Kapitel 2

 

2

 

Penelope war zum Bahnhof gegangen, um für den nächsten Tag Plätze im Zug nach Quebec zu belegen. Es war ein ganz gewöhnlicher Zug, aber einige Stunden nach seiner Ankunft in Quebec fuhr das Schiff ab. So kam es, daß der Zug für Penelope eine besondere Bedeutung gewann. In ihren Augen war es ein Sonderzug, der allein für sie bestellt war und auf dem vom Schornstein der Lokomotive bis zu den Schlußlichtern des letzten Wagens mit großen Buchstaben geschrieben stand: ›Penelope Pitts Sonderzug nach Europa.‹

 

Der New-York-Expreß war eben eingelaufen, als sie in die Bahnhofshalle trat und zu den Fahrkartenschaltern gehen wollte. Mit geheimer Ehrfurcht betrachtete sie die bevorzugten Menschen, die aus der rätselhaften Märchenstadt kamen und gleichgültig dem Ausgang des Bahnhofs zuschritten, als ob es nichts Besonderes wäre, in dieser Weltstadt gelebt zu haben und von dort hierherreisen zu können.

 

Als der Strom der Leute abebbte und nur noch einzelne Nachzügler zu sehen waren, wandte sie sich mit einem Seufzer den Schaltern zu, um die Fahrkarten zu lösen. Danach ging sie langsam wieder dem Ausgang zu. Plötzlich lächelte sie ein Herr an, und bevor sie sich darüber klar wurde, was sie tat, hatte sie ihn zurück angelächelt. Er war groß und sah gut aus. Als er zum Gruß den Hut lüftete, entdeckte sie, daß er ein wenig kahlköpfig war. Offenbar war auch er eben mit dem Expreß aus New York gekommen, denn ein Lederkoffer und ein leichter Mantel lagen zu seinen Füßen, und er sah etwas bestaubt aus, als ob er eine lange Reise hinter sich hätte.

 

Sie hatte tatsächlich geglaubt, ihn zu kennen, vielleicht war er ihr in Edmonton einmal begegnet. Ihr früherer Chef hatte viele Geschäftsfreunde, und es war nicht ausgeschlossen, daß er zu ihnen gehörte.

 

»Guten Tag – haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen? Sie sind doch aus Detroit? Nein? Dann vielleicht Saint Paul? Dort habe ich viele Leute kennengelernt.«

 

»Wir irren uns wohl beide«, sagte sie und wollte weitergehen. Aber der Fremde hatte sich schnell umgesehen, ob nicht irgendwo ein unangenehmer Beamter in der Nähe war, und als er sich vergewissert hatte, daß das nicht der Fall war, hielt er sie an.

 

»Gehen Sie doch nicht fort, mein schönes Fräulein. Sie glauben gar nicht, wie ich mich freue, eine echte Kanadierin zu treffen. Ich bin nämlich Engländer. Können Sie mir nicht sagen, wo man hier eine gute Tasse Tee bekommt?«

 

»Ich bin in Toronto gar nicht bekannt«, erwiderte sie. »Einer der Pförtner wird Ihnen sicher Auskunft geben können.«

 

»Warum haben Sie denn so große Eile?« fragte er vorwurfsvoll. »Sie haben doch zuerst mit mir gesprochen und mich angelächelt.«

 

Sie ging schnell an ihm vorbei, aber er nahm Koffer und Mantel auf, folgte ihr und holte sie ein, bevor sie noch das Bahnhofsgelände verlassen hatte.

 

»Aber warum laufen Sie denn so? Sie sind doch nicht etwa beleidigt, Fräulein? Ich würde wirklich gern Ihre Bekanntschaft machen – mein Name ist übrigens Whiplow.«

 

Sie blieb stehen und starrte ihn an.

 

Whiplow? Das war doch der Name, den Mrs. Dorban im Schlaf erwähnt hatte. Sollte das ein Zufall sein? Der Name war doch recht selten.

 

»Johnny Whiplow. Wie heißen Sie denn?«

 

»Darüber fragen Sie am besten Mrs. Dorban«, entgegnete sie.

 

Ihre Worte machten einen ungeheuren Eindruck auf ihn. Er verfärbte sich und sah jetzt aschgrau aus. Seine Augen traten aus den Höhlen hervor.

 

»Mrs. – Mrs. Dorban?« fragte er erschrocken. »Ja, kennen Sie die Dame denn? Sie ist doch nicht etwa hier?«

 

Penelope benutzte seine Verwirrung, um fortzukommen. Als Mr. Whiplow auf die Straße trat, war sie verschwunden.

 

*

 

Mrs. Dorban gegenüber erwähnte sie nichts von ihrem Erlebnis. Penelope sah sie in den vierundzwanzig Stunden, die sie in Toronto verbrachten, auch nicht länger als eine Viertelstunde. Erst als sie im Zug nach Quebec saßen, sprach sie darüber.

 

»Sind Sie auch sicher, daß er Whiplow hieß? Wie sah er denn aus? Ja, das muß er gewesen sein, dieser Schuft! Er konnte sich niemals beherrschen, wenn er ein hübsches Gesicht sah. Er gehört zu den Männern, die auf den Straßen flanieren, wenn die Ladenmädchen nach Hause gehen. Aber wie kommt er nur ausgerechnet nach Toronto?« Mrs. Dorban biß sich auf die Lippen und blickte düster auf die Felder hinaus, an denen der Zug vorbeieilte. »Ich glaubte, er sei in Südamerika – was macht er nur in Kanada?« Ihre Züge wurden hart, und sie kniff die Augenlider zusammen. »Hat er Ihnen noch irgend etwas gesagt, nachdem er erfuhr, daß Sie mich kannten? War es überhaupt nötig, daß Sie meinen Namen nannten? Aber es wird schon ganz gut gewesen sein. Ich bin sogar froh darüber, sonst hätte ich keine Gewißheit, daß er es wirklich war.« Dann sprach sie in ihrer sprunghaften Art von gleichgültigen Dingen.

 

Als sie an Bord des Schiffes kamen, glaubte Penelope Whiplow zu sehen. Er stand oben auf dem Bootsdeck bei einer Gruppe von Passagieren und lehnte sich an die Reling. Als sie aber noch einmal genauer hinschaute, war er verschwunden, und sie sah ihn auch während der ganzen weiteren Reise nicht.

 

Penelope fühlte ein wenig Heimweh, als sich das Schiff vom Land entfernte, aber sie hatte es bald überwunden. Das Leben an Bord war neu und reizvoll für sie und brachte ihr dauernd Überraschungen. Das Schiff selbst schien ihr so romantisch, und die Zukunft lag so vielversprechend vor ihr, daß ihr schon nach zwei Tagen Kanada und ihr bisheriges Leben nur noch wie ein Traum vorkamen.

 

Cynthia sprach sehr wenig über ihren Mann; sie tat es nur, wenn sie direkt gefragt wurde. Es fiel Penelope auch nicht weiter auf, daß Mrs. Dorban bis nach Kanada gereist war, um eine Sekretärin zu engagieren, während doch in England Tausende fähiger Mädchen Stellung suchten. Sie sah ihr Engagement als eine liebenswürdige Großzügigkeit von Seiten Cynthias an und war ihr deshalb besonders dankbar.

 

Als sie eines Tages Cynthias Kabine aufräumte – Cynthia war trotz ihrer präzisen und geschäftlichen Art in ihren persönlichen Dingen recht unordentlich und nachlässig –, fand sie ein Blatt Papier. Es war mit Bleistift beschrieben und schien der Entwurf zu einem Telegramm zu sein:

 

 

›Dorban, Stone House, Borcombe, England. Habe die richtige Sekretärin gefunden. Bestehe darauf, daß Willis entlassen wird. Wahrscheinlich wurde sie von Stamford Mills geschickt. Dieses Mädchen weiß nichts von dem Fall und hat keine Freunde in England.‹

 

 

Penelope war einen Augenblick verwirrt. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, daß dieses Telegramm sich auf sie selbst bezog. Aber wer war Mr. Stamford Mills? Und welchen ›Fall‹ meinte Mrs. Dorban? Sie war etwas unangenehm berührt. Es waren mehrere Sätze ausgestrichen, und sie versuchte auch dies zu lesen. Einer lautete zweifellos: ›Sie macht den Eindruck, als ob sie nicht klatscht.‹

 

Penelope faltete das Papier wieder zusammen und verwahrte es. Zum erstenmal seit Beginn dieses Abenteuers fühlte sie sich unsicher. Und doch würde sich die ganze Sache sicher sehr einfach aufklären.

 

Bei der nächsten Gelegenheit brachte sie das Gespräch auf Mr. Dorban.

 

»Mein Mann haßt Städte«, sagte Cynthia müde und lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Sie saßen beide auf dem Promenadendeck. »Wir sind ruhige Leute. Arthur ist eine Art Forscher und geht selten irgendwohin. Ich hoffe, daß Sie Einsamkeit vertragen können?«

 

Penelope lachte. »Ich freue mich darauf, viel allein zu sein. Das hatte ich mir gerade gewünscht.«

 

»Dann wird es Ihnen sicher sehr gut gefallen«, erwiderte Cynthia merkwürdig verbissen. »Es kommt kein Besuch, wir laden auch niemanden ein und geben keine Bälle oder Gesellschaften. Und wenn Sie nicht gern angeln –« Sie zögerte. »Aber vielleicht wird es Ihnen später mehr zusagen, als Sie sich jetzt denken können. Nennen Sie mich bitte mit Vornamen, ich habe es nicht gern, als Mrs. Dorban angesprochen zu werden. Wovon redeten wir eigentlich? Ach ja, später werden Sie wahrscheinlich eine recht angenehme Zeit bei uns verleben – aber nein, ich wollte Ihnen noch etwas ganz Besonderes sagen. Wir vertrauen Ihnen in jeder Weise, und Sie müssen über alle Angelegenheiten meines Mannes tiefstes Stillschweigen bewahren. Nicht, daß er irgendeine besondere Beschäftigung hätte – verstehen Sie mich?«

 

Penelope wußte zwar nicht recht, was sie meinte, aber sie nickte.

 

»Es sind viele Nachforschungen anzustellen, hauptsächlich über Landgüter. Mein Mann hat nämlich eine große Erbschaft in Aussicht. Wir hoffen, eines Tages ein großes Vermögen zu erben.« Cynthia sah sich um und sprach leiser. »Ich möchte Sie noch vor einem Menschen warnen. Mein Mann hat einen erbitterten Feind, der immer wieder versucht hat, ihn zu ruinieren. Ich weiß nicht, warum er das tut«, erklärte Mrs. Dorban mit einer Ruhe, die Penelope unter diesen Umständen merkwürdig vorkam. »Aber ich vermute, daß eine Frau im Spiel ist. Ich gebe mir keine Mühe dahinterzukommen, aber einen anderen Grund kann ich mir eigentlich nicht denken. Stamford Mills – so heißt der Mann – schickt stets Detektive aus, die sich in unsere Angelegenheiten mischen wollen. Ich habe keine Ahnung, wer er eigentlich ist. Ein weltgewandter Mensch, der in London nur von seiner Tüchtigkeit lebt. Manche behaupten auch, er sei ein Schwindler, aber ich möchte ihn nicht ohne Grund verleumden. Ich weiß nur, daß er unser Feind ist, und aus diesem Grunde ist es wichtig, daß Sie vor ihm gewarnt werden.«

 

»Aber was will er denn entdecken – ich meine, wenn er Leute schickt, um Sie auszuspionieren?« fragte Penelope besorgt.

 

»Das mag der Himmel wissen. Geben Sie mir bitte mein Buch, Penelope. Ich wünschte, dieses niederträchtige Schiff würde nicht so rollen.«

 

Die Bewegung des Schiffes belästigte Penelope in keiner Weise. Es schien beinahe, als wäre sie auf dem Ozean geboren, so wenig konnte ihr die Seekrankheit anhaben. Sie saß gern an Deck und betrachtete die endlose grüne See. Es war ihr angenehm, das Zittern und Stoßen der Schiffsturbinen zu fühlen. Sie liebte es auch, sich die frische Brise ins Gesicht wehen zu lassen.

 

Die Passagiere interessierten sie nicht besonders; nur mit dem Decksteward hatte sie sich bis zu einem gewissen Grade angefreundet. Er sah gutmütig aus und kümmerte sich gleich vom ersten Tage an besonders um sie. In den frühen Stunden des Nachmittags, wenn die Passagiere in ihren Kabinen ruhten und das Promenadendeck verlassen dalag, stand er neben ihrem Stuhl und erzählte ihr von seinen vielen merkwürdigen Erinnerungen und Erlebnissen auf See. Er berichtete von Schiffen und Reisenden, die er getroffen hatte. Mit besonderem Stolz teilte er ihr mit, daß er einmal Steward im Rauchsalon eines großen Passagierschiffs gewesen war, das zwischen New York und Southampton fuhr. Und am liebsten sprach er über einen interessanten Passagier, den er während dieser Zeit kennengelernt hatte.

 

Beddle – so hieß der liebenswürdige Decksteward – war schon vielen schlechten Menschen begegnet. Stundenlang konnte er von den Banden erzählen, die das ganze Jahr den Ozean in beiden Richtungen überquerten und nur von der Geschicklichkeit lebten, mit der sie die Karten beherrschten.

 

»Ich kenne sie alle, Lew Marks, Billy Sanders, Long Charlie, Denver John – mein Gott, ich könnte Ihnen eine Liste all dieser Schwindler geben, die länger ist als Ihr Arm, mein Fräulein!«

 

»Und die waren alle Falschspieler?«

 

Er nickte. »Aber der Schlimmste von allen war doch El Slico – eine Amerikanerin hat ihm diesen Beinamen gegeben, und den hat er behalten. Er war so gewandt und anpassungsfähig. Ich habe ihn niemals zweimal in demselben Anzug gesehen. Allein seine Kleidung muß ihn ein Vermögen gekostet haben. Er hatte stets die besten Kabinen an Bord belegt, während die Mitglieder der anderen Banden gewöhnlich zu vier Mann in einer Kabine reisen. Er ist noch ziemlich jung; wenigstens war er es damals, als ich ihn vor ein paar Jahren traf. Man erzählte sich, daß er den besten Gesellschaftskreisen angehöre – aber er ist ein Schurke, sage ich Ihnen. Er würde Ihnen die Goldkronen aus dem Munde reißen, wenn sonst nichts zu nehmen wäre! Er war der Führer einer Bande, die sich nur mit ganz vornehmen Leuten abgab. Einen Verstand hatte dieser Mann! Er war niemals von zufälligen Bekanntschaften an Bord abhängig. Einmal brachte er einen Millionär aus Colorado um hundertfünfzigtausend Dollar. El Slico wußte, daß der Mann nach Europa fahren wollte, und fuhr deshalb zwei Wochen vorher nach Colorado. Er verstand es, sich Eingang in seinen Klub zu verschaffen, und lernte ihn dort kennen. Der Millionär lud ihn in seine Wohnung ein. El Slico gab sich als reicher junger Engländer aus, der keine andere Aufgabe im Leben habe, als von den Zinsen seines großen Vermögens zu leben. Als sie sich später an Bord des Schiffes wiedertrafen, war es natürlich, daß sie sehr freundschaftlich miteinander verkehrten – und das hat Mr. Gifford hundertfünfzigtausend Dollar gekostet. Und selbst da wußte er noch nicht, daß El Slico der Anführer der Bande war, die ihm das Geld abgenommen hatte.«

 

Tag für Tag hörte Penelope Geschichten über diesen geheimnisvollen El Slico, denn es war das Lieblingsthema Mr. Beddles.

 

Vom Standpunkt der Gewohnheitsreisenden aus war die Überfahrt gänzlich uninteressant. Das Schiff war an drei großen Eisbergen vorbeigekommen und unzähligen anderen Schiffen begegnet. Ein Tanzabend, ein Kostümball und ein Konzert hatten im Salon stattgefunden, und am Sonntag war ein Schiffsgottesdienst abgehalten worden. Für das Mädchen aus Edmonton waren all diese Vorgänge große Ereignisse.

 

Als sie noch einen Tag von Liverpool entfernt waren und die langhingestreckte graue Küste Irlands passiert hatten, entdeckte Penelope einen Zug in Mrs. Dorbans Charakter, den sie ihr nicht zugetraut hatte.

 

Cynthia hatte sich in Winnipeg einen kleinen Schoßhund gekauft, und sie hatte das kleine Tier mit dem seidigen Fell sehr gern. Tagsüber trug sie den Hund immer im Arm mit sich herum, und nachts schlief er zu ihren Füßen im Bett.

 

Penelope liebte Hunde auch, aber sie fühlte sich mehr zu den größeren Rassen hingezogen. Diese kleinen Tierchen, die nur als Spielzeug dienten, von ihren Frauchen verzärtelt, gekämmt und gebürstet wurden und ihnen fast so unentbehrlich wie eine Handtasche waren, sagten ihr nicht zu. Sie taten ihr nur leid.

 

Penelope stand auf dem Promenadendeck und sah mit begeisterten Blicken, wie die wenig romantische Küste von Lancashire in dem leichten Nebel auftauchte. Als Cynthia zu ihr trat, wandte Penelope sich zu ihr um und sah sofort, daß sie den Hund nicht bei sich hatte.

 

»Wo ist denn Fluff?« fragte Penelope.

 

»Das arme kleine Tier – es war doch ein so lieber, netter Kerl…«

 

»Was ist denn mit ihm passiert?«

 

»Man hat mir gesagt, daß ich den Hund nicht mit an Land nehmen könne, es sei denn, daß er zuerst in Quarantäne käme. Und das gibt doch zu viele Unannehmlichkeiten. Hunde bekommen allerhand Krankheiten, wenn sie mit anderen Tieren zusammen eingesperrt werden. Ich habe Fluff deshalb einem Matrosen übergeben und ihm gesagt, daß er ihn ertränken soll. Er wollte mich zuerst überreden, ihn durch den Zoll schmuggeln zu lassen, aber ich wollte nicht extra dafür hundertfünfzig Dollar ausgeben. Er hat mir versprochen, daß er ihm einen schweren Gegenstand um den Hals bindet und ihn dann ins Wasser wirft.«

 

Penelope war sehr bestürzt. »Aber – ich dachte, Sie hatten das Tierchen so gern …«

 

»O ja, ich hatte es ganz gern. Es war ein lieber, kleiner Kerl. Aber keine reine Rasse, wie mir die Leute in Winnipeg vorschwindelten. Captain Wilkins, der viel von Hunden versteht, sagte mir, daß das Tierchen bestimmt keinen reinen Stammbaum habe und daß ich bei dem Kauf betrogen worden sei. Und mit unechten Hunden gebe ich mich nicht ab. Geht Ihnen denn die Sache nahe?«

 

Penelope konnte nichts erwidern. Die merkwürdige Gefühllosigkeit dieser Frau beleidigte sie. Das Leben eines kleinen Schoßhundes war ja sicher nicht von großer Bedeutung, aber es schmerzte sie doch, daß sie diesen Charakterzug an einer Frau entdecken mußte, die sie sonst so verehrte und in jeder Weise bewunderte. Sie dachte an die dünnen, schmalen Lippen Cynthias und sah sie jetzt mit einem neuen Interesse an.

 

Ein paar bevorzugte Freunde der Passagiere kamen dem Schiff in einem kleinen Boot entgegen. Cynthia erwähnte nebenbei, daß ihr Mann vielleicht auch an Bord komme. Sie zeigte aber keinerlei besondere Freude darüber, daß sie ihn nach so langer Trennung wiedersehen würde, und trat nicht einmal zu der kleinen Gruppe interessierter Leute, die über die Reling schauten, als die Passagiere des kleinen Bootes herüberkamen.

 

Penelope hatte sowohl ihre eigenen als auch Cynthias Sachen gepackt und suchte nun noch einmal den Decksteward auf.

 

»Ich danke Ihnen, mein Fräulein«, sagte Mr. Beddle, als er den Fünfdollarschein aus ihrer Hand nahm. »Sie hätten mir das nicht zu geben brauchen, es war mir auch so ein großes Vergnügen. Besten Dank. Ich hoffe, daß ich Sie wieder einmal auf einer Reise bedienen kann. Sind Sie eigentlich auf einer Vergnügungsfahrt?«

 

»Ich hoffe, es wird ein Vergnügen für mich werden; ich bin nämlich nach England gekommen, um eine Stellung anzutreten.«

 

Der Mann schaute Penelope nachdenklich an. »Es ist kein schlechtes Land, und Sie mögen hier Ihr Glück machen. Heiliger Moses!« Er schaute an ihr vorbei und machte ein überraschtes Gesicht. »Schnell, mein Fräulein«, flüsterte er, »das ist er!«

 

»Er – wer?«

 

Penelope wandte den Blick in die Richtung, in die er zeigte, und sah einen eleganten, glattrasierten Herrn, der von Kopf bis Fuß tadellos gekleidet war. Es schien ihr, als ob er von der Bond Street in London plötzlich an Bord dieses Schiffes versetzt worden sei, ohne daß sein Anzug auch nur die geringste Falte davongetragen hätte.

 

Sein Gesicht war dunkel, und er trug einen kleinen Schnurrbart. Sein Kinn wirkte ein wenig lang. Im Augenblick lächelte er und zeigte seine weißen Zähne.

 

»El Slico«, sagte Beddle leise. Aber bevor Penelope ihn noch richtig betrachten konnte, eilte Cynthia schon auf sie zu.

 

»Meine liebe Penelope, ich möchte Sie vorstellen.« Cynthia faßte sie am Arm und ging mit ihr auf den vornehmen Herrn zu. »Dies ist mein Mann, Mr. Dorban!«

 

›El Slico‹ nahm den Zylinder ab und reichte ihr seine lange, schmale Hand.

 

Penelope ergriff sie mechanisch.

 

Kapitel 20

 

20

 

Es regnete, als Penelope auf der etwas schmutzigen Strickleiter zu dem wenig einladenden Eisendeck des Tankers emporkletterte. Mr. Orford hatte merkwürdigerweise die etwas halsbrecherische Tour längst hinter sich. Er hatte vorher drahtlose Nachrichten an das Schiff geschickt, so daß sie alle möglichen Bequemlichkeiten in den Kabinen vorfanden, mit denen sie gar nicht gerechnet hatten. Die beiden Schiffe trennten sich im Morgengrauen wieder, und Penelope beobachtete zwischen großen Haufen aufgerollter Taue und rostiger Ankerketten, wie die schlanke ›Polyantha‹ sich immer weiter entfernte. Es regnete unaufhörlich.

 

Der Tanker war lange nicht so gemütlich. Er rollte und stampfte unheimlich, selbst bei geringem Wellengang. Mrs. Dorban, die leicht seekrank wurde und obendrein den Petroleumgeruch nicht vertragen konnte, legte sich bald in ihrer Kabine nieder und blieb den ganzen Tag dort.

 

Penelope verfügte nur über eine kleine Kabine und hatte große Mühe, all ihre Habseligkeiten unterzubringen. Die Schubladen der Kommode und der kleine Schrank waren mit Sachen des Schiffsoffiziers angefüllt, der die Kabine vor ihr innegehabt hatte. Sie richtete sich so gut wie möglich ein und sehnte sich noch lange nicht nach dem Ende ihres Abenteuers. Sie war sich selbst nicht recht über ihre Stimmung klar.

 

Am nächsten Morgen begegnete sie John an Deck. Er teilte ihr viele Neuigkeiten mit, die sie in Erstaunen setzten.

 

»Ich glaube nicht, daß wir für immer Abschied von der ›Polyantha‹ genommen haben«, meinte er. »Mr. Orford hat mir gerade gesagt, daß er einen anderen Treffpunkt mit ihr vereinbart habe. Wenn sie von dem ersten Kriegsschiff, dem sie begegnet, durchsucht worden ist, werden wir nördlich von Madeira wieder zu ihr stoßen. Und wir haben dann Aussicht, unsere Reise unter angenehmeren Bedingungen fortzusetzen.«

 

»Was soll denn aus den Dorbans werden? Und aus Hollin?« fragte Penelope.

 

»Hollin werde ich mitnehmen müssen, wie ich es ihm versprochen habe. Was aus den Dorbans werden soll, weiß ich selbst noch nicht. Das ist noch die größte Schwierigkeit, aber ich glaube, man kann sie mit Geld abfinden und mit einem Versprechen, das ich ihnen schon halbwegs gegeben habe.«

 

»Was haben Sie ihnen denn versprochen?«

 

Er schaute aufs Meer hinaus und schwieg eine Zeit.

 

»Ich habe ihnen versprochen, mich unter der Bedingung, daß sie mich nicht wieder betrügen, nicht zu verheiraten. Aber ich bin mir selbst noch nie so gram wie jetzt gewesen, nachdem ich dieses Versprechen gab.« Er sah sie wieder an.

 

»Warum denn?«

 

»Weil ich Sie liebe und mir dadurch das einzige Glück raube, das mir erstrebenswert erscheint. Sie müssen annehmen, daß ich ein recht ungebildeter Mensch bin, Penelope, und ich glaube es beinahe selbst. Ich wollte Sie aus diplomatischen Gründen heiraten, aber ich erkannte auch, daß Sie das Anerbieten Mr. Orfords nicht aus Liebe zu mir annahmen. Wie wäre das auch möglich gewesen? Sie kennen mich erst seit ein paar Tagen und wissen noch nicht einmal das Schlimmste über mich.«

 

»Ich glaube, ich weiß es doch.«

 

Er schüttelte den Kopf, aber Penelope fuhr unbeirrt fort.

 

»Sie fliehen vor jemandem. Haben Sie nicht –«, sie zögerte, aber dann sagte sie doch, »– ein Verbrechen begangen?«

 

»Nein, ich bin zwar angeklagt worden – aber es ist doch alles zwecklos …«

 

Sie schaute ihm nach, als er fortging, und fühlte eine sonderbare Leere im Herzen.

 

Am Nachmittag fuhren sie an zwei Torpedobootszerstörern vorbei, die anfragten, ob sie nicht die ›Polyantha‹ gesichtet hätten. Es wurde ihnen wahrheitswidrig mit »Nein« geantwortet. Gegen Abend erhielten sie einen Funkspruch, der mit Mr. Orford verabredet worden war.

 

»Die ›Polyantha‹ ist angehalten und durchsucht worden«, erklärte Mr. Orford beim Abendessen.

 

»Armer Bobby«, flüsterte Penelope. Bobby war an Bord geblieben, um die Rolle des reichen Besitzers zu spielen.

 

»Bobby fällt das Lügen nicht schwer«, sagte John ruhig. »Er kann tausend Ausflüchte machen und ist nie um eine Ausrede verlegen. Wie geht es Ihrer Frau, Dorban?«

 

Arthur lächelte geheimnisvoll, aber er gab keine Antwort.

 

Am Abend saßen sie auf dem Achterdeck zusammen, als der Captain zu ihnen trat. John und Mr. Orford rauchten, Penelope kauerte in ihrem Deckstuhl, denn das Schlingern des Schiffes war etwas ungemütlich geworden. Dorban ging unruhig auf und ab.

 

»Soeben habe ich einen Hilferuf aufgefangen, Mr. Orford«, sagte der Captain. »Das Schiff ›Pealego‹ ist auf ein Riff gelaufen und im Sinken.«

 

»Was ist das denn für ein Schiff?«

 

»Ein Passagierschiff, das von Vigo nach Funchal fährt, ein sonderbares Schiff, ich bin ihm schon mindestens ein dutzendmal in diesen Gewässern begegnet. Natürlich haben wir jetzt den Kurs ändern müssen und fahren auf die ›Pealego‹ zu. Das Unglück passierte ungefähr zwanzig Meilen von uns entfernt. Wir werden sehr bald auf ihre Rettungsboote stoßen.«

 

Zwei Stunden waren vergangen, als sie Licht auf dem Wasser entdeckten. Durch Ferngläser erkannten sie zwei Boote, die nebeneinander ruderten.

 

»Das ist schrecklich für uns«, sagte Mr. Orford und schüttelte den Kopf, »denn wir müssen diese Leute irgendwo an Land bringen. Und ich wollte meinen Fuß erst wieder auf festen Boden setzen, wenn wir die Mole von Boston erreicht hätten.«

 

Die Mannschaft des Tankers hängte eine hellbrennende Lampe über das Fallreep, das heruntergelassen wurde, und sie lehnten sich über die Reling, um die Geretteten zu sehen, als sie an Bord gebracht wurden.

 

Zuerst kamen zwei weinende Frauen in Matrosenmänteln, dann ein alter Mann, der ganz durchnäßt war. Hinter ihm tauchte ein großer, schlanker Mann auf, der das Aussehen eines Militärs hatte. Der erste, der ihm an Deck begegnete, war John, in dessen Gesicht kein Muskel zuckte, als der Mann auf ihn zukam.

 

»Ich bin Inspektor Spinner – ich denke, wir kennen uns.«

 

»Das ist wohl möglich«, erwiderte John kühl.

 

»Sie sind der Earl von Rivertor, ein Sträfling, der wegen Herstellung falscher Banknoten zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Und dieses ist James Hollin, auch ein entflohener Sträfling, der fünf Jahre wegen Einbruchs abzusitzen hat. Sie sind beide am Vierzehnten des vergangenen Monats aus Dartmoor entflohen.«

 

Mr. Dorban kam heran.

 

»Ich kann diese Angabe nur bestätigen. Mein Name ist Arthur Dorban. Und dieser Mann –«, er zeigte auf John, »ist mein Vetter.«

 

Zu Penelopes größtem Erstaunen wandte sich John mit einem strahlenden Lächeln an seinen schlimmsten Feind.

 

»Jetzt bin ich meines Versprechens ledig, Arthur«, sagte er.

 

*

 

Für Penelope Pitt war die nächste Nacht ein langer, schrecklicher Traum. Sie war so wenig imstande, Wirklichkeit und Traum voneinander zu unterscheiden, daß sie beinahe ernsthaft an ihrem Verstand zu zweifeln begann. John war der Earl von Rivertor, und er war ein entflohener Sträfling! Das klang alles so unglaublich, so phantastisch, daß sie sich wohl zwanzigmal in der Nacht erhob und das elektrische Licht andrehte, um sich zu überzeugen, daß sie wachte und nicht das Opfer schrecklicher Halluzinationen war.

 

Was war aus Mr. Orford geworden? Sie wußte es nicht. Sie konnte ihre Gedanken nicht einmal so weit sammeln, um über ihre eigene Zukunft nachzudenken.

 

Am nächsten Morgen stand sie früh auf und ging an Deck, wo die Matrosen mit Wasserschläuchen und Bürsten tätig waren. Sie fand Mr. Orford in dem bequemsten Stuhl, der an Bord des Schiffes aufzutreiben gewesen war. Er hatte sich in viele Decken eingehüllt, war ebenfalls wach und in tiefe Gedanken versunken. Sie nahm an, daß er nicht gut auf sie zu sprechen sei, da sie sich indirekt für das tragische Ende seiner kühnen Pläne verantwortlich fühlte, aber er begrüßte sie mit einem freundlichen, fast väterlichen Lächeln.

 

»Ich bin überhaupt nicht zu Bett gegangen – ich habe auch nicht geschlafen«, sagte er erklärend.

 

»Bitte stehen Sie nicht auf«, bat sie ihn schnell, als er Miene machte, sich aus all seinen Decken herauszuwinden. »Ich kann mich hierher setzen.« Sie zog einen Stuhl herbei und ließ sich an seiner Seite nieder. »Mr. Orford, was bedeutet das alles?«

 

»Was es bedeutet? Sechs Monate harter Arbeit und eine halbe Million Dollar für die bestorganisierte Flucht, die die Welt jemals gesehen hat, sind zum Teufel gegangen!«

 

»Wollen Sie mir denn nicht endlich alles sagen?«

 

»Es ist ja jetzt doch kein Grund mehr vorhanden, warum Sie nicht alles wissen könnten.« Er winkte einem Matrosen. »Mein Sohn, gehen Sie einmal in die Küche und bringen Sie etwas heißen Kaffee«, wies er ihn an. Dann wandte er sich wieder an Penelope. »John ist der Lord von Rivertor. Als er zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, war er es noch nicht und hatte überdies nicht die leiseste Ahnung, daß er die nächste Anwartschaft auf diesen Titel hatte. Er ist sehr reich und begütert, ebenso Mr. Stamford Mills, sein Freund. Sie haben zusammen in Paris auf der Kunstakademie studiert, und seit Lord Rivertors Verurteilung hat dieser junge Mann alles aufgeboten, um ihn zu befreien. Ich selbst habe schon viel organisiert, aber noch niemals eine Flucht aus dem Gefängnis.«

 

Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf.

 

»Der erste Unglücksfall begegnete uns, als Hollins Mütze davonflog. Alle englischen Sträflinge haben eine Nummer, die in die Kappen eingestickt wird.«

 

»Sie müssen mir aber alles von Anfang an erzählen. Warum wurde Lord Rivertor eigentlich verurteilt – welches Verbrechen hat er denn begangen?«

 

»Ich bin fest davon überzeugt, daß er überhaupt kein Verbrechen begangen hat«, sagte Mr. Orford mit Nachdruck. »Ich habe die Erfahrung gemacht, daß viele Leute unschuldig im Zuchthaus sitzen, die das Opfer eines widrigen Schicksals oder gemeiner Verleumdung sind. Als ich hörte, daß Lord Rivertor durch ein gemeines Komplott zu Fall gebracht worden war, fühlte ich sofort, daß hier wieder ein Justizirrtum vorliegen mußte. Er ist wirklich unschuldig.«

 

Mr. Orford war im Eifer aufgestanden und gestikulierte heftig.

 

»John war ein Künstler und ein Vetter dritten oder vierten Grades des alten Earls von Rivertor. Der alte Herr hatte drei Söhne, die alle innerhalb einer Woche an Lungenentzündung starben. Das klingt fast wie ein Märchen, aber sie sind tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben. Ich habe mich sehr genau danach erkundigt, denn ich verdächtigte Mr. Dorban, daß er die Natur bei ihrem Vernichtungswerk unterstützt hätte.

 

John Rivertor wußte nichts von alledem. Er lebte als Maler und Zeichner in Paris und hatte sein Auskommen. Er war ein besonderer Spezialist für Radierungen. Möglich, daß er ein großer Künstler ist, möglich, daß er es nicht ist. Ich verstehe zuwenig von Kunst, um das beurteilen zu können.

 

Bei der Gerichtsverhandlung wurde nun folgender Tatbestand festgestellt: John verkehrte in einem Restaurant im Westen Londons. Der Eigentümer dieses Lokals hatte bei den verschiedensten Gelegenheiten gefälschte Fünfpfundnoten in seiner Kasse gefunden, konnte aber nicht genau sagen, von wem er die Scheine bekommen hatte. Der Verdacht fiel jedenfalls auf John. Mir ist es ganz unerklärlich, wie das möglich war, aber ich habe eine Vermutung, wer dieses Gerücht aufgebracht hat. Wahrscheinlich hat der Betreffende die falschen Noten selbst in Umlauf gesetzt.

 

John war nicht gerade wohlhabend, aber es ging ihm auch nicht schlecht. Er verkaufte seine Radierungen ganz gut und lebte von der Arbeit seiner Hände. Eines Tages kam ein Mann in sein Atelier, der Radierungen für einen amerikanischen Millionär kaufen wollte. John hatte ihn noch niemals gesehen und traf ihn auch später nicht wieder. Der Mann wählte ein paar Blätter aus und bot eine so hohe Summe dafür, daß John sehr erstaunt war. John selbst forderte einen weit niedrigeren Preis, aber der merkwürdige Käufer bestand darauf, ihm den hohen Betrag zu zahlen. Er gab ihm nur Banknoten. Das erste halbe Dutzend war echt, die anderen Scheine waren nicht besonders gut gelungene Fälschungen. Der Fremde nahm die Radierungen an sich, und John begleitete ihn auf seine Bitte zum Bahnhof. Der Besucher nannte sich Smith und erzählte, daß er nach Brüssel reise. Es dauerte noch ziemlich lange, bis der Zug abfuhr, und Mr. Smith hielt John bis zur Abfahrt auf. John ging dann in sein Stammlokal, um dort zu Abend zu speisen. Er fühlte sich in recht gehobener Stimmung, daß er soviel Geld verdient hatte.

 

Als er das Restaurant wieder verließ, wurde er von zwei Kriminalbeamten verhaftet, die ihn mit zur Polizeistation nahmen und dort durchsuchten. Die falschen Banknoten wurden bei ihm gefunden, und obgleich er erklärte, wie er in ihren Besitz gekommen war; glaubte man ihm nicht. Auch seine Wohnung wurde durchsucht. Sie bestand aus einem großen Atelier und zwei kleinen Zimmern; außerdem gehörten noch ein Abstellraum und eine kleine Küche dazu. In der verschlossenen Rumpelkammer entdeckte die Polizei eine vollständige Falschmünzereinrichtung – Druckerpressen, Platten und Pakete gefälschter Banknoten, die anscheinend eben erst gedruckt waren. Außerdem fand man Säurebäder, Radierwerkzeuge und alles, was sonst noch zum Druck von Banknoten notwendig ist. Die Indizien waren erdrückend, und obwohl verschiedene Sachverständige ihr Urteil dahin abgaben, daß diese Noten in einem anderen Land gedruckt worden seien, wurde John doch schuldig gesprochen. Da man außerdem glaubte, einen sehr gefährlichen Verbrecher gefaßt zu haben, wurde er zu der schwersten Strafe verurteilt, die das englische Gesetz dafür vorsieht – zu zwanzig Jahren Zuchthaus.

 

Ich war sehr verwundert, daß Sie von dieser ganzen Sache nichts wußten, denn alle englischen und amerikanischen Zeitungen waren von dieser Geschichte voll. Nicht nur der Prozeß wurde überall besprochen, sondern auch die Tatsache, daß der Mann, der fast zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt worden war, später den Titel eines Earl von Rivertor erbte. Außer diesem Titel fiel ihm noch eine Erbschaft von etwa zehn Millionen Dollar zu.«

 

Penelope hatte schweigend und staunend zugehört.

 

»Die Nachrichten darüber dürften nicht nach Edmonton gekommen sein, ich habe jedenfalls nichts darüber gelesen. Wann hat sich denn diese Tragödie abgespielt?«

 

»Es ist jetzt ein Jahr und siebzehn Tage her.«

 

Nun wurde es ihr plötzlich klar.

 

»Ich war damals sechs Monate lang auf einer Farm und habe überhaupt keine Zeitungen in die Hand bekommen. Die Zeitungen in Edmonton haben die Sache doch sicher gebracht, denn Lord Rivertor besaß eine große Farm in der Nähe der Stadt.«

 

»John kam also ins Zuchthaus«, sagte Mr. Orford. »Mr. Stamford Mills, sein bester Freund, nahm sich vor, das Geheimnis, das über der Verurteilung Johns lag, aufzudecken. Er war vollkommen davon überzeugt, daß die Geschichte, die John vor Gericht vorbrachte, auf Wahrheit beruhte. Zunächst galt es nun, die Verwandten herauszufinden, die von seinem Verschwinden profitierten, und so kam er auf die Spur El Slicos. Arthur ist Johns nächster Vetter und deshalb auch der nächste Erbe des Titels.«

 

»Aber Lord Rivertor ist noch jung, und zwanzig Jahre sind doch keine unendliche Zeit. Wie konnten sie denn sicher sein, das Geld und den Titel zu erben?«

 

»Sie haben nichts dem Zufall überlassen«, entgegnete Mr. Orford grimmig. »Einen Monat nach seiner Einlieferung in Dartmoor wurde John schwer krank. Die Mahlzeiten werden dort von Sträflingen serviert, die sich gut geführt haben und deswegen mit diesen Posten betraut werden. Sie genießen gewisse Vorrechte. Zweifellos war das Essen, das John erhielt, irgendwie vergiftet. Zwei Monate später ging das Gewehr eines Wärters ›zufällig‹ los, und die Kugel ging nur um Haaresbreite an Lord Rivertors Kopf vorbei. Bobby, der ein geborener Detektiv ist, entdeckte, daß der Wärter ein Mann war, der schon mehrere Verweise erhalten hatte. Bobby brachte auch heraus, daß dieser Mann in Verbindung mit den Dorbans stand und schon mehrere Besuche in Stone House bei Borcombe gemacht hatte, wonach sich jedesmal der Betrag auf seinem Bankkonto merklich erhöhte. Warum lebt Mr. Dorban überhaupt so abgeschlossen von aller Welt in Borcombe?«

 

»Ich dachte, er hätte sich zurückgezogen –«

 

»Da irren Sie sich aber gewaltig«, sagte Mr. Orford lächelnd. »Dorban hielt sich in Borcombe auf, weil es in der Nähe des Zuchthauses von Dartmoor lag und weil er auf diese Weise mit seinen dortigen Agenten ständig in Verbindung treten konnte. Und warum hat man Sie wohl aus Kanada geholt? Weil Sie nichts von dem Fall wußten und keine Freunde in England hatten. Wenn ich nur gewußt hätte …«

 

Er schlug sich ungeduldig aufs Knie.

 

»Nach dem dritten Anschlag auf Johns Leben zog mich Bobby ins Vertrauen und bat um meinen Rat. Ich gebe gern zu, daß die hohe Belohnung, die mir angeboten wurde, viel dazu beitrug, daß ich diesen Auftrag überhaupt annahm. Wir charterten die Jacht ›Polyantha‹ für sechs Monate von einem französischen Herzog und bemannten sie mit zuverlässigen Leuten. Der Schiffsarzt ist ein entfernter Verwandter Johns, der alte Captain ist sein Onkel mütterlicherseits.

 

Bobby Mills diente während des Krieges als Flieger – es gelang ihm, von der Verwertungskommission für früheres Kriegsmaterial ein Flugzeug und einen ausrangierten Panzerwagen zu erwerben.

 

John arbeitete mit mehreren anderen Sträflingen in den Steinbrüchen, die in einiger Entfernung von dem Gefängnis liegen. Jeden Morgen und Nachmittag marschierten sie auf der großen Landstraße dorthin. John befand sich in der sechsten Abteilung, die jedesmal zuerst das Gefängnis verließ. Am Morgen des Vierzehnten kam ein Panzerwagen in die kleine Stadt, der anscheinend von einem Soldaten gelenkt wurde. In Wirklichkeit war es unser zweiter Ingenieur. Er fuhr langsam die Straße entlang und hielt vor dem Zuchthaus an, wo er sich zum Schein an dem Motor zu schaffen machte. Als die Abteilung herausmarschierte, sprang er auf seinen Sitz und fuhr weiter, zuerst langsam, dann immer schneller, bis er sich in gleicher Höhe mit der Abteilung befand.

 

John war auf alles genau vorbereitet. Ich will Ihnen nicht im einzelnen erzählen, welche Bestechungsmethoden wir anwandten, um ihn von unseren Absichten und Plänen in Kenntnis zu setzen. Als der Wagen in seine Nähe kam, sprang John auf das Trittbrett und wurde in das stahlgepanzerte Innere gezogen. Der Chauffeur beschleunigte sofort das Tempo. Unglücklicherweise war in dieser Abteilung auch der Sträfling Hollin, der diese günstige Gelegenheit wahrnahm. Bevor der Fahrer des Wagens wußte, was geschah, sprang auch er hinein und schlug den Gefangenenwärter nieder, der ihn zurückziehen wollte.

 

Der Wagen fuhr davon; die Panzerwände hielten die Geschosse ab, die ihm nachgesandt wurden. An einer verlassenen Stelle im Moor hielt Bobby sein Flugzeug bereit. Sie mußten Hollin wohl oder übel mitnehmen. Wenn seine Mütze nicht in der Nähe der Küste aus dem Flugzeug gefallen wäre, hätte niemand gewußt, welche Richtung wir nahmen oder wie die Flucht bewerkstelligt wurde.«

 

»Und auf dem Meer wartete sicher die ›Polyantha‹?«

 

»Ja, alles ging nach Wunsch. Das Flugzeug war mit besonderen Schwimmern versehen, so daß es sich auf der Wasserfläche halten konnte. Es kam in der Nähe des Fallreeps herunter. Wir nahmen John und diesen Kerl sofort an Bord, sprengten das Flugzeug und versenkten es. Nun glaubten wir, alles überstanden zu haben.«

 

»Und dann kam ich.«

 

»Ja, dann kamen Sie. Aber was haben Sie denn?«

 

Sie stand plötzlich auf, ihr Gesicht war bleich.

 

»Die Banknoten!« rief sie atemlos. »Und die Radierungen!«

 

»Was meinen Sie?«

 

Zusammenhanglos erzählte sie ihm, was sie damals gesehen hatte. Mr. Orford hörte gespannt zu, dann seufzte er schwer.

 

»Wenn ich das alles nur früher gewußt hätte! Natürlich ist es so! Die Banknoten schafften sie vom Ausland her, um Verdachtsmomente gegen ihn aufzubringen. Und die Radierungen! Zum Teufel!« Sie starrten einander an.

 

»Die Banknoten sind jetzt sicher ins Meer geworfen – wir haben also auch kein Beweismittel mehr gegen die Dorbans in den Händen!«

 

»Aber ich habe doch eine Quittung gesehen«, sagte Penelope langsam. »Ich vergaß den genauen Wortlaut. Aber die Unterschrift war von einem Mr. Feltham gegeben.«

 

»Das stimmt. Feltham war Johns früherer Familienname. Wo ist sie denn?«

 

»Ich versuche, mich zu besinnen.« Sie setzte sich nieder und stützte das Kinn in die Hände. Wo war doch nur die Quittung geblieben? Sie hatte sie auf das Fensterbrett gelegt, der Wind hatte sie in den Garten geweht, und sie hatte sie wieder aufgehoben in jener schrecklichen Nacht, in der Cynthia sie ermorden wollte.

 

»Ich habe sie irgendwo hingelegt – ich bin sicher, daß ich sie verwahrt habe. Ach, richtig – in der Tasche der Wolljacke!« rief sie plötzlich. »Erinnern Sie sich an die Jacke, in der ich an Bord der ›Polyantha‹ kam?«

 

»Wo ist diese Jacke?« fragte er heiser.

 

»Ich habe sie auf der ›Polyantha‹ zurückgelassen«, sagte Penelope atemlos. »Sie hängt dort in meinem Kleiderschrank.«

 

Mr. Orford sank in sich zusammen.

 

»Und ich habe dem Captain den strikten Auftrag gegeben, alles über Bord zu werfen, was an Ihre Anwesenheit erinnern könnte!«

 

Kapitel 21

 

21

 

Die See hatte sich beruhigt, und das Schiff schaukelte nicht mehr so stark, als Cynthia Dorban erwachte. Arthur schaute düster durch die offene Luke. Er war schon vollständig angekleidet.

 

»Was ist denn los?« fragte Cynthia schnell.

 

Er wandte sich nach ihr um.

 

»Es ist alles in Ordnung – nur weiß Penelope jetzt alles.«

 

»Sie weiß alles«, wiederholte sie wütend, »wer hat es ihr denn gesagt – etwa du?«

 

»Orford hat den ganzen Morgen mit ihr gesprochen. Ich glaube, sie hat ihm auch alles mitgeteilt.«

 

»Was denn?«

 

»Sie wird ihm von den Banknoten und den Radierungen in dem Koffer erzählt haben.«

 

Cynthia lächelte.

 

»Wenn er die finden will, dann muß er ein sehr tüchtiger Taucher sein. Ich habe sie selbst im Meer versenkt.«

 

»Sie hätten verbrannt werden müssen«, erwiderte er, während er noch immer durch das Fenster schaute. »Ich habe dir immer gesagt, daß es viel besser gewesen wäre, sie zu verbrennen. Aber jetzt ist es zu spät, um noch darüber zu streiten. Wenn sie nun einen Eid darauf leistet, was sie gesehen hat dann wird die Sache für uns beide sehr unangenehm.«

 

Cynthia erhob sich und zog ihren Morgenrock an, bevor sie antwortete.

 

»Du bist ein Narr. Ich hätte niemals gedacht, daß du ein solcher Schwächling wärst. Wenn sie auch schwört! Ihr Wort steht dann gegen ein Urteil. Du glaubst doch nicht, daß man deshalb eine Strafe aufhebt?«

 

»Whiplow ist auch an Bord«, fuhr er fort, ohne auf ihre Frage zu achten.

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Whiplow ist hier?«

 

»Er gehört zu den Schiffbrüchigen, die letzte Nacht von dem Schiff gerettet wurden. Er war in dem zweiten Boot. Offensichtlich war er mit Spinner auf dem Weg nach Madeira, als die ›Pealego‹ auf eine Klippe auflief. Ich hörte es, als sich Whiplow mit dem Captain unterhielt.«

 

»Hast du ihn selbst gesprochen?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Es ist nicht vorteilhaft für uns, ihn überhaupt zu kennen. Ich glaube nicht, daß er sehr zurückhaltend sein wird, aber ich muß ihn eben zum Schweigen bringen. Deswegen bin ich auch so früh aufgestanden, aber der Kerl schläft ja unheimlich lange.«

 

*

 

Sie setzte sich auf ihr Bett, um die Lage zu überdenken.

 

»Ich sehe nicht, daß seine Anwesenheit hier viel an der Situation ändert«, meinte sie dann.

 

Er wandte sich nach ihr um.

 

»Sie ändert sehr viel«, sagte er langsam, »das wirst du noch entdecken.«

 

»Wieso denn?«

 

»Obgleich du eine so schlaue Frau bist, kannst du doch manchmal auch furchtbar beschränkt sein. Ich gehe jetzt an Deck. Soll ich dir das Frühstück in die Kabine schicken?«

 

Sie schüttelte sich.

 

»Ich sehe, daß es dir noch nicht gut geht. Ich werde dir Keks und Sodawasser bringen lassen.«

 

Der erste, den er an Deck traf, war Mr. Orford, der in ungewöhnlich froher Stimmung war.

 

»Wie geht es unserem Freund heute morgen?« fragte Dorban.

 

»Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber ich vermute, daß ihm das Frühstück besser schmeckt als Ihnen. Es geht doch nichts über ein gutes Gewissen.«

 

Arthur lächelte.

 

»Wie können Sie darüber sprechen? Sie gehören doch auch zu dem Komplott, und ich vermute, daß Sie sich unter Arrest befinden.«

 

»Ich stehe nur unter Verdacht«, gab Xenocrates Orford vorsichtig zu. »Aber wer steht nicht unter Verdacht?«

 

Arthur lachte.

 

»Ich zum Beispiel nicht. Warum haben Sie sich denn überhaupt in die ganze Sache eingelassen? Das muß Sie doch eine unheimliche Menge Geld gekostet haben? Und Sie können doch nicht behaupten, daß Sie großen Erfolg gehabt hätten?«

 

»Mein Herr, wir sind noch nicht am Ende. Ich habe genügend Zutrauen zu meinem guten Stern, um in einer Krisis wie der jetzigen vollkommen ruhig zu bleiben.«

 

»Es gehören aber schon ganz besondere Glücksumstände dazu, aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen.«

 

Mr. Orford entdeckte eine dünne Rauchfahne am Horizont.

 

»Das ist doch die ›Polyantha‹?« rief er erregt.

 

Mr. Dorban mußte laut lachen.

 

»Ich hoffe, daß es die ›Polyantha‹ ist, denn ich habe es satt, auf diesem verdammten Tanker zu fahren. Ich will Ihnen nichts vorenthalten, Mr. Orford. Als Mr. Spinner meinen Vetter gestern verhaftete, fand man in seiner Tasche auch ein kleines Codebuch, das uns in die Lage versetzte, eine Botschaft an die ›Polyantha‹ zu senden. Wir forderten sie auf, so schnell wie möglich zu uns zu kommen. Glücklicherweise fuhr sie mit uns parallel. Sie sehen, Mr. Orford«, sagte er beinahe entschuldigend, »wir haben uns entschlossen, die ganze Bande zu fangen, einschließlich Mr. Bobby Mills.«

 

»Ich sehe«, sagte Mr. Orford und nickte.

 

In diesem Augenblick erschien John in Begleitung Mr. Spinners. Er begrüßte Mr. Orford durch ein Kopfnicken und sah seinen Vetter ruhig an, der ihn unverschämt anlächelte.

 

»Mr. Spinner sagt mir eben, daß die ›Polyantha‹ mit größter Geschwindigkeit auf uns zukommt. Dann haben wir wenigstens eine angenehme Reise nach England«, wandte sich John an den Kriminalbeamten. »Vermutlich ist es ganz gegen die Vorschriften, daß ich einige Worte mit Mr. Orford wechsle?«

 

Spinner zögerte.

 

»Ich weiß nicht, ob es darüber besondere Vorschriften gibt. In meiner Gegenwart können Sie ruhig mit ihm sprechen.«

 

»Ich danke Ihnen.«

 

John sah Dorban an, der sich mit einem Achselzucken zurückzog.

 

»Ist Miss Pitt sehr aufgeregt?«

 

»Ein wenig«, sagte Mr. Orford vorsichtig. »John, wissen Sie noch, ob ich Captain Willit den Auftrag gab, Miss Pitts Kabine sorgfältig zu durchsuchen? Ich bin jetzt so verwirrt, daß ich es nicht mehr genau sagen kann.«

 

John nickte.

 

»Ja, ich weiß genau, daß Sie ihm den Auftrag gaben – aber warum fragen Sie mich?«

 

Mr. Orford konnte seine Aufregung kaum verbergen.

 

»Ich möchte es Ihnen jetzt noch nicht sagen – vielleicht werden Sie es auch nie erfahren.« Dann wandte er sich an den Kriminalbeamten. »Können Sie sich auch noch an die Gerichtsverhandlung erinnern, Mr. Spinner?«

 

»Ich habe Lord Rivertor seinerzeit verhaftet.«

 

»Können Sie sich noch auf die Verteidigung in dem Prozeß besinnen?«

 

Der Inspektor lächelte schwach.

 

»Da war nicht viel zu verteidigen, Mr. Orford. Man behauptete, die ganze Sache sei eine wissentlich, falsche Beschuldigung und alles Beweismaterial sei künstlich gegen Feltham zusammengetragen. Die Maschinen, die Instrumente und die falschen Banknoten sollten während seiner Abwesenheit ins Haus geschafft worden sein.«

 

»Denken Sie auch noch daran, daß John Feltham erklärte, er habe zwei Radierungen an einen Fremden verkauft, den er später niemals wiedergesehen habe, und daß das falsche Geld, das man in seinem Besitz fand, der Kaufpreis für die zwei Radierungen war?«

 

Der Polizeiinspektor nickte.

 

»Nehmen wir nun einmal an«, Orfords Stimme sank zu einem Flüstern herab, »also nehmen wir einmal an, ich würde die Quittung über den Verkauf der Radierungen finden, Lord Rivertor könnte den Mann, der sie kaufte, identifizieren und wir könnten obendrein noch eine Zeugin beibringen, die die Radierungen im Besitz der Familie Dorban gesehen bat …«

 

Spinner runzelte die Stirn und dachte nach. Mr. Orfords Gründe waren sehr überzeugend.

 

»Das würde allerdings einen großen Unterschied machen. Das Justizministerium würde das Verfahren wiedereröffnen, und wenn es bewiesen werden könnte –« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube nicht, daß Ihnen dieser Nachweis gelingen wird. Die Quittung, die Sie vorzeigen, könnte doch gefälscht sein!«

 

»Ich möchte Sie ins Vertrauen ziehen«, sagte Orford und schaute argwöhnisch auf Arthur, der an der Reling lehnte. »Ich bringe jetzt ganz neue Gesichtspunkte.« Mr. Orford sprach sehr schnell, und John hörte erstaunt zu, als er alles berichtete, was er am Morgen von Penelope erfahren hatte.

 

Während er noch bei seiner Erzählung war, kam ein Mann an Deck und klopfte Arthur Dorban vertraulich auf die Schulter. Sie konnten ihn zuerst nur von hinten sehen, aber plötzlich wandte er sich um.

 

»Wer ist das?« fragte Orford.

 

John drehte sich auch um, dann sprang er mit einem Aufschrei auf den Fremden zu und packte ihn an der Kehle.

 

»Kennen Sie mich wieder?«

 

Whiplow wand sich unter seinem festen Griff, Sein Gesicht war aschfahl.

 

»Ich kenne Sie nicht – ich habe Sie niemals gesehen. Lassen Sie mich doch in Ruhe!«

 

John ließ ihn los.

 

»Dies ist der Mann, der damals in mein Atelier kam, zwei Radierungen von mir kaufte und mir die falschen Banknoten dafür gab! Das ist der Mann, den meine Freunde so lange gesucht haben und der spurlos verschwunden zu sein schien!«

 

»Sie sind verrückt«, rief Whiplow atemlos und zog seinen Rock zurecht. »Sie sind mir vollständig fremd!«

 

Der Kriminalbeamte nahm John am Arm und führte ihn fort.

 

Eine halbe Stunde später ging Mr. Spinner allein an Bord der ›Polyantha‹ und kehrte erst nach zwei Stunden zurück. Penelope stand an der Reling und sah erregt auf das Boot. Die Pulse in ihren Schläfen hämmerten, als sie sah, daß Spinner eine gelbe Wolljacke über dem Arm trug. Ob die Quittung noch in der Tasche war? Sie schaute sich nach Mr. Orford um, konnte ihn aber nicht entdecken. Auch Whiplow war nicht oben an Deck. Arthur und Cynthia standen an der Reling und schauten auf das Fallreep hinunter. Sie schienen etwas bestürzt zu sein.

 

»Warum sind wir eigentlich nicht alle auf die ›Polyantha‹ gegangen?« fragte Cynthia nervös. »Warum ist er allein –«

 

»Frage ihn doch selbst«, erwiderte El Slico lakonisch, als Mr. Spinner jetzt die Treppe heraufkam.

 

»Wo ist denn Ihr Freund?« fragte er Arthur. Es lag ein unangenehmer Ton in seiner Stimme.

 

»Meinen Sie Whiplow? Der ist unten, soviel ich weiß. Aber er ist durchaus kein Freund von mir, Inspektor.«

 

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Spinner nach unten, um den Mann zu suchen.

 

*

 

Hinter der verschlossenen Tür von Mr. Orfords Kabine fand eine Unterhaltung statt.

 

»Ich kenne zwar die Gesetze nicht so genau, Whiplow«, erklärte Mr. Orford, »aber ich vermute, daß die Leute auch auf Indizienbeweise hin verurteilt werden können. Und was machen Ihnen denn ein paar Jahre Gefängnis aus, wenn Sie nachher ein großes Vermögen haben?«

 

»Aber wer garantiert mir dafür, daß Sie Ihr Versprechen auch halten und mich nachher auszahlen?« fragte Whiplow etwas zaghaft.

 

»Sie müssen mir eben trauen«, meinte Mr. Orford. »Das ist keine große Forderung, die ich an Sie stelle. Ich habe so viel Beweismaterial in der Hand, daß ich Sie an den Galgen bringen könnte. Nun, mein Junge –«, er legte ihm die Hand auf die Schulter, »wollen Sie nicht vernünftig werden, bevor ich die Sache dem Gericht übergebe?«

 

Whiplow starrte düster auf den Fußboden.

 

Mr. Orford spielte nun seinen letzten Trumpf aus, aber das wußte der andere nicht.

 

»Spinner weiß über Sie Bescheid. Wir haben außerdem die Quittung über das Geld, das Sie für Ihren Verrat bekommen haben. Die Dorbans werden das Schiff gefesselt verlassen. Wollen Sie auch für Lebenszeit eingesperrt werden, oder wollen Sie nun endlich vernünftig werden?«

 

»Ich habe noch niemals jemanden verraten«, erwiderte Mr. Whiplow nervös. »Und es gibt doch keine direkten Beweise gegen mich. Wie weiß ich denn, daß Sie mir nachher die Summe zahlen werden?«

 

Mr. Orford hatte ihn fast überzeugt, als draußen an die Tür geklopft wurde. Mit erstaunlicher Ruhe öffnete er die Tür. Inspektor Spinner stand vor ihm und hielt ein Blatt Papier in der Hand. Es war die Quittung, die er in der Wolljacke gefunden hatte.

 

»Ich glaube, das fehlte Ihnen noch«, sagte er.

 

Aber bevor Orford etwas erwidern konnte, stieß ihn Whiplow beiseite und starrte auf das zerknitterte Papier.

 

»Das ist der Beweis«, sagte er niedergeschmettert.

 

Mr. Orford aber seufzte tief und ließ sich schwer aufs Sofa niederfallen.

 

Kapitel 22

 

22

 

Mr. James Xenocrates Orford saß an seinem Schreibtisch und schaute in den Hyde Park hinaus.

 

Der Nachmittag war angenehm kühl, und alle Fenster standen offen, denn an diesem Nachmittag spielte die Kapelle, und die tiefe Baßmelodie des Bombardons klang in großen Zwischenräumen zu ihm hinüber.

 

Er hatte einen etwas stürmischen Monat hinter sich. Besonders der zehnte Tag auf der ›Polyantha‹ war sehr aufregend gewesen, denn er hatte eine Hochzeitsfeier organisieren müssen, die Penelope Pitt zur Gräfin Penelope von Rivertor machte. Es war eine sehr einfache Feier gewesen. Eine alte Seifenkiste, die mit der englischen Flagge zugedeckt war, hatte als Altar gedient.

 

Captain Willit hatte siebenmal den richtigen Text verloren und hatte aus Versehen beerdigt, getauft und zwei junge Leute in den Priesterstand erhoben.

 

Später hatte Mr. Orford vor unzähligen Richtern, Beamten und sogar vor dem zuständigen Unterstaatssekretär unendlich viele Zeugenaussagen machen müssen. Und zum Schluß hatte er dann noch die Hochzeitsreise und die Flitterwochen organisiert.

 

Er saß und lauschte den Tönen der Kapelle, und er hörte nicht, daß seine Sekretärin hereintrat. Erst als sie dicht neben ihm stand und ihn ansprach, wurde er aufmerksam.

 

»Nun, was gibt es? Mr. Mills will mich sprechen? Führen Sie ihn bitte herein.«

 

Wenige Augenblicke später stand Robert Stamford Mills vor ihm.

 

»Hallo, Bobby!«

 

Bobby drückte Mr. Orford bewegt die Hand.

 

»Sie wollen wohl Ihre Rechnung bezahlen? Sie können Ihren Scheck dort mit dem Löscher trocknen. So, ich danke Ihnen auch vielmals.«

 

Er besah sich den Scheck nachdenklich.

 

»Das ist ja sehr großzügig. Aber schließlich haben wir ja Lord Rivertor gerettet, und er ist nun sehr glücklich. Was für eine prachtvolle Frau!«

 

Er seufzte schwer und sah verzweifelt auf das kleine Blatt Papier in seiner Hand.

 

»Es gibt Augenblicke, in denen ich mich ärgere, daß ich … so dick … und so alt bin …«

 

Aber trotzdem steckte er lächelnd den Scheck in seine Brieftasche.

 

Kapitel 3

 

3

 

Der Decksteward mußte sich geirrt haben. Penelope sagte sich das tausendmal auf der Fahrt zwischen Liverpool und London. Es war doch zu absurd und lächerlich, daß dieser liebenswürdige, nette Herr der Boss einer gemeinen Verbrecherbande sein sollte, die unglückliche Opfer ausplünderte. Mr. Beddle hatte sich ganz bestimmt getäuscht. Mr. Dorbans Gesichtszüge waren nicht besonders charakteristisch, und man konnte ihn leicht verwechseln. Wozu sollte ein Falschspieler auch eine Sekretärin engagieren? Und warum sollte er zurückgezogen in einem Dorf in Devonshire leben? Sie wußte doch, daß Mr. Dorban eine große Erbschaft in Aussicht hatte. Außerdem hatte er so viel zu tun, daß er eine Sekretärin brauchte.

 

Mr. Dorban und seine Frau hatten sich ziemlich nachlässig und gleichgültig begrüßt. Keiner der beiden schien über das Wiedersehen besondere Freude zu fühlen.

 

Mr. Dorban hatte in der Bahn ein ganzes Abteil reservieren lassen, so daß sie allein blieben. Penelope wunderte sich, warum sie nicht in den Gang hinausgehen durfte. Sie hätte die beiden gern allein gelassen, damit sie sich nach so langer Trennung ungestört unterhalten konnten, aber sobald sie ihre Absicht andeutete, wurde sie von Cynthia zurückgehalten.

 

Mr. Dorban war ein interessanter Gesellschafter. Penelope schien es, als ob er die ganze Zeit von Abgang des Zuges bis nach London erzählte. Er sprach mit einer klangvollen, angenehmen Stimme und war sehr unterhaltend.

 

Er hatte braune Augen, und im allgemeinen liebte Penelope Männer mit braunen Augen nicht. Aber Mr. Arthur Dorban gefiel ihr trotzdem ganz gut. Sie fühlte sich eigentlich mehr zu ihm als zu Cynthia hingezogen. Kanada kannte er freilich nur oberflächlich.

 

»Ich bin einmal dort gewesen, als ich noch jung war«, sagte er. »Aber ich liebe Seereisen nicht. Ich will lieber freiwillig zehntausend Pfund zahlen als eine Reise über den Atlantischen Ozean machen.«

 

»Sind Sie früher häufig in Amerika gewesen?« fragte Penelope neugierig.

 

»Ich habe den Atlantik zweimal überquert«, entgegnete er vergnügt lächelnd. »Ich mußte das zweimal tun, weil ich sonst nicht nach England zurückgekommen wäre, Miss Pitt!«

 

Die Nacht verbrachten sie in einem kleinen Londoner Hotel, Mrs. Dorban nahm ein Auto und fuhr mit Penelope durch den Hyde Park. Das Mädchen war erstaunt und erfreut. Sie hatte sich London immer als einen Haufen niedriger, schmutziger Ziegelhäuser vorgestellt. Der Park machte einen großen Eindruck auf sie. Hinter dem dunklen Grün der Bäume tauchten die Türme und hohen Gebäude der Stadt auf. Sie war begeistert von dem Anblick der herrlichen Blumenbeete und des silberhellen Wassers.

 

Am nächsten Morgen fuhren sie mit dem Frühzug nach Torquay und erreichten spät am Mittag Borcombe.

 

Stone House, der Wohnsitz der Dorbans, lag nach der See zu in einer Talmulde der mit Grün bestandenen Dünen. Das Haus war ziemlich unregelmäßig gebaut. Oben von den roten Steinklippen aus konnte man es nicht sehen, und unten war es nach der Küste zu hinter einer Reihe von Ahornbäumen halb verborgen. Es war Ende des achtzehnten Jahrhunderts von einem Mann errichtet worden, der sich völlig von der Welt zurückgezogen und nur noch seinen Liebhabereien gelebt hatte.

 

Ein ziemlich steiler, enger Weg führte von den Klippen abwärts zu dem Gebäude. Seine schwere Zugänglichkeit war schon seit Generationen allen Handelsleuten ein Dorn im Auge.

 

Penelope erschien dieses Anwesen wie ein Paradies. Auf abschüssigem Gelände zog sich der Garten hin, in dem farbenprächtige Blumen wild wuchsen oder vom Gärtner gezogen wurden. Unten bildete eine Ziegelmauer die Grenze. Durch ein altes Tor kam man von hier aus auf einem Privatweg – es war eigentlich weniger ein Weg als eine Reihe von Steinstufen, die auf einer breiten Felsplatte endeten – zu dem Schuppen, in dem Mr. Dorbans starkes Motorboot untergebracht war. Die Natur hatte hier eine ideale Anlegestelle geschaffen, denn das Bootshaus, dessen Dach von zwei Felsen getragen wurde, lag an der innersten Stelle einer kleinen Bucht und wurde bei stürmischer See durch zwei Felsenriffe geschützt, die ziemlich weit vorsprangen und einen natürlichen Hafen bildeten.

 

»Entzückend, nicht wahr?« fragte Cynthia gleichgültig. Sie schien sich kaum für solche Dinge zu begeistern oder auch nur zu interessieren, sie war vollkommen auf die praktische Seite des Lebens eingestellt. »Es ist ein langer Weg bis zum Dorf, aber wir haben ein Auto, damit wir nicht hinaufklettern müssen. Können sie eigentlich selbst fahren?«

 

Penelope nickte.

 

»Schön. Und jetzt sehen Sie sich Ihr Zimmer an.«

 

Cynthia führte sie eine breite Treppe empor, dann durch einen langen, dunklen Gang, an dessen Ende das Zimmer lag. Es war klein und einfach eingerichtet, aber es hatte zwei Fenster, durch die man auf die smaragdgrüne See und die dunkelroten Klippen blicken konnte.

 

Penelope atmete tief ein, als sie diese Schönheit sah.

 

»Gefällt es Ihnen?« fragte Cynthia und beobachtete sie genau.

 

»Es ist herrlich!«

 

Mrs. Dorban lachte kurz auf. »Für mich ist es die Hölle«, sagte sie.

 

*

 

Die Tage vergingen erstaunlich schnell. Penelope fand viel mehr Arbeit vor, als sie zuerst erwartet hatte. Ein Zimmer im Erdgeschoß war als Arbeitszimmer eingerichtet, und gewöhnlich ließ man sie dort allein.

 

Nach dem Frühstück, das sie in dem dunkelgetäfelten Speisezimmer einnahm, ging sie in das Arbeitszimmer und war dann bis zur Mittagszeit dauernd mit Pachtverträgen und anderen Dokumenten beschäftigt, die sich auf Güter in den verschiedenen Teilen des Landes bezogen.

 

Es waren keine Originale, sondern beglaubigte Abschriften, die offenbar von einem Londoner Rechtsanwalt beschafft worden waren. Penelope war damit betraut worden, den ungefähren Wert der Liegenschaften und Güter festzustellen. Um ihr diese Aufgabe zu erleichtern, standen unzählige Verkaufskataloge, Auktionsberichte und Statistiken über Landverkäufe zu ihrer Verfügung.

 

»Natürlich kann ich nicht von Ihnen verlangen, daß Sie den genauen Wert jeder Besitzung ausrechnen«, erklärte Mr. Dorban am ersten Morgen, als sie ihre Arbeit begann. »Es ist verteufelt schwer, ihn auch nur annähernd festzustellen. Aber die Preise sind in England ziemlich gleich, und der Wert eines Gutes in Norfolk entspricht ungefähr dem eines andern von derselben Größe.«

 

Zu ihrer weiteren Unterstützung erhielt sie noch den Anzeigenteil der Times und anderer Zeitungen, wenn da von Landverkäufen die Rede war. Aber die übrigen Seiten der Zeitungen bekam sie während ihres ganzen Aufenthaltes in Stone House nicht zu sehen.

 

Sie fand es ein wenig schwierig, Cynthias Angabe, daß ihr Mann Forscher sei, mit den Tatsachen in Einklang zu bringen. Im ganzen Haus entdeckte sie keine zwanzig Bücher. Cynthia war zwar bei einer Leihbibliothek abonniert, und stets wurden die neuesten Bücher geschickt. Aber weder Cynthia noch ihr Mann nahmen je Gelegenheit, hineinzuschauen. Schließlich nahm Penelope an, daß man nur ihr damit eine Unterhaltung verschaffen wollte, und mit dieser Vermutung hatte sie auch recht.

 

Mit den Dienstboten sprach Penelope niemals, denn sie verstand sie nicht. Alle Angestellten, mit Ausnahme des Gärtners, waren Franzosen, und Penelopes Kenntnisse in dieser Sprache waren gering.

 

Nachmittags und abends hatte sie frei und konnte tun, was sie wollte. Das stimmte allerdings nicht ganz, denn sie durfte niemals allein zum Dorf gehen. Cynthia oder Mr. Dorban begleiteten sie stets dorthin. Manchmal fuhr sie auch in seinem Wagen in der Gegend spazieren, und manchmal machten die drei eine Fahrt mit dem Motorboot, der ›Princess‹. Aber Penelope hatte das unangenehme Gefühl, stets bewacht zu werden, und dagegen lehnte sie sich auf.

 

Eines Tages trat eine neue, vielleicht unvermeidliche Verwicklung ein.

 

Cynthia war nach London gefahren, um einige Besorgungen zu machen. Penelope arbeitete in ihrem Raum, als Mr. Dorban hereinkam. Er war wie gewöhnlich tadellos gekleidet.

 

»Lassen Sie doch diese verrückten Dinge und kommen Sie mit zum Fischfang hinaus«, sagte er.

 

Penelope zögerte. Seine Haltung ihr gegenüber war stets einwandfrei und korrekt gewesen. Sie suchte sich zu entschuldigen, aber er ließ keinen Grund gelten.

 

»Unsinn! Die Arbeit kann bis morgen warten. Sie haben zwei Jahre Zeit, diese schrecklichen Papiere in Ordnung zu bringen.«

 

»Ich habe mich schon oft gewundert, warum Sie das alles nicht selbst machen«, meinte Penelope, als sie die Stufen zur Küste hinunterstiegen. »Die Arbeit ist doch nicht schwer, und Sie verstehen die Sache doch besser als ich.«

 

Er pfiff leise vor sich hin, wie es seine Gewohnheit war, und schwieg eine Weile. Erst als sie das Bootshaus erreicht hatten, sprach er wieder. »Ich hasse Zahlen und Büroarbeit jeglicher Art. Ich bin mehr für die freie Natur geschaffen, für die See.«

 

»Ich dachte, Sie könnten das Meer nicht leiden.«

 

»Ich liebe keine großen Schiffe und vor allem keine langen Reisen«, erwiderte er kurz und sprach dann über etwas anderes.

 

Das Boot fuhr in das ruhige Wasser der Bucht von Borcombe hinaus. Penelope saß am Steuer; Mr. Dorban, der einen weißen Staubmantel angezogen hatte, bediente den starken Motor.

 

Als sie drei Meilen von der Küste entfernt waren, stoppte er plötzlich die Maschine und setzte sich.

 

»Nun, was halten Sie von England?« fragte er.

 

»Wollen wir jetzt nicht fischen?«

 

Er schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Angelschnüre dabei. Fischen langweilt mich auch. Kommen Sie zu mir.«

 

Der vordere Teil des Bootes war sehr bequem eingerichtet. Aber sie zögerte. Sie hatte das Gefühl, daß eine unangenehme Situation eintreten könnte, und es tat ihr jetzt leid, daß sie mitgefahren war.

 

Mr. Dorban hatte sich über den kleinen Tisch geneigt; in der schmalen Hand hielt er Spielkarten, die er mechanisch mischte. Seine melancholischen braunen Augen schauten auf die Küste zurück, und seine Mundwinkel zogen sich nach unten, als ob plötzlich ein großer Schmerz über ihn gekommen wäre. Der Wechsel in seiner Haltung war so auffallend, daß sie ihn verwundert anschaute. Plötzlich wandte er sich nach ihr um. »Was halten Sie eigentlich von Cynthia?« fragte er unerwartet.

 

»Das ist eine merkwürdige Frage.« Penelope zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Sie ist nicht merkwürdig, sie ist ganz natürlich. Sehen Sie her, ich will Ihnen einen Trick zeigen. Mischen Sie die Karten.«

 

Er schob ihr das Päckchen hin, und sie nahm es auf. »Mischen Sie doch!« sagte er ungeduldig, und sie gehorchte.

 

»Cynthia ist eine kaltblütige Natur, das wird Ihnen auch schon aufgefallen sein. Sie hat ihren eigenen Willen, und es ist schwer, mit starrköpfigen Menschen zusammenzuleben.«

 

»Hier sind die Karten.«

 

Er nahm sie in seine schlanken Hände. Einen Augenblick blätterte er sie durch, und das Weiß und Gold der Ränder verschwamm undeutlich ineinander. Dann legte er sie mit einer eleganten Bewegung vor sie auf den Tisch: As, König, Dame, Bube, Zehn und so weiter – die ganze Reihe entlang. Farbe für Farbe war geordnet, jede Karte lag nach ihrem Wert an der richtigen Stelle.

 

Penelope schaute ihn verwirrt an, denn sie hatte die Karten gründlich gemischt, und er legte die Karten so auf, als ob sie sie genau der Reihe nach geordnet hätte.

 

El Slico! Die Worte des Deckstewards fielen ihr wieder ein.

 

»Nun?« Er lachte.

 

»Wie haben sie das gemacht?« fragte sie verwundert. Über ihrem Interesse vergaß sie ihren Argwohn.

 

»Mischen Sie noch einmal!«

 

Sie tat es wieder und sortierte die Karten absichtlich so, daß auch nicht zwei von einer Farbe zusammenblieben. Er nahm sie, und gleich darauf legte er sie wieder wohlgeordnet auf.

 

»Ein so großartiges Kartenkunststück habe ich noch niemals gesehen!« entfuhr es Penelope.

 

»Macht Ihnen das Spaß?« fragte er gleichgültig und ließ die Karten wieder in seine Tasche gleiten. »Aber Sie haben mir noch gar nicht gesagt, was Sie von Cynthia halten.«

 

»Diese Frage habe ich, offen gesagt, nicht von Ihnen erwartet. Ich möchte nicht darauf antworten. Sie war sehr freundlich zu mir.«

 

»Da irren Sie. Cynthia ist niemandem freundlich gesinnt. Manchmal wünschte ich, daß sie tot wäre.« Er sagte das so ruhig, daß sie kaum ihren Ohren trauen wollte.

 

»Aber Mr. Dorban«, rief sie entsetzt.

 

Er mußte lachen.

 

»Sie denken, daß ich ein brutaler Mensch sei – aber das stimmt nicht. Ich weiß nur keinen anderen Weg, Cynthia loszuwerden … Sie schauen mich ja so entgeistert an, als ob Sie glauben, ich wolle sie ermorden. Das ist durchaus nicht der Fall. Ich konstatiere nur eine unangenehme Tatsache. Es gibt für mich keine andere Möglichkeit, mich von ihr zu trennen. Ich habe die Sache mit ihr besprochen. Es wird Sie interessieren, das zu erfahren. Sie weiß ganz genau, daß ich sie nicht entfernen kann. Ich kann mich nicht von ihr scheiden lassen, und sie läßt sich auch nicht von mir scheiden. Ich kann nicht von ihr fortgehen aus Gründen, über die ich jetzt nicht sprechen möchte. Ich kann sie nicht schlecht behandeln, weil es nicht in meinem Charakter liegt, Damen irgendwie zu beleidigen. Das widerstrebt meiner Natur. Nicht einmal für unheilbar geisteskrank kann ich sie erklären lassen, denn sie ist die vernünftigste Person, die ich kenne. Und doch sehne ich mich nach dem Verständnis und der Liebe, die ich bei Cynthia niemals gefunden habe. Wir sind nämlich nur im Sinne des Gesetzes miteinander verheiratet. Was Liebe und Zuneigung bedeutet, weiß Cynthia überhaupt nicht.«

 

Penelope hatte bestürzt zugehört.

 

»Natürlich weiß Cynthia das alles, und ich glaube, sie hat Sie nur deswegen engagiert, damit Sie mich trösten.«

 

»Wissen Sie auch, was Sie da sagen?« fragte Penelope streng.

 

»Ich weiß genau, was ich sage« entgegnete Mr. Dorban und zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe Sie um Ihre Liebe gebeten.«

 

Penelope erhob sich und ging wieder nach hinten. Er folgte ihr.

 

»Wir wollen wieder nach Hause fahren. Da Sie nicht auf meine Bitte eingegangen sind, wollen wir auch nicht mehr darüber sprechen. Vergessen Sie, daß ich jemals davon gesprochen habe. Wenn Sie mir nicht mehr vertrauen und nach Kanada zurückkehren möchten, werde ich dafür sorgen, daß Sie morgen abfahren können, selbst wenn Cynthia nicht damit einverstanden sein sollte. Wenn Sie sich aber auf der anderen Seite auf mein Wort verlassen wollen, auf das Wort El Slicos –«

 

»El Slico!«

 

Er lachte leise vor sich hin.

 

»Natürlich wußten Sie, daß ich El Slico bin. Ich sah, wie Sie neben dem alten Beddle standen. Er kennt mich sehr gut und hat Ihnen sicher gesagt, wer ich bin. Ja, ich bin El Slico. Aber erwähnen Sie Cynthia gegenüber nicht, daß Sie das wissen. Sie würde tausend Ängste ausstehen, wenn sie erführe, daß ich erkannt worden bin.«

 

»Aber Mr. Dorban«, sagte das junge Mädchen entsetzt. »Sie können doch nicht erwarten, daß ich bei Ihnen bleibe!«

 

»Sie können bleiben oder gehen, wie Sie wünschen«, erwiderte Arthur Dorban und warf den Motor an. »Ich selbst kann Ihnen nur den guten Rat geben, zu bleiben. Sie werden zugeben, daß ich offen war und mir Ihnen gegenüber nichts zuschulden kommen ließ. Ich würde an Ihrer Stelle nicht nach Kanada zurückgehen. Sie können ruhig auch Cynthia alles erzählen – sie wird die Sache wahrscheinlich schon vermutet haben. Ich glaube allerdings nicht, daß sie Sie wegen Ihrer Zurückhaltung besonders achten wird oder daß sie eine besondere Tugend darin sieht, daß Sie mich abschlägig beschieden haben.«

 

Penelope antwortete nicht und blieb den ganzen Nachmittag in ihrem Zimmer. Sie war in einer merkwürdigen Lage. Wenn das in Kanada vorgefallen wäre, hätte sie gewußt, was zu tun war. Aber unter diesen Umständen, in einem fremden Lande, ohne Freunde, ganz allein, fiel es ihr sehr schwer, einen Ausweg zu finden.

 

Die Aufrichtigkeit dieses Mannes hatte natürlich einen gewissen Eindruck auf sie gemacht. Sie wußte ja noch nicht, daß El Slicos größte Stärke in seiner einnehmenden Offenherzigkeit lag. Sollte sie sein Angebot annehmen und abfahren, oder sollte sie noch einige Zeit auf ihrem Posten bleiben, bis sie das nötige Geld zusammengespart hatte, um sich eine Stelle in London suchen zu können? Ob es nun richtig oder falsch war, Penelope entschied sich dafür, zu bleiben.

 

Als sie schon am Einschlafen war, erinnerte sie sich plötzlich daran, daß irgendwo in London ein gewisser Mr. James X. Orford wohnte, an den sie sich ja wenden konnte, wenn sie in Gefahr kam.

 

Kapitel 15

 

15

 

Es war noch sehr dunkel, aber John führte die kleine Gesellschaft, ohne sich auch nur im geringsten zu besinnen, direkt auf die Klippen zu. Plötzlich leuchtete eine elektrische Taschenlampe auf, und Penelope sah einen engen, dunklen Spalt in dem Felsen vor sich.

 

»Hier ist die Höhle, in der wir früher Räuber gespielt haben. Wir müssen jetzt sofort hineingehen, denn die Flut kommt bald, und das Wasser bedeckt dann gewöhnlich den Eingang. Aber drinnen steigt der Fußboden an, und wir werden eine Plattform. finden, wo wir uns trocken und behaglich aufhalten können.«

 

Er setzte den großen Korb nieder, den er mitgenommen hatte, nahm eine Laterne heraus und steckte sie an. Die Höhle war tief und vorne sehr eng, so daß man das Licht im Innern vom Wasser aus nicht sehen konnte.

 

Die Höhle war nahezu dreißig Meter hoch. Im hinteren Teil erhob sich die Plattform, von der John gesprochen hatte. Er sprang hinauf, streckte die Hand aus und half Penelope nach oben. Drei Öffnungen waren hier zu sehen, die so regelmäßig angeordnet waren, als ob sie von Menschenhand angelegt worden seien.

 

»Das sind natürliche Felsenkammern. Wenn wir die Nacht hier zubringen müssen, ist die auf der linken Seite für Mr. und Mrs. Dorban bestimmt; Sie können in der rechten schlafen, Miss Pitt. Die Höhle ist noch ungefähr achthundert Meter tiefer. Ich werde jedem von Ihnen eine Laterne mitgeben, die brauchen Sie, selbst wenn draußen die Sonne scheint.«

 

Penelope hatte noch kein Wort mit Cynthia gewechselt und nahm auch an, daß diese nicht den Wunsch hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Sie war daher sehr erstaunt und entrüstet, als sich Cynthia plötzlich an sie wandte.

 

»Wie sind Sie denn nur auf dieses Schiff gekommen, Penelope?« fragte sie mit dem liebenswürdigsten Lächeln.

 

John trat dazwischen und ersparte ihr die Antwort.

 

»Ich dulde nicht, daß Sie sich mit Miss Pitt unterhalten«, sagte er streng. »Wie die Sache auch ausgehen mag, ich bin fest entschlossen, Sie vor Gericht zu bringen wegen dieses Verbrechens, das Sie an Miss Pitt begehen wollten.«

 

»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie zu meiner Frau sprechen«, erwiderte Mr. Dorban, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Miss Pitt hat sich sehr schlecht benommen, sie hat meine Ehre tief gekränkt –«

 

John lachte laut auf.

 

»Slico«, sagte er, »Sie amüsieren mich. Sie, ein gemeiner Falschspieler, der sich mit jedem Dieb Europas angefreundet hat, sprechen von Ehre!«

 

Mr. Dorban schien sich wenig aus diesen Worten zu machen.

 

»Was ich früher war, hat hiermit nichts zu tun – ich weiß, wer Sie sind, mein Freund!«

 

Penelope starrte auf den Mann, es lag eine Drohung in dem Ton seiner Stimme, die sie nicht verstehen konnte. Das Geheimnis, das über der ›Polyantha‹ lag, schien sich immer mehr auf den Matrosen John zu konzentrieren.

 

»Wenn ich erst so genau über Sie Bescheid weiß wie Sie über mich, wird es Ihnen sehr schlecht gehen, Mr. Dorban. Und wenn Sie jetzt lieber nichts mehr sagen würden, wäre ich Ihnen zu Dank verbunden.«

 

Er nahm einen kleinen, langen Kasten aus dem Korb und griff nach einer Angelrute, von der ein Draht herunterhing. Dann verschwand er durch den Eingang der Höhle. Nach einer Viertelstunde kam er wieder zurück und legte Angelrute und Kasten auf die Plattform.

 

»Die Leute sind doch tüchtiger, als ich vermutet hatte«, sagte er. »Ihre Funkgeräte arbeiten schon die ganze Zeit. Ich konnte nicht alles verstehen, aber ich glaube, daß Vigo jezt in Verbindung mit einem Kriegsschiff steht, das draußen auf hoher See kreuzt. Die ›Polyantha‹ wird früh am Morgen Besuch bekommen. Hollin, Sie sind gerade noch mit knapper Not entkommen!«

 

Hollin, der zufrieden auf einer Kante der Plattform saß, rauchte aus einer kurzen hölzernen Pfeife und brummte vor sich hin.

 

»Woher wissen Sie denn das alles schon wieder? Was ist denn das eigentlich?« Er runzelte die Stirn und zeigte auf den Kasten.

 

»Das ist eine transportable Funkstation. Mr. Orford hat mich vorsorglich damit ausgerüstet. Wenn sie das Morsealphabet benützt hätten, wäre ich hilflos gewesen, aber glücklicherweise verständigten sie sich durch Sprechfunk. Sie wissen übrigens alles von Ihnen, Hollin.«

 

Allmählich wurde es heller in der Höhle, und das Licht, das durch die Felsspalte hereinfiel, machte den Gebrauch der. Laternen unnötig. Bei Tagesanbruch stieg auch das Wasser. Weiß schäumend brauste es herein und stieg dann immer höher, bis nur noch ein schmaler Spalt vom Eingang frei blieb.

 

John beobachtete aufmerksam, daß das hereindringende Tageslicht immer schwächer wurde. Zu gewissen Jahreszeiten wurde der Eingang der Höhle vollständig von der Flut bedeckt, und das Wasser kam bis an die Plattform heran. Darin lag jedoch keine Gefahr, denn die Höhle war so groß, daß sie genügend Luft und Sauerstoff hatte. Sie waren ja auch nicht zu lange von der äußeren Luft abgeschnitten.

 

Als die Flut ihren Höhepunkt erreicht hatte, machte John sich daran, das Frühstück zu bereiten.

 

Mr. und Mrs. Dorban hatten sich in ihre ›Privathöhle‹ zurückgezogen und sprachen leise miteinander. Hollin lehnte mit untergeschlagenen Beinen an der Felswand. Penelope war allein bei John.

 

»Diese Leute scheinen alles über Sie zu wissen«, brach sie plötzlich das Schweigen. »Ist es etwas, was Ihnen schaden könnte?«

 

»Die Frage könnte man mit Ja und Nein beantworten, Sie wissen nichts von mir, was meine Ehre berührte, aber vieles, was meine Sicherheit gefährdet.«

 

Mit dieser geheimnisvollen Erwiderung mußte sie sich zufriedengeben.

 

Cynthia beobachtete die beiden dauernd und sah, wie sich John zu dem Mädchen hinneigte. Sie vermutete, daß sie vertraulich miteinander sprächen, da sie nur den leisen Klang seiner Stimme hörte. Sie flüsterte ihrem Mann etwas zu.

 

»Du bist verrückt«, sagte Arthur ruhig. »Was schadet es denn, wenn er sich in sie verliebt?«

 

»Er kann sie doch heiraten!«

 

Arthur runzelte die Stirn. »Sie heiraten?« wiederholte er.

 

»Nimm doch einmal an, die beiden heirateten und bekämen ein Kind, du Narr!« sagte sie ärgerlich.

 

»Wie könnten sie heiraten? Du bist die reinste Närrin! Augenblicklich schaut man in jedem spanischen Hafen und in jedem Hafen der Welt nach der ›Polyantha‹ aus.«

 

»Der Captain kann sie doch trauen!« unterbrach sie ihn. »Jeder Captain kann auf hoher See ein Paar trauen. Weißt du denn das nicht? Du bist doch, soviel ich weiß, auch schon auf Schiffen gefahren?« fragte sie sarkastisch.

 

»Ich habe mich niemals um Captains gekümmert«, sagte Mr. Dorban höflich. »Ich glaube, du überschätzt die Möglichkeit, Cynthia. Sie ist doch hübsch, nicht wahr?«

 

Er fragte ganz gleichgültig, und ebenso gleichgültig betrachtete Mrs. Dorban das Profil des Mädchens.

 

»Ja, sie ist hübsch. Hast du mit dem Mann gesprochen?«

 

»Er schläft«, erwiderte Arthur und warf dem schlummernden Hollin einen Blick zu.

 

»Wenn unser Wärter die Höhle verläßt, weckst du ihn auf, Arthur.«

 

Eine Weile später watete John hinaus, um einen kleinen Erkundungsgang zu machen. Er war als einziger mit hohen Seemannsstiefeln ausgerüstet. Aber schon nach wenigen Augenblicken kehrte er wieder zurück.

 

»Es ist nichts zu sehen«, sagte er. »Wir wollen jetzt frühstücken. – Nanu, Sie haben ja meinen Freund Hollin aufgeweckt!«

 

Dorban hatte den Mann nur wecken können, zum Sprechen blieb ihm nicht genügend Zeit. Aber er hatte später Gelegenheit dazu, als das Wasser fiel und John mit Penelope hinausgegangen war, um frische Luft zu schöpfen.

 

»Wenn er Spazierengehen kann, können wir das auch«, revoltierte Hollin. »Wenn er denkt, daß ich hier den ganzen Tag zubringen werde, hat er sich aber schwer geirrt!«

 

Mr. Dorban nickte ihm ermunternd zu.

 

»Er behandelt Sie wie einen Hund«, sagte er. »Ich kann sein Verhalten uns gegenüber wohl verstehen, denn wir sind nicht seine Freunde. Aber ein Mann, der ihm soviel geholfen hat wie Sie –«

 

»Ja, das stimmt, sie behandeln mich wie Dreck!« rief Mr. Hollin aufgebracht. »Und alles nur, weil ich ein paar Worte über diese junge Dame gesagt habe.« Er zeigte mit dem Kopf nach dem Ausgang der Höhle. »Das hat ihn so in Wut gebracht, daß er mir den Schädel einschlagen wollte. Das ist doch keine Art, mit einem Freunde umzugehen!«

 

»Warum dienen Sie ihm denn?« fragte Cynthia freundlich. »Er hat Ihnen wahrscheinlich viel Geld versprochen. Aber wissen Sie denn, ob er sein Versprechen halten wird?«

 

Mr. Hollin wurde unruhig.

 

»Er dürfte es nicht wagen –«, begann er.

 

»Sind Sie Ihrer Sache so sicher?« unterbrach Cynthia ihn und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Was hindert die Leute denn, Sie beiseite zu schaffen, bevor die Jacht nach Südamerika kommt? Das ist doch furchtbar einfach. In irgendeiner dunklen Nacht – Sie verstehen mich doch, Mr. Hollin, ich möchte Sie nicht unnötig erschrecken. Aber ich fühle, daß es meine Pflicht ist, Sie darauf aufmerksam zu machen, mit welchen Leuten Sie sich eingelassen haben. Wer legt denen denn etwas in den Weg, Sie über den Haufen zu schießen und über Bord zu werfen? John würde sich keinen Augenblick besinnen, das zu tun – ein Mann mit diesem Vorleben …«

 

Hollin hatte nicht die geringste Ahnung, welches Vorleben John geführt hatte, aber er erinnerte sich jetzt daran, daß ihm John eines Abends furchtbar gedroht hatte, und er grübelte darüber nach.

 

»Sie kommen jetzt zurück«, sagte Cynthia leise. »Wenn wir erst wieder an Bord der ›Polyantha‹ sind, dann möchte ich einmal mit Ihnen sprechen.«

 

Hollin nickte.

 

Als John aus dem hellen Licht wieder in die dunkle Höhle trat, konnte er zuerst nicht sehen, daß sich die Dorbans in der Nähe von Hollin aufgehalten hatten und sich nun eilig auf den ihnen zugewiesenen Platz zurückzogen.

 

Am frühen Nachmittag nahm er Penelope beiseite.

 

»Ich werde mich jetzt hinten schlafen legen, denn ich muß in der Nacht ganz wach sein. Ich möchte Sie bitten, sich an den Eingang zu setzen und mich zu rufen, wenn irgend etwas passieren sollte. Verstehen Sie mit einer Pistole umzugehen?«

 

»Ich habe schon verschiedentlich geschossen«, sagte sie lächelnd, »aber ich fürchte, ich kann nicht gut zielen.«

 

»Sehen Sie mich jetzt nicht an«, sprach er in seinem gewöhnlichen Ton weiter. »Ich werde eine kleine Pistole in Ihre Manteltasche stecken. Fühlen Sie sie?«

 

»Ja, sie ist sehr schwer. Was soll ich denn damit tun?«

 

»Schießen Sie ruhig«, erwiderte er gelassen, »sobald es nötig ist. Ich glaube nicht, daß die Dorbans irgend etwas unternehmen werden, aber man kann ihnen nie trauen. Wenn jemand die Höhle verlassen will, rufen Sie.«

 

John hatte kaum eine halbe Stunde geschlafen, als Mr. Hollin aufstand. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schlenderte dem Ausgang zu.

 

»Sie dürfen nicht hinausgehen!« rief Penelope in gebieterischem Ton.

 

Er drehte sich um.

 

»Ich lasse mir von einer Frau nichts befehlen«, sagte er verächtlich. Als er aber sah, daß sie sich der inneren Höhle zuwandte, fuhr er hastig fort: »Machen Sie keinen Lärm, es ist doch nur ein Spaß gewesen.« Mit diesen Worten ging er wieder zurück.

 

Um fünf Uhr kochte Penelope Tee auf dem Spirituskocher und brachte auch John eine Tasse. Sie war nun durch die Umstände zu seiner Gehilfin geworden und empfand eine gewisse Genugtuung darüber, daß die anderen sich gegen sie zusammenschlossen.

 

Um sieben Uhr abends stieg die Flut wieder, und nach zehn watete John erneut hinaus.

 

»Von der ›Polyantha‹ ist noch nichts zu sehen«, sagte er, als er zurückkam. »Ich erwarte sie auch kaum vor Mitternacht. Es wird aber nicht einfach sein, bei Flut an Bord zu kommen.«

 

Während der Nacht lösten sich John und Penelope im Wachen ab. Er hatte die Kopfhörer umgelegt, und sie hielt die lange Stange, an der die Antenne hing. Als der Morgen zu dämmern begann, fing er eine Nachricht auf. ›Nicht in dieser Nacht, John.‹

 

In Zwischenräumen von zehn Minuten wurde die Botschaft wiederholt, und er glaubte, Bobbys Stimme zu erkennen.

 

»Dann müssen wir also noch einen Tag hierbleiben«, seufzte John. »Nun müssen Sie aber schlafen. Die kleine Höhle, die ich für Sie bestimmt habe, ist ganz nett. Kommen Sie nur mit.«

 

Sie gingen zusammen hinein, aber plötzlich hob er warnend den Finger. Er hatte das taktmäßige Geräusch von Rudern gehört, und jetzt vernahm sie es auch.

 

»Ist das …?« flüsterte sie.

 

»Nein – sie wollten das Motorboot herschicken. Warten Sie!«

 

Er ging auf die Plattform zurück. Sie sah ihn nur undeutlich in dem Licht des Morgengrauens, das zur Höhle hereindämmerte, und folgte ihm. Er schien sie auch erwartet zu haben, denn er machte ihr Platz.

 

Plötzlich hörten sie draußen eine Stimme.

 

»Hier müssen sie sein. Hier in der Nähe muß die Höhle liegen, in der er als Junge immer gespielt hat.«

 

»Das war Spinner – ein englischer Kriminalbeamter«, flüsterte er ihr zu.

 

»Wenn er hier ist, Inspektor, dann sind auch meine beiden Freunde hier, Mr. und Mrs. Dorban«, sagte ein anderer.

 

Sie sah, daß John plötzlich ungeheuer erregt wurde und dem Ausgang der Höhle zustürzen wollte. Instinktiv riß sie ihn zurück.

 

»Was wollen Sie denn tun?« fragte sie kaum hörbar, aber ihre Stimme zitterte.

 

»Ich will den Kerl packen, der eben gesprochen hat«, stieß John wütend zwischen den Zähnen hervor.

 

»Sie sind außer sich!« sagte sie verzweifelt. »Ich kenne diesen Mann. Er heißt Whiplow!«

 

Kapitel 16

 

16

 

Spinner sprach jetzt spanisch, er wandte sich offenbar an eine Respektsperson. John vermutete, daß er sich mit dem Polizeioffizier unterhielt, den er in der vorigen Nacht überfallen hatte.

 

»Befindet sich hier eine Höhle?«

 

»Auf der anderen Seite der Klippen werden wir eine große Höhle finden. Ich kann mich nicht darauf besinnen, daß auf dieser Seite eine liegt, und ich bin seit meiner frühesten Jugend in Vigo.«

 

»Was hat er eben, gesagt?« fragte Whiplow ungeduldig.

 

»Er sagt, daß die Höhle –« Die nächsten Worte des Kriminalbeamten gingen in dem Geräusch der Ruder unter. Das Boot entfernte sich immer weiter.

 

»Whiplow – ja, das ist der Mann. Bobby hat schon immer vermutet, daß er es sei. Aber wir konnten niemals Gewißheit darüber bekommen.« Er sprach halb zu sich selbst, und sie konnte nicht alles verstehen, was er sagte. Aber dann wandte er sich ihr wieder zu. »Sind Sie ganz sicher, daß Sie Whiplows Stimme erkannt haben?« fragte er leise.

 

»Ja – ich würde seine Stimme stets wiedererkennen.«

 

Nach einem langen Schweigen begann John wieder zu sprechen, aber er schien nur laut zu denken.

 

»Es handelt sich jetzt darum, ob sie nicht noch einmal zurückkommen, wenn sie die andere Höhle vergeblich durchsucht haben. Aber es handelt sich noch um etwas viel Wichtigeres.«

 

Sie warteten eine ganze Stunde und lauschten angestrengt. Endlich hörten sie das Geräusch der Ruder wieder, aber das Boot fuhr an dem Eingang der Höhle vorbei, nach Vigo zu.

 

Das Tageslicht dämmerte jetzt, und Penelope war sehr erschöpft.

 

John konnte sie zwar nicht sehen, doch mußte er gespürt haben, wie müde sie war, denn er befahl ihr in ziemlich scharfem Ton, sich nun hinzulegen.

 

»Wollen Sie mir immer noch nicht sagen, was das alles bedeuten soll?« bat sie ihn. »Ich bin so verwirrt – und fürchte mich auch.«

 

»Sie brauchen sich nicht im mindesten zu fürchten. Ich soll Ihnen alles sagen?« Er lachte leise vor sich hin. »Nun, ich glaube, Sie werden noch heute abend alles erfahren müssen. Auf jeden Fall werden Sie bald eingeweiht werden.«

 

Er knipste seine Taschenlampe an, um ihr den Weg in ihre Höhle zu zeigen. Mrs. Dorban stand an der Ecke der erhöhten Plattform.

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte sie aufgeregt.

 

»Es ist alles in Ordnung«, antwortete John vergnügt.

 

»Ich dachte, Sie hätten draußen mit jemandem gesprochen!«

 

John gab ihr keine Antwort, bis er Penelope auf die Plattform geholfen hatte.

 

»Ja, ein Freund von Ihnen war draußen«, sagte er dann. »Aber er hat nicht mit mir gesprochen.«

 

»Ein Freund?« fragte sie schnell. »Wen meinen Sie denn?«

 

»Whiplow.«

 

Er hatte eine Laterne angezündet, und bei ihrem Licht sah er, wie sich der Ausdruck ihres Gesichtes änderte.

 

»Whiplow?« wiederholte sie fast ungläubig. »Sie lügen! Wie sollte denn der hierherkommen! Wer ist denn überhaupt dieser Mr. Whiplow?«

 

John lächelte.

 

»Ich dachte mir schon, daß Sie ihn vielleicht gar nicht kennen«, antwortete er ironisch, »aber trotzdem war er hier. Miss Pitt hat seine Stimme wiedererkannt.«

 

Cynthia erholte sich allmählich wieder.

 

»Wie lächerlich Sie sich benehmen! Natürlich kenne ich Mr. Whiplow. Er hat meinen Mann einmal besucht, als ich in London war. Aber es ist einfach absurd, zu behaupten, daß er mein Freund sei. Haben Sie ihn gesprochen?« Sie sah John argwöhnisch an.

 

»Nein, ich habe ihn nicht gesprochen. Allein die Tatsache, daß ich wieder hierher zurückgekommen bin, beweist, daß er mich überhaupt nicht gesehen hat. Aber eines Tages werde ich noch mit ihm sprechen, und ich weiß, daß dies ein sehr böser Tag für Sie sein wird, Mrs. Dorban!«

 

Die Selbstbeherrschung dieser Frau war ungewöhnlich. Sie konnte selbst in diesem kritischen Augenblick lächeln.

 

»Ach, wie romantisch!« sagte sie höhnisch. »Diese Phrase klingt, als ob sie aus einem Kriminalroman stammte!«

 

Sie zuckte die Schultern und ging in die Höhle zurück, in der ihr Mann schlief. Sie fand den Weg im Dunkeln und weckte ihn auf.

 

»Was gibt es?« fragte er leise.

 

»Whiplow ist hier.«

 

»Hier in der Höhle?«

 

»Nein, du Narr! In Vigo! Und offensichtlich sucht er uns. Wahrscheinlich war er in einem Boot, unser Freund John hat ihn gesehen.«

 

Arthur Dorban war ganz wach geworden.

 

»Was, Whiplow ist hier? Dieses Schwein! Er hat mir doch geschworen, mit dem nächsten Schiff nach Amerika zu fahren!«

 

»Für einen Mann mit deiner Vergangenheit bist du noch reichlich naiv«, erwiderte sie spöttisch. »Whiplow ist schon die ganze Zeit hinter uns her, er muß uns durch Frankreich und Spanien gefolgt sein. Und wenn du es dir überlegst, ist es doch verständlich, daß er das Nest mit den goldenen Eiern nicht so ohne weiteres im Stich läßt. Dieses verdammte Mädchen hat seine Stimme erkannt!«

 

»Du glaubst also, daß John alles weiß?«

 

»Er hat es anscheinend schon lange vermutet«, entgegnete sie kühl. »Aber solange er seine Stimme nicht auch wiedererkannt hat, haben wir eigentlich nichts zu fürchten. Wir dürfen jetzt aber keine Zeit mehr verlieren. Hast du mit Hollin gesprochen?«

 

»Ja.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich glaube, daß er sich leicht gefügig machen läßt, wenn wir es nur richtig anfangen. Aber hier in der Höhle können wir nichts unternehmen.«

 

Sie machte eine ungeduldige Bewegung.

 

»Hier ist doch die beste Gelegenheit dazu – worauf willst du denn noch warten?« fragte sie wild. »Ihr seid doch beide bewaffnet –«

 

»Unglücklicherweise stimmt das nicht«, unterbrach er sie. »Während Hollins Abwesenheit von dem Schiff sind die Patronen in seinen Pistolen durch Platzpatronen ersetzt worden. Er hat es erst heute nacht entdeckt. Ich habe daraufhin sofort auch meine Pistole untersucht und habe hier denselben Wechsel vorgefunden. Das Magazin ist vollkommen leer und im Lauf befindet sich nur eine leere Patronenhülse. Meine liebe Cynthia, wir haben es mit sehr klugen Leuten zu tun. Und es war sehr töricht von uns, zu glauben, wir könnten sie so leicht fangen. Als ich meine Pistole unter das Sofa steckte, hätte ich mir überlegen müssen, daß die Kabine bei der nächsten Gelegenheit genau durchsucht werden würde. Während wir in den Salon gebracht wurden, war Zeit genug dazu.«

 

Es wurde wieder Tag – das Warten war sehr langweilig. Die einzige Unterbrechung brachte die Flut.

 

Um zehn Uhr abends hörte John, der am Eingang der Höhle stand, das leise Geräusch eines Motorbootes, und bald darauf knirschte ein Kiel im Sand.

 

»Ist alles in Ordnung, John?«

 

»Ja, es ist alles gut gegangen.«

 

»Kommt schnell an Bord, wir haben eine weite Fahrt. Die ›Polyantha‹ liegt zehn Meilen weit draußen auf See. Glücklicherweise ist das Meer spiegelglatt.«

 

John ging in die Höhle zurück und rief alle zusammen.

 

Der Korb war schon gepackt, und ein paar Minuten später waren sie in dem Motorboot, das in die offene See hinaussteuerte.

 

Es war schon fast Mitternacht, als sie am Fallreep anlegten. Cynthia wurde unterwegs seekrank und war froh, wieder an Bord des großen Schiffes zu kommen. Auch Penelope freute sich‘ auf ihr schönes, weiches Bett.

 

Sie sah John nicht mehr, sie war zu müde und schlief schon lange, bevor die ›Polyantha‹ ihre Fahrt wieder aufnahm.

 

In der Nacht wurde sie durch das Heulen der Sirene aufgeweckt und schaute durch das Kabinenfenster hinaus. Das Schiff fuhr mit beträchtlich verminderter Geschwindigkeit durch eine dichte Nebelbank.

 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, schien die Sonne hell in ihre Kabine herein. Die Uhr neben ihrem Bett zeigte halb elf, und dicht neben der Tür stand ein Tablett. Der Kaffee war schon ganz kalt und das Toastbrot trocken und unschmackhaft geworden. Sie zog schnell ihren Morgenrock an und klingelte.

 

Gleich darauf klopfte es an die Tür, und John wünschte ihr guten Morgen.

 

Kapitel 17

 

17

 

»Ich dachte, Sie schliefen noch. Ich habe Ihnen frischen Kaffee gebracht. Bitte denken Sie aber in Zukunft daran, daß Sie Ihre Kabine nachts verschließen müssen.«

 

»Ich war so müde«, entschuldigte sie sich, als sie das Tablett an der Tür in Empfang nahm. »Wo sind wir jetzt?«

 

»Irgendwo auf See. Ich war niemals ein großer Mathematiker, und Navigation ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Soweit ich es beurteilen kann, fahren wir nach Südwesten, mit Kurs auf die Kanarischen Inseln. Aber beeilen Sie sich jetzt bitte und ziehen Sie sich an. Mr. Orford möchte Sie gern sprechen.«

 

Seine Stimme klang heute merkwürdig schüchtern und verlegen. Mr. Orford erwähnte er hastig und abgerissen, und er war schon verschwunden, ehe er den Satz noch ganz beendet hatte.

 

Penelope war sehr verwundert – von dieser Seite hatte sie ihn noch nicht kennengelernt.

 

Als sie das Deck entlangging, fand sie Mr. Orford in seinem Lieblingsstuhl unter einem Sonnenschirm sitzen, den man für ihn aufgespannt hatte. Er sah nicht sehr vergnügt aus, und sie glaubte, noch mehr Falten in seinem Gesicht zu entdecken. Seine Augen lagen tief, und seine großen Hände, die er gewöhnlich über dem Bauch faltete, waren unruhig.

 

»Guten Morgen. Nehmen Sie bitte Platz.«

 

Sie war neugierig, was er ihr wohl zu sagen hätte.

 

»Miss Pitt«, begann er nach einem nervösen Räuspern, »man rechnet bei allen Organisationen wegen der menschlichen Schwächen und Irrtümer mit zehn Prozent Fehlern. Ich kann wohl eine Reise von London nach Konstantinopel, nach Belgrad, nach Jaffa, nach Cincinnati oder sonstwohin organisieren, bei der alles bis auf die Minute klappen wird. Aber wenn ich eine Reise von London nach Gibraltar zu arrangieren habe und der Mann, der diese Reise unternimmt, in Cordoba unterbricht, um sich die Kathedrale anzusehen, und dabei ein hübsches junges Mädchen trifft, sie zum Essen einlädt und dadurch den Zug versäumt, dann ist natürlich alle Disposition umsonst …« Er biß wütend das Ende einer Zigarre ab und steckte sie an, bevor er weitersprach. »Miss Pitt, durch Ihr Dazwischentreten ist die Ausführung meines Planes sehr gefährdet, ja, fast unmöglich geworden.«

 

»Durch mein Dazwischentreten?«

 

»Ja. Wir wären nicht nach Vigo gegangen, wenn Sie nicht Kleider notwendig gehabt hätten, und Sie hätten keine Kleider gebraucht, wenn Sie nicht an Bord gekommen wären. Dadurch ist alles in die Binsen gegangen.«

 

»Das tut mir sehr leid, Mr. Orford. Aber ich kenne ja Ihren Plan nicht und weiß nicht, warum Sie über den Atlantischen Ozean fahren. Sicher haben Sie einen guten und triftigen Grund dazu, und ich fühle, daß ich in gewisser Weise dafür verantwortlich bin, daß Sie Ihre Pläne ändern mußten. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann –«

 

»Das können Sie wirklich«, sagte er und schaute auf die See hinaus. »Sie könnten John heiraten.«

 

Penelope erhob sich halb von ihrem Stuhl, aber seine große Hand legte sich auf ihre Schulter.

 

»Warten Sie. Ich habe von Natur aus viel Sinn für Familie, obgleich ich niemals verheiratet war. Ich bin sehr menschenfreundlich und könnte es niemals übers Herz bringen, Sie oder eine andere Frau absichtlich oder wissentlich zu beleidigen. Aber wenn Sie meiner Anregung folgen, können Sie vieles gutmachen, ohne selbst zu Schaden zu kommen.«

 

»Ich soll John heiraten? Aber das ist doch unmöglich! Ich kenne ihn doch gar nicht! Natürlich ist er kein Matrose, sondern eine bedeutende Persönlichkeit, die viel mit Ihrer Organisation zu tun hat. Er ist mir sogar sympathisch, ich habe ihn gern – aber heiraten…«

 

»Die meisten Menschen haben ja noch nicht einmal die Leute gern, die sie heiraten«, meinte Mr. Orford nachdenklich. Er traute sich aber immer noch nicht, sie anzusehen. »Und diese Heirat würde – wird – nun ja, es würde keine Ehe im gewöhnlichen Sinne werden. Sie könnten mir und John damit den größten Dienst tun, den ein Mensch einem andern erweisen kann. Der Captain hat die Autorität, die Trauung zu vollziehen. Sie können ja die kirchliche Feier später nachholen, wenn Sie Gelegenheit dazu haben.«

 

»Aber ich möchte ja gar nicht heiraten«, protestierte Penelope.

 

»Sind Sie vielleicht verlobt?«

 

»Nein«, sagte sie fast zornig. »Ich muß doch nicht verlobt sein, um diesem Plan zu widersprechen. Die ganze Geschichte ist doch absurd!«

 

»Das ist nun wieder der menschliche Faktor!« sagte er leise zu sich selbst. »Überlegen Sie es doch noch einmal.« Er rauchte eine Weile heftig. »Ich zahle Ihnen hunderttausend Dollar, wenn Sie John heiraten«, schlug er dann kühl und geschäftsmäßig vor.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Und Sie werden ein Einkommen haben, wie Sie es sich niemals haben träumen lassen –«

 

»Das hat alles keinen Zweck, Mr. Orford«, erwiderte sie ruhig. »Geld hat keinen Einfluß auf meine Entschlüsse. Weiß John, daß Sie für ihn um meine Hand anhalten?«

 

Er nickte.

 

»John ist in gewisser Weise sehr scheu. Er selbst hat nicht die leiseste Hoffnung, daß Sie meinem Vorschlag zustimmen werden.«

 

»Ich hätte ihn für etwas vernünftiger gehalten«, sagte sie bitter, als sie sich erhob.

 

Er sah zu ihr auf.

 

»Miss Pitt, würden Sie John auch nicht heiraten, wenn Sie dadurch sein Leben retten könnten?« fragte er ruhig.

 

»Aber das ist doch eine rein hypothetische Frage –«

 

»Nein, glauben Sie mir. Ich hatte John allerdings versprochen, Ihnen dies nicht zu sagen. Wenn sich im nächsten Monat gewisse Dinge ereignen und er nicht verheiratet ist – ja, dann würde ich keine zehn Cent mehr für sein Leben geben.«

 

Sie starrte ihn an.

 

»Ist das Ihr Ernst?«

 

»Mein voller Ernst.« Mr. Orford stand auf, ging zur Reling und schaute auf das Meer hinaus. »Es ist möglich, daß Sie ihn nicht vor einer Gefängnisstrafe retten, das liegt nicht in Ihrer Macht. Bevor Sie an Bord kamen, hoffte ich, ihn retten zu können. Aber Sie können wenigstens sein Leben schützen. Zweimal wurde schon ein Mordanschlag auf ihn verübt.«

 

»Von wem?«

 

Er zeigte mit dem Kopf nach unten.

 

»Dorbans?« fragte sie atemlos.

 

»Zweimal versuchten sie, ihn beiseite zu schaffen«, erwiderte er grimmig, »und sie werden vielleicht noch Erfolg haben.«

 

»Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat«, rief sie verzweifelt. »Das klingt so schrecklich, daß ich es kaum glauben kann –«

 

»Sie müßten doch eigentlich Mrs. Dorban kennengelernt haben. Sie ist zu allem fähig.«

 

Penelope schauderte.

 

»Ich werde Sie jetzt nicht mehr belästigen, Miss Pitt. Wir müssen eben sehen, alles so gut wie möglich zu arrangieren.« Er warf seine Zigarre ins Meer. »Ich bin schon so weit gekommen, daß ich mich über den Fehlschlag meiner Organisation nicht mehr aufrege. Früher war ich der Ingenieur, jetzt bin ich Zuschauer und Fatalist geworden.«

 

Er blieb an der Reling stehen, stützte die Ellenbogen auf das Geländer und schaute düster in das Wasser. Sie stand unentschlossen neben ihm, ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und ihr Herz schlug wild.

 

»Wenn ich nun meine Einwilligung gäbe, Mr. Orford – was würde das für mich bedeuten?« fragte sie heiser.

 

»Ich will Sie nicht drängen.«

 

»Aber bitte, sagen Sie mir doch, in welche Lage ich dadurch kommen würde?«

 

»Sie würden nur Ihren Namen ändern – im übrigen wären Sie so frei, wie Sie jetzt sind, sogar noch unabhängiger, denn Sie würden über viel Geld verfügen. Ich weiß, daß das Ihre Entscheidung nicht beeinflußt, aber ich möchte Ihnen doch den Rat geben, das Geld nicht zu verachten. Es ist ein wesentlicher Faktor in dieser bösen Welt, und es birgt eine große Macht in sich. Es erlaubt Ihnen, sich ganz Ihren Liebhabereien zu widmen.« Das sagte er mit einem so strahlenden Lächeln, daß sie lachen mußte.

 

»Nun gut – ich will es mir überlegen.« Sie runzelte die Stirn. »Nein, ich will es nicht mehr überlegen – ich will Sie meine Entscheidung gleich wissen lassen. Wenn Sie mir in allem Ernst sagen, daß ich Johns Leben dadurch retten kann, werde ich ihn heiraten. Wer wird uns trauen?«

 

»Der Captain«, erwiderte Mr. Orford schnell. »Die Sache kann sehr bald geregelt werden.«

 

Plötzlich fuhr er zusammen und beugte sich hinunter. Dann legte er den Finger auf die Lippen und führte sie von dem Geländer fort. »Sie haben uns wahrscheinlich gehört!«

 

»Wer? Meinen Sie die Dorbans?«

 

Er nickte.

 

»Wir haben uns direkt über ihrem Kabinenfenster unterhalten! Ich fange an, alt zu werden.«

 

Kapitel 18

 

18

 

Cynthia Dorban kniete auf dem Sofa und horchte. Sie hatte fast das ganze Gespräch gehört. Arthur Dorban lag auf seinem Bett, hatte ein Buch auf den Knien und eine Zigarette im Mund. Er beobachtete seine Frau, ohne zu wissen, worauf sie lauschte.

 

»Nun?« fragte er schließlich, als sie sich erhob.

 

»Sie will ihn heiraten!« rief Cynthia erregt. »Ich habe dir ja vorausgesagt, was Orford tun würde.«

 

Arthur legte seine Zigarette sorgfältig weg und stand auf.

 

»Wann wird das geschehen?« fragte er ruhig.

 

»Heute, morgen – woher soll ich das wissen?« fuhr sie ihn an.

 

Er schlüpfte in seinen Rock, öffnete die Kabinentür und schaute den Gang entlang. Die nächsten Kabinen bewohnten der Schiffsarzt und Bobby. Auf der anderen Seite waren Mr. Orford und der Chefingenieur untergebracht. Die Kabine des Kapitäns lag der ihrigen gerade gegenüber, er schlief aber gewöhnlich oben im Kartenzimmer hinter der Kommandobrücke.

 

Arthur Dorban versuchte die Kapitänskabine zu öffnen, aber sie war, wie gewöhnlich, verschlossen.

 

»Geh schnell zur Treppe und paß auf, ob jemand kommt!«

 

»Was hast du denn vor?« fragte Cynthia. »Du weißt doch, daß wir nicht an Deck gehen dürfen.«

 

»Halt jetzt den Mund und tu, was ich dir sage«, fuhr er sie unwirsch an. Sie folgte ihm, ohne noch eine Frage zu stellen.

 

Er ging in die Kabine zurück, holte einen Bund Schlüssel aus seinem Koffer und probierte einen nach dem andern an der Tür. Er hatte nur wenig Zeit, denn jeden Augenblick konnte jemand von der Schiffsbesatzung vorbeikommen und ihn entdecken.

 

Als von Hause aus träger Charakter hatte er gehofft, daß es sich vermeiden ließe, Gewaltmaßnahmen zu ergreifen, oder daß er wenigstens noch mehr Zeit hätte. Aber nun erkannte er plötzlich den Ernst der Lage und übersah die Folgen, die Penelopes Zustimmung mit sich brachte.

 

Keiner der Schlüssel paßte. Im Gang hing ein Glaskasten, in dem für Feuersgefahr und andere Unglücksfälle eine Axt aufbewahrt wurde. Der Kasten war nicht verschlossen. Arthur nahm die Axt heraus, trat einen Schritt zurück und ließ sie mit voller Wucht auf das Schloß fallen. Dann klemmte er die Schneide zwischen die Tür und den Rahmen und brach das Schloß auf.

 

Er schaute sich schnell um – es war niemand in Sicht, und es war auch nicht anzunehmen, daß jemand den Lärm gehört hatte. Alle schienen oben an Deck zu sein, und das Geräusch der Maschinen hatte den Schall sicherlich überdeckt.

 

Die Kapitänskabine war sehr groß. Ein Schreibtisch, eine Messingbettstelle und ein großer Schrank standen darin. Er zog die Schreibtischschubladen nacheinander auf und fand gleich in der ersten, was er suchte – ein paar Schnellfeuerpistolen und ein paar Schachteln Patronen. Er vermutete, daß sich irgendwo noch eine Kiste mit Waffen befand. Der Gedanke kam ihm, während er die Schachteln aufmachte und die Pistolen lud. Er suchte die Kabine ab und entdeckte tatsächlich unter dem Bett eine flache, schwarzlackierte unverschlossene Kiste, in der ein halbes Dutzend schwere Armeerevolver, zwei Gewehre, fünfzig Schachteln Munition und ein halbes Dutzend Handschellen lagen. Er trug alles in seine Kabine. Cynthia hielt noch am anderen Ende des Ganges Wache, und er winkte sie zu sich.

 

»Hol schnell Hollin her!«

 

Sie hatte ihn eben an der Treppe gesehen, wo er die Messingbeschläge putzte, denn nach seinem Ausflug nach Vigo war seine Stellung an Bord eine andere geworden, und er mußte jetzt wie ein gewöhnlicher Matrose arbeiten. Sie eilte hin und rief ihn herunter. In demselben Augenblick erschien auch der Captain oben.

 

»Wo wollen Sie hin?« fragte er.

 

»Schnell!« rief Cynthia, und Hollin gehorchte.

 

Trotz seines Alters war der Captain sehr behende, und er lief rasch hinter ihm den Gang entlang. Aber plötzlich blieb er stehen: Mr. Dorban hatte die Pistole auf ihn gerichtet.

 

»Wenn Sie rufen, schieße ich Sie nieder«, sagte Arthur. »Gehen Sie hier hinein!« Er zeigte auf die Kapitänskabine.

 

»Was haben Sie gemacht?« fragte der alte Mann vorwurfsvoll.

 

Neben der Kabine lag ein kleiner Baderaum, in den der Captain eingeschlossen wurde.

 

»Was ist denn los?« fragte Hollin, der die veränderte Situation nicht gleich begriffen hatte.

 

»Nehmen Sie das«, sagte Dorban und gab ihm ein Gewehr. »Cynthia, du bleibst hier und bewachst den Captain.«

 

Er eilte die Treppe zum Deck hinauf. Hollin folgte ihm etwas verstört, er fühlte sich nicht recht wohl.

 

Mr. Orford sprach gerade mit Penelope, als Arthur erschien.

 

»Was wollen Sie? Sie sollen doch unten in Ihrer Kabine bleiben!«

 

Plötzlich sah er die Pistole in Arthurs Hand.

 

»Bei dem geringsten Laut sind Sie ein toter Mann!« drohte Mr. Dorban. »Bewachen Sie diese beiden, Hollin, bis ich mit den Leuten oben fertig bin!«

 

Auf dem Bootsdeck befanden sich nur ein Matrose und der Steuermann. Dorban wußte, daß er den Leuten der Besatzung keine große Beachtung zu schenken brauchte. Die einzigen Waffen an Bord waren nun in seinem Besitz, höchstens Bobby und John konnten noch Waffen bei sich führen. Aber er hatte Glück, denn er fand die beiden auf der Kommandobrücke im Gespräch mit dem Zweiten Offizier.

 

»Hände hoch!«

 

John wandte sich schnell um und sah sich von der Mündung einer Pistole bedroht.

 

»Es ist nicht notwendig, Ihnen ausdrücklich zu erklären, daß ich dem Gesetz nach berechtigt bin, jeden von Ihnen sofort niederzuschießen. Drehen Sie sich um!«

 

John gehorchte; er ahnte, was geschehen war, und wußte, daß im Augenblick jeder Widerstand nur zu schweren Zusammenstößen führen würde. Dorban legte ihm und Bobby Handfesseln an.

 

»Nun, mein Herr«, wandte er sich an den Offizier. »Sie wissen, daß Sie jetzt in einer sehr ernsten Lage sind. Ich habe den Captain verhaftet, und Sie können den Folgen Ihrer ungesetzlichen Handlung nur entgehen, wenn Sie meine Anordnungen befolgen.«

 

Der Offizier war ein großer, hagerer Mann mit verbissenem Gesichtsausdruck. »Was verlangen Sie von mir?« fragte er.

 

»Sie werden das Schiff nach England zurücksteuern!«

 

»Das können Sie selbst tun«, sagte der Offizier. »Sie machen sich hier der Seeräuberei schuldig, und wenn die Sache böse Folgen hat, dann haben Sie das selbst zu verantworten.« Er stellte den Maschinentelegrafen auf ›Stop‹ und ging an Arthur vorbei nach hinten in seine Kabine.

 

Arthur war wütend über diesen Mißerfolg. Aber es blieb ja noch der Steuermann. Nachdem er seine Gefangenen unten eingeschlossen hatte, kehrte er nach oben zurück und hatte eine lange Unterredung mit dem Mann, in deren Verlauf er ihn überredete, seinen Anweisungen zu folgen.

 

Als er wieder hinunterkam, fand er seine Frau an Deck. Hollin stand neben ihr. Er hatte sich gleich über den Whisky hergemacht, war begeistert und sah das Leben im Augenblick von der rosigsten Seite an.

 

»Ich habe den Steuermann bestimmt, nach Cadiz zu fahren«, sagte Arthur. »Die Ingenieure und Heizer haben sich ebenfalls bereit erklärt, auf ihrem Posten zu bleiben. Auf diese Weise können wir alles zu unseren Gunsten wenden.«

 

»Und was wird aus dem Mädchen?« fragte Cynthia.

 

Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist in ihrer Kabine.«

 

»Bist du denn so dumm, sie auch nach Cadiz mitzunehmen? Denk doch daran, daß sie die Banknoten und die Radierungen gesehen hat! Denk daran, daß ich versucht habe, sie zu ertränken!«

 

»Wer wird denn ihren Aussagen Glauben schenken?« fragte er eigensinnig. Aber sie kannte ihn zu gut, um nicht zu wissen, daß er sich sehr unbehaglich fühlte. »Sie kann keinen Zeugen beibringen, der ihre eventuellen Anklagen bestätigt, und die Tatsache, daß sie mit diesem Mann zusammen ist, genügt schon, um sie selbst verdächtig zu machen.«

 

Cynthia schien sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben, aber Arthur Dorban ließ sich nicht täuschen.

 

»Ich kann mich unmöglich jetzt auch noch damit befassen«, erklärte er. »Ich habe gerade genug zu tun, um Herr der Situation zu bleiben. Hollin, gehen Sie nach vorne und bewachen Sie die Quartiere der Mannschaft. Ich will auf die Brücke gehen und mich vergewissern, daß der Steuermann mich nicht betrügt. In ein paar Stunden werden wir ein Kriegsschiff treffen. Der Steuermann sagte mir, daß man solchen Schiffen hier häufig begegnet. Wir sind nur dreihundert Meilen von Gibraltar entfernt.«

 

Bobby und John saßen in Bobbys Kabine und besprachen die Lage. Sie saßen zusammen, weil sie mit den Handschellen aneinandergefesselt waren.

 

»Ich glaube, wir können dies ruhig als das Ende unseres Abenteuers ansehen«, sagte John mit unnatürlicher Ruhe. »Es tut mir furchtbar leid, und ich kann es mir nie vergeben, daß ich dich in diese furchtbare Lage gebracht habe, Bobby.«

 

»Und ich bin noch trauriger, daß es mir nicht gelungen ist, dich vollständig zu befreien«, erwiderte Bobby bitter. »Es war doch zu unvorsichtig, daß wir nicht daran dachten, wie leicht uns diese Leute übertölpeln konnten.«

 

John schaute auf den Teppich.

 

»Ich möchte nur wissen, was sie mit Miss Pitt gemacht haben.«

 

»Sie ist in ihrer Kabine. Er sagte es zu Hollin, als sie eben an unserer Tür vorbeikamen. Was werden sie wohl unternehmen?«

 

»Wahrscheinlich laufen sie den nächsten Hafen an und übergeben uns der Polizei. Wenn uns der nette alte Xenocrates aus dieser Patsche heraushilft, dann werde ich ihm ein silbernes Denkmal setzten.«

 

»Du kannst es auch aus Gold anfertigen lassen«, meinte Bobby traurig, »es ist eines so schön wie das andere. Wo ist er eigentlich geblieben?«

 

»Er ist in der nächsten Kabine, die dem Schiffsarzt gehört.« John stand auf und klopfte an die Wand. Sofort wurde ihm geantwortet. »Ja, er ist dort.«

 

Bobby schaute auf seine Handschellen und versuchte schon zum soundsovielten Male, seine Hand durchzuzwängen.

 

»Es hat alles keinen Zweck«, stöhnte er. »Es ist einfach schrecklich, wenn man bedenkt, daß zwei Leute das ganze Schiff überrumpelt haben!«

 

»Hollin ist doch auch mit ihnen im Bunde.«

 

»Ich hatte gar nicht an ihn gedacht. Sicher ist Cynthia Dorban der leitende Kopf.« Plötzlich hielt er inne, und Bobby sah, daß seine Augen glänzten. »Ich habe eine gute Idee«, sagte er leise, und ohne eine nähere Erklärung abzugeben, trat er heftig mit dem Fuß gegen die Kabinentür. Sofort erklang Cynthias scharfe Stimme.

 

»Was wollen Sie?«

 

»Bekommen wir denn nichts zu essen? Haben Sie die Absicht, uns verhungern zu lassen?« fragte John.

 

»Wenn Sie etwas zu essen haben wollen, müssen Sie es sich schon selbst holen«, erwiderte Cynthia, schloß die Tür auf und erschien mit der Pistole in der Hand. »Gehen Sie in die Küche und holen Sie sich so viel, daß es für zwei Tage reicht. Dann werden ja wohl die spanischen Behörden für Sie sorgen.«

 

Bobby hatte durchaus keinen Hunger; schon der Gedanke an Essen war ihm widerwärtig, und er wunderte sich, daß John in einem solchen Augenblick Appetit haben konnte. »Lassen Sie es sich nicht einfallen, mir einen Streich spielen zu wollen«, drohte Cynthia, während sie ihnen folgte.

 

»Dann wollen Sie uns natürlich niederschießen – das glaube ich Ihnen«, erwiderte John. »Wenn wir es mit dem sanften Slico zu tun hätten, wäre es etwas anderes.«

 

Sie gingen in den Anrichteraum, der hinter der Küche lag. Es war niemand dort.

 

»Beeilen Sie sich etwas«, sagte Cynthia, die draußen auf dem Gang stehengeblieben war und die Tür genau beobachtete.

 

John führte Bobby in einen kleinen, dunklen Raum, in dem die Vorräte aufbewahrt wurden. Er machte keinen Versuch, den Eisschrank zu öffnen, sondern fühlte mit der Hand die Wand entlang, bis er ein kleines Schaltbrett fand. Es war dunkel, aber er tastete mit den Fingern und zählte die Knöpfe. Als er an den sechsten gekommen war, drückte er ihn schnell herunter und nahm einen Hörer auf.

 

»Singe, so laut du kannst«, flüsterte er Bobby zu. »Willst du wohl singen?«

 

Plötzlich ertönte Bobbys wohlklingende Stimme.

 

»Sind Sie es, Penelope?« fragte John schnell. Ihm war vorhin eingefallen, daß eine telefonische Verbindung zwischen der Anrichte und den großen Kabinen bestand.

 

»Ja, wo sind Sie?«

 

»Das ist gleichgültig. Sie kennen doch Bobbys Kabine – sie liegt direkt unter dem roten Ventilator. Können Sie sich irgendwelche Schußwaffen beschaffen, irgendeine Pistole, die Sie so über die Reling herunterlassen, daß sie vor unserem Kabinenfenster hängt und wir sie von da aus erreichen können?«

 

»Ich darf ja meine Kabine nicht verlassen!«

 

»Bitte, versuchen Sie es unter allen Umständen!«

 

»Was machen Sie denn da drinnen?« fragte Cynthia scharf. »Kommen Sie sofort heraus!«

 

John hängte schnell den Hörer an, nahm ein großes Brot und folgte Bobby.

 

»Ich habe gehört, daß Sie mit jemandem gesprochen haben – wer war das?«

 

»Ich habe mich mit meiner Lieblingsfrau unterhalten«, erwiderte John kühl. »Finden Sie nicht, daß Stamford Mills sehr schön singen kann?«

 

»Was haben Sie gemacht?« fragte Cynthia argwöhnisch. Arthur kam vorbei, und sie rief ihn an.

 

»Du bist verrückt, daß du die beiden herausgelassen hast«, sagte er zu ihr, nachdem John und Bobby wieder in ihrer Kabine eingeschlossen waren. »Es wäre doch eine Kleinigkeit gewesen, ihnen das Essen bringen zu lassen. Hollin ist doch auch noch da. Dem Mädchen muß erlaubt werden, an Deck zu gehen, ich kann sie nicht die ganze Zeit einsperren.«

 

»Warum denn nicht? Ist es etwa für sie schlimmer als für uns?«

 

Er füllte sein Zigarettenetui von dem Vorrat, den er in der Kapitänskabine gefunden hatte. Dann wandte er sich wieder an seine Frau. »In den nächsten vierundzwanzig Stunden kann viel passieren. Ich bitte dich, Cynthia, mir zu helfen, daß nichts geschieht, was ich später bereuen könnte.«

 

Sie erbleichte, obwohl sie mutig war. Plötzlich taten sich unergründliche Tiefen in Slicos Charakter auf, die sie bisher nur dunkel geahnt hatte.

 

»Ich habe nicht die Absicht, dieses Mädchen irgendwie zu kränken«, fuhr er fort. »Wenn es aber dazu käme, dann würdest du mir sehr im Wege stehen. Das ist dir doch klar?«

 

Sie nickte und zitterte an allen Gliedern. Sie wußte, was er sagen wollte, aber sie hatte niemals daran gedacht, daß er ihr so gegenübertreten würde.

 

»Als du Penelope umbringen wolltest, habe ich dir freie Hand gelassen, weil ich beabsichtigte, ein für allemal aufzuräumen. Wärst du zurückgekommen und hättest mir die Nachricht von ihrem Tod gebracht, so hättest auch du den nächsten Morgen nicht mehr erlebt. Willst du, bitte, immer daran denken, Cynthia?«

 

Seine sonst so sanfte Stimme klang drohend.

 

»Das wirst du doch nicht tun!« stieß sie atemlos hervor. »Es geschah doch alles nur für dich!«

 

Er ging lächelnd aus der Kabine. Cynthia aber fiel schwer auf das Sofa nieder.

 

Kapitel 19

 

19

 

»Sie können ruhig an Deck gehen, Miss Pitt«, sagte Arthur Dorban liebenswürdig. »Aber es ist Ihnen natürlich nicht gestattet, mit irgendeinem der Leute in Verbindung zu treten, die ich leider habe einsperren müssen. Ich bin sicher, daß Sie nicht wußten, was Sie taten; sonst hätten Sie diese Schurken nicht unterstützt, die sich nur dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen suchten.«

 

Er stand, vor der Tür und machte keinen Versuch hineinzugehen. Seine Haltung war sehr höflich.

 

»Ich verspreche Ihnen, daß Sie weder von mir noch von einem anderen gestört werden sollen«, setzte er nachdrücklich hinzu.

 

Sie nickte dankbar, und er verließ sie wieder.

 

Sie ging an Deck auf und ab und versuchte ihre Fassung wiederzuerlangen. Allmählich gelang es ihr auch. Hollin saß oben auf der Treppe. Er hatte seinen Pistolengürtel umgeschnallt, und auf seinen Knien lag ein Gewehr. Zu seinem Erstaunen redete sie ihn an.

 

»Sie haben nichts zu befürchten, Miss«, sagte er, denn in gewisser Beziehung fühlte er sich selbst in nüchternen Augenblicken als Kavalier. »Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen niemand zu nahetritt.«

 

»Wissen Sie, wohin wir fahren?«

 

»Habe nicht die geringste Ahnung. Der Chef sagt, daß wir einen spanischen Hafen anlaufen. Er wird alles für mich regeln. Immerhin werden mehrere tausend Pfund für mich dabei abfallen.«

 

Sie fragte ihn nicht weiter, welche Versprechungen Arthur Dorban ihm gemacht hatte, und ging wieder fort. Bei dem roten Ventilator blieb sie stehen und lehnte sich über die Reling. Sie konnte Bobbys Kabinenfenster sehen. Ihr Herz schlug schnell, und sie eilte wieder zu ihrer eigenen Kabine, um alle Schubladen nach den Gegenständen zu durchsuchen, die sie brauchte. Im Schreibtisch fand sie eine Rolle Bindfaden, schnitt mehrere Stücke davon ab und machte eine Schlinge an das Ende. Sie hatte sich nun einen Plan zurechtgelegt, wie sie vorgehen wollte.

 

Sie ging wieder zu Hollin zurück, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Er blieb auf dem Fußboden sitzen, schaute zu ihr auf und grinste.

 

»Ich bin hier auf Posten«, rühmte er sich. »Die ganze Mannschaft ist dort unten.« Er zeigte hinunter, wo mehrere Leute mit nicht gerade sehr vergnügten Gesichtern an der Reling standen, rauchten und leise miteinander sprachen. Einer wandte sich um und schaute düster zu ihm hinauf. »Wenn sie frech werden, weiß ich, was ich zu tun habe.«

 

»Das glaube ich auch«, sagte sie stockend. Aber er legte ihre Erregung anders aus.

 

»Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben, ich schieße nur, wenn es absolut notwendig ist. Ich bin im Grunde ein sehr gutherziger Mensch, jeder kann alles von mir haben.« Er sah sie wieder an. »Besonders wenn mich Frauen um etwas bitten …«

 

Als er dann wieder schmunzelnd auf das Vorderdeck hinunterschaute, führte sie ihr Vorhaben aus und hatte vollen Erfolg. Ihr Herz stand fast still, als sie die hintere Pistole aus seinem Gürtel zog. Er merkte es nicht, weil der Gürtel hinten auflag und er deshalb den Gewichtsunterschied nicht wahrnehmen konnte.

 

Plötzlich erhob sie sich mit einer Entschuldigung und ging wieder nach hinten. Ihre Knie zitterten. Mit bebenden Fingern befestigte sie die Schnur am Pistolengriff, und als sie an den roten Ventilator kam, ließ sie den Bindfaden nach unten hängen. Es dünkte ihr fast eine Ewigkeit, bis sich eine Hand aus dem Fenster streckte und die Waffe nach innen zog. Sie war einer Ohnmacht nahe und mußte sich am Geländer festhalten.

 

Nach einer Weile ging sie wieder zu Mr. Hollin. Er wandte sich nach ihr um, aber glücklicherweise hatte er nichts von alledem bemerkt, was sie eben getan hatte.

 

»Sie fühlen sich wohl ein wenig seekrank?« fragte er so stolz wie jemand, der nicht unter diesem Übel zu leiden hat. »Sie sehen so blaß wie der Tod aus, mein Fräulein. Setzen Sie sich doch wieder!«

 

»Ja, das will ich tun«, erwiderte Penelope.

 

»Nehmen Sie einen guten Rat von mir an. Lassen Sie sich nicht mit diesem John ein; das ist ein Verbrecher, ein ganz gemeiner Kerl, der seinen besten Freund verrät. Er war gerade im Begriff, das auch mit mir zu machen. Er wollte mich in einem offenen Boot auf dem Meer aussetzen, und vorher hat er mir doch versprochen, mich nach Südamerika mitzunehmen. Und ich sollte so viel Geld bekommen, daß ich mein ganzes Leben lang von den Zinsen leben könnte. Was halten Sie von einer solchen Gemeinheit?«

 

»Ich glaube nicht, daß er so etwas getan hätte.«

 

»Sie glauben es nicht?« fuhr Hollin böse auf. »Da sieht man mal, wie wenig Sie von ihm wissen. Ich kann Ihnen nur sagen – aber was ist denn das?« Er war mit der Hand an das leere Pistolenfutteral gekommen. »Nun machen Sie keine Tricks mit mir, mein Fräulein! Wo ist die Pistole?«

 

»Was für eine Pistole?« fragte Penelope, und es gelang ihr, Erstaunen zu heucheln.

 

»Ich möchte einen Eid darauf leisten, daß ich sie in meinen Gurt gesteckt habe!«

 

Er schaute sie argwöhnisch an, aber er sah ganz deutlich, daß sie keine Waffe von der Größe verstecken konnte. Er wandte sich wieder um.

 

»Ich habe sie doch bestimmt in meinen Gürtel gesteckt! Aber vielleicht täusche ich mich auch.«

 

»Haben Sie etwas verloren?« fragte sie unschuldig.

 

Aber in diesem Augenblick fielen mehrere Schüsse. Hollin eilte die Treppe hinunter.

 

Arthur und Cynthia unterhielten sich gerade darüber, welchen Weg sie von Cadiz aus nehmen wollten, als sie ein dröhnendes Geräusch hörten. Jemand trat heftig mit dem Fuß gegen die Tür, und sie konnten leicht feststellen, woher der Lärm kam.

 

»Wenn Sie beide nicht ruhig sind, dann werde ich Sie an Händen und Füßen fesseln«, drohte Arthur, aber er sprang hastig zur Seite, als eine der Türfüllungen splitterte und die Tür aufflog. Er zog sofort seinen Revolver und schoß, ohne zu zielen. Aber sein Schuß und der andere klangen wie einer, und er fiel zu Boden.

 

Cynthia gab den dritten Schuß ab, aber ihre Hand zitterte, und die Kugel verfehlte ihr Ziel. Im nächsten Augenblick ergriff John sie an der Schulter und übergab sie Bobby, der sie entwaffnete.

 

»Schnell in die Kabine mit ihr!« rief er.

 

Sie stießen sie in die Kabine, die sie eben verlassen hatten. John fand den Schlüssel zu den Handschellen auf Mr. Dorbans Kabinentisch, wo auch Schachteln mit Munition standen. Gleich darauf waren sie wieder frei. John kam gerade zur rechten Zeit, um dem wütenden Hollin in den Weg zu treten, der den Gang entlanglief. Mit philosophischer Ruhe ergab sich der Mann in die veränderte Situation, als ihm die Waffen abgenommen wurden.

 

»Wo ist Dorban?« fragte Bobby.

 

»Ich werde nach ihm suchen. Bewache du so lange die beiden, Bobby.«

 

John öffnete schnell die Kabinen, in denen der Captain und Mr. Orford eingeschlossen waren, und eilte dann nach oben. Arthur Dorban war nirgends zu sehen, auch auf dem Bootsdeck war er nicht zu entdecken. Nur die beiden Steuermannsmaate hielten sich auf der Kommandobrücke auf. Zwischen den beiden Schornsteinen auf dem rechten Achterdeck erhob sich eine kleine Kabine, in der die Funkstation untergebracht war. Instinktiv eilte John dorthin und fand dort auch Dorban, der eben hinaushinkte, als John zur Tür kam.

 

»Sie kommen zu spät, mein Freund. Ich habe Ihren Funker veranlaßt, eine Botschaft abzusenden, die sehr unangenehme Folgen für Sie haben wird.«

 

John stieß ihn beiseite und ging hinein.

 

»Sie ist schon abgegangen«, sagte der Mann. »Er hat gedroht, mich zu erschießen, wenn ich ihm nicht gehorchte.«

 

»Wie lautete der Spruch?«

 

»Ich habe dem Kriegsschiff mitgeteilt, daß Sie an Bord sind.«

 

»Welchem Kriegsschiff?«

 

Er eilte an Deck und beschattete die Augen mit der Hand, um besser sehen zu können. Der Funker zeigte auf eine schwere graue Wolke am Horizont; es war schwer, die Umrißlinien des ebenfalls grauen Kriegsschiffes davon zu unterscheiden.

 

Sie gingen wieder zurück.

 

»Wir bekommen jetzt Antwort«, sagte der Funker, als er wieder an seinem Gerät saß.

 

»Was funken sie?« fragte John.

 

»Drehen Sie hart nach Backbord bei und halten Sie eine Meile von uns entfernt. Wir kommen an Bord.«

 

Der Captain stand am Steuer, als John auf die Brücke trat. Er sah eben noch, wie Dorban von zwei Matrosen gefesselt und die Treppe hinuntergebracht wurde. John erklärte in einigen Worten die Lage.

 

»Wir werden ihm aus dem Wege fahren«, sagte der Captain. »Das Schiff gehört zur Mynthic-Klasse; die fahren so langsam, daß sie uns nicht überholen können.«

 

Er gab schnell seine Befehle, und die ›Polyantha‹ legte sich zur Seite, als sie eine vollständige Wendung machte und in entgegengesetzter Richtung weiterfuhr. Als sie kaum eine halbe Meile weit waren, kam eine neue drahtlose Nachricht. Der Captain brummte, als er sie las.

 

»Sie wollen das Feuer auf uns eröffnen, wenn wir nicht sofort stoppen.«

 

Er telefonierte zum Maschinenraum.

 

»Holen Sie aus den Maschinen heraus, was Sie können, Mackenzie! Wir müssen einen Rekord machen!«

 

Kaum hatte er das gesagt, als eine Rauchwolke von dem Kriegsschiff emporstieg. Sie hörten das Donnern des Geschützes, und gleich darauf erhob sich eine Wassersäule an der Stelle, wo das Geschoß eingeschlagen hatte. Die zweite Granate kam ihrem Ziel schon näher.

 

»Wir bieten ihnen ein zu großes Ziel. Wenden Sie nach links«, sagte er zu dem Steuermann.

 

Jetzt waren drüben zwei Geschütze in Tätigkeit. John sah die Mündungsfeuer und hörte das Heulen der großen Granaten. Aber sie richteten keinen Schaden an. Das Schiff fuhr mit größter Geschwindigkeit und war bald aus der Feuerzone entkommen. Das Kriegsschiff stellte das Feuer ein. Gleich darauf wurde ein eiliger Kriegsrat im Salon abgehalten. Penelope sah durch ein Deckenlicht hinunter, wie alle um den großen Tisch saßen und eifrig auf den Karten suchten.

 

»Das ist der Augenblick, in dem sich meine Organisation bewährt«, sagte Mr. Orford, der seit langer Zeit wieder einmal vergnügt dreinschaute. »Hier ist der Punkt, Captain.« Er bezeichnete mit dem Bleistift eine Stelle auf der Karte. »Dorthin habe ich einen Tanker beordert. Er wartet auf uns, um uns mit Brennstoff zu versorgen. Ich habe das Tankschiff gechartert, es fährt unter amerikanischer Flagge.«

 

»Ich bin nicht wegen des Brennstoffs beunruhigt«, erwiderte der Captain. »Wir haben noch genug für weitere zehn Tage. Ich habe viel schwerere Sorgen. In vierundzwanzig Stunden werden wir hier von Torpedobootszerstörern angehalten werden. Sie haben außerdem ein Flugzeug in Gibraltar, das sie ausschicken werden; ich sehe nicht, wie wir ihnen entkommen könnten.«

 

»Lassen Sie sie uns doch ruhig anhalten«, meinte Orford. »Das einzige Zeugnis gegen uns sind die beiden Leute, die wir an Bord haben.«

 

»Und Mr. John – und die junge Dame«, verbesserte ihn der Captain.

 

»Sie haben recht«, nickte Mr. Orford. »Aber wenn sie uns eingeholt haben, werden wir nicht mehr an Bord sein.«

 

»Aber wo wollen Sie denn bleiben?« fragte der Captain. »Wir können doch nicht zur spanischen Küste zurückfahren?«

 

»Wir werden einfach an Bord des Tankers gehen und mit ihm nach Boston, Massachusetts, fahren. Niemand wird etwas davon wissen. Den Kapitän kenne ich persönlich, und die Mannschaft werde ich schon irgendwie beruhigen können.«

 

Der Captain biß sich nachdenklich auf die Lippen.

 

»Wenn der Tanker wirklich dort ist –«

 

»Der ist bestimmt dort«, entgegnete Mr. Orford etwas ungehalten. »Ich habe so disponiert.«

 

John ging nach oben, um Penelope die Lage zu erklären.

 

»Ich fürchte, wir können Ihnen an Bord des Tankschiffes nicht dieselben Annehmlichkeiten bieten wie hier, aber Sie haben dann wenigstens ein festes Reiseziel. Wir fahren nach Boston und werden in zehn Tagen dort ankommen. Dann sind alle Schwierigkeiten für Sie zu Ende, und Sie kommen nach allem doch wieder heil nach Kanada zurück!«

 

Sie lächelte ein wenig traurig.

 

»Ich hatte nicht erwartet, auf diese Weise wieder nach Kanada zurückzukommen. Aber solange wir überhaupt noch irgendwo hinkommen –«

 

Sie fühlte sich sehr unzufrieden und wußte eigentlich selbst nicht, warum, bis sie erkannte, daß seine Worte sie verletzt hatten. Er nahm einfach an, daß sie nur wünschte, nach Kanada zurückzukehren. Von dieser phantastischen Heirat, die Mr. Orford plante, erwähnte er überhaupt nichts. Es war so absurd, aber sie hatte doch ihre Einwilligung gegeben. Sie mußte ihre Gedanken erst wieder sammeln.

 

»Es ist eigentlich sehr schade«, gestand sie. Sie hätte sich die Zunge abbeißen können, daß sie das gesagt hatte.

 

Glücklicherweise schien er ihrem Gedankengang jedoch nicht gefolgt zu sein.

 

»Ich werde mich an Bord des Tankers ganz wohl fühlen. Bitte, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich habe die ›Polyantha‹ allerdings sehr liebgewonnen, und es tut mir leid, daß ich sie verlassen muß.«

 

»Trotz der vielen Aufregungen und geheimnisvollen Dinge, die Sie erlebt haben?« fragte er lächelnd.

 

Sie nickte.

 

Die Organisation Mr. Orfords klappte so genau, daß sie morgens um zwei Uhr schon das Tankschiff trafen. Die außerordentlich ruhige See machte es möglich, direkt neben ihm anzulegen.