlich haben Sie wichtige Angelegenheiten miteinander zu besprechen«, sagte er höflich und ohne Ironie. »Aber, Mr. Luke, ich möchte Ihnen noch eins sagen: Wenn der Mann hier« – er zeigte auf Rustem – »behaupten sollte, daß ich mich auf andere Dinge einlasse als auf ein reines Geschäft, dann lügt er wie gedruckt. Ich brauche mich nicht davor zu fürchten, daß er der Polizei etwas verrät. Mir kann er nichts anhaben, aber er selbst ist nicht ganz harmlos.«

 

Mit dieser geheimnisvollen Andeutung verließ Trigger den Klub. Er hatte den Hut ziemlich kühn aufgesetzt und sich eine dicke Zigarre angezündet.

 

»Das ist ein ganz gemeiner Lump«, erklärte Rustem. »Daß ein solcher Kerl sein ungewaschenes Maul aufmachen darf –«

 

Aber dann unterbrach er sich plötzlich, wie er es mindestens schon ein dutzendmal an dem Abend getan hatte.

 

Mit Mr. Arthur Rustem ging es bergab. Zehn Jahre lang hatte er eine beherrschende Stellung in der Verbrecherwelt eingenommen, doch jetzt zeigte er sich feige und furchtsam. Und er hatte Grund dazu. Während er früher das Kommando führte, mußte er jetzt tun, was andere von ihm verlangten. Er hatte seine Unabhängigkeit aufgegeben und sich einem stärkeren Willen unterstellt. Und er hatte nicht den Mut, mit den anderen zu brechen, weil sie drohten, ihn zu ruinieren.

 

Luke machte verschiedene Versuche, das Gespräch auf Dr. Blanter zu bringen; er hatte keinen Erfolg, obwohl er verschiedene anrüchige Geschichten aus dessen Vergangenheit auskramte. Rustem wußte das alles natürlich selbst viel besser, denn er hatte Blanter einmal verteidigt, als dieser als Angeklagter vor Gericht gestanden hatte.

 

Erst gegen elf Uhr abends konnte Luke Rustem loswerden. Rustem taumelte ein wenig, als er an die frische Luft kam, aber dann riß er sich zusammen und verabschiedete sich korrekt.

 

Er war noch nicht weit gegangen, als ein Wagen an der Bordschwelle neben ihm hielt und jemand seinen Namen rief. Erschrocken drehte er sich um und sah in das rote Gesicht von Blanters Diener, der am Steuer des Wagens saß.

 

»Steigen Sie ein, der Doktor will mit Ihnen sprechen«, sagte der Mann heiser.

 

Rustem zögerte, aber dann folgte er doch der Aufforderung. Der Wagen bog in die Richtung Haymarket ein – und das war nicht der Weg zur Half Moon Street. Die Fahrt ging weiter zur Pall Mall, dann hielt das Auto, und der Chauffeur stieg aus.

 

»Bleiben Sie sitzen, ich will mit Ihnen sprechen.«

 

Rustem lehnte sich aus dem Fenster hinaus.

 

»So, das ist für Sie«, sagte der Chauffeur und schlug Rustem mit einem Gummiknüppel zusammen.

 

Kapitel 18

 

18

 

Luke ging nach Scotland Yard zurück und las die Telegramme, die in seiner Abwesenheit angekommen waren. Am meisten interessierte ihn indessen die telefonische Mitteilung, die Punch aus Longhall durchgegeben hatte:

 

Ich habe den ganzen Schwindel herausgebracht und muß Sie morgen sprechen. Ich werde Sie heute um halb elf in Ihrer Wohnung anrufen.

 

Es war leicht möglich, daß sich Punch durch seinen Eifer auf eine falsche Fährte hatte bringen lassen; andererseits hatte der Mann eine gute Begabung und einen gewissen Instinkt für das Wichtige. Luke glaubte zu wissen, worum es sich handelte. Er telefonierte mit Lane, aber der konnte ihm auch nichts Genaues sagen.

 

»Er ist um neun Uhr fortgegangen. Vermutlich hat er etwas Wichtiges herausbekommen, aber er wollte es mir nicht sagen. Es ist irgendeine Sache mit Goodie.«

 

Die Uhr vom Parlamentsgebäude schlug Mitternacht, als Luke das Büro verließ und langsam seiner Wohnung zuschlenderte. Er hatte auch allen Grund, nicht zu schnell zu gehen, denn es war die erste neblige Nacht in diesem Jahr. Wenn es auch nicht sehr unsichtig war, so konnte man doch nur schwer ein Taxi finden. Am Trafalgar Square traf er einen Wagen, der langsam an der Bordschwelle entlangfuhr. Da Luke sehr müde war, überredete er den Chauffeur und fuhr mit ihm in Richtung Piccadilly. An der Ecke des Hyde Park wurde der Nebel etwas dichter; Luke bezahlte den Chauffeur und ging zu Fuß weiter.

 

In Knightsbridge war es bereits so dunstig, daß die Laternen nur noch hellere Stellen im Nebel waren.

 

Er bog in die kleine Straße ein und tastete sich an dem eisernen Zaun entlang, bis er zu seinem Haus kam. Als er den Schlüssel herausgenommen hatte und die Haustür aufschließen wollte, griff er zu seinem größten Erstaunen ins Leere. Die Tür stand weit offen, und als er sie zumachte und das elektrische Licht anknipste, sah er, daß die Diele mit gelblichgrauem Nebel gefüllt war.

 

Die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand ebenfalls halb offen. Er streckte die Hand aus und machte Licht, aber er hörte kein Geräusch und nahm keine Bewegung wahr. Auch sah er keine verdächtigen Schatten. Schnell zog er die Pistole, stieß die Tür ganz auf und trat ein. Der Raum war vollkommen leer, nur auf dem Diwan in der Nähe des Fensters lag ein Mann, der mit einer Decke zugedeckt war.

 

Luke starrte ihn lange an, bevor er näher trat und die Decke zurückschlug, die auch den Kopf verhüllte. Es war der alte Garcia, den er auf dem Dampfer kennengelernt hatte. Der Mann trug einen Mantel und war vollständig angekleidet, nur die Schuhe fehlten. Ein Blick genügte – Garcia war tot.

 

Luke ging zum Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab, aber die Leitung war stumm. Als er darauf den Apparat untersuchte, fand er, daß die Zuleitungsschnur durchgeschnitten war. Dann untersuchte er den Raum. Auf dem Tisch war nichts angerührt worden; auch die Schubladen waren nicht durchwühlt. Er verließ das Haus, schloß die Tür hinter sich und suchte einen Polizisten und eine Telefonzelle. Nachdem er eine kurze Meldung an die nächste Polizeistation und an Scotland Yard durchgegeben hatte, ging er mit dem Beamten zu seinem Haus zurück.

 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Polizeiarzt und der Inspektor vom Revier kamen. In der Zwischenzeit hatte Luke verschiedene wichtige Entdeckungen gemacht. Zunächst fand er die Schuhe des Toten, die unter den Tisch gestellt worden waren. Dann entdeckte er bei einer oberflächlichen Durchsuchung der Taschen Garcias verschiedene Dinge, die als Anhaltspunkte dienen konnten.

 

Zunächst sah er eine zusammengefaltete Nummer einer Berliner Zeitung mit einem Datum, das zwei oder drei Tage zurücklag, dann einen Kriminalroman. In einer inneren Tasche steckte eine Uhrmacherrechnung einer Münchener Firma. Andere Papiere hatte Garcia nicht bei sich. Luke war sehr erstaunt, als er keine Wunden oder Zeichen von Gewaltanwendung an dem Toten bemerkte.

 

Gegen ein Uhr morgens berichtete der Polizeiarzt auf dem Revier das Resultat seiner Untersuchung. An dem Körper hatte er weiter nichts feststellen können; nur am linken Unterarm hatte er eine Anzahl von Punkten gefunden, die von Spritzen herrührten.

 

»Haben Sie etwas Verdächtiges bei ihm gefunden?« fragte er.

 

Luke schüttelte den Kopf.

 

»Nein.«

 

Der Inhalt der Taschen lag auf dem Schreibtisch des Inspektors der Polizeistation: eine Uhr mit Kette, ein Zigarettenetui, eine Brille mit Hülle und etwa tausend Mark in deutschem Geld.

 

»Er ist seit mindestens sechs Stunden tot, vielleicht noch länger«, meinte der Arzt. »War er eigentlich bei einem Arzt in Behandlung?«

 

Luke erzählte ihm, was er über den Toten wußte. Er hatte eine genaue Durchsuchung seines Hauses vorgenommen und war dabei zu dem Schluß gekommen, daß die Leute, die in das Haus eingedrungen waren, einen Schlüssel benutzt haben mußten. Luke erinnerte sich, daß er zwei weitere Schlüssel in einer Schublade seines Schreibtisches aufbewahrt hatte; sie mußten bei ihrem ersten Einbruch den Eindringlingen in die Hand gefallen sein.

 

Zuerst wollte er Edna anrufen und ihr sofort berichten, was geschehen war. Aber so eilig war es nicht, daß er sie mit dieser traurigen Nachricht aus dem Schlaf wecken mußte. Schließlich entschied er sich dafür, am nächsten Tag selbst nach Longhall zu fahren.

 

*

 

Der Nebel war am Themseufer sehr dicht, und den Polizeistreifen in der City fiel es schwer, ihren Weg zu finden und sich nicht zu verirren. Um zwölf Uhr hörte ein Beamter mehrere Schüsse aus einer Pistole und stellte sofort Nachforschungen an. Er sah allerdings zunächst nichts. Erst als er systematisch die ganze Straße absuchte, fand er einen Mann, der am Boden lag.

 

Luke war nach Scotland Yard gegangen, um genau Bericht zu erstatten.

 

»Kennen Sie einen Mann namens Markham?« fragte ihn unten beim Eingang der Beamte.

 

»Ja.«

 

»Eine Streife in der City hat ihn eben am Themseufer erschossen aufgefunden.«

 

Der arme Punch war aus kurzer Entfernung niedergeknallt worden; sein Rock war an den Rändern der Einschußlöcher versengt. Das einzige, was man in seinen Taschen fand und was einen Anhaltspunkt bot, war ein kleines Notizbuch, in dem auch Lukes Name stand.

 

Luke fuhr eilig in die City, und zum zweitenmal in dieser Nacht sprach er mit dem Polizeiarzt.

 

»Er wurde von drei Schüssen getroffen, die alle tödlich waren«, berichtete ihm dieser.

 

Es meldete sich ein Zeuge. Ein Straßenkehrer hatte einen Mann beobachtet, der an der Stelle, wo der Mord passierte, auf und ab gegangen war. Aber er hatte sich nicht um ihn gekümmert und konnte daher auch keine weiteren Angaben machen. Er wußte nur so viel, daß der Mann häufig auf seine Armbanduhr gesehen und dazu eine kleine Taschenlampe benützt hatte. Der Straßenkehrer hatte geglaubt, daß es sich um einen Kriminalbeamten handelte, der verschiedene Geschäfte beobachtete.

 

Luke ging nach Hause, zog sich um und trank eine Tasse Kaffee.

 

Dann trat er wieder in den nebligen Morgen hinaus. Er ging zunächst in sein Büro und suchte Dr. Blanter in der Half Moon Street auf.

 

Die Dienstboten waren schon aufgestanden.

 

»Der Doktor liegt noch im Bett – ich glaube nicht, daß ich ihn jetzt stören kann«, sagte der Diener.

 

»Nennen Sie nur meinen Namen«, erwiderte Luke kurz angebunden.

 

Der Mann führte ihn in ein kleines Arbeitszimmer, und Luke brauchte nicht lange zu warten. Schon fünf Minuten später erschien der Doktor, und er war durchaus nicht schläfrig.

 

»Was wollen Sie von mir?« fragte er barsch.

 

»Wo waren Sie in der vergangenen Nacht? Sagen Sie mir, wo Sie überall gewesen sind.«

 

Unter gewöhnlichen Umständen hätte ein solches Ansinnen den Arzt in Wut gebracht, aber jetzt beantwortete er die Frage willig.

 

»Ich war den ganzen Abend zu Hause. Am Nachmittag war ich draußen auf dem Land und kam erst spät zurück.«

 

»Wann sind Sie zu Bett gegangen?«

 

Blanter sah erst Luke an, dann blickte er zur Decke empor.

 

»Ungefähr um zehn, vielleicht auch ein wenig später. Wenn ich es mir recht überlege, nehme ich an, daß es nahezu halb elf war. Ich hörte, wie die Uhren in der Nähe schlugen, als ich mich eben hingelegt hatte.«

 

Luke sah ihn scharf an.

 

»Wie kam es dann, daß Ihr Diener sagte, als ich zehn Minuten vor zehn bei Ihnen anrief, Sie seien ausgegangen?«

 

Blanter lächelte, und Luke wußte, daß er einen Fehler gemacht hatte.

 

»Das glauben Sie doch selbst nicht. Mein Diener kann gar nicht so dummes Zeug gesagt haben, der hatte Ausgang. Erst heute morgen ist er wiedergekommen. Ich war ganz allein im Haus; das ist nicht ungewöhnlich.«

 

»Durchaus nicht – ich lebe auch ganz allein. Gelegentlich empfange ich allerdings Besucher. Gestern waren es zwei – ein Lebender und ein Toter.«

 

Der Doktor zog die Augenbrauen hoch.

 

»So?« entgegnete er mit höflichem Interesse. »Ist das wieder ein Bluff, Mr. Luke?«

 

»Nein, nein, Sie wissen ganz genau, daß ich nicht bluffe. Der eine lebte, der andere nicht. Alberto Garcia lag auf dem Diwan in meinem Arbeitszimmer. Er hatte eine deutsche Zeitung und deutsches Geld in den Taschen, um mir vorzutäuschen, daß er in Deutschland gewesen sei und die Telegramme an Miss Gray abgesandt habe, die Ihre Agenten geschickt haben. Kurz darauf fand einer unserer Beamten Punch Markham erschossen am Themseufer auf. Der Täter muß jemand gewesen sein, der eine Verabredung mit ihm hatte. Ich nehme an, daß es derselbe war, der in mein Haus einbrach und Mr. Garcia in mein Zimmer legte. Markham wollte mich um halb elf anrufen; das war dieselbe Zeit, in der in meinem Haus eingebrochen wurde.«

 

»Und zur selben Zeit legte ich mich schlafen«, erwiderte Blanter ironisch. Dann lehnte er sich über den Tisch und runzelte die Stirn. »Also, Luke, sagen Sie es doch geradeheraus: Wollen Sie mich verhaften?«

 

»Ich habe Sie jedenfalls im Verdacht«, entgegnete der Inspektor kühl.

 

»Aber warum sollte ich denn Mr. Garcia und diesen anderen Mann umbringen? Ihrer Meinung nach bin ich gestern abend ja ziemlich tätig gewesen!«

 

»Das Motiv ist mir noch nicht ganz klar. Wenn ich das erst gefunden habe, weiß ich auch, wer der Mörder ist. Erinnern Sie sich daran, Blanter!«

 

Er trat aus dem Haus und winkte dem Polizeibeamten, der auf der gegenüberliegenden Seite der Straße wartete. Dann kehrte er zu Dr. Blanter zurück.

 

»Was wollen Sie denn noch?«

 

»Ich werde jetzt Ihre Wohnung durchsuchen.«

 

»Haben Sie eine Vollmacht?«

 

Luke zeigte den Haussuchungsbefehl vor.

 

Das Haus war nicht größer als das, welches Luke bewohnte. Die Räume im Erdgeschoß waren mehr oder weniger gut aufgeräumt und sauber, die Zimmer im oberen Stockwerk hingegen kaum möbliert. Das Schlafzimmer des Doktors war einigermaßen in Ordnung, aber in allen anderen sah es entsetzlich unordentlich aus. Luke fragte den Diener aus, einen großen, breitschulterigen Mann, der mindestens ebenso stark und kräftig war wie der Arzt selbst. Er roch nach Alkohol und genoß allem Anschein nach allerhand Vorrechte. Luke hatte bereits von ihm gehört und wußte, daß Blanter ihn schon fünf oder sechs Jahre in seinen Diensten hatte.

 

Die Untersuchung verlief ergebnislos.

 

»Es ist wohl schon lange her, daß Sie am Mittwochabend Käse gegessen haben?« fragte Luke den Diener beiläufig.

 

Der Mann sah ihn unsicher an und wurde auffallend bleich.

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, erwiderte er schließlich verlegen.

 

Als sie aus dem Haus gegangen waren, grinste Luke.

 

»Was haben Sie eigentlich mit dem ›Käse am Mittwochabend‹ gemeint?« fragte der Polizeibeamte.

 

»Es ist merkwürdig, wie sich die Leute durch Kleinigkeiten verraten. Als ich den Kerl sah, wußte ich sofort, daß er früher einmal im Gefängnis gesessen hatte. Obwohl ich im Augenblick nicht ahnte, wer, er ist, bin ich doch ganz sicher, daß er nicht nur ein alter Sträfling ist, sondern auch in Dartmoor gesessen hat. Noch vor ein paar Jahren, als der Speisezettel nicht so abwechslungsreich war wie heutzutage, erhielten die Gefangenen am Mittwochabend Käse, und Leute, die einmal gesessen haben, können sich sehr genau auf die Zeit besinnen.«

 

Luke fand keine Zeit, nach Longhall hinauszufahren. Deshalb rief er Edna Gray an und bat sie, in die Stadt zu kommen.

 

Später am Tag besuchte er sie in ihrem Hotel und teilte ihr die traurige Nachricht mit.

 

»Ich kann Ihnen die schmerzliche Pflicht ersparen, den armen Garcia zu identifizieren. Glücklicherweise habe ich ihn so gut gekannt, daß ich es tun konnte.«

 

Sie erschrak sehr und weinte einige Zeit.

 

»Ich verstehe es nicht«, sagte sie, nachdem sie sich wieder gefaßt hatte. »Dann war er also tatsächlich die ganze Zeit über in Deutschland?«

 

»Nein, er ist gar nicht in Deutschland gewesen.«

 

Luke hatte den Auftrag gegeben, nach Rustem zu suchen, aber der wurde weder in seinem Büro noch in seiner Wohnung angetroffen. Es bestand die Möglichkeit, daß er außer Landes gegangen war. Alle Polizeistationen in den Häfen erhielten Befehl, ihn anzuhalten und ihm Schwierigkeiten zu machen – unter dem Vorwand, daß sein Paß nicht in Ordnung sei.

 

Edna hatte Punch nur ein einziges Mal gesehen, seitdem er bei ihr wohnte.

 

»Gestern morgen habe ich ihn noch beobachtet«, sagte sie. »Er ritt an der Stelle vorüber, wo Goodie das Pferd erschoß.«

 

»Welches Pferd ist denn erschossen worden?« fragte Luke schnell.

 

Sie erzählte ihm von dem nächtlichen Abenteuer, und er interessierte sich lebhaft dafür. Auf seine Veranlassung zeichnete sie einen ungefähren Lageplan und markierte darauf die Stelle, wo das Pferd eingescharrt worden war.

 

Er fragte sie auch noch nach dem Datum; und sie klingelte nach ihrem Chauffeur. Es war derselbe Tag, an dem sie ihr Auto nach Reading geschickt hatte, um verschiedene Reparaturen vornehmen zu lassen.

 

Der Chauffeur kam. Es war ein ordentlicher Mann, der alles in sein Notizbuch eintrug, und so gelang es, Tag und Stunde genau festzustellen.

 

»Es muß an dem Tag gewesen sein«, sagte er. »Am nächsten Abend fuhren wir in die Stadt und sahen auf der Chaussee den Unglücksfall.«

 

Luke hatte auch davon nichts gehört und fragte nach weiteren Einzelheiten. Er unterbrach Edna nicht, bis sie alles erzählt hatte, dann ging er im Zimmer auf und ab.

 

»Können Sie mir in Longhall über Nacht ein Zimmer geben? Ich möchte nicht in den ›Roten Löwen‹ gehen. Wenn Sie gestatten, ziehe ich mich dann sofort zurück, ich bin todmüde. Wenn ich nur ein paar Stunden die Augen zumachen kann, habe ich mich so weit erholt, daß ich es wieder einige Zeit aushalte. Vor allem muß ich bei dem Cambridgeshire-Rennen auf der Höhe sein.«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Sie werden doch nicht zu dem Rennen gehen, nachdem alle diese Dinge passiert sind?«

 

»Doch, ich werde gehen. ›Weiße Lilie‹ steht jetzt zehn zu eins, und ich möchte Mr. Goodie im Augenblick seines Triumphes sehen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich verstehe das alles nicht. Ich kann Sie nicht begleiten. Denken Sie doch an den armen Mr. Garcia. Welch ein furchtbares Unglück! Ich darf gar nicht daran denken!«

 

Sie erzählte ihm, daß der alte Mann keine Freunde und Verwandten gehabt habe, aber ziemlich reich gewesen sei.

 

Er fragte sie, wer denn das Vermögen erben würde.

 

»Ich glaube, daß er alles mir vermacht hat. Er sagte es mir schon vor einigen Jahren und erwähnte es auch, als wir zusammen auf dem Dampfer waren. – Ist der arme Mr. Garcia ermordet worden?«

 

Luke zögerte, denn diese Möglichkeit war nicht ausgeschlossen.

 

»Ich glaube es nicht«, sagte er schließlich. »Die Ärzte sagen, daß er eines natürlichen Todes gestorben ist.«

 

Er fragte sie dann noch nach den Gewohnheiten des alten Herrn.

 

Sie fuhren zusammen nach Longhall hinaus, und Luke schlief während der ganzen Fahrt. Als sie ankamen, ging er in ein Fremdenzimmer und legte sich sofort zur Ruhe.

 

Um neun Uhr abends war er aber wieder munter und brachte eine ganze Stunde am Telefon zu. Um elf Uhr meldete sich Lane bei ihm, und beide gingen fort.

 

Als Luke um drei Uhr morgens zurückkam, fand er Edna Gray noch wach. Aber wenn sie erwartet hatte, er würde ihr von seinen Erlebnissen erzählen, dann wurde sie enttäuscht. Er sagte nur, daß er Erfolg gehabt habe, und ging auf keine Einzelheiten ein.

 

*

 

Dr. Blanter suchte Trigger im Büro auf und forderte eine große Summe von ihm.

 

»Aber seien Sie doch vernünftig, Doktor! Ich kann Ihnen doch nicht so einfach zweihunderttausend Pfund besorgen! Sie wissen ebensogut wie ich, daß wir unser Geld immer sofort investieren. Vor Ende November können wir unsere Anteile nicht auszahlen.«

 

»Und ich sage Ihnen, Sie werden mir die Summe beschaffen, Trigger, und zwar in amerikanischem Geld. Ich verlange, daß es für mich bereitliegt, wenn ich wiederkomme.«

 

Trigger lehnte sich in seinem Sessel zurück und begegnete dem Blick des Doktors, ohne mit der Wimper zu zucken.

 

»Wenn die Transaktion durchgeführt ist, macht es mir keine Schwierigkeiten; im anderen Fall müßte ich Wertpapiere mit Verlust verkaufen. Warum haben Sie denn so große Eile?« Blanter gab keine Erklärung. Er war es gewohnt, daß Befehle, die er erteilte, unbedingt ausgeführt wurden. Zuerst wäre er beinahe wütend geworden, als er sah, daß Trigger ihm nicht sofort gehorchen wollte, aber er bewahrte die Ruhe. Die feindselige Haltung dieses Mannes war ihm schon seit einiger Zeit aufgefallen. Wenn er wollte, konnte er sich ausgezeichnet beherrschen. Er steckte sich eine Zigarre an und setzte sich in einen Sessel.

 

»Wir wollen uns nicht unnötig streiten. Wenn Sie es durchaus wissen müssen, will ich es Ihnen sagen. Es ist wegen Mr. Luke. Soweit es mich angeht, hat Ihre Firma das letzte Pferd bekommen. Ihnen tut das ja weiter nicht weh, denn Sie haben eine Menge Geld gemacht. Ich rate Ihnen trotzdem, Ihre Firma aufzulösen, die Büroeinrichtung zu verkaufen und sich ins Privatleben zurückzuziehen.«

 

»Hören Sie einmal zu, Doktor.« Mr. Trigger klopfte mit dem Finger auf die Tischplatte, um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben. »Meine Firma hat schon lange existiert, bevor Sie etwas von ihr gehört haben, schon zu einer Zeit, als ich von Ihnen noch nichts wußte. Damals waren Sie ein kleiner Mann, der in einem Mordprozeß vor Gericht stand. Beinahe wäre es Ihnen seinerzeit schlecht gegangen. Meine Firma kann auch ohne Sie weiterbestehen. Ich habe Sie niemals danach gefragt, wie Sie zu den Pferden kommen, mit denen ich meine Geschäfte mache. Was Sie mit den Tieren anfangen oder wie Sie sie dazu bringen, als erste durchs Ziel zu gehen, interessiert mich nicht. Wenn Sie etwas Gesetzwidriges dabei begangen haben, will ich nichts davon wissen. Soweit mir bekannt ist, wird ›Weiße Lilie‹ am Mittwoch das Cambridgeshire-Rennen gewinnen, und ich habe alle meine Kunden dementsprechend benachrichtigt. Warum das Pferd gewinnt, oder warum es nicht gewinnt, geht mich nichts an. Es gibt auch noch andere Informationsquellen und andere Rennställe als den von Goodie. Wenn Sie sich gegen die Gesetze vergangen haben, so ist das Ihre Sache und nicht die meine. Mr. Luke ist ein guter Charakter, und ich habe nichts von ihm zu fürchten.«

 

Er stand auf, ging auf die andere Seite des Schreibtisches und sah auf Blanter nieder.

 

»Ein Mann namens Garcia wurde heute morgen tot aufgefunden – ich habe es in der Zeitung gelesen. Außerdem wurde ein früherer Jockei, Punch Markham, in der City erschossen.«

 

»Na und?«

 

»Ich frage Sie nur, ob das etwas mit unserem Geschäft zu tun hat?«

 

»Und wenn es etwas damit zu tun hätte?«

 

Trigger schwieg, und Blanter wiederholte die Frage.

 

»Dann würde ich jetzt sofort auf die Straße gehen und einen Polizisten rufen, damit er Sie verhaftet«, entgegnete Trigger langsam. »Wenn ich an Rustems Worte denke und davon überzeugt wäre, daß sie sich auf diesen Mord beziehen, dann würde ich Sie anzeigen, so wahr ich hier stehe.«

 

Dr. Blanter erhob sich langsam. Er sah entsetzlich aus in seiner Wut, aber Trigger ließ sich nicht so leicht einschüchtern.

 

»Denken Sie gar nicht daran, was Ihnen dann passiert?«

 

Trigger lächelte.

 

»Ich müßte dann vielleicht der Mordkommission erklären, warum ich Sie über den Haufen geschossen habe.«

 

Er hatte die Hand in der Rocktasche, und plötzlich entdeckte Blanter, daß er eine Pistole gepackt hatte, mit der er auf ihn zielte.

 

»Ich habe mich immer vor Ihnen in acht genommen, Blanter, und ich weiß auch in dieser Sekunde, was ich von Ihnen zu halten habe. Gehen Sie. Wenn nach dieser Transaktion Geld zur Verfügung steht, werden Sie Ihren Anteil bis auf den letzten Shilling richtig erhalten.«

 

Gleich darauf stand Dr. Blanter auf der Straße. Er wußte kaum, wie ihm geschah. Aber wenn er überhaupt Respekt vor jemand hatte, dann vor Mr. Trigger.

 

Als er in seine Wohnung in der Half Moon Street kam, fand er seinen Diener Stoover am Schreibtisch damit beschäftigt, eine seiner besten Zigarren zu rauchen. Außerdem hatte sich der Mann ein Glas Whisky-Soda eingeschenkt.

 

Stoover erhob sich und reichte auch dem Doktor ein Glas, bevor er sich wieder niederließ. Blanter tadelte dieses Benehmen in keiner Weise.

 

»Haben Sie Goodie getroffen?«

 

»Nein.«

 

Stoover verzog den häßlichen Mund.

 

»Der hat nicht mehr Verstand als ein Kaninchen«, sagte er verächtlich. »Er fragte mich, wozu wir den neuen Kasten brauchten – er sah, wie ich damit auf der Straße fuhr. Dem alten Teufel entgeht doch auch nichts.«

 

»Warum sind Sie denn auch damit auf die Straße hinausgefahren?«

 

»Ich wollte den Motor ausprobieren. Ich hatte das Flugzeug aufgeladen – es ist gestern geliefert worden. Und ich bin auf den Flugplatz gefahren und habe die Tragflächen montiert. – Von wo aus wollen wir denn abfliegen?«

 

»Von Goodies Landsitz aus. Ich wünschte nur, daß sein Haus in Sussex läge, dann hätten wir einen kürzeren Weg. Aber Goodies Wiesen liegen sehr einsam. – Wird denn das Flugzeug zwei Passagiere tragen?«

 

»Wie kann man einen solchen Unsinn fragen! Es gehen auch vier Leute hinein. Eine großartige Maschine!«

 

Die Freundschaft zwischen dem Doktor und diesem ungehobelten Diener hatte ihre besondere Veranlassung. Stoover wußte um manche dunkle Punkte in Blanters Leben und hatte mit ihm gemeinsam manche dunkle Tat begangen. Hätte Luke davon gewußt und Blanters Akten daraufhin noch einmal sorgfältig durchgelesen, so hätte er gemerkt, daß Stoover derselbe war, der damals mit Dr. Blanter zusammen vor Gericht stand. Nur mit knapper Not entging Blanter seinerzeit der Strafe; Stoover wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Aber Luke hatte keine Ahnung, daß es derselbe Mann war, der damals unter dem Namen ›John Ernest‹ verurteilt worden war und jetzt ein bequemes Leben in Blanters Haus führte.

 

Wenn Stoover betrunken war, sagte er gelegentlich dem Doktor, daß er ihm lebenslänglich Zuchthaus verschaffen könne.

 

»Wie steht es denn eigentlich mit dem Cambridgeshire-Rennen? Wird es klappen?« fragte der Diener und goß sich wieder eine Portion Whisky ins Glas.

 

»Goodie meint, es sei alles in Ordnung, seitdem wir diesen unverschämten Rustem an die Kette gelegt haben. Das war allerdings ein gemeingefährlicher Kerl.«

 

»Was wollen Sie denn mit ihm machen?«

 

Blanter hatte nicht die Absicht, allzuviel zu verraten.

 

»Das werden wir ja sehen. – Haben Sie alles für morgen vorbereitet?«

 

Stoover nickte.

 

»Ich habe einen französischen Chauffeur engagiert und auch das Transportauto gemietet. Vielleicht brauchen wir es aber gar nicht.«

 

»Das wird sich alles zeigen«, erwiderte Blanter kurz. »Also, ich verlasse mich auf Sie, Stoover. Sie müssen die Zeit richtig festsetzen. Sorgen Sie dafür, daß alles klappt, denn wenn die Sache schiefgeht …« Er zuckte mit den Schultern.

 

»Sie können sich auf mich verlassen. Soll ich in den Keller gehen und noch eine Flasche holen, oder wollen Sie es tun?«

 

»Da Sie mein Diener sind, wäre es wohl schicklich, daß Sie auch etwas täten für Ihr Geld«, entgegnete der Doktor gutmütig.

 

Dennoch erhob er sich selbst und ging hinunter. In den nächsten vierundzwanzig Stunden mußte er diesem Mann noch vertrauen; es lohnte sich daher, ihn in guter Stimmung zu halten.