Kapitel 32

 

32

 

Marborne hatte eine neue Forderung an Hamon gestellt und nur fünfhundert Pfund erhalten. Sofort schickte er ein zweites Schreiben, erfuhr aber, daß Hamon weggefahren sei. Er hielt das für einen Vorwand, ging selbst in Hamons Wohnung und fragte den Butler aus. Miss Hamon war auch nicht da; sie war mit dem Elfuhrzug nach dem Festland abgereist. Der Butler glaubte, daß sie mindestens eine Woche fortbleiben werde.

 

Obgleich die Nacht sehr kühl war, öffnete Marborne das Fenster in seinem Zimmer, um auf den Verkehr in Cambridge Circus hinabzusehen. Die Kinofassade in der Nähe war grell beleuchtet. Er saß lange und schaute zu, wie das Publikum zu den Vorstellungen strömte.

 

Plötzlich eilte ein großer, starker Mann quer über die Straße, da der Verkehr auf dem Fahrdamm im Augenblick nicht allzu stark war. Das mußte ein Fremder sein. Marborne beobachtete ihn einige Zeit. Der Mann schien nicht genau zu wissen, wo er sich hinwenden solle. Zuerst ging er an den Häusern des Platzes entlang, dann kam er zurück und stand unentschlossen auf einer der Verkehrsinseln, wo das Licht einer großen Bogenlampe auf ihn fiel. Er mochte Seemann sein, denn er trug einen wollenen Sweater, eine dicke Tuchjacke und eine Sportmütze. Als Marborne ein elegantes Auto im Verkehr verfolgte, das vor dem Theater hielt, verlor er ihn aus den Augen und dachte nicht mehr an ihn.

 

Er schloß das Fenster, nahm ein Spiel Karten aus einer Schublade und begann eine Patience, um seine Nervosität zu bekämpfen. Er hörte Geräusche, Klopfen und Flüstern und wußte doch, daß alles nur Einbildung war. Schließlich setzte er den Hut auf, da er die Einsamkeit nicht länger ertragen konnte, und ging die Shaftesbury Avenue zum Piccadilly Circus entlang. Dort blieb er stehen und beobachtete eine Weile den Verkehr.

 

Dann machte er noch einen kleinen Spaziergang und ging schließlich zum Cambridge Circus zurück. Er fühlte sich jetzt etwas wohler. Plötzlich sah er den großen, fremdartig aussehenden Matrosen wieder. Sein bleiches Gesicht und sein dünner, schwarzer Schnurrbart fielen ihm auf. Er stand in der Nähe, als Marborne aufschloß, kam auf ihn zu und zog die Mütze.

 

»Entschuldigen Sie«, sagte er mit einem gutturalen Akzent, »sind Sie Mr. Marborne?«

 

»Ja, das ist mein Name.«

 

»Ich habe dies hier für Sie abzugeben.« Er reichte ihm ein großes Kuvert. »Es ist von Mr. Hamon, aber ich muß erst sicher sein, daß Sie wirklich Mr. Marborne sind.«

 

»Kommen Sie doch mit nach oben«, erwiderte Marborne schnell. Hamon hat wieder Geld geschickt, dachte er vergnügt. Dieser dicke Brief konnte nur Geld enthalten; Hamon hatte allerdings manchmal merkwürdige Boten. Er öffnete die Tür und ließ den Mann eintreten, der lautlos hinter ihm die Treppe heraufgestiegen war.

 

»Sie sind also Mr. Marborne?« fragte der Fremde, als sie im Zimmer waren. Er sprach nur gebrochen englisch. »Dies ist für Sie. Wollen Sie bitte öffnen und mir den Empfang bestätigen?«

 

Marborne zerschnitt die Schnur und riß den Umschlag auf. Eine Sekunde lang wandte er dem Besucher den Rücken zu, und Ahmet, der Mauleseltreiber, zog ein gekrümmtes Messer aus jeder Tasche. Mit einem unterdrückten Schrei stieß er nach dem Mann.

 

Marborne wußte selbst nicht, warum er plötzlich aufschaute. In dem Spiegel über dem Kamin sah er das Blitzen der beiden Messer und drehte sich blitzschnell um. Im nächsten Augenblick hob er den Tisch auf und schleuderte ihn gegen den Mörder. Als er nach seinem Revolver griff, ging plötzlich das Licht aus. Marborne hörte Schritte bloßer Füße auf der Treppe und eilte hinter dem Mann her, fiel dabei aber über den Tisch. Als er das Licht wieder angedreht hatte, waren Treppe und Gang unten leer; auch auf der Straße war nichts von dem fremden Matrosen zu sehen. Nachdem er die Tür zweimal abgeschlossen hatte, ging Marborne in seine Wohnung zurück, goß sich ein großes Glas Whisky ein und trank es aus.

 

»Dieses Schwein!« sagte er atemlos und untersuchte den Brief.

 

Es lag nur geschnittenes Zeitungspapier darin. So war es also gemeint!

 

Er dachte klar und kühl über seine Lage nach. Das war also der wirkliche Hamon, der sich durch nichts abhalten ließ, das verlorene Dokument wiederzubekommen.

 

Marborne saß eine halbe Stunde lang und brütete vor sich hin, dann erhob er sich, zog Rock und Weste aus, legte auch das Oberhemd ab und schließlich das Unterhemd. An seiner linken Seite war auf dem bloßen Körper eine kleine Tasche aus Seide mit vielen Streifen von Heftpflastern befestigt. Er klebte noch zwei neue darüber und zog sich wieder an. Dann untersuchte er seinen Revolver sorgfältig und steckte ihn in die Hüfttasche. Jetzt war nur eins zu tun, und das mußte gleich getan werden. Vor allem mußte er sofort das Haus verlassen, bevor der Mörder, der auf ihn lauerte, sich von seinem Schrecken erholt hatte. Er zog den Mantel an, nahm einen schweren Spazierstock, in dem ein Gummiknüppel verborgen war, und ging hinunter.

 

Jim Morlake war die Lösung all seiner Schwierigkeiten, er konnte ihn auch gegen Gefahren schützen. Als er die Tür geschlossen hatte, schaute er nach links und rechts, aber wie er erwartet hatte, war nichts von dem fremden Matrosen zu entdecken.

 

Kapitel 33

 

33

 

Um elf Uhr hörte Jim, der noch eifrig in seinem Arbeitszimmer tätig war, Schritte auf dem geschotterten Fahrweg. Er öffnete die Tür und hörte die Unterhaltung zwischen Binger und einem Unbekannten. Plötzlich kam Binger sehr erregt zu ihm.

 

»Es ist dieser verfluchte Marborne!« flüsterte er ihm zu.

 

»Führen Sie ihn ruhig herein!«

 

Marborne sah hager und angegriffen aus. Jim glaubte, daß er Unannehmlichkeiten mit ihm haben werde, aber die Haltung des Mannes blieb höflich.

 

»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie so spät noch störe, Mr. Morlake«, begann er, »und ich hoffe, daß Sie nicht denken, ich käme wegen des Vorfalls von letzter Nacht zu Ihnen.«

 

Jim schwieg.

 

»Tatsächlich bin ich –« Plötzlich fuhr Marborne nervös herum. »Was ist denn das?« fragte er aufgeregt.

 

Wieder waren Schritte auf dem Fahrweg zu hören.

 

»Wer mag das sein?« fragte er heiser.

 

»Das werde ich feststellen«, entgegnete Jim, ging hinaus und öffnete selbst dem Besucher die Tür.

 

»Treten Sie bitte näher, Welling! Sie sind der zweite, den ich heute abend bestimmt nicht erwartet hätte.«

 

»Wer war denn der erste?«

 

»Ein alter Freund von Ihnen – Marborne.«

 

Captain Welling runzelte die Stirn.

 

»Sehr interessant. Ist er hergekommen, um sein Geld von Ihnen zurückzuverlangen?«

 

»Das nahm ich zuerst auch an. Aber ich glaube, seine Unruhe hat eine viel ernstere Ursache.«

 

Als Marborne sah, wer Jims neuer Besucher war, atmete er erleichtert auf.

 

»Haben Sie einen Freund erwartet?« fragte Welling.

 

»Nein«, stammelte Marborne verwirrt.

 

»Sie können aber Ihren Revolver ruhig fortlegen – es ist eine sehr schlechte Angewohnheit, Waffen mit sich herumzutragen.«

 

Marborne hatte sich wieder etwas erholt.

 

»Mr. Morlake«, wandte er sich an Jim, »ich möchte Sie heute abend nicht mehr mit meinen Angelegenheiten belästigen – vielleicht können Sie mir morgen früh ein paar Minuten schenken?«

 

»Wenn ich Ihnen hier im Wege bin –« begann Welling.

 

»Nein, durchaus nicht. Sagen Sie mir nur, wo ich während der Nacht schlafen kann! Vermutlich gibt es hier im Dorf ein Gasthaus oder ein Hotel?«

 

»Jawohl, hier ist ein Gasthaus – der ›Rote Löwe‹. Ich wohne selbst dort. Aber ich kann ja auch warten. Mein Geschäft ist nicht so sehr dringend. Ich wollte nur eine oder zwei Fragen an Mr. Morlake stellen.«

 

»Nein, danke, es genügt, wenn ich Mr. Morlake morgen früh sprechen kann.«

 

Marborne war inzwischen zu einem anderen Entschluß gekommen. Er wollte Hamon noch eine letzte Chance geben, da er hier nicht einen Pistolenschuß von ihm entfernt wohnte. Am Morgen wollte er ihm noch ein Angebot machen, und Hamon würde besser und williger zahlen, da jetzt auch noch eine Anklage wegen versuchten Mordes gegen ihn erhoben werden konnte. Er verabschiedete sich von den beiden und ging.

 

»Was ist eigentlich mit Marborne los?« fragte Welling.

 

»Ich weiß es nicht. Er war sehr nervös, und ich hatte den Eindruck, daß er in irgendeiner Gefahr schwebt. Aber vielleicht hat er auch wieder getrunken.«

 

»Nein, getrunken hatte er nicht. Ich möchte doch zu gern wissen, was er wollte.« Die letzten Worte sprach er fast zu sich selbst. »Das beste ist, wir rufen ihn wieder zurück.«

 

Sie gingen zusammen auf den Fahrweg hinaus, konnten aber nichts mehr von Marborne sehen.

 

»Haben Sie ein Feuerzeug bei sich?« fragte Welling beunruhigt.

 

Jim reichte ihm seine Taschenlampe, und der Detektiv leuchtete den Fahrweg ab. Ringsumher herrschte tödliche Stille.

 

Auf halbem Weg zwischen Tor und Haus hielt er plötzlich an und richtete den Lichtschein auf Sträucher, die am Weg standen.

 

Dort lag Marborne mit dem Gesicht nach unten. Sie konnten eine leichte Wunde am Hinterkopf feststellen, aber getötet hatte ihn eine seidene Schnur, die um seinen Hals geschlungen war.

 

Kapitel 34

 

34

 

»Er ist wirklich tot«, sagte Jim, nachdem er sich in seinem Arbeitszimmer eine halbe Stunde mit der reglosen Gestalt abgemüht hatte.

 

Er hatte Marborne vollständig entkleidet und künstliche Atmung angewandt. Aber der Mann mußte einige Sekunden, bevor sie ihn auffanden, gestorben sein.

 

»Der Mörder hat zuverlässig gearbeitet, es muß sehr schnell gegangen sein. Sehen Sie einmal, bis auf die Haut ist er durchsucht worden. Hier hatte er sein Geheimnis verwahrt – er hat es direkt auf dem Körper getragen. Das ist ein alter Trick. Vorläufig können wir nichts anderes tun als die Ortspolizei alarmieren. Der Mörder muß sich über die Wiesen entfernt haben, denn er ist nicht durch das vordere Parktor gegangen. Vielleicht hält er sich in einem der kleinen Wälder auf, aber auch das ist sehr zweifelhaft. Morlake, Sie kennen doch hier die Gegend genau – welchen Weg könnte er eingeschlagen haben?«

 

»Das hängt ganz davon ab, ob auch er genau Bescheid wußte. Vermutlich hat er auf der Brücke den Fluß überschritten und ist dann am Ufer entlang zur Amdon Road gelaufen. Von dort aus kann er ein halb Dutzend verschiedene Wege eingeschlagen haben. Vielleicht finden Sie Spuren, wenn Sie einmal die Mauern besichtigen, die den Park umgeben.«

 

Aber hierin täuschte sich Jim.

 

Weder das Tageslicht noch die Polizei brachten den Mörder in ihre Hände. Nur eine Entdeckung machte man: Auf dem Weg am Fluß wurde ein gebogenes Messer gefunden, das der Verbrecher in der Eile hatte fallen lassen. Es ging deshalb an alle Polizeistationen im Umkreis von zwanzig Meilen der Befehl, nach einem Araber zu fahnden. Jim hatte diesen Rat gegeben, da er die Zusammenhänge vermutete.

 

Welling durchsuchte Marbornes Wohnung und besichtigte den Schauplatz des Kampfes. Tisch und Stühle lagen kreuz und quer übereinander. Er entdeckte auch den Scheinbrief, der an Marborne gerichtet war.

 

»Wahrscheinlich hat sich der Mörder unter diesem Vorwand Zutritt zur Wohnung verschafft«, erzählte er später Jim Morlake. »Marborne muß den Angriff wohl abgeschlagen haben – und aus diesem Grund kam er nachher zu Ihnen.«

 

»Aber warum ausgerechnet zu mir?«

 

»Er wollte Ihnen das Dokument verkaufen, mit dem er Hamon erpreßte. Bestimmt glaubte er, Hamon habe den Araber beauftragt, ihn zu beseitigen. Und Hamon ist auch sicher an diesem Mord beteiligt. Aber wieder haben wir nicht genug Beweismaterial gegen ihn in der Hand«, fügte er zweifelnd hinzu, »um eine Durchsuchung seiner Wohnung zu rechtfertigen.«

 

Welling schlug sein Hauptquartier in Wold House auf. Eine merkwürdige Wahl, dachte Hamon, als er in Jims Arbeitszimmer gerufen wurde. Er drückte auch seine Verwunderung hierüber aus.

 

»Das mag merkwürdig, vielleicht sogar tragisch sein«, erwiderte Welling, der nicht länger liebenswürdig und höflich war, »aber mir paßt dieser Ort, und deshalb muß er auch für Sie gut genug sein. Haben Sie die Nachricht schon gehört?«

 

»Sie meinen, daß Marborne getötet wurde? Ja, der arme Mensch!«

 

»Er war doch Ihr Freund?«

 

»Ich kannte ihn und kann sagen, daß er mein Freund war.«

 

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

 

»Ich habe ihn seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen.«

 

»War Ihre letzte Unterredung mit ihm freundschaftlich?«

 

»Ja, er kam, um sich Geld zu leihen – er wollte ein eigenes Geschäft gründen.«

 

»Und Sie haben es ihm wahrscheinlich auch gegeben?« fragte Welling trocken. »Mit dieser Angabe wollen Sie wohl die finanziellen Transaktionen erklären?«

 

»Behaupten Sie, daß ich nicht die Wahrheit sage?«

 

»Ich behaupte sogar, daß Sie lügen«, erwiderte Welling kurz.

 

»Ich bin dabei, einen Mord aufzuklären. Sie gaben Marborne das Geld aus rein egoistischen Gründen. Er hatte ein Dokument in seinem Besitz, das Sie unter allen Umständen wiederhaben wollen, und da er es Ihnen nicht geben wollte, mußten Sie ihm eben große Summen zahlen.«

 

»Sie machen hier eine Feststellung, die nur vor Gericht erörtert werden könnte.«

 

»Das wird auch der Fall sein, wenn ich den Mörder fange«, sagte Welling grimmig.

 

»Ist Ihnen denn nicht aufgefallen«, erwiderte Hamon gehässig, »daß dieser Marborne ein Feind Morlakes war und daß man ihn ausgerechnet auf seinem Grundstück tot auffand?«

 

»Darüber habe ich schon die ganze Nacht nachgedacht. Unglücklicherweise – für Ihre Theorie – war Morlake in meiner Gesellschaft, als Marborne getötet wurde. Ist es übrigens wahr, daß Marborne Sie erpreßt hat? Geben Sie es ruhig zu, denn wir haben bereits genug Beweise dafür in der Hand. Auch Slone hat es durch seine Aussagen bestätigt.«

 

»Was Slone Ihnen erzählt hat, interessiert mich durchaus nicht. Ich kann nur wiederholen, daß dieser unglückliche Mann Geld von mir lieh, um ein eigenes Geschäft aufzumachen. Wenn Sie Beweise für das Gegenteil haben, dann lassen Sie es mich bitte wissen.«

 

Niemand wußte besser als Welling, daß solche Beweise nicht existierten. Sein Bluff hatte keinen Erfolg gehabt. Aber er war nicht besonders unglücklich darüber und ging sofort zu einem neuen Angriff über.

 

»Sie haben in letzter Zeit eine Anzahl von Code-Telegrammen nach Marokko geschickt – ich denke hauptsächlich an eins, das sich auf einen gewissen Ali Hassan bezog. Wer ist das?«

 

Wieder wurden Hamons Blicke ängstlich, aber es gelang ihm zu lächeln.

 

»Nun weiß ich auch, warum man Detektive fleißige Leute nennt«, meinte er. »Sie sind ja sehr tätig gewesen in der letzten Nacht. Ali Hassan ist eine maurische Zigarrenmarke.«

 

Er schaute auf Jim, der zur Bestätigung nickte.

 

»Das ist allerdings wahr, aber es ist auch der Name eines maurischen Mörders, der vor fünfundzwanzig Jahren hingerichtet wurde.«

 

»Dann wählen Sie bitte, was Ihnen besser gefällt«, sagte Hamon ironisch.

 

»Ist das hier nicht Ihre Handschrift?« Welling nahm von dem Tisch hinter sich ein Kuvert und hielt es Hamon hin.

 

»Nein«, sagte Ralph, ohne zu zögern.

 

»Marborne wurde von einem Araber getötet, den Sie zu diesem Zweck eigens kommen ließen.«

 

»Mit anderen Worten, ich bin an diesem Mord mitschuldig?«

 

Welling nickte.

 

»Wenn es nicht so außerordentlich komisch wäre, müßte ich ärgerlich sein. Unter diesen Umständen lehne ich es ab, noch irgendwelche Aussagen zu machen. Sie können mich zu nichts zwingen, niemand weiß das besser als Sie, Welling. Und ich werde Ihnen keine weitere Auskunft geben.«

 

Mit diesen Worten ging er.

 

»Er hat uns schon mehr gesagt, als er selbst ahnt«, bemerkte Welling, als sich die Tür hinter Hamon geschlossen hatte. »Wer ist aber Sadi Hafis?«

 

»Ein entsetzlich hinterlistiger Schuft, der in Tanger lebt«, sagte Jim rasch. »Ein skrupelloser Mann, außerordentlich nützlich für Leute wie Hamon und andere dunkle Geschäftsgründer, die vielversprechende Prospekte in die Welt hinaussenden wollen. Er ist ein Agent Hamons, ich kenne ihn schon seit vielen Jahren – wir haben nämlich eine kleine Schießerei miteinander gehabt, als ich damals beim Abstecken der beabsichtigten Fes-Eisenbahn beschäftigt war. Er bezieht sicher von einem halben Dutzend Interessenten Pensionen, und ich glaube, daß er mehr Verbrechen auf dem Gewissen hat als irgendein anderer Mann in Marokko.«

 

»Meinen Sie damit Mord?«

 

Jim lächelte.

 

»Ich sagte Ihnen doch eben: Verbrechen. Mord ist im Rifgebirge kein besonders schlimmes Vergehen.«

 

»Wenn wir diesen maurischen Burschen fangen, werden wir ja alles erfahren.«

 

»Der wird nicht das mindeste gegen Sadi Hafis aussagen. Die Scherife sind in gewisser Weise heilige Leute, und der Mörder wird sterben, ohne ein Wort zu sagen, das Sadi Hafis oder irgend jemanden sonst belasten könnte.« –

 

Durch Lord Creith erfuhr Welling später, daß Ralph Hamon am Morgen nach dem Mord mit der zweiten Post einen umfangreichen eingeschriebenen Brief erhalten hatte. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß das begehrte Dokument darin lag.

 

*

 

Joan benützte die erste Gelegenheit, die sich ihr bot, um ihren Vater um eine Aussprache zu bitten.

 

Er sah sie besorgt an.

 

»Was fehlt dir, Kind? Du bist sehr blaß.«

 

»Es geht mir gut, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, aber du wirst wohl sehr böse auf mich sein –«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Dazu gehört schon furchtbar viel, daß ich mit dir unzufrieden sein könnte, Joan«, sagte er und legte den Arm um ihre Schulter. Er führte sie zu einem Fenstersitz in der Bibliothek.

 

»Vater«, begann sie endlich leise, »ich habe Ferdie Farringdon geheiratet, als ich noch in der Schule war.«

 

Er zeigte keine Erregung.

 

»Oh, die Farringdons sind eine gute, alte Familie, nur sind sie leider dem Trunk verfallen«, meinte er ruhig.

 

Joan sank ihm schluchzend in die Arme.

 

Kapitel 35

 

35

 

»Bitte, erzähle mir alles genau«, bat er, als sie sich etwas beruhigt hatte. »Und lasse vor allem den Kopf nicht hängen, Joan. Es gibt nichts, was meine Zuneigung zu dir irgendwie beeinträchtigen könnte. Du bist die einzige in der Welt, die mir nicht lästig und unangenehm ist.«

 

»Bannockwaite ist an allem schuld. Er gründete damals die Gesellschaft der Mitternachtsmönche. Die Schüler von Hulston kletterten über die Mauern; wir saßen zusammen im Klostergarten und aßen allerlei Näschereien. Es war so eine Art Mitternachtspicknick. Es wird dir komisch vorkommen, aber es ging ganz harmlos dabei zu. Alle andern merkwürdigen Gesellschaften, die er gründete, waren ähnlich. Wir waren also die Mitternachtsmönche, und meine beste Freundin, Ada Lancing, war unsere Äbtissin. Natürlich haben die Nonnen nichts von der Sache erfahren. Die Armen wären wahrscheinlich vor Furcht gestorben, wenn sie auch nur im Traum geahnt hätten, was dort vorging. Eins der Mitglieder gab nun die Anregung, die beiden Zweige der Geheimgesellschaft für ewige Zeiten miteinander zu verbinden. Zu diesem Zweck sollte eine symbolische Hochzeit stattfinden. Bannockwaite war damals gerade von Oxford gekommen und hatte eine kleine Kapelle im Wald gebaut. Er hat später nie die Verbindung mit einer seiner Geheimgesellschaften aufgegeben, und besonders stark war er an den Mitternachtsmönchen Interessiert, da sie seine älteste Gründung waren. Er kam an einem unserer Sommernachtsfeste zu uns und führte den Vorsitz. Wir zogen Lose, wer die Braut sein sollte –«

 

»Und die Wahl fiel auf dich?« fragte Lord Creith freundlich.

 

»Nein, auf Ada. Sie war begeistert, bis der Tag der Hochzeit selbst kam. Es war ein Feiertag, und den älteren von uns war erlaubt, zu zweien auszugehen. Mr. Bannockwaite hatte alles arrangiert. Der Bräutigam mußte sich wie ein Mönch kleiden und die Kapuze über das Gesicht ziehen, und die Braut war dicht verschleiert. Keiner wußte, wer der andere war, selbst wir durften nicht wissen, wer die Lose gezogen hatte. Kannst du dir etwas Verrückteres vorstellen? Mr. Bannockwaite selbst wollte die Trauung vollziehen, und wir gingen alle zu der kleinen, hübschen Kapelle in der Nähe von Ascot … Aber in der Sakristei brach die arme Ada zusammen. Damals kam mir zum erstenmal der Gedanke, daß die Sache eigentlich furchtbar ernst war. Um es kurz zu machen, Vater – ich bin für Ada eingesprungen.«

 

»Und du hast nie das Gesicht des jungen Mannes gesehen?«

 

»Doch, die Mönchskapuze fiel einen Augenblick zurück. Als die Trauung vorüber war, unterzeichnete ich das Protokoll. Dort stand auch sein Name, und ich habe ihn gelesen. Aber ich glaube nicht, daß er meinen kennt – es sei denn, daß er später zur Kapelle zurückging.«

 

»Hast du ihn nicht wiedergesehen, bis – er hierherkam? Früher hörte ich einmal, er sei gestorben.«

 

Lord Creith stopfte eine Pfeife, seine Hand zitterte.

 

»Das war eine ganz verabscheuungswürdige Handlungsweise von Bannockwaite. Aber es hätte ja noch schlimmer sein können. Es ist furchtbar traurig für dich, Joan, aber es gibt keinen Grund, deshalb zu verzweifeln.«

 

»Es ist schlimmer, als du denkst.«

 

»Warum denn, mein liebes Kind? Liebst du einen anderen?«

 

Sie nickte.

 

»Das ist allerdings schmerzlich«, sagte er und richtete sich auf. »Aber komm, fasse dich.« Sie küßte ihn und ging dann in ihr Zimmer.

 

Lord Creith fand Hamon im Wohnzimmer. Der Finanzmann machte ein düsteres Gesicht und überhäufte ihn mit Vorwürfen, daß er der Polizei Auskunft über seine Privatangelegenheiten gegeben habe. Schließlich wurde es dem Lord zuviel, und er wies Hamon kurzerhand aus dem Haus.

 

Diese Entwicklung der Dinge änderte Hamons Pläne erheblich. Der Tod Marbornes und die Wiedererlangung des Dokumentes versprachen ihm keine vollkommene Sicherheit, und da er nun unter Verdacht stand, an dem Mord beteiligt zu sein, hatte er doppelten Grund, Creith nicht zu verlassen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Deshalb siedelte er in den ›Löwen‹ um.

 

Er hatte Ahmet nur den Auftrag gegeben, Marborne zu verletzen, nicht ihn zu töten – also war es doch nicht seine Schuld, wenn dieser verrückte Kerl seine Instruktionen überschritt.

 

Nach kurzer Überlegung telegrafierte er an Lydia, daß sie ihn am nächsten Tag in London treffen solle. Er wartete, bis es dunkel war, und ging dann zu Mrs. Cornford. Sie selbst öffnete, erkannte ihn aber in der Dunkelheit zuerst nicht.

 

»Ich möchte Sie sprechen, Mrs. Cornford.«

 

»Wer sind Sie denn?«

 

»Ralph Hamon.«

 

Sie stand einen Augenblick reglos, aber dann Öffnete sie die Tür weiter.

 

»Treten Sie ein«, sagte sie und ging hinter ihm in das Wohnzimmer.

 

»Sie haben sich nicht sehr verändert«, begann er und überlegte krampfhaft, wie er fortfahren könne. »Sie sind mir wohl noch sehr böse?«

 

»Nein«, antwortete sie ruhig. »Aber warum setzen Sie sich nicht, Mr. Hamon?«

 

»Ich wüßte auch nicht, warum Sie mir böse sein sollten. Ich habe doch für John alles getan, was ich nur tun konnte.«

 

»Wo ist er?«

 

»Ich weiß es nicht – ich nehme an, daß er tot ist.«

 

Sie zuckte unter seinen Worten zusammen.

 

»Ich glaube auch, daß er tot ist«, sagte sie dann leise. »Aber vor zwölf Jahren lebte er doch noch. Was ist aus seinem Geld geworden, Mr. Hamon?«

 

»Er muß es verloren haben«, erklärte er ungeduldig. »Ich sagte es Ihnen doch schon früher.«

 

Sie ließ ihn nicht aus den Augen.

 

»Er schrieb mir aus Marokko, daß er die Mine gesehen habe und daß sie eine glänzende Sache sei. Einen Monat später teilte er mir aus London mit, daß er alles mit Ihnen abmachen wolle. Und dann hörte ich nichts mehr von ihm.«

 

»Er verschwand – das ist alles, was ich von ihm weiß. Er wollte in mein Büro kommen, um den Kauf der Aktien zu vollziehen, aber er erschien nicht. Ich telegrafierte Ihnen ja damals und fragte bei Ihnen an, wo er sein könne.«

 

»Ich weiß nur, daß er hunderttausend Pfund von der Bank abgehoben hatte, daß aber weder er noch das Geld jemals wieder zum Vorschein kam. Ich will nicht gerade behaupten, Mr. Hamon, daß mein Mann und ich sehr glücklich waren – er war ein zu ruheloser Geist und hatte zuviel Freunde, sowohl unter den Männern als auch unter den Frauen. Außerdem trank er. Aber er war doch in mancher Beziehung auch gut und gewissenhaft, und er hätte mich niemals ohne Geld zurückgelassen.«

 

Hamon zuckte die Schultern.

 

»Warum sind Sie denn damals nicht zur Polizei gegangen?« fragte er freundlich. »Wenn Sie irgendwelchen Zweifel über meine Person hatten –«

 

Sie schaute ihn mit verächtlichem Lächeln an.

 

»Sie baten mich doch selbst, nicht zur Polizei zu gehen – ich sehe erst jetzt ein, wie töricht ich damals handelte. Sie baten mich, um meinetwillen und auch um der Verwandten meines Mannes willen nichts zu unternehmen, und vor allem nicht in die Zeitungen zu bringen, daß er vermißt wurde.«

 

»Habe ich denn nicht in allen Zeitungen annonciert? Habe ich nicht meine Beauftragten nach Monte Carlo, nach Aix, nach Deauville geschickt – nach jedem Ort, wo es Spielbanken gab und wo er sich aufhalten konnte?« fragte er mit gespielter Entrüstung. »Mrs. Cornford, ich glaube, Sie tun mir unrecht.«

 

Es war nutzlos, ihm zu antworten. Er hatte sie damals von ihren Nachforschungen so lange abgehalten, bis selbst die tüchtigsten Detektivagenturen Englands nicht mehr imstande waren, ihr zu helfen. Einst war sie eine reiche Frau gewesen, hatte ein eigenes, vornehmes Haus besessen und ein großes Einkommen gehabt.

 

Wäre John Cornford ein Geschäftsmann wie andere gewesen, so hätte sie sofort die Polizei alarmiert. Aber er kümmerte sich wenig um seine Familie und verschwand manchmal auf längere Zeit, ohne daß jemand wußte, wo er sich aufhielt. Während ihres Zusammenlebens hatte sie gelernt zu schweigen.

 

»Warum sind Sie jetzt zu mir gekommen?« fragte sie.

 

»Weil ich die Angelegenheit ein für allemal regeln will. Ich fühle mich bis zu einem gewissen Grad verantwortlich, weil ich ihn nach London zurückbrachte. Würden Sie mir den Brief zeigen, den er Ihnen damals schrieb?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sie haben mich schon früher danach gefragt, Mr. Hamon. Er ist aber das einzige Beweisstück dafür, daß mein Mann nach England zurückkehrte. Vor einiger Zeit wurden Sie von jemand gefragt, was aus Mr. Cornford geworden sei, und Sie erklärten, daß er in der Wüste von Marokko verschwunden sei. Hunderte von Leuten, die ihn kannten, leben in der Überzeugung, daß er dort drüben gestorben ist.«

 

»Mrs. Cornford, wenn Sie mich den Brief lesen lassen, erzähle ich Ihnen die volle Wahrheit über Johns Tod.«

 

»Dann wissen Sie also genau, daß er tot ist?« fragte sie heiser.

 

»Ja, Er ist vor zehn Jahren gestorben.«

 

Sie schien mit sich selbst zu kämpfen, aber plötzlich stand sie auf, ging in das Schlafzimmer und schloß die Tür. Einige Minuten später kehrte sie mit einem kleinen Ebenholzkasten zurück, den sie auf den Tisch stellte und öffnete.

 

»Hier ist der Brief – Sie können ihn lesen.«

 

Ja, es war blaues Papier. Hamon wußte, daß es ein Briefbogen des Critton-Hotels sein mußte – und das war seit vielen Jahren blau.

 

Er las die etwas kritzelige Schrift.

 

*

 

›Ich gehe heute zu Ralph Hamon. Wir wollen alle Einzelheiten des Kaufs der Aktien festsetzen. Ich bin mir nur noch nicht darüber klar, ob die Mine, die ich sah, tatsächlich Hamons Eigentum ist oder ob es sich um ein anderes gutgehendes Bergwerk handelt, das mit Ralph Hamons Gesellschaft nichts zu tun hat. Dies schreibe ich dir aber nicht, weil ich denke, daß er mich betrügen will.‹

 

*

 

Sie beobachtete ihn dauernd und war bereit, ihm den Brief aus der Hand zu reißen, wenn er den leisesten Versuch machen würde, ihn in die Tasche zu stecken. Aber er gab ihn zurück. Sie legte ihn wieder in den Kasten und schloß den Deckel.

 

Plötzlich hörten sie ein furchtbares Stöhnen aus dem Nebenraum, und Mrs. Cornford eilte hinüber. Nach einem kleinen Zögern folgte ihr Hamon verwundert.

 

»Wer ist das?« fragte er und betrachtete neugierig das eingefallene Gesicht des Kranken in den Kissen.

 

»Es ist der junge Mann, der bei mir wohnt«, sagte sie besorgt. »Ich fürchte, es wird eine schlimme Nacht werden.«

 

Farringdon stützte sich auf die Ellbogen und versuchte, aus dem Bett zu steigen. Es bedurfte all ihrer Kraft, ihn zurückzuhalten. Hamon unterstützte sie, aber es war selbst für ihn schwer, den Kranken zu bändigen.

 

»Würden Sie bei ihm bleiben, bis ich den Doktor geholt habe?« bat sie.

 

Ralph Hamon hatte allerdings keine Lust, hier Krankenwärter zu spielen, aber unter den gegebenen Umständen hielt er es für besser, ihrer Bitte nachzukommen. Er nahm sich einen Stuhl, setzte sich ans Bett und beobachtete den armen Menschen, der sich von einer Seite auf die andere warf, sprach, lachte und im Delirium schrie. Aber plötzlich wurde seine Stimme klarer.

 

»Joan – verheiratet? Ja, ihr Vater ist irgendein Lord«, sagte Ferdie zusammenhanglos. »Das wußte ich nicht – sehen Sie, das fand man an dem Nachmittag heraus – der Butler hörte nicht, wie ich zu Bannockwaite sprach. Wir wurden in der kleinen Kirche im Wald getraut. Ich wollte ja gar nicht heiraten, aber die anderen bestanden darauf. Wir hatten Lose gezogen. Das Ganze war doch nur Bannockwaites Schuld …«

 

Hamon lauschte gespannt. Joan! Das konnte niemand anders als Joan Carston sein. Er beugte sich über den Kranken.

 

»Wo wurden Sie denn getraut?«

 

Farringdon murmelte etwas Unverständliches.

 

»Wo war es?« fragte Hamon noch einmal scharf.

 

»In der kleinen Kirche im Wald bei Ascot. Es steht im Register.«

 

Hamon kannte den schlechten Ruf, in dem Bannockwaite stand, und den Rest der Geschichte konnte er sich denken. Joan war also verheiratet! Er preßte die Lippen zusammen. Er hörte draußen die Schritte der Frau und des Arztes und trat auf den Gang hinaus. Es war ein günstiger Augenblick, sich zu verabschieden. Er machte eine kurze Verbeugung und ging zum Gasthaus zurück.

 

Der Doktor blieb anderthalb Stunden bei dem Kranken. Das Fieber stieg.

 

Als er gegangen war, dachte sie über den seltsamen Besuch Ralph Hamons nach. Warum wollte er den Brief sehen? Schon vor Jahren hatte er sie darum gebeten, aber sie hatte es ihm damals glatt abgeschlagen, da sie fühlte, daß der Besitz dieses Schriftstücks doch noch eine gewisse Anwartschaft auf das verlorene Vermögen bedeutete.

 

Sie war ein großes Risiko eingegangen, als sie ihm den Brief in die Hände gab. Sie öffnete den Ebenholzkasten noch einmal. Obenauf lag der blaßblaue Brief, aber als sie ihn auseinanderfaltete, hatte sie ein unbeschriebenes Blatt vor sich.

 

Es war spät geworden. Sollte sie noch zum Herrenhaus hinübergehen und Lord Creith um Hilfe bitten? Sie hatte ihn früher einmal gesehen. Plötzlich dachte sie an James, diesen ruhigen und gefälligen Mann. Sie setzte den Hut auf, zog den Mantel an und eilte nach Wold House.

 

Kapitel 36

 

36

 

Der Aufenthalt in einem Gasthaus hat gewisse Vorteile, aber auch Nachteile. Für Ralph Hamon lag ein Nachteil hauptsächlich darin, daß man ihn leicht besuchen konnte.

 

Er saß vor dem offenen Kaminfeuer in seinem Zimmer, da die Nacht kühl war, und rauchte noch eine Zigarre vor dem Schlafengehen. Seine Gedanken waren bei seinem letzten Erlebnis, als Jim Morlake plötzlich ohne anzuklopfen die Tür öffnete und hereintrat.

 

»Ich bringe Ihnen zwei Neuigkeiten, Hamon. Erstens ist Ihr Araber gefaßt worden, und zweitens werden Sie mir den Brief geben, den Sie heute abend Mrs. Cornford gestohlen haben – und zwar werden Sie sich damit sehr beeilen!«

 

Hamon sprang auf.

 

»Mein Araber, wie Sie ihn nennen, interessiert mich durchaus nicht, und was Sie da von einem gestohlenen Brief reden, amüsiert mich nicht einmal!«

 

»Ich bin auch nicht gekommen, um Ihnen Witze zu erzählen. Ich will den Brief haben.«

 

Mit zwei Schritten durchmaß Jim das Zimmer, und Ralph Hamon sprang mit einem Fluch vor den Tisch.

 

Morlake schob ihn beiseite, zog die Schublade auf und nahm eine Brieftasche heraus.

 

»Sie gemeiner Dieb!« brüllte Hamon und fiel ihn an.

 

Aber er taumelte zurück, von Morlakes Faust getroffen.

 

»Hier ist der Brief. Wenn ich jetzt –«

 

Hamon sah, rasend vor Wut, wie Jim die Brieftasche weiter durchsuchte. Aber das andere belastende Dokument lag nicht darin.

 

»Nun, haben Sie es gefunden?« fragte Hamon höhnisch.

 

»Ich habe den Brief, das ist im Augenblick genug«, entgegnete Jim, als er den Bogen in die Tasche steckte. »Sie können ja nach der Polizei schicken, wenn Ihnen etwas daran liegt. Mir macht es nichts aus – ich bin ja gewohnt, mit diesen Leuten umzugehen. Wenn Ihr Araber plaudert, wird es traurige Gesichter geben denn nichts kann eine Gesellschaft mehr aus der Fassung bringen, als wenn man ihren Präsidenten aufhängt!«

 

Hamon antwortete nichts. Er machte das Fenster auf, lehnte sich hinaus und beobachtete Morlake, der im Dunkel der Nacht verschwand. Dann setzte er sich wieder vor den Kamin und grübelte. Allmählich kam er wieder zu dem Punkt, von dem er ausgegangen war – Joan Carston –, Joan Carston war verheiratet! Er mußte sie immer wieder irgendwie mit Jim Morlake in Verbindung bringen. Lydia hatte ihm gesagt, daß die beiden verlobt seien, und er hatte darüber gelacht. Ob Morlake wirklich das Hindernis war? Wenn er nur Gewißheit darüber bekommen könnte …!

 

Am nächsten Morgen fuhr er nach London, um Lydia zu treffen. Sie hatte von der Ermordung Marbornes gelesen und war etwas nervös.

 

»Wie ist es denn nur passiert; Ralph?« fragte sie ängstlich, als sie neben ihm im Wagen saß. »Wurde er tatsächlich von einem Araber umgebracht?« Sie faßte seine Hand und sah ihm forschend ins Gesicht. »Du hast es doch nicht getan? Es wäre schrecklich, wenn ich das denken müßte.«

 

»Du wirst hysterisch, Lydia. Ich weiß wirklich nicht mehr von dem Tod des armen Teufels als du.«

 

»Was wirst du nun tun?«

 

»Ich werde das Land verlassen. Diese Umgebung macht mich krank.«

 

»Fährst du nach Marokko?«

 

»Ja, um Weihnachten werden wir dort sein. Das ist doch die schönste Zeit des Jahres.«

 

»Aber doch nicht für immer?«

 

»Natürlich nicht. Wenn es dir zu langweilig werden sollte, kannst du nach Gibraltar oder nach Algeciras gehen«, beruhigte er sie. »Vielleicht werde ich auch gar nicht nach Marokko fahren. Eigentlich sollte ich nach New York, um dort ein Geschäft zum Abschluß zu bringen. Du hast mir doch bei deinem letzten Hiersein erzählt, daß einer deiner französischen Freunde eine Jacht gemietet habe, um mit einigen Bekannten in die Südsee zu fahren. Soviel ich mich erinnere, hat er die Sache wieder aufgegeben.«

 

Sie bejahte und schaute ihn verwundert an.

 

»Könntest du diese Jacht wohl für den Winter chartern?«

 

»Aber warum willst du denn nicht die gewöhnliche Reiseroute benützen? Sie ist doch viel angenehmer.«

 

»Willst du einmal sehen, was du in der Angelegenheit tun kannst?« fragte er nur.

 

»Natürlich. Graf Lagune ist gerade in London, und die Sache könnte wahrscheinlich leicht arrangiert werden.«

 

Am Abend brachte sie ihm die Nachricht, daß sein Auftrag ausgeführt war. Sie hatte, vorbehaltlich seiner Unterschrift, die Jacht gechartert, und der Graf hatte nach Cherbourg telegrafiert und das Schiff nach Southampton beordert. Sie fand ihren Bruder in sehr gehobener Stimmung, denn der Araber war aus der kleinen Sussex-Polizeistation, wo man ihn festgehalten hatte, entkommen. Außerdem hatte er inzwischen aus dem Register der kleinen Kirche bei Ascot festgestellt, daß Joan tatsächlich mit Farringdon verheiratet war. Und nun schmiedete er neue Pläne.

 

*

 

»Ich muß wirklich zugeben, daß dieser Kerl doch nicht so schlecht ist, wie er aussieht«, sagte Lord Creith bedächtig. »Er hat mir einen reizenden Brief geschrieben, und es tut mir jetzt leid, daß ich ihn so scharf angefaßt habe.«

 

»Vermutlich sprichst du von Hamon?« meinte Joan lächelnd, nahm den Brief und las.

 

›Ich fürchte, daß ich Ihnen in den letzten Tagen sehr auf die Nerven gefallen bin, aber es ist so viel passiert, daß ich selbst nervös wurde. Hoffentlich denken Sie nicht zu schlecht von mir. In ein oder zwei Jahren werden wir uns darüber amüsieren, wie absurd es war, mich mit der Ermordung Marbornes in Verbindung zu bringen. Unvorhergesehenerweise bin ich nach Amerika gerufen worden, und meine Pläne haben sich dadurch vollkommen geändert, da ich ursprünglich mit meiner Jacht ins Mittelmeer fahren wollte. Ich möchte Ihnen nun anbieten, statt meiner die Fahrt nach dem Süden zu machen. Sie werden ganz allein reisen, und ich bin sicher, daß es eine angenehme Abwechslung für Sie ist. Es tut mir nur unendlich leid, daß weder ich noch meine Schwester Sie begleiten können. Das Schiff heißt ›L’Esperance‹ und wird am nächsten Dienstag Southampton anlaufen. Darf ich Sie bitten, die Jacht als Ihr Eigentum zu betrachten?‹

 

»Wenn ich die Reise mit ihm hätte machen sollen, würde ich natürlich höflich abgelehnt haben«, sagte der Lord vergnügt. »Aber so ist das doch etwas anderes – meinst du nicht auch, Liebling?«

 

Da er ihre Abneigung gegen Hamon kannte, erwartete er eigentlich Widerspruch von ihrer Seite und war angenehm überrascht, als sie sich seiner Ansicht anschloß. Der dauernde Aufenthalt in Creith wurde ihr allmählich unerträglich. Der Gedanke an Ferdie Farringdon quälte sie, ebenso der Gedanke an Jim, den sie in letzter Zeit nicht mehr gesehen hatte.

 

Die erste Nachricht von der beabsichtigten Reise bekam Jim Morlake wie gewöhnlich durch Binger.

 

»Es scheint, daß diese Jacht von Hamon nur geliehen wurde.«

 

»Meinen Sie, daß er das Schiff gechartert hat?«

 

»Wenn meine Informationen stimmen, ist es so.«

 

»Wahrscheinlich haben Sie sich verhört – wohin soll denn die Reise gehen?«

 

»Ins Mittelmeer. Mr. Hamon und seine Schwester reisen nach Amerika.«

 

»Ins Mittelmeer?« Jim schaute nachdenklich auf seinen Pfeifenkopf. »Das heißt doch … wann wollen sie denn abreisen?«

 

»Am Sonnabend.«

 

»So, so!«

 

Das Mittelmeer bedeutete Tanger, und Tanger wiederum war für Jim gleichbedeutend mit Sadi Hafis und dem prachtvollen Palast in den Rifbergen.

 

Kapitel 25

 

25

 

In einer Woche hatte sich Ralph Hamons Aussehen stark verändert. Zeitweise erschien er seiner Schwester wie ein alter Mann. Er war grau geworden, und neue Falten zeigten sich in seinem düsteren Gesicht. Auch ging er gebückter. Lydia, die in ihrer Weise klug war; versuchte nicht, zu tief in die Ursachen seines Kummers einzudringen. Zu ihrem Erstaunen bekam er keinen Wutanfall, als sie ihm das Resultat ihrer Unterredung mit Morlake berichtete, sondern nahm alles mit der größten Ruhe auf. Selbst ihre Bemerkung über die Anwesenheit Joan Carstens in Wold House regte ihn nicht auf.

 

Am Tage nach ihrer Unterredung mit Jim ließ sie ihr Gepäck zum Bahnhof bringen. Die Fahrkarte war schon in ihrer Handtasche. Dann ging sie zum Büro ihres Bruders.

 

»Heute nachmittag fahre ich nach Paris zurück«, sagte sie gleichgültig. »Ich möchte ein wenig Geld haben.«

 

Er schaute von seiner Arbeit auf.

 

»Wer hat dir denn gesagt, daß du nach Paris gehen sollst?«

 

Sie tat sehr erstaunt, aber das machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn.

 

»Du bleibst bis auf weiteres hier. Es ist möglich, daß wir von hier fort müssen, vielleicht schon sehr bald.«

 

»Was ist denn los?« fragte sie ängstlich. »Steht die Sache wirklich so schlimm?«

 

»So schlimm wie nur irgend möglich, wenigstens im Augenblick. Sieh einmal, Lydia«, fuhr er in liebenswürdigem, freundlichem Ton fort, »ich möchte nicht, daß du mich in diesem Augenblick allein läßt. Du mußt bei mir bleiben. Und außerdem habe ich Sadi versprochen, dich nach Tanger mitzunehmen.«

 

Sie erwiderte nichts, setzte sich ihm gegenüber, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und sah ihn scharf an.

 

»Hast du Sadi nicht noch mehr versprochen?«

 

Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen.

 

»Vor fünf oder sechs Jahren warst du sehr darauf aus, daß ich in Tanger wohnen sollte. Was hast du Sadi versprochen?«

 

»Nichts Bestimmtes. Du mochtest ihn doch früher ganz gern.«

 

»Ja, damals interessierte er mich natürlich. Jedes junge Mädchen würde sich für einen gutaussehenden Araber interessieren. Aber nach deinen letzten Erzählungen ist er mir nicht mehr hübsch genug, und außerdem habe ich mir jetzt eine gesellschaftliche Stellung erobert.«

 

»Ich brauche Sadi, er ist äußerst nützlich für mich. Er gehört zu einer der ersten maurischen Familien – er ist Christ – wenigstens glaubt man es von ihm – und er ist reich.«

 

Sie lächelte verächtlich.

 

»Er ist so reich, daß er von dir eine vierteljährliche Unterstützung annimmt! Nein, Ralph, du kannst mich nicht hinters Licht führen. Ich weiß über Sadi Bescheid. Er ist ein verteufelt hinterlistiger Maure, und wenn du etwa glaubst, daß ich die Rolle der Desdemona spielen soll, dann täuschest du dich. Ich habe Othello nie leiden mögen. Sadi ist ganz interessant, das gebe ich zu, und er mag in Tanger auch eine bedeutende Persönlichkeit, er mag sogar ein Christ sein, obwohl ich das stark bezweifle. Aber ich will nicht Nummer dreiundzwanzig bei ihm sein und meine Tage in einem stickigen Harem beenden, selbst wenn ich die kostbarste Perle und die Hausfrau des Scherifs Sadi Hafis werden sollte …«

 

»Sadi hat dich sehr gern, und solche Heiraten gehen oft sehr glücklich aus. Die Regierung gibt viel auf ihn – er besitzt den größten Einfluß und hat die ganze Brust voller Orden.«

 

»Und wenn er geschmückt wäre wie ein Christbaum, er würde mir doch nicht passen«, erklärte sie entschieden. »Wir wollen diese Sache als beendet ansehen.«

 

Sie war erstaunt, daß er ihre offene Sprache ohne Widerspruch hinnahm.

 

»Du kannst es halten, wie du willst. Aber auf jeden Fall mußt du in London bleiben, Lydia, bis ich meine anderen Angelegenheiten geregelt habe.«

 

Nachdem sie gegangen war, gab er sich Mühe zu arbeiten, aber er hatte keinen Erfolg. Von Zeit zu Zeit sah er auf die Uhr, als ob er noch Besuch erwarte. Am Morgen war ein Telegramm aus Tanger angekommen. Er zog es mehrmals aus der Tasche und las es immer wieder durch. Daß Sadi kein Geld hatte, war nichts Neues für ihn, aber diese letzte Forderung interessierte ihn im Hinblick auf weiterhin mögliche Entwicklungen.

 

Später klingelte er nach seinem Sekretär.

 

»Nehmen Sie den Scheck mit zur Bank und bringen Sie das Geld in Fünfpfundnoten.«

 

Der wohlerzogene Mann stutzte nicht, als er die Zahlen las. Er war gewohnt, mit großen Summen umzugehen, aber nur in seltenen Fällen hatte Mr. Hamon sich einen so großen Betrag auszahlen lassen.

 

Nach einer halben Stunde kam der Sekretär mit drei dicken Paketen Banknoten zurück. Hamon gab sich nicht einmal die Mühe, sie zu zählen. »Ich erwarte Mr. Marborne«, sagte er, als er das Geld in seine Schreibtischschublade legte. »Lassen Sie ihn sofort herein, wenn er kommt.«

 

Marborne sollte um halb drei kommen, aber es war schon fast drei, als er in das Büro schwankte. Sein Aussehen hatte sich merkwürdig verändert. Er war in einer Weise gekleidet, die er für die modernste und feinste hielt: Er trug eine rotseidene Krawatte und einen grauen Zylinder. Nachlässig nahm er eine große Zigarre aus dem Mund und nickte dem Mann hinter dem Schreibtisch zu.

 

»Guten Morgen. Tut mir leid, daß ich ein bißchen zu spät komme, aber ich mußte einige Besuche machen.«

 

Er hatte getrunken; Hamon merkte es sofort.

 

»Na, haben Sie das Geld für mich, Alter?«

 

Ohne ein Wort zu verlieren, zog Hamon die Schublade auf und legte das Geld auf den Tisch.

 

»Danke«, sagte Marborne äußerst höflich. »Nun, wie fühlt man sich, wenn man einen Gefolgsmann hat?«

 

Hamon stützte die Ellbogen auf den Tisch und starrte den Erpresser an.

 

»Marborne, ich will Sie ja nach Kräften finanzieren, aber Sie müssen auch Ihr Versprechen halten.«

 

»Ich erinnere mich nicht, Ihnen irgendein Versprechen gegeben zu haben«, erwiderte der Inspektor kühl. »Ich sagte Ihnen doch, daß Ihr Geheimnis bei mir sicher aufgehoben ist. Sie werden in Zukunft nicht mehr an kleinen Ausgaben herumnörgeln, die ich für Sie gemacht habe, was?« fragte er vergnügt. »Ich muß jetzt die Stellung, die ich einnehme, aufrechterhalten. Und um Ihretwillen bin ich aus der Polizei ohne Pension entlassen worden. Ebenso Slone. Sie hätten uns ruhig verhungern lassen, wenn ich nicht zum Glück etwas neugierig gewesen wäre.«

 

»Wo haben Sie denn das – das Schriftstück gelassen? Wenn es nun einem anderen in die Hände fällt?«

 

Marborne lachte.

 

»Denken Sie denn, ich wäre so verrückt, eine gute Existenz so einfach aufs Spiel zu setzen?« fragte er verächtlich.

 

Unbewußt drückte er die Hand an die linke Seite. Es war eine unfreiwillige Bewegung, aber sie entging dem aufmerksamen Hamon nicht.

 

»Ich habe es in einem Geldschrank verwahrt«, sagte Marborne laut. »Er ist diebes- und feuersicher, und nur ich allein habe den Schlüssel – verstehen Sie?«

 

»Ja, ich verstehe«, erwiderte Hamon und war beinahe liebenswürdig, als er die Tür öffnete, um seinen Besucher hinauszulassen.

 

Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, nahm ein Telegrammformular heraus und schrieb ohne Zögern eine Nachricht an ›Colport, Hotel Cecil, Tanger‹. Es gab nur eine Lösung, sich von der Tyrannei dieses Marborne zu befreien – der Mann mußte den Weg des unbekannten Matrosen gehen, den ein Radfahrer in der Portsmouth Road sterbend aufgefunden hatte.

 

Kapitel 26

 

26

 

In Creith tauchten zwei fremde Herren auf. Joan hatte sie schon gesehen, bevor ihr durch das Gerede im Ort bekannt wurde, daß es zwei junge Kaufleute seien, die ihre Ferien auf dem Lande zubrächten. Es waren zwei blühend aussehende Leute, die viel überflüssige Zeit hatten und sich anscheinend langweilten.

 

Als sie um halb zehn nach Wold House kam, um das Frühstück zu bereiten, erwähnte sie diese Entdeckung.

 

Jim Morlake nickte.

 

»Das sind Sergeant Finnigan und Detektiv Spooner vom Yard. Ich sah, wie sie am Abend nach meiner Rückkehr mit dem letzten Zug ankamen. Sie wurden in einem Polizeiauto von der Station hergebracht.«

 

Sie war betroffen, aber er lachte.

 

»Sie bilden sich doch nicht etwa ein, daß die Polizei mich jetzt nicht mehr beachtet? Welling hat sie geschickt, um meine Gewohnheiten zu studieren. Sie bleiben wenigstens eine Woche hier – ich dachte schon daran, sie einmal zum Abendessen einzuladen. Die Beköstigung im Roten Löwen wird ihnen nicht sehr zusagen.« Er zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. »Warum haben Sie eigentlich Lydia Hamon gesagt –«

 

Er machte eine Pause, und auch sie hielt in ihrer Beschäftigung inne und sah, mit der Pfanne in der Hand, fragend zu ihm auf.

 

»Was soll ich ihr denn gesagt haben?«

 

»O nichts … ich vermute, Sie wollten sie nur ärgern – wenigstens nimmt sie das an.«

 

Er war verwirrt, und je mehr er versuchte, seiner Verlegenheit Herr zu werden, um so ungeschickter benahm er sich.

 

»Sie meinen, daß ich ihr erzählte, wir seien miteinander verlobt?« fragte sie ruhig. »Ja, das habe ich getan. Ich wollte sie einschüchtern, und Ihr Name war der erste, der mir einfiel. Es ist Ihnen doch nicht unangenehm?«

 

»Unangenehm …? Nein, das möchte ich nicht behaupten!«

 

»Ich hoffte, daß es Ihnen nichts ausmachen würde. Nachdem ich gestern weggegangen war, fiel mir ein, daß ich mein schreckliches Geheimnis Lydia Hamon anvertraut hatte, und ich machte mir selbst die größten Vorwürfe.«

 

Geschickt schwenkte sie die Eier auf eine Schüssel.

 

»Ich fürchtete schon, daß ich Sie hoffnungslos kompromittiert hätte … Sie sind doch sicher verheiratet?«

 

»Nein, ich bin nicht verheiratet«, sagte er heftig, »und ich war auch nie verheiratet.«

 

»Die meisten gutaussehenden Menschen sind verheiratet«, erwiderte sie so gleichmütig, daß er mutlos wurde. »Und meiner Meinung nach sehen Sie gut aus – ja, das ist meine Ansicht. Aber kommen Sie doch nicht mit Ihren Ellbogen mitten in die Schüssel mit den Spiegeleiern!«

 

Er haßte die Eier in diesem Augenblick.

 

»Es tut mir leid, daß Sie Lady Joan sind – ich hatte Jane gern … natürlich liebe ich auch Joan sehr.«

 

»Schön, wenn Sie mich Joan nennen wollen, steht dem nichts im Wege. Aber nun zu unserer Verlobung. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich sie noch für die nächste Woche bestehen lasse? Mr. Hamon hat gewisse Absichten, die mich und meine Zukunft betreffen.«

 

Sie erzählte ihm offen, welche besonderen Interessen Hamon in Creith hatte, und er pfiff vor sich hin.

 

»Sie sehen, daß unser Adelstitel eigentlich nur noch einer hohlen Fassade gleicht. Der wirkliche Herr von Creith ist Hamon. Und ich bin eigentlich nichts Besseres als sein Stubenmädchen. Er will mich heiraten, genau wie in all den Romanen und Geschichten, wo der schlechte Kerl die Tochter des ruinierten Lords heiraten will. Um den Roman noch vollkommener zu machen, müßte ich mich eigentlich in einen armen, aber sehr ehrlichen Farmer verlieben, der in Wirklichkeit der Erbe des Landsitzes ist.«

 

Er konnte keinen Blick von ihr wenden, während er ihr zuhörte. Es war aber nicht ihre Schönheit, die ihn gefangennahm, auch nicht ihr atemraubendes Selbstbewußtsein und der Humor hinter all ihrer Ironie – vielleicht ein bißchen von allem, und doch war es etwas anderes. Er erinnerte sich, daß sie einmal geweint hatte. Die harte, praktische Seite ihres Charakters und die Gesprächigkeit zeigten eigentlich nicht die richtige Joan Carston. Sie gab ihm manches Rätsel auf und erschreckte ihn auch.

 

»Starren Sie mich doch nicht so an – das tut man nicht. Ich möchte Sie noch etwas fragen. Gestern abend borgte ich ein Nachtfernglas von Stephens. Von meinem Fenster aus kann ich Wold House sehen – nachts kommt immer ein gelber Schein von dorther, den ich mir bisher nicht erklären konnte. Mit dem Fernglas habe ich nun aber festgestellt, daß es das Bibliotheksfenster ist. Und ich sah, wie Ihr Schatten immer wieder an dem weißen Vorhang vorüberkam. Warum haben Sie weiße Vorhänge, James? Sie gingen immer noch auf und ab, als ich mich um ein Uhr schlafen legte. Ich habe Sie eine Stunde lang beobachtet … aber warum lachen Sie denn?«

 

»Finnigan und Spooner haben noch länger aufgepaßt und vermutlich einen großen Bericht über meine Ruhelosigkeit abgeschickt.«

 

»Woher wußten Sie denn, daß die beiden Sie beobachteten?«

 

»Nach Einbruch der Dunkelheit zog ich feine schwarze Drähte über den Rasen – sie waren heute früh alle zerrissen, ebenso die Baumwollschnur, die ich um die Türpfosten gebunden hatte. Natürlich hatte ich das Tor unverschlossen gelassen. Auf den Weg unter meinem Fenster legte ich einige braune, mit Vogelleim bestrichene Papierblättchen, die ich heute morgen auf der Hauptstraße fand.«

 

Nach dem Frühstück wuschen sie wieder miteinander das Geschirr ab.

 

»Sie haben sich aber böse verbrannt«, sagte er plötzlich.

 

Er hatte vorher noch nie die herzförmige Narbe auf ihrem Handrücken bemerkt.

 

Zu seinem größten Erstaunen wurde sie rot.

 

»Die Narbe zeigt sich nur manchmal«, erwiderte sie kurz.

 

Bald darauf ging sie fort.

 

Am Nachmittag kam der Butler sehr kleinlaut zurück. Er entschuldigte sich, aber Jim schnitt ihm das Wort ab.

 

»Sie können Ihre Stelle wieder antreten und auch die anderen Dienstboten engagieren, die wiederkommen wollen. Aber ich habe jetzt eine neue Hausordnung eingeführt. Um zehn Uhr müssen alle Leute zu Bett sein, und unter keinen Umständen darf mich jemand in der Bibliothek stören, wenn ich an der Arbeit bin!«

 

Er ging in sein Schlafzimmer hinauf, verschloß die Tür, legte die eine Ecke des Teppichs zurück und nahm aus einer gutgesicherten Öffnung im Fußboden einen flachen Kasten heraus, der die Lederrolle mit den Werkzeugen, eine Pistole und die unvermeidliche schwarze Maske enthielt. Er brachte alle Gegenstände in sein Studierzimmer und legte sie in eine Schublade des Schreibtisches.

 

Obgleich er von Detektiven bewacht wurde, obgleich die Gefahr lebenslänglicher Zuchthausstrafe wie ein Damoklesschwert über ihm schwebte, mußte der Schwarze wieder an seine Arbeit gehen. Die Stimme des Toten flüsterte drängend und unaufhörlich, und Jim Morlake zögerte nicht, ihr zu gehorchen.

 

Kapitel 27

 

27

 

Jim füllte den Benzinbehälter seines Wagens, steckte einige Konservenbüchsen, unter den Führersitz und fuhr in das Dorf. Er hielt zuerst bei der Post an und schickte ein Telegramm an Binger. Dann machte er vor der Werkstatt des Schmieds und Mechanikers halt, der nur die allerprimitivsten Reparaturen erledigen konnte. Jim wußte das genau.

 

»Es wäre besser, wenn Sie Ihren Wagen nach Horsham brächten, Mr. Morlake«, sagte der Mann. »Ich kenne diesen teuren Wagen nicht gut genug, um die Arbeit ausführen zu können, die Sie haben wollen.«

 

Einer der Detektive sah Jim fortfahren und ging natürlich gleich zu dem Schmied, um zu fragen, was los sei.

 

»Sein Steuerrad ist nicht in Ordnung. Er hat es selbst notdürftig repariert, aber ich sagte ihm, daß es gefährlich sei, so zu fahren. Nun hat, er den Wagen nach Horsham zur Reparatur gebracht.«

 

Hochbefriedigt ging Spooner zu seinem Vorgesetzten zurück und berichtete ihm, was er erfahren hatte.

 

Als die Dunkelheit hereinbrach, kehrte Jim in dem kleinen Autobus zurück, der dreimal am Tage die Verbindung zwischen Creith und Horsham herstellte. Auch diese Tatsache beobachtete Spooner genau.

 

»Ich weiß überhaupt nicht, zu welchem Zweck wir ihn hier überwachen sollen«, meinte Sergeant Finnigan. »Es ist doch unwahrscheinlich, daß er in der nächsten Zeit etwas unternimmt. Der letzte Prozeß hat ihm sicher einen heilsamen Schrecken eingejagt.«

 

»Ich wünschte nur, daß er die Angewohnheit hätte, früh zu Bett zu gehen«, brummte Spooner.

 

»Vielleicht läßt ihn das schlechte Gewissen nicht ruhen.«

 

Kurz nach Jims Rückkehr fand sich auch Binger mit einer kleinen Reisetasche ein, die alles enthielt, was notwendig war, um sich vollständig zu verkleiden.

 

»Ich habe eine Aufgabe, die Ihnen willkommen sein wird«, sagte Jim. »Sie müssen sich jeden Abend hier in einen Stuhl setzen und fünf oder sechs Stunden nichts tun. Sie können ja am Tag schlafen, und ich zweifle nicht im mindesten, daß Sie auch noch einige kleine Nickerchen einlegen, wenn Sie hier Ihre Pflicht tun.«

 

»Sie haben es doch hoffentlich aufgegeben?« fragte Binger besorgt. »Was sollte ich aufgegeben haben?«

 

»Das Einbrechen!« Plötzlich sah Binger einen Gegenstand auf dem Schreibtisch. »Lieben Sie neuerdings Musik?«

 

Jim schaute nach dem großen Plattenspieler hinüber, den er vor einigen Tagen angeschafft hatte.

 

»Ja, ich interessiere mich in letzter Zeit sehr für Jazzmusik. Aber hören Sie, Binger, Sie müssen meine Anordnungen auf das genaueste ausführen. Heute abend um zehn beziehen Sie Ihren Wachtposten vor meiner Tür. Sie können sich den bequemsten Stuhl im Haus aussuchen, und ich bin auch nicht böse, wenn Sie einschlafen. Aber niemand darf in dieses Zimmer kommen – verstehen Sie mich? Und unter gar keinen Umständen darf man mich stören. Wenn also die Detektive erscheinen sollten –«

 

»Sie meinen doch nicht etwa wirkliche Detektive?« fragte Binger entsetzt.

 

»Hier in Creith sind augenblicklich zwei, aber ich glaube nicht, daß Sie von ihnen belästigt werden. Sollten sie aber wirklich kommen und vorn an die Tür klopfen oder nach zehn etwas unternehmen, dann dürfen Sie die Leute auf keinen Fall einlassen, es sei denn, daß sie eine Vollmacht von einer Behörde vorweisen. Haben Sie alles verstanden?«

 

»Jawohl, Sir. Soll ich Ihnen später noch etwas Kaffee bringen?«

 

»Nein, Sie sollen mir gar nichts bringen. Wenn Sie versuchen, hereinzukommen oder mich irgendwie zu stören, sind Sie entlassen.«

 

Um halb zehn abends ging Jim auf dem Gelände umher und auch zum Haupttor. Die Straße lag verlassen da, aber im Schatten der Hecke sah er einen kleinen roten Punkt, der regelmäßig aufglühte und wieder schwächer wurde. Es war die Zigarre eines Detektivs. Jim lachte in sich hinein.

 

Als er in sein Arbeitszimmer zurückkam, fand er Binger davor, der auf einem bequemen Stuhl saß.

 

»Gute Nacht!« sagte Jim und verschloß die Tür.

 

Obgleich das Haus an das elektrische Stromnetz angeschlossen war, brannte auf dem Tisch eine Petroleumlampe, die ein äußerst helles Licht ausstrahlte. Er entfernte den Schirm, so daß die Helligkeit der Flamme blendete.

 

Dann hob er den Plattenspieler auf den Tisch, der in der Mitte des Raums stand, schaltete ihn ein und stellte auf das langsamste Tempo ein. Er schraubte einen langen Stab an den Plattenteller und befestigte daran eine Figur aus dünnem Karton. Es war der Schattenriß eines Mannes, der die Hände auf dem Rücken gekreuzt hatte. Dann nahm er die Lampe vom Schreibtisch, stellte sie in die Mitte des Plattentellers und ließ den Apparat laufen. Die Platte mit der Lampe und der Pappfigur drehte sich nur langsam, und der Schatten der Silhouette huschte über den Fenstervorhang.

 

»Er rennt schon wieder in seinem Zimmer herum«, sagte Spooner ärgerlich, als er von draußen den Schatten am Fenster vorübergleiten sah. »Wie lange wird er diesen Unsinn noch fortsetzen?«

 

Offenbar nicht mehr lange, denn Jim hielt den Apparat an, ging in sein Zimmer und zog die alten schwarzen Kleider an. Dann schlüpfte er in einen Mantel, der fast bis zu den Füßen reichte, setzte einen weichen schwarzen Hut auf und steckte das Werkzeug und eine starke Taschenlampe ein. Es war nun halb elf. Tiefes Schweigen herrschte im ganzen Haus, als er noch einmal ins Arbeitszimmer zurückkehrte und Binger durch die Tür ansprach.

 

»Sind Sie auf Ihrem Posten?«

 

»Jawohl.«

 

»Also denken Sie daran, daß ich unter keinen Umständen gestört werden möchte.«

 

»Jawohl.«

 

Jim hörte an Bingers Stimme, daß der Mann schon halb eingeschlafen war.

 

Wieder stellte er den Plattenspieler an und ging dann in sein Schlafzimmer. Durch das Fenster an der Hinterseite des Hauses trat er auf einen kleinen Balkon.

 

Kurze Zeit später stand er unten im Park und schlich sich fort. Im Schatten des Gebüsches eilte er zu der kleinen Brücke, die zum Creithschen Ufer hinüberführte. Nach einem Weg von zehn Minuten kam er an einen abseits liegenden Schuppen, in dem er seinen Wagen untergestellt hatte … »Jetzt geht’s wieder los«, sagte Spooner zu dem Sergeanten. »Sehen Sie, da ist er!« Er deutete auf den Schatten, der an den weißen Gardinen vorüberglitt.

 

Finnigan gähnte. »Dann können wir die ganze Nacht hier sitzen.«

 

*

 

Jim fuhr durch den feinen Regen über Haymarket. Er bog in die Wardour Street ein und parkte den Wagen in einer langen Reihe von Autos, die Theaterbesuchern gehören mochten. Dann ging er zur Shaftesbury Avenue und rief ein Mietauto an. Als das Taxi gerade an den Gehsteig heranfuhr, öffnete sich die Tür einer Bar, und ein Mann taumelte heraus.

 

Er fiel direkt gegen Jim, der ihn am Arm packte und wieder aufrichtete.

 

»– ’schuldigen Sie«, sagte der Betrunkene, »hatte eine kleine Auseinandersetzung … ’ne abstrakte Frage über Metaphysik …« Er konnte kaum sprechen.

 

Jim betrachtete ihn genauer. Es war der junge Mann, der damals in der Gewitternacht zu ihm gekommen war.

 

»Hallo, mein Freund, Sie haben aber noch einen weiten Weg nach Hause.« Dann besann er sich, daß er ja eigentlich nicht erkannt werden wollte. Der Betrunkene war jedoch dazu gar nicht in der Lage.

 

Das Mietauto wartete, und als Jim sah, daß sich schon Menschen um sie ansammelten, zog er den Mann schnell in das Innere des Wagens.

 

»Fahren Sie nach Long Acre!« befahl er.

 

In dem ruhigsten Teil der Straße ließ er halten und führte seinen Begleiter auf den Gehsteig.

 

»Nun gebe ich Ihnen den guten Rat, nach Hause zu gehen.«

 

»Nach Hause?« sagte der andere bitter. »Hab kein Zuhause! Keine Freunde – kein Mädel!«

 

»Vielleicht ist das ganz gut – für das Mädel«, erwiderte Jim ungeduldig, denn die Zeit drängte.

 

»So – meinen Sie? Ich nicht … ich möchte sie bloß noch mal erwischen, nachdem sie mich so schlecht behandelt hat – die bringe ich um – sicher, die bringe ich um!«

 

Sein blasses Gesicht war von Wut verzerrt, und plötzlich brach er hilflos in Tränen aus.

 

»Sie hat mein Leben ruiniert!« schluchzte er. »Und ich kenne sie nicht einmal … kenne nur ihren Vornamen und weiß nur, daß ihr Vater Lord ist … sie hat eine kleine Narbe auf der Hand –«

 

»Wie heißt denn die junge Dame – die ihr Leben ruiniert hat?« fragte Jim heiser.

 

»Joan – sie hat mich ins Unglück gebracht – wenn ich sie finde, ist es zu Ende mit ihr!«

 

Kapitel 28

 

28

 

Marborne spielte in letzter Zeit den großen Herrn und besuchte die teuersten Lokale. Als er eines Abends nach einem üppigen Mahl etwas bezecht nach Hause kam, wurde er plötzlich wieder nüchtern. Er hatte das Licht im Schlafzimmer angedreht und sah mit starrem Blick zu dem Geldschrank hinüber, den er sich angeschafft hatte. Die Tür hing nur noch an einem Gelenk, und der Schrank selbst war leer …

 

Nachdem er sich von seinem Schrecken etwas erholt hatte, durchsuchte er in aller Eile den Raum. Es war ihm sofort klar, wie der Dieb hereingekommen war. Er mußte auf der Feuerleiter nach oben gestiegen und durch das Fenster des Schlafzimmers eingedrungen sein.

 

Marborne stürzte hinunter und riß die Haustür auf. Auf dem Gehsteig stand Captain Welling, er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und schaute unentwegt zu den erleuchteten Fenstern der Wohnung hinauf.

 

»Kommen Sie mit!« schrie Marborne erregt.

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte der Beamte, als er näher trat. »Es ist doch merkwürdig, daß ich gerade in diesem Augenblick hier sein muß.«

 

»Ich bin bestohlen worden – ausgeplündert!« rief Marborne. »Man hat meinen Geldschrank erbrochen …«

 

Er stieg die Treppe wieder hinauf und redete zusammenhangloses Zeug.

 

Welling untersuchte den Safe.

 

»Der Mann hat gründliche Arbeit geleistet. Am besten rühren Sie den Schrank bis morgen nicht an. Ich will ihn fotografieren lassen, um eventuell Fingerabdrücke zu entdecken.«

 

Er ging zum Fenster und stieg auf der Feuerleiter hinunter.

 

»Oh, was ist dies?« fragte er und nahm einen Gegenstand auf, der auf dem eisernen Podest zu seinen Füßen lag. »Ein Baumwollhandschuh! Dann hat es auch keinen Zweck, nach Fingerabdrücken zu suchen.« Er stieg wieder hinauf und betrachtete den Handschuh genauer unter der elektrischen Lampe.

 

»Daran kann man gar nichts sehen, selbst wenn man sich größte Mühe gäbe. Ich fürchte, der Mann ist gut davongekommen. Wieviel Geld haben Sie verloren?«

 

»Zwischen zwei- und dreitausend Pfund!« schluchzte Marborne.

 

»Sonst noch etwas?« Welling sah ihn scharf an.

 

»Was hätte ich denn sonst noch verlieren sollen?« fragte Marborne plötzlich rauh. »Ist es denn nicht genug, wenn einem zweitausend Pfund gestohlen werden?«

 

»Hatten Sie nicht noch Bücher oder Dokumente in Ihrem Schrank?«

 

»Nein, nicht im Schrank«, erwiderte Marborne schnell. »Auch sonst nirgends.«

 

»Es sieht so aus, als ob es der Schwarze gewesen ist«, meinte Welling fast belustigt und ging wieder zum Safe. »Ich wüßte gar nicht, wer es sonst so gut hätte machen können. Haben Sie Telefon?«

 

»Im Wohnzimmer.«

 

Welling telefonierte lange mit dem Yard und ging dann in das Schlafzimmer zurück, um nach Anhaltspunkten zu suchen. Er wußte aber schon im voraus, daß seine Arbeit ohne Erfolg sein würde.

 

Der Dieb war offenbar nicht mit dem Geld zufrieden gewesen, das er im Safe gefunden hatte, denn alle anderen Schubladen waren durchwühlt, und ihr Inhalt war auf dem Boden verstreut. Das Büfett war aufgebrochen, ein Koffer unter dem Bett mit Gewalt geöffnet, das Bett selbst vollständig abgedeckt. Sogar die Matratzen hatte der Dieb aufgehoben.

 

»Ihr Freund hat etwas gesucht – was mag das nur gewesen sein?«

 

»Zum Teufel, wie soll ich das wissen?« rief Marborne wild. »Auf jeden Fall hat er es nicht bekommen.«

 

»Ich weiß nicht, wie Sie das sagen können, wenn Sie überhaupt keine Ahnung haben, was er gesucht hat«, entgegnete der Beamte.

 

Das Telefon läutete, und das Fernamt meldete sich, denn Welling hatte ein Gespräch nach Creith bestellt.

 

»Captain Welling am Apparat. Sind Sie dort, Finnigan?«

 

»Ja.«

 

»Wo ist Ihr Mann?«

 

»In seinem Haus. Vor fünf Minuten war er noch dort.«

 

»Sind Sie dessen sicher?«

 

»Absolut. Ich habe ihn zwar nicht persönlich, aber seinen Schatten am Fenster gesehen. Es stimmt, daß er hier ist. Außerdem hat er gar kein Auto, denn er mußte es heute nach Horsham zur Reparatur schicken.«

 

»So? Zur Reparatur?« fragte Welling höflich. »Dann ist alles in Ordnung.«

 

Er legte den Hörer wieder auf und ging zu Marborne zurück, der verstört den zertrümmerten Geldschrank betrachtete.

 

»Es wäre ganz gut, wenn Sie die Sache Ihrem Polizeirevier meldeten und bäten, daß ein Mann von dort herkommt«, sagte sein früherer Vorgesetzter. »Ich glaube ja nicht, daß sie Ihnen helfen können. Es ist aber auch zu schlimm, daß Sie soviel Geld verloren haben. Banken sind doch sicherer.«

 

Marborne erwiderte nichts darauf.

 

Kapitel 22

 

22

 

Jim Morlake war noch nie so langsam und nachdenklich nach Wold House gefahren wie an diesem Nachmittag. Er konnte sich wohl vorstellen, daß die Gesellschaft in Sussex ziemlich entrüstet war. Die Vikare und die Kirchenräte, die Herren und Damen des Landadels, die Lords und die Nachbarn, die ihm Einladungen hatten zukommen lassen, ja die Dorfbewohner selbst, die ihr Eigentum bedroht sahen, würden seine Verhaftung und die Worte des Richters als eine Katastrophe für ihn ansehen.

 

Er lächelte, als er an die Wirkung dachte, die der Prozeß auf diese Leute gehabt haben mußte. Sein Personal wurde sehr gut bezahlt und behandelt. Er hatte den Vorstand der kleinen Bankfiliale in Creith angewiesen, die Gehälter weiterzuzahlen und ebenso das nötige Geld, um den Haushalt aufrechtzuerhalten. Wie die Leute jetzt über ihn dachten, wußte er nicht, da er seit seiner Verhaftung nicht mehr mit Wold House in Verbindung gestanden hatte.

 

Und was er befürchtet hatte, trat ein: Bei seiner Ankunft kündigte das gesamte Personal und bat um sofortige Entlassung. Er kam dem Wunsch ohne Zögern nach, und als alle gegangen waren, schloß er die Tore und kehrte in sein leeres Haus zurück.

 

Binger konnte er nicht gut hierherrufen, weil der Mann die Londoner Wohnung in Ordnung halten mußte. Und Mahmet hatte wenig oder gar keine Ahnung von europäischer Küche, obwohl er vorzüglichen Kaffee zu bereiten verstand.

 

Jim wanderte durch das verlassene Haus. Alles war tadellos sauber, und sicher würde es auch für einige Tage so bleiben.

 

Es gab eigentlich keine andere Lösung, als nach London überzusiedeln, aber es reizte ihn, nun gerade hierzubleiben. Auf keinen Fall wollte er sich aus der Fassung bringen lassen.

 

Seine Lage gestaltete sich noch schwieriger, als sich die Kaufleute im Ort weigerten, ihm Waren zu liefern.

 

Am nächsten Mittag hatte er Keks, Tee und Schinken; abends gab es Keks und Tee ohne Schinken, und am Morgen darauf dieselbe Kombination, da er trotz allen Suchens keine anderen Vorräte finden konnte. Der Speisezettel war etwas eintönig, aber Jim fühlte sich ganz wohl dabei. In Hemdsärmeln kehrte er sein Zimmer und die Halle, machte selbst das Bett, reinigte auch die breiten Stufen vor der Haustür und benahm sich dabei so anstellig wie ein Dienstmädchen.

 

Am dritten Tag, als Tee und Keks doch schon etwas langweilig zu werden begannen, entdeckte er unverhofft ein Körbchen mit Eiern. Er machte sich allerdings nicht die Mühe, den Küchenherd anzufeuern, sondern setzte in seinem schon etwas unordentlich aussehenden Arbeitszimmer einen kleinen Spirituskocher in Brand. Er hatte Tee aufgebrüht, den Tisch mit der Morgenzeitung gedeckt und machte sich nun daran, Setzeier zu backen. Leider wußte er nur, daß dazu eine bestimmte Hitze, eine gewisse Menge Eier und eine Pfanne notwendig waren. Bald war denn auch der Raum mit Rauch gefüllt, und es roch nach angebrannten Eiern.

 

Plötzlich kam ein unerwarteter Besuch. Die Dame war durch die offene Vordertür eingetreten und stand nun im Gang, erstaunt über den Anblick, der sich ihr bot.

 

»Was machen Sie denn da?« fragte sie verwundert, trat schnell näher und nahm ihm die rauchende Pfanne aus der Hand. »Sie müssen doch erst Butter oder Fett hineintun!«

 

Er war sprachlos. Die letzte, die er hier in Wold House in diesem kritischen Augenblick erwartet hatte, war Jane Smith. Sie war es aber wirklich, hübscher als je in dem einfachen, blauen Kostüm und dem kleinen Hut.

 

»Wo kommen Sie denn her?«

 

»Aus dem Dorf. Es riecht aber fürchterlich hier – machen Sie doch das Fenster auf!«

 

»Warum – mögen Sie Eier nicht?«

 

»Verbrannte Eier?«

 

»Ich vermute, daß Sie wissen –«

 

»Ja, ich weiß.« Sie löschte den Spirituskocher und setzte die Pfanne beiseite. »Ich bin hergekommen, um mich einmal nach Ihnen umzusehen, Sie amerikanischer Waisenknabe!«